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Zur Kritik der reinen Erfahrung

1031
2022
978-3-7720-5782-3
978-3-7720-8782-0
A. Francke Verlag 
Julia Wentzlaff-Eggebert
10.24053/9783772057823

Kritik ist mehr als der Gegenstand dieses Buches. Sie ist auch der ursprüngliche Impuls des Denkens, der es methodisch und inhaltlich strukturiert: In 19 aufeinander aufbauenden Abschnitten drängt Kritik das Denken zur produktiven Auseinandersetzung mit dessen Negativität. Angelpunkt dieser Selbstbewegung des Denkens ist die "reine Erfahrung". In ihr stehen klassisch kantische Problemkomplexe im konstellativen Zusammenhang mit existenzialphilosophischen und phänomenologischen Paradigmen; Urteilslogik verschwistert sich mit Verzweiflung, Unsicherheit, Kreativität, und schliesslich: mit der Kunst.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8782-0 Kritik ist mehr als der Gegenstand dieses Buches. Sie ist auch der ursprüngliche Impuls des Denkens, der es methodisch und inhaltlich strukturiert: In 19 aufeinander aufbauenden Abschnitten drängt Kritik das Denken zur produktiven Auseinandersetzung mit dessen Negativität. Angelpunkt dieser Selbstbewegung des Denkens ist die „reine Erfahrung“. In ihr stehen klassisch kantische Problemkomplexe im konstellativen Zusammenhang mit existenzialphilosophischen und phänomenologischen Paradigmen; Urteilslogik verschwistert sich mit Verzweiflung, Unsicherheit, Kreativität, und schliesslich: mit der Kunst. 21 Wentzlaff-Eggebert Zur Kritik der reinen Erfahrung Zur Kritik der reinen Erfahrung Julia Wentzlaff-Eggebert <?page no="1"?> Zur Kritik der reinen Erfahrung <?page no="2"?> Basler Studien zur Philosophie 21 Herausgegeben von Gunnar Hindrichs <?page no="3"?> Julia Wentzlaff-Eggebert Zur Kritik der reinen Erfahrung <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057823 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-9918 ISBN 978-3-7720-8782-0 (Print) ISBN 978-3-7720-5782-3 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0218-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Für Nicolai <?page no="7"?> 11 13 §1 19 §2 27 §3 31 §4 43 §5 51 §6 61 §7 67 §8 77 §9 89 §10 97 §11 111 §12 123 §13 133 §14 141 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kritische Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem . . . . . . . . . . Ur=Theilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kopula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktion und Synthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreativität des kritischen Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fundamentale Verunsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unschuld des Auges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kritische Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> §15 149 §16 157 §17 165 §18 173 §19 181 193 195 Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung . . . . . . . . . . . Zu Methodenfrage und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens . . . . . . . . . . . . . Puls der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> «Der philosophische Begriff lässt nicht ab von der Sehnsucht, welche die Kunst als begriffslose beseelt und deren Erfüllung ihrer Unmittelbarkeit als einem Schein entflieht. Organon des Denkens und gleichwohl die Mauer zwischen diesem und dem zu Denkenden, negiert der Begriff jene Sehnsucht. Solche Negation kann Philosophie weder umgehen noch ihr sich beugen. An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.» Theodor W. Adorno <?page no="11"?> Danksagung Das vorliegende Buch ist die erneut durchgesehene Fassung einer Arbeit, die im Sommer 2021 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen wurde. Betreut wurde sie von Gunnar Hindrichs und Markus Klammer, denen beiden ich aufrichtig danken möchte. Ausserdem bin ich der Trägerschaft und meinen Kolleginnen und Kollegen der eikones Graduate School am Zentrum für die Theorie und Geschichte des Bildes zu Dank verpflichtet, von deren lebhafter und konstruktiver Diskussionskultur ich von 2019-2021 als Stipendiatin profitieren durfte. Schliesslich danke ich der Nachwuchsförderung der Universität Basel und dem Max Geldner-Fonds für die finanzielle Unterstützung zur Drucklegung, sowie Stefan Selbmann vom Narr Francke Attempto Verlag für die verlegerische Betreuung dieses Buches. <?page no="13"?> 1 Vgl. Walter Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart/ Köln 1956, S. 21-30. Einleitung Der Titel: Zur Kritik der reinen Erfahrung stellt eine Verknüpfung in Aussicht von dem, was Kritik, und dem, was Erfahrung ist. Und er behauptet, dass diese Verbindung eine «reine» Verbindung sei. Was folgt, ist der Versuch, diese Verbindung zu artikulieren. Kern der Argumentation ist, dass Kritik in sich ihr Anderes oder dasjenige sucht, was sie nicht schon hat. Darin liegt beschlossen, dass «das Andere» keine inhaltliche Konkretheit erlangen kann, weil es nur darin bestimmbar ist, was Kritik nicht ist. Was Kritik sucht, ihr Anderes, ist also durch Negation zu charakterisieren. Ist Kritik nur negativ fassbar, so muss sie mit der Bereitschaft einhergehen, sich aufzugeben. Gleichzeitig kann diese Aufgabe kritisch nicht erfüllt werden, weil das kritische Überlegen so strukturiert ist, dass jeder kritische Denkakt als Reflexion des Vorhergehenden, und so fort ad infinitum, erscheinen kann. Aus diesem Grund versteht Kritik ihr Negatives nicht einfach als etwas, was ihr schleierhaft oder im Dunklen bleibt. Sondern es ist Kritik inhärent, sich selbst als ihr Negatives zu wissen - zur Kritik gehört das Selbstbewusstsein von jener Negativität, die sie ist: sich nicht in sich beruhigen zu können. Aber das Selbstbewusstsein um diese Negativität kann kein begriffliches sein, weil der Begriff fixieren würde, was anders ist und nicht stillgelegt werden kann. So kann Kritik sich nur in der Erfahrung wissen. Das heisst, eine Kritik der reinen Erfahrung sucht einen Begriff der Kritik im Negativen in sich. Für die Artikulation dieser Verbindung von Kritik und Erfahrung sind die folgenden argumentativen Grundpfeiler relevant. Kritik ist die Pflicht, welche uns schon allein dadurch auferlegt ist, dass wir denken. Diese Pflicht ist deshalb unumgänglich, weil das Faktum, dass wir denken 1 , vom Denken nicht abstrahiert werden kann. Damit steht Kritik, so meine erste (§§1-2) und eine der letzten Thesen (§18), auf dem Grund philosophi‐ schen Ursprungsdenkens. Hier ist sie, erstens - kantisch -, als Grundbewegung bewussten Denkens auszuweisen. Resultat: Kritisch heisst das Denken, weil es die Welt nicht bloss hinnimmt, wie sie ist. In Anbetracht der Welt beinhaltet die Konstitution des Denkens eine Aktivität des Subjekts, welche selbst nicht begrifflich fixiert werden kann. Dem systematischen Anspruch des kritischen Impulses folgend verlangt diese in der Grundkonstitution des Denkens liegende Aktivität nach einer logischen Artikulation. Das heisst: Das kritische Denken ist <?page no="14"?> 2 Vgl. Hans Wagner, Philosophie und Reflexion (= Gesammelte Schriften 1), Mün‐ chen/ Wien/ Zürich/ Paderborn 1959/ 2013, §8, S. 71. ein Denken, das sich selber auslegen will. (§§3-4) Die eigentlich kritische Frage lautet daher nicht, was Kritik ist, sondern: Wie ist Kritik möglich? In dem Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, werde ich zwei bedeutende, aber einander widersprechende Paradigmen diskutieren: Kants aus der Tradition übernommene Formulierung des Denkens: «S ist P» und Freges Funktionsausdruck: «F(x)». (§5-7) Die Gegenüberstellung von Kant und Frege wird ergeben, dass die traditionelle Formulierung nach Kant nicht (wie vielleicht zu erwarten wäre) die konventionelle, sondern die eigentlich kritische ist: Mit der Kopula «ist» in der Formulierung «S ist P» wird eine Trennungsbeziehung explizit (§3), welche das mit dem ursprünglichen Impuls bedingte Bewusstwerden des Denkens erklärt - also jenes Bewusstwerden, welches Kritik als die Pflicht erkennt, im Denken auch gegen das Denken vorzugehen. (§8) Dagegen bleibt ein Denken ohne Kopula nicht nur bewusst-, sondern vor allem bedeutungslos: Ohne Kopula schwindet der Weltbezug. Das Denken verfängt sich im eigenen Garn wie eine Spinne im Netz. Kritik, also sein Negatives, kann ein solches Denken nicht einfangen. (§7) Als Ergebnis dieser Gegenüberstellung muss zu Ungunsten der funktionalen an der kritischen Formulierung des Denkens «S ist P» festgehalten werden, was folgenreich ist. Dieses Buch nimmt sich vor, jene Folgen auszubuchstabieren. (§§9-14) Im Zuge dessen drängt sich, zweitens, - nun gegen Kant -, eine Überschrei‐ tung des prädikativen Rahmens «S ist P» auf. In Antwort auf Kant argumentiere ich mit Fichte, dass das kritische Denken letztlich die «Vernichtung» des Den‐ kens fordert (§15), ein Postulat, das - gerade aufgrund der kritischen Grundkonstitution - nicht eingelöst werden kann (§16). So führt die zum kritischen Denken gehörende Forderung, das Denken zu vernichten, weil sie nicht erfüllbar ist, zu einer Überschreitungsbewegung; einem Puls, wenn man so will, welcher sich vom prädikativen Denken ebenso wenig befreien, wie sich in ihm beruhigen kann. Diesen Puls nenne ich die reine Erfahrung. (§§15-16) Dass die Erfahrung rein ist, besagt, dass sie ihren Ursprung nicht in der Welt, sondern im denkenden Subjekt hat. Das heisst, sie gründet im Faktum des Denkens, welches dessen kritische Impulsivität ist (§1). Hier wird der anti-kantische Zug dieses Gedan‐ kengangs deutlich: Gegen Kant soll der Begriff einer reinen Erfahrung nicht Gegebenheiten bespiegeln, sondern den reflektierten Widerstand gegen alles Gegebene präsent machen. Erfahren wird also weniger die Welt, wie sie ist, als vielmehr die bildende Aktivität des Subjekts in Anbetracht der Welt. 2 Entgegen der noch kantischen Auffassung von Erfahrung als Empirie meint dieser Erfah‐ 14 Einleitung <?page no="15"?> 3 Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt am Main 1989, S. 172. rungsbegriff eine Art «doppelt[e] Negationserfahrung» des Subjekts gegenüber dem sinnlichen Widerfahrnis: Das Subjekt der reinen Erfahrung «ist den Dingen gegenüber fremd, aber auch sich selbst gegenüber als demjenigen, was noch sich selbst zu reflektieren in der Lage ist.» 3 Dieser anti-kantische Zug in der ursprünglich kantischen Radikalisierung des Kritikbegriffs führt zum Dialog mit einer Kritischen Theorie nach Adorno, Horkheimer, Marcuse. Allerdings soll mit dem Begriff der reinen Erfahrung - nun wiederum kantisch und gegen eine Kritische Theorie - die theoretische Reflexion nicht in eine historisch-ma‐ terialistische umgekehrt werden. Denn reine Erfahrung sucht nicht primär den Widerstand des Materials, sondern vielmehr den Widerstand des Subjekts gegen sich selbst. Die Erfahrung bleibt rein, weil sie inhaltlich nicht konkret ist und sich weder in der Welt noch im Denken festmachen lässt. Reine Erfahrung macht das kritische Denken als eine nicht zugerichtete, eine abstrakte Unruhe, eine logische Tatkraft im Anblick der Welt greifbar. Obwohl sie rein ist und ihren Ursprung im Subjekt hat, kann Erfahrung, drit‐ tens, nicht schöpferisch werden. Sie muss sich am Widerständigen vollziehen; also daran, was nicht schon in der reinen Erfahrung ist. Und so bedarf sie letztlich eines Gegenstandsbereichs, der sich mit der geschichtlichen Wirklich‐ keit nicht deckt, da dieser konkret ist. Der Gegenstand der reinen Erfahrung muss ein Gegenstand sein, der das Paradox nicht konkreter Gegenständlichkeit erfüllt, weil der gegenständliche Weltbezug durch Kritik gleichsam in der Schwebe gehalten wird. (§17) - Meine abschliessende These lautet: Ein solcher Gegenstandsbereich ist die Kunst. (§19) Diese letzte These bleibt am Ende ein Ausblick auf ein neues Projekt, das nicht wie dieses Buch im reinen Denken, sondern in der Kunst anhebt. Für das vorliegende Buch ist dieser Ausblick dennoch relevant, weil er die abstrakte, reine Erfahrung konkretisiert: Im letzten Kapitel wird an einem Beispiel aus der Kunst demonstriert, dass die ursprünglich negative Bewegung oder der kri‐ tische Wesenszug des Denkens nicht nur eine zufällige, philosophiehistorische Entwicklung in Anschluss an Kant ist. In der Kunst erfahren wir die kritische Kraft des Denkens wirklich: Das in §19 beispielhaft betrachtete Kunstwerk soll uns am Ende vor Augen führen, was das reine (kritische) Denken in den vorangehenden Kapiteln mit den Begriffen Urteil, Kopula, Selbstbewusstsein artikuliert hat. Dabei geht es um die Forderung eines Urteils, das - weil wir das Kunstwerk nicht entziffern, nicht verstehen können - nicht gefällt werden kann. In dem Moment, in dem wir etwas nicht verstehen, beginnt unsere Suche nach 15 Einleitung <?page no="16"?> einem Sinn. Diese Suche in der Betrachtung eines Kunstwerks ist im Grunde ein wirklicher Vollzug der urteilslogischen Kritik. Sie macht den Ursprung des Denkens erlebbar. Hier liegt der lebendige Puls einer Kritik der reinen Erfahrung: In der Kunst erfährt das kritische Denken das negative Bewusstsein dessen, was es ist, oder das Bewusstsein dessen, was es nicht ist - das Denken stösst an seine Grenze. Mit der Kunst als Fluchtpunkt gibt uns eine Kritik der reinen Erfahrung keine Antwort auf die ursprüngliche Frage nach ihrer Möglichkeit, sondern sie wirft uns auf sie zurück. Im Anschluss an die Selbstartikulation des Denkens erscheint sie am Ende des vorgelegten Gedankengangs aber in neuem Licht. Ihr Gegenstandsbereich ist dann ein anderer: Durch Kritik öffnet sich der theoretische Blick für einen Gegenstandsbereich, welcher das Unbegriffliche und den Zweifel, und damit Kunst umfasst. - Wenn aber Kunst als Ausdruck des Paradoxes kritischen Denkens betrachtet werden kann, weil sie eine nichtge‐ genständliche Gegenständlichkeit fordert, muss letzten Endes auch sie in Frage bleiben. Und so ist die Antwort auf die Ausgangsfrage nach der Möglichkeit der Kritik wieder nur als Frage verständlich zu machen. (§19) Sie lautet: Wie ist Kunst möglich? Kern der vorgezeichneten Argumentation ist der Umschlag des Logischen ins Phänomenologische, der Umschlag von Kritik in Erfahrung. Dadurch werden sehr unterschiedliche philosophische Traditionen miteinander in Verbindung gesetzt: Von der Seite des Logischen aus betrachtet liegt die Emphase auf der Offenheit des Denkens fürs Neue und auf der Möglichkeit denkender Transformation des Bestehenden. Hier liegen transzendentale Überlegungen zum kritischen Subjekt zugrunde. Andererseits wird das kritische Subjekt, weil es den Rahmen prädikativer Bestimmtheit phänomenologisch überschreiten soll, auch unter empirischen Gesichtspunkten betrachtet: etwa, wenn die Folgen der negativen Selbstbezüglichkeit für das Subjekt ausbuchstabiert werden (mit der Unschuld des Blicks, §12, oder mit der Phantasie, §13) und schliesslich, wenn die Kunst ins Spiel kommt (§19). Hier berührt der im Grunde theoretische Gedankengang Aspekte einer ästhetischen Kritik. Die Klammer um das Logi‐ sche und Phänomenologische bildet aber eine Normativität (§§1, 18), welche wiederum moralphilosophische Dimensionen eröffnet: Kritik ist keine mögliche Denkhaltung neben anderen, sondern mit einem Sollen verbunden, das uns dadurch auferlegt ist, dass wir denken. - Somit wird der Rahmen der rein theore‐ tischen Kritik zweifach überschritten: einmal in empirischer (und ästhetischer), einmal in normativer Hinsicht. Gleichzeitig bleibt die verbindende Idee zentral, dass die Auseinandersetzung mit dem Empirischen und dem Normativen nichts Eigenes neben dem Theoretischen darstellt. Es tritt nicht das Wirkliche oder das 16 Einleitung <?page no="17"?> Normative anstelle des theoretischen Denkens. Vielmehr sind beide Hinsichten Aufgaben innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Denken. Das Denken des Denkens ist intrinsisch normativ motiviert und wendet sich in sich zum Empirischen hin. Das heisst, obwohl das Motiv dieses Buches theoretisch bleibt, so ist es nicht das reine Denken, ebensowenig wie ein unreflektiertes Sein oder Sollen, sondern es ist die ursprüngliche Negativität und Reflexion, welche das theoretische Ich mit der Welt des Empirischen und der Welt des Sollens verknüpft. Nicht vom reinen Denken, aber von jener Reflexion handelt dieses Buch. Wie schon der Titel nahelegt, stützt sich dieser Gedankengang auf die kritische Wende nach Kant. Und dennoch bemüht er keine Kant-Exegese. Es werden sehr unterschiedliche Philosophinnen und Philosophen um das umris‐ sene Problem geordnet, und die Versenkung in deren Denken soll helfen, es zur Sprache zu bringen. Letzteres ist auch methodisch massgebend: Die Bespre‐ chung einer Position dient nicht zur historischen oder hermeneutischen Orien‐ tierung über unterschiedliche Interpretationsansätze. Vielmehr ist jede Position primär Sprachrohr der Sache und vermag wieder neue Aspekte an ihr sichtbar und verständlich zu machen. - Dieses Vorgehen lässt den Argumentationsgang an mancher Stelle vielleicht alternativlos erscheinen, rechtfertigt sich aber in der Zielsetzung dieses Buches: Hier wird ein kantisches Thema verfolgt, aber nicht nach historischen, sondern nach systematischen, man könnte eigentlich sagen: nach kantischen Gesichtspunkten. Kant spricht die Radikalisierung der Kritik aus, der zufolge Kritik nicht mehr von äusseren Irrtümern handelt, sondern von Scheingestalten, welche in die kritische Tätigkeit fallen. Das führt zu methodischen Konsequenzen. Denn im Zuge der Radikalisierung von Kritik ist jeder philosophische Standpunkt zum Scheitern verurteilt: Radikale Kritik lässt keinen Standpunkt zu, auch den eigenen nicht. Und damit besteht ihre Aufgabe nicht zuletzt darin zu zeigen, inwiefern eine vorgebrachte Position keine ist. Um dies aber belegen zu können, muss ein neuer Standpunkt eingenommen werden, und so weiter. Das bedeutet einerseits, dass eine kritische Tätigkeit von sich aus eine Vielfalt an philosophischen Positionen impliziert. Andererseits liegt darin die genannte methodische Prämisse beschlossen, dass Kritik nicht nur eine hermeneutische Auslegung verlangt. Sie lebt, bleibt sie selber kritisch, von der prismatischen Brechung des einzelnen Standpunkts. Ich betrachte also die Positionen, welche im Folgenden zu Hilfe gezogen werden, um Kritik und ihre reine Erfahrung darzulegen, wie Farbspektren, welche jeweils unterschiedliche Aspekte hervortreten lassen, und gerade mit der Brechung durch einen Fokus einen gemeinsamen Bezugspunkt erhalten: die Frage nach der Möglichkeit von 17 Einleitung <?page no="18"?> 4 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (= Gesammelte Schriften 6), Frankfurt am Main 1966/ 2013, S. 166. Kritik, das Denken selbst. Hier verbinden sich gegensätzliche Ansichten zu einem Gesamtbild der reinen Erfahrung. Dieses Gesamtbild sieht so aus, dass neben den klassisch kritischen Posi‐ tionen in Anschluss an Kant (Fichte, Schelling, Hegel und Horkheimer, Adorno, Marcuse) auch Verbindungen in Gebiete hergestellt werden, welche auf den ersten Blick von der kantischen Frage weit entfernt zu sein scheinen: die ana‐ lytische Philosophie (Frege), die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts (Husserl, Imdahl, Boehm), aber auch die Existenzial- (Kierkegaard) und Kunstphilosophie des 20. und 21. Jahrhunderts (Bubner, Menke). Dieser Zusammenhang ist nicht linear, sondern um ein zentrales Problem konstelliert  4 , sodass, was historisch wie ein grosser Schritt aussieht - etwa der von Hegel zu Kierkegaard, oder von Kierkegaard zu Horkheimer -, im Folgenden eine perspektivische Brechung im selben Punkt darstellt. Weil dieser Punkt (die reine Erfahrung) aber selber nicht konkret und nicht begrifflich ist, tritt er gar nicht anders als negativ und anhand dieser gedanklichen Reflexionen hervor. Die Auswahl der Perspektiven, die vorgebracht und teilweise widerrufen werden, bleibt deshalb fragmentarisch, da für die Darstellung der Sache immer auch andere und noch weitere Perspektiven eingenommen werden könnten. - Dennoch ist die Auswahl nicht zufällig. Im Hintergrund stehen die Überzeugung, dass die vorgebrachten Positionen durch ein gemeinsames Projekt miteinander verwandt sind, und die Hoffnung, dass umgekehrt die Verknüpfung zu anderen die einzelne Perspektive bereichern kann. Mit dem Projekt selbst einen Standpunkt auszubilden, von dem aus wir uns die anderer aneigneten, lässt der konsequent antiautoritäre Zug radikaler Kritik allerdings nicht zu. Will Kritik das Scheitern, so muss sie letztlich auch zum eigenen Scheitern entschlossen sein und ihre Autorität ablegen. Hier treffen sich Methode und Inhalt dieses Buches: Kritik kann sich nicht nur argumentativ vollziehen, weil eine lineare Argumentation dem Scheitern äusserlich bliebe. Deshalb soll Kritik nicht nur «gesagt», sondern in ihrer radikalen Formulierung auch vollzogen werden. Diesen Übergang sucht die vorgeschlagene Verbindung zur reinen Erfahrung: eine Brücke von der philo‐ sophischen Darlegung zu ihrem ehrlichen Vollzug. Die konstellativ verfahrende und Erfahrung suchende Kritik will Kritik nicht nur denken, sondern sie tun: Es geht um das Bewusstsein dessen, dass wir selbst wie auch die Welt durch unser Nachdenken zu bilden - und umzubilden sind. 18 Einleitung <?page no="19"?> 1 Vgl. Dieter Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016, Anm. S. 71. 2 Dieses Argument Schellings hat Walter Schulz herausgearbeitet. Vgl. Schulz, Die Vollen‐ dung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, op. cit., S. 21-30; für einen Überblick über Konzeptualisierungen des Anfangens, siehe auch Emil Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, München 2007, hier besonders: S. 177-183. §1 Der kritische Impuls Am Anfang jeder Untersuchung stellt sich die Frage, womit sie anfangen soll. Diese Frage stellt sich mit besonderer Dringlichkeit, wenn die Untersuchung, wie die vorliegende, keinen vorab bestimmten Gegenstand hat, an dem sie ansetzen könnte. Denn der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist das Denken selbst. Über das Denken können wir aber nicht als anfängliches nachdenken. Über das Denken können wir nur nachdenken, indem wir denken - das heisst, indem wir bereits angefangen haben. Das Denken kann nicht auf sich wie auf einen Gegenstand blicken. Will es sich selbst erfassen, so findet es immer nur das schon Gedachte, die geronnene Denktätigkeit vor. Aus diesem Grund kann die vorliegende Untersuchung nur mit einem Gedanken anfangen, der eigentlich keiner sein kann. Es muss ein Gedanke sein, der nur äusserlich, nämlich im Kontrast zum Denken, also negativ bestimmt werden kann. 1 Diese negative Bestimmung des Denkens, oder dass sich das Denken nicht anfänglich denken kann, ist in besonderer Weise anfänglich: Sie ist, wie das Folgende zeigt, dem Denken ursprünglich. Ursprünglich ist für das Denken, was vom Denken nicht getrennt werden kann. Die Nichtanfänglichkeit des Denkens ist dem Denken ursprünglich, weil wir sonst vom Denken das Denken abziehen müssten. Wir müssten, um den Anfang des Denkens zu denken, einen Gedanken fassen können, ohne ihn zu denken. Zum Denken gehört aber unbestreitbar, dass gedacht wird. Schelling hat diesen Zusammenhang das factum brutum des reinen Dass genannt. Was gedacht wird, das ist Sache des Denkens. Zu denken aber, dass diese Sache gedacht wird, übersteigt es. Es übersteigt das Denken um die Voraussetzung, dass wir denken. 2 Schelling erläutert diese Unterscheidung zum Beispiel in Bezug auf das Denken und das Erkennen von Seiendem: «Hier ist nämlich zu bemerken, dass an allem Wirklichen zweierlei zu erkennen ist, es sind zwei ganz verschiedene Sachen, zu wissen, was ein Seyendes ist, quid sit, und dass es ist, quod sit. Jenes - die Antwort auf die Frage: was es ist - gewährt mir die <?page no="20"?> 3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung (= Sämtliche Werke 13), Stuttgart/ Augsburg 1858, IV. Vorlesung, 57f. Einsicht in das Wesen des Dings, oder es macht, dass ich das Ding verstehe, dass ich einen Verstand oder einen Begriff von ihm, oder es selbst im Begriff habe. Das andere aber, die Einsicht, dass es ist, gewährt mir nicht den blossen Begriff, sondern etwas über den blossen Begriff Hinausgehendes, welches die Existenz ist. Dieses ist ein Erkennen, wobei freilich einleuchtet, dass wohl ein Begriff ohne ein wirkliches Erkennen, ein Erkennen aber ohne den Begriff nicht möglich ist.» 3 Demzufolge vermag das Denken nur dasjenige an den Dingen zu ermitteln, was sie sind oder was an ihnen begrifflich ist. Davon grundverschieden ist das Erkennen, dass sie sind. In Bezug auf die anfängliche Fragestellung bedeutet dies einerseits, dass das Denken des Denkens oder die Einsicht, dass wir denken, vom Denken ausgeschlossen wird. Daraus folgt aber keines‐ wegs, dass sie für das Denken bedeutungslos wird. Denn andererseits bedingt dieses «Dass» gleichsam jeden Gedanken: Es ist in all unseren Gedanken allein dadurch, dass wir sie denken, da es unmöglich ist einen Gedanken zu fassen, ohne dass wir ihn denken. Ebenso redundant wäre es, aus dem Gedanken zusätzlich noch herleiten zu wollen, dass er gedacht wird. Dies zu beweisen kann also nicht Sache des Denkens sein. Das gilt auch für Gedanken, welche nicht auf sich selbst gerichtet sind, sondern die zum Beispiel empirisch Erforschbares, Einsichten in «das Wesen» eines «Dings» (s. o.) im Sinn haben. Denn alles Erforschbare kann ja anders nicht erforscht werden als durch Gedanken. Es trägt eben deshalb schon das Dass in sich, weil es erforscht, das heisst, gedacht wird. Obwohl es also nicht gedacht werden kann, ist das Dass vom Denken nicht wegzudenken. Somit betrifft es auch nicht irgendeinen Gedanken, diesen oder jenen, sondern jeden möglichen, den Gedanken, Denken überhaupt. Dass gedacht wird, ist dem Denken ursprünglich. Sicherlich gilt nun für das Denken, dass wir nur soweit denken können, als wir denken können - aber, dass wir dies können, so Schelling, ist nicht wieder eine Eigenschaft unseres Könnens. Dass wir denken, das ist ein factum brutum, weil es dem Denken ebenso wesentlich ist, wie es dieses übersteigt. - Wenn dieses factum aber nicht gedacht werden kann, wie kann es dem Denken dann innewohnen? Wenn das Denken des Denkens doch kein Gedanke ist, (wie) können wir dann dessen gewahr werden, dass wir denken? Eine berühmte Antwort auf dieses Problem findet sich in Jacobis Briefen an Moses Mendelssohn von 1785. Jacobi hält die Frage nicht nur, wie Schelling, für unbeantwortbar, sondern er erklärt sie sogar für «ungemessene Erklärungs‐ 20 §1 Der kritische Impuls <?page no="21"?> 4 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (= Werke 1.1), Hamburg 1785/ 1998, S. 29. 5 Ibidem, S. 30. 6 Friedrich Heinrich Jacobi, Beylagen (= Werke 1.1), S. 176. 7 Ibidem, S. 178. 8 Vgl. Ibidem, S. 175. 9 Vgl. Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ‹Weltalter›, Frankfurt am Main 1989, S. 8. 10 Siehe Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vom Ich als Princip der Philosophie (= Werke 2), Stuttgart 1795/ 1980, S. 77: «Eine Philosophie, die auf das Wesen des Menschen selbst gegründet ist, [könne] nicht auf todte Formeln, als ebensoviele Gefängnisse des menschlichen Geistes, oder nur auf ein philosophisches Kunststük gehen, das die vorhandenen Begriffe nur wieder auf höhere zurükführt, und das lebendige Werk des menschlichen Geistes in todte Vermögen begräbt; dass sie vielmehr, wenn ich es mit dem Ausdruck Jacobi’s sagen soll, darauf geht, Daseyn zu enthüllen und zu offenbaren, dass also ihr Wesen, Geist, nicht Formel und Buchstabe, ihr höchster Gegenstand aber nicht das durch Begriffe vermittelte, mühsam in Begriffe zusammengefasste, sondern das unmittelbare nur sich selbst gegenwärtige im Menschen seyn müsste.» (meine Hervorhebung). sucht» 4 hyperbolischen Denkens: «mehr verblendet als erleuchtet.» 5 Die Ver‐ blendung betreffe den Versuch etwas denken zu wollen, von dem schon im Vornherein klar ist, dass es nicht denkbar ist. Jacobi schreibt: «Eine Frage, die ich nicht begreife, kann ich auch nicht beantworten, ist für mich so gut als keine Frage. Es ist mir niemals eingefallen, auf meine eigenen Schultern steigen zu wollen, um freiere Aussichten zu haben.» 6 Damit schliesst Jacobi aus der Einsicht in die Unbeantwortbarkeit auf die Sinnlo‐ sigkeit der Frage. Anschliessend vollführt er ein besonderes Kunststück: Anstatt weiter auf der Denkbarkeit des Undenkbaren zu pochen, gleich als wollten wir auf die «eigenen Schultern steigen» (s. o.), rettet sich Jacobi aus der vertrackten Situation durch einen Salto mortale: «ein[en] Sprung ins Leere […], dahin uns die Vernunft nicht folgen kann.» 7 Dieser Luftsprung der Art Kopfunten solle uns von der Sphäre des Denkens in eine Sphäre des Vernehmens, einer besonderen Art des Wahrnehmens, katapultieren. 8 Was dann vernommen wird, das bleibt freilich gedankenlos - man könnte es vielleicht als pulsierende Sehnsucht beschreiben, oder als begriffslose Fiebrigkeit. 9 Von ähnlicher Fiebrigkeit wie Jacobi zeugen auch Ansätze des zwanzigjäh‐ rigen Schelling. In der 1795 erschienenen Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen argumentiert er, dass das Denken des Denkens nicht im gegenstandsbezogenen, vermittelten Denken vonstatten gehen kann, sondern dass dies in unmittelbarer Weise geschehen müsse. 10 Das unmittelbare Erfassen heisse Anschauen. Nun könne 21 §1 Der kritische Impuls <?page no="22"?> 11 Vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1980/ 2016, S. 204. 12 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (= Werke 3), Stuttgart 1795-6/ 1982, VI. Brief, S. 79. 13 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschafts‐ lehre (= Werke 4), Stuttgart 1789/ 1988, S. 86 (Sperrung im Original). 14 Vgl. Walter Schulz, Das Problem der absoluten Reflexion, Frankfurt am Main 1962/ 63, S. 12. 15 Ibidem, S. 13. 16 Vgl. Walter Schulz, Einleitung, Hamburg 2000, S. XIIIf. das Denken aber nicht sinnlich angeschaut werden, da es sonst zum Gegenstand bedingt wäre. 11 Deshalb, so der junge Schelling, habe die Anschauung nicht sinnlich, sondern intellektuell zu sein, damit die anschauende Person über alle denkbaren Inhalte hinaussehen könne. Die Frage ist freilich: Wie kommen wir überhaupt dazu, irgendetwas intellektuell zu schauen, das keine inhaltliche Bestimmung hat? Schellings frühe Antwort (er wird sie später revidieren) erinnert an Jacobi: theoretisch sei das Problem des Übergangs «unauflöslich». 12 Oder in einem Slogan zusammengefasst: «Vom Unendlichen zum Endlichen - kein Uebergang! »  13 Aber der so konzeptualisierte, übergangslose Sprung ins Reich der Gedankenlosigkeit hat einen Haken. Das Problem ist: Setzen wir das Dass als allem Denken vorausgehend, dann ist es immer schon verloren. So ist mit ihm in Gedanken gar nichts anzufangen. 14 Denn jedes Anfangen müsste den Punkt des Anfangs finden, aber gerade dies geht nicht, wie wir gesehen haben: weil der Anfang dann bereits Fortsetzung, also nicht mehr anfänglich wäre. Walter Schulz hat eine ähnliche Grundproblematik klarsichtig als Antinomie formuliert: Die These besagt, dass das Dass alles Denken bestimmt, durchwaltet, und ihm daher ursprünglich ist, weil es von keinem Gedanken abstrahiert werden kann. Die Antithese behauptet, dass dieses alles durchwaltende, ursprüngliche Dass selber jenseits des Denkens liegen muss bzw. «in sich selbst nicht festgestellt werden [kann].» 15 Das Paradox besteht demnach in der Ursprünglichkeit dieses Zusammenhangs, dass wir uns des Denkens gewahr werden müssen, aber nicht (im Denken) gewahr werden können. Also gehören die Einsicht, dass das Denken nicht zum Gedanken werden kann, und die Einsicht, dass kein Gedanke jemals wahrhaft anfänglich ist, ursprünglich zusammen. 16 Oder wie eingangs formuliert: Die Nichtanfänglichkeit des Denkens ist dem Denken ursprünglich. Aus demselben Grund ist es nicht möglich, wie der junge Schelling glaubte, das Denken in irgendeiner unmittelbaren Weise zu schauen oder zu vernehmen. Denn zum unmittelbaren Einssein mit sich, also zum Denken seines Anfangs, müsste das Denken Jacobis Kunststück vollführen und aufhören zu denken. Mit demselben 22 §1 Der kritische Impuls <?page no="23"?> 17 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Gesammelte Werke 9), Hamburg 1807/ 1980, S. 17. 18 Vgl. Gunnar Hindrichs, Kategorienrahmen und Begriffswandel. Zwischen Kant und Hegel, Tübingen 2015, S. 140. 19 Vgl. Michael Theunissen, Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings (= Philosophisches Jahrbuch 83), Freiburg/ München 1976, S. 7. Akt aber, dem Salto mortale aus dem Denken hinaus, entgleite auch das factum, dass wir denken. Ohne einen gehaltvollen Gedanken zu haben kann von keinem Denken die Rede sein. Hegel hat Jacobis «Leere, […] dahin die Vernunft nicht folgen kann» (s. o.) bekanntlich eine Nacht genannt, in der alle Kühe schwarz sind: blinde Naivität, Gedanke ohne Inhalt. 17 Denn was sich ohne Unterschied zum Dass vollzieht, das kann nicht ins Bewusstsein eindringen. Ein Denken, welches das Faktum seines Vollzugs ins Undenkbare versetzt, bleibt in unterschiedsloser Dunkelheit gefangen. 18 Jacobi und der junge Schelling haben also die Frage gestellt, aber ohne sie zu beantworten: Wie können wir eines Faktums gewahr werden, das nicht gedacht werden kann? Die Antinomie hebt sich auf, wenn wir die Frage umkehren. Die Frage zielt dann nicht auf ein im Dunkel liegendes Faktum des Denkens. Vielmehr müssen wir sie so verstehen, dass sie vom Denken herkommt - also so, dass Fragen Ausdruck der Nichtanfänglichkeit des Denkens ist. Und das ist einsichtig: Fragen ist dasjenige Denken, das nicht bei sich ankommen kann, sondern von sich wegführt. Auf diesem Weg gilt weiterhin, dass das Dass nicht ins Denken eintritt. Aber dessen gewahr zu werden verlangt keinen Salto mortale. Verstehen wir nämlich die Frage nach dem Faktum des Denkens als Ausdruck des Denkens, so ist die Einsicht in die Ohnmacht, sich selbst ganz zu fassen, zugleich dessen adäquates Selbstverständnis. 19 Das Selbstverständnis des Denkens besteht dann in der Selbstbegrenzung, also gerade in der Einsicht, die gestellte Frage nicht beantworten zu können. Das war auch der spätere Vorschlag Schellings. Er stellt damit Jacobi sozusagen im Salto nach der Art Kopfunten wieder auf seine Füsse: Schelling beantwortet die Frage, indem er ihre Beantwortung zwar nicht für sinnlos, aber für unmöglich erklärt. Demzufolge kennt das Denken des Denkens durchaus eine adäquate Be‐ stimmung. Es muss freilich eine Bestimmung sein, die etwas als undenkbar bestimmt. Das ist eine negative Bestimmung. Negativ, weil sie kein Vermögen, sondern die Einsicht in das Unvermögen des Denkens ist, sich selbst ganz zu begreifen. Sobald diese Negativität aber ausdrücklich wird, erhält sie Bestimmt‐ sein. Die Bestimmung lautet auf ebendiese Negativität, dass der Anfang nicht in das Denken eintreten, und auch die letzte Affirmation das Denken nicht zum Gegenstand machen kann. Sofern aber das Denken selbst es ist, das sich denken 23 §1 Der kritische Impuls <?page no="24"?> 20 Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 162. will, ist dieses negative Ergebnis ebenso ein Gewinn: Der Gewinn lautet auf die Ausdrücklichkeit der Tendenz des Denkens, sich im Frageprozess weiter auf das hin zu entwerfen, was es nicht schon weiss. Denn ein Denken, das sich negativ bestimmt, ist ein Denken, das nie abgeschlossen ist. Es drängt zu weiterer Entfaltung. So gewinnen wir mit Schellings Negativitätsthese ein positives Selbstverständnis des Denkens als Entwurfsprozess: ein Denken, das von sich wegführende Fragebewegung ist, welche sodann im Unverstandenen auch ein Selbstverständnis ist. Das Selbstverständnis aber kann die Grenze des Denkens nicht «überspringen», weil dieser Sprung das Denken liquidieren würde - es wäre also nichts mehr da, was zu sich kommen könnte. Vielmehr kann das Denken nur in der Einsicht zu sich kommen, bei sich nicht stehenbleiben zu können. Und damit können wir endlich den Anfang einer Untersuchung des Denkens charakterisieren: die anfängliche Bestimmung ist unstimmig, denn das Denken überhaupt ist Dissonanz. Es ist ein Auseinanderklingen, das nach Auflösung strebt. Aber Einklang ist im Denken nicht möglich. - Dies färbt alle weiteren Denkbestimmungen ein. Das Denken ist dissonant. Das heisst: Es ist Einspruch gegen das Denken. So fällt das Denken des Denkens zwar aus dem Denken heraus, aber ohne damit zusammen zu fallen. Das Denken selbst fällt aus dem Denken, weil es dasjenige im Denken ist, was nicht gedacht werden kann. Aber es fällt nicht damit zusammen, kann nicht damit zusammenfallen, weil es nicht un‐ abhängig vom Denken vorstellbar ist. Es ist kein Akt, auf den das Denken am Ende «herabsehen» könnte. Das Denken als Dissonanz zu begreifen heisst vielmehr, es immer nur im Denken präsent machen zu können, und das heisst, als Weiterdenken. Alles Weiterdenken artikuliert sich in Fragen. Denn eine Frage beginnt dort, wo wir etwas nicht verstehen. Das Denken des Denkens, das wir nie verstehen können, ist deshalb die Frage schlechthin. Diese Frage, die negative Einsicht des sich nicht denken könnenden Denkens, treibt das Denken in Fragebewegungen voran. Die Frage ist das Denken, an dem das Denken sich allein dadurch, dass wir denken, stösst. Daraus folgt zweierlei. Erstens ist die Negativität des Denkens, um mit einem Wort Adornos zu sprechen: «unbeirrt.» 20 Unbeirrt ist Negativität, wenn sie sich nicht darin erschöpft, im Negativen zu verharren. Der Einspruch des Denkens gegen die Denkbarkeit seiner selbst ist ebenso ein Einspruch dagegen, dass diese Undenkbarkeit eine positive Einsicht sei, also eine gleichgültige Feststellung, dass das Faktum des Denkvollzugs ausserhalb des Denkens liege. Vielmehr ist der dissonante Anfang auch Widerstand dagegen, «das Negative selbst 24 §1 Der kritische Impuls <?page no="25"?> 21 Emil Angehrn, Kritik und Versöhnung: Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno, Weilerswist 2008, S. 268. 22 Ich werde diesen Aspekt am Ende dieses Buches, in Kapitel 18 Ursprung und Ziel: Zum Anspruch des Denkens wieder aufgreifen. 23 Siehe hierzu: Schelling, Vom Ich als Princip der Philosophie, op. cit., S. 74: «So würden wir niemals wissen, dass [sic! ] wir wissen: Wenn dieses aber selbst Bedingung alles Wissens, ja Bedingung seiner eigenen Erkenntnis, also das einige Unmittelbare in unserem Wissen ist, so wissen wir ebendadurch, dass [sic! ] wir wissen, wir haben das Princip gefunden, von dem Spinoza sagen konnte, es seye das Licht, das sich selbst und die Finsterniss erhelle.». 24 Arend Kulenkampff, Antinomie und Dialektik. Zur Funktion des Widerspruchs in der Philosophie, Stuttgart 1970, S. 4f. 25 Vgl. Schelling, Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, op. cit., III. Brief, S. 59. 26 Zu Anfang und Ursprung: siehe Emil Angehrn, Die Frage nach dem Ursprung. Philoso‐ phie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, Berlin/ New York 2007, S. 251ff. und Günter Figal, Gegenständlichkeit, Tübingen 2006, §§4-6. 27 Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 27f. zu einem Letzten zu machen.» 21 Denn das Negative zum Letzten zu machen würde einen Sprung Kopfunter ins Undenkbare verlangen. Dieser Sprung ins Undenkbare streiche aber ebenso das Undenkbare durch, weil dieses den obigen Begriffen zufolge gerade darin besteht, einen Gedanken zu haben. Würde das Denken aufgegeben, verlöre der Terminus des Undenkbaren den Sinn. Damit hängt, zweitens, zusammen, dass die Negativität des Denkens nicht nur einen Gedanken betrifft, sondern alles Denken, das überhaupt möglich ist. Denn kein Gedanke könnte gedacht werden, ohne dass er gedacht wird. Hieraus ergibt sich eine Korrektur der anfänglichen Fragestellung: Die Negativität unbeirrten Fragens ist dem Denken nicht nur ursprünglich, sondern macht ebenso den Fortgang des Denkens aus. 22 Wir können die Negativität somit das Prinzip des Denkens nennen. 23 Das Prinzip lautet: Das Denken ist bei sich selbst, wenn es ausser sich ist. Es ist in sich gegen sich, «Über‐ gang-in-sich-in-Anderes oder -in-Anderes-in-sich.» 24 Die lateinische Überset‐ zung des griechischen Wortes für «Anfang» konserviert diesen sachlichen Zusammenhang: Der Anfang einer Untersuchung über das Denken ist kein zeitlicher Anfang, sondern ἀρχή, also ein ursprünglicher Widerstreit. 25 Deshalb, weil er nicht nur ein zeitlich Erstes, sondern ein Ursprüngliches 26 ist, macht er auch das principium des Fortgangs aus: Er kennt kein gleichgültiges Abseits, sondern ist gegenwärtig nur im Motiv des fragenden Weiterdenkens; er «bedarf der Entfaltung. Auch Musik, und wohl jegliche Kunst, findet den Impuls, der jeweils den ersten Takt beseelt, nicht sogleich erfüllt, sondern erst im artikulierten Verlauf.» 27 25 §1 Der kritische Impuls <?page no="26"?> Die zu Beginn festgestellte Nichteinholbarkeit des Denkens ist also kein Defizit. Sie ist dem Denken ursprünglich und somit Strukturmoment, das, wie ein Takt im Musikstück, alles Denken durchwaltet. Und fast wie Musik, welche gespielt werden will, verlangt auch das Denken nach seiner denkenden Artikulation oder «Entfaltung». Ich werde auf diese Struktur als auf die Impulsivität des Denkens referieren. 26 §1 Der kritische Impuls <?page no="27"?> 1 Schelling, Philosophie der Offenbarung, op. cit., IV. Vorlesung, S. 68. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Kritische Schriften (= Gesammelte Werke 4), Hamburg 1801-2/ 1968, S. 117. §2 Denken in der Krise Der Impuls des Denkens besteht darin, dass sich das Denken nie ganz, sondern immer als sein anderes hat. Das impulsive Denken ist demnach ein Denken, das wesentlich im Konflikt mit sich selber steht. Das ist im eigentlichen Wortsinn ein Denken in der Krise (κρίσις) - ein Denken in der Scheidung von sich in Anderes. 1 Aber das Denken muss erst zu dieser Krise hingeführt werden. Es hat die Krise - und gerade darin besteht die Krisenhaftigkeit - nie ganz. Und so ist die Krise nicht Eigenschaft oder Zustand des Denkens, sondern jenes Tun, welches die Krise herbeiführt. Sie ist also Bewegung, und diese ist selbstbezüglich. Die Krise ist diejenige Bewegung, deren Tun (welches ein Denken ist) sich selber herstellt, weil das Tun Konfligieren mit sich ist. Damit erhält die Krise die weitere Bestimmung einer κριτική τέχνη, also der Kunst und Tätigkeit des Unterscheidens, kurz: der Kritik. Kritik heisst somit der Ursprung des Denkens. Und dieser Ursprung ist, wie wir gesehen haben, eine Fragebewegung. Folgen wir dieser Bewegung, so gilt es nun einen kohärenten Kritikbegriff auszuarbeiten. Was also ist Kritik? Gehen wir alltagssprachlich vor, so scheint Kritik zunächst eine Tätigkeit zu sein, welche nicht auf das Denken oder dessen Ursprung gerichtet ist, sondern auf Sachverhalte und Tatbestände, die in der Welt stattfinden. (Später werden wir sehen, dass dieser alltägliche Kritikbegriff unzureichend ist.) In der Alltagssprache ist Kritik also eine Haltung, die auf eine Mannigfaltigkeit verschiedener Sachverhalte gerichtet sein kann: Wir kritisieren zum Beispiel Kunstwerke, politische Zusammenhänge, wissenschaftliche Arbeiten etc. Etwas kritisch zu betrachten heisst hier, die Angemessenheit eines Sachverhalts in Frage zu stellen oder zu bewerten. Dazu wird ein bestimmter Massstab an den Sachverhalt herangetragen und überprüft, ob dieser jenem adäquat ist. 2 Im ursprünglichen Wortsinn κριτική handelt es sich also um die Prüfung eines Sachverhalts (zum Beispiel im Bereich der Politik oder Kunst) in Hinblick auf einen bestimmten Anspruch oder Massstab (zum Beispiel der Mündigkeit, Emanzipation, Schönheit etc.). Man könnte auch sagen, Kritik bewertet eine Sache hinsichtlich eines Interessens. Dies besagt zunächst nichts anderes, als dass sie einen Anspruch an die Rechtmässigkeit eines Sachverhalts stellt. Durch diesen Anspruch unterscheidet sich eine kritische Untersuchung von an‐ <?page no="28"?> 3 Vgl. Marc Nicolas Sommer, Was ist kritische Theorie? Prolegomena zu einer negativen Dialektik (= Zeitschrift für kritische Theorie 21), Hamburg 2015, S. 166. 4 Vgl. Hans Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1977, S. 35. spruchsloseren Verfahren: Neben der neutralen Beschreibung des Gegenstandes artikuliert sie auch eine Wertung hinsichtlich dessen, was der Gegenstand zu sein habe. Im Alltäglichen bedeutet Kritik zu üben: etwas anhand bestimmter Kriterien auf seine Rechtmässigkeit hin zu überprüfen. Dadurch wird die Geltungsmacht der kritischen Untersuchung konstatiert. Denn im Gegensatz zu neutralen Be‐ schreibungen involviert Kritik, wie gesagt, eine Wertung anhand von Untersu‐ chungskriterien. Das heisst, alltägliche Kritik nimmt eine bestimmte Perspektive auf etwas ein und verlangt so einen Standpunkt, ein kritisches Subjekt, welches den Massstab der Kritik bestimmt. Folglich ergibt sich ein Auseinanderfallen von kritisierender Instanz (Subjekt) und kritisiertem Gegenstand (Objekt). 3 Das führt zu einer Reihe von Problemen. Damit Kritik ihrem Anspruch der Überprüfung gerecht werden kann, muss das Subjekt den Massstab begründen können. Könnte das Subjekt die einge‐ nommene Perspektive auf einen Gegenstand nicht begründen, so wäre Kritik überhaupt nicht kritisch, sondern nur wieder die anspruchslose Beschreibung individuellen Gutdünkens. Setzt aber das kritische Subjekt zur Legitimation des Massstabs wiederum einen anderen Massstab, so kann dieser von einem weiteren Standpunkt aus kritisiert werden und so fort ad infinitum. Aus systematischer Perspektive kann kein Anspruch sinnvoll erhoben werden, wenn er vom Werterelativismus erstickt wird. Hält hingegen das kritische Subjekt autoritär an der Rechtmässigkeit der gesetzten Kriterien fest, ohne diese zu begründen, so schrumpft Kritik zum Dogma. Dies aber mündet in einem Zirkel: Kritik kann nicht als Dogma gedacht werden, wenn der kritische Impuls darin besteht, das Gegebene oder Gemeinte auf dessen Rechtmässigkeit hin zu befragen. Vermöge des kritischen Impulses erscheint jedes Dogma immer schon als Moment von Kritik. So bleibt, wie es scheint, nur der Abbruch des Verfahrens. Aber an welchem Punkt der kritischen Untersuchung wäre ein solcher Abbruch legitim? - Offenbar an keinem: Denn jeder Abbruch unterliegt der Möglichkeit von Kritik. Oder er hebelt (ähnlich wie im genannten Zirkel) das kritische Prinzip als solches, d. i. den Rechtsanspruch der Untersuchung aus. 4 Doch wie liesse sich der kritische Anspruch dann erfüllen? Alle drei Op‐ tionen: infiniter Regress, logischer Zirkel, Abbruch des Verfahrens, legen ja die Unmöglichkeit einer kompromisslosen Durchführung von Kritik nahe. So scheint es, dass Kritik die Möglichkeit ihrer Durchführung selber bezweifelt. Sie stellt die Frage: Wie ist Kritik möglich? Diese Frage ist nicht einfach abzuwenden, 28 §2 Denken in der Krise <?page no="29"?> 5 Darin begründet sich indes die terminologische Entscheidung, von einem «kriti‐ schen» und nicht von einem «transzendentalen» Subjekt zu sprechen: Obwohl beide Formulierungen das gemeinsame Projekt zum Ausdruck bringen, die Möglichkeit von Kritik auszuweisen, wird mit dem Ausdruck «kritisch» zusätzlich eine Normativität obsolet, die zu betonen eine Zielsetzung dieses Buches ist. Sie werde ich am Ende des Buches in Kapitel 18 offenlegen. denn: Lassen wir den kritischen Anspruch fallen, leugnen wir nicht nur die überall praktizierte Kritik, sondern wir drohen wieder mit Jacobi Kopfunter zu fallen und den Boden des Denkens zu verlieren. (§1) Die Frage nach der Möglich‐ keit von Kritik drängt sich auf, weil wir denken können, dass wir denken, und das heisst soviel wie dies: dass wir überhaupt denken. Das blosse, denkend nicht einzuholende Faktum des Denkvollzugs reicht aus, das Denken zu entzweien, in die Krise zu führen und einen kritischen Anspruch an das denkende Subjekt zu stellen. - Hier wird bereits sichtbar, dass im Begriff «Kritik» ein normatives Motiv wirksam ist, welches Kritik weit über die individuelle Haltung einer Person hinaus auch als die allgemeine Pflicht ausspricht, die uns allein durch das Faktum aufgegeben ist, dass wir denken. 5 - Wenn aber dieser mit dem Denken überhaupt erhobene kritische Anspruch nicht schon im Vornherein für aussichtslos gehalten werden soll, das heisst, wenn Kritik möglich ist, dann verlangt das Kriteriumproblem nach einer Lösung. Das Problem zu lösen ist von dessen Auflösung zu unterscheiden: In einer Auflösung verflüchtigt sich eine Struktur. Wie ein Stück Zucker in heissem Kaffee würde sich das vorliegende Problem auflösen, wenn der Kritikbegriff als widersprüchlich anerkannt würde: Wir müssten dann schliessen, dass Kritik nicht möglich ist und den kritischen Anspruch fallenlassen. Wenn aber Kritik möglich ist - und diese Möglichkeit kann sich erst am Ende der Untersuchung erweisen -, so liegt es vielmehr nahe, den kritischen Impuls anders zu begreifen. 29 §2 Denken in der Krise <?page no="31"?> 1 Rüdiger Bubner, Was ist Kritische Theorie? (= Philosophische Rundschau 3), Tübingen 1969, S. 215. 2 Gemäss der Klassifizierung durch James Conant unterscheidet sich diese Art der kantischen Kritik von einer vorkantischen (cartesianischen) Spielart des Skeptizismus durch deren unterschiedliche Ausgangsfragen: Während die cartesianische Skepsis dem Verdacht entspringt, dass Gegenständlichkeit (Wachsein) und Traumgebilde (Träumen) niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können, fragt Kant nach den «Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt», die zugleich «Be‐ dingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung» sind. (Kant, KrV, A111) Der zentrale Unterschied besteht nun darin, dass Kant etwas ins Offene stellt, was im cartesianischen Zweifel noch vorausgesetzt wird, nämlich dass Gegenstände überhaupt Gegenstände der Erfahrung werden können. Es ist diese zweite Art des Zweifels, welche die Grundlage für radikale Kritik im Kontext dieses Buches bildet, weil sie nichts §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem Denken ist ein Auseinander-Klingen; Dissonanz, die das Denken daran hindert, bei sich stehen zu bleiben, weil es zu seiner Auflösung drängt. Dieses Streben, welches Resultat und Vollzug des ursprünglichen Denkens ist, habe ich kritische Impulsivität genannt. Das Problem des kritischen Impulses besteht aber darin, dass die Möglichkeit solcher Impulsivität nicht gesichert scheint: Sie hebt sich entweder als Standpunktkritik im Dogmatismus auf, oder ihr Geltungsanspruch geht im Legitimationsregress bzw. willkürlichen Abbruch verloren. (§2) Wenn daher kritisches Denken nicht überhaupt für unmöglich gehalten wird, so kann es offenbar nicht in dem alltäglichen Verständnis bestehen, irgendwelche Missstände herauszustellen, die ihm äusserlich sind. Um den kritischen Impuls legitimieren zu können, muss der kritisierte Gegenstand vielmehr in die Sphäre der kritisierenden Instanz hineingeholt werden. Die Legitimation des Denkens muss vom Standpunkt der kritisierenden Instanz, dem Subjekt selbst erfolgen, sodass Kritik - so die These dieses Kapitels - selbstlegitimierend wird: Soll ihre Geltung gesichert werden, ohne autoritär oder dogmatisch aufzutreten, ist Kritik, wie im Folgenden erklärt, Selbstkritik.  1 Kritik ist möglich, sofern Selbstkritik möglich ist. Denn Kritik in der Form von Selbstkritik untersucht nicht nur einen Sachverhalt, sondern setzt die Untersuchung ins Verhältnis zu den Bedingungen, unter denen sie erfolgt. Mit anderen Worten: Das Subjekt der Selbstkritik untersucht nicht etwas Äusseres, sondern die eigene Möglichkeit, die Möglichkeit der kritischen Untersuchung. Dieses Verständnis von Kritik geht auf Kants Kritik der reinen Vernunft zurück. 2 <?page no="32"?> als gegeben voraussetzt, sondern die Voraussetzung der Möglichkeit, dass überhaupt etwas gegeben ist, hinterfragt. (Vgl. James Conant, Spielarten des Skeptizismus, Berlin/ München 2011). 3 Kant, KrV, A76/ B102; zur Unterscheidung von transzendentaler und allgemeiner Logik, siehe Gunnar Hindrichs, Kants Idee einer transzendentalen Logik und die Transzenden‐ talphilosophie der Alten, Würzburg 2011. 4 Vgl. Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 122, verweisend auf: John McDowell, Die Welt im Blick. Aufsätze zu Kant, Hegel und Sellars, Frankfurt am Main 2015. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I/ 1 (= Gesammelte Werke 11 und 12), Hamburg 1812-16/ 1978-81, S. 21. Kants Kritik ist radikal - eben nicht nur in dem etymologischen Sinne, dass sie beliebige Sachverhalte ihrer Geltung entwurzelt und sie als Irrtümer ent‐ blösst -, sondern weil sie ein Verfahren ist, das die eigene Geltungsmacht voraussetzungslos ins Offene zu stellen sucht. Selbstkritik handelt dann von den Irrtümern, welche in die Tätigkeit der Kritik fallen. Jeder Gegenstand von Selbstkritik wird hiernach als Reflex des kritisierenden Subjekts kenntlich und so in die subjektive Sphäre eingeholt. Das hat Folgen. Geht das selbstkritische Denken zum Gegenstand aus, so ist es darin auch Rückkehr in sich. Denn gefragt ist nicht nur die Rechtmässigkeit des Gegenstands anhand irgendwelcher Kriterien, sondern die Möglichkeit, solche Kriterien anzusetzen, ohne im Regress oder Dogmatismus zu enden. Ein solches selbstkritisches Denken, das die Möglichkeit der Selbstlegitimation sucht, heisst transzendental. Kant unterscheidet transzendentale Kritik von der allgemeinen oder nur formalen: Während es in einer formalen Überlegung um die Stimmigkeit eines Gedankens unter Abstraktion seines Inhalts geht, ist die transzendentale Kritik auf einen Gegenstand gerichtet. Aber sie fragt nicht nach der Besonderheit des Gegenstands, sondern nach den allgemeinen Bedingungen, unter denen er als diese Besonderheit erscheint. 3 Das bedeutet, transzendentale Überlegungen begründen nicht einzelne Objektivitätsbezüge. Schliesslich entsteht durch Überlegen allein noch nicht notwendigerweise etwas Objektives - transzendentale Kritik kreiert keine Objekte. Und doch hat sie ihrem Anspruch nach das Objektive «im Blick». 4 Wie ist das zu verstehen? In der Einleitung zur Logik schreibt Hegel dazu Folgendes: «Dieses objective Denken ist denn der Inhalt der reinen Wissenschaft. Sie ist daher so wenig formell, sie entbehrt so wenig der Materie zu einer wirklichen und wahren Erkenntnis, dass ihr Inhalt vielmehr […] die wahrhafte Materie ist, […] der die Form nicht ein äusserliches ist, da diese Materie vielmehr der reine Gedanke […] ist.» 5 32 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="33"?> 6 Vgl. Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 126. 7 Wagner, Philosophie und Reflexion, op. cit., §11, S. 93. Das «objective Denken» ist ein Denken, das Objektives im Sinn hat. Objekte im Sinn zu haben bedeutet nicht Objekte zu bestimmen. Objekte zu bestimmen ist Aufgabe der Standpunktkritik. (§2) Sie untersucht zum Beispiel einen poli‐ tischen Zusammenhang auf die Frage der Emanzipation hin. Dagegen setzt Selbstkritik nicht primär konkrete Kriterien an, deren Rechtmässigkeit wieder anhand eines anderen Kriteriums demonstriert werden müsste usf. Inhalt von Selbstkritik ist in erster Linie die Rechtmässigkeit der angesetzten Kriterien: Legitimität dessen, Sachverhalte anhand bestimmter Kriterien kritisieren zu können. - Wenn aber Selbstkritik nicht vor allem konkrete Kriterien, sondern sich selbst bzw. die eigene Möglichkeit untersucht, so läuft sie Gefahr, im Kreisen in und um sich selbst allen Gehalt auszuhöhlen. Sie droht leer und bedeutungslos zu werden. Der Zirkeleinwand beruht auf einem Missverständnis: Kritik «entbehrt so wenig der Materie», wie Hegel oben schreibt, «dass ihr Inhalt vielmehr […] die wahrhafte Materie ist.» Zwar bestimmt Selbstkritik nicht nur konkret vorlie‐ gende Gegenstände. Aber sie ist der Materie gegenüber nicht gleichgültig, son‐ dern beansprucht deren Objektivität. Der Anspruch beinhaltet - darin liegt die Crux-, die Struktur einer Sache in subjektiver Hinsicht darzulegen. 6 Subjektiv freilich nicht im persönlichen Massstab, sondern als die Möglichkeit, legitime Objektivitätsansprüche zu erheben. Im Unterschied zur formallogischen Über‐ legung handelt Selbstkritik also nicht von abstrakten Beziehungen variabler Inhalte, sondern vom Inhalt. Sie «hebt die Weltbezogenheit des Denkens nicht auf, sie hebt nur die Unmittelbarkeit dieser Weltbezogenheit auf» 7 , weil ihr Vollzug am Objekt nicht deskriptiv bestimmend ist. Denn im Fokus steht die Möglichkeit, Objekte deskriptiv bestimmen zu können: Inhalt der Selbstkritik sind nicht nur Objekte, sondern auch die subjektiven Kriterien des Objektbezugs. Damit kommt dem Inhalt von Selbstkritik die besondere Eigenschaft zu, ebenso objektiv wie subjektiv zu sein: Sie untersucht das Objekt auf sein subjektives Bedingtsein. Darin unterscheiden sich gewöhnliche Begriffe mit konkretem Objektbezug - Begriffe von Gegenständen wie Sonne, Mond und Sterne - von kritischen Begriffen mit transzendentalem Objektbezug: Der Inhalt kritischer Begriffe ist nicht die Bestimmung eines Gegenstands, sondern die Möglichkeit seiner Bestimmtheit. Das heisst, kritische Begriffe bestimmen keine Objekte - Sonne, Mond, Sterne -, sondern mögliche Objekte. Ihre Möglichkeit ist die Möglichkeit dessen, das Objekt, wie es ist, mit den Entwürfen unseres Denkens überhaupt begreifen zu können. Begriffe dieser Art heissen Kategorien. 33 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="34"?> 8 Zum Kategorienkonzept Kants, siehe: Werner Flach, Das Kategorienkonzept der kri‐ tischen Philosophie Kants und seine Revision in der Erkenntnislehre des Marburger Neukantianismus, Würzburg 1990, besonders S. 268-281. 9 Vgl. Kant, KrV, A56f./ B80f. Kategorien sind die Begriffe selbstkritischen Denkens und dessen Gehalt. 8 Sie sind die «wahrhafte Materie» einer Wissenschaft, von der Hegel oben schreibt, dass sie «so wenig formell» sei, wie sie «der Materie [entbehrt]» (s. o.). Jetzt können wir verstehen, was das bedeutet. Kategorien sind doppelbödig: Sie gelten ebenso (formell) für das Subjekt, wie (materiell) für das Objekt, weil sie das Objekt kategorial, das heisst in subjektiver Hinsicht betrachten. Damit ist der obige Einwand, Selbstkritik sei zirkulär und leeres Hirngespinst, aus dem Weg zu räumen: Doppelbödige Kategorien handeln von der Welt. Weil es aber in der Selbstkritik nicht ausschliesslich um die vorgefundene Welt und die Be‐ stimmung ihrer Gegenstände geht, sondern vor allem um die Bedingungen der Möglichkeit sie zu denken, so machen die Kategorien nicht nur den Inhalt einer selbstkritischen Untersuchung aus, sondern auch deren «Form»; und diese ist nach Hegel der Materie «nicht ein äusserliches.» (s. o.) Das bedeutet: Kritische Begriffe beschreiben keine Gegenstände, formen aber den Zusammenschluss von Subjekt und Gegenstand. Und erst mit dem Aufweis der Möglichkeit dieses Zusammenschlusses kann Kritik - diese Bedingung gilt auch für Kritik im alltäglichen Sinn, also für Kritik am konkreten Gegenstand (§2) - rechtmässig erfolgen. Somit steckt die Legitimation des Zusammenschlusses von Denken und Materie mit ihren doppelbödigen Begriffen oder Kategorien den Rahmen ab, innerhalb dessen es möglich ist, subjektive Kriterien des Denkens auf aussergedankliche Sachverhalte anzuwenden. - Aber wie lassen sich diese Kategorien legitimieren? Hierin liegt die ganze Schwierigkeit. Die Bestimmung der Kategorien ist erklärte Aufgabe von Selbstkritik im kantischen Sinne. 9 Denn die Kategorienle‐ gitimität ist mit der Möglichkeit von Selbstkritik engzuführen: Das Denken legitimiert sich selbst, sofern gezeigt werden kann, dass der im Denken erhobene Anspruch, auf aussergedankliche Sachverhalte Bezug zu nehmen, als rechtmässig erwiesen wird. Wenn also der Anspruch auf Objektivität, welcher dem Denken ursprünglich ist, mit Recht erhoben wird, so ist auch die Möglichkeit des kritischen Selbstbezugs gesichert. Um die kritische Frage nach der Möglichkeit von Selbstkritik beantworten zu können, müssen wir uns deshalb im Folgenden um die Option einer Kategoriendeduktion bemühen. Das Problem ist, dass die Kategorien, wie es scheint, nicht allein aus dem Denken deduziert werden können, gerade weil ihr Anspruch wesentlich darin besteht, 34 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="35"?> 10 Vgl. Ibidem, Anm. A245f. 11 Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 128. 12 Johann Georg Hamann, Metakritik, Frankfurt am Main 1784/ 1967, §14. 13 Kant, KrV, A765/ B793. für aussergedankliche Sachverhalte zu gelten: 10 Werden die Kategorien aus dem Denken hergeleitet, so könnte dieser Anspruch gleichsam der «Anspruch eines blossen Denkens, bar jeder Wirklichkeit» 11 bleiben. Wir können uns diese Schwierigkeit einer Kategoriendeduktion an einem kleinen Exkurs vergegenwärtigen. Johann Georg Hamann, ein Freund und Kritiker Kants, hält Selbstkritik für Unsinn. Sie sei das «Formenspiel einer alten Baubo mit ihr selbst.» 12 Oder in den eigenen Worten Kants: «Selbstgebärung unseres Verstandes (samt Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu sein.» 13 Der Vorwurf gegen Kant (den Hamann - gewitzt, wie er ist - Kant auch noch selber in den Mund legte,) lautet auf die Zirkularität einer selbstkritischen Untersuchung, welche immer schon eine Anwendung ihrer in Frage stehenden Kategorien ist. Sie gelange demnach gar nicht mehr zur Sache, sondern bespiegle sich überall nur selbst. Und tatsächlich spürt Hamann hinter aller Polemik dem dringenden Problem nach: Wenn Selbstkritik in all ihren Gegenständen nur sich selbst wiederfindet, so bleibt schleierhaft, mit welchem Recht sie Objektivität be‐ anspruchen kann. Hamann meint, die nur im Denken zugänglichen Kategorien garantierten vielleicht, dass die Welt nach der Massgabe des Denkens erscheine. Gerade dies unterlaufe aber den Objektbegriff, weil damit ein unverstellter Blick auf die Welt, wie sie unabhängig von unserem Denken (also objektiv) ist, verhindert würde. Doch wie lautet die Alternative? In der Absicht, das Kategorienproblem zu umschiffen und sich über Selbst‐ kritik hinaus zu schwingen, stellt Hamann ein «Meta» vor bzw. hinter Kritik. Er begründet die Metakritik. Metakritik ist nicht antikritisch. Sie will sich nicht blind auf ein unbegreifliches Jenseits verlassen. Aber sie fordert eine Überschreitung des Denkens, indem sie Selbstkritik an ihren eigenen Wider‐ sprüchen über sich hinauszuführen versucht, oder besser: indem sie die im wörtlichen Sinne entwurzelte (radikale) Kritik wieder bei der Wurzel packen will. Metakritik ist also auch, wie transzendentale Kritik oder Selbstkritik, Reflexion auf den Kategorienrahmen von Kritik: Rückbezug auf ihre Vorausset‐ zungen. Nur können diese Voraussetzungen nach der Meinung Hamanns gerade nicht durch Kritik begründet werden. Sie müssten hinter der Kritik liegen, ihr also im wörtlichen Sinne vorausliegen. Für Hamann liegt der Schritt ins Reich der «Hintergedanken» nahe, weil die im Denken erhobenen Ansprüche nicht ohne weiteres im Denken legitimiert werden können. Aber seinem eigenen, meta-kritischen Anspruch nach inkonsequent, wie mir scheint, solle sich das 35 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="36"?> 14 Hamann, Metakritik, op. cit., §16. 15 Vgl. Fritz Blanke, Johann Georg Hamanns Hauptschriften erklärt (II), Gütersloh 1959, S. 20f. Obwohl Hamanns Ansätze überaus unterhaltsam sind, verzichte ich zugunsten der Ausarbeitung des Kritikbegriffs auf eine detaillierte Darlegung seiner Ansichten zu Sprachphilosophie und Traditionsvermittlung und behelfe mich mit einem Verweis auf Eckard Schuhmachers aufschlussreiche Ausführungen zum Verhältnis von Denken und Nichtdenken bzw. Verständlichkeit und Nichtverständlichkeit (vgl. Eckard Schuh‐ macher, Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt am Main 2000, S. 89-156). Denken in jenem Reich der Hintergedanken zugunsten eines Vernehmens oder Glaubens zurücknehmen. Wir kennen eine ähnliche Argumentation bereits vom jungen Schelling und von Jacobi (§1) - und wissen also auch, dass einer, der den Salto nach der Art Kopfunten wagt, wieder auf den Füssen landet. Hinter der Kritik ist keine Kritik, nach dem Denken kein Denken möglich. So weit hat Hamann auch gesehen: Er stellt an die Stelle des Denkens kein Metadenken, sondern das Individuum und seine natürlichen Bedürfnisse. Und er argumentiert: Weil Selbstkritik nie zu dem kommen könne, was sie suche (nämlich einer Kategoriendeduktion), könne sie sich ihrer Voraussetzungen nicht gewiss werden. Also sei die kantische Kritik, welche sich nicht zum Glauben durchringen kann, ihrem Wesen nach nicht etwa Begründungsver‐ hältnis, sondern Sinnlichkeit. Diese Sinnlichkeit denkt sich Hamann nach dem Vorbild natürlicher und sozialer Bedürfnisse. Zum Beispiel brauche jedes denkende Subjekt Schlaf und auch genügend Geld zum Leben. Dass ein Subjekt ausgeschlafen sei und keine Geldsorgen habe, sei Voraussetzung dafür, über‐ haupt irgendwelche Kritik üben zu können. Ein (logisches) Subjekt dagegen, das keinen Schlaf brauche, sei noch gar nicht aufgewacht. Es «schnarcht» 14 weiter in einer Traumwelt vor sich hin, wie Hamann meint, habe aber mit der objektiven Welt auch nichts zu tun. Dieses Schnarchen des selbstkritischen Subjekts ist, salopp gesagt, Hamanns Einwand gegen Kant: Das «Meta» des kritischen Denkens sind körperliche Bedürfnisse, sinnliche Eindrücke, aber auch soziale wie sprachliche Bedingungen. 15 Dass Hamanns Metakritik Schmunzeln lässt, ist nicht ohne Grund. Sie steht in komischer Schieflage zum Programm radikaler Kritik: Ein Subjekt ist eine logische Bestimmung - und kann natürlich nicht schlafen, essen oder Geld verdienen. Trotzdem markiert Hamann einen wichtigen Punkt, wenngleich er genau damit auch entschlossen am Wesen von Selbstkritik vorbeizielt. Was Hamann sagt, ist offensichtlich richtig: Das Leben des Geistes kennt natürlich körperliche Bedingungen (Müdigkeit schwächt das Denken usw.). Und es ist auch richtig, dass Selbstkritik diesen körperlichen Bedingungen keine Beachtung zollt. Im Gegenteil: Privatsinnliche und materielle Verhältnisse 36 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="37"?> 16 In seiner zwischen 1821 und 1825 verfassten Rezension von Hamanns Werken nennt Hegel das Pseudonym «Magus im Norden» auch «eine Art Titel», den Hamann sich zugezogen habe, und dem «entsprach, dass er selbst in seinen Schriften überall nur fragmentarisch und sibyllinisch gesprochen hatte» (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rezension (= Gesammelte Werke 16), Hamburg 1821-5/ 2001, S. 130). werden systematisch abstrahiert. Sie zu abstrahieren heisst aber nicht, sie zu leugnen. Nur interessiert sich kantische Kritik ebenso wenig für körperliche Befindlichkeiten wie für privates Gutdünken. Das wiederum ist keine willkür‐ liche Setzung. Denn Selbstkritik ist ihrem Anspruch nach nichts anderes als die Prüfung ihrer Rechtmässigkeit. Da diese Prüfung Objektivitätsansprüche stellt, muss sie vor einem allgemeinen Publikum, das heisst im Sinne aller, nicht des Einzelnen vollzogen werden. Man würde ja auch vor Gericht einen unrechten Entscheid nicht nur deshalb entschuldigen, weil die Richterin in der Nacht davor schlecht geschlafen hätte. Die Richterin kann nur ein allgemeingültiges Urteil fällen, wenn sie es auch rechtfertigen kann. Für eine überzeugende Rechtfertigung muss sie - zumindest dem Anspruch nach - von privaten Befindlichkeiten abstrahieren. Die praktische Schwierigkeit der Durchführung dieser Abstraktion entlastet nicht von der Richtigkeit der Forderung. Es gehört unwiderruflich zur Aufgabe der selbstkritischen Denkerin, die Rechtmässigkeit der eigenen erhobenen Ansprüche im Sinne aller anderen, also nach allgemeinen Kriterien zu prüfen. Weil Metakritik schon den Anspruch jener Abstraktion nicht annimmt und vor deren unmög‐ lichen Durchführung kapituliert, hat sie letztlich nichts gegen Selbstkritik in der Hand. Soweit sie sich auf das Individuum beruft, kann sie keinen allgemeinen Geltungsanspruch erheben; sie bleibt Hamanns Privatmeinung. Als solche aber sticht sie nicht, weil sie gar keine Ansprüche stellen kann - auch keine meta-kritischen. Hieraus erklärt sich im Übrigen, weshalb Hamanns Metakritik genuin dunkel bleibt - eine Dunkelheit, der Hamann das Pseudonym des Magus im Norden  16 verdankt: Metakritik ist nur insofern verständlich, als sie Selbstkritik an die Unmöglichkeit ihres Selbstabschlusses heranführt. Der Schritt in ein Hinterreich des Denkens aber kann weder allgemein legitimiert noch überhaupt gedacht werden. Er ist somit auch nicht Thema von Kritik. Ich fasse zusammen. Die Stichkraft einer Metakritik trifft die Zirkularität des kritischen Denkens. Hier macht sie zurecht auf ein schwerwiegendes Problem der Selbstkritik, das Kategorienproblem aufmerksam. Aber sie ver‐ kennt das kritische Programm, wenn sie ihr deshalb Leere und Unmöglichkeit attestiert. Das kritische Unterfangen besteht darin, über das Subjektive hinaus eine Perspektive auf Objekte zu entwerfen; darauf also, was nicht subjektiv 37 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="38"?> 17 Vgl. Emil Angehrn, Ursprung und Gestalt. Die zwiespältige Entstehung der Metaphysik, Frankfurt am Main 1992, S. 161. 18 Vgl. Gernot Böhme, Die Schwierigkeit, das Andere zu denken - oder das Problem des Irrationalen, Amsterdam 1987. 19 Vgl. Kant, KrV, A79ff./ B105ff., dazu: Flach, Das Kategorienkonzept der kritischen Philosophie Kants und seine Revision in der Erkenntnislehre des Marburger Neukantia‐ nismus, op. cit., S. 270-281 mit einem Überblick über die Verhältnisbestimmung von transzendentaler und metaphysischer Deduktion in Anm. 10 auf S. 272-274. ist. Aus diesem Grund vollzieht sich Selbstkritik mit ihren Kategorien nicht im luftleeren Raum, etwa im «Formenspiel einer alten Baubo mit ihr selbst» (s. o.), sondern am Objekt. Und sie ist «transparente» Prüfung der Kriterien dieses objektiven Vollzugs. 17 Trotzdem ist Hamann darin recht zu geben, dass auch in der reflexiven Wendung, also mit der Frage nach den Kriterien bzw. Kategorien ihres Vollzugs, Objektivitätsansprüche gestellt werden. So verhed‐ dert sich Kritik scheinbar im eigenen Legitimationsnetzwerk. Ihr droht der Widerspruch, weil sie im Zeichen des Objekts geschieht, sich ihm aber nicht entwinden kann. - Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser Vorwurf jedoch nur als scheinbarer: Denn es ist keine kritische Aufgabe, das Objekt in seinem Selbstsein zur Darstellung zu bringen. Vielmehr wird gerade mit der Artikulation der kritischen Frage als Frage nach ihrem Kategorienrahmen deutlich, inwiefern Kritik das Objekt in seiner Beziehung und Differenz zum Subjekt sucht. 18 Die Differenz, deren Ordnungsinstanzen Kategorien heissen, ist die Grenze, innerhalb derer rechtmässig Objektivitätsansprüche gestellt werden können. Nicht das Objekt, sondern die Grenze des Objektiven zu arti‐ kulieren ist Ausweis der Möglichkeit von Kritik und somit das Kerngeschäft selbstkritischen Denkens. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe liegt darin, dass Kategorien notwendig zum Denken gehören, obwohl sie keine Gegenstände des Denkens sein können, zumal sie den Rahmen bilden, innerhalb dessen Gedanken überhaupt Gegenstandsbezug haben können. Ihre Legitimation kann deshalb nicht ge‐ genständlich sein. Aber Kategorien müssen im Denken beschlossen liegen, sollen sie es ermöglichen. Also hat die Legitimation des Denkens - und darin finden wir die These dieses Kapitels bestätigt - selbstlegitimierend zu sein. Der Rechtsgrund besteht dann im Nachweis, dass die Operatoren des Denkens auch die Gegenstände des Denkens strukturieren. Anders gesagt, die im Denken hergestellten Bezüge auf Aussergedankliches müssen durch Selbst‐ bezüglichkeit gerechtfertigt werden. Das entspricht dem Vorgehen Kants: Weil Denken Gegenstandsbezüge herstellt, gewinnt Kant die Explikate des Gegenstandsbezug (die Kategorien) aus einer Analyse der Form des Denkens. 19 Das Problem ist, dass die Analyse dieser Form haltlos bleibt, solange sie nicht 38 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="39"?> 20 Ich werde im Folgenden auf diese Formel noch im Detail zurückkommen (bes. §5). Im Augenblick spielt ihr logischer Aufbau vorerst keine Rolle. 21 Kant, Prol, §39, A120. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (= Gesammelte Werke 20, Hamburg 1830/ 1992, §42, S. 79f. 23 Hegel, Wissenschaft der Logik I/ 2, op. cit., S. 28. aus dem Denken expliziert wird. Wie aber liesse sich diese Form des Denkens allein mit Nachdenken begründen? In der Kritik der reinen Vernunft findet sich keine Antwort auf diese Frage. Kant geht zwar von einer Form des Denkens aus, der traditionellen Urteilsform «S (Subjekt) ist P (Prädikat)». 20 Aber er argumentiert nirgends für deren Gültigkeit. In den Prolegomena schreibt er sogar, dass «schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker vor mir [lag], dadurch ich in den Stand gesetzt wurde, eine vollständige Tafel reiner Verstandesfunktionen, die aber in Ansehung alles Objekts unbestimmt waren, darzustellen. Ich bezog endlich diese Funktionen zu urteilen auf Objekte überhaupt, oder vielmehr auf die Bedingungen, Urteile als objektiv-gültig zu bestimmen, und es entsprangen reine Verstandesbegriffe, bei denen ich ausser Zweifel sein konnte, dass gerade nur diese, und ihrer nur so viel, nicht mehr noch weniger, unsere ganze Erkenntnis der Dinge aus blossem Verstande ausmachen können. Ich nannte sie wie billig nach ihrem alten Namen Kategorien.» 21 Ohne es in der Kritik der reinen Vernunft zu problematisieren war sich Kant offenbar des Umstands gewahr, dass er die Kategorien aus bestimmten Denk‐ formen deduzierte, welche keine logische, sondern historische Geltung hatten. Aus diesem Grund ist Kant für seine Kategoriendeduktion immer wieder unter Beschuss geraten. Hegel schreibt, die kantische Philosophie habe es sich «mit der Auffindung der Kategorien sehr bequem gemacht» und sie «empirisch» aus der Tradition übernommen. 22 Das Problem liege genauer darin, dass «die Kantische Philosophie die Kategorien nicht an und für sich betrachtete, sondern sie […] für endliche Bestimmungen, die das Wahre zu enthalten unfähig seyen, erklärte» anstatt sie «der Critik [zu unterwerfen].» 23 Die Kategorien der Kritik zu unterwerfen hätte zur Folge, die bei Kant unbe‐ gründete Form des Denkens «S ist P» zu begründen. Das kann Selbstkritik im eingeführten Sinne nicht leisten, weil sie diesen Rahmen, wie gesehen, 39 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="40"?> 24 Ähnliche Bedenken äussern etwa Erich Abdickes, Kants Systematik als systembildender Factor, Berlin 1887, S. 28ff., später Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit. Die umfassende Abhandlung von Lenk (Kritik der logischen Konstanten. Philosophische Begründungen der Urteilsformen vom Idealismus bis zur Gegenwart, Berlin 1986) bleibt systematisch oberflächlich, reiht Kants Deduktion aber in eine Tradition verschiedener Deduktionsversuche ein und eignet sich als Überblick (vgl. Ibidem, S. 6); aufschlussreich sind indes die Überlegungen von Jürgen Ziegler, Satz und Urteil. Untersuchungen zum Begriff der grammatischen Form, Berlin/ New York 1984, S. 61ff.; Soon-U Hwang, Das Identitätsbewusstsein und die Urteilskopula in Kants Deduktion der Kategorien von 1787, Berlin/ New York 2002; Hogrebe, Prädikation und Genesis, op. cit., S. 48ff.; Béatrice Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge. Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the ‹Critique of Pure Reason›, Princeton 1998, S. 5, 10, und Béatrice Longuenesse, Hegel’s Critique of Metaphysics, Cambridge 2007/ 9, S. 171-173, 186-191, 194-198, 202-217. 25 Michael Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt am Main 1995, S. 37. Freilich referiert Wolff diese Meinung nur, um sie mit seinem Versuch eines Beweises der Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel zu widerlegen. 26 Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 136. 27 Ibidem. mit jedem Denkakt wieder erzeugt. Die nach Hegel vielfach vorgebrachten 24 Vorwürfe, «Kant habe letztlich nur ein traditionelles, in logischen Lehrbüchern enthaltenes Arsenal logischer Urteilsformen ausgeschlachtet und aus diesem Stoff ein weniger durch Sachgründe als durch Symmetriewünsche bestimmtes System gezimmert, […] [dessen] zugrunde gelegte[s] Formensystems nicht bewiesen, sondern nur vorausge‐ setzt wurde» 25 , bleiben weitestgehend unbeantwortet. Deshalb bleibt Kants transzendentales Argument für die Kategorien beschreibend. «Es sagt zuletzt: Unsere Logik sei eben so beschaffen, wie sie beschaffen sei.» 26 Dies freilich beschädigt das kriti‐ sche Unterfangen, dessen Möglichkeit mit der Rechtfertigung der Kategorien auf dem Spiel steht. Sollten die Kategorien ein schieres Faktum darstellen, so bliebe ihre Geltung «relativ zu diesem Faktum». 27 Um die unbegründete Form des Denkens zu begründen und die Kategorien, wie Hegel vorschlägt, «an und für sich» zu betrachten, muss sich die Objektbe‐ zogenheit aus dem impulsiven Denken (§1) herleiten lassen. Wir müssen die Form des Denkens aus dem Denken falten. Für diese Entfaltung hat Hamanns Metakritik bereits einen wichtigen Hinweis gegeben: Mit der herausgestellten Zirkularität, dass das Denken des Denkens den Regeln unterliegt, die es formu‐ liert, kommt die Forderung zum Vorschein, dass das Denken nicht - wie im Spiel einer «alten Baubo mit ihr selbst» (s. o.) - nur sich, das Denken, bespiegelt. 40 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="41"?> Offenbar muss es sich auf einen Inhalt beziehen, der nicht im Denken begründet liegt. Auf diese Weise gelangt die Inhaltlichkeit oder Objektbezogenheit als konstitutives Merkmal des Denkens ins Blickfeld. Inhaltlichkeit aber ist, wie wir gesehen haben, nicht der bestimmte Gegenstand, sondern die kategoriale Dif‐ ferenz zu und die Beziehung auf ihn. Untersucht das Denken diese Differenz, so findet es nicht wieder einen Gegenstand, sondern den Reflex des kritisierenden Subjekts: seine kritische Tätigkeit selbst. Hier ist anzusetzen. 41 §3 Die Möglichkeit von Kritik und das Kategorienproblem <?page no="43"?> 1 Vgl. Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, Frankfurt am Main 2011, S. 149. 2 «Das Andere» ist gleichbedeutend mit: «das Negative», also damit, was nicht schon im Denken liegt, sondern Nichtgedanke ist, und von ausserhalb des Denkens ins Denken gelangen muss. 3 Vgl. Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München 1992, S. 214. 4 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I/ 1, op. cit., S. 246ff. 5 Vgl. Wagner, Philosophie und Reflexion, op. cit., S. 15-17. 6 Johann Christian Friedrich Hölderlin, Seyn, Urtheil, Hamburg 1795/ 2020, S. 7. 7 Ibidem. §4 Ur=Theilung Die Reflexivität des selbstkritischen Vorgangs bedeutet nicht die einfache Wendung des Subjekts auf sich, sondern vielmehr die Wendung des Subjekts auf sich, nachdem es sich den Gegenständen aus sich heraus zugewandt hat. 1 Die Vollzugsform von Kritik ist deshalb die Reflexion: Sie untersucht sich selbst, ist aber bei sich nur in und nach dem Sein beim Anderen. 2 Sie ist nicht nur die Umwendung des Denkens auf sich selbst, sondern auch die Verkehrung ursprünglicher Verhältnisse. 3 Aber jedes Resultat von Reflexion ist Schein. 4 Mit dem Begriff des Scheins erweist sich etwas Selbständiges als durch ein Subjekt Gesetztes. Reflexion ist Scheinen, Spiegelung des Subjektiven im Objekt. So liegt in der Reflexionstei‐ lung auch Verbindung. Denn im Scheinen erweist sich das Objekt als wesentlich auf das Subjekt bezogen. Die kritische Reflexion setzt damit zweierlei voraus. Erstens: Teilung. Das Objekt ist nicht das Subjekt und umgekehrt. Wären beide dasselbe, so fände kein Scheinen im anderen, mithin gar keine Reflexion statt. Zweitens: Beziehung. Durch deren wechselseitigen Ausschluss entsteht ein inniges Verhältnis beider Momente. Reflexion ist nicht nur negativ, sofern Subjekt nicht Objekt und Objekt nicht Subjekt ist. Vielmehr bedeutet die Teilung auch, dass das Subjekt das Scheinen von sich in ein anderes ist, also im Objekt ist, welches das Subjekt nicht ist. 5 Hölderlin hat dieses Verhältnis eine «Ur=Theilung» 6 genannt. Im Gegensatz zu einer einfachen Teilung scheidet die Ur=Theilung das Objekt nicht einfach vom Subjekt, sondern sie ist «diejenige Trennung, wodurch erst Object und Sub‐ ject möglich wird.» 7 Das bedeutet: Die Trennungsbeziehung von Subjekt und Objekt ist nicht marginal, sondern konstitutiv. Beide Momente werden durch sie möglich. Oder mit Hölderlin: Die Trennungsbeziehung ist ursprüngliche <?page no="44"?> 8 Vgl. Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealisti‐ schen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991, S. 68. 9 Vgl. Fichtes «Princip der Disjunction» in: Gottlob Fichte, Die Wissenschaftslehre [II. Vortrag im Jahre 1804] (= Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften II/ 7) Stuttgart-Bad Cannstatt 1804/ 1989, S. 14. 10 Hölderlin, Seyn, Urtheil, op. cit., S. 7. Teilung, also Ur=Theilung -, weil sie für Subjekt wie Objekt ebenso wesentlich ist. Beide sind Ursprung des jeweils anderen, welches sie negativ ausschliessen. Die ursprüngliche Bezogenheit des Objekts auf das Subjekt drückt aus, was der kritische Impuls im ersten Kapitel anstiess: Nichts ist unabhängig davon denkbar, dass es gedacht wird. Nichts ist jenseits der Teilung denkbar, wodurch sich ein denkendes Subjekt einem Objekt entgegenstellt. Anders gewendet: Wir können von allen möglichen Inhalten unseres Denkens nicht abstrahieren, dass wir sie denken. Das formuliert die Ur=Theilung. Sie ist daher ursprüngliche Teilung, Reflexion: weil wir im Denken nicht über sie hinausschauen können. 8 Aus demselben Grund hat Fichte das Denken als kontinuierlichen Teilungsvor‐ gang beschrieben. 9 Denn alles Denken muss das Bewusstsein einschliessen, dass gedacht wird, und dieses Bewusstsein spaltet die denkende Instanz vom Gedachten ab, sodass das Gedachte als das Nichtgedankliche oder vom Denken Verschiedene vorgestellt werden muss. Nun denkt aber das Subjekt radikaler Kritik nicht primär etwas von sich Verschiedenes, sondern die subjektiven Bedingungen möglichen Objektbezugs. (§3) Das bedeutet, das beschriebene Reflexionsverhältnis findet nicht primär zwischen dem denkenden Subjekt und dem Bezugsobjekt als aussergedankli‐ chem Sachverhalt statt. Sondern noch bevor überhaupt ein Urteil mit Objekt‐ bezug gefällt werden kann, teilt und begreift sich das denkende Subjekt auf ebendiese «ur=theilende» Weise selbst. Anders als das Urteil ist die Ur=Thei‐ lung eine innere und selbstbezügliche Spaltung des Denkens. Das Subjekt teilt sich von sich, weil es sich erfasst, ja erfassen muss. Wo ein Subjekt sich selbst erfasst, spricht man von einem Ich. Das Ich ist Bewusstsein seiner selbst oder Selbstbewusstsein. Das selbstbewusste Subjekt denkt sich selbst. Es weiss: «Ich bin Ich.» 10 Die Selbstspaltung geschieht, weil ein Subjekt dies nur wissen kann, sofern es im Nichtgedanklichen scheint. Denn das Scheinen besagt, dass das Subjekt im Denken davon, was es negiert, bei sich ist. Das radikalkritische Subjekt ist also selbstbewusst, weil es sich reflexiv negativ, als ein anderes denkt, welches es selbst ist. - Wir hatten auch festgestellt, dass alles Denken ein Teilungsvorgang ist, nämlich die kritische Scheidung der denkenden Instanz vom Gedachten, Subjekt von Objekt. Wenn nun das Denken ein Ich hat, und das heisst: wenn das Denken ein Ich denkt, so muss es das Ich, welches es ist, als 44 §4 Ur=Theilung <?page no="45"?> 11 Ibidem. ein von sich geteiltes denken. Also das Denken, welches sich selber denkt (ein Ich hat), muss einen ur=theilenden Gedanken fassen, worin die teilende Instanz nicht nur das Gedachte, sondern selber auch die Seite ausmacht, die denkt. Wie passt dies zusammen, Gedanke und Gedachtes zu sein? Die Subjekt-Objekt-Seiten des Ichs greifen ineinander, sobald die Denkerin denkt. Denn um zu denken, muss sie sich dessen bewusst werden, dass sie denkt, was sie denkt, und dazu muss sie auch denken können: «Ich (denkendes Subjekt) bin Ich (das Gedachte).» Dieser Gedanke spricht das Ich als Subjekt und als Objekt aus. Deshalb liegt hier eine Ur=Theilung vor oder (1) eine Trennung, die (2) auch Beziehung ist. (1) Die Trennung liegt schon darin, dass ich «Ich» denke. Denn ich kann nicht «Ich» denken, ohne «Ich» zu denken - das heisst, ohne mich (das Ich) als Objekt zu entwerfen, das ich zwar bin, das ich mir aber als etwas anderes als meinen Gedanken vorstellen muss. Ich kann nicht «Ich» denken, ohne «Ich bin Ich.» zu denken. Der Gedanke vom Ich sagt deshalb nichts anderes als dies: dass seine Denkerin ihn denkt. «Ich bin Ich.» drückt aus, dass ich nichts denken kann, ohne zu denken. Dieser Gedanke ist wiederum nur möglich, weil das denkende Ich-Subjekt und das gedachte Ich-Objekt in jenem Gedanken (obwohl er das Ich als von sich geteiltes vorstellt) dasselbe sind. Denn der Gedanke besagt ja nicht, dass ich irgendwer bin, sondern dass ich Ich bin. Sodann muss in der Trennung (2) auch Beziehung sein. Das Problem dieser Beziehung ist, dass sie die Teilung nicht wieder aufheben darf. Denn die Teilung bedingt die Möglichkeit, sich eines Gedankens überhaupt bewusst zu werden. Aus diesem Grund muss die Beziehung eine solche sein, die in sich Trennung ist. Hölderlin meint deshalb, «das passendste Beispiel zu diesem Begriffe der Ur=Theilung» 11 sei der Ichgedanke, weil sich in ihm das Objekt nur in Hinblick auf einen gemeinsamen Bezugspunkt - das Ich, das ich bin und denkt - vom Subjekt unterscheidet, sodass im Ichgedanken ebenso Beziehung wie Trennung liegen. Der Gedanke vom Ich ist Ausdruck der Ur=Theilung und für alles Denken unabkömmlich, weil der Gedanke nicht nicht gedacht werden kann. Würde nämlich das Ich nicht gedacht, so wäre kein Ich. Wird aber ein Ich gedacht, so wird es als ein Geteiltes gedacht, als Ur=Theilung. Doch was garantiert, dass diese Ur=Theilung sich nicht weiter teilt? Könnte es nicht viele Ichs geben, welche wieder ein anderes Ich setzten und so fort? - Erneut droht Selbstkritik ein Spiegelkabinett ins Unermessliche zu errichten, worin das Ich immer weitere Ichs fände und dächte: «Ich bin ich bin ich bin ich…» Das Thema ist aus früheren Überlegungen bereits bekannt: Um nicht in zirkulären 45 §4 Ur=Theilung <?page no="46"?> 12 Dieter Henrich, Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1795), Stuttgart 1992, S. 535. und regressiven Denkverhältnissen stehen zu bleiben fordert das Denken der Reflexion eine übergeordnete Instanz. Im Unterschied zu den Regressproblemen des kritischen Anstosses (§2) und der Selbstkritik (§3) haben wir jetzt aber einen Begriff für diese geforderte Instanz zur Hand. Er lautet auf das Ich: Der Regress kommt zum Stehen, wenn vom Ich gezeigt werden kann, dass es in der Teilung von sich dasselbe Ich bleibt. Allerdings kann diese Garantie nicht diesseits des bewussten Denkens liegen, weil sie sonst nur wieder als Teilung, also gerade nicht als jene die Teilung bedingende und selbst ungeteilte Einheit erfasst wird. So könnte man annehmen wollen, dass dem Ich eine, vom Denken aus gesehen, «jenseitige» Einheit anderer Art zugrunde liegen müsse. Dieter Henrich ist dieser Meinung. Er argumentiert, dass «dem in Ich-Subjekt und Ich-Objekt geteilten Ich ein Ich vorausgesetzt werden muss, das der Teilung voraus- und ihr zugrundeliegt. Nun ist es aber sinnlos, von einem Ich zu sprechen, das sich nicht in der Beziehung zwischen Ich-Subjekt und Ich-Objekt konstituiert, das also Selbstbewusstsein ist. […] Das im Satz ‹Ich bin Ich› vorausgesetzte Ganze kann also nicht als Ich gedacht werden, obwohl es als ungeteilte Einheit gedacht werden muss.» 12 Zunächst wiederholt das Zitat den Gedanken Hölderlins, dass jeder Gedanke das denkende Subjekt vom gedachten Objekt trennt, sodass auch im Selbstdenken diese Trennung nicht vereint werden kann, obwohl wir dort von einem Ich spre‐ chen, wo sich in der Trennung auch die «Beziehung Ich-Subjekt und Ich-Objekt konstituiert.» (s. o.) Wir haben es also mit Hölderlin nicht nur mit Trennung, sondern auch mit Beziehung zu tun. Um aber die Beziehung garantieren zu können, setzt Henrich dem Denkverhältnis ein «Ganze[s]» voraus, welches das Denken (sofern das Denken Teilung von sich ist) übersteige: Die Undenkbarkeit des im Ichgedanken ausgedrückten «Ganze[n]», d. h. die mit der Teilungsbezie‐ hung vorausgesetzte Einheit, wäre also mit Henrich ausserhalb des Denkens, nämlich ihm vorauszusetzen: «Das im Satz ‹Ich bin Ich› vorausgesetzte Ganze», schreibt er, «kann also nicht als Ich gedacht werden.» (s. o.) Die weiter oben mit der Ur=Theilung aufgeworfene Frage war, wie es für das Ich möglich ist, sowohl Gedachtes als auch Gedanke zu sein. Henrichs Antwort lautet: Das Ich sei weder Gedachtes noch Denken. Damit nimmt Henrich eine Verschiebung in der Betonung des dissonanten Ursprungs des Denkens (§1) vor: Der Ursprung liegt mit Henrich nicht so sehr darin, dass ich denke bzw. dass ich denke: «Ich bin Ich.», sondern darin, dass ich denke: «Ich bin Ich.» Der 46 §4 Ur=Theilung <?page no="47"?> 13 So die titelgebende These in: Dieter Henrich, Bewusstes Leben: Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999. 14 Henrich, Der Grund im Bewusstsein, op. cit., S. 536. 15 Ibidem, S. 538. Ursprung des Denkens wäre dann so zu verstehen, dass dem selbstbewussten Ich die Bedingung vorausgehe, Ich zu sein. «Sein» verlange der Gedanke «Ich bin Ich», insofern ich nur «Ich» denken kann, wenn ich auch Ich bin, also wenn dem Ich Ichsein zukomme. Wäre ich nicht Ich selbst, dann hätte ich nicht nur viele, viele Ichs, von denen keines Ich wäre - sondern ich hätte gar keine Gedanken, zumal zum Denken das Selbstwissen darum, dass gedacht wird, und folglich das Ich gehört. Mit der Setzung des Seins als Voraussetzung des gedanklichen Selbstbewusstseins will Henrich dem Reflexionskabinett ein ausserreflexives Fundament geben, das kein weiterer Gedanke ist. Das ist nachvollziehbar, wenn wir uns die Schwierigkeit vor Augen führen, dass ein Gedanke vom Ich das Ichsein wieder als Geteiltes, nicht aber als ursprüngliche teilendes, nicht als Ur=Theilung verstehen würde. In Hinblick auf die vorherigen Überlegungen zum Ursprung des Denkens wissen wir aber auch, dass wir darauf achten müssen, nicht in den Salto mortale zu geraten, an dem sich Jacobi übte. Rutschen wir ab vom Denken, so verlieren wir den kritischen Boden und das Denken die Rechtsgründe. Wir geraten ins Dunkel. Henrich schlägt deshalb vor, den Schritt ins Sein nicht mit einem Salto zu versuchen, sondern mit einer Verankerung im bewussten Leben. 13 Diese These erschliesst sich erst, wenn wir uns darüber wundern, wie es möglich ist, «nicht nur de facto in einer Beziehung zu sich zu stehen, sondern auch zu wissen, dass diese Beziehung eine solche zu mir ist.» 14 Die Idee ist, dass das Selbstbewusstsein ein Bewusstwerden von «mir», also vom Ich im Leben einer Person, die das gedachte Ich ist, voraussetze. Dieses vorausgesetzte Ichsein wäre entsprechend im Wirklichsein zu verorten, zumal eine Person das Subjekt sei, insofern es wirklich (Subjekt) sei. Doch mit dem Schritt ins wirkliche Leben verlässt Henrich den transzendentallogischen Boden, von dem er seinen Impuls bekommt: Mit Hölderlin geht Henrich von der kritischen Einsicht aus, dass der Ichgedanke nicht «selbstexplikativ» 15 ist. Anstatt diese explikative Lücke im Selbstverständnis des Denkens zu erhalten, versucht er sie mit dem Rückbezug aufs wirkliche Leben zu schliessen. Aber aus den folgenden Gründen kann das wirkliche Leben den gesuchten Rechtsgrund nicht leisten. Folgen wir Henrichs Gedankengang, so meint der Gedanke «Ich bin Ich» so etwas wie: «Ich, die Person, denke hier und jetzt einen Gedanken und verhalte 47 §4 Ur=Theilung <?page no="48"?> 16 Dieser Begriff der «Person» ist also nicht zu verwechseln mit dem in der analytischen Philosophie beliebten Verständnis von Person als Seiendes unter anderem Seienden. (vgl. David Lewis, Attitudes De Dicto and De Se (= Philosophical Review 88/ 4), Durham 1979) Dort geht es um eine Aufzählung aller Personen und Dinge in der Welt, und «ich» bezieht sich auf eines dieser Dinge. Hier meint «Person» etwas anderes: Die Person «ist» nicht ein Ding, sondern sie hat ein Verhältnis zu ihrem Sein und dem Sein der Dinge; und dieses Verhalten (welches ein Sein ist) nennt Henrich «Leben». 17 Henrich, Der Grund im Bewusstsein, op. cit., S. 634. 18 Vgl. Ibidem, S. 635. 19 Vgl. Gunnar Hindrichs, Negatives Selbstbewusstsein, Stuttgart 2002, S. 169. mich bewusst dazu.» Diese Formulierung ist existenzialphilosophisch gefärbt 16 , wobei es, das sollten wir festhalten, immer um die Ursprungsbedingung des Denkens geht. Henrichs Argumentation ist dabei insofern konsequent, als sie mit dem Übergang in den bewussten Lebensvollzug der Person das begriffliche Denken verlässt - die kritische Aufgabe bestand ja bislang darin, über sich hinaussehen zu wollen. Und Henrichs Konzeptualisierung kann diesen Sprung auch leisten, ohne Kopfunten ins Dunkle zu fallen, weil er zurück ins Konkrete führt: ins Leben als ein «reales Ganzes.» 17 Sein Ansatz überzeugt, insoweit er das in der Ur=Theilung ausgedrückte Für-sich-Sein nicht wie Jacobi in ein dunkles Ansichsein projiziert: Dass das wirkliche Leben abseits vom Denken ist, heisst hier nicht, dass es dem Bewusstsein versperrt bleibt. Aber das Bewusstsein des Lebens gründet laut Henrich nicht im begrifflichen, sondern in einem «natürli‐ chen Denken», das auf irgendeine Art und Weise in die epistemische (kritische) Ichbeziehung Eingang findet. 18 Wieder besteht das Problem im Übergang: Eine wirkliche Person kann den Rechtsgrund für das Denken nicht angeben - einerseits, weil sich im wirklichen Leben Kontexte konstruieren lassen, in denen der Ausdruck «Ich bin Ich» nicht unbedingt wahr ist 19 , wohingegen er als Gedanke notwendig gilt, - andererseits, weil unklar ist, wie von einem Nichtgedanken mit Notwendigkeit auf einen Gedanken geschlossen werden kann. Die Wirklichkeit des Gedachten scheint doch im Denken nicht schon legitimiert zu sein. Schliesslich ist sie nicht davon abhängig, dass sie gedacht wird. Ihre Objektivität liegt vielmehr darin, dass ihr das Denken gleichgültig ist - also, dass sie ist, was sie ist, auch ohne mein gedankliches Zutun; oder dass sie darin besteht, nicht schon Gedanke zu sein. Dieselbe Unmöglichkeit vom einen aufs andere zu schliessen, gilt im Übrigen auch umgekehrt: Wenn Denken und Gedachtes, Subjekt und Objekt, ihre Unabhängigkeit jeweils negativ postulieren, kann weder die eine noch die andere Seite den Grund für das Denken angeben. Gehen wir vom Gedachten aus, so lautet seine Bestimmung, nicht Subjekt zu sein. Heben wir beim Gedanken an, so ist dieser dadurch bestimmt, nicht Objekt zu sein. Verlassen wir dieses 48 §4 Ur=Theilung <?page no="49"?> 20 Vgl. Ibidem., S. 187. 21 Vgl. Ibidem, S. 72. Verhältnis, so geraten wir ins Dunkel. Dem sich nicht zu überlassen, sondern es mit Verstand zu durchleuchten, ist Aufgabe selbstkritischen oder reflexiven Denkens. Aus diesem Grund kann es nicht zur kritischen Aufgabe gehören, vom Wirklichsein einer Person auf den Gedanken eines Ichs zu schliessen: Wir würden das Denken sonst zum (wirklichen) Gegenstand machen, wobei sich das Denken aber der anfänglichen Einsicht zufolge gerade dadurch auszeichnet, von dessen Gegenständen getrennt zu sein bzw. die Gegenstände als vom Denken unabhängig (objektiv) vorzustellen. 20 Dieses spezifisch kritische Moment der Teilung des Denkens von sich in seine Gegenstände verliert Henrichs Lebens‐ philosophie aus den Augen. Die kritische Aufgabe muss aber lauten: einen Rechtsgrund für die Teilung im Denken zu suchen - im Denken freilich, das negativ, das heisst, fragend bleibt. Erwägen wir noch einmal die Überlegungen zur Ur=Theilung, bevor wir die Abzweigung in Henrichs Lebensphilosophie genommen haben. Wir hatten ge‐ sagt: Die in dem Gedanken «Ich bin Ich» zum Ausdruck kommende Impulsivität ist Artikulation der Ursprünglichkeit des Denkens. (§1) Der Gedanke «Ich bin Ich» drückt aus, dass das Denken sich begreifen muss, sich aber nicht durch Setzung zu begreifen vermag. Der konstitutive Selbstbezug des Denkens ist wesentlich eine Teilung, also Ur=Theilung, weil das Denken immer schon von der Einheit getrennt ist, die das Denken ist. Diese ursprüngliche Trennung wird sprachlich im «bin» zwischen Ich-Subjekt und Ich-Objekt manifest. Wörtlich drückt das «bin» Ichsein aus und bewahrt damit die Einheit, die es trennt: das Sein. Wie das Sein als aussergedankliche Einheit negativ zu denken ist, stellt die Aufgabe des Weiterdenkens dar. (siehe insbesondere §6) Mit Henrich haben wir versucht, das Denken als Wirklichsein zu fassen und in der lebendigen Person zu verankern. Aber die wirkliche Person kann das Denken nicht legitimieren. Sie kann es nur beschreiben. Das heisst freilich nicht, dass ich doppelt, einmal beschreibende Person, einmal legitimierendes Subjekt bin. Sondern es zeigt, dass ich mich auf verschiedenem Wege, einmal als bewusster Mensch, und einmal als Geltungsgrund des Denkens erfassen kann. 21 Weil es in der Kritik aber primär um Rechtsfragen und nicht um Lebensverhältnisse geht, steht das Ich im Folgenden als Rechtssache, das heisst als logisches Subjekt, und nicht als Person im Zentrum. 49 §4 Ur=Theilung <?page no="51"?> 1 Das vom Femininum des Adjektivs κριτικός abgeleitete Substantiv ἡ κριτική bedeutet so viel wie Scheidung, Zwiespalt, Streit aber auch Entscheidung, besonders in ju‐ ristischen Kontexten. Kant bedient sich dieses Wortsinns als Metapher für seine Kritik als Tribunal der Vernunft. (Für eine ausführliche Darlegung der Etymologie von «Kritik» von Antike bis Renaissance, siehe: Giorgio Tonelli, «Critique» and Related Terms Prior to Kant: A Historical Survey (= Kant-Studien 69), Berlin 2009). Damit verwandt ist die Ableitung ἡ κρίσις, was u. a. den entscheidenden Wendepunkt einer Krankheit zur Genesung bezeichnet. Auch dieser Metapher bedient sich Kant, wenn er die Funktion von Kritik gelegentlich als κάθαρσις des Geistes von der Empirie beschreibt (vgl. Giorgio Tonelli, Kant’s Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic: A Commentary on Its History, Hildesheim 1994): Durch diese Reinigung begrenzt sich die Vernunft selbst zu ihrem Wesen, das reine Vernunftwissenschaft sein soll. Zur kritischen Philosophie als Rechtssache, siehe auch: Hans Wagner, Abhand‐ lungen zur Philosophie Kants (= Gesammelte Schriften 6), München/ Wien/ Zürich/ Pa‐ derborn ca.1977/ 2017, S. 224ff. §5 Urteil Selbstkritik heisst nicht nur Reflexion: die Rückbiegung des Subjekts auf sich selbst. Sondern sie impliziert ein negativ konstitutives Verhältnis, worin das Subjekt sich selbst im Sein von etwas anderem weiss, wo es also ein Ich hat. Dieses Ich ist kein natürlicher Gegenstand. Vielmehr ist das sich im Anderen spiegelnde Ich auch auf die Tätigkeit der Betrachtung gerichtet, und diese Tätig‐ keit, die das Ich ist, ist dessen Ur=Theilung. Also ist sich das Ich seiner nicht nur in der Ur=Theilung bewusst, sondern weiss auch um ebendiese Teilung, die es ist. Im Ausgang an die Überlegungen des voranstehenden Kapitels weiss das Ich, dass es sich nur in der Ur=Theilung weiss. - Aber auf ebendiese Teilung kann das Ich, kraft der negativen Struktur des Denkens, nur wieder als Objekt, nicht als Subjekt reflektieren. Und damit zerfällt das Bewusstsein der Ur=Theilung, weil das Ich nur negativ auf sein Tun reflektieren kann, wiederum in zwei Momente: in ein selbst- und ein fremdbezogenes. Die bisher erst innerhalb des Ichs sich vollziehende Teilung stülpt sich nun nach aussen über die Welt. Diese Wendung von Hölderlins Ur=Theilung als einer Struktur innerhalb des Ichs in ein solches Verhältnis, das ausserhalb des Ichs zum Gegenstand hinführt, ist: das Urteil. In der Kritik geht es um die Prüfung von Urteilen. 1 Das Urteil ist Explikat der kritischen Reflexion des Subjekts auf sich als auf sein Gegenständiges. Es ist die konsequente Entfaltung der reflexiven Ur=Theilung bzw. der Beziehung der Teilung, die das Ich ist, wie die folgenden Überlegungen zeigen. Erstens: Teilung. Ein selbstbewusstes Subjekt nimmt mit Urteilen Bezug auf Selbständiges. Zum Beispiel beziehe ich mich in dem Urteil «Die Sonne ist <?page no="52"?> 2 Vgl. Rüdiger Bubner, Was ist Synthesis? , Frankfurt am Main 1986, S. 30. 3 Dazu: Dieter Henrich, Hegels Logik der Reflexion, Bonn 1978, S. 211f. 4 Vgl. Fichte, Wissenschaftslehre, op. cit., S. 14. rund» auf die Sonne, welche unabhängig davon rund ist, ob ich dies urteile. Man sagt: Das Urteil ist objektiv; weil es die Sonne so erfasst, wie sie auch ohne mein Urteil ist. Und auch, wenn ich urteile, dass die Sonne quadratisch ist, ändert dies nichts an der Objektivität, dass sie rund ist. Weil sie auf Selbständiges Bezug nehmen, können Urteile also auch fehlgehen. 2 Dadurch erhält das Sub‐ jekt Selbständigkeit, nämlich indem es sich dem subjektunabhängigen Objekt entgegensetzt oder an ihm sich ent-setzt, das heisst: sich im Objekt setzt. Das ist die Teilung im Urteil: dass ein Subjekt auf Nichtsubjektives Bezug nimmt, auf ein Objekt. Zweitens: Beziehung. In der Reflexion auf die Bezugnahme des Subjekts auf ein Objekt erweist sich die Selbständigkeit beider Momente als Schein. Deshalb ist die Teilung zugleich auch Beziehung. Denn obwohl ein Subjekt im Urteil selbständige Objektivität zu erfassen beansprucht, besteht Objektivität nicht unabhängig davon, dass sie in Urteilen vorkommt. Vielmehr haben wir gesehen, dass die Ursprünglichkeit der Trennung darin besteht, dass beide Momente im wechselseitigen Ausschluss möglich werden. (§4) Das hat epistemologische Folgen: Ob oder was die Sonne unabhängig davon ist, wie ich über sie urteile, kann ich in die kritische Reflexion nicht mit einbeziehen. Denn unter der kritischen Prämisse ist Objektivität, welche im Urteil beansprucht wird, immer schon auf das urteilende Subjekt bezogen. 3 Aus diesem Grund haben wir das Urteilen mit Fichte zuvor einen Teilungsvorgang 4 genannt: Weil das Objekt nur durch die Setzung eines Subjekts als Selbständiges bestimmt ist, hängt es in seiner Unabhängigkeit vom Subjekt ab. Dies hat zur Folge, dass subjektunabhängige Objektivität im Urteil gar nicht erreicht werden kann. Würde Objektivität subjektunabhängig verstanden, dann gäbe es keine Verbindung, folglich weder Urteil noch Subjekt oder Objekt. Deshalb bleibt Objektivität im Urteil zugleich unerreichbar (weil sie immer relativ zum Subjekt beurteilt wird) und unverzichtbar (weil ohne die Subjektunabhängigkeit des Objekts kein Rechtsanspruch erhoben werden könnte, mithin kein Subjekt überhaupt bestünde). Die Unerreichbarkeit können wir so fassen, dass wir Objektivität als Anspruch verstehen. Der Anspruch lautet, etwas so zu denken, wie es auch unabhängig von diesem Gedachtsein: wie es objektiv ist. Objektivität ist ein im Denken erhobener Anspruch. Er besagt, dass das Gedachte so ist, wie gedacht. Nicht alles Denken erhebt diesen Anspruch. Träume oder Wünsche zum Beispiel erheben keine Objektivitätsansprüche: Wenn ich mir wünsche, fliegen zu können, so behaupte ich nicht, dass es so 52 §5 Urteil <?page no="53"?> 5 Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt am Main 1976, S. 60ff. und Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 140f. 6 Gottlob Frege, Funktion und Begriff, Göttingen 1891/ 2008, S. 15. ist: dass ich fliegen kann. Ebenso wenig macht schon der Gedanke allein, dass es sich so verhält. Der Gedanke vom Fliegen lässt mich nicht davonfliegen. Derselbe Inhalt aber - zum Beispiel, dass ich fliegen kann - könnte einmal als Behauptung, einmal als Wunsch auftreten. Im ersten Fall fällte ich ein Urteil mit Objektivitätsanspruch - im zweiten Fall nicht. So scheint es, der Anspruch liege noch nicht im Gedachten allein, sondern müsse noch zu ihm hinzukommen. Erst, wenn wir zu einer Formulierung der Art «Ich kann fliegen» noch dazu denken, dass ich meine: «Es ist so, dass ich fliegen kann», liegt ein Urteil mit Objektivitätsanspruch vor. Das hinzugefügte «Es ist so, dass» ist die behauptende Kraft, wodurch sich Urteile von anspruchslosen Gedanken wie Wünschen oder Träumen unter‐ scheiden. Weil dieselben Inhalte einmal gewünscht, einmal geurteilt werden können, liegt die behauptende Kraft noch nicht im Bekräftigten. Sie kann auf eine Mannigfaltigkeit verschiedener Inhalte gerichtet werden. In manchen Fällen wird sie das Richtige, in manchen das Falsche bekräftigen. Wir trennen also wieder dasjenige, was behauptet wird, davon, dass es behauptet wird (§1): Dasjenige, was behauptet wird, ist für sich genommen noch kein Urteil. Erst, indem wir bekräftigen, dass es so sei, fällen wir ein Urteil mit Objektivitätsan‐ spruch, welches gelingen oder misslingen kann. Mit dem bekräftigenden Akt sagen wir, dass das Gedachte so ist, wie wir urteilen, und nicht anders. Urteile, die dies behaupten, beanspruchen wahr zu sein. Wir wollen in Urteilen das Wahre bekräftigen und das Falsche ausschliessen. Zu urteilen: «Es ist so» ist sonach gleichwertig mit der Wendung: «Es ist wahr, dass». 5 Urteilen heisst, einen gedanklichen Gehalt zu bekräftigen, und das heisst, Wahrsein zu beanspruchen. Urteile können wahr oder falsch sein, weil ihr Gehalt nicht davon abhängt, dass wir ihn beurteilen. Dass die Sonne nicht quadratisch ist, ist wahr, auch wenn ich anders urteile. Die Unabhängigkeit des Gehalts von dessen Bekräftigung ist Bedingung dafür, in Urteilen auch falsch liegen zu können. Nur, wenn die behauptende Kraft nicht schon der behauptete Inhalt ist, können wir wahr oder falsch urteilen. - Deshalb hat Frege eine Begriffsschrift entworfen, welche den Inhalt eines Gedankens von dessen Behauptung trennt. Er schreibt: «Diese Trennung des Urteilens von dem, worüber geurteilt wird, erscheint unum‐ gänglich, weil sonst eine blosse Annahme, das Setzen eines Falles, ohne gleich über sein Eintreten zu urteilen, nicht ausdrückbar wäre.» 6 53 §5 Urteil <?page no="54"?> 7 Ibidem. 8 Für die Interpretation des Urteilsstrichs als Ausdruck unberührten bzw. reinen (parme‐ nideischen) Seins ist grundlegend: Sebastian Rödl, Die innere Negativität des Denkens, Frankfurt am Main 2018, S. 401-423, hier: 405. 9 Frege, Funktion und Begriff, ob. cit., Anm.7, S. 15. Entsprechend definiert Frege ein eigenes Zeichen dafür, was beurteilt wird, den Waagrechten « —— », und ein Zeichen für das ergänzende Dass, den Senkrechten « , den Senkrechten ‘|—— ». 7 Der letztere heisst auch Urteilsstrich, weil durch ihn das Urteil mit Objektivitätsanspruch von Annahmen, Wünschen, Vorstellungen etc., die nicht den Charakter einer Behauptung haben, unterschieden wird. Der Urteilsstrich bestimmt also in keiner Weise, was geurteilt wird und bleibt von der Mannigfaltigkeit aller beurteilbaren Inhalte absolut unberührt. 8 Er bezeichnet schlicht, dass irgendein Inhalt mit Objektivitätsanspruch konstatiert, und das heisst mit Frege: dass er behauptet wird. Entsprechend gilt: der Ausdruck « , den Senkrechten ‘|—— » «bezeichnet nichts, sondern behauptet etwas.» 9 Damit haben wir die Trennung auf Zeichenebene wiederholt, welche zu Beginn des ersten Kapitels den kritischen Impuls ausmachte. Dort hielten wir fest: Was beurteilt wird, das ist Sache des Denkens. Dass wir es aber denken, bleibt unverständlich. Es übersteigt das Denken um das Selbstwissen des Den‐ kens, das von keinem Gedanken abstrahiert werden kann. Dieses Selbstwissen bringt nun der Urteilsstrich zum Ausdruck. Er markiert das Bewusstsein von der Differenz zwischen Gedanken und Gedachtem, Inhalt und Behauptung - eine Differenz, die das Urteilen als Teilungsbeziehung wesentlich ist. Dass das mit dem Urteilsstrich markierte Bewusstsein von der Teilungsbeziehung ein Selbstbewusstsein ist, liegt darin beschlossen, dass das Urteilen ebendiese Teilungsbeziehung ist, die der Urteilsstrich bezeichnet, sodass der Urteilsstrich das Bewusstsein des Denkens nicht von seinem Inhalt, sondern von sich, d. h. davon, dass etwas gedacht wird, kennzeichnet. Die Behauptung (Freges Urteil) ist also vom Inhalt durch den explizit ge‐ machten Anspruch getrennt, dass es sich so verhält, wie gedacht. Dass es sich aber so verhält, ist nicht Sache des Urteils: Das Wahrsein des Geurteilten (des Waagrechten) ist nach Frege von unserem Urteilen (dem Senkrechten) unabhängig. Ebenso impliziert der blanke Inhalt noch kein Urteil. Ein Urteil liegt erst vor, wenn wir um den vom Urteil unabhängigen Wahrheitswert dieses Inhalts wissen, wenn wir ihn also behaupten. Wenn wir etwas behaupten, so behaupten wir zu wissen, dass es so ist, wie behauptet wird. Im Behaupten oder Urteilen sprechen wir demnach das Selbstwissen des Gedankens um seinen Wahrheitswert aus. «Urteilen», so Frege, «kann als Fortschreiten von 54 §5 Urteil <?page no="55"?> 10 Gottlob Frege, Über Sinn und Bedeutung, Göttingen 1892/ 2008, S. 35/ 32. 11 Vgl. Gottlob Frege, Die Verneinung, Göttingen 1919/ 1976, S. 59. 12 Rödl, Die innere Negativität des Denkens, op. cit., S. 406. einem Gedanken zu seinem Wahrheitswerte aufgefasst werden.» 10 Erst die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens macht nach Frege ein Urteil aus. Erst das Urteil erkennt etwas - aber bedeutet nichts. Worin aber besteht diese Erkenntnis, wenn sie vom Wahrheitswert des Gedankens verschieden ist? Man könnte versucht sein zu meinen, im Urteil würden die Dinge erkannt, wie sie wirklich sind. Dann behaupte zum Beispiel das Urteil «Die Sonne ist rund», dass die Sonne wirklich rund sei. Wir müssten entsprechend alle möglichen Inhalte als Wirklichkeitsausschnitte auffassen. Dieser Ansatz führt aber zu Problemen: Wenn ich nämlich behaupte, die Sonne sei quadratisch - was diente dann als Inhalt meines Urteils? Wohl nicht das Stückchen Realität, dass die Sonne rund ist, denn ich urteile ja, dass sie quadratisch sei. Ferner: Wenn ich behaupte, die Sonne sei nicht quadratisch - was wäre jetzt Inhalt? Wieder kann die Antwort kein Wirklichkeitsausschnitt sein, denn ich urteile nicht, dass die Sonne rund, sondern dass sie nicht quadratisch sei. Frege meint daher, dass die Verneinung nicht zur Behauptung, sondern zum Inhalt des Urteils gehört. 11 Entsprechend hat das Urteil nicht zwei unterschiedliche Formen, eine bejahende, eine verneinende. Vielmehr kann Frege zufolge die Behauptung ebenso Bejahung wie Verneinung betreffen. Und eine behauptete Verneinung kann wiederum die Verneinung einer behaupteten Bejahung sein usf. «Die Behauptung», schreibt Rödl, «dass etwas so ist, unterscheidet sich von der Behauptung, dass es nicht so ist im Inhalt, nicht in der Kraft; es ist und es ist nicht sind verschiedene Inhalte, die sich mit einer einzigen Kraft des Behauptens verbinden.» 12 Wenn ich also urteile «die Sonne ist nicht quadratisch», dann behaupte ich, es ist, nämlich so, dass die Sonne nicht quadratisch ist. Die Verneinung, dass die Sonne nicht quadratisch sei, stellt keinen Gegensatz zum Behaupten dar. Der behauptende Anspruch ist derselbe, wenn ich urteile, die Sonne sei rund. Aus diesem Grund kann das behauptete Sein nicht Wirklichsein meinen. Denn nur, wenn das behauptete Sein nicht Wirklichsein bedeutet, ist es möglich, negative wahre Urteile (wie, dass die Sonne nicht quadratisch ist) und falsche Urteile (wie, dass die Sonne quadratisch ist) zu fällen. Das im Urteil behauptete Wahrsein heisst nicht Wirklichsein. Wenn Frege zufolge Verneinung und Bejahung nicht zum Urteil gehören, sondern zum Inhalt des Urteils, trennt er damit das Urteil (die Behauptung eines Inhalts) vom Gedanken (dem Inhalt, der wahr oder falsch ist). Diese 55 §5 Urteil <?page no="56"?> 13 Gottlob Frege, Der Gedanke, Göttingen 1918/ 1976, S. 50. 14 Ibidem, S. 52. Trennung bedingt, dass der Unterschied von Wahr- und Falschsein ausserhalb des Urteils beschlossen liegt. Nicht Wahr- und Falschsein ist nach Frege Sache des Urteilens, sondern die Anerkennung des Wahr- oder Falschseins eines vom Urteil unabhängigen Gehalts. Für sich genommen ist somit der Urteilsstrich vom Inhalt unberührt. Er ist «rein», wenn man so will, weil das Urteil dem Inhalt nichts hinzufügt. Es drückt nur das Selbstwissen des Gedankens bzw. die Erkenntnis um dessen Wahr- oder Falschsein aus. Wenn das Urteil dem Wahrsein des Gedankens nichts hinzufügt, sondern das Wahrsein des Gedankens nur bekräftigt, muss Frege annehmen, dass Gedanken unabhängig davon wahr sind, dass wir sie beurteilen. Wir können dies so ausdrücken, dass Gedanken nach Frege nicht für uns, sondern an sich wahr sind; also dass Gedanken gegen die mit dem Urteilsstrich bezeichnete Anerkennung ihres Wahrseins gleichgültig sind. Um aber von einem an sich wahren Gedanken zur Anerkennung zu gelangen, muss der an sich gleichgültige Gedanke irgendwie zu sich kommen: er muss für uns werden. Frege bringt dies so zum Ausdruck, dass Gedanken entdeckt oder gefasst werden: «Beim Denken erzeugen wir nicht Gedanken, sondern wir fassen sie.» 13 Und «dadurch, dass ich einen Gedanken fasse, trete ich zu ihm in eine Beziehung und er zu mir.» 14 Das Fassen des Gedankens bildet aber noch kein Urteil. Das Urteil geschieht erst, wenn der Gedanke um seinen Wahrheitswert weiss, indem wir ihn anerkennen. Das Urteil beinhaltet also, sich des Wahrheitswertes eines Gedankens bewusst zu werden, wobei der Gedanke nicht im Urteil beschlossen liegt. Nun können wir nicht nur zwei Gedanken fassen, einen wahren oder falschen, sondern unendlich viele Gedanken. Sie alle sind wahr oder falsch. Das bedeutet, ihre Unterschiede liegen nicht darin, wahr oder falsch zu sein. Der Gedanke muss noch mehr sein als das: wahr oder falsch. Frege postuliert darum, dass es verschiedene Gegebenheitsweisen des Wahren oder Falschen geben müsse: Obwohl es nur zwei Wahrheitswerte gebe, könne das Wahre und Falsche auf unterschiedliche Weise gegeben sein. «Die Sonne ist rund» wäre dann eine Gegebenheitsweise des Wahren, «Die Sonne ist quadratisch» des Fal‐ schen. Wenn wir beide Gedanken bekräftigten, würden wir ihr ansichseiendes Wahrbzw. Falschsein anerkennen. Und erst durch diese unterschiedlichen Gegebenheitsweisen würden verschiedene Gedanken, die alle das Wahre bzw. Falsche bedeuteten, voneinander unterscheidbar. Die Anerkennung geschieht, wie gesehen, in Urteilen, wodurch ein Gedanke irgendwie zum Gedanken für uns wird. Folgen wir daher Freges Annahmen, so muss der Unterschied 56 §5 Urteil <?page no="57"?> 15 Vgl. Frege, Die Verneinung, op. cit., S. 54. 16 Hegel, Wissenschaft der Logik I/ 2, op. cit., S. 43. 17 Da es im gegebenen Kontext um eine Analogie zwischen reinem Sein und Urteilsstrich zur Erhellung des Urteilsbegriffs geht, verzichte ich auf eine eingehende Diskussion des kontroversen Anfangs der hegelschen Logik und verweise auf Theunissen, Sein und Schein, op. cit., S. 184ff.; Anton Koch, Sein - Nichts - Werden, Berlin 2000, S. 140-147 und Hindrichs, Kategorienrahmen und Begriffswandel, S. 141, wo die These, das reine Sein als veritatives Sein bzw. Wahrsein zu deuten, überzeugend dargelegt wird. 18 Die These der Engführung von Freges Urteilsstrich und Hegels reinem Sein stammt von Rödl (Die innere Negativität des Denkens, op. cit.). verschiedener Gedanken auch vom Urteil her bestimmt sein. Das kann aber Frege zufolge nicht sein. Er meint: Wir könnten denken, ohne zu urteilen. 15 Um zu denken, ohne zu urteilen, müssten wir jedoch Gedanken fassen können, ohne dass sie uns irgendwie gegeben wären. Dies ist unmöglich, wenn verschiedene Gedanken unterschiedliche Gegebenheitsweisen eines Wahrheitswerts sein sollen. - So führt Freges Trennung von Gedanken und Urteil letztlich zum Kollaps des Unterschieds, der zu erfassen das Ziel der anfänglichen Abstraktion war: Offenbar kann das Urteil dem Denken nicht, wie es Freges Meinung ist, äusserlich sein. Vielmehr müssen Urteil und Denken innerlich irgendwie miteinander in Beziehung stehen. Diese Beziehung lässt sich aus Freges Urteils‐ strich entfalten. Dazu müssen wir die Unterscheidung wieder ins Bewusstsein rufen, anhand derer wir vorher den Waagrechten vom Senkrechten trennten: Die Unterschei‐ dung von Inhalt und Kraft, Was und Dass. Den Urteilsstrich interpretierten wir als das Dass, die absolute Abstraktion vom Inhalt des Denkens. Und wir haben gesehen, dass der Urteilsstrich jeden denkbaren Unterschied, auch den Gegensatz von Bejahung und Verneinung, vom Urteil trennt. Folglich bleibt alles, was ausserhalb des Urteilsstrichs liegt, für das reine Urteil unverständlich. Der Urteilsstrich bezeichnet eine blosse Form ohne inhaltliche Gliederung. Dieser absolute Abzug des Was transformiert das Denken in ein reines und anfängliches Dass (§1). Dieses «Dass» ist mit Frege: das reine Urteil, markiert durch den Senkrechten. Dieser ist somit - und nach dem berühmten Wortlaut Hegels: «Seyn, reines Seyn, - ohne alle weitere Bestimmung.» 16 Hegels Begriff des reinen Seins kann dabei helfen, das mit dem Urteilsstrich bezeichnete abstrakte Wahrsein zu erhellen. 17 Der Urteilsstrich ist, genau wie Hegels reines Sein, die absolute Bestimmungslosigkeit. 18 So bestimmungslos, dass die Formulierung nicht einmal grammatikalisch eine Struktur aufweist. Das mit dem Gedankenstrich «-» ersetzte Satzprädikat «ist» symbolisiert diese 57 §5 Urteil <?page no="58"?> 19 Rödl, Die innere Negativität des Denkens, op. cit., S. 414. nicht zu bestimmende Leere: Sie ist in keiner Weise prädikativ charakterisierbar, sondern Entzug prädikativer Bestimmung. Denselben Entzug markiert der Urteilsstrich: Mit ihm wird das Wahrsein eines Inhalts behauptet, ohne den Inhalt zu bestimmen. Wir sagten deshalb mit Frege, der Urteilsstrich bezeichne nichts, sondern behaupte nur; er ist also mit Hegels Worten «ohne alle weitere Bestimmung». - Ohne alle Bestimmung aber gibt es «nichts zu denken.» 19 Hegels Folgebestimmung des reinen Seins ist entsprechend: Nichts. Wer die absolute Abstraktion des Urteilsstrichs zu denken versucht, der denkt nicht nur Wahrsein, sondern, weil das Wahrsein vom Inhalt unberührt ist, ebenso Nichts. Reines Sein ohne inhaltliche Bestimmung ist ebenso Sein, wie Nichts, und Nichts ist wie das Sein, das die absolute Abstraktion ohne jeden Unterschied ist. Der Urteilsstrich, reines Sein ohne Inhalt, gäbe also Nichts zu denken. Das heisst freilich nicht, nicht zu denken. Sondern Nichts zu denken heisst, reines Sein zu denken. Reines Sein zu denken aber ist Nichts. «Nichts» lautet die Bestimmung des unbestimmten reinen Seins, weil es ohne Unterschied ist. Sofern das reine Sein aber Nichts ist, kann es nicht Sein sein. Denn in der absoluten Bestimmungslosigkeit wäre Sein eben nicht einfach Sein, sondern ebenso Nichts. - Dass dieses Verhalten schwer zu fassen ist, liegt in der Sache. Wir bemühen uns hier um eine absolute Abstraktion, die abseits des Denkens führt. Dennoch vermag uns die Sache über Freges Formulierung des Urteilsstrichs aufzuklären: Verstehen wir den Urteilsstrich wie Hegels reines Sein als Zeichen reinen Wahrseins «ohne alle weitere Bestimmung», so bezeichnet er Nichts. Der Urteilsstrich ist Nichts und lässt keine positive Bestimmtheit zu. Und dass er keine positive Bestimmtheit zulässt, macht Freges Begriff vom Urteil aus. Wir können dieses dann nur dadurch bestimmen, dass es nicht zu bestimmen ist. Die Negativität reiner Bestimmungslosigkeit will sagen, dass es unmöglich ist, reines Sein, d. h. ein Urteil ohne Inhalt zu denken. Die Unmöglichkeit liegt aber nicht hinter dem reinen Sein, sondern sie macht gerade die Abstraktion aus, die reines Sein ist: absolute Bestimmungslosigkeit. Und damit zeichnet sich in der Bestimmungslosigkeit auf einmal eine Gliederung ab, die Frege eigentlich dem Gedanken und nicht dem Urteil zugesprochen hatte: Mit Hegel können wir sehen, dass der Urteilsstrich, indem er reines Wahrsein behauptet, letztlich Nichts sagt. Nichts aber ist, was reines Sein nicht ist. Weil wir demnach das reine Sein bzw. den Urteilsstrich ebenso als Nichts und Nichts wie Sein begreifen müssen, denken wir das Urteil als Ausschliessen dessen, was es nicht ist. Wir denken das Urteil als Negation. Das heisst: Dem Urteil ist das Nichtsein reinen 58 §5 Urteil <?page no="59"?> 20 Vgl. Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 145. Seins, Nichts, oder das, was es nicht ist, immanent. So erlangt das reine Urteil nunmehr eine interne Gliederung: den Unterschied von Sein und Nichtsein. Sein und Nichtsein sind dem Urteil immanent, weil das bestimmungslose, reine Urteil Sein bzw. nicht Nichts ist, oder (was dasselbe ist) das Nichtsein reinen Seins ist, welches der Urteilsstrich behauptet. Das reine Sein, welches der Urteilsstrich behauptet, ist den obigen Begriffen zufolge der Anspruch des Wahrseins. Entsprechend können wir das Urteilen negativ begreifen: als Nichtsein reinen Wahrseins oder als Differenz zum gleichgültigen Nichtsein. Weil ferner das Urteil Nichtsein reinen Wahrseins ist, und gleichzeitig darin besteht, Wahrsein zu behaupten, so ist das Urteilen nicht einfach Negation, sondern Selbstnegation. Somit kann das Urteil von seinem Gehalt nicht abstrahiert werden. Denn gerade in der absoluten Abstraktion des Urteils von seinem Inhalt ist es Selbst‐ negation. Und hierin liegt dessen innere Verbindung zum Gehalt beschlossen: Was das Urteil behauptet, ist das, was es nicht ist. Dies kennzeichnet Freges Waagrechter, sein «Gedanke an sich». Aber der Gedanke kann nicht an sich sein. Vielmehr macht der Begriff vom Urteil gerade deutlich, dass ein ansichseiender Gedanke Scheingestalt ist: Er gehört in Wahrheit nicht ausserhalb des Urteils, sondern in dessen Selbstnegation. Der Schein besteht also darin, dass die Inhaltslosigkeit des Urteils gleichzeitig ursprünglich und Resultat des Denkens ist: Resultat ist die Inhaltslosigkeit des Urteilsstrichs, weil er etwas ausdrückt, was sich gegen Frege als unmöglich herausstellt; nämlich den Versuch, das Urteil vom Denken zu abstrahieren. Ursprünglich ist der Urteilsstrich indes, weil die Abstraktion nicht überboten werden kann. Der Urteilsstrich ist Ausschluss des Unterschieds von Sein und Nichts, Ausschluss des Unterschieds, der das Urteil eigentlich ist. Wir haben bereits gesehen, dass das Urteil den Gedanken auf diese Weise nicht zur gegen den Gedanken gleichgültigen Behauptung führt, sondern zu sich selbst. Ein Denken, das zu sich selbst kommt, hat Selbstbewusstsein. Das bestätigt die obige These: Das Urteil ist Selbsterfassung des Gedankens. Und sie bringt die Unmöglichkeit des Denkens zum Ausdruck, sich ohne Unterschied denken zu können; die Unmöglichkeit also, das Dass vom Was abzuziehen. Damit schliesst eine Theorie des Urteils nahtlos an die anfänglichen Überlegungen zum Kritikbegriff an (§§1-2): Sie formuliert das Bewusstsein davon, dass der Ursprung des Denkens Impuls ist und nicht gedacht werden kann; dass das Denken davon, dass es denkt, nicht loskommt. Hier liegt der weitere Anstoss zur Entfaltung der Form des Denkens aus dem Denken. (§3) Sie ist nur als negative Form möglich. 20 Denn nur als Negativität 59 §5 Urteil <?page no="60"?> kann die abstrakte Leere des Wahrseins artikuliert werden: als Einsicht der Nichtdenkbarkeit. Und weil in dieser negativen Einsicht das Denken Selbstbe‐ wusstsein erlangt, schlägt sie sich auch in der Form des Urteilens nieder. Die Negativität des Selbstbewusstseins des Denkens gliedert das zunächst abstrakte Urteil intern in zwei Momente, in Sein und Nichtsein. Sie sind, weil sie das Selbstwissen des Denkens ausmachen, nicht mehr nur die Ur=Theilung zweier gegeneinander gleichgültiger Grössen, Subjekt und Objekt (§4). Denn die Nega‐ tivität bedeutet jetzt (wo das Denken zum Selbstwissen kommt) Selbstnegation. Verstehen wir das Urteil als Selbstnegation reinen Denkens, muss sich die darin zum Ausdruck kommende Nichtdenkbarkeit reinen Wahrseins in das Urteil einschreiben. Index der Nichtdenkbarkeit reinen Wahrseins ist die Kopula. 60 §5 Urteil <?page no="61"?> 1 Vgl. Aristoteles, Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck (De interpre‐ tatione), Hamburg 1998, 1a 20-25 ff. 2 Vgl. Boethius, Introductio ad syllogismos categoricos, Basel 1546, S. 562. 3 Dieser Ansatz, die formallogische Struktur eines Urteils «S ist P» aus der (kantischen) transzendentallogischen Selbstbestimmung des Denkens zu entfalten, stammt von Hans Wagner. Er schreibt: «Das schlechthin Wesentliche des Urteils ist die Relation, die es darstellt und die, genauer noch, Bestimmungsrelation ist. Der transzendentalen Relation der Erkenntnis eines des Gegenstands (welcher Art er auch sei) entspricht die formal‐ logische Relation der Bestimmung des Subjektsbegriffs durch den Prädikatsbegriff im Urteil. Vergessen wir nicht: Es ist das Urteil in seiner Formalität, worin sich allein die Erkenntnis des Gegenstands erfüllen kann.» (Wagner, Abhandlungen zur Philosophie Kants, op. cit., S. 208, Hervorhebung im Original). Das Folgende versteht sich als Weiterführung dieses Ansatzes. Die Idee ist, dass es einen Schnittpunkt der beiden von Wagner herausgestellten Ebenen - der Selbstbestimmung des Denkens und dessen Gegenstandsbezug - gibt, sodass die Ebenen legitimationstheoretisch miteinander verhakt sind. Der Schnittpunkt heisst auf urteilslogischer Ebene Kopula (§6), auf transzendentalphilosophischer Apperzeption (§8). §6 Kopula Urteile sind (Ur-)Teilungsbeziehungen zwischen einem selbstbewussten Subjekt und einem Bezugspunkt, auf den sich - unter Voraussetzung eines kritischen Impulses - ein Objektivitätsanspruch richtet. Ich gehe zunächst davon aus, dass solche Objekte nicht das Ich-Objekt (§3), sondern sinnliche Gegenstände sind, also Weltausschnitte. Nun urteilen wir nicht einfach «Weltausschnitt», «Ob‐ jekt», «Sonne», «Mond». Derartiges wäre nur Trennung ohne Beziehung, ein unkritisches Nennen zusammenhangsloser Dinge, leere Worte ohne Objekti‐ vität. Um hingegen Objektbezug zu erlangen, müssen die einzelnen Weltaus‐ schnitte auch Verbindung aufweisen. Dazu müssen sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu stehen kommen. Diese Grundlage, worauf ein Weltausschnitt zum Objekt verbunden werden kann, heisst seit ältesten Zeiten ὑποκείμενον, weil auf ihr Objektbestimmungen stattfinden. 1 Nach modernem Sprachgebrauch spricht man von Urteilssubjekt  2 , also wörtlich: das der Bestimmtheit «Daruntergewor‐ fene». Die Bezugnahme des kritischen Subjekts auf ein Objekt setzt somit auf Urteilsebene wiederum eine Trägerfunktion voraus, worauf Beziehung statthaben kann. 3 Wie das Urteilssubjekt ist auch das urteilende Subjekt Träger von Beziehung. Sie trennen aber zwei unterschiedliche Achsen kritischer Reflexion: Die kriti‐ sche Instanz, das urteilende Subjekt (§2) fällt das Urteil. Sie bezieht sich mit dem Urteil auf ein Objekt, zum Beispiel auf die Sonne, welche deshalb Urteilssubjekt <?page no="62"?> 4 Dazu: Ziegler, Satz und Urteil, op. cit., und Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, §4. 5 Vgl. Wagners Differenzierung in eine noetische Reflexion (horizontal) und noematische Reflexion (vertikal) (Wagner, Philosophie und Reflexion, op. cit., §§4-6, bes. S. 49) und die Bedeutung des «ist» als zentrale Verknüpfung im Geltungsanspruch (Ibidem, §12, S. 98ff.); siehe ausserdem: Christian Helmut Wenzel, Urteil, Freiburg 2011, S. 2285. ist, weil sie Träger und Bezugspunkt der ausgedrückten Beziehung ist und von ihr etwas ausgesagt wird: In dem Urteil «Die Sonne ist rund» wird von der Sonne gesagt, dass sie rund ist. Die Sonne ist damit Objekt und Urteilssubjekt des Urteils, dass die Sonne rund ist. Dabei stellt nicht bereits das Wort «Sonne», sondern erst das vollständige Urteil «Die Sonne ist rund» diese objektiv als rund vor. Erst das Urteil artikuliert also Objektivität als Anspruch. Es beansprucht, dass es so ist (§4), dass die Sonne rund ist, also dass sie auch dann noch rund ist, wenn ich gerade kein Urteil über sie fälle. Aus demselben Grund ist aber die Sonne dem Urteil transzendent, denn sie ist nicht das Urteil, sondern ich urteile über sie. Das Urteil ist etwas Anderes als das Beurteilte. Zum Beispiel können wir Urteile nicht wahrnehmen oder berühren; und sie wärmen auch die Haut nicht, wie die Sonne. Und mit dem Urteil «Die Sonne ist rund» behaupte ich auch nicht, dass das Wort «Sonne» rund ist. Was an Subjektstelle steht, ist keine Lautgestalt und Urteilen kein sprachliches Phänomen. 4 Denn im Gegensatz zum unkritischen Wortemachen erheben Urteile Objektivitätsansprüche. Das heisst: In Urteilen werden nicht einfach Gegenstände genannt, sondern Objekte hinsichtlich eines Anspruchs erkannt. Der Anspruch ist, wie wir gesehen haben, den Objekten nicht äusserlich. Er ist Begriff des Objekts. (§5) Über ein Objekt zu urteilen bedeutet deshalb, es auf seinen Begriff zu bringen. Begriffe werden mit Objekten zusammengebracht, indem sie Objekte bestimmen. Begriffsbe‐ stimmungen nennt man Prädikate, weil sie unter einem allgemeinen Anspruch verlauten, wie ein Objekt bestimmt ist. Folglich haben Prädikationen mit ist-Anspruch die Form: «Etwas ist soundso» oder «S (Subjekt) ist P (Prädikat)», weil sie ein Objekt bzw. Urteilssubjekt (S) begrifflich irgendwie (P) bestimmen: ein Objekt - zum Beispiel die Sonne - auf einen Begriff - zum Beispiel des Rundseins - mit dem Anspruch des Soseins bringen. Diese Struktur ist nicht die Ur=Theilung, sondern deren Explikat: die Art und Weise, wie ein kritisches Subjekt auf das zu beurteilende Objekt Bezug nimmt. Man kann sich die entste‐ hende Differenzierung auch bildlich als Kreuz oder Pluszeichen (+) vorstellen: 5 Oben am Kreuz steht das urteilende Subjekt, unten das Objekt, worüber das Subjekt ein Urteil fällt. Diese vertikale Achse ist diejenige der Ur=Theilung, die Verbindung von Denken und Welt. Das Urteil, die Vermittlungsstruktur 62 §6 Kopula <?page no="63"?> 6 Aristoteles, Metaphysik, Hamburg 1980/ 2009, Γ 2, 1003a ff. 7 Die erstmalig systematische Untersuchung des «veridical use» der Kopula ist von Charles H. Kahn (ders., The Verb ‹Be› in Ancient Greek. With a New Introductory Essay, Indianapolis/ Cambridge 1973/ 2003, S. 331ff.). 8 Eine frühe Analyse der identifizierenden Funktion liefert Rudolf Carnap (ders., Über‐ windung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Berlin 1932, bes. S. 233f. 9 In Anschluss an Hölderlin nennt Frank das kopulative Sein, weil es in Urteilen beansprucht wird, auch das «judikative». Frank, Der unendliche Mangel an Sein, op. cit., Anm. 14, S. 18-21, hier: S. 21. 10 Der Ausdruck «veridical nuance» stammt von Kahn (vgl. ders., The Verb ‹Be› in Ancient Greek, op. cit., S. 328, 331). 11 Diese These eines einheitlichen Seinsbegriffs der Kopula ist umstritten und beruht auf Vorentscheidungen zugunsten einer ontologischen Philosophie. Zur kritischen Diskussion siehe: Theunissen, Sein und Schein, op. cit., S. 385ff. zwischen Subjekt und Objekt, differenziert sich wiederum in ein Urteilssubjekt (links vom Kreuz) und ein Prädikat (rechts vom Kreuz). Darin entfaltet das Urteil auf horizontaler Ebene, was der Subjekt-Objekt-Zusammenhang der Ur=Thei‐ lung auf vertikaler Ebene ist. Und im Auge des Kreuzes, wo sich die vertikale Ebene mit der horizontalen verhakt, steht die Trennungsverbindung selbst: das Wörtchen «ist», die Kopula. Via Kopula artikuliert sich die vereinende Trennung von urteilendem Subjekt und Objekt als Prädikationsbestimmung «S ist P». Mit der Kopula im Zentrum können wir das Urteilen als «ist»-Sagen ver‐ stehen, das heisst als Prädikation. Wir urteilen, indem wir sagen: «irgendetwas (S) ist soundso (P).» Via Kopula wird das Subjekt prädikativ bestimmt. Die tra‐ ditionelle Sprachwissenschaft differenziert in Rückgriff auf Aristoteles 6 neben der prädikativen Funktion der Kopula noch weitere Funktionen: eine existen‐ zielle, eine veritative 7 und eine identifizierende 8 . Ich lasse die identifizierende Funktion vorerst beiseite und beschränke mich auf die beiden anderen. Das Urteil «Die Sonne ist rund» ist ein prädikatives Urteil, wohingegen «Gott ist (= existiert)» ein existenzielles ist. Beide können so umformuliert werden, dass das in ihnen enthaltene Behauptungsmoment als veritatives Sein offenbar wird. Wir können sagen: «Es ist so, dass die Sonne rund ist.» und «Es ist so, dass Gott ist (= existiert).» Durch diese Umformulierung erhält das «ist» in beiden Fällen die Funktion der Behauptung bzw. des Wahrseins. 9 (vgl. §4) Damit ist freilich noch nicht ausgemacht, ob die Urteile auch wahr sind. Aber im «ist» klingt die behauptende Kraft des Urteils als Anspruch: «Die Sonne ist rund», «Gott ist (= existiert)» usw. Diese veritative Nuance  10 der prädikativen und existenziellen Funktion des Wörtchens «ist» macht den in ihm liegenden Wahrheitsanspruch explizit. 11 63 §6 Kopula <?page no="64"?> 12 Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, op. cit., S. 289. 13 Vgl. Hegel, Jenäer Kritische Schriften, op. cit., S. 329: «Die Copula ist nicht ein Gedachtes, Erkanntes, sondern drückt gerade das Nichterkanntseyn des Vernünftigen aus.». Doch der Anklang des Wahrseins im «ist»-Sagen macht nur einen Gesichts‐ punkt des Urteils aus. Kehrseite ist die Degradierung oder «Selbstdemütigung der Vernunft» 12 dadurch, dass der veritative Anklang der Kopula sie zur Statt‐ halterin einer Wahrheit macht, die sie nicht hat: Denn die veritative Nuance der Kopula offenbart die behauptende Kraft des Urteils im Gegensatz zu anderen Äusserungen und Vorstellungen. Sie behauptet, dass es so ist, wie gedacht, also dass das Gedachte wahr ist. Das Sein, auf das die Kopula verweist, ist Wahrsein. Deshalb könnte man hier versucht sein, das Wahrsein wie Frege den Urteilsstrich in seiner absoluten Abstraktion vom Inhalt zu verstehen. Schliesslich, so könnte man meinen, liesse sich vor jeden möglichen Inhalt die behauptende Kraft «es ist so» stellen. Denn das «ist» behauptet ja irgendetwas, was es nicht ist: Es behauptet eine Verknüpfung von Subjekt und Prädikat, ist selber aber nicht diese Verknüpfung. Die Kopula ist ohne Bedeutung. Versteht man die Kopula aber bedeutungslos, dann nähert sich das behauptete Wahrsein wieder dem Nichts, weil im Urteil der Unterschied, den die Kopula markiert (den Unterschied von Wahrsein und Falschsein, von Sein überhaupt und Nichts) leer würde. - Dieses Missverständnis lässt sich jedoch im Rückblick auf bereits Gesagtes ausräumen. Denn es ist Zeugnis jenes Scheins, dessen Ausweis die Leistung der Kopula am Ende des letzten Kapitels war: Zwar ist es richtig, dass die Kopula blosse Form, also inhaltlich unbestimmt ist. Aber sie ist nicht Nichts, sondern Ausdruck der Differenz zum Nichts. Die Kopula ist Negation. Sie negiert die Erkennbarkeit reinen Wahrseins; bzw. sie negiert, weil sie selbst Wahrsein behauptet, sich selbst: also reines veritatives Sein. Sie negiert deshalb sich selbst, weil sie Explikat des Selbstbewusstseins des Denkens ist. Das Selbstbewusstsein des Denkens aber besteht in der Einsicht, dass das Denken von sich nicht abstrahieren kann, also dass reines Sein gedanklich nicht erreichbar ist. Indem die Kopula diese negative Selbstbezüglichkeit des Selbstbewusstseins des Urteils offenbart, steht sie anstelle eines Seins, das nicht gedacht werden kann. 13 Das Sein, das nicht gedacht werden kann, ist Impuls der Ur=Theilung. (§3) So ist die Kopula Index der ursprünglichen Entzweiung des Denkens. Bedeutungslos ist sie nur, sofern sie kein drittes Element neben dem Entzweiten ausmacht, sondern lediglich deren Beziehung ist, in der Denken und Gedachtes als Subjekt und Prädikat ihre urteilsmässige Bestimmtheit erlangen. Und diese Bestimmtheit fordert der veritative Anspruch des ist-Sagens. Das Wörtchen «ist» bedeutet somit trotz inhaltlicher Bedeutungslosigkeit nicht reines Sein bzw. Nichts, 64 §6 Kopula <?page no="65"?> 14 Theunissen, Sein und Schein, op. cit., S. 414. 15 Ibidem, S. 415. sondern reflektiertes Sein: Es reflektiert die Selbstnegation des Denkens im Urteil, welche besagt, dass für das Denken der Inhalt ausserhalb des Denkens liegt. Das Wörtchen «ist» ist Ursprünglichkeit «im Stadium der Verlorenheit.» 14 Aber die in der Kopula manifeste Verlorenheit reinen Seins schränkt ihre Ursprünglichkeit nicht ein. Die Verlorenheit ist «der Preis», den wir für die Befreiung aus dem «Schein der Verborgenheit» 15 zahlen müssen. Den Schein der Verborgenheit nannten wir die Gleichgültigkeit des im Urteilsstrich manifes‐ tierten reinen Seins bzw. Nichts. Die Scheinhaftigkeit lag darin, dass die absolute Abstraktion des Selbstdenkens als Resultat einer negativen Beziehung zum Ge‐ halt herausgestellt werden konnte. Diese negative Beziehung zum Gehalt, also seine Abstraktion, wird nun zur Rettung des Unkenntlichen: Indem die Kopula dem Nichterkanntsein reinen Wahrseins Ausdruck verleiht, erlaubt sie, das Nichterkanntsein als Nichterkanntes zu denken. So erlangen wir im Vollzug der kopulativen Prädikation Zugriff auf das Nichterkanntsein des Ursprünglichen. Zugriff gewährt die Kopula zum Ursprünglichen, sofern sie nicht von anderem, sondern vom Ursprünglichen her entfaltet wird. Die Kopula kann daher nicht nur Teilung des Ursprünglichen sein, sondern ist auch ursprüngliche Teilung. Das wird spürbar in der veritativen Nuance. Aus dem Gesagten geht hervor, dass der veritativen Nuance eine positive und eine negative Funktion abzugewinnen ist: Im negativen Sinn kennzeichnet die Kopula ein abstraktes Beziehungswort, das beide Momente der Beziehung, Sub‐ jekt und Prädikat, und damit deren unterschiedslose Verbundenheit im reinen Sein ausschliesst. Ihre Positivität besteht in der darin liegenden Behauptung der Beziehung, die in der veritativen Umformulierung «es ist so, dass S P ist» die übergreifende Einheit ausspricht, welche nicht nur Subjekt und Prädikat, son‐ dern auch die beiden Funktionen des existenziellen und prädikativen Seins umspannt. Die Einheit muss sich jedoch darauf beschränken, Behauptung zu sein. Würde sie wirklich im Denken erreicht, hörte kritisches Denken, das ein negatives ist, auf zu denken. Die Kopula ist also für sich genommen abstrakt oder bedeutungslos, weil sie ebenso Teilungswie Beziehungswort ist, ohne Teilung und Beziehung zu bestimmen. Wenn aber die Kopula inhaltlich unbestimmt bleibt - wie kann sie dann garantieren, dass die beanspruchte Zuordnung von Subjekt und Prädikat gelingt? Anders gesagt: Wenn die Kopula zum Inhalt eines Urteils nichts beiträgt bzw. kein Kriterium des Gelingens an die Hand gibt, wie können wir die behauptete Zusammenstellung rechtfertigen? 65 §6 Kopula <?page no="67"?> §7 Funktion und Synthesis Die Legitimation von Gedanken wird zum Problem, weil Gedanken veritative Ansprüche erheben; denn dann drücken sie die Forderung nach einer Entschei‐ dung - κρίσις (§2) - über ihr Wahrbzw. Falschsein aus. Dasjenige Denken, welches die Frage nach der Legitimation von Gedanken aufwirft, ist deshalb ein kritisches Denken. Sofern mit dem Denken der Anspruch des Wahrseins einhergeht (d. i. der Anspruch, ein Urteil zu fällen), stellt sich auch die Frage, ob es sich so verhält, wie gedacht; ob der Gedanke also legitim ist. Index dieser Frage ist die Kopula, da sie sagt: «es ist so», und damit beansprucht, dass es so und nicht anders, also dass es wahr sei. Entsprechend bestimmt die Kopula, wie das vorherige Kapitel 6 zeigte, die kritische Formulierung des Denkens: «S ist P.» Denn die kritische Formulierung ist gleichbedeutend mit der Wendung: «Es ist wahr, dass S P ist.» Der kritischen Formulierung eines Gedankens ist das Problem der Legiti‐ mation nicht äusserlich. Es ist formgebend: Weil die Kopula als Element selbstbewussten Denkens einen Wahrheitsanspruch ausspricht, steht durch sie auch die Frage im Vordergrund, ob der Anspruch mit Recht gestellt werde. Dieser Zusammenhang von Kritik, Urteilsform, Kopula und Legitimation tritt besonders deutlich hervor, wenn wir uns die Alternative vor Augen führen: In einem unkritischen Modell vom Denken, welches Wahrheit nicht als An‐ spruch formuliert (keine Entscheidung bzw. κρίσις bezüglich des Wahr- oder Falschseins fordert), fällt auch die Kopula weg. Das lässt sich bei Freges ist-loser Formulierung des Gedankens beobachten: Frege trennt, wie zuvor erläutert wurde (§5), das Urteil vom Gedanken. Die Trennung besagt, dass ein Gedanke «an sich» nicht die Forderung (Frege spricht von «Behauptung») seines Wahrseins beinhalte, sondern erst das Fällen eines Urteils. Der Gedanke sei also unabhängig davon wahr oder falsch, ob er für wahr oder falsch befunden werde, und so sei der veritative Anspruch (das Urteil) dem Gedanken äusserlich. Aus diesem Grund verschwindet aus Freges Formulierung des Gedankens auch die Kopula, da sie Index dieses Anspruchs ist. Dass aber Freges Gedanke «an sich» keinen Wahrheitsanspruch stellt, heisst natürlich nicht, dass der Gedanke nicht wahr oder falsch ist - sondern nur, dass das Wahr- oder Falschsein des Gedankens kein Anspruch, also nichts ist, was er an sich nicht schon hätte oder ihm noch «hinzugefügt» werden müsste. Weil Frege vom wahren oder falschen Gedanken die Anerkennung oder Beurteilung seines Wahrseins separiert, kann folglich die Frage nach der Legitimation in seinem Modell vom <?page no="68"?> 1 Vgl. Frege, Der Gedanke, op. cit., S. 31. 2 Frege, Funktion und Begriff, ob. cit., S. 12. 3 Ibidem, S. 13. Gedanken nicht formuliert werden. - Dass das Legitimationsproblem nicht formuliert werden kann, löst es aber nicht. Im Folgenden soll vielmehr gezeigt werden, inwiefern Frege das Erkenntnisproblem nicht nur nicht formulieren, sondern ihm auch nicht überzeugend ausweichen kann. Die Selbstartikulation des Denkens verlangt dann eine Kopula. Frege denkt Gedanken funktional. Funktionen sind Abbildungsverhältnisse: Sie bilden jedes Element eines Bereichs auf Elemente eines anderen Wertebe‐ reichs ab. Die Funktion des Gedankens definiert Frege über einen Begriff, der Gegenstände auf Wahrheitswerte abbildet. Durch den Begriff sind Gedanken, im Unterschied zu mathematischen Funktionen, auf besondere Weise funktional: sie können wahr oder falsch sein, also ihr Wert ist das Wahre oder Falsche. 1 Was wiederum einen Begriff als Funktion kennzeichnet, ist, dass er «ungesättigt» 2 ist. Er muss durch einen abgeschlossenen Teil ergänzt werden, und erst, wenn er durch einen abgeschlossenen Teil ergänzt wird, bildet er einen Wert ab - das Wahre oder Falsche. Den abgeschlossenen Teil nennt Frege einen «Gegen‐ stand» oder «Eigennamen» 3 , sodass Gedanken begriffliche, und das heisst mit Frege: funktionale Zuordnungen von Gegenständen und Wahrheitswerten sind. Alle Funktionen, auch diejenigen Funktionen, die einen Gedanken be‐ schreiben, haben die Form: F(x). Eine Funktion stellt die Frage, ob sie das Wahre oder Falsche bedeutet, nicht. Entsprechend formuliert die Funktion F(x) kein Selbstbewusstsein. Die Funktion weiss nicht um sich, sie erhebt keine Ansprüche und stellt sich nicht in Frage. Wahr- oder Falschsein sind einfach Werte, die eine Funktion als Gedanken kennzeichnen, und diese Werte hat ein funktionaler Gedanke unabhängig davon, dass er gedacht wird. Also unab‐ hängig davon, was Einer denkt, sind bzw. mit Frege: «bedeuten» funktionale Gedanken das Wahre oder Falsche. Der Verlust der Kopula in der funktionalen Formulierung des Gedan‐ kens «F(x)» ist nun nicht nur ein Problem der Zeichen, sondern inhaltlicher Natur. Folgen wir Frege, so wäre die Legitimation keine Sache des Gedankens, sondern eine Frage der Meinung über ihn: Nicht den Gedanken müssten wir legitimieren (dieser bedeute ja an sich das Wahre oder Falsche), sondern unser Fürwahrhalten des Gedankens - und dieses wäre, wie gesagt, vom Wahrbzw. Falschsein des Gedankens «an sich» losgelöst. Nehmen wir also an, wir fassten mit Frege einen Gedanken und urteilten, dass er wahr sei, so steht nicht das Wahrsein des Gedankens, sondern eben unser Fürwahrhalten des Gedankens in Frage. Doch dies scheint dem Vorgang des Denkens bzw. Urteilens nicht 68 §7 Funktion und Synthesis <?page no="69"?> 4 Frege, Der Gedanke, op. cit., S. 53. 5 Ibidem, S. 52. 6 Ibidem, S. 53. 7 Frege, Über Sinn und Bedeutung, op. cit., S. 26. gerecht zu werden: Wenn wir etwas für wahr halten, dann halten wir nicht unser Fürwahrhalten für wahr, und nicht das Fürwahrhalten wollen wir legitimieren. Sondern wir erheben den Anspruch, dass das, was wir denken, dass das Gedachte (an sich) so sei, wie gedacht: unser Urteil von einer selbständigen Sache (kantisch: von einem Objekt) und nicht den Gedanken als Sache des Fürwahrhaltens wollen wir rechtfertigen. Mit Freges funktionalem Modell lässt sich das nicht beschreiben: Davon ausgehend, dass das zu Legitimierende das Fürwahrhalten eines an sich wahren oder falschen Gedankens sei, der entweder auf richtige (legitime) oder auf falsche (illegitime) Weise «gefasst» wird, wäre letztlich der Gedanke, den wir fassten, dem Denken transzendent, und zu legitimieren wäre dann unser Urteilen über dem Denken transzendente Gedanken. Doch diese Verschiebung scheint irgendwie künstlich: Was wäre wohl diese Sache, der «Gedanke an sich», der nicht gedacht würde? Das funktionale Modell des Gedankens muss diese Frage offenlassen. Würde es sie beantworten, so müssten wir etwas Ansichseiendes denken können; wir müssten etwas denken können, ohne es zu denken. Daher erklärt das funktionale Modell nicht, was ein Gedanke ist und wie es dazu kommt, dass wir ihn fassen können, sondern es beschreibt diesen Vorgang nur. Die Beschreibung des Denkens bleibt allerdings paradox: Der Gedanke sei etwas «Unwirkliches», das doch auf die Wirklichkeit wirke, indem er ergriffen (für wahr befunden), also gedacht werde 4 ; etwas Selbständiges, das aber «für mich» nichts wäre, wenn «er nie von mir gefasst würde! » 5 ; etwas Unzeitliches und Ewiges 6 , dem Be‐ wusstsein transzendent und doch grundsätzlich bewusst zu machen (zu fassen). Und so scheint Frege entweder den Gedanken ausgerechnet ins Undenkbare zu versetzen, oder aber er überlässt das paradox anmutende Zwischenreich eines «gemeinsamen Schatz[es] von Gedanken» 7 letztlich doch, aber entgegen seiner eigenen Intention: unserer Denkkraft. Obwohl wir einräumen müssen, dass es nicht zu Freges Ziel gehört, die epistemische Frage zu beantworten, wird diese durch das Modell selbst gestellt oder zumindest als Problem impliziert. Demnach betrifft die vorgebrachte Kritik nur die Inadäquanz des Modells in Bezug auf die kritische Formulierung des Denkens, wobei die Nützlichkeit einer funktionalen Beschreibung des Gedankens damit nicht in Zweifel gezogen werden soll. Lediglich aus kritischer Perspektive erweist sich das funktionale Modell als unpassend, weil es die spe‐ zifisch kritische Frage, wie wir sie in Kapitel 3 herausgearbeitet haben, nämlich 69 §7 Funktion und Synthesis <?page no="70"?> 8 Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 136, vgl. in diesem Buch §3. 9 Ibidem. 10 Hegel, Wissenschaft der Logik I/ 2, op. cit., S. 28, vgl. in diesem Buch §3. die Frage nach der Kategoriendeduktion als dem Nachweis der Möglichkeit von Kritik, nicht formulieren kann. In Freges Vokabular würde ein solcher Nachweis die Entfaltung der Form des Gedankens F(x) aus seinem Fürwahrhalten bein‐ halten. Aber gerade diesen Nachweis verhindert die Separation von Inhalts- und Urteilsstrich. So gilt für Frege letztlich dasselbe, wie für das von Kant unbegründet gelassene Urteilsmodell: «Es sagt zuletzt: Unsere Logik sei eben so beschaffen, wie sie beschaffen sei.» 8 Stellt der Gedanke ein schieres Faktum «an sich» dar, welches wir bloss bezeichnen und nicht erklären können, so bleibt seine Legitimität «relativ zu diesem Faktum.» 9 Um dieses Manko zu beheben habe ich in Kapitel 5 einen Vorschlag für eine solche Legitimierung des Faktums des Denkens vorgebracht, indem Kants und Freges Modelle «der Critik [unterworfen]» 10 wurden: Ausgehend von Freges Trennung des Urteils vom Inhalt (dem Gedanken «an sich»), haben wir gesehen, dass das Urteil in der absoluten Bestimmungslosigkeit des Senkrechten nur ne‐ gativ bestimmt werden kann. Begreifen wir aber das Urteil als Negation (seines Inhalts, Freges Gedanken), dann ist ihm in Wahrheit die Gliederung immanent, die zu abstrahieren gerade der Grund für die Trennung vom Gedanken war: Das Urteil abstrakt bzw. negativ zum Gedanken zu begreifen, heisst, es in der Differenz dessen aufzufassen, wovon es ein Abstraktum ist. Weil aber das Urteil gleichsam darin besteht, das Wahrsein des abstrahierten Inhalts zu behaupten, obwohl im Urteil dieses Wahrsein nicht an sich selbst schon begründet ist (das Wahrsein müsste ja unter Freges Prämissen im «Gedanken an sich» beschlossen liegen), oder mit anderen Worten: weil das Urteil darin besteht, das Wahrsein dessen zu behaupten, was es negiert - so kann es nicht einfach als Negation, sondern es muss als Selbstnegation verstanden werden. Aber daraus ergibt sich, dass das Urteil von seinem Gehalt, dem Gedanken, nicht abstrahiert werden kann. Vielmehr macht gerade Freges Begriff vom Urteil deutlich, dass das Ansichsein des Gedankens (seine absolute Trennung vom Urteil) Schein der Selbstnegation des Urteils ist. Denn das Ansichsein des Gedankens, welches das Urteil behauptet, gehört notwendig zum Anspruch, der das Urteil ist. Es kann daher nur als Anspruch formuliert werden, sofern das Ansichsein als Selbstnegation des Urteils ausgewiesen wird. Das Urteil, die Selbsterfassung des Gedankens, drückt aus, dass es unmöglich ist, vom Gedanken das Selbstwissen abzuziehen, dass er gedacht wird (§1). Freges Trennung von Urteil und Gedanke kann in Anbetracht dessen nicht aufrechterhalten werden. Er selbst greift zur Formulierung seines Legitima‐ 70 §7 Funktion und Synthesis <?page no="71"?> 11 Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1934, §88. 12 Rüdiger Bubner, Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt am Main 1989, S. 95. 13 Vgl. Kant, KrV, A77ff./ B103ff. tionsverfahrens auf Kant zurück, wenn er schreibt, dass der Beweis eines Gedankens «nicht einfach aus dem Kasten wieder heraus[holt], was man hineingelegt hatte. Diese Folgerungen erweitern unsere Kenntnisse, und man sollte sie daher Kant zufolge für synthetisch halten.» 11 Obwohl Frege in dem, was im Zitat folgt, für ein an der Mathematik orien‐ tiertes Beweismodell plädiert, stimmt er mit den obigen Ausführungen insofern überein, dass die Legitimation von Gedanken erkenntnistheoretisch verstanden werden kann. Erkenntnis tritt ein, wenn die Wahrheit eines Gedankens erfasst (wenn der Gedanke legitimiert) wird. Damit enthält Erkenntnis gleichsam mehr, als der Gedanke an sich ist: nämlich das Bewusstsein um dessen Legitimität. Und Frege schreibt, dass dieser Mehrwert, der zum Gedanken an sich durch dessen Legitimation noch hinzukommt, «Kant zufolge für synthetisch zu halten» sei. Die Frage ist nun, was Kant unter «synthetisch» versteht. Synthesis ist bei Kant mehr als ein zentrales Thema. Sie ist auch ein «ope‐ rationales Instrument.» 12 Und da sie operational in das Denken involviert ist, fällt eine finale Begriffsbestimmung schwer. - So wird uns das Thema der Synthesis in den folgenden Kapiteln (insbes. §14) immer wieder begegnen. An dieser Stelle soll zuerst eine weichenstellende Charakterisierung in Bezug auf das Legitimationsproblem bemüht werden. Kants Synthesisbegriff bringt das Selbstbewusstsein des Denkens zum Aus‐ druck. Er geht davon aus, dass ein Gedanke gedacht werden können muss. Er muss also ins Bewusstsein treten können: Ich muss denken können, dass ich denke, was ich denke (§1). Dass das Denken selbstbewusst ist, ermöglicht es, über etwas nachzudenken, was nicht schon im Denken beschlossen liegt, son‐ dern unabhängig vom Denken als Nichtgedanke besteht. Eine jede Beziehung von Verschiedenem heisst Synthesis. 13 So ist das Bewusstwerden dessen, was nicht an sich bewusst ist, ein synthetischer Vorgang. In einer Legitimation soll nun gezeigt werden - Frege und Kant wären sich hierin vermutlich einig - dass das für wahr Befundene auch unabhängig davon wahr ist, ob es für wahr gehalten wird. Was aber vom Urteil unabhängig besteht, das kann nicht aus dem Urteil gewonnen werden, sondern erfordert eben Synthesis: Zusammenstellung dessen, was an sich getrennt ist. Durch Synthesis wird dasjenige, was nicht 71 §7 Funktion und Synthesis <?page no="72"?> 14 Vgl. Ibidem, A727f./ B755f. schon im Denken liegt, erst in Gedanken vorstellbar. Sie beschreibt also, in Freges Vokabular, den Übergang vom «Gedanken an sich» zum selbstbewussten Urteil, oder wie wir einen Gedanken «fassen». Und weil dieser Übergang den obigen Ausführungen zufolge vom Denken selbst motiviert wird (weil wir vom Gedanken nicht die Möglichkeit abziehen können, ihn zu denken), und weil also der Übergang zum Selbstbewusstsein des Gedankens nicht von aussen zum Gedanken hinzukommt, drückt Synthesis nichts anderes als die Notwendigkeit dieses Übergangs aus: das Selbstbewusstsein des Denkens. Das funktionale und ist-lose Modell des Gedankens, welches den Übergang ins Urteil unerklärt lässt, kennt daher weder Synthesis, noch Selbstbewusstsein oder Kopula. Entsprechend kann es den - synthetischen - Übergang vom Gedanken zum Denken des Gedankens nur beschreiben, aber nicht erklären. Jedoch ist auch mit Kopula alles andere als offensichtlich, wie das Problem gelöst werden könnte. Gerade der Ausweis des Urteils als Synthesis legt sogar nahe, dass eine abschliessende Legitimation der Möglichkeit von Kritik womöglich nie zu erreichen ist, weil Synthesis immer auch den Unterschied des im Urteil Verbundenen enthält. Vielleicht kann das kritische Denken (im Gegensatz zum mathematisch funktionalen) absolute Gewissheit nie erreichen: «Die Gründlichkeit der Mathematik beruht auf Definitionen, Axiomen, Demonstra‐ tionen. Ich werde mich damit begnügen, zu zeigen: dass keines dieser Stücke in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt, von der Philosophie geleistet, noch nachgeahmt werden. […] Definieren soll, wie es der Ausdruck selbst gibt, eigentlich nur so viel bedeuten, als, den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen. Nach einer solchen Foderung kann ein empirischer Begriff gar nicht definiert, sondern nur expliziert werden.» 14 Weil es in der kritischen Philosophie um die Legitimation gedanklicher Bezüge auf Nichtgedanken geht (Kant schreibt von «empirische[n] Begriffen», ich werde darauf zurückkommen, vgl. §9), liegt ihnen ein anderes Legitimations‐ modell zugrunde als der Mathematik: Gedankliche Bezüge auf Nichtgedanken können, wie Kant schreibt, nicht in Definitionen legitimiert, sondern nur «ex‐ pliziert» oder dargestellt werden: Im Gegensatz zur Definition besteht die Explikation eines Begriffs (lat. exhibitio) in der Aufweisung der Vorstellung, die dem Begriff entspricht, ohne der Begriff zu sein. Letzteres ist für den kritischen Anspruch zentral: Die Vorstellung muss von anderswoher genommen werden; von dort, wo das Denken a priori keine Rolle spielt. Andernfalls forderte die Vorstellung nicht dazu auf, Nichtgedanken zu denken. Gedanken, die expliziert 72 §7 Funktion und Synthesis <?page no="73"?> 15 Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 122 und in diesem Buch §3. 16 Siehe auch Brigitta-Sophie von Wolff-Metternich, Die Überwindung des mathematischen Erkenntnisideals. Kants Grenzbestimmung von Mathematik und Philosophie, Berlin/ New York 1995, S. 140ff. 17 Wolfgang Janke, Fichte. Sein und Reflexion. Grundlagen der kritischen Reflexion, Berlin 1970, S. 3, meine Hervorhebung. und nicht definiert werden, beziehen sich auf etwas anderes, als sie schon sind; das heisst auf die Welt, die auch ausserhalb des Denkens besteht. Und erst dieser Fremdbezug ermöglicht die kritische Prüfung unserer Denkansprüche, weil sie dem Gedanken einen Nichtgedanken zur Seite stellt und das Denken auf die Welt ausrichtet. Erst dadurch, dass der Gehalt der Begriffe nicht konstruiert, sondern von ausserhalb genommen wird, dadurch also, dass das Denken die Welt «im Blick» 15 hat, vermag es sich gegen dessen dogmatischen Gebrauch zu wehren. 16 Ein an der Mathematik orientiertes funktionales Modell ohne Kopula hat die Welt nicht im Blick. Dort bleibt der Gedanke abstrakt - getrennt von dessen Gedachtwerden und «unbeachtet, was in den Formen [eines Gedankens] aufeinander bezogen ist. Das zeigt die Logik an ihren höchsten Beispielen, den Sätzen A=A und -A nicht =A. Die logische [funktionale, J.W.] Einstellung hebt Formen heraus, nämlich die Beziehungen von Identität und Widerspruch, in denen A und non A stehen, unangesehen dessen, was A ist und ob es ist. Und über das objektiv-reale ‹ist› vermag die [funktionale, J.W.] Logik nichts zu befinden. Ihr richtungsgebendes Reflektieren blendet den Bezug zum Sein gerade ab. Sie verliert daher aus dem Blick, inwiefern die Formen der Logik Gesetze des in Wahrheit Seienden sind.» 17 Diese Passage, die in einen Fichteband Jankes einleitet, lässt sich gut an die obige Diskussion anschliessen. Obwohl beide Modelle von derselben Unterscheidung ausgehen: der Trennung von Form und Inhalt, die wir mit Schellings Trennung von Was und Dass (§1), Hölderlins Ur=Theilung (§3), Freges Urteils- und Inhaltsstrich (§4) nun in verschiedenen Gestalten wiederholt haben, so führen sie doch zu ganz unterschiedlichen Auffassungen legitimen Denkens. Für Frege findet die Legitimation (wenn überhaupt) auf der Ebene des Urteils statt, die er von der Ebene des Gedankens scharf zu trennen versucht. Die Armut dieses Modells liegt, wie gesehen, darin, dass es keinen Synthesisbegriff kennt und der Übergang vom Gedanken zum Urteil deshalb ungeklärt bleibt. Ohne Synthesis bleibt rätselhaft, inwiefern die Legitimation einen Gewinn für das Denken darstellen kann, oder wie Janke schreibt: «was A ist und ob es ist», also das «objektiv-reale ‹ist›.» Der ist-lose Gedanke ist sozusagen seinsblind: 73 §7 Funktion und Synthesis <?page no="74"?> 18 Kant, KrV, B13, Sperrung im Original. Das gilt nicht nur für das «objektiv-reale» «Seiende», sondern vor allem auch für das mit der Kopula beanspruchte veritative Sein, für das «in Wahrheit Seiende» (s. o.). Damit haben wir das Legitimationsproblem, welches sich am Ende des voranstehenden Kapitels 6 gestellt hat, nun zugespitzt. Aber wir haben es noch nicht gelöst: Wenn durch die Kopula zwei Bereiche ineinandergreifen, die an sich getrennt sind - wie kann ich dann das Risiko ausschliessen, in dieser Synthesis fehl zu liegen? Weil wir gesehen haben, dass dieser Frage auch im funktionalen Modell nicht auszuweichen ist, müssen wir nach einer neuen axiomatischen Grundlage suchen, «worauf sich der Verstand stützt, wenn er ausser dem Begriff von A [dem Urteilssub‐ jekt] ein demselben fremdes Prädikat […] aufzufinden glaubt, welches er gleichwohl damit verknüpft zu sein erachtet». 18 Die Schwierigkeit liegt darin, dass die axiomatische Grundlage dieser Verknüp‐ fung nicht wieder ein Urteil der Form «S ist P» sein kann. Wäre die Grundlage ein Urteil, so müsste ein noch allgemeinerer Grund für die Urteilsverknüpfung gefunden werden, und so weiter. - Doch worauf können wir unsere Erkenntnis dann stützen? Treten wir einen Schritt zurück und führen uns den Weg vor Augen, den das Denken in der Entfaltung des Urteils bisher zurückgelegt hat: Die kritische Impulsivität kennzeichnet das Denken als ein dissonantes Denken, das sich selber denken will. (§1) Kritisch ist es, sofern das Denken Geltungsansprüche erhebt, die diskutabel sind, und also eine Rechtfertigung fordern. Diese Recht‐ fertigung ist Aufgabe der Selbstkritik. (§§2-3) Ihre Durchführung führt aber zu der Schwierigkeit, dass das Denken die Entzweiung der kritischen Impul‐ sivität nicht ablegen, den kritischen Anspruch nicht fallen lassen kann. Das artikuliert die Ur=Theilung. Sie expliziert die entzweite Einheit eines Denkens, welches sich selber denken will. Wo ein Denken sich selber denken will, hat es Selbstbewusstsein: da hat es ein «Ich». Somit artikuliert die Ur=Theilung das Ich, welches (weil es sich selbst denkt) sich auch als nicht-Ich entwirft. Dem verleiht der Gedanke «Ich bin Ich» Ausdruck: Der Ichgedanke setzt einerseits Identität des Ichs links und des Ichs rechts vom «bin» voraus. (§4) Aber durch das «bin» wird in der Gleichheit auch Verschiedenheit erhalten, nämlich die Verschiedenheit des kritischen Denkens, das nicht zur Einheit kommen kann. Das macht den Unterschied aus zwischen dem Ich als Subjekt (links vom «bin») und dem Ich als Objekt (rechts vom «bin»). Diese Ur=Theilung entfaltet sich, 74 §7 Funktion und Synthesis <?page no="75"?> weil sie sich (indem sie sich von sich teilt) wiederum negativ selbst zum Inhalt hat, in eine Teilung ausserhalb des Ichs: in Subjekt und Prädikat, deren Teilung das Urteil ist. (§5) Was das Denken zum Urteil der Form «S ist P» macht, ist die Einsicht, dass das Denken nur ein Ich hat, indem es sich vom Ich trennt. Mit anderen Worten: Was das Denken zum Urteil der Form «S ist P» macht, ist das Selbstbewusstsein des Denkens davon, dass es Widerstand gegen sich selber, Hinwendung zur Welt ist. Sichtbar wird dies mit der Kopula (§6): Dass es so sei, wie gedacht, indiziert das Selbstwissen des Denkens, auf etwas bezogen zu sein, was es nicht ist - und das heisst: das Urteil samt Kopula ist Explikat des Faktums, dass das Selbstwissen des Denkens synthetisch ist. Es kennzeichnet das Denken als Anspruch, ins Andere einzudringen und den Widerstand zu verdrängen, der nicht verdrängt werden kann, weil wir ohne ihn keinen Gedanken denken könnten. Das Problem, worauf die kritische Formulierung des Denkens «S ist P» uns aufmerksam macht, ist somit nicht nur das Problem der Legitimation, sondern mit ihm vor allem die Frage nach dem Selbstbewusstsein. Die Schwierigkeit wird nun sein, beides zusammen zu denken: Das Selbstbewusstsein als eine Einheit zu verstehen, die nur als geteilte einheitlich, also: synthetisch ist. Diese Ambivalenz bringt der kantische Begriff vom Ich zum Ausdruck. 75 §7 Funktion und Synthesis <?page no="77"?> 1 Dazu: Dieter Henrich, Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion, Würzburg 1988, S. 62. §8 Apperzeption Wie wir gesehen haben, geht es in der radikalen Kritik nach Kant nicht um die äussere Beschreibung von Gegenständen, sondern um ihr Scheinen: Gegenstand von Kritik ist die subjektive Bezugnahme auf sie (§2), wobei die Struktur des Scheinens die Trennungsbeziehung oder Ur=Theilung ist (§3) und deren logi‐ sches Korrelat Kopula (§5) heisst. Dies bringt das Urteil «S ist P» zum Ausdruck (§4), weil die Kopula das urteilende Subjekt vom beurteilten Objekt trennt und damit in die Trennung wiederum die Verbindung der Bestimmung des Objekts als Urteilssubjekt legt. Diese Trennungsverbindung artikuliert im Herzen des Urteils, im Auge beider Achsen - der vertikalen Subjekt-Objekt-Achse und der horizontalen S-ist-P-Achse - die Kopula. Somit erhält die Kopula eine inhalts‐ konstitutive Form kritischen Denkens: Sie ist wie ein Nadelöhr, durch das alle Gegenstände der Kritik gesponnen werden müssen, um mit dem Subjekt in Beziehung treten zu können. Und der rote Faden, an dem alles durch das Nadelöhr zum urteilenden Subjekt geführt wird, ist: die Apperzeption. Apperzeption ist das Kontinuum zwischen Ich und Welt. Als Kontinuum garantiert die Apperzeption zum Beispiel, dass dasselbe Urteilssubjekt durch verschiedene Prädikate bestimmt werden kann; aber auch, dass wir nicht die Gedanken eines anderen haben; sie ermöglicht weiter, dass wir verschiedene Gedanken zueinander in Beziehung setzen; und sie bedingt, dass wir Gedanken haben können, deren Gehalt aktuell nicht vorliegt. Kurz: alle Einheit, alles Zusammengesetzte, alle Gemeinschaft und alle Harmonie gründen auf diesem einen Gedanken - dem Gedanken der Apperzeption. Die Apperzeption ermög‐ licht all dies, indem sie niemals einen anderen Inhalt als sich selbst vorstellt. Sie ist dieselbe in jeder Wahrnehmung, jeder Regung, jedem Gedanken. Aber was ist der Inhalt dieses Gedankens, der immer derselbe bleibt? Der immer gleichbleibende Gedanke ist derjenige Gedanke, der sich selbst gleichbleibt. 1 Sein Inhalt ist deshalb dies: dass ich denke. Denn allen Gedanken ist dieses gemeinsam: dass sie gedacht werden können. (§1) Und das heisst, dass sie von einem Subjekt gedacht werden können. Apperzeption ist also der Gedanke, dass ich denke. Anders gesagt müssen alle Gedanken das Eigentum einer Denkerin sein können, um Gedanken zu sein. Könnte ein Gedanke nicht gedacht werden, wäre <?page no="78"?> 2 Vgl. Kant, KrV, B132ff. 3 Konrad Cramer, «Gegeben» und «Gemacht». Vorüberlegungen zur Funktion des Be‐ griffs «Handlung» in Kants Theorie der Erkenntnis von Objekten, Frankfurt am Main 1986, S. 41. 4 Kant, KrV, B132. 5 Ibidem. 6 Dazu: Hindrichs, Negatives Selbstbewusstsein, op. cit . , S. 37-54. er kein Gedanke, und um ihn denken zu können, muss er von seiner Denkerin als deren eigener Gedanke bewusst gemacht werden können. Er muss also von dem Gedanken «Ich denke, dass…» begleitet werden können - andernfalls würde er nicht gedacht. 2 Konrad Cramer beschreibt dieses Kernstück der kantischen Philosophie wie folgt: «Ein Wesen, welches die Fähigkeit besitzt, Verschiedenes vorzustellen, kann sich verschiedene Vorstellungen nur dann als seine eigenen Vorstellungen zuschreiben, wenn es sich der numerischen Identität seiner selbst mit Bezug auf solche Vorstel‐ lungen bewusst sein kann. Seiner numerischen Identität mit Bezug auf eine Pluralität von Vorstellungen kann sich ein solches Wesen aber nur dann bewusst sein, wenn es zumindest einige Vorstellungen als Vorstellungen von Entitäten auffasst, die unabhängig davon Bestand haben, dass Vorstellungen von ihnen vorliegen, und in dieser Auffassung auch gerechtfertigt ist.» 3 Die Möglichkeit, sich Gedanken selbst zuzuschreiben ist also eng mit der Mög‐ lichkeit des Objektbezugs verbunden. Das wird bereits im Begriff der Apper‐ zeption deutlich: Apperzeption ist ihrem eigentlichen Wortsinn gemäss nichts Eigenständiges, sondern nur zu Perzeptionen hinzukommend, ad-perzeptiv. Sie schafft deshalb keine Gedanken, sondern begleitet sie, damit nichts «in mir vorgestellt [wird], was gar nicht gedacht werden könnte.» 4 Würde nämlich ein Urteil nicht vom kontinuierlichen Ichgedanken der Apperzeption begleitet werden können, wäre es «entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts.» 5 Das heisst nicht, dass ein Urteil ohne Ichgedanken unmöglich ist. Die Möglichkeit etwas zu denken, zum Beispiel gedanklich bei der Sonne, ohne sofort auch bei sich zu sein, ist durchaus mitgegeben. Aber es ist Kant zufolge unmöglich, dass ein Urteil nicht zumindest der Möglichkeit nach vom Ichgedanken begleitet werden kann. Denn ein Urteil, dessen ich mir nicht bewusst werden könnte, wäre ein Urteil über Nichts. Das aber ist unmöglich, weil Urteile Bestimmungsverhältnisse sind. (§4) Und ein Urteil über Nichts wäre eine Bestimmung, folglich Etwas und nicht Nichts. Deshalb gilt: Etwas zu beurteilen impliziert denken zu können, dass ich dies urteile. 6 Das hat Folgen. 78 §8 Apperzeption <?page no="79"?> 7 Dazu: Longuenesse, Hegel’s Critique of Metaphysics, op. cit., S. 188ff. 8 Diese Terminologie ist nicht zu verwechseln mit den analytischen und synthetischen Urteilen: Während «analytisch» dort das Enthaltensein des Prädikats im Satzsubjekt bedeutet, geht es bei der analytischen Einheit der Apperzeption nicht um Prädika‐ tion. «Analytisch» meint hier das durchgängige Enthaltensein desselben Ich in allen Perzeptionen, und dass sich das Ich dessen bewusst ist, macht die Analytizität aus. (Dazu: Rainer Schäfer, Ich-Welten. Erkenntnis, Urteil und Identität aus der egologischen Differenz von Leibniz bis Davidson, München 2012, S. 54). 9 Vgl. Ibidem, S. 51. Weil die Apperzeption einerseits nichts Selbständiges ist, aber andererseits alle Urteile über Selbständiges bzw. Objektivität möglich macht, wohnt ihr die Eigentümlichkeit inne, sowohl Bedingung wie auch Bedingtes zu sein: Sie ist, erstens, Bedingung dafür, sich der Welt bewusst werden zu können. Denn sie ermöglicht Einheit im Wechsel aller Wahrnehmungen und Gedanken, indem sie einzelne aufeinander folgende Perzeptionen - zum Beispiel Wärme, Rundsein, Hellsein - auf einer gemeinsamen Grundlage nebeneinanderstellt und zum Gegenstand - zum Beispiel der Sonne - zusammenfügt. Apperzeption ist aber, zweitens, auch bedingt, denn sie kommt zu den Perzeptionen nur hinzu; ist also davon abhängig, dass bereits Perzeptionen vorliegen. Würde dagegen jede Perzeption mit dem Ichgedanken allein schon hergestellt werden, dann kreierten wir die Welt nach unserem eigenen Mass. 7 Es wäre dann unmöglich, etwas Falsches zu urteilen. Kant löst dieses Problem anhand einer Unterscheidung zwischen einer analytischen Einheit der Apperzeption und einer synthetischen: 8 Während die analytische Einheit derjenige Gedanke ist, welcher aus den Urteilen als deren Kontinuum oder Identität als der nur sich selbst gleiche Gedanke gewonnen wird, ist die synthetische Einheit die jenem Urteilen jederzeit vorausgesetzte, leistende Einheit, welche alle Gedanken - auch den Ichgedanken, das heisst: sich selbst! - möglich macht. Die analytische Einheit der Apperzeption setzt die synthetische voraus, weil zuerst die Verknüpfung vollzogen werden muss, als deren Grundlage sich das urteilende Subjekt dann reflexiv (analytisch) erfassen kann. Oder anders: Erst, wenn eine Verknüpfung hergestellt wird, kann das Subjekt ihrer gewahr werden. 9 Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, dass zuerst eine ursprüngliche Einheit vorliegt, welche dann in einem zweiten Schritt alle anderen Verknüpfungen bewirkt. Denn alle Einheit, auch die ursprünglich synthetische, kommt erst durch Verknüpfung zustande. Sie kann deshalb nicht in einem transzendenten Jenseits liegen, das dem Mannigfaltigen äusserlich wäre. Aus demselben Grund bedarf die vorausgesetzte, synthetische Einheit der Apperzeption ebenso der gegebenen, analytischen Einheit, wie diese jene vor‐ aussetzt. Die synthetische Einheit der Apperzeption ist nur deshalb überhaupt 79 §8 Apperzeption <?page no="80"?> 10 Kant, KrV, B133, meine Hervorhebung. 11 Vgl. Gernot Böhme, Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kantischen Er‐ kenntnis- und Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main 1986, S. 48f. 12 Vgl. Kant, KrV, B136-139. 13 Ibidem, A77/ B102f. 14 Ibidem, A78f./ B105f. Bedingung von Einheit, weil sie erst mit Bezug auf Perzeptionen gesetzt ist - ihnen also im eigentlichen Sinne voraus-gesetzt wird. Oder mit Kants Worten: «Also nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle.» 10 Demzufolge können Vorstellungen nicht allein deshalb in einem Bewusstsein verbunden werden, weil sie einem Bewusstsein angehören (meine sind), son‐ dern ebenso können sie einem Bewusstsein nur angehören (meine sein), inso‐ fern sie in einem Bewusstsein verbunden werden. 11 So liegt in der Tätigkeit dieses Verbindens der Doppelcharakter der Apperzeption, Bedingung und Bedingtheit zugleich, Gegebenes und Aufgegebenes. Selbstbewusstsein ist Tä‐ tigkeit oder ein Gegebenes, das vollzogen werden muss.  12 Es ist gleichzeitig Prinzip einer Handlung und selber Handlung, nämlich diejenige, wodurch ein Unverbundenes «auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und ver‐ bunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen.» 13 Die daraus entsprin‐ gende Erkenntnis kann noch so «roh und verworren» sein: die synthetische Handlung allein macht, dass die Elemente zu Urteilen versammelt und zu einem bestimmbaren Inhalt vereinigt werden können. Die synthetische Handlung der Apperzeption «ist also», nach Kant, «das erste, worauf wir Acht zu geben haben, wenn wir den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.» 14 Als Kontinuum, als roter Faden zwischen Ich und Welt ist Apperzeption Urbe‐ dingung des Urteilens überhaupt, Prinzip der Synthesis und selber synthetisch. Aber was ist ein Urteil? Ein Urteil zu fällen bedeutet, einen Wahrheitsanspruch zu erheben, wodurch ein Objekt auf seinen Begriff gebracht werden soll. Dabei ist das Objekt etwas Anderes als der Begriff. Objektiv ist, was an sich nicht begrifflich ist, sondern erst dadurch begriffen wird, dass etwas über es ausgesagt wird. Etwa so, wie es der Sonne egal ist, ob sie begriffen wird. Sie ist, was sie ist, weil sie nicht ihr Begriff ist. Nichtsdestoweniger will das Urteil sagen, wie es ist. Diesen Anspruch, dass es so ist, wie gedacht, spricht die Kopula aus. Urteilen heisst ist-Sagen. Unter dem Credo des Wahrseins verknüpft die Kopula Subjekt und Prädikat auf der horizontalen, Gedanken mit Gedachtem auf der vertikalen Achse. (§6) Sie markiert also jenen Synthesischarakter auf Urteilsebene, den 80 §8 Apperzeption <?page no="81"?> 15 Vgl. Wagner, Philosophie und Reflexion, op. cit., S. 50ff. 16 Kant, KrV, B141f; Zahlen in eckigen Klammern wurden von mir hinzugefügt . die Apperzeption begründet, indem sie keine andere Funktion als ebendiese Zusammenstellung des Verschiedenen hat. 15 Nun kann die Apperzeption die mit der Kopula geforderte Synthesis von Ich und Welt via Subjekt und Prädikat zwar ermöglichen, aber allein nicht leisten. Sie ist auf den Weltbezug von Perzeptionen angewiesen. Dieser beruht wiederum auf dem Kontinuum der Apperzeption. Denn, soll Welt Erkenntnis werden können, so muss sie mit den Formen des Urteils kompatibel sein. Sie muss, um das Bild noch einmal aufzugreifen, am roten Faden der Apperzeption durch das Nadelöhr der Kopula geführt werden. Diese Kompatibilität von Denken und Welt garantiert die Apperzeption, indem sie auf der vertikalen Subjekt-Objekt-Ebene ist, was das Urteil intern strukturiert: Trennungsbezie‐ hung, Beziehung zu sich als Rückkehr aus dem und ins Sein. Dadurch umfasst Apperzeption ebenso die Möglichkeit des Selbstwie des Weltbezugs. Und die im Urteil artikulierte Trennungsbeziehung «S ist P» ist nichts anderes als die Selbstdiversifizierung der Apperzeption - da diese die Aktuosität der Trennungsbeziehung im Urteil ist. Kant schreibt: «Darauf zielt das Verhältniswörtchen ist in denselben [Urteilen, J.W.], um die objek‐ tive Einheit gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden. Denn dieses [gemeint ist: das Wörtchen ‹ist›, J.W.] bezeichnet [1.] die Beziehung derselben [objektiven Einheit] auf die ursprüngliche Apperzeption und die notwendige Einheit derselben, wenn gleich das Urteil selbst empirisch, mithin zufällig ist […]. Damit ich zwar […] sagen will, [2.] diese Vorstellungen gehören […] vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen zu einander, d. i. nach Prinzipien der objektiven Bestimmung aller Vorstellungen, so fern daraus Erkenntnis werden kann, welche Prinzipien alle aus dem Grundsatze der transzendentalen Einheit der Apperzeption abgeleitet sind. Dadurch allein [3.] wird aus diesem Verhältnisse ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist.» 16 In Einklang mit Kant kommen der Urteilskopula, dem Wörtchen «ist» also mehrere zentrale Aufgaben zu, die mit der Apperzeption verhakt sind: 1. Die Kopula nennt den Verstandesakt, wodurch einzelne Weltausschnitte zur Einheit der ursprünglichen Apperzeption gebracht werden, sodass die Welt überhaupt denkbar (weil bewusst) werden kann. 2. Das Wörtchen «ist» ist eine Verbindung, welche einzelne Weltausschnitte als zum Begriff des Objekts zugehörige setzt. So, wie ich der Sonne verschiedene Wahrnehmungen und Prädikate beilegen kann, zum Beispiel, dass sie rund ist, dass sie sich mit 220 81 §8 Apperzeption <?page no="82"?> 17 Siehe dazu: Hwang, Das Identitätsbewusstsein und die Urteilskopula in Kants Deduktion der Kategorien von 1787, op. cit., S. 319. km/ s bewegt etc. 3. Sie setzt das Objekt der Betrachtung (zum Beispiel die Sonne) im Urteilssubjekt durch das Prädikat (zum Beispiel Rundsein) als bestimmt (zum Beispiel in dem Urteil «Die Sonne ist rund»). Als (1) Bewusstseins-, (2) Vermitt‐ lungs-, und (3) Bestimmungsakt stellt die Kopula die Korrelation zwischen der Beschaffenheit des Objekts und seinem Begriff gemäss der synthetischen Einheit der Apperzeption dar. Folglich kommt die Einheit der Apperzeption mit demselben Akt, wie die Kopula das Objekt prädikativ bestimmt, zur objektiven Geltung. 17 Und das bedeutet: Die Apperzeption enthält die Möglichkeit des Objektbewusstseins via Kopula, und die Möglichkeit des Selbstbewusstseins, das die Rückkehr zu sich aus dem Objektbewusstsein ist. In der Engführung der Urteilsstruktur (Kopula) mit der Apperzeption liegen zwei Dinge beschlossen. Erstens: Die genuine Doppelbödigkeit der Apperzeption gibt den fehlenden Grund für die Deduktion der kritischen Begriffe oder Kategorien. (vgl. §3) Zweitens: Die Apperzeption als Bedingung der Möglichkeit gelingenden Urteilens ist nicht nur Möglichkeit, sondern auch Grenze des Erkennbaren. Das hat epistemologische Konsequenzen. Zu Erstens. Wir haben gesehen, dass in der Apperzeption die Möglichkeit des Bewusstseins seiner selbst und die Möglichkeit des Weltbewusstseins ineinandergreifen. Die Rolle, die das Selbstbewusstsein jetzt einnimmt, geht damit über die bisherigen Formulierungen hinaus: Das «Ich denke» ist nicht mehr nur Ausdruck der Ur=Theilung, dass der Gedanke gedacht wird. (§4) Sondern mit der Apperzeption kommt wieder das Was, die Inhaltlichkeit des Denkens ins Blickfeld: Das Was wird mit dem Dass innerlich verknüpft, sodass die Einheit der Apperzeption zwar allem Bewusstseinsinhalt vorauszusetzen ist, dabei aber auf das Gegebensein von Perzeptionen angewiesen bleibt, zu denen sie reflexiv (analytisch) hinzukommen kann. Um das zu verstehen, müssen wir in der Argumentation einige Schritte zurückgehen und einen Faden wiederauf‐ nehmen, der im dritten Kapitel liegengeblieben ist: das Kategorienproblem. Dort hielten wir fest: Selbstkritik ist ein Denken, das eine vorgefundene Welt nicht bloss dokumentieren will. Sie erhebt vielmehr Objektivitätsan‐ sprüche, deren Kriterien gleichwohl relativ zum denkenden Subjekt in Betracht gezogen werden. Anders gesagt: Selbstkritisches Denken macht die Gegen‐ stände durch deren subjektive Bestimmung in Urteilen zu erkennbaren und wiedererkennbaren Objekten. Das Bestimmungsverhältnis des Urteils macht die Form dieses Denkens aus. Die Form lautet: «S ist P». Nun stellt aber die Form dieses Urteils allein noch keinen Weltbezug her. Die Welt wird 82 §8 Apperzeption <?page no="83"?> 18 Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 131; verweisend auf: Kant, KrV, A79f./ B105f. 19 Kant, KrV, B145. schliesslich nicht nach dem Mass des Denkens gemacht, sondern sie ist Zielpunkt unserer Objektivitätsansprüche. Und diese richten sich auf Nicht‐ urteile oder Gegenstände. Aus diesem Grund benötigen wir Regeln, denen gemäss sich die Form des Urteils an Gegenständen vollziehen kann. Das sind Regeln, die nicht einzelne Gegenstände nennen, sondern die Differenz zum Subjekt bzw. die Regeln der subjektiven Bezugnahme auf sie organisieren. Solche Regeln nannten wir traditionell die Kategorien. (§3) Weil nun die Synthesis, die sich - unter der Herrschaft der Kategorien - am Gegenstand vollzieht, in Urteilsformen vonstatten geht, so können die Kategorien aus einer Analyse der Form des Urteils gewonnen werden: «Wenn man die logische Form in ihre verschiedenen Aspekte analysiert, dann gewinnt man die Explikate der Synthesis des Urteils. Die durch sie artikulierte logische Funktion des Denkens kann entsprechend als Grundbedingung der Synthesis von Gegenständen begriffen werden.» 18 Soweit hatten wir im zweiten Kapitel gesehen: Das Denken selbst muss die Formen geben, hinsichtlich derer sich das Denken als Gegenstandsbestimmung begreift. Um aber zu zeigen, dass die Gegenstandsbestimmung im Urteil legitim ist, fehlte ein Nachweis, dass bestimmte Regeln die Gegenstände gemäss den Formen des Urteilens bereithalten; ein Nachweis also, dass die Ordnung der Welt mit der Ordnung des Urteils übereinstimmt. Das Problem, wie wir es zuvor mit Hamann herausgestellt hatten, war dabei dies: Die Kategorien müssten, sollen sie es legitimieren, im Urteil begründet liegen. Zugleich aber können sie keine Gegenstände des Urteils sein, weil sie dessen Gegenstandsbezug erst ermöglichen sollen. Ein Argument für die Kategorien muss daher auf einer Grundlage beruhen, die das Denken begleitet ohne (nur) Gegenstand des Denkens zu sein, - was bislang ungeklärt blieb, aber mit der Rückführung der Urteilsform auf die Einheit der Apperzeption jetzt erhellt werden kann: Die im Urteil ausgesagte Prädikation eines Objekts durch einen Begriff erfolgt nach Regeln der Verbindung (den Kategorien), kraft derer das Objekt zur Einheit des Bewusstseins gebracht wird. Die Kategorien sind also «nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen […] zur Einheit der Apperzeption zu bringen.» 19 83 §8 Apperzeption <?page no="84"?> 20 Vgl. Kulenkampff, Antinomie und Dialektik, op. cit., S. 40. 21 Vgl. Cramer, «Gegeben» und «Gemacht», op. cit.; siehe in diesem Buch §13. Dadurch, dass im Denken auf Nichtgedanken Bezug genommen wird, welche zur im Urteil ausgesagten Einheit erst noch gemacht werden müssen, rechtfer‐ tigt sich die Identität des Denkens mit sich selbst als Bedingung der Möglichkeit jeder bewussten Einheitsstiftung. Das sind nicht zwei verschiedene Vorgänge. Sondern mit demselben Akt, mit dem ein Unverbundenes zum Objekt verbunden wird, gelangt die Apperzeption zur objektiven Geltung. Sie macht sich damit zur unhintergehbaren Grundlage für den Vollzug radikaler Selbstkritik: für die Begründung der Kategorien des Denkens aus dem Denken. Zu Zweitens. Mit der Engführung von Urteilsstruktur und Apperzeption tritt deutlich als Resultat hervor, dass es in der Kritik nicht nur um das Urteil mit Weltbezug oder um das Urteil anderer geht. Das kritische Subjekt spricht vielmehr aus und zu einem Ich: aus dem Munde einer sich selbst verurteilenden Richterin. Sie urteilt nicht nur über die Welt, sondern immer auch über sich selbst als über die Welt urteilende. Die Grundform aller Urteile ist «S ist P». Darin markiert die Urteilskopula nicht nur die Verbindung von Subjekt und Prädikat, sondern sie ist auch Index der Nicht-Absolutheit dieses Urteils. Das Urteil selbst, so wie es faktisch besteht und von dem Anspruch seiner Gültigkeit begleitet wird, hat daher Scheincharakter: in absentia und nur als genuin ausserthematisches Moment hält es die geforderte Legitimation als eine Legitimation präsent, die im Urteil nicht geleistet werden kann, sondern auf eine transzendentale Voraussetzung verweist. 20 Das ist, wie die obigen Überlegungen gezeigt haben, die transzendentale Einheit der Apperzeption. Mit der Formulierung der Apperzeption wird der Schein der Kopula - welcher darin besteht, Selbständigkeit (des Wahrseins) zu behaupten, wo eigentlich ein Abhängigkeitsverhältnis herrscht - reflektiert. Was die Kopula verbindet, erweist sich dadurch als Gemachtes, weil es auf der Apperzeption als einer Tätigkeit des Subjekts gründet. 21 Epistemologisch hat dies schwerwiegende Folgen. Denn mit dem Nachweis, dass das Selbstbewusstsein des Denkens massgeblich am Gegenstandsbezug beteiligt ist, eröffnet sich ein Horizont, in dem die Welt auch anders sein könnte, als wir sie denken. In dem, was folgt (insbes. §11), werden wir noch sehen, dass dieser Horizont des Zweifelns das denkende, sich im Urteilen verurteilende Subjekt in ein Schwanken versetzt, das nicht zu beruhigen ist: Die Kritik des Urteils, also die Herleitung der Urteilsform aus dem Denken, setzt das Bewusstsein frei, dass die Kategorien des Denkens nicht zum festen Rahmen verhärtet werden können. Kritik verlangt vielmehr einen flexiblen 84 §8 Apperzeption <?page no="85"?> 22 Vgl. Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit., S. 121, verweisend auf: Rüdiger Bubner, Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt am Main 1973/ 4, S. 170ff. 23 Vgl. Kant, KrV, B132: Hier wird das Selbstbewusstsein dem Subjekt zugesprochen, das den Gedanken «Ich denke» ursprünglich hervorbringt. Das in dem Gedanken «Ich denke» zum Ausdruck kommende Selbstbewusstsein bedarf keines anderen Gedan‐ kens als seiner selbst - es wird, sozusagen, «von sich selber begleitet», wenn ein ur‐ sprüngliches Bewusstsein seines Hervorgebrachtseins möglich sein soll. (Cramer, «Ge‐ geben» und «Gemacht», op. cit. Anm. 22, S. 61 und Anm. 29, S. 70). Kategorienrahmen, weil die Festlegung eines Kategorienrahmens selbst eine Operation begrifflicher Transformation ist. 22 Dieses Resultat ist richtungsweisend. Die systematische Beweglichkeit des ei‐ gentlichen Gehalts radikaler Kritik, der Kategorien des Denkens, ist Epizentrum seiner Impulsivität. Hier liegt der Impuls für die Entfesselung des Bekannten und die Bereitschaft zur Hingabe an die Sache, ohne sich aber in ihr aufgeben zu können. Alle nun folgenden Überlegungen sind im Grunde Artikulationen hieraus folgender Konsequenzen. Trotz der Erschütterung des Kategorienrahmens bedeutet dessen systemati‐ sche Offenheit weder Hegels Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, noch die Kapitulation vor der Einsicht in die Unabschliessbarkeit kritischen Denkens. Denn mit Kants Begriff der transzendentalen Apperzeption haben wir einen sicheren Grund für selbstkritisches Denken gewonnen: Sie ist Einheit, die kein Sachverhalt, sondern nur als geteilte einheitlich, und deshalb synthetisch ist. Damit artikuliert die Apperzeption, was in Hölderlins Ausdruck «Ich bin Ich» noch im Verborgenen lag: In Kapitel 4 hatte ich argumentiert, dass der sich selbst denkende Gedanke «Ich» dem Ich aus der Ichperspektive äusserlich bleibe. Selbst, wenn mit dem Ausdruck «Ich» in «Ich bin Ich» zweimal dasselbe mit sich identische Ich als Ich-Subjekt und Ich-Objekt gemeint sei, so könne es von sich als Ich-Subjekt immer nur eine leere Vorstellung haben. Sobald es gedanklich auf sich Bezug nehme, werde es zum Ich-Objekt. In diesem Sinne sei der Gedanke vom Ich ursprünglich, weil eine Aufklärung seines genealogischen Zustandekommens nicht möglich sei; er sei Ur=Theilung, nie zur Identität mit sich kommende Einheit. Jetzt haben wir mit Kant gesehen, dass diese Ur=Theilung - zumindest seiner Möglichkeit nach - in jedem Gedanken mitgegeben ist. 23 Der im Ichgedanken formulierte Abstand eines Gedankens zu sich und seinem Anfangen ist damit auch ursprünglich in dem Sinne, dass er vom Denken nicht abstrahiert werden kann: Der Ichgedanke ist Bedingung der Möglichkeit kritischen Denkens. Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, ein Denken, das sich nur als von sich abgetrennten Gedanken denken kann, verfehle sich konstant. Man könnte es für einen Mangel oder eine Ungenauigkeit halten, dass sich kein Gedanke 85 §8 Apperzeption <?page no="86"?> 24 Vgl. Günter Figal, Verstehensfragen. Studien zur phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie, Tübingen 2009, S. 218. 25 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I/ 1, op. cit., S. 21 und in diesem Buch §3. als identischen denken kann. Aber hierin, so möchte ich argumentieren, liegt nicht nur Mangel, sondern unmessbarer Reichtum: Erst kraft der Differenz des Denkens zu sich selbst drängt es über sich hinaus um das zu suchen, was nicht schon in ihm enthalten ist. Diese Suche ermöglich es, durch Inhalte bereichert zu werden, die unerwartet und neuartig sind, da sie als Nichtgedanken (noch) nicht gedacht wurden. Nicht Sinnbestimmtheit, sondern Offenheit ist dem Denken ursprünglich, weil der Selbstbezug erst zustande kommt, wenn das Denken auf Gegenstände Bezug nimmt, die an sich nicht schon Gedanken sind. 24 Die Ur‐ sprünglichkeit dieser Offenheit fürs andersgeartete Neue bringt der Begriff der Apperzeption zum Ausdruck. Denn er besagt, dass Gedanken vom denkenden Subjekt nur dann als dessen eigene Gedanken erkannt werden können, wenn das Gedachte nicht im Subjekt beschlossen liegt, sondern ad-perzeptiv hinzukommt. Damit entspricht die Apperzeption der am Ende des voranstehenden Kapitels formulierten Forderung, zwei Momente - angezeigt durch die Subjekt- und Prädikatstelle - zusammen zu denken, wenn sie sich a priori wechselseitig ausschliessen, also wenn das Eine darin besteht nicht das Andere zu sein. Der eine Gedanke, dessen Inhalt «Ich denke» heisst und damit sich selbst ebenso wie das ihm Fremde bedingt, ist Apperzeption. Und weil diese Bedingung des Denkens selber Gedanke ist, bildet sie keine jenseitige Voraussetzung, die uns einen Sprung ins Undenkbare abverlangte - wenngleich sie das Denken gegen das Denken bzw. auf Nichtgedanken richtet. Aber die Doppelbestimmung der Apperzeption, Bedingung und Bedingtes zu sein, rettet das Denken vor der Irrationalität und motiviert es zur weiteren Fragebewegung, indem sie es als ausser sich gesetztes, ent-setztes Denken kennzeichnet: als Denken in der Krise (§2). Bisher habe ich den Weltbezug des Denkens aus dessen Krisenhaftigkeit zu begründen versucht und die Kategorien als Formen dieses Denkens und deren «wahrhafte Materie» betrachtet. 25 Insofern aber die Kategorien aus den Formen zu denken gewonnen werden, betreffen sie die Gegenstände erst in Hinblick auf die Urteilsform. - Doch das würde bedeuten, dass es nur eine Handvoll Gegenstände geben könnte; jene nämlich, die sich aus den Kombina‐ tionsmöglichkeiten der Urteilsformel «S ist P» ergeben würden. Das wird dem Urteilsvorgang freilich nicht gerecht: Es gibt unendlich viele Gegenstände, die wir beurteilen, und an denen wir Neues entdecken können, was zuvor noch unbedacht war. Zum Beispiel betrifft der Begriff «Blume» nicht nur eine einzige, sondern unendlich verschiedene Blumen. Und an dem Begriff «Blume» lassen 86 §8 Apperzeption <?page no="87"?> sich nicht die Besonderheiten und Eigenheiten aller Blumen ablesen. Dasselbe gilt nun für die Kategorien: Die Kategorien sind allgemeine Formen, Begriffe, hinsichtlich derer ein Gegenstand beurteilt werden kann. Aber die Mannigfal‐ tigkeit der unter sie fallenden Gegenstände lässt sich nicht ohne Weiteres aus ihrer Allgemeinheit erklären. Dafür bedarf es eines weiteren Vermögens neben dem reinen Denken. Ein Vermögen, kraft dessen das Einzelne in seiner Einzelheit vorgestellt werden kann. Dieses Vermögen ist die Sinnlichkeit. 87 §8 Apperzeption <?page no="89"?> 1 Zur Grenzbestimmung des Denkens (im Unterschied zur Einschränkung), siehe in diesem Buch §18. §9 Erscheinung Die kritische Reflexion unterscheidet sich dadurch von der unkritischen, Sach‐ verhalte nicht anhand eines individuellen oder bloss assoziativen Massstabs zu bewerten. Vielmehr bezieht die kritische Reflexion das urteilende Subjekt mit ein, sodass der Massstab der Kritik in die Kritik fällt. Das war der Schritt von der Standpunktkritik zur Selbstkritik (§§2-3), wodurch eine Reflexion auf die Möglichkeit von Kritik stattfand. Resultat: Erst als Selbstkritik sind Urteile mit einem allgemeinen Anspruch, d. i. mit Objektivitätsanspruch möglich. Im Modus der Selbstkritik hat sich die Bezugnahme der kritisierenden Instanz auf das kritisierte Objekt als Trennungsbeziehung bzw. Ur=Theilung entfaltet (§4), deren logische Artikulation das Urteil «S ist P» ist (§§5-7). Damit aber ein solches Urteil wiederum legitim ist, haben wir einen gemeinsamen Grundsatz beider Urteilsmomente voraussetzen müssen, aufgrund dessen die Möglichkeit des Gelingens angenommen werden darf. Dieser heisst Apperzeption (§8), und Apperzeption will sagen: Bedingung aller Urteile, mithin aller Kritik. Dies aber nicht etwa als Zustand eines persönlichen Bewusstseins, sondern als subjektlogischer Gesichtspunkt, der es ermöglicht, Bezug auf Nichtsubjektives zu nehmen. Daraus hat sich am Ende von Kapitel 8 die epistemologisch folgenschwere These ergeben, dass die Welt des Objektiven auf die Arbeit des urteilenden Subjekts angewiesen bleibt. Das heisst in anderen Worten: Wir können nur das von der Welt erkennen und beurteilen, was unter der Bedingung der Apperzeption steht, also das, was wir uns von der Welt bewusst machen können. Apperzeption bildet somit die Grenze dessen, was auf uns Einfluss haben kann und worauf wir gedanklich Einfluss nehmen können. 1 So teilt sie das Bewusste vom Unbewussten: Die unbewusste Seite der Grenze liegt im Dunkel. Sie kann nicht weiter charakterisiert werden, weil sie jenseits der Apperzeption, also hinter den Möglichkeiten bewusster Denktätigkeit liegt. Hier liegt die Quelle des Zweifels als Ursprung der Impulsivität fragender Denktätigkeit. (§1) Das wird in Kapitel 9 noch einmal aufgegriffen werden. Jetzt wollen wir uns aber der bewussten Seite der Grenze der Apperzeption zuwenden. Sie betrachtet die Welt als eine Welt, die wir erkennen und vor allem: die wir mit unserem Bewusstsein mitgestalten können. Die Welt kennzeichnet sie als eine <?page no="90"?> 2 Kant, KrV, B41, meine Hervorhebung. solche, der wir nicht einfach ausgeliefert sind - obwohl wir ihr auch passiv gegenüberstehen. Aber die Selbständigkeit der Welt erweist sich von dieser Seite aus betrachtet als Schein. Das heisst, die Welt erscheint nicht nur als selbständige Autorität, sondern auch als Anspruch von Selbständigkeit. Die in Urteilen beanspruchte Selbständigkeit des Beurteilten nennen wir Objektivität. Den beiden Seiten der Apperzeption entsprechend kennt der Begriff des Objekts nun zwei Bedeutungen. Er umfasst einerseits Selbständiges, andererseits Gemachtes. Als Selbständiges muss das Objekt zeigen, wie das Gedachte unabhängig vom Gedachtwerden ist; es muss also dafür garantieren können, dass wir die Welt mit dem Denken nicht erdichten und erfinden. Dagegen eröffnet der Begriff des Objekts als Gemachtes die nicht abzuwendende Möglichkeit, dass das Gedachte auch ganz anders sein könnte. Mit der Betonung des Gemachtseins des Objekts wird obsolet, dass wir die Objekte nicht schon fertig in der Welt finden. Sondern wir können sie erst dann überhaupt beurteilen, wenn sie unserer kritischen Denktätigkeit gemäss geformt werden. Doch widerspricht es nicht der in Urteilen postulierten Selbständigkeit des Gedachten, wenn wir die Objekte des Denkens gedanklich mitgestalten? Falls wir diese Fragen mit «Ja» beantworteten, so würde daraus wiederum die Kapitulation vor der Unmöglichkeit von Kritik folgen. Wir müssten den kritischen Impuls preisgeben, denn er besteht in der Entscheidung über die Rechtmässigkeit der in Urteilen erhobenen Objektivitätsansprüche. Würden diese Ansprüche für sinnlos erklärt, fiele eine Reflexion auf deren Rechtmäs‐ sigkeit weg. Wenn die geforderte Selbständigkeit des Beurteilten aber nicht scheinhaft ist, wie kann die selbständige Welt der Objekte dann dem inneren Bewusstsein einwohnen? Um den kritischen Impuls nicht aufzulösen, verlangt diese Frage nach einer Antwort. Hören wir jetzt diejenige Kants: «Offenbar nicht anders, als so fern sie bloss im Subjekte, als die formale Beschaffenheit desselben von Objekten affiziert zu werden, und dadurch unmittelbare Vorstellung derselben d. i. Anschauung zu bekommen, ihren Sitz hat, also nur als Form des äusseren Sinnes überhaupt.» 2 Dies ist für die folgende Argumentation von grosser Wichtigkeit. Nach Kant gelangt die äussere Welt dadurch ins Bewusstsein, dass das Subjekt von ihr «affiziert» wird - oder in anderen Worten: dass das Subjekt die Dinge als sinnlichen Eindruck («des äusseren Sinnes», s. o.) empfängt. Das ist Aufgabe der Sinnlichkeit: Indem sie uns die Welt sinnlich erfahren lässt, garantiert sie, dass wir die Welt nicht nach der Massgabe unseres Denkens kreieren, sondern 90 §9 Erscheinung <?page no="91"?> 3 Kant, KrV, Anm. BXL. 4 Um Konfusionen mit dem Begriff der «reinen Erfahrung» zu vermeiden, verwende ich im Folgenden lieber «Wahrnehmung», wo Kant die sinnliche Erfahrung meint. ihrer bewusstwerden können, wie sie ist. Dies stellt Kant gleich in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft klar: «Es ist also Erfahrung und nicht Erdichtung, Sinn und nicht Einbildungskraft, welches das Äussere mit meinem inneren Sinn unzertrennlich verknüpft; denn der äussere Sinn ist schon an sich Beziehung der Anschauung auf etwas Wirkliches ausser mir, und die Realität desselben, zum Unterschiede von der Einbildung, beruht nur darauf, dass er mit der inneren Erfahrung selbst, als die Bedingung der Möglichkeit derselben, unzertrennlich verbunden werde, welches hier geschieht.» 3 Aufgabe der Sinnlichkeit ist demnach, die Welt als «Erfahrung» 4 zum Bewusst‐ sein zu bringen, sodass das in Urteilen beanspruchte Sosein erfüllt werden kann. Damit die Welt via Wahrnehmung bewusstwerden kann, müssen deren Bedingungen der Möglichkeit mit den Bedingungen des Bewusstseins, d. i. in Kants Worten: «mit der inneren Erfahrung», übereinstimmen oder «verbunden werde[n]». Es kommt also darauf an, die Daten der sinnlichen Wahrnehmung mit der Form des Bewusstseins abzugleichen. Dabei darf dieser Abgleich weder von der Sinnlichkeit noch vom Bewusstsein dominiert werden. Um nämlich die Garantie dafür geben zu können, dass die Welt wahrgenommen und nicht erdichtet wird, muss die Sinnlichkeit unabhängig vom Denken funktionieren. Würde die Sinnlichkeit vom Denken dominiert, so würde auch sie die Dinge nur wieder nach der Massgabe des Denkens offenbaren. Gleichzeitig aber schreibt Kant im ersten der beiden oben angeführten Zitate, dass Sinnlichkeit ihren Sitz im «blossen Subjekte» habe. Dies ist äusserst bemerkenswert: Offenbar denkt Kant Sinnlichkeit und Affiziertsein nicht primär als Widerfahrnis von der Welt, sondern vom Subjekt her. Gleichzeitig muss Kant augenscheinlich Sinnlichkeit als eigenständiges Vermögen neben dem Urteilen betrachten. Lesen wir das obige Zitat noch etwas genauer, so fällt auf, dass Kant das sinnliche Gegebensein zwar «bloss im Subjekte» denkt, dieses aber dem Subjekt nicht anheimstellt, gleich als ob alles nur Traum wäre. Er schreibt, dass von der Welt nur die «formale Beschaffenheit» des Subjekts überhaupt affiziert. Kant meint also, dass wir nur dasjenige als Objekt aufnehmen können, was nicht nur Beschaffenheit des Objekts, sondern der Form nach zugleich subjektiv ist. Was heisst das? Dem genannten Zitat lässt sich entnehmen, dass die fragliche Form mit dem Affiziertwerden zu tun hat, also mit der Art und Weise, wie sinnliche Erfah‐ rungsdaten «des äusseren Sinnes überhaupt» durch das urteilende Bewusstsein 91 §9 Erscheinung <?page no="92"?> 5 Vgl. Herman Cohen, Kants Theorie der Erfahrung (= Werke 1), Berlin 1918/ 1987, A37/ B145/ C193 ff. 6 Kant, KrV, A723/ B751. 7 Mit der Unterscheidung von Empfindung und Erscheinung differenziert Kant von der logischen Reflexion eine transzendentale (Kant, KrV, A270/ B326): Die logische Reflexion operiert unter Abstraktion ihres jeweils konkreten Objektbezugs. Begriffe logischer Reflexion sind also leer, sofern sie vom Materiellen absehen. Ohne materiellen Gehalt ist die logische Reflexion auf die Wohlgeformtheit der Gedanken und deren Beziehungen untereinander gerichtet. Dagegen bezieht die transzendentale Reflexion die Materialität (nicht die Materie! ) des Denkens mit ein. Das heisst, abstrahiert wird zwar von der konkreten Besonderheit des jeweiligen Inhalts - weshalb Gegenstand radikaler Kritik nicht ein bestimmter Gegenstandsbereich (etwa der Politik, der Natur, o.Ä.) ist, sondern Urteilsfähigkeit als solche. Aber die transzendentale Reflexion ist nicht leer. Sie richtet sich auf die subjektiven Formen der Objektbezogenheit, sprich: darauf, wie aus Empfindung Erscheinung wird. 8 Dieter Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, vorgetragen am 9. November 1974, Heidelberg 1976, S. 18. zu Objekten «der inneren Erfahrung» (s. o.) verarbeitet werden. Die Form der äusseren Sinnlichkeit ist nicht, wie etwa Empfindung, nur materiell. Sie ist nicht Verknüpfung, sondern Verknüpfungsweise des Materiellen, d. i. die formale Bestimmung zerstreuter Sinnesdaten in Erscheinungen. 5 Also trennt Kant von der Erscheinungsform des Sinnlichen deren rohe Materie, das heisst Erscheinung von Empfindung. 6 Während die Empfindung unmittelbar mit dem Gegebensein der Welt zusammenfällt, geben Erscheinungen synthetisierte Gegenstände zur Hand, die in Urteilen prädikativ bestimmt werden können. Es ist dieser Übergang von der rohen Empfindung zur synthetisierten Erschei‐ nung, von dem die Legitimation der in Urteilen erhobenen Geltungsansprüche abhängt. 7 Denn damit eine solche Legitimation möglich ist, muss die zweiseitige Objektkonstitution in beiden Hinsichten Rechenschaft ablegen können: Sie muss einerseits zeigen, dass das Beurteilte mit Formen des Denkens kompatibel ist, und andererseits, dass das Beurteilte nicht frei erfunden wurde, sondern mit dem Beurteilten auch in seiner Einzelheit tatsächlich übereinstimmt. Ersteres ist Aufgabe des Denkens, letzteres der Sinnlichkeit. Beides, Denken und Sinn‐ lichkeit, müssen also ineinander verwoben sein, um Objektivität zu gewähren. Dieses Gewebe gestaltet sich wie folgt. In der Phase ungeordneter, sinnlicher Empfindung allein ist kein objektives Urteil möglich, weil die Sinneseindrücke mannigfaltig, d. h. an sich unge‐ ordnet durcheinandergemischt sind. Eine Konstitution zum Objekt erfordert über das blosse Aufnehmen von Eindrücken hinaus «Konstanzbedingungen» 8 , welche sichern, dass das chaotisch Wahrgenommene erkannt und vor allem wieder-erkannt werden kann. Die Wiedererkennbarkeit oder Konstanz des 92 §9 Erscheinung <?page no="93"?> 9 Ibidem, S. 42f. Wahrgenommenen ist eine andere Formulierung für dessen Selbständigkeit: Sie besagt, dass das Gedachte unabhängig vom aktuellen Gedachtwerden besteht. Wäre die Gegenstandskonstitution nicht konstant, würde mit jedem Urteil eine neue Objektivität entworfen, was den Begriff des Objekts unterlaufen würde. Subjektiv sind diese Konstanzbedingungen, da sie unserem Denken und nicht der Welt das Gesetz vorschreiben. Nun vollzieht sich unser Denken im kritischen Rahmen, wie wir gesehen haben, in der Form von Urteilen. Entsprechend werden die Konstanzbedingungen der Objektkonstitution aus den Formen zu urteilen gewonnen. (vgl. §8) Dieter Henrich fasst dies wie folgt zusammen: «Erkenntnis kann gar nicht dadurch zustandekommen, dass in Urteilen festgestellt wird, welche Einzelnen in welchen Verhältnissen wirklich bestehen, und zwar auf‐ grund einer Vertrautheit oder direkten Begegnung mit dieser Wirklichkeit, wie immer sie auch interpretiert werden mag. Das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen muss im direkten Bezug auf die Möglichkeit des Urteils in Verbindungen gebracht werden, die den Gedanken von solchen Einzelnen ergeben, welche der Dimension des Gegebenen grundsätzlich gar nicht zugehören können. Gegebenheiten (Kant sagt Erscheinungen) als solche sind gar keine Objekte, sie bezeichnen sie nur (B235). Was sie bezeichnen, ist seinerseits nichts als der Gedanke von einem möglichen Gegen‐ stand des Urteils. Sofern wir aber urteilen, sind wir unmittelbar auf Objekte bezogen. Die Konstitutionsbedingungen der Objekte sind also einerseits von den formalen Bedingungen des Urteilens zu unterscheiden, andererseits in direkter Abhängigkeit von ihnen zu denken. Auf Erscheinungen […] beziehen wir uns von Beginn an so, dass wir sie in Prädikaten Objekten als deren Eigenschaften zusprechen oder doch zusprechen können.» 9 Demnach werden Objekte als Kombinationen aus verschiedenen sinnlichen Empfindungen verstanden. Diese Kombinationen müssen aber auf genau diese Weise hervorgebracht und gegeben werden, dass sie als Träger (S) von prä‐ dikativen Eigenschaften (P) erfasst werden können. Denn das Objekt muss, um (wieder-)erkennbar zu sein, als Exemplar eines allgemeinen Begriffs er‐ fasst werden können. Etwa so, wie in dem Urteil «Die Sonne ist rund» die Sonne als Exemplar des Rundseins erfasst wird; oder wie diese Blume als Exemplar der Rosen aufgefasst werden kann, wenn wir urteilen: «Diese Blume ist eine Rose.» Die Konstanzbedingungen der Objektkonstitution sind also Urteilsformen, worin Objekte als Inbegriffe möglicher Prädikate auftreten. Und darin, dass verschiedene sinnliche Eigenschaften auf eine wiederholbare, d. h. regelhafte Weise miteinander in Verbindung treten, besteht objektive Erschei‐ 93 §9 Erscheinung <?page no="94"?> 10 Vgl. Ibidem, S. 28. 11 Vgl. Kant, KrV, B149ff. 12 Kant, KrV, B142. 13 Demonstrativa und deiktische Ausdrücke lassen sich nur mit Mühe als Prädikate auffassen - sie kommen in der kantischen Urteilslehre nicht vor. (vgl. Henrich, Identität und Objektivität, op. cit., S. 29ff.) nung, d. h. Gegenstände, die prädikativ bestimmt werden können. Entsprechend gilt: Objekte sind Synthesen ihrer Prädikate. Daraus geht hervor, dass in der Urteilsform «S ist P» Elemente in die Bedeu‐ tung des urteilslogischen Subjektbegriffs (S) eingehen müssen, die mit der Be‐ deutung des Prädikatbegriffes (P) nicht identisch sind. Denn Prädikate erfüllen ihre Aufgabe der Konstanz nur, wenn sie allgemeingültig und wiederholbar sind. Das beinhaltet aber, dass sie mehreren Urteilssubjekten zukommen können. Damit das Urteilssubjekt gleichsam von anderen möglichen Urteilssubjekten unterscheidbar bleibt, müssen ihm andererseits auch Elemente zukommen, die nicht allgemein wiederholbar sind, sondern es als Besonderes auszeichnen. Deshalb enthält das Urteilssubjekt mit dem Prädikat nicht identische Elemente, die es als Einzelnes gegenüber anderem Einzelnen abheben. Umgekehrt kann ein Prädikat einem Objekt nur dann zugesprochen werden, wenn von ihm auch anderes als das Prädizierte denkbar ist. 10 Auch dieser Zusammenhang kommt wieder in der Urteilsform zum Tragen: Die Kopula, welche die in Urteilen erhobenen Objektivitätsansprüche trägt, unterscheidet, wie gesehen, beliebige Assoziationen von gültigen Urteilen. Dies gelingt, indem die Kopula eine bloss subjektive von einer objektiven Einheit trennt bzw. beides aufeinander bezieht, sodass sie sich nicht ineinander erschöpfen. 11 «Darauf zielt», das hatten wir in §6 bereits festgehalten, «das Verhältniswörtchen ‹ist› […], um die objektive Einheit gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden.» 12 Jetzt können wir ergänzen, dass die Kopula diese Unterscheidung erhält, indem sie die spezifische Einzelheit einer Vorstellung bewahrt. Sie bewahrt die Einzelheit durch die Trennung vom allgemeinen Prädikat. Also zum Beispiel zeigt die Ko‐ pula im Urteil «Die Sonne ist rund», dass das Rundsein ein Prädikat von vielen Gegenständen ist, wobei Rundsein auch der Sonne zukommt. Dass Rundsein vielen Gegenständen zukommen kann, unterscheidet es als Prädikat von der Sonne. Doch was zeichnet umgekehrt die Sonne gegenüber dem allgemeinen Prädikat aus, das ihr zugesprochen wird? Der Mehrwert, den das Urteilssubjekt gegenüber dem allgemeinen Prädikat aufweist, kann nicht vom Begriff als möglichem Prädikat herkommen, weil der Begriff immer auf mehrere und, wie wir gesehen haben, nicht auf den einzelnen Gegenstand zutrifft. 13 Die Einzelheit des Objekts liegt also nicht darin, 94 §9 Erscheinung <?page no="95"?> 14 Vgl. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, op. cit., B143/ C190. 15 Kant, KrV, A158/ B197. 16 Kant, Prol, §9, A52. wie es (durch den Begriff) gemacht, sondern wie es gegeben ist. Gegeben werden Objekte in der Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit macht die Einzelheit eines Objekts wahrnehmbar - und das Denken bringt sie auf allgemeine Begriffe. So kommt der in Urteilen beanspruchten Objektivität unvergleichliche Einzelheit zu. Urteile nehmen aber nicht nur isolierte und unwiederholbare Prädikationen vor, sondern sie bringen Objekte auch auf allgemeine Begriffe. Deshalb muss der Einzelheit gleichwohl ihrer Mannigfaltigkeit ein Einheitszusammenhang zugrunde liegen, der das Operieren mit Begriffen ermöglicht. Denn diese Möglichkeit liegt darin, dass die Form des Gegebenseins mit der Form des Gemachtseins übereinstimmt: dass die Form der Erscheinung mit der Form zu urteilen kompatibel ist. Wenn aber die Formen zu urteilen mit denen der Sinnlichkeit übereinstimmen - was unterscheidet die Sinnlichkeit dann vom Denken? Die Antwort liegt in der oben herausgestellten Zweideutigkeit des Objektbe‐ griffs: Im Denken kann das Objekt begriffen, in der Wahrnehmung der Begriff objektiv werden. 14 Dass das Objekt der Wahrnehmung somit den Begriff des Urteils ausmacht, drückt aus, dass wir nur dasjenige an den Gegenständen wahrnehmen, was wir auch beurteilen können. Kant hat diesen Grundsatz wie folgt formuliert: «Die Bedingungen der Möglichkeit der [sinnlichen, J.W.] Erfahrung überhaupt sind zu‐ gleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der [sinnlichen, J.W.] Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteil a priori.» 15 Das Zitat bringt den beschriebenen Zusammenhang auf den Punkt. Hier liegt einerseits beschlossen, dass Gegenstände nur durch Wahrnehmung möglich sind, und andererseits, dass Urteile nur deshalb objektive Gültigkeit haben, weil die Bedingungen der Wahrnehmung urteilslogische Grössen sind. Um aber gleichsam die Selbständigkeit der in Urteilen geforderten Objektivität garantieren zu können, muss die Sinnlichkeit trotz der Bestimmtheit durch logische Grössen unabhängig vom Urteilen operieren. - Aber wie kann die sinn‐ liche Wahrnehmung des Gegenstandes dem logisch geformten Gegenstande vorhergehen? Kants Antwort lautet: Das ist nur auf eine Art möglich, nämlich wenn die Sinnlichkeit «nichts anderes enthält, als die Form […], die in meinem Subjekte vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht, dadurch ich von Gegenständen affiziert werde.» 16 95 §9 Erscheinung <?page no="96"?> Es ist also nicht Kants Meinung, dass Objektivität nur Scheinen des Subjekts sei. Denn die Vorstellungen, die in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren, korrespondieren ihrer Form nach mit den Formen des Denkens. Dasjenige, was in einem Urteil der Form nach objektiv von einer Empfindung - zum Beispiel von der Wärme-Empfindung der Sonne - vorgestellt wird, ist deren Erscheinung. Empfindungen wie Wärme, die runde Form, das blendende Licht etc. haben Anteil an der Erscheinung der Sonne, indem sie ihre Materie zur Hand geben. Die Unabhängigkeit dieser sinnlichen Eindrücke gegenüber den Möglichkeiten zu urteilen drückt Kant so aus, dass er sagt, sie gingen diesen «vorher». - Doch hier scheinen wir uns im Kreis zu drehen: Was wir an der «vorhergehenden» Materie beurteilen können, ist nicht Materie, sondern was im Urteil objektiv von ihr vorgestellt werden kann: Erscheinung. Nun ist Urteilen nach wie vor Erkenntnis nach Begriffen. Also kann nur dasjenige an der Materie als Erscheinung beurteilt werden, was allgemeine Merkmale des Begriffs aufweist. Aber dann stehen wir jetzt wieder vor demselben Problem, wie zu Beginn dieses Kapitels: Inwiefern weisen Erscheinungen Merkmale der Begriffe auf ? Anders gefragt: Wie kann ich sichergehen, dass dem Objekt der Erscheinung dieselbe Form zugrunde liegt wie den Begriffen? 96 §9 Erscheinung <?page no="97"?> 1 Kant, KU, BXXVI. §10 Kreativität des kritischen Subjekts Was wir an sinnlichen Empfindungen beurteilen können, fällt unter allgemeine Begriffe. Denn: Urteile bringen Objekte auf ihren Begriff. Und was wir durch Begriffe erkennen, ist allgemein, weil nicht jede Empfindung einen eigenen Begriff kennt. Derselbe Begriff, etwa der Begriff des Rundseins, trifft auf viele verschiedene Objekte zu: zum Beispiel auf die Erde, den Mond, und eine Kugel Zitroneneis. Und auch der Begriff «eine Kugel Zitroneneis» trifft wieder auf viele verschiedene Zitroneneiskugeln zu, und so fort. Was wir beurteilen können, ist begrifflich-allgemein, doch können wir die Begriffe auf Objekte nur mittels sinnlicher Empfindung beziehen. Was wir an dieser beurteilen, ist daher allgemein, auch wenn es die Empfindung selbst nicht ist. Zum Beispiel kann jeder eine ganz eigene, individuelle Empfindung mit Zitroneneis verknüpfen. Fällt jemand aber ein Urteil darüber, muss er - sofern Urteilen unter dem Objektivitätsanspruch radikaler Kritik steht - diese individuellen Empfindungen auf einen allgemeinen Begriff bringen, zum Beispiel den Begriff der Süsse, welcher wiederum nicht nur auf das Zitroneneis, sondern auf viele weitere Empfindungen zutrifft. Das setzt, wie das voranstehende Kapitel 9 gezeigt hat, voraus, dass Empfindungen allgemeine Merkmale der Begriffe - des Rundsins, der Süsse etc. - auweisen müssen, da sie sonst gar nichts objektiv zu erkennen gäben. Gerade weil aber Empfindungen an sich nicht bereits begrifflich, sondern jeweils besonders gefärbt sind, bedarf es eines eigenen Vermögens, welches die Vermittlung von Empfindung und Begriffen leisten kann. Dasjenige Vermögen, welches entscheidet, ob etwas unter einen Begriff fällt oder nicht, ist die Urteilskraft. Sie ist es, die letztlich Begriff und Empfindung zusammenschliesst. 1 Und um diesen Zusammenschluss zu vollziehen, also um Empfindung unter Begriffe bringen zu können, muss sie das Empfundene als begrifflich strukturiert betrachten. Ist etwas nach einem Begriff strukturiert, dann sind seine Eigenschaften von diesem Begriff abhängig. Denn wären sie dies nicht, läge dem Sinnlichen ein anderes Schema seiner Ordnung zugrunde. Urteilstätigkeit ist demnach nur dann überhaupt sinnvoll möglich, wenn wir das sinnlich Empfundene als begrifflich strukturiert denken können. Dies hat Folgen für den Geltungsrahmen objektbezogener Urteile. Um eine Empfindung beurteilen zu können, muss ihr ein Deutungsakt vor‐ ausgehen. Wir müssen die Welt als begriffliche betrachten, um sie uns bewusst <?page no="98"?> 2 Ibidem, B32. 3 Vgl. Ziegler, Satz und Urteil, op. cit., S. 39ff. machen zu können. Denn: Damit irgendetwas als Gegenstand eines Urteils vorgestellt werden kann, muss dieses Etwas nicht nur vom Subjekt unabhängig (objektiv), sondern gleichzeitig auch mit den Formen der Begriffe des Subjekts vereinbar sein. (§7) Kantisch gesprochen muss die Empfindung als Zweck eines Begriffs gedacht werden können, um auch objektive Erscheinung zu sein. 2 Objektivität ist also nicht einfach Welt, sondern die zweckmässige Betrach‐ tungsweise der Welt, d. i. Welt unter reflexiver Einbeziehung des subjektiven Standpunkts. Den zwei herausgearbeiteten Bedeutungen des Objektbegriffs (§9) gemäss heisst Objekt nicht nur Erscheinung, sondern auch subjektives Empfinden. Die Frage ist, wie aus Empfindung Erscheinung wird, also wie etwas Bewusstseinsunabhängiges durch Wahrnehmung zum begreifbaren Be‐ wusstseinszustand wird. Die bewusstseinsunabhängige Welt muss vom Subjekt begrifflich gedeutet werden, um auch Bewusstseinszustand zu werden. Dieser Deutungsakt kann nun nicht bereits in der Empfindung liegen. Denn wäre jede Empfindung an sich selbst bereits begrifflich gedeutete Erscheinung und umgekehrt jede Erscheinung schon Empfindung, so wäre alles jederzeit Bewusstsein und die beanspruchte Subjektunabhängigkeit der Objektivität würde hinfällig. Das kritische Subjekt fiele in sich zusammen. Um dagegen den mit dem ersten Impuls (§1) erlangten Abstand zwischen Subjekt und Objekt (Dass und Was, Gedanke und Gedachtem) zu bewahren, muss dieser Deutungsakt in die Sphäre des Subjekts fallen. Die Vollzugsform ist dann - sofern sie kritisch verfährt - das Urteil. Denn im Urteil erlangt das kritische Subjekt objektive Bestimmtheit und das Bezugsobjekt gewinnt umgekehrt seine subjektive Bestimmung als Gegenstand des Denkens, wobei trotz dieser Beziehung die kritische Differenz zwischen Subjekt und Objekt im Urteil gewahrt wird. In diesem Sinne heisst Urteilen viel mehr als das Sprechen einer Formel oder die Deskription einer Gegebenheit. 3 Urteile finden wir auch nicht in der Welt, sie liegen nicht herum wie Eiskugeln, die ich geniessen kann, und sie wärmen die Haut nicht, wie die Sonne. Sondern sie involvieren eine interpretative Tätigkeit des Subjekts, welche das bloss Vorliegende und Empfundene nicht nur begrifflich strukturiert, sondern diese Struktur auch auf unser Mass des Begreifens hin überprüft. 98 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="99"?> 4 Hier führe ich neues Vokabular ein, das einer kurzen Erläuterung bedarf: Kreativität ist kein kantischer Terminus. Kant setzt der Rezeptivität nicht Kreativität, sondern Sponta‐ neität entgegen. Spontaneität ist im weitesten Sinne das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen. Für Kant bedeutet das die Ursprünglichkeit der Begriffe (Katego‐ rien) im Verstand, dadurch ein Gegenstand nicht «gegeben», sondern «gedacht» wird. (Kant, KrV, A50f./ B74f.) Im Zuge des vorliegenden Gedankengangs erscheinen Rezep‐ tivität (Sinnlichkeit) und Spontaneität (Kategorien) aber nicht nur als zwei ganz selbständige Vermögen, sondern auch als Momente eines ursprünglichen Impulses. Als Momente desselben Impulses werden beide Vermögen in eine Bewegung versetzt, welche die durch sie gezogenen Grenzen in immer neuen Reflexionen gegen das Subjekt verflüssigt. Diese impulsive Bewegung von Setzung und Liquidation von Grenze und Unbegrenztem nenne ich Kreativität. Sie ist in diesem Sinne mehr als reine Spontaneität, da sie die Dynamik des impulsiven (das heisst ursprünglich kritischen) Denkens als aktives Tun bestimmt, das kantisch gesprochen ebenso durch spontane wie durch rezeptive Momente geprägt ist. 5 Vgl. Helmut Pape, Kreative Interpretationen, Hamburg 2004, S. 21ff. 6 Die These, dass mit dem Anspruch des Denkens ein normatives Moment zusammen‐ geht, ist Gegenstand von §18. Diese Prüfung heisst Kritik. Kritik aber, und das Fällen eines Urteils, erfordert Kreativität. 4 Kreativität ermöglicht dem kritischen Subjekt nicht nur, vom Ich zur Welt zu gelangen, sondern vor allem auch Verknüpfungen und Verbindungen in ihr herzustellen, welche nicht bereits in ihr liegen. 5 Sie ist die Fähigkeit, einerseits, über das bloss Gegebene hinauszusehen, andererseits, die Begriffe mit der Welt zu verknüpfen. Ich werde auf den ersten Aspekt kritischer Kreativität im Kapitel 13 zur Phantasie zurückkommen, letzteren vor allem in Kapitel 12 zur Unschuld des Auges thematisieren. Für den Augenblick wollen wir uns auf die Kreativität als solche und die damit einhergehende Konzeption von Objektivität konzentrieren. Mit der Herausstellung der kreativen Tätigkeit als Moment von Kritik kennzeichnet sie die Welt als eine Welt, in der das Empfundene nicht nur erlitten wird, sondern das Potential der Transformation in sich birgt. Dieses Potential ist Scheinen der kritischen Impulsivität. Wir finden es nicht in der Welt. Ihr ist unsere Kritik an sich durchaus gleichgültig - das macht ihren Objektcharakter aus. Das Potential der Transformation kommt vielmehr vom Subjekt, oder genauer gesagt vom kritischen Impuls als dem Anspruch, den wir an die Welt herantragen (sollen). 6 Durch unser Ansprechen, unser Fragen und Zweifeln öffnet sich erst die Möglichkeit, die Welt zu beurteilen; denn das Fällen eines Urteils ist nur erforderlich, wo eine Alternative zur Wahl steht. Urteilen geht demnach mit der Fähigkeit zusammen, das Beurteilte zu erkennen und mitzugestalten. Diese Option entsteht, weil die Denkerin das Beurteilte auf dessen subjektive Prinzipien hin überprüft, wodurch dasjenige am 99 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="100"?> 7 Kant, VKK, A22. Beurteilten hervortritt, was daran kreiert und nicht nur gegeben ist. Dasselbe kann, in Anschluss an das erste Kapitel und die Frage nach dem Ursprung des Denkens, auch so formuliert werden: Alles Gedachte und Beurteilte ist niemals an sich gedacht und beurteilt, sondern ist es notwendig durch ein denkendes Subjekt - das heisst, es ist davon nicht loszulösen, dass es gedacht wird. Der Bezug des Gedachten zum Subjekt erschöpft sich aber nicht darin, von diesem gedacht zu werden. Gerade im Gedachtwerden bestätigt sich auch dessen Selbständigkeit. Dass die Selbständigkeit stets gedachte Selbständigkeit ist, erhält sich darin, Forderung oder Anspruch zu sein. Die Selbständigkeit des Gegenstands ist im Denken beanspruchte Selbständigkeit. Das bedeutet, der Gegenstand «an sich» ist nicht der Gegenstand von Kritik, da es in ihr um seine subjektiven Bedingungen geht, darum also, Subjekt und Objekt gegeneinander zu halten. Die darin liegende Unabhängigkeit des Objekts vom Subjekt bedingt, dass dem Urteilsprozess bestimmte Regeln eigen sind (andernfalls würde im Denken keine Objektivität erreicht werden können, sondern mit jedem Denkakt eine neue Welt geschaffen werden). Diese Regeln sind Konstanzbedingungen oder Kategorien, welche auf der Grundlage der Apperzeption ebenso Denken wie Sinnlichkeit betreffen. Aber die Abhängigkeit der Kategorien vom Subjekt hat nicht zur Folge, dass wir das Sinnliche nicht erkennen können, wie es objektiv ist. Die Funktion der Sinnlichkeit ist, gerade dies zu ermöglichen: das Gedachte in dessen Selbständigkeit zu begreifen. Aber in dieser begreifenden Funktion gibt die Sinnlichkeit nur dasjenige Material zur Hand, welches nach den Konstanzbedingungen des Denkens verarbeitet werden kann. Diese beiden Aufgaben: Aufnehmen von sinnlichem Material und Bilden von Begriffen machen nun zusammen die kreative Tätigkeit aus. Es ist daher klar, dass Kreativität im Urteilsprozess nicht uneingeschränkt wirkt. Würde Kreativität uneingeschränkt wirken, könnte sie - je nachdem, auf welche Seite sie ausschlägt - entweder mit dem sinnlich Gegebenen oder mit dem bildenden Denken nicht mehr zusammenstimmen. Die Schwierigkeit kreativen Denkens, die im Folgenden zu erwägen ist, liegt demnach in dem Verhalten dieser beiden selbständigen, aber einander konkurrierenden Begabungen: Aufnehmen und Kreieren, Sinnlichkeit und Denken. Auseinander klaffen Sinnlichkeit und Denken, wenn der Kreativität freier Lauf gelassen wird. Das ist nach Kants Definition im «Versuch über die Krankheit des Kopfes» von 1764 eine «Verrückung» des Kopfes. 7 Das verrückte Subjekt ist wie ein «Geisterseher», bei dem das regelmässige Funktionieren der Wahrnehmung, also die Konstanzbedingungen des Urteils, ausser Kraft 100 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="101"?> 8 Vgl. Kant, TG, A54-57. 9 Vgl. Gernot Böhme und Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main 1983, S. 233ff. 10 Kant, Anth, A/ B81. 11 Kant, TG, A58. 12 Ibidem. gesetzt sind. 8 Der Geisterseher im kantischen Sinn gibt sich seinen kreativen Vorstellungen hin oder hält sie sogar für objektiv. «Verrückt» ist der Kopf des Geistersehers deshalb, weil es in seinen Vorstellungen an Regelmässigkeit man‐ gelt; sie weisen Lücken auf und wechseln sprunghaft von einer zur nächsten. Die Welt des Geistersehers ist folglich intersubjektiv unteilbar. 9 Er lebt, weil er seine Vorstellung nicht an objektiven Kriterien misst, in seiner privaten Welt. Wir können diese private Welt im Gegensatz zur objektiven eine Traumwelt nennen. Für die Möglichkeit von Kritik ist eine Unterscheidung von Traumwelt und Objektivität von grosser Wichtigkeit. Gäbe es kein Kriterium, um Objektivität von Traum zu trennen, so «weiss ich nicht, ob wir nicht uns in zwei verschie‐ denen Welten zu leben wähnen würden.» 10 In der Schrift zum Geistersehen zitiert Kant deshalb mehrmals das Aristoteles zugeschriebene Diktum: «Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne.» 11 Oder umgekehrt: «Wenn von verschiedenen Menschen ein jeglicher seine eigene Welt hat, so ist zu vermuten, dass sie träumen.» 12 Kant unterscheidet die Traumwelt dadurch von der objektiven, dass sie nicht allgemeinen, sondern individuell assoziativen Regeln obliege. Dagegen sei die objektive Welt nur deshalb objektiv, weil sich alle Subjekte in ihr orientieren könnten. In dieser gemeinsamen Welt können wir uns demnach wiederfinden, weil wir vom Träumen manchmal erwachen und aus unserem zerstreuten Innenleben in den öffentlichen Raum treten, in dem für alle Subjekte dieselben Konstanzbedingungen, die Kategorien gelten. Zugang zum öffentlichen Raum schafft das Urteil. Denn im Urteil zeigen sich die Dinge nicht als Traumgebilde, sondern als selbständige Objekte, d. h. als Objekte von Kritik. Die Welt der Objektivität und der Kritik ist eine öffentliche Welt. Sie beruft sich nicht, wie im Traum, auf assoziativ Individuelles, sondern ist Gegenstand eines wachen Blicks, der von privaten Neigungen und «geisterhaften» Vorstel‐ lungen im obigen Sinn zu abstrahieren weiss. Unter den Titeln «Rationalisie‐ rung» und «Aufklärung» wurde diese Abstraktionsleistung immer wieder als Korrektiv des träumerischen Vermögens aufgefasst. Diese Auffassung von «Auf‐ klärung» geht davon aus, dass Kritik alles Individuelle, Assoziative, «Geister‐ hafte», was nicht unter den Konstanzbedingungen urteilslogischer Objektivität 101 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="102"?> 13 Böhme und Böhme, Das Andere der Vernunft, op. cit., S. 247. 14 Vgl. die These von Wolff-Metternich, Kant wende sich mit der Grenzziehung des Den‐ kens «gegen eine Auffassung von Philosophie, die ‹letzte› Antworten geben zu können meint.» (Wolff-Metternich, Die Überwindung des mathematischen Erkenntnisideals, op. cit., S. 3) Diese These steht quer zu einschlägigen Kant-Interpretationen, welche das kri‐ tische Programm als Versuch einer fundamentalistischen «Letztbegründung» deuten wollen, weil eine «skeptisch[e] (oft übertrieben[e]) Bescheidenheit» es für unmöglich erkläre, «letzte Sicherheit zu haben», sodass die Bescheidenheit in die Sinnlosigkeit philosophischer Tätigkeit führe. (Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung. Zur These von der Unhintergehbarkeit der Argumentationssituation (= Zeitschrift für Philosophische Forschung 35), Frankfurt am Main 1981, S. 3) Genau entgegengesetzt solcher Annahmen versuche ich in diesem Buch (in einer Linie mit Wolff-Metternich) die Offenheit der Sinnfrage als Möglichkeit dafür auszuweisen, sie und die Frage nach der Möglichkeit von Kritik überhaupt zu stellen. 15 So die Kernthese von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Auf‐ klärung, Frankfurt am Main 1947/ 2013, S. 18: «Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie.». steht, zugunsten einer rationalen Allgemeinheit negieren wolle. Eine solche Be‐ freiung vom Geisterhaften verlangte nach einer Art «Diätetik der Vernunft» 13 , die dergleichen mit einem Tabu verhängte. In der Konsequenz müsste jedes pri‐ vate Erleben im Horizont allgemeiner Verstehenskriterien aufgedeckt, Traum‐ welten entweder zum allgemeinen Bewusstsein gebracht oder aus dem allge‐ meinen Bewusstsein ins Unbewusste des Individuums abgeschoben werden, um die träumerischen Einbildungen aus dem Bereich der Wissenschaft und besonders der Philosophie auszutreiben. Doch dieses Verständnis von Aufklärung und Rationalisierung greift zu kurz und ist, wie das Folgende zeigt, nicht kritisch. 14 Es schlägt sogar selber ins Irrationale um: 15 Nehmen wir an, jede individuelle Vorstellung sei durch die veranschlagte «Diätetik der Vernunft» mit dem allgemeinen Bewusstsein kompatibel gemacht; dann müsste sich das Denken jetzt auf die Analyse von Begriffen beschränken. Denn, da wir sagten, das Geisterhafte sei dasjenige, was nicht unter allgemeinen Konstanzbedingungen des Denkens stehe, sondern nach individuellen und privaten Merkmalen charakterisiert sei, so wäre das geisterhaft, was schlechthin unbegreiflich ist. Das Geisterhafte vollends auszu‐ treiben würde also bedeuten, alles, was nicht schon zum Begriff gehört, zu abstrahieren. Nun ist aber diejenige Vorstellung, welche schlechthin unbegreif‐ lich ist, da sie weder gedacht noch vom Denken abstrahiert werden kann, die Vorstellung vom Denken selbst, das Selbstbewusstsein des Denkens. Würde nun Kritik alles Undenkbare aus dem Denken austreiben, dann müssten wir vom Denken das Selbstbewusstsein abstrahieren. Mehr noch: Wir müssten auch alles ausklammern, was uns neu, also nicht durch Begriffe schon bekannt wäre. 102 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="103"?> 16 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 19, verweisend auf Hegels - besonders im Zusammenhang mit Marx und materialistischen Geschichtsdeu‐ tungen - viel zitiertes Kapitel in der Phänomenologie des Geistes, welches den Titel trägt: «Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseyns; Herrschafft und Knechtschafft». 17 Das Pendant zu Hegels Herrschafts-Knechtschaft-Metaphorik aus der Phänomenologie des Geistes findet sich in der Begriffslogik. Hier beschreibt Hegel das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen aber nicht als eine «Distanz zur Sache», wie Hork‐ heimer/ Adorno im oben angeführten Zitat (Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 19). Hegel spricht vielmehr von einer «freye[n]» Macht, wo das Allgemeine «nicht als ein gewaltsames» herrscht, sondern wie eine «freye Liebe, und schrankenlose Seelig‐ keit» wirkt, indem es im Machtverhältnis gegen das Einzelne zugleich «ruhig und bey sich selbst ist.» (Hegel, Wissenschaft der Logik II, op. cit., S. 35) Demnach ist in der Macht des Begriffs nach Hegel auch Freiheit zu finden, da der Begriff nicht ohne die Bestimmtheit des Einzelnen auskommt, an dem er sich gleichsam negiert. Im Begriff und seiner Allgemeinheit, so liesse sich mit Hegel vielleicht formulieren, liegt dann zugleich die Überwindung des Machtverhältnisses, das er ist: die Selbstaufgabe in der Hinwendung zum Einzelnen. Zur Deutung der Prädikation als Subsumtions- und damit als Herrschaftsverhältnis, siehe: Theunissen, Sein und Schein, op. cit., S. 59f. Ersteres ist unmöglich, weil wir vom Denken das Bewusstsein, dass wir denken, nicht abschneiden können. (§§1, 8) Letzteres geht nicht, weil dadurch verhindert würde, in der Welt noch irgendetwas zu entdecken: Wäre alles Begreifbare nur die Wiederholung des schon Begriffenen, so gäbe es gar nichts mehr zu begreifen. Alle Gedanken wären voneinander ununterscheidbar, und die Welt erscheine als repetitive Anhäufung des je schon Bekannten. - Aber das Denken muss, weil es selbstbewusst ist, synthetisch sein; es muss auf sein Negatives als Gehalt Bezug nehmen, den es nicht selber kreiert. (§4) Das verhinderte der beschriebene Rationalisierungsprozess, indem er das (noch) Nichtgedachte aus dem Denken streichen würde. Deshalb ist die Aufklärung im Unrecht, wo sie die Abstraktion des Begriffs vom Individuellen zum Werkzeug macht: «Unter der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der Industrie, für die sie es zurichtet, wurden schliesslich die Befreiten selbst zu jenem Trupp, den Hegel als das Resultat der Aufklärung bezeichnet hat. Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt.» 16 Adorno und Horkheimer denken das Verhältnis von Begriff und Gegenstand, Subjekt und Objekt in Anschluss an Kant und Hegel als Subsumtionsbzw. Herrschaftsverhältnis, weil es am Einzelnen etwas Allgemeines auszudrücken beansprucht. 17 Ihre These ist: Da das Prädikat dasjenige am Urteilssubjekt zum Vorschein bringe, was daran begrifflich ist, verliere das Urteilssubjekt den jeweils eigenen Charakter. Die Eigenheit werde abgezogen, um das Begriffene 103 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="104"?> 18 Der Terminus «verwaltete Welt» taucht zum ersten Mal in einem Radiogespräch zwischen Adorno, Horkheimer und Kogon aus dem Jahre 1950 auf (siehe Literatur‐ verzeichnis im Anhang). Dort beschreibt Adorno den Übergang der ganzen Welt in ein System der Verwaltung unter einer bestimmten Art der sozialen Steuerung. Das Individuum verliert sein eigenes Leben an ein Leben, das von der Gesellschaft vorgezeichnet wird. - Ich werde auf die sozialkritische und historische Dimension im Folgenden nicht weiter eingehen und beschränke mich, auf Hindrichs (Zur kritischen Theorie, op. cit., S. 70-119 und S. 120-140) zu verweisen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die begriffliche Dimension dieses auch gesellschaftlichen Verhältnisses. Hier steht die «verwaltete Welt» für eine Welt, die durch die Verbannung des konstruktiv kreativen Vermögens verkürzt erscheint. Sie bezeichnet eine Welt, welche ihr kritisches Potential, das Potential der Transformation, verdrängt hat. 19 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 18. 20 Ibidem. als Exemplar eines Oberbegriffs vorzustellen. Diese Abstraktion wird im Zitat als «nivellierende[…] Herrschaft des Abstrakten» beschrieben. Das Resultat dieser Abstraktion ist ein Denken, welches nur wiederholen kann, was ihm schon bekannt ist. Es ist blind für die Eigenständigkeit des Sinnlichen, dessen Gegenstände es zu Massenprodukten «der Industrie» macht. Hier verstummt das, was wir in der kritischen Welt das Potential der Transformation nannten: Das Leben des Denkens mutiert zur geschlossenen, verwalteten Welt. 18 Was in ihr noch «anders wäre», so Horkheimer und Adorno, «wird gleich gemacht.» 19 Dieses scheinbar aufklärerische, rationale Denken kann in seiner Abstrak‐ tion und dem bloss «Wiederholbaren» aber nicht stehen bleiben: Wir haben bereits gesehen, dass das Denken nicht ohne sein Negatives und was «anders wäre» auskommt. Und so stellt die Verabsolutierung des Rationalitätsprinzips letztlich sogar eine offene Flanke fürs Irrationale dar: Die Verabsolutierung des aufklärerischen Prinzips erzwingt Konformität, indem sie einzig das Kriterium der begrifflichen Allgemeinheit gelten lässt. Aber dieser analytische Zwang, der die Vielfalt der Welt in die Wiederholung des Gleichen pfercht, schlägt kraft seiner Analytizität - Adorno und Horkheimer sprechen deshalb von «Im‐ manenz» - ins Irrationale um: «Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber. Die trockene Weisheit, die nichts Neues unter der Sonne gelten lässt, weil die Steine des sinnlosen Spiels ausgespielt, die grossen Gedanken alle schon gedacht, die möglichen Entdeckungen vorweg konstruierbar, […] seien - diese trockene Weisheit reproduziert bloss die phantastische, die sie verwirft; die Sanktion des Schicksals, das durch Vergeltung unablässig wieder herstellt, was je schon war.» 20 104 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="105"?> 21 Zum Verhältnis Mythos und Aufklärung in Adorno und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, siehe: Thyen Negative Dialektik und Erfahrung, op. cit., S. 65-109 und Gunnar Hindrichs, Zur kritischen Theorie, Berlin 2020, S. 91-119. 22 Böhme und Böhme, Das Andere der Vernunft, op. cit., S. 235. Die Gefahr der Aufklärung besteht demnach in ihrer Verhärtung zum Prinzip: Dann stellen sich uns die weltlichen Verhältnisse nicht mehr als Aufgabe dar, sondern die Aufgabe besteht in der Analyse des Bestehenden. Über das Bestehende hinaus aber Zustände zu entwerfen, die nicht schon im Vornherein absehbar sind, ist durch Analyse ebenso unmöglich, wie die Option, das Beste‐ hende zu verändern. Wäre die Welt so, wie es die Aufklärung scheinbar fordert: durch und durch rational, so müsste das Denken a priori schon alles enthalten, was überhaupt begriffen werden kann; also was «schon gedacht», «vorweg konstruierbar» (s. o.) ist. Auf diesem Wege führe die Immanenz in eine «tro‐ ckene Weisheit», auf deren Boden nichts Neues gedeihen könne. - Genau hier aber kehrt sich das Prinzip gegen sich selbst: Denn die Welt ist gerade dasjenige am Begriff, was nicht nur durch den Begriff, sondern erst durch die Sinnlichkeit zugänglich wird. (§9) Der Begriff ist nicht das Begriffene, sondern er bezieht sich auf es. Würde daher der Begriff gleichwohl für das Prinzip der wiederholbaren Welt gehalten, so verwandle er sich in das, was er nicht sein will: er würde zum anderen der Welt, zum Negativum dessen, was er in seiner absoluten Abstraktion eigentlich ist. 21 Aber das so beschriebene Programm der «Aufklärung» weicht vom kriti‐ schen ab: Die rational verwaltete Welt ist nicht Resultat, sondern Gegenstand von Kritik. Ihr Ziel ist nicht nur, die Welt wiederzugeben, wie sie ist, sondern dieses Sosein an subjektiven Kriterien zu überprüfen; Kritik will die angesetzten Kriterien selbst und den Gegenstand, wie er dadurch erscheint, in Frage stellen. (§2) Die von Kritikern der kantischen Aufklärung gerne vertretene These, dass «die Möglichkeit objektiver Erfahrung an der Austreibung der Phantasie aus dem Bereich der Erkenntnis [hängt], daran, dass der Verstand die Sinnlich‐ keit bestimmt,» 22 greift deshalb zu kurz. Es kann in der Kritik nicht darum gehen, Kreativität zugunsten der Erkenntnis aufzugeben, um deren Gegenstände zum fertigen Produkt zu machen. Aufklärende Kritik will Begriff und Sinnlichkeit nicht ineinander auflösen, sondern sie vor allem aneinander prüfen und sie gegeneinander arbeiten lassen. Das bringt die Kreativität als Kernmoment kritischer Tätigkeit auf den Begriff: Es kommt nicht darauf an, das Sinnliche dem Begriff gleichzumachen, sondern beides ins richtige Verhältnis zu stellen. Kant selbst bringt dies so zum Ausdruck, dass Kritik einerseits verhindern soll, dass Erscheinungen für Eigenschaften von Dingen gehalten würden, und 105 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="106"?> 23 Kant, Prol, Anm. III, A71. 24 Ibidem, A72. andererseits, dass sie blosse Traumgebilde seien. 23 Kritik zielt darauf, das Eine zum Anderen so zu stellen, dass das Verhältnis offen bleibt - und gerade nicht, dass es geschlossen wird. Das muss so sein, wenn Kritik möglich ist. Denn die Möglichkeit von Kritik beruht darauf, dass sich die Gegenstände in ihrem Gedachtsein nicht erschöpfen: «Natur ist das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist. Sollte Natur das Dasein der Dinge an sich selbst bedeuten, so würden wir sie niemals, weder a priori noch a posteriori, erkennen können. Nicht a priori, denn wie wollen wir wissen, was den Dingen an sich selbst zukomme, da dieses niemals durch Zergliederung unserer Begriffe (analytische Sätze) geschehen kann, weil ich nicht wissen will, was in meinem Begriffe von einem Dinge enthalten sei (denn das gehört zu seinem logischen Wesen), sondern was in der Wirklichkeit des Dinges zu diesem Begriff hinzukomme, und wodurch das Ding selbst in seinem Dasein ausser meinem Begriffe bestimmt sei. Mein Verstand, und die Bedingungen, unter denen er allein die Bestimmung der Dinge in ihrem Dasein verknüpfen kann, schreibt den Dingen selbst keine Regel vor; diese richten sich nicht nach meinem Verstande, sondern mein Verstand müsste sich nach ihnen richten; sie müssten also mir vorher gegeben sein, um diese Bestimmungen von ihnen abzunehmen, als denn aber wären sie nicht a priori erkannt. Auch a posteriori wäre eine solche Erkenntnis der Natur der Dinge an sich selbst unmöglich. Denn wenn mich Erfahrung Gesetze, unter denen das Dasein der Dinge steht, lehren soll, so müssten diese, so fern sie Dinge an sich selbst betreffen, auch ausser meiner Erfahrung ihnen notwendig zukommen. Nun lehrt mich die Erfahrung zwar, was da sei, und wie es sei, niemals aber, dass es notwendiger Weise so und nicht anders sein müsse. Also kann sie die Natur der Dinge an sich selbst niemals lehren.» 24 Kant bedient sich hier zweier Unterscheidungen, welche im bisherigen Gedan‐ kengang erst implizit eine Rolle gespielt haben: Die Unterscheidung von a priori und a posteriori, und die Unterscheidung von Ding als Erscheinung und Ding an sich selbst. Was das erste Begriffspaar anbelangt, so genügt für unsere Zwecke der Hinweis, dass Vorstellungen a posteriori der Geltung nach durch Sinnlichkeit bedingt sind, wohingegen Vorstellungen a priori dem Subjekt entspringen. Die zweite Differenzierung gestaltet sich komplizierter. Das Ding an sich selbst umfasst dem obigen Zitat zufolge alles, «wodurch das Ding selbst in seinem Dasein ausser meinem Begriffe bestimmt sei» (s. o.), d. i. alles, was nicht den Regeln des Denkens obliegt. Wir haben bereits mehrfach festgestellt, dass diese 106 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="107"?> 25 Fichte erklärt diesen Zusammenhang mit folgenden Worten: «Bedenken Sie wohl, wenn Sie sagen: so ist’s an sich, schlechthin an sich; so sagen Sie: so ist’s durchaus unabhängig von meinem Sagen und Denken, und allem Sagen und Denken und Anschauen, und was noch Alles ausser dem Ansich Namen haben mag. So, sagen Sie, müssen Sie das Ansich sich erklären, falls Sie es sich erklären wollen, und jede andere Erklärung gäbe nicht das Ansich. Resultat: das Ansich ist zu beschreiben lediglich als das sein Denken Vernichtende.» (Fichte, Wissenschaftslehre, op. cit., S. 182) Auf den Terminus der «Vernichtung des Denkens» werde ich zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen (§15). Aber es ist interessant, dass die Tendenz zur Vernichtung des Denkens bereits in diesem kantischen Ansatz angelegt ist: Die Verwendung des Ausdrucks «an sich» impliziert, dass dem Denken jeder konstitutive Bezug auf es abgesprochen wird. Was an sich ist, kann nur bestimmt werden als das, was nicht durch das Denken bestimmbar ist und deshalb das Denken bzw. sein Gedachtwerden vernichtet. Unabhängigkeit des Gedachten im Denken nur als Anspruch sinnvoll ist - würde sie wirklich erreicht, so rutschten wir ab ins Dunkel. Ohne Abstand zum Gedachten hörten wir zu denken auf. Dies drückt aus, dass wir die Dinge nicht an sich selbst, sondern als Erscheinung denken: dass wir der Dinge, wie sie sind, nur dadurch gewahr werden können, dass wir sie denken. Der Abstand zum Gegenstand ist Explikat des Faktums, dass wir uns unseres Denkens a priori bewusst sind. (§§1-3) Aber «mein Verstand», so Kant in der oben angeführten Stelle, «schreibt den Dingen selbst keine Regel vor […], sondern mein Verstand müsste sich nach ihnen richten.» Damit sich der Verstand nach den Dingen richten kann, muss allerdings über die a priori analytische (selbstbezügliche) Tätigkeit des reinen Denkens hinaus die Synthese zum Nichtgedanken statt‐ finden. Das erfordert das Zutun der Sinnlichkeit. Was die Sinnlichkeit jedoch zu denken gibt, kommt dem Nichtgedanken nur a posteriori zu, also insofern es derart gegeben ist, dass es mit den Formen des Denkens zusammenstimmt. (§9) Aus diesem Grund, so schliesst Kant, lehre die Sinnlichkeit zwar, «was da sei, und wie es sei», niemals aber, wie es ohne dessen Gedachtwerden, wie es in der «Natur der Dinge an sich selbst» sei. Mit diesen Ergebnissen lässt sich die am Ausgang des voranstehenden Kapitels formulierte Frage beantworten. Wie kann ich sichergehen, dass dem Objekt der Erscheinung dieselbe Form zugrunde liegt wie den Begriffen? Oder, was dasselbe heisst: Wie ist eine Kategoriendeduktion möglich? Die Antwort ist: Ich kann nicht abschliessend sichergehen. Weil eine kreative Tätigkeit in den Urteilsprozess involviert ist, bleiben die Dinge an sich undenkbar. An sich fangen die Dinge gerade dort an, wo der Gedanke aufhört. 25 Das hatte bereits die Diskussion von Freges funktionalem Modell (§7) ergeben: Es wäre im kritischen Denken unsinnig, von einem «Gedanken an sich» zu sprechen, weil das zu denken nicht möglich ist, was nach dem Ende des Gedankens liegt. (§1) Denkbar 107 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="108"?> 26 Die Doktrin, dass alles Denken und Erkennen nur perspektivisch sei und deshalb zur Welt, wie sie ist, gar nicht durchringen könne, wird Kant zwar häufig unterstellt, taucht aber in seinem reifen Denken höchstens als Gegenstand der Kritik auf. Conant spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von «Pseudokantianismus». (vgl. James Conant, Zur Möglichkeit eines sowohl subjektiven als auch objektiven Gedankens, Paderborn 2017, S. 19f.). 27 Vgl. Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, op. cit., S. 80. ist nur, was vom Gedanken begleitet werden kann, dass wir denken (§8), und dieses begleitende Bewusstsein beinhaltet einen unüberwindbaren Abstand zum Gedachten. Er besagt, dass die Gegenstände in ihrem Gedachtwerden als Erscheinung nicht aufgehen. Zum kritischen Denken gehört die Einsicht, dass die Welt auch anders sein könnte als gedacht. Einerseits führt diese Einsicht in eine epistemische Ungewissheit. Andererseits bedeutet sie auch, dass wir die Welt - ihrer Möglichkeit nach - also kraft unseres Denkens transformieren können. Es ist von grosser Wichtigkeit zu sehen, dass dieses Potential der Transfor‐ mation die Welt nicht ins Undenkbare entrückt. 26 Es besagt also nicht, dass die Welt oder das «Ding an sich» schlechthin unerkennbar sei. Denn: dass wir über die Welt, wie sie ist, nachdenken können, war Ausgangspunkt der Überlegungen. Den Anfang von Kritik macht ein wacher Blick, der unsere gemeinsame Welt von einer privaten Traumwelt differenziert. Es ist nicht das Ziel dieser Ausführungen, diesen Grundsatz ihrer Erkennbarkeit zu bezweifeln. Der Zweifel betrifft vielmehr die Massstäbe, die wir an die Welt herantragen. Und das Bewusstsein dessen, dass wir die Massstäbe an die Welt herantragen, schliesst die Möglichkeit mit ein, die Welt anders zu gestalten, als sie uns jetzt erscheint. Anders gewendet: Das vermöge der Kreativität des Denkens gewon‐ nene Potential der Transformation betrifft die Welt nicht an sich, sondern sofern sie für uns ist; d. h. es ergreift den Kategorienrahmen. (vgl. §3) Kritik ist Kritik der Kategorien. Sie gilt dem Versuch, weder dem herrschaftlichen Dogmatismus noch dem geistersehenden Irrationalismus das Feld zu überlassen, also bereit zu sein, einzugestehen, dass die Möglichkeit, dass die Welt auch anders sein könnte, als sie jetzt ist, nicht ausgeschlossen werden kann. Wir müssen dazu bereit sein, die Kategorien des Denkens freizugeben und umzubilden, um uns von der Welt verunsichern zu lassen. Obwohl die Welt in ihrer absoluten Selbständigkeit und Losgelöstheit vom Denken undenkbar ist, gehört es doch den obigen Ausführungen zufolge zur kritischen Überlegung, dass diese Selbständigkeit erst dadurch präsent wird, dass sie in Gedanken beansprucht wird. 27 Das lässt sich auch rückblickend im bisherigen Gedankengang feststellen: Das Denken hat von sich aus immer wieder über die eigene Grenze hinausgedrängt, weil Denken Nichtgedanken 108 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="109"?> 28 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 21, 23, 27 und Angehrn, Diesseits und jenseits des Sinns. Macht und Ohnmacht der Sprache, Heidelberg/ Tübingen 2009. einschliesst. Aber erst durch Kritik wird ersichtlich, dass das Nichtgedachte nur aufgrund des ausschliessenden Charakters des Denkens überhaupt erfahrbar wird. Und so drängt sich an dieser Stelle die These auf, dass das Nichtgedachte vor allem kraft des Denkens präsent wird. Die These heisst: Einzig im Denken kann das aktualisiert werden, was nicht schon im Denken beschlossen ist, sodass im Denken die Rettung dessen liegt, was sich dem Denken entzieht. 28 Dies gibt das zentrale Thema der nun folgenden Kapitel vor. Es soll gezeigt werden, dass die durch Kritik wachgerufene, epistemische Unsicherheit nicht nur als Einschränkung oder Mangel zu begreifen ist, sondern vor allem als Reichtum. Denn Reichtum ist nicht in dem zu finden, was die bekannten Begriffe bereits enthalten. Er liegt in dem, was ihnen entgeht. 109 §10 Kreativität des kritischen Subjekts <?page no="111"?> §11 Fundamentale Verunsicherung Die kritische Skepsis bestreitet nicht, dass wir die Welt erkennen und Urteile wahr sein können. Das Gegenteil ist der Fall: Sie fragt danach, wie es möglich ist, dass wir die Welt erkennen und Urteile wahr sein können. Aber der mit der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit erlangte Abstand zum Denken beinhaltet, dass das Denken, weil es auf Nichtgedanken Bezug nimmt, die Möglichkeit nicht abweisen kann, dass es auch anders sein könnte als gedacht. Diese Möglichkeit kann von einer positiven und von einer negativen Seite aus beleuchtet werden. Von einem positiven Gesichtspunkt aus betrachtet, erlaubt sie dem Denken, sich von der «Herrschaft des abstrakten Begriffs» (§9) zu lösen, um sich von der Welt bereichern zu lassen. Diese Möglichkeit hat jedoch ihren Preis. Und bevor wir uns der reichhaltigen Öffnung zur Welt in den Kapiteln 12 und 13 zuwenden, soll zunächst untersucht werden, was wir für den in Aussicht gestellten Reichtum bezahlen müssen. Kritische Skepsis beinhaltet, wie wir gesehen haben, den Unterschied des Gegenstands zu seinem Gedachtsein. Gleichzeitig sind Gedanken Bezugnahmen auf Gegenstände, also auf Nichtgedanken. Gedanken sind daher Trennungsbe‐ ziehungen (§§3-5), da in ihnen ebenso Verbindung wie Trennung zum Gegen‐ stand liegt. Diese Trennungsbzw. Urteilsbeziehung kann auch als Artikulation jenes ursprünglichen Faktums verstanden werden, dass wir beim Gedanken berücksichtigen müssen, dass er gedacht wird (§1), oder dass zum Denken Selbstdenken gehört. (§§5-7) Damit hängt massgeblich der Zweifel zusammen, ob und inwiefern der Gegenstand des Denkens richtig erfasst ist. Zentral ist dabei, wie gesagt, dass es hier nicht um die Möglichkeit geht, ob der Gegenstand überhaupt erfasst werden kann. Denn dass er erfasst werden kann, ist Ausgangspunkt des Zweifels. Die Frage ist nicht, ob wir, was ist, begreifen können, sondern vielmehr, ob sich die Möglichkeit ausschliessen lässt, dass, was ist, nicht auch anders sein könnte. Das Ergebnis von Kapitel 9 war, dass kritisches Denken diese Möglichkeit und die des Fehlgehens offenlassen muss, um sich nicht der Träumerei oder Borniertheit schuldig zu machen. Das aber hat Folgen für das kritische Subjekt: Die Welt verunsichert das kritische Subjekt, weil es sich unausweichlich mit der Möglichkeit des Fehlgehens konfrontiert sieht. Diese Unsicherheit ist nicht marginal. Sie betrifft nicht einfach Dieses und Jenes, etwa die Unsicherheit, ob diese Blume eine Rose oder ein Veilchen ist etc. Die Unsicherheit des Subjekts findet nicht nur in einzelnen Gedanken statt. Sondern sie ist, wie das Folgende zeigt, fundamental: In ihrer radikalsten Formulierung <?page no="112"?> 1 Dieses Moment der Erschütterung hat das verunsicherte Weltbewusstsein mit der ästhetischen Erfahrung gemeinsam. Dort ist Erschütterung aber explizit Modus der Erfahrung. Im theoretischen Weltbewusstsein ist die Erschütterung dagegen implizit, während der Modus der Erfahrung konstant, also begrifflich begleitet bleibt (siehe hierzu §19). 2 Kant, Prol, A72. erschüttert sie nicht nur Weltbewusstsein, sondern auch das Bewusstsein seiner selbst. 1 Wenden wir uns zuerst dem Weltbewusstsein zu. Aus den bisherigen Über‐ legungen geht hervor, dass die Welt in der kritischen Betrachtung nicht als fixiertes und fertiges Sein unabhängig von aller Subjektivität erscheint, sondern in ihrer subjektiven Bedingtheit, das heisst als Objektivität. Objektiv ist die Welt, sofern sie ihrer Form nach mit der Einheit des selbstbewussten Subjekts (der Apperzeption, §8) zusammenstimmen kann. In der Bestimmung des Objekts liegt deshalb die Möglichkeit der Transformation (§9) begründet. Denn: Was durch das Subjekt bedingt ist, ist vom Subjekt abhängig. Und was von ihm abhängig ist, das kann von ihm auch verändert werden. Solche Veränderung geht mit dem Bewusstsein davon zusammen, dass das, was ist, nicht alles ist, was ist. Denn um etwas verändern zu können, muss ein Zustand gedacht werden, der (noch) nicht ist, welcher also über das Gegebene hinausweist. Diesen (noch-)nicht-Zustand präsent zu halten erfordert Kreativität, weil er nicht nur reproduktive, sondern auch produktive Kapazitäten verlangt. (Dabei ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass diese Möglichkeit der Transformation die Dinge nicht in ihrer Selbständigkeit, sondern in ihrem Scheinen betrifft. Die Welt als Gegenstand von Kritik erscheint unter subjektiven Bedingungen. Und das heisst: Durch Kritik kann ich die Welt nicht verändern, wie sie an sich, sondern, wie sie für mich ist. Alle Modifikationen, die ich an ihr vornehme, sind dann auch kategoriale Modifikationen, also Modifikationen meiner selbst.) Um die Welt, wie sie für mich ist, in ihrem Potential der Transformation zu erfassen, muss ich kreativ tätig werden. Das Problem aber ist, dass sich ein kreierter Zustand nicht in der Kreation erschöpfen kann. Denn es ist nicht so, dass sich die Welt nach unserem Denken, sondern so, dass sich unser Denken nach den Dingen richtet. Wir hatten zuvor festgestellt, dass das Denken ein Synthesisvorgang ist: Im Begriff der σύνθεσις liegt beschlossen, dass das Denken eine Zusammen-stellung von Verschiedenem ist, weil im Denken auf Nichtgedanken Bezug genommen wird. Was nicht schon im Gedanken liegt, das ist mit Kant nicht durch den Begriff, sondern durch die Sinnlichkeit gegeben. Die Sinnlichkeit aber lehrt lediglich, «was da sei, und wie es sei» 2 , niemals aber, wie es ohne dessen Gedachtwerden sein könnte. Das heisst: Die Sinnlichkeit gibt 112 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="113"?> 3 Aus diesem Grund können nicht einfach konkrete Beispiele für die geforderte Flexi‐ bilität des Kategorienrahmens gefunden werden: Dies, weil sich nicht vorab sagen lässt, wie die Welt auch anders sein könnte. (Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1976, S. 21) Hier geht es nicht um einen konkreten Wandel, sondern lediglich um dessen Möglichkeit. Für die konkrete Darstellung dieser Möglichkeit wird im letzten Kapitel dieses Buches ein Beispiel aus der Kunst angeführt werden. Dieses kann uns vor Augen führen und erfahrbar machen, inwiefern wir die Welt kraft unseres Denkens verändern können. Eröffnet wird diese Möglichkeit aber nicht primär durch etwas Konkretes, sondern durch eine intellektuelle Anstrengung; nämlich durch den Gewinn des Selbstbewusstseins, dass wir viel mehr Verantwortung tragen für den Jetzt-Zustand dieser Welt, als blosse Zuschauer. 4 Siehe die Engführung Marcuses von Scheitern und Freiheit in: Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft (II), Frankfurt am Main 1965/ 77, S. 57ff. 5 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 41, siehe auch: Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 27. uns die Welt primär so, wie wir sie auch begreifen können. Nun kann allerdings eine Vorstellung, welche nicht die gegebene, sondern die kritische Welt mit ihrem Potential der Transformation betrifft, nicht unter dieser Massgabe des Denkens stehen. Denn das Denken bringt an den Sinneseindrücken nur zur Erscheinung, was daran a priori begrifflich ist. Folglich kann eine Vorstellung davon, wie die Welt von uns transformiert werden könnte, nicht ohne Weiteres begrifflich sein, weil diese die Welt ganz anders vorstellte, als sie jetzt erscheint. 3 - Hier liegt der Grund zur Beunruhigung: Was nicht kategorial geordnet ist, wird nicht als Sinnesempfindung gegeben, da es noch gar nicht ist. Es ist nur in der Öffnung, die das Denken aus dem Gegebensein des Gedachten und das Bekannte aus den Begriffen herauslöst. Stellt man sich diese Öffnung als kategoriale Flexibilität vor, als Bereitschaft, gedachte Gedanken zugunsten neuer zu verwerfen oder die angesetzten Kategorien an neuen Erfahrungen zu modifizieren, so ergibt sich diese Öffnung, sobald der kritische Anspruch radikalisiert wird und in Selbstkritik übergeht. 4 (§§2-3) Denn in der Selbstkritik wird nicht nur die Sache in Frage gestellt, sondern der eigene Geltungsrahmen, der dadurch beweglich wird. Die Beweglichkeit des Kategorienrahmens ist aber auch der Grund für jenen epistemischen Zweifel, durch den dem Denken ständig droht, ins Irrationale abzudriften. Damit wird sogleich obsolet, dass die hier zum Ausdruck kommende Unsicherheit keinen freien Einfall erlaubt, sondern sich an der Sache zu messen hat. Denn die Beunruhigung ist kein selbständiger Prozess wie etwa die Illusionen eines Geistersehers. (§10) Sie ist vielmehr Moment eines begrifflichen Prozesses und muss an die «Anstrengung des Begriffs» 5 gebunden bleiben. Die Leistung des kritischen Denkens besteht darin, dasjenige Bewusstsein zu durchbrechen, welches die Dinge, so wie sie erscheinen, einfach hinnimmt. 113 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="114"?> 6 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 41. 7 Ibidem. 8 Ibidem, S. 41f. 9 Aus dem Kontext wird klar, dass «Eitelkeit» hier nicht, wie im umgangssprachlichen Sinn, Gefallsucht meint, sondern in der älteren Bedeutung von Belanglosigkeit steht: Für lat. vanitas lässt sich als Grundbedeutung «Leere» angeben, im Gegensatz zur Wirklichkeit, sodass sich als erste Übersetzungsmöglichkeit der «leere Schein» an‐ bietet. Entsprechend meint Hegels Ausdruck von der «Eitelkeit des Denkens über den Inhalt», dass das Denken in seiner Freiheit dem Inhalt gegenüber gleichgültig bleibe, also für ihn belanglos wäre, da es ihn nur als Schein erkennen würde, anstatt ihn wirklich zu erfassen. Die Eitelkeit des Denkens besteht darin, die Welt scheinhaft zu erkennen. Derartige passive Gewohnheiten nennt Hegel das «materiell[e] Denken.» 6 Es hat keinen kritischen Abstand zum Gegenstand, sondern ist «in den Stoff nur versenkt […], welchem es daher sauer ankömmt, aus der Materie zugleich sein Selbst rein herauszuheben und bey sich zu seyn.» 7 Das materielle oder passive Bewusstsein ist nach Hegel also eines, das sich nicht zum Selbstbewusstsein des Urteils (§5) fortbestimmt hat. Das leuchtet ein: Ohne Abstand zum Gegenstand findet keine Reflexion statt, durch die das Denken im Negierten zu sich selbst finden könnte. Gegen dieses passive und selbstlose «Be‐ wusstsein» (sofern ohne ein Selbst von «Bewusstsein» überhaupt noch die Rede sein kann) steht nun das reine Denken, welches Hegel «Räsonniren» nennt, für die «Freyheit von dem Inhalt, und die Eitelkeit über ihn; ihr wird die Anstrengung zugemuthet, diese Freyheit aufzugeben, und statt das willkürliche bewegende Princip des Inhalts zu seyn, diese Freyheit in ihn zu versenken, ihn durch seine eigne Natur […] sich bewegen zu lassen, und diese Bewegung zu betrachten. Sich des eignen Einfallens in den immanenten Rhythmus der Begriffe entschlagen, in ihn nicht durch die Willkühr und sonst erworbene Weisheit eingreiffen, diese Enthaltsamkeit ist selbst ein wesentliches Moment der Aufmerksamkeit auf den Begriff.» 8 Diese Zeilen überraschen vielleicht. Man könnte erwarten, dass die passive Gewohnheit durch aktives Eingreifen des reinen Denkens und dessen «Freiheit von dem Inhalt» gezügelt werden müsste. Doch das reine Denken sei «Eitelkeit über ihn», also dem Inhalt gegenüber gleichgültig. 9 Offenbar geht es nicht darum, sich über den Inhalt zu erheben. Sondern diese Freiheit von ihm soll gerade «auf[ge]geben» werden. Die Freiheit aufzugeben verlangt «Enthaltsam‐ keit» des Denkens. Es soll sich der Versuchung enthalten, den Gegenstand dem Denken gleichzumachen (§9), anstatt sich ihm zu nähern. Sich einem 114 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="115"?> 10 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 11. 11 Vgl. Günter Figal, Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen 2010, S. 14. Gegenstand zu nähern, ohne ihn dem Denken gleichzumachen, beruht auf der Flexibilität des Denkens. (s. o.) Das Denken muss dazu bereit sein, Be‐ griffe und Kriterien jederzeit zugunsten der Sache aufzugeben und zu mo‐ difizieren. Die Enthaltsamkeit fordert also, «sich des eignen Einfallens […] zu entschlagen.» Der Verzicht auf eigene Einfälle bedeutet freilich nicht die Beschränkung auf das materielle Bewusstsein, sondern eine kritische Nähe. Nicht materiell, sondern kritisch kommt das Denken dem Gegenstand näher, wenn es darum bemüht ist, ihn «durch seine eigne Natur» sprechen zu lassen. Das geschieht also nicht etwa dadurch, auf Begriffe zu verzichten. Im Gegenteil: dem Begriff soll eine besondere «Aufmerksamkeit» zukommen, um die Balance darin zu halten, das Denken ebenso wenig vom Gegenstand zu entfernen wie den Abstand zu verlieren. Diese Aufmerksamkeit auf den Begriff ist, weil sie zum begrifflichen Prozess (zum Denken) gehört, eine reflexive Tätigkeit. (§2) Reflexion soll also das Denken nicht nur von der Welt entfernen, sondern es auch ermöglichen, «mit der Sache sich zu befassen» und «in ihr zu verweilen und sich in ihr zu vergessen», denn sonst «greifft solches Wissen immer nach einem Andern, und bleibt vielmehr bey sich selbst, als dass es bey der Sache ist und sich ihr hingibt.» 10 In Anschluss an bereits Gesagtes ist klar, dass die Wendung: «sich der Sache hingeben» nicht dasselbe ist, wie in den Stoff sich zu «versenken». Denn im Versunkensein kommt die Sache unmittelbar, also nicht als durch das Denken vermittelte zum Vorschein. Aber das Denken mit der Sache zu vermitteln erfordert kritisches Tun: Denn Kritik entringt uns dem Schein, dass die Welt ein an sich fertiges - bzw. in der Terminologie des voranstehenden Kapitels: «ver‐ waltetes» Konstrukt sei. Kritik ist aber eine reflexive Tätigkeit. Um daher zu sehen, dass die Welt kein fertiges Gebäude ist, müssen wir nicht gegen die Welt, sondern gegen uns selbst denken. Wir müssen nicht nur die Welt, wie sie ist, sondern insbesondere unser Nachdenken über sie in Frage stellen, weil unser Nachdenken über die Welt diese so, wie sie ist, mitgestaltet. Das geht, wie nun schon mehrmals herausgestellt wurde, mit der Bereitschaft zusammen, die Kategorien des Denkens in der Hingabe zur Sache zu variieren - aber nicht so, dass die Variation etwas vorher schon Erfasstes erläuterte, sondern so, dass die Variation etwas Neues schafft. 11 Gegen sich selbst zu denken heisst, das Denken mit der Sache verschmelzen zu lassen, sie gleichsam hervorzubringen, ohne jedoch auf den kritischen Abstand zu verzichten. 115 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="116"?> 12 Søren Kierkegaard, Krankheit zum Tode, Stuttgart 1849/ 1997, S. 21. Denkt das Denken gegen sich selbst, so ist es auf Nichtgedanken gerichtet. Dann will es das sein, was es nicht ist. Um dem dabei drohenden Selbstverlust entgegenzuwirken, darf der Selbstbezug nicht unterbrochen werden. Würde das Denken im Nichtgedanken den Bezug zu sich verlieren, so fiele es in jenes Bewusstsein zurück, das Hegel in der oben zitierten Stelle materiell nannte. Indes würden wir dies in den Begriffen des ersten Kapitels gar nicht mehr «Denken» nennen, da wir das Bewusstsein, dass ein Gedanke gedacht wird, vom Was des Gedankens abziehen. Dann würde sich Denken vom Nicht‐ gedanken nicht mehr unterscheiden - es würde also nicht mehr gedacht werden. Um daher den kritischen Abstand zum Gedachten auch in der Hingabe zu ihm zu gewährleisten, muss im Fremdbezug der Selbstbezug mitreflektiert sein. - Und hier liegt die Quelle für die zweite Beunruhigung: die fundamentale Unsicherheit des Subjekts. Wir sagten: Sich der Sache hinzugeben erfordert, gegen sich selbst zu denken. Denn das Denken, das gegen sich selbst denkt, will das sein, was es nicht ist; es will nicht sich, sondern die Sache. Um dies zu verstehen, kann es hilfreich sein, dem abstrakten Verhältnis eine existenzialphilosophische Grundlage zu geben. Existenziales Verhalten ist ein sekundäres Verhalten. Es berücksichtigt nicht die abstrakte Einsicht, dass das Denken in der Kritik gegen sich denkt, sondern das Faktum, dass wir uns zu diesem Verhältnis verhalten. Kurz gesagt: Wir sprechen nicht von Subjekten, sondern von Menschen. Eine besonders drastische Darlegung dessen, was es für den Menschen bedeutet, gegen sich selbst zu denken, stellt Kierkegaard vor. Kierkegaard, der massgeblich von Hegel beeinflusst war, nennt die Notwendigkeit, gegen sich selbst zu denken, eine Krankheit. Im lebensweltlichen und existenzialen Sinn spricht man von einer Krankheit (nicht aber von Gesundheit) im Falle einer κρίσις. Im ersten Kapitel hielten wir diesbezüglich fest, dass das Denken in der Krise die Einheit, die es will, selber verhindert. (§1) Rein begrifflich kann das krisenhafte Denken also auch als ein krankhaftes bezeichnet werden - eine Krankheit allerdings, die wir weder wählen, noch von ihr geheilt werden können. Sie hat daher, mit Kierke‐ gaard, etwas besonders Furchtbares an sich, nämlich dies: dass «der Mensch immer kritisch [ist].» 12 Denn gegen sich selbst zu denken ist Ausdruck davon, ein Selbst zu haben. Im vierten Kapitel haben wir dieses Verhältnis als Ur=Theilung artikuliert. (§4) Sie besagt, dass das Ich sich nur als Teilungsbeziehung hat, also sofern es sich als Nicht-Ich erfasst. Weil nun der Mensch, wo er Mensch bzw. sich selber ist, in der Krise lebt, nennt Kierkegaard diese Krankheit - da sie unumgänglich ist - eine «Krankheit zum Tode». Für den Menschen als 116 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="117"?> 13 Tilo Wesche, Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2003, S. 42. 14 Annemarie Pieper, Einbildungskraft und Phantasie. Die Imagination als transzendental- und existentialanthropologisches Vermögen, Würzburg 1981, S. 55, meine Hervorhebung. 15 Kierkegaard, Krankheit zum Tode, op. cit., S. 13f. Meine Hervorhebung; auch die Zahlen in eckigen Klammern sind von mir hinzugefügt. Menschen gibt es keine Heilung. Denn als Mensch ist der Mensch nicht nur Körper, sondern ein Selbst, also ein Verhalten zu sich (als Körper). Die Krankheit ist daher zum Tode, sofern sie nicht marginal ist, sondern selbstvernichtend. Aber sie ist zum Tode, da wir sie nicht loswerden können, wie ein schlimmes Fieber: Die Krankheit zum Tode ist eine Krankheit des Selbst. Insofern bedeutet sie «kein körperliches Ableben, sondern ein metaphorisches Sterben.» 13 Und die Metapher des Sterbens kann nicht sterben. Dieser Furchtbarkeit entsprechend ist das Symptom der unausweichlichen und unheilbaren Krankheit zum Tode die Verzweiflung: «Denn anstatt sich zur Einheit mit sich als Individuum zusammenzuschliessen, entzweit sich das Selbst» durch sie. 14 Verzweifelt ist jemand, der gegen sich selber denkt und nicht sein will, was er ist, oder ist, was er nicht sein will. Dieses Wollen drückt aber nicht etwa eine freie Wahl aus. Sondern das krankhafte Verhältnis formuliert schlicht, dass der Mensch ein Selbst habe. Dazu schreibt Kierkegaard das Folgende: «Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder es ist in diesem Verhältnis jenes, dass dieses sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält. [1] Der Mensch ist eine Synthese […]. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So gesehen ist der Mensch noch kein Selbst. Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis als negative Einheit das Dritte, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und in dem Verhältnis zum Verhältnis […]. [2] Verhält sich […] das Verhältnis zu sich selbst, dann ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst. […] [3] Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt werden. Ist das Verhältnis […] durch ein Anderes gesetzt, dann ist das Verhältnis zwar das Dritte, doch dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann wiederum ein Verhältnis und verhält sich zu dem, was das ganze Verhältnis gesetzt hat.» 15 In dieser Passage, die ganz am Anfang seiner Verzweiflungsanalyse steht, trifft Kierkegaard eine Reihe von Vorentscheidungen: [1.] Der Mensch sei ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, also eine Synthese. [2.] Der Mensch habe ein Selbst. [3.] Das Selbst des Menschen sei durch ein Anderes gesetzt. Denn selbst, wenn das Verhältnis durch das Selbst gesetzt wäre, so würde es 117 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="118"?> 16 Es sei darauf hingewiesen, dass Kierkegaards Motiv in der Krankheit zum Tode zwei‐ fellos religiös motiviert ist und er mit dem «Anderen», welches das Selbst setzt, Gott meint. Was aber erbaulich sein soll, das lässt sich nicht argumentieren. Und trotzdem wählt Kierkegaard eine an Hegel erinnernde, begrifflich-systematische Dar‐ stellungsweise. So ist der Text von einer Spannung durchsetzt, die zwischen Glauben und Philosophie oszilliert. Ihr kann im gegebenen Kontext nicht Rechnung getragen werden. Stattdessen verweise ich auf die einleuchtenden Darlegungen Figals (Günter Figal, Die Freiheit der Verzweiflung und die Freiheit im Glauben. Zu Kierkegaards Konzeption des Selbstseins und Selbstwerdens in der ‹Krankheit zum Tode› (= Kierkegaar‐ diana 13), Kobenhavn 1984) und beschränke mich in meinen Ausführungen auf das Philosophische. Gegenstand der philosophischen Untersuchung ist dann nicht so sehr die Verzweiflung, sondern «das von ihr her gesichtete Selbst.» (Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Frankfurt am Main 1991, S. 6). 17 Vgl. Figal, Die Freiheit der Verzweiflung und die Freiheit im Glauben, op. cit., S. 11. 18 Dieser Aspekt wird im Kapitel 17 zur Anti-Offenbarung weiter entfaltet. 19 Vgl. Wesche, Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, op. cit., S. 88ff. 20 Kierkegaard, Krankheit zum Tode, op. cit., S. 13, meine Hervorhebung. (weil es ein Verhältnis ist, das sich zu sich selbst verhält) seinen Ursprung wieder nur als sein Anderes, als Verhältnis zu sich erfassen können. 16 Die Verzweiflung an diesem Verhältnis besteht nun darin, dass das Selbst nicht es selbst sein kann. Selbstwerdung ist mit Kierkegaard nur im Glauben, also nicht im kritischen Denken möglich. Das Selbstwerden entzieht sich deshalb einer kritischen Bestimmung, weil in ihr das Selbst nicht göttlich aufgehoben wird. 17 Nur glaubend würde das Selbst sein Anderes nicht als von sich Verschiedenes, sondern als Gott annehmen können. Dem kritischen Subjekt fehlt dieser Glaube, da er sich nicht argumentieren lässt. 18 Und weil keine Hilfe von oben kommt, muss das Subjekt immer tiefer in Verzweiflung versinken. Es kann nicht von selbst es selbst werden. Dass das Selbst sich nicht von selbst werden kann (sondern des Anderen bedarf), drückt Kierkegaards dritte Vorentscheidung aus: das Selbst sei «durch ein Anderes gesetzt.» Das heisst, dass sich das Selbst ein Faktum ist: Das Andere meint zugleich Entzogenheit, wie Ursprung des Selbstverhältnisses. 19 In der angeführten Stelle schreibt er deshalb, das Selbst sei nicht nur Verhältnis, «sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält.» 20 Das Verhältnis des Selbst ist also Verhältnis zu dessen Faktizität. - An dieser Stelle knüpft die Bestimmung der Verzweiflung wieder an den kritischen Impuls im ersten Kapitel an. Dort formulierten wir das Faktum des Denkens mit dem späten Schelling so, dass das Denken - selbst, wenn es alles Denkbare schon gedacht hätte - die eine Sache, dass ich denke, niemals denken kann. Mit Kierkegaard können wir jetzt die existenziale Konsequenz daraus ziehen: Weil das selbstbewusste Denken Selbstentzug ist, führt es in die Verzweiflung. 118 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="119"?> 21 Michael Theunissen, Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt am Main 1993, S. 28. Dagegen ist es, wie Theunissen herausstellt, keineswegs not‐ wendig so, «dass wir nicht sein wollen, was wir sind, weil wir sein wollten, was wir nicht sind. Wir können unter unserem Dasein leiden, ohne es durch ein fremdes zu überformen.» (Ibidem) Damit weist Theunissen auf eine zentrale, argumentative Lücke in Kierkegaards Verzweiflungsanalyse hin, die der vorliegenden Interpretation zugutekommt: Kierkegaard habe die erste Annahme, dass das Selbst nicht es selbst sei, mit der zweiten Annahme, dass das Selbst sich selbst sein wolle, nicht zu verknüpfen vermocht. Stattdessen begnüge sich Kierkegaard damit, «zwischen dem als Reflexion aufgefassten Selbstbewusstsein und dem Willen, der als ein mit dem Selbst identischer ursprünglicher sein muss als das Wollen im Verzweifeltsein und Nichtverzweifelt‐ sein.» (Ibidem, Anm. 66, S. 47) Im Zusammenhang mit dem kritischen Bewusstsein bedeutet dies, dass Kierkegaards Verzweiflungsanalyse (wohlbemerkt: gegen die Auf‐ fassung Kierkegaards) die Möglichkeit dafür offen lässt, verzweifelt zu sein ohne im Glauben sich beruhigen zu wollen. Von dieser Perspektive aus betrachtet könnte man die Verzweiflung des kritischen Subjekts dann als die Verzweiflung ausdrücken, dass es an keinen Gott glaubt. 22 Kierkegaard, Krankheit zum Tode, op. cit., S. 15. 23 Ibidem, S. 16. Verzweiflung heisst, verzweifelt sich selbst sein zu wollen, und nicht sich selbst sein zu können. Das bedeutet «dass wir sein wollen, was wir nicht sind, weil wir nicht sein wollen, was wir sind.» 21 Nein-Sagen zur Verzweiflung muss demnach bedeuten, sich selbst zu sein. Oder Selbstsein ist die Vernichtung der Möglichkeit von Verzweiflung. Das ist nur im Glauben möglich. Gegen den Glauben die Verzweiflung auszuhalten, ist dagegen das kritische Unterfangen. So sind Kritik und Verzweiflung auf existenzialer Ebene miteinander verschwis‐ tert und Teil des unentwegten Prozesses, sich selbst werden zu wollen (und nicht zu können), was mit Kierkegaard so viel heisst, wie: nicht nicht sich selbst sein zu wollen. Die Gretchenfrage lautet nun: «Ist Verzweiflung ein Vorzug oder ein Mangel? » Kierkegaard antwortet: «[Sie ist] beides. Wollte man sie, ohne sich einen Verzweifelten vorzustellen, als einen abstrakten Gedanken festhalten, dann müsste man sagen: Sie ist ein ungeheurer Vorzug.» 22 Als abstrakter Gedanke, also für uns als Subjekte (nicht als Menschen), besteht der Vorzug in der Möglichkeit, im kritischen Abstand zu sich und zur Welt zu stehen, um sich so für das Potential der Transformation zu öffnen. Aber «so un‐ endlich der Vorzug der Möglichkeit [der Verzweiflung] ist, so tief ist der Fall.» 23 Die Tiefe des Falls wird erst ersichtlich, wenn neben dem Subjekt auch der Mensch in den Blick genommen wird. Dann formulieren wir nicht die Struktur radikaler Kritik, sondern unser Verhalten zu ihr. Dieses Verhalten bedeutet mit 119 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="120"?> 24 Ibidem, S. 27. 25 Ibidem, S. 18. 26 Vgl. die kritischen Ausführungen zu Henrichs Engführung von Subjekt und Person in §4 dieses Buches. Kierkegaard ausweglose Verzweiflung. Denn ohne göttliches Eingreifen gibt es keine Möglichkeit, nicht verzweifelt zu sein: weil die Verzweiflung kein Missverhältnis, sondern das Verhältnis des Selbst ist, würde nicht verzweifelt zu sein das Verhältnis des Verzweifeltseins lediglich umdrehen. Nie verzweifelt gewesen zu sein würde mit Kierkegaard bedeuten, sich (noch) nicht bewusst zu sein, dass man verzweifelt ist. 24 Das würde also bedeuten, nicht zu sein, was man ist - also verzweifelt sein. Nicht verzweifelt zu sein ist eine Perversion des Verzweifeltseins. «Durch Verzweiflung», so Kierkegaard, hat «etwas Feuer gefangen, was nicht brennen oder nicht verbrennen kann, das Selbst.» 25 - Und damit kommt eine tragische Wendung des kritischen Tuns zu ihrem prägnanten Ausdruck: Indem der Gedanke auch erfasst, dass er gedacht wird, zwingt er das existenziale Bewusstsein dazu, verzweifelt sich selbst sein zu wollen ohne sich selbst werden zu können. Tragisch ist, dass dieses Bewusstsein nicht nur den unüberwindbaren Abgrund gegen sich errichtet, sondern auch die Klammer bildet, welche das Unvereinbare ineinander verhakt. Durch Kierkegaards Verzweiflungsanalyse, die auf einer kritischen Formulie‐ rung des Selbstbewusstseins aufbaut, gewinnt radikale Kritik eine existenziale Dimension. Sie bewahrheitet, dass Kritik nicht nur abstraktes Wortemachen ist, sondern uns auch als Menschen betrifft. Wir stehen hier ebenso vor einer epistemischen Unsicherheit, wie einer menschlichen: Die Frage ist, wie die Welt ist und wie sie sein könnte, aber auch, wer wir in ihr sind und wer wir in ihr sein könnten. Jedoch sind diese Fragen in der radikalen Kritik, die in der Reflexion auf ihre Bedingungen besteht, inhaltlich nicht fixiert. Sie sind deshalb, auch wenn sie uns als Menschen betreffen, nicht empirischer Natur und lassen auch keinen persönlichen Standpunkt zu. 26 Indem sie unter dem kritischen Anspruch stehen, stützen sie sich auf uns als Menschen nur, insofern wir auch Subjekte sind. Das heisst: Sie betreffen uns nur, insofern wir von unseren privaten Neigungen absehen und auf eine gemeinsame Objektivität - sei es eine logische, sei es eine anthropologische - Bezug nehmen wollen. Dieser Bezug bleibt allerdings, weil es ein fragender ist, zweifelhaft. Der Zweifel macht, dass der Frageprozess kein Ende kennt. Es ist kein Resultat auszumachen, worin der Zweifel, ob es nicht auch anders sein könnte, beruhigt werden könnte. Wenn aber die durch Kritik erhobenen Ansprüche innerhalb des kritischen Denkens gar nicht gesichert werden können, sondern in die Verzweiflung führen - welchen Sinn hat sie dann? Wenn klar ist, dass die gesuchte Legiti‐ 120 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="121"?> 27 Vgl. Bubner, Dialektik und Wissenschaft, op. cit., S. 170ff. und Hindrichs, Kategorien und Begriffswandel, op. cit. und in diesem Buch §§ 3, 8. 28 Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 391. mation des Denkens nicht abzuschliessen ist, dass der Kategorienrahmen im Wandel 27 und wir verunsichert bleiben, welchen Sinn hat dann das Suchen? Wozu Kritik, da wir doch gerade eingesehen haben, dass sie nicht zielführend sein kann? Zunächst ist zentral, dass aus der Zweifelhaftigkeit eines Gedankens noch nicht dessen Sinnlosigkeit folgt. Das Gegenteil ist der Fall: Kritik erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern in Anbetracht des Bestimmten, in der Hingabe zur Sache; sie sucht nach dem Wert angesichts des Bewerteten, nach der Gewissheit im Gewussten usw. Und nur ein Subjekt, das etwas wissen will und einen Anspruch stellt, kann überhaupt verunsichert werden. So ist es also gerade der Zweifel, welcher die Möglichkeit setzt, richtig zu liegen - denn sonst gäbe es ja keinen Grund zu zweifeln. Also nur, wenn ich es für möglich halte, dass es so ist, wie ich denke, ergibt es Sinn, über die Bedingungen dieser Möglichkeit nachzudenken und Alternativen zu erwägen. Zu Beginn dieses Kapitels hielten wir deshalb fest, dass fundamentale Unsicherheit nicht besagt, die Welt könne nicht erkannt werden. Es geht in der Kritik gerade darum, die Bedingungen dieses Könnens nachzuweisen. Und dabei tut sich die Möglichkeit auf, sich ihr so hinzugeben, dass man vermag, über das Erkannte hinauszusehen, es zu verändern, Neues und Unerwartetes zu finden und zu schaffen. Der fragliche Sinn eines Zweifels, dessen Unstillbarkeit eingesehen werden kann, muss mit diesem Potential der Transformation zu tun haben. Adorno formuliert dasselbe umgekehrt: «nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.» 28 Oder eben in der Logik des vorliegenden Gedankengangs: Weil das Denken nicht alles ist, was ist, sind wir dem, was ist, nicht ausgeliefert. Öffnet sich aber das Denken dafür, die Welt in Hinsichten zu erfassen, wie sie nicht schon im Vornherein absehbar waren, muss es die Unsicherheit im Weltbewusstsein ertragen und mit der Verzweiflung bezahlen, nicht sich selbst werden zu können. Obwohl Kritik also keine Erlösung vom Sinnverlust leisten kann, weil sie unbeirrt weiter fragt, ist sie keineswegs sinnlos. Um dies zu verstehen, sollen nun die beiden Extreme entfaltet werden, in deren Zusammenhang sich die kritische Tätigkeit gemäss obigen Ausführungen vollzieht: das Vermögen, sich der Welt unter Entledigung der Begriffe hinzugeben (§12) oder - von der gegebenen Welt absehend - selbst zu erfinden (§13). 121 §11 Fundamentale Verunsicherung <?page no="123"?> 1 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 19. 2 John Ruskin, The Elements of Drawing. In Three Letters to Beginners, New York 1876, S. 22. 3 Ibidem, Anm. 1, S. 22, meine Hervorhebung. §12 Unschuld des Auges Wir haben gesehen, dass die Verbegrifflichung und Beurteilung gegebener Sin‐ nesdaten mit einer «nivellierenden Herrschaft des Abstrakten» 1 einhergehen kann, welche Gefahr läuft, das Neue und Ungewöhnliche, worauf das Kriti‐ sche geht, zu unterdrücken. (§9) Doch können wir uns der Herrschaft des Abstrakten entledigen? Können wir wahrnehmen, ohne immer schon Dinge wahrzunehmen? In diesem Kapitel sollen verschiedene Antworten darauf in Erwägung ge‐ zogen und am bisher Gesagten überprüft werden. Und weil die Frage bewusst über das Begreifbare hinaus zielt, liegt es nahe, sich ihr zunächst experimentell zu nähern. Es folgt eine Beschreibung John Ruskins: «Everything that you can see, in the world around you, presents itself to your eyes only as an arrangement of patches of different colours.» 2 «We see nothing but flat colours […], what may be called the innocence of the eye; that is to say, of a childish perception of these flat stains of colour, merely as such, without consciousness of what they signify, - as a blind man would see them if suddenly gifted with sight. […] We go through such processes of experiment unconsciously in childhood; […] Now, a highly accomplished artist has always reduced himself as nearly as possible to this condition of infantine sight. […] Strive, therefore, first of all, to convince yourself of this great fact about sight. This, in your hand, which you know by experience and touch to be a book, is to your eye nothing but a patch of white, variously gradated and spotted; this other thing near you, which by experience you know to be a table, is to your eye only a patch of brown, variously darkened and veined; and so on.» 3 Diese Zeilen stehen im ersten Experiment seiner Elements of Drawing von 1857, einem viel rezipierten Werk, in dem es vor allem um Anleitungen zum Wahrnehmen und Zeichnen geht. Wir wollen diesen praktischen Aspekt einmal ausser Acht lassen und das Experiment aus einer philosophischen Perspek‐ tive betrachten. Es geht um einen sinnlichen Zustand, in dem die Eindrücke nicht als Gegenstände identifiziert werden, sondern eher als abstrakte Kompo‐ sitionen: «arrangements of patches of different colours.» Etwa so, meint Ruskin, <?page no="124"?> 4 Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987, S. 36. 5 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 63. 6 Ibidem. 7 Ibidem. als ob wir die Welt zum ersten Mal wahrnehmen würden. Obwohl es in diesem Zustand schon zu viel wäre, von einer «Komposition» zu sprechen. Denn eine Komposition würde einen Rahmen implizieren, innerhalb dessen Farbflecken und Lichtspiele in Beziehung treten könnten. In dem imaginierten Zustand fehlt aber eine solche Einheit: Wenn wir noch nie einen Gegenstand gesehen hätten, und wenn wir keine Begriffe zur Hand hätten, um das Wahrgenommene zu ordnen, so wäre es wohl vollkommen heterogen, ungeordnet, ungreifbar; kaum wäre ein Eindruck da, wäre er schon in einen anderen übergegangen. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels hat eine ähnliche Wahrnehmung einmal als «splittrige[…] Welt von Empfindungen» 4 beschrieben; als ob die Welt ein zerbrochener Spiegel wäre und dieser, sobald wir uns an einen Empfindungssplitter erinnern wollten, so verschwinden würde - also so, als ob wir dort, wo wir einen Inhalt erwarteten, nur den Spiegel unseres eigenen Auges wiederfänden. Dass wir uns an ungeordnete Empfindungssplitter nicht erinnern können, liegt daran, dass sie nicht bewusst geordnet und begrifflich fixiert wurden. Sie sind «without consciousness of what they signify», wie Ruskin oben schreibt. Und so beginnt der Zustand, den er mit der Metapher «in‐ nocence of the eye» umschreibt, in jedem Augenblick wieder von Neuem. In jedem «Jetzt» ist die Empfindung schon wieder gewesen. Dass mit dem Versuch Ruskins grosse Schwierigkeiten verbunden sind, wird sich für diejenige bestätigen, welche sich um die beschriebene Erfahrung bemüht. Es ist herausfordernd, sich der gewohnten Begriffe zu entledigen, um sich auf die Zerstreutheit der Empfindungen einzulassen - und es ist unsicher, ob es überhaupt möglich ist. Vielleicht kostet der Schritt auf menschlicher Ebene auch Überwindung, zumal wir im voranstehenden Kapitel gesehen haben, dass die Sinnoffenheit in die Verzweiflung führen kann. Die Schwierigkeit kennt aber vor allem einen philosophischen Grund: Hegel nennt das autonomi‐ sierte Empfinden des «infantine sight» zurecht die «reichste Erkenntnis» wie die «abstracteste und ärmste Wahrheit.» 5 Ihr Reichtum liege darin, dass sie «von dem Gegenstande noch nichts weggelassen» 6 habe. Sie habe ihn also «in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich» 7 , da keine Begriffe am Werk gewesen seien, die dem Sinnlichen etwas Allgemeines übergeordnet hätten. Wir verhalten uns hier also unmittelbar und rein aufnehmend, das heisst passiv. So bringt uns der kindliche Blick - um das Vokabular aus Kapitel 11 wieder aufzugreifen - sehr «nahe» zum Gegenstand. Voraussetzung für die Nähe zum Gegenstand ist, 124 §12 Unschuld des Auges <?page no="125"?> 8 Dazu: Charles Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1978/ 2016, S. 195. 9 Boehm verwendet den Ausdruck des «verstrickten Blicks» für die grossformatigen Tropfbilder Pollocks (Gottfried Boehm, Die Antwort des Auges (= Magazin für Forschung und Wissenschaft an den Schweizer Hochschulen 9), Bern 1990, S. 27). Sie geben ein Exempel ab für diese Erfahrung, dass im Gesehenen keine Ruhe gefunden werden und der Blick nichts festzuhalten vermag, was sich begreifen liesse. 10 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 66. 11 Ibidem. 12 Ibidem, S. 28. dass wir in den Vorgang des Empfindens nicht eingreifen. Wir müssen also unser Bewusstsein so weit zurücknehmen, bis alles Kreative ausgeschaltet ist und wir, wie in Ruskins Gedankenexperiment, nur noch Daten empfangen. 8 - Doch eben darin liegt die Armut dieser Wahrheit. Denn von dem, was passiv empfunden wird, können wir immer nur eines feststellen: «es ist». Zwischen «es ist» und dem empfindenden Ich besteht keinerlei Abstand und kein Gedanke bewegt sich vom Ich zum Empfundenen. Der Empfindungsstrom ist daher ebenso reich, wie leer: ein undefinierbarer Knäuel unendlich vieler «Dieses», die nicht am Faden der Apperzeption durch das Nadelöhr der Urteilskopula geführt wurden. (vgl. §8) Ohne einheitsstiftendes Bewusstsein «verstrickt» 9 sich der Blick in ein Gewirr aus Dieses, von denen sich auch in jedem Moment nur wieder dies sagen lässt: «Dieses» oder «Itzt, Hier oder Dieses überhaupt» und «indem ich sage, dieses Hier, Itzt oder ein einzelnes, sage ich AL L E [sic! ] diese, alle Hier, Itzt, einzelne» 10 , weil kein Begriff etwas Allgemeines daran vorstellte. Aber auch das Ich erscheine als «Itzt», weil kein Abstand zum Dieses da sei. Hegel schreibt daher über dieses Ich, dass es ein solches «Ich» sei, «das gleichsam AL L E [sic! ] Ich» sei; «jeder ist das, was ich sage; Ich, dieser, einzelne, Ich.» 11 Im passiven Empfinden würde also ständig ein neues «Dieses» hinzustossen und das vor‐ hergehende auflösen, sodass alles «Itzt» und überhaupt « AL L E [ S ] » immerschon gewesen ist, weil nichts verharrt. Und ohne Bleibendes gibt es keine Begriffe, da nichts wie das andere wäre, jedes ein Einzelnes; und jeder Augenblick wäre ein neues Bewusstsein; und es gäbe weder Kontext noch Verbindung - noch Ich. Demnach bedeutet die Armut des «infantine sight» letztlich die Liquidation von Welt- und Ichbewusstsein: «Die Gedanken werden flüssig.» 12 Von diesem Zustand liquiden Denkens - hätten wir ihn denn erreicht - könnten wir eigentlich gar nichts wissen. Um ohne Eingreifen des Bewusst‐ seins zu empfinden, müsste sich der Wahrnehmungsvorgang gegenüber dem begrifflichen Denken vollkommen emanzipieren. Nun ist aber das begriffliche Denken vom Bewusstsein nicht loszulösen. Denn das Begreifen (in der Form von Urteilen) ist Ausdruck des Selbstbewusstseins des Denkens. (§5) Also hat das Denken die begriffliche Form, «etwas als etwas» zu nehmen, weil 125 §12 Unschuld des Auges <?page no="126"?> 13 Diese These wird gerne in phänomenologisch orientierten Bildtheorien veranschlagt, hier: Boehm, Die Antwort des Auges, op. cit., S. 27. Denken selbstbewusst ist und in der Reflexion um sich weiss. Wollten wir nun den Wahrnehmungsvorgang von diesem bewussten Denken segmentieren, so könnten wir die Erfahrungsdaten nicht mehr als etwas deuten. Folglich wären wir nicht nur «without consciousness of what they signify» (s. o.), sondern diese Empfindungen wären überhaupt unbegreiflich, da sie ohne Bewusstsein wären. Bewusstlos kann sich nicht einmal das Ich fixieren. Und so bricht in der rohen Empfindung auseinander, was in der Trennung der Ur=Theilung als Beziehung «Ich bin Ich» artikuliert wird (§4): das Ich links und das Ich rechts vom «bin» wissen nicht um sich als ein und dasselbe - das Ich hat also gar kein Ich. Ohne Ich aber verflüssigt sich das Denken in der Welt wie ein Fluss in einer Meeresmündung: Bewusstlos können wir von dem mutmasslichen Reichtum, welcher sich Ruskins «infantine sight» vielleicht offenbart, nichts wissen - oder zumindest nichts, was für eine kritische Untersuchung von Belang wäre. Was wäre wohl eine Empfindung, die nicht bewusst werden kann? Es gibt keine Antwort auf die Frage. Jede Antwort würde das bewusst machen wollen, was eben nicht bewusst werden kann: die vom Bewusstsein abgeschnittene Empfindung. Die «flüssigen Gedanken» rohen Empfindens können die Gefahr des Be‐ griffs, das Neue und Besondere vom Gedanken abzuziehen (§9), nicht kompen‐ sieren. Denn für sich genommen bleiben die rohen Empfindungen ebenso abstrakt wie die empfindungslosen Begriffe: Während die Abstraktheit des Begriffs darin besteht, in der Prädikation an der einzelnen Empfindung das Besondere auszusparen, abstrahiert die rohe Empfindung jeden allgemein fixierbaren Gehalt. - Und dennoch muss Empfindung wirklich auch vom Denken unabhängig funktionieren können. Das muss so sein, weil wir die Welt nicht nur nach der Massgabe des Denkens denken, sondern sie auch in ihrer Selbständigkeit erkennen. Andererseits darf diese Selbständigkeit, wie wir jetzt gesehen haben, nicht ins Bewusstlose absinken. Stattdessen liegt die These nahe, dass die veranschlagte Autonomie der Wahrnehmung gerade im Kontrast zum Denken erst lebendig wird: Der in der Autonomie der Wahrnehmung brachliegende, sinnliche Reichtum wird, wie das Folgende zeigt, erst im Konflikt mit dem Denken aussagekräftig. Gehen wir zunächst von der Prämisse aus, dass die Wahrnehmung wirk‐ lich «über eigene Zugänge zu Sinngehalten verfügt», wenn sie sich «aus den Fesseln begrifflichen Feststellens befreit hat.» 13 Wir können für diesen freieren Wahrnehmungsmodus eine Terminologie der phänomenologischen Bildtheorie 126 §12 Unschuld des Auges <?page no="127"?> 14 Max Imdahl, Reflexion - Theorie - Methode (= Gesammelte Schriften 3), Frankfurt am Main 1980. S. 92. 15 Ibidem, S. 93. 16 Gundolf Winter, Das Werk als Ereignis. Max Imdahls Texte zur Kunst der Tradition, Frankfurt am Main 1966, S. 17. des 20. Jahrhunderts zu Hilfe nehmen, und von einem «gegenständliche[n], wiedererkennende[n] Sehen» ein «formales, sehendes Sehen» unterscheiden. 14 Während das wiedererkennende Wahrnehmen bzw. Sehen dasjenige am sinn‐ lichen Eindruck fixiert, was durch Begriffe wiederholt werden kann, bleibt das formale Sehen an den Akt des Sehens gebunden und kann nicht wiederholt werden. Mit Hegel haben wir bereits gesehen, dass das formale Sehen offenbar kein unkontrolliertes Schauen meinen kann, weil die Wahrnehmung dadurch nicht mehr wahrnehmbar wäre. Doch wie ist ein formales Wahrnehmen dann möglich? Bildtheoretiker wie Imdahl und Boehm sind der Meinung, dass das for‐ male Wahrnehmen eine «szenische, semantische Komplexität» freilege, welche sich «sprachlich nicht sinnfällig» 15 reformulieren lasse. Wie schon bei Ruskin steht also die These der autonomisierten Wahrnehmung auch hier auf dem Boden einer Sprachskepsis als der Prämisse, dass es im Akt des Wahrnehmens ein «sprachlich nicht zu Übersetzende[s]» gebe, «was sich allein in der An‐ schauungserfahrung wirklich einzuprägen vermag.» 16 Doch diese Prämisse ist unbegründbar: Wenn sie begründet ist, so ist sie begrifflich begründet, und eine solche Begründung bedeutet die Aufhebung der Prämisse, weil sie gerade die Annahme eines allem Begreifen transzendenten Sinns ipsu actu widerlegen würde. Bleibt sie unbegründet, so gibt es keinen Grund zu ihrer Annahme. Wenn es daher so etwas wie genuin nichtbegriffliche Anschauungserfahrung gibt, dann muss die Aufgabe ihrer Entdeckung auch eine begriffliche Aufgabe sein. Selbst als Folge der sprachskeptischen Prämisse müsste sogar grosses Vertrauen in das begriffliche Moment des Wahrnehmens investiert werden: Dann müssten wir nämlich nicht der Sinnlichkeit, sondern den Begriffen die nichtbegriffliche Aufgabe zusprechen, das Sinnliche (oder was nicht schon begriffen ist) blosszu‐ legen. Und auf diese Weise koppelt die These von der Autonomisierung der Wahrnehmung diese letzten Endes wieder ans Begriffsvermögen. Wenn es daher ein «formales Sehen» gibt, welches sich zugunsten einer sinnlichen Fülle von der Abstraktion allgemeiner Begriffe befreien kann, so müssen wir Imdahls Unterscheidung wörtlich nehmen und es im Wortsinn von lat. forma verstehen: Ein formales Wahrnehmen ist ein gestaltendes, welches das Wahrgenommene nicht nur aufnimmt, sondern es eben auch durch das Wahrnehmen formt. So ist in diesem gestaltenden Wahrnehmen das Gestaltete 127 §12 Unschuld des Auges <?page no="128"?> 17 Boehm, Die Antwort des Auges, op. cit., S. 27. Mit dem Topos des ‹sonnenhaften Auges› verweist Boehm wohl auf Plotin, der in den Enneaden schreibt: «οὐ γὰρ πώποτε εἶδεν ὀφθαλμὸς ἥλιον, ἡλιοειδὴς μὴ γεγενημένος.» (Plotin, Enneades I-III (= Opera 1), Paris/ Bruxelles 1951, 1.6.9, S. 117) Das heisst in etwa so viel, wie: «Denn niemals hätte das Auge die Sonne gesehen, wenn es nicht selbst sonnenhaft wäre.» Goethe hat daraus die beiden berühmten Verse gemacht: «Wär› nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt› es nie erblicken.» Trotz der Poesie, welche sich hinter der Metapher des sonnenhaften Auges verbirgt, ist Boehms Verweis auf diesen Diskurs meines Erachtens unglücklich gewählt. Denn bei Plotin wie Goethe wird das sonnenhafte Auge zur Metapher für ein Organ, das eine höhere, ewige, geistige Ordnung wahrnehmen kann. Die Lichtmetaphorik legt eine Offenbarungsmythologie nahe, also die Idee, dass hinter dem Offensichtlichen eine sinnhafte Quelle verborgen liege, auf die sich das sonnenhafte Sehorgan richten solle. Jedes kritische Denken muss eine solche Annahme von sich weisen. Ich werde auf diesen Aspekt im Kapitel 17 zu Methodenfrage und Dialektik zurückkommen. 18 Kant, KrV, B134. und Wahrgenommene maximal von dem Wahrnehmen abhängig, und erst das Wahrnehmen bildet das Wahrgenommene und entdeckt es neu. Im Gegen‐ satz zur primitiven Empfindung bedeutet diese Entdeckung gerade nicht die Befreiung vom eingreifenden Bewusstsein, sondern sie betont, inwiefern das Bewusstsein in den Wahrnehmungsprozess eingebunden ist. Boehm spricht in diesem Zusammenhang vom «Topos des sonnenhaften Auges»: «Die Ordnung des Sichtbaren entsteht erst mit dem Sehen - im Zuge einer Erfahrung, die sich zwischen dem Auge und dem Sichtbaren abspielt. Es ist keine fertige Welt (eine solche liesse sich abbilden), sondern eine, die sich fortwährend umbildet.» 17 In diesem Zustand der formalen oder gestaltenden Wahrnehmung lassen wir uns von Sinneseindrücken nicht einfach berieseln. Vielmehr ist die Sinnlichkeit an der Bildung der Welt, zumal sie sich durch sie «fortwährend umbildet», massgeblich beteiligt; und wir müssen vor allem um diese Beteiligung wissen, damit sie erst zu jener «Erfahrung» gelangt, «die sich zwischen dem Auge und dem Sichtbaren abspielt.» (s. o.) Und das heisst, wir brauchen ein Ich oder eine Ur=Theilung, welche die zerstreuten Sinnesdaten sammelt und für uns zugäng‐ lich macht. Wogegen dieses Ich noch bei Ruskin in «patches of colours» oder mit Hegel in lauter «Itzte» fragmentiert ist, also nach Kant ein «so vielfärbiges verschiedenes Selbst [ist], als ich Vorstellungen habe» 18 , geht es jetzt um eine Wahrnehmung, die - wenngleich sie nicht begrifflich ist - um sich selber weiss. Damit macht Boehm, anders als Ruskin, in der Passivität der unschuldigen Wahrnehmung auf eine Aktivität des Subjekts aufmerksam. Das macht einen grossen Unterschied in Bezug auf die «Unschuld» dieser Erfahrung: Dann 128 §12 Unschuld des Auges <?page no="129"?> 19 Die in der Kantforschung gern getroffene Unterscheidung zwischen «Konzeptua‐ lismus» und «Non-Konzeptualismus» scheint vor diesem Hintergrund hinfällig zu werden. Zur Kontroverse, siehe u.a.: John McDowell, Mind and World, Cambridge (MA) 1996, S. 39; Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, op. cit., S. 17-80; Chris Peacocke, Nonconceptual Content Defended (= Philosophy and Phenomenological Research 58), New Jersey 1998, S. 381-388 und ders., Does Perception Have a Noncon‐ ceptual Content? (= Journal of Philosophy 98), New York 2001; Lucy Allais, Manifest Reality. Kant’s Idealism and his Realism, Oxford 2015; Hannah Ginsborg, Was Kant a Nonconceptualist? (= Philosophical Studies 137/ 1), Berlin 2008; Robert Hanna, Kant and Nonconceptual Content (= European Journal of Philosophy 13), New Jersey 2005, S. 246; Robert Pippin, What is ‹Conceptual Activity›? , Oxon 2013, S. 98. fokussiert sie gar nicht auf dasjenige in der Welt, was an ihr genuin unbegrifflich ist und nur gegeben wird, sondern im Gegenteil: was in ihr von uns gemacht ist. Dieses Ergebnis ist erstaunlich. Wir sind von einer nichtbegrifflichen Seh‐ erfahrung ausgegangen, in der die Begriffe zugunsten der Eigendynamik des Wahrnehmens liquidiert werden sollten. Jetzt hat dieser Versuch gezeigt, dass die Autonomisierung des Wahrnehmens nicht nur ein Leiden bedeutet, sondern gerade die aktive Beteiligung der Wahrnehmung am Weltzugang betont. Wenn es in der Kritik (nach Kant) um die transzendentale Fragestellung geht, inwiefern Empfindungen begrifflich expliziert werden können, so ist die Frage, ob es daneben auch vom Denken ganz losgelöste Vorstellungen wie Ruskins «patches of colours» (s. o.) geben kann oder nicht, im Grunde keine kantische, und vor allem: keine kritische Frage. Es ist weder eine kritische These, dass alle Vorstellungen jederzeit bewusst sind, noch ist es eine kritische These, dass wir Welt bewusstlos empfinden können. 19 Vielmehr geht es in der Kritik um die Möglichkeit, aus Empfindung Erscheinung zu machen. Es geht also um die Be‐ ziehung der Welt zum Bewusstsein, und um die Frage, wie sie dem Bewusstsein einwohnen kann, sodass die im Zuge der Kritik erhobenen Geltungsansprüche grundsätzlich erfüllbar sind. In der Beantwortung dieser Frage spielt ein rohes Empfinden keine Rolle. Jede Empfindung ist nur relevant in ihrer Möglichkeit als Erscheinung. (§9) Und jetzt liegt der Zusammenhang von Kritik und der Unschuld des Auges offen zutage: Deshalb, weil Empfindung durch Kritik nur als mögliche Erscheinung in Betracht gezogen wird, liegt Empfindung selber abseits dieser Möglichkeit (der Erscheinung). Das heisst: Unter der spezifisch kritischen Fragestellung ist die Nichtbegrifflichkeit oder «Unschuld» von Empfindung nur deshalb von Interesse, sofern sie die Möglichkeit, begrifflich zu erscheinen, mitreflektiert. Letzteres ist für die Fragestellung dieses Kapitels ausschlaggebend. Halten wir dies noch einmal fest: Den bisherigen Überlegungen gemäss (§§1-3) ist eine Frage genau dann kritisch, wenn sie sich auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit 129 §12 Unschuld des Auges <?page no="130"?> 20 Vgl. Kant, KrV, B134. richtet. Die Frage, unter welchen Bedingungen die äussere Welt dem inneren Bewusstsein einwohnen kann, sodass sich aus ihr Gedanken formen lassen, ist also eine kritische Frage. Sie ist sogar, weil sie die Möglichkeit von Kritik selbst betrifft, die kritische Frage schlechthin. Nun lautete die mit Kant im neunten Kapitel ausgearbeitete Antwort auf diese Frage etwa so: Die äussere Welt kann dem Bewusstsein einwohnen, weil wir unmittelbar mit ihr in Kontakt stehen können. Diese unmittelbaren Kontaktstellen sind sinnliche Empfindungen, im kantischen Vokabular: Anschauungen, die wir begrifflich strukturieren können. Kurz: Die Welt wohnt unserem Bewusstsein ein, weil sie uns irgendwie erscheint. Was aber ist Erscheinung? Erscheinung ist Empfindung unter der Massgabe des Denkens. Anders gewendet: Was ist Empfindung? Empfindung ist, was er‐ scheinen kann. Diese beiden Gesichtspunkte - Empfindung und Erscheinung - gehören im kritischen Blick untrennbar zusammen. Dabei geht es, wie gesehen, nicht darum, das eine im anderen aufzuheben, also Empfindung Erscheinung gleichzumachen, sondern beides in deren Selbständigkeit gegeneinander zu halten, um sie am jeweils anderen der Prüfung zu unterziehen. Berührungspunkt beider gegeneinander gestellten Perspektiven ist die kritische Frage selbst, also ob Erscheinung auch Empfindung ist, oder (was dasselbe ist): wie Empfindung Erscheinung sein kann. Kritik vermag es, jene Lücke offen zu halten, die nötig ist, um die «Vielfärbigkeit» 20 der Wahrnehmung erfahrbar zu machen, ohne den kritischen Abstand zu ihr zu verlieren. Hieraus ergibt sich auch der philosophische Grund, weshalb das zu Beginn dieses Kapitels mit Ruskin durchgeführte Experiment einer Korrektur bedarf: Die Rede von absolut gegen das Denken emanzipierter Empfindung wäre im Lichte der Kritik unsinnig. Es gäbe nichts dazu zu sagen. Was Ruskin mit der «Unschuld des Auges» umschreibt, funktioniert (zumindest für das kritische Denken) nicht so, wie Ruskin selbst das gedacht hat: ohne jede Bewusstseinstätigkeit. Erst im Zusammenhang mit der Bewusstseinstätigkeit wird «Unschuld» aussagekräftig. Denn «unschuldige» Empfindung ist nicht deshalb unbegreiflich, weil sie uns die Welt zu zeigen vermag, wie sie ist, ohne dass wir sie denken, sondern vielmehr zeigt sie, dass wir sie denken können. Diese Einsicht ist zentral. Die Unschuld der Wahrnehmung ist dem Denken gegenüber transzendent, weil sie möglicher Gedanke ist: Bedingung der Möglich‐ keit, mit unserem Denken die Welt zu berühren, sie also zu begreifen. Dasselbe lässt sich auch so formulieren: Was wir im rohen Empfinden «in uns» haben, ist nur eine mögliche Vorstellung: Das ist «etwas für mich, ohne etwas für mich 130 §12 Unschuld des Auges <?page no="131"?> 21 Vgl. Béatrice Longuenesse, I, Me, Mine. Back to Kant, and Back Again, Oxford (UK) 2017, S. 179. Zur Stufenleiter der Vorstellungen, siehe: Kant, KrV, A320/ B176f. 22 Kant, KrV, A45/ B75. 23 Dazu: Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, op. cit., S. 17-80 und Stefanie Grüne, Blinde Anschauung, Frankfurt am Main 2009, S. 33. 24 Vgl. Longuenesse, I, Me, Mine, op. cit., S. 178. zu sein.» 21 Nach einem kantischen Bild - es lässt sich gut an die Metapher vom Auge bei Ruskin, Imdahl, Boehm anschliessen - sind Vorstellungen der ersten Art, also rohe Empfindungen, «blind». 22 Das ist nicht etwa in dem Sinne zu verstehen, dass jemand, der sie hat, sie nicht sieht. Aber sie sind insofern blind, als man ohne die Anwendung entsprechender Begriffe nicht erkennt, um was für Gegenstände es sich handelt. 23 Diese Blindheit, oder eben: «Unschuld» des Auges meint nicht, wie zunächst vermutet, einen bewusstlosen, rein passiven Zustand primitiver Empfindung. Wir müssen sie vielmehr als die maximale und ungehemmte Entfaltung der Möglichkeiten des Begriffs verstehen. «Unschuld des Auges» bedeutet metaphorisch die Ausgestaltung des vollen Spektrums der Empfindungen in Bezug auf das Denken. Also sehen wir mit dem unschuldigen Auge die Welt weder, wie sie an sich ist, noch, wie sie schon gedacht wurde, sondern so, wie sie von uns noch gedacht (und gemacht) werden kann. Unter dem Blick des unschuldigen Auges wird die Welt - und das ist das kritische Moment - in ihrem Potential der Transformation präsent. Dieses potentielle Transformieren ist nun andererseits nicht so zu verstehen, dass wir zuerst Empfindung hätten, woraus dann in einem zweiten Schritt Erscheinung gebastelt würde. Denn es ist nicht so, dass wir aus der Welt machen können, was wir wollen. Sondern die Empfindung ist nur deshalb überhaupt möglicher Gedanke, weil sie für sich genommen Elemente des Bewusstseins aufweist. 24 Und erst durch diese konstitutive Beziehung der Empfindung zum Bewusstsein kann die Unschuld des Auges Widerstand leisten gegen den abstrahierenden Begriff. Der Widerstand liegt in der Unberührtheit des Blicks; ein Blick, der sich von den bekannten Konzepten loslösen und der Sache nähern kann, aber ohne sich zu vergessen. Weil unser Wahrnehmen nicht selbstvergessen, sondern (zumindest der Möglichkeit nach) bewusst operiert, stellt sich die Welt als eine immer wieder neu aufzubringende Aufgabe dar. Die Aufgabe gilt der Bemühung, die Dinge nicht sofort zu begreifen, sondern das Denken gezielt zurückzunehmen um das Wahrgenommene auch als Empfindung in der Schwebe zu halten, und ihm damit die Freiheit zu schenken, eine Selbstaussage zu entfalten. Dabei ist zu betonen, dass diese Aufgabe - wohl gegen die Annahme Imdahls und Boehms - keine Skepsis gegenüber der begrifflichen Artikulation von Wahrnehmungen 131 §12 Unschuld des Auges <?page no="132"?> enthält. Schliesslich ist die Unschuld der Wahrnehmung, wie gesehen, nur in Be‐ ziehung zum begrifflichen Vermögen sinnvoll. Die Aufgabe besagt vielmehr, die Selbstaussage der Dinge, wie sie uns die Sinnlichkeit unabhängig vom Denken gibt, mit dem Selbstbewusstsein des Denkens, welches ein begriffliches ist, zu kontrastieren. Erst im Kontrast bricht das kritische Potential der Transformation durch. Diese Aufgabe der Kontrastierung ist nicht auf die Tätigkeit des Sehens allein beschränkt. Viel umfassender betrifft sie alle Sinne und den sinnlichen Weltzugriff als solchen. Das «Auge» dient hier als Metapher; Ruskin spricht von der Unschuld des Auges und vom kindlichen Blick, Imdahl vom sehenden Sehen, Boehm (in Rückgriff auf Plotin) vom sonnenhaften Auge, Kant von der Blindheit der rohen Empfindung. Diese Ausdrücke haben sich allesamt als Namen für einen Weltzugriff herausstellen lassen, der mit dem begrifflichen konkurriert. Entgegen der Versuche Ruskins, Imdahls und Boehms, haben wir aber gesehen, dass die Konkurrenz von Sinnlichkeit und Begriff unentscheidbar bleiben muss: Das begriffliche Vermögen darf nicht zugunsten eines nichtbegrifflichen Wahrnehmens aufgegeben werden. Vielmehr will Kritik die Konkurrenz der beiden Seiten steigern: Dann öffnen sich die Sinne so, dass ihre Unschuld zum Stachel wird gegen den abstrahierenden Begriff, indem die Sinne sich gegen den Begriff stellen - aber nicht etwa, um die Anstrengung des Begriffs zu unterbinden, sondern um auf diese Weise an ihn zu appellieren. 132 §12 Unschuld des Auges <?page no="133"?> 1 Dass die Thematisierung der Phantasie schon Phantasie erfordert, spiegelt sich nicht zuletzt in der ausgesprochenen Heterogenität der bestehenden Literatur zu diesem Thema. Einen guten Überblick in Hinblick auf verschiedene Themenbereiche, nament‐ lich: Poiesis, Erkenntnis, Erleben und Kommunikation, bietet der Sammelband von Alfred Schöpf (Phantasie als anthropologisches Problem, Würzburg 1981). 2 Siehe in diesem Buch §4: Das Negative ist Moment des Selbstbewusstseins, weil sich dieses darin wiederfindet, wo es nicht es selbst ist. §13 Phantasie Kritik geht mit einer Sinnoffenheit zusammen, weil sie Fragen stellt, die keine Antworten kennen. Das kann ebenso in die Verzweiflung führen (§11), wie wir es als Reichtum begrüssen können: Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass sich das Denken durch Kritik zurücknehmen und einen freieren Wahrneh‐ mungsmodus bemühen kann, der für das Neue und Ungewöhnliche empfänglich macht. Im Folgenden soll es darum gehen, inwiefern wir in der Sinnoffenheit das Neue und Ungewöhnliche selbst erschaffen können. Diese Schaffenskraft ist die Phantasie. Das Nachdenken über Phantasie erfordert Phantasie. 1 Wir können über die Unschuld des Auges nachdenken, ohne einen unschuldigen Blick einzunehmen. Jedoch können wir nicht über Phantasie nachdenken, ohne Phantasie zu haben - etwa so, wie die Frage nach dem Denken schon ein Gedanke, und die nach Kritik schon im Ansatz kritisch ist. Phantasie ist, ähnlich wie das Denken, als Gegenstand des Denkens bereits eine Anwendung der zu untersuchenden Merkmale. Sie zeichnet sich somit durch eine ursprüngliche Struktur aus, die sie mit Kritik gemeinsam hat. Diese ist: Reflexion. Reflexion aber ist Selbstreflexion: Sie starrt nicht aufs Negative, sondern spiegelt sich in ihm und findet so zu sich zurück. Die kritische Kraft des Denkens liegt in dieser Spiegelung, da sie bedingt, dass das Denken nur negativ selbstbewusst ist, und also im Selbstbewusstsein über das Selbst hinaussehen muss. 2 In dieser Negativität lebt auch die Kreativität als dasjenige Vermögen, das Denken mit dem in Beziehung zu setzen, was ausserhalb des Denkens liegt, sodass es darin zu sich kommen kann. (§10) Die Rolle der Phantasie besteht nun darin, dieses Ausserhalb zu konzipieren: Indem Phantasie Zustände schafft, die nicht schon sind, erlaubt sie dem Denken, aus der Negativität des Reflexionsverhältnisses herauszutreten und auf es zurückzublicken. Meine These lautet, dass Phantasie - sofern sie sich als genuin reflexiv ausweisen lässt - damit eine zentrale Rolle im kritischen Denken einnimmt: Sie setzt das Selbst ausserhalb seiner selbst, das heisst, ausserhalb <?page no="134"?> 3 Kierkegaard, Krankheit zum Tode, op. cit., S. 33, meine Hervorhebung. 4 Es sei noch einmal betont, dass wir mit Kierkegaard nicht nur über die Urteilsstruktur des reinen Denkens nachdenken, sondern auch über den Menschen: das ist ein sekundäres Verhältnis, nämlich ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist das Verhalten zum Selbst als Subjekt. Dabei betrifft das anthropologische Selbst, wie wir in Kapitel 11 festhielten, den Menschen aber nicht als Individuum, sondern insofern er auch Subjekt ist. Diese Engführung legitimiert die im Folgenden wieder vollzogene Verbindung des existentialen und urteilslogischen Selbst. Wenn ich vom «Selbst» schreibe, so meine ich immer auch das subjektlogische Selbst. der Negativität, die es ist, um von dort aus zu sich zurückzukehren und Selbstbewusstsein zu erlangen, aber ohne dabei ganz sich selbst zu sein. Dies zu entfalten: erstens, dass Phantasie reflexiv, zweitens, dass sie kritisch ist, ist das Ziel der folgenden Überlegungen. Die These, dass Phantasie Reflexion ist, hat Kierkegaard formuliert: «Das Selbst ist Reflexion und die Phantasie ist Reflexion, ist Wiedergabe des Selbst, welche die Möglichkeit des Selbst ist. Die Phantasie ist die Möglichkeit aller Reflexion; […]. Überhaupt ist es das Phantastische, was einen Menschen in eine Art hinaus in das Unendliche führt, dass es ihn nur von sich selbst entfernt und ihn so daran hindert, zu sich selbst zurückzukehren.» 3 Den ersten Gedankenschritt, dass das Selbst Reflexion sei, sind wir im Kapitel zur fundamentalen Unsicherheit bereits gegangen. Dort hatten wir das Selbst des Menschen als einen Akt des Sichselbstsetzens bestimmt, der sich nicht als absoluten Akt versteht, sondern unter einer ungreifbaren Bedingung steht. Diese Bedingung haben wir als das Faktum interpretiert, dass sich das Selbst nicht selbst einholen kann. 4 Das Selbst ist ein abgeleitetes Verhältnis. Aus diesem Grund ist das Selbstverhältnis auch Fremdverhältnis. Kierkegaard schreibt, das Selbst sei «Wiedergabe des Selbst», was wiederum «die Möglichkeit des Selbst» darstelle. Die «Wiedergabe des Selbst» sagt aus, dass das Selbst ein Verhältnis sei. Denn: Gebe ich mich wieder, so stelle ich mich vor mich selbst. Aber ich entäus‐ sere mich auf eine solche Art, dass ich mich, weil ich ich selbst bin, darin zugleich als mich erkenne. Wir können auch sagen: Eine Wiedergabe des Selbst teilt das Selbst derart, dass in der Teilung wieder Verbindung liegt. Dies artikuliert auch das Selbst als Reflexion oder Ur=Theilung in der Formulierung: «Ich bin Ich». Das Ich (links vom «bin») gibt sich als sich selbst (rechts vom «bin») wieder, sodass es sich in der Teilung als dasselbe versteht. (vgl. §4) Die Crux dieser Ur=Theilung liegt, wie gesehen, darin, dass die Verbindung einerseits bedingt, nicht aus sich heraustreten zu können - andererseits die Trennung verhindert, bei sich anzukommen. Das Ich kann weder hier noch dort sich selbst sein, und 134 §13 Phantasie <?page no="135"?> 5 Vgl. Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, op. cit., S. 92 und Wolfgang Janke, Entge‐ gensetzungen. Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard, Ams‐ terdam/ Atlanta 1994, S. 160ff. 6 Vgl. Ralph Szukala, Philosophische Untersuchungen zur Theorie ästhetischer Erfahrung, Stuttgart 1988, S. 38. ist immer erst noch im Begriff zu entstehen: ein Selbstwerden, ohne sich selbst werden zu können. Aus diesem Grund, also weil das Selbst ein Verhältnis ist, das weder bei sich ankommen, noch sich von sich lösen kann, muss es sich zu diesem Verhältnis verhalten. Würde sich das Verhältnis nicht zu sich selbst verhalten, wäre es selbstgesetzt. Aber das Selbst ist nicht durch sich bedingt. Es bleibt sich faktisch. (§1) Und seine Faktizität bedeutet, dass das Selbst in dem Verhalten, welches es ist, sich auch entzieht. Darin liegt nun Kierkegaards Annahme begründet, dass die Wiedergabe des Selbst «Möglichkeit des Selbst» sei: Denn nach der gegebenen Definition des Selbst ist es nur möglich, sich selbst zu sein, wenn das Verhältnis Wiedergabe seiner selbst, das heisst: Trennungsbeziehung oder Ur=Theilung ist. Die in der Wiedergabe liegende Trennung ist Bedingung dafür, sich zu sich verhalten zu können - und dieses Verhalten ist das Selbst. Die Wiedergabe seiner selbst in der Trennungsbeziehung zu sich oder die Ur=Theilung ist ein Reflexionsverhältnis. Denn Reflexion ist Scheinen im Negativen als Rückkehr zu sich selbst. (§3) So ist sie unendlich. 5 Würde Reflexion sich verendlichen, hörte sie auf, sich zu sich zu verhalten, also reflexiv zu sein; und so würden wir aufhören, im Verhalten uns selbst zu sein - was unmöglich ist. Reflexion kann kein Ende nehmen, oder jedes Ende kann wieder als Schein ihrer selbst betrachtet werden usf. Verstehen wir das Selbst als Reflexionsverhältnis, bleibt es deshalb prozesshaft und beunruhigt. Diese Unruhe drängt das Selbst über sich hinaus. Im Zuge des bisherigen Gedankengangs hat uns dieselbe Unruhe mehrmals an die Grenze des Denkens geführt: in Jacobis Dunkel, Hamanns Mystik, Hegels Nacht. Nun wird sie auch Herd der Phantasie. Wir müssen aufmerksam sein, dass sich hier nicht wieder die Dunkelheit einschleicht. Der Grund zur Beunruhigung ist die durch Kritik nicht abzuwendende Mög‐ lichkeit, dass unser Denken das Gedachte mitgestaltet. Wer das empfindet, hat einen unschuldigen Blick (§12). Phantasie aber hat, wer transformiert. Phantasie ist also nicht, wie der Blick, der einen Gegenstand braucht, auf das Gegebensein angewiesen, sondern kann ein Vorhandensein im Denken erschaffen, sodass der konkrete Objektbezug irrelevant ist. Es ist wichtig, dass Phantasien die Frage nach der Objektivität nicht einfach verneinen: Die Behauptung, dass es nicht so sei, gehört nicht zum Merkmal einer Phantasie. Sie lässt den Objektbezug offen. 6 Für die Phantasievorstellung ist es gleichgültig, ob sie auch unabhängig 135 §13 Phantasie <?page no="136"?> von ihrem subjektiven Vorgestelltsein existiert oder nicht. Denn «das Phantas‐ tische» ist der Phantasie nicht äusserlich, wie der Gegenstand der Empfindung äusserlich ist. Phantasien finden gar nicht ausserhalb des Phantasierens statt. Es gibt sie nur in der Phantasie. Das heisst, genau komplementär zur Empfindung geht es in der Phantasie nicht um die subjektunabhängige Aussenwelt, sondern um maximal Subjektabhängiges, das Innenleben des Subjekts. - Damit lässt sich der zweite Teil des obigen Kierkegaard-Zitats erschliessen. Kierkegaard schreibt, «das Phantastische» sei dasjenige am Selbstsein, «was einen Menschen in eine Art hinaus in das Unendliche führt, dass es ihn nur von sich selbst entfernt und ihn so daran hindert, zu sich selbst zu‐ rückzukehren.» (s. o.) Im Anschluss an das bisher Gesagte ist klar, dass die Hemmung, «zu sich selbst zurückzukehren», mit der reflexiven Struktur der Phantasie zu tun haben muss. Denn wir haben gesehen: Zu sich zurückkehren kann das Selbst nicht, weil die Reflexion, die es ist, unendlich ist. Umgekehrt ist die Reflexion gerade deshalb unendlich, weil sie das Selbst bzw. weil das Selbst die Wiedergabe seiner selbst ist. Somit hängt die Unendlichkeit der Reflexion oder die Unmöglichkeit, bei sich anzukommen, mit dem Selbstbewusstsein der Reflexion zusammen: damit, dass das Selbst Wiedergabe ist. «Das Phantastische» an diesem Selbstsein ist nun, dass die Möglichkeit dafür, in der unendlichen Reflexion ein Selbst zu stabilisieren, notwendig eine äussere Perspektive einschliesst: Um mich im Reflexionsverhältnis wiedergeben zu können, muss ich mir bewusst werden, dass ich die Reflexion vollziehe. Weil Reflexion ein Selbst bzw. die Wiedergabe des Selbst ist, ist sie selbstbewusst. Doch woher kommt dieses Selbstbewusstsein? Sicher ist, dass wir es nicht durch die Sinne aufnehmen, denn die Sinnlichkeit kann das Äussere nur in seinem Gegebensein, und nicht als Rückkehr zu sich belegen. Diese Rückkehr erfordert noch zusätzlich das Vermögen, äussere Zustände eigenmächtig zu entwerfen; sie also nicht nur hinzunehmen, sondern zu erschaffen. Das Erschaffen von Vorstellungen ist Aufgabe der Phantasie. Und somit gilt: Um sich in seiner Begrenztheit erfassen zu können, also darin, dass die Gegenstände des Denkens nicht hergestellt, sondern gegeben werden, muss das Subjekt erkennen, Refle‐ xion der Reflexion oder (was dasselbe ist) selbstbewusste Reflexion: Wiedergabe seiner selbst zu sein. Und diese Wiedergabe bedarf der Phantasie, da erst durch sie das Äussere nicht nur als Fremdes, sondern auch als Eigenes erfasst wird. Halten wir fest: Reflexion kann ohne Phantasie nicht stattfinden, weil das Selbst, das Reflexion ist, sonst nicht über sich hinaussehen, sich seiner also nicht als Reflexion bewusst werden könnte. Aber ist es umgekehrt möglich, ohne Reflexion zu phantasieren? 136 §13 Phantasie <?page no="137"?> 7 Kierkegaard, Krankheit zum Tode, op. cit., S. 49. 8 Vgl. Pieper, Einbildungskraft und Phantasie, op. cit., S. 58. 9 Kierkegaard, Krankheit zum Tode, op. cit., S. 45f. 10 Vgl. Pieper, Einbildungskraft und Phantasie, op. cit., S. 59. Letzteres geschieht wohl, wenn wir uns im Phantasieren aus den Augen verlieren. So jemand wäre noch keine Geisterseherin, welche die eigenen Einbildungen für objektiv hält (§9), sondern einfach ein Träumer, welcher sich in seinen Gedanken verliert. Kierkegaard gibt als Beispiel den in sich versunkenen Philosophen: «Ein Denker führt einen gewaltigen Bau auf, ein System, ein das ganze Dasein und die Weltgeschichte und so weiter umfassendes System - und betrachtet man sein persönliches Leben, so entdeckt man zu seinem Erstaunen dies Furchtbare und Lächerliche, dass er selbst diesen ungeheuren, hochgewölbten Palast persönlich nicht bewohnt, sondern eine Scheune nebenan oder eine Hundehütte oder höchstens die Portierwohnung.» 7 Der Denker - gemeint ist wohl Hegel 8 - missversteht also das Denken, wenn er sich selbst vergisst. Er hängt dann einer Phantasiewelt nach, einem «gewaltigen Bau», der vielleicht sogar «ein das ganze Dasein und die Weltgeschichte und so weiter umfassendes System» bildet. Indem er sich aber darin verliert, und nicht zu sich zurückkehrt, gibt er sein Selbst auf, das darin besteht, sich zu sich selbst zu verhalten. Sich zu sich selbst zu verhalten, sich selbst zu sein, beinhaltet, auch die phantastischen Vorstellungen ins Verhältnis zu rücken, kurz, kritisch zu denken. Und Kritik erfordert Phantasie - wenngleich mit Mass. Denn «ohne Phantasie, wie der Spiessbürger immer ist, lebt er in einem gewissen trivialen Inbegriff von Erfahrungen, davon wie es zugeht, was da möglich ist, was wohl zu geschehen pflegt, ob der Spiessbürger im übrigen Bierzapfer oder Staatsminister ist. […] Doch der Spiessbürger hat keine Phantasie, will sie nicht haben, verabscheut sie. Hier gibt es also keine Hilfe. Und wenn dann das Dasein manchmal mit Schrecknissen hilft, welche die Papageien-Weisheit der trivialen Erfahrung überschreiten, dann ver‐ zweifelt die Spiessbürgerlichkeit, das heisst, dann wird offenbar, dass sie Verzweiflung war.» 9 Die Existenzen des träumerischen Philosophen und die des Spiessbürgers sind - obwohl gegensätzlich - beides verzweifelte Existenzen: der Spiessbürger, weil er nicht über sich hinaus sehen kann, der träumerische Philosoph, weil er auf das Negative nur als Nichtselbsthaftes fixiert ist. Beide Existenzen der Spiess‐ bürgerlichkeit und Verträumtheit finden nicht zu sich zurück 10 und fallen damit aus dem Rahmen kritischen Denkens heraus. Erst in Bezug aufs Bewusstsein, 137 §13 Phantasie <?page no="138"?> 11 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt am Main 1933-41/ 2011, S. 237. als Rückkehr zum Selbst, können Phantasien ihr kritisches Potential entfalten. Dann «phantasieren» wir nicht ungehemmt, wie der selbstvergessene Philo‐ soph. Und wir phantasieren auch nicht ins Nichts hinaus, sondern in Bezug auf das, was da ist. Der kritische Umgang mit dem Phantastischen sucht es dort, wo die Be‐ griffe das Denken herausfordern. Dann geht es im Phantasieren nicht darum, Luftschlösser zu bauen, sondern um eine Provokation der Möglichkeiten des Denkens. Das Phantastische der Kritik ist der Entwurf von Vorstellungen, die gegen das Bekannte den ist-Zustand überspannen. Damit macht Phantasie die (durch das Gegebensein des Sinnlichen bedingte) Begrenztheit des Denkens zur Freiheit: Indem Phantasie das Selbstbewusstsein dafür schafft, auch unabhängig vom Vorhandensein der Welt Vorstellungen zu bilden und Welten zu erfinden, die alles Gegebene überflügeln, stellt sie dem status quo die Möglichkeit seiner Veränderung entgegen. Diese kritische Funktion der Phantasie ist genauer wie folgt zu verstehen. Den Zusammenhang von Phantasie und Kritik hat Max Horkheimer in seinem Aufsatz zur traditionellen und kritischen Theorie herausgearbeitet. Zur «kritischen» Theorie, also zu der Theorie, welche zur Transformation des Traditionellen oder dessen befähigt, was schon ist, gehört nach Horkheimer Phantasie. Er schreibt: «Das eine hat dieses Denken [,welches zur Transformation befähigt, J.W.] mit der Phantasie gemeinsam, dass ein freilich aus dem tiefsten Verständnis der Gegenwart entspringendes Bild der Zukunft auch in solchen Perioden Gedanken und Aktionen bestimmt, in denen der Gang der Dinge weit von ihr wegzuführen und jede Lehre zu begründen scheint als den Glauben an die Erfüllung. Zu diesem Denken gehört zwar nicht das Willkürliche und vermeintlich Unabhängige, aber der Eigensinn der Phantasie. Innerhalb der avanciertesten Gruppen ist es der Theoretiker, der diesen Eigensinn aufbringen muss.» 11 Das kritische und zur Transformation befähigende Denken stellt das, was da ist - inklusive sich selbst - ins Offene. Diese strukturale Offenheit des kritischen Denkens bedeutet nicht, wie Horkheimer hervorhebt, «das Willkürliche und vermeintlich Unabhängige.» Sie hat vielmehr damit zu tun, was da ist: «aus dem tiefsten Verständnis der Gegenwart» wird der Zustand entworfen, der 138 §13 Phantasie <?page no="139"?> 12 So auch Marcuse: «Die kritische Funktion der Phantasie liegt in ihrer Weigerung, […] zu vergessen, was sein könnte.» (Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1955/ 77, S. 148). 13 Analog führt Walter Schulz die Phantasie mit der Fähigkeit des Denkens eng, das, was ist, zu problematisieren, d. h. sich darin zu irren oder es zu bezweifeln. Denn zum Zweifel gehört die Vorstellung von einer zweiten Welt oder einer weiteren Schicht der Wirklichkeit, die nicht schon vorgegeben ist. Zum Zweifel gehört, eine Vorstellung durch Phantasie hervorzubringen. So ermöglicht Phantasie das aktive Denken, den Jetzt-Zustand in Gedanken übersteigen zu können - und sie setzt zugleich das Zeichen der Ohnmacht, weil sie keinen festen Halt gibt; Phantasie ist, wie Reflexion, unendlich. (vgl. Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens, Pfullingen 1985, S. 302ff. und S. 313f.). nicht mehr oder noch nicht da ist, aber da sein könnte. 12 Ein Bild dessen zu malen, was da sein könnte und noch nicht da ist, ist nach Horkheimer eine Sache der Theoretiker. Das ist einleuchtend, da wir nur in Gedanken über das Vorhandene hinaus auch Vorstellungen kreieren können, die nicht in einer korrespondierenden Empfindung gründen. Während aber Phantasie das theoretische Denken stimuliert, setzt theoretische Arbeit der Phantasie eine Grenze: Würden Phantasien die Möglichkeiten des Denkens sprengen, so könnten sie uns nicht bewusst werden, und so hätten wir niemals Phantasien. Diese Grenze des Bewusstseins ist daher für Phantasien konstitutiv: Anders als das sinnlich Empfundene gibt es Phantasien, wie gesagt, nur in unserer Vorstellung. Das bedeutet keine Beeinträchtigung. Vielmehr werden Phantasien durch jene Grenze zuallererst Aspekte des Bewusstseins. Als Aspekte des Bewusstseins sind Phantasien zwar nicht objektiv, aber sie sind dennoch mehr als Luftschlösser: «Phantasie haben heisst nicht, sich etwas auszudenken», soll Thomas Mann einmal gesagt haben: «Es heisst, sich aus den Dingen etwas zu machen.» Und darin liegt die kritische Kraft der Phantasie. Wir machen uns aus den Dingen etwas, indem wir uns, in sie versenkend, über sie hinauswagen, um die Möglichkeit zu öffnen, das Fortbestehen des Gegebenen zu durchbrechen. Innerhalb des kritischen Rahmens ist Phantasie daher janusköpfig: Sie blickt einerseits auf den status quo und die Welt, wie sie durch die Sinne gegeben ist. Andererseits weiss sie vom Vorliegenden zu abstrahieren, um sich in die Welt des Möglichen zu vertiefen. 13 Diese Janusköpfigkeit bewahrt uns gleichsam vor der Dunkelheit eines romantisch verklärten Phantasiebegriffs: Für sich alleine betrachtet und ohne Beziehung zur Gegenwart führt Phantasie, wie wir gesehen haben, in den unkritischen Zustand eines selbstvergessenen Philosophen. Ganz ohne Phantasie aber mutieren wir zu bornierten Spiessbürgern. Die ganze Schwierigkeit der Beschäftigung mit dem Phantastischen scheint darin zu liegen, sie ins richtige Bild zu rücken: sie weder zum Ersticken zu bringen noch ihr nachzuhängen. Diese bildende Aufgabe konserviert der Begriff der Phantasie 139 §13 Phantasie <?page no="140"?> 14 Vgl. Schulz, Metaphysik des Schwebens, op. cit., S. 313. 15 Vgl. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, op. cit., S. 143. 16 Boehm, Die Antwort des Auges, op. cit., S. 27. 17 Vgl. Peter Prechtl, Phantasie - Eine ungenützte Möglichkeit, Würzburg 1981, S. 64. auch etymologisch: Die lateinische Übersetzung imaginatio, Einbildungskraft, enthält wörtlich den Begriff dieses Bildens. Aber das Bilden merzt nicht die reproduktive Seite zugunsten der produktiven aus. Schliesslich besteht die kritische Rolle der Phantasie nicht darin, sich etwas einzubilden, und das Denken ist nicht nur ein Bilden. Sondern zum Denken gehört ebenso die Unschuld des Blicks und die Öffnung der Sinne: Während der unschuldige Blick dadurch über das Denken hinaus zu sehen weiss, dass er sich in die Materie eingibt, um immanente Massstäbe an ihr hervortreten zu lassen, vermag das phantastische Denken im Erblickten auch das zu sehen, was ihm nicht imma‐ nent ist, aber werden könnte. Dabei entfalten beide Vermögen ihr kritisches Potential erst, wenn sie zueinander in Beziehung treten: erst das Schweben zwischen Sinnlichkeit und Begriff verhindert, dass wir uns von der Welt durch phantasierendes Denken zu weit entfernen, oder durch passives Hinnehmen den kritischen Abstand zu ihr verlieren. 14 Phantasie gehört also wesentlich zur Kritik, indem sie im Gegebenen das Nichtgegebene, im Anschaulichen das eigens Kreierte ausfindig macht. 15 Dem gestaltenden Sehen, von dem ich oben sprach (§12), können wir damit ein gestaltendes Denken zur Seite stellen. Den Zusammenhang der beiden Gesichter des Januskopfes, Unschuld des Blicks und Phantasie, stiftet die Kreativität des kritischen Subjekts. Sie erlaubt einen Blick auf die Welt wie auf ein vielschich‐ tiges Gemälde, das die Dinge zeigt, wie sie sind, ohne nur am Offensichtlichen haften zu bleiben. Das Gemälde setzt auch Vorstellungen davon frei, wie wir in das, was ist, eingreifen können. Solche Veränderung wäre ohne Phantasie als Fähigkeit, Vorstellungen zu kreieren, die nicht schon da sind, nicht möglich. - Und damit lassen sich beide Kapitel zur Unschuld des Auges und zur Phantasie in einer Feststellung zusammenführen: Die Welt der Kritik ist keine fertige Welt - «eine solche liesse sich abbilden» -, sondern sie ist eine Welt, die sich «fortwährend umbildet.» 16 Und die Bildung und Umbildung, das Gestalten der Welt geschieht auch durch unser Denken und Urteilen. 17 Das kritische Denken ist ein Denken, das sich dieser Verantwortung annehmen muss. 140 §13 Phantasie <?page no="141"?> §14 Der kritische Akt Unschuld und Phantasie retten nicht vor der Einsicht in die Unmöglichkeit, den eigens erhobenen Anspruch zu erfüllen. Sie kehren die drohende Verzweiflung und Sinnlosigkeit nicht in ihr Gegenteil um. Aber indem sie Ausblick bieten auf ein reiches Denken, das mehr enthält als das, was wir schon kennen, eröffnen sie die Möglichkeit, uns von dem, was schon ist, teilweise zu befreien. Dabei ist wichtig, dass gerade die Radikalität dieser Befreiung darin besteht, dass sie nur teilweise durchführbar ist: Wie die beiden voranstehenden Kapitel gezeigt haben, kann das kritische Subjekt weder im unschuldigen Blick noch in der Phantasie ganz es selbst sein, weil es vom Schein des Gedachten nicht abzusehen weiss, der alles Gedachte immer auch als Gemachtes kennzeichnet. Unschuld und Phantasie stellen deshalb keine Entlastung vom Sinnverlust kritischer Tätigkeit dar, sondern werfen das Subjekt immer wieder von Neuem auf ihn zurück: Kritik sucht Phantasie und Hingabe, Erscheinung und Empfindung, Kreiertes und Gegebenes. Aber sie will keines ganz, sondern jedes nur als Sprachrohr des anderen. Im Gegebenen sucht Kritik das Neue des Begriffs, im Begriff das Unerwartete des Gegebenen. Auf diese Weise immer auf das Negative zu gehen, erfordert: Synthesis. Synthesis heisst hier, das Unterschied‐ liche zusammen zu stellen - also das Verhältnis zu generieren, welches die Unterschiedenheit der Momente bewahrt. Ich möchte in der Öffnung dieses Verhältnisses einen Augenblick verharren und die Gelegenheit nutzen, um mit dem Begriff der Synthesis einige Fäden der bisherigen Argumentation wieder zu verknüpfen: das Selbstbewusstsein, das Urteilen, und dessen Möglichkeit des Fehlgehens. Wo die Fäden zusammen‐ führen, liegt das Augenmerk auf der Spannung, die nur als jene Anstrengung zu beschreiben ist, in der Schwebe zu halten, was sich negiert; zu tun, was aufgegeben ist. Dieses Tun, die Synthesis, nenne ich im Folgenden den kritischen Akt. Die Unterschiedenheit der Momente des Denkens wird aufrechterhalten, weil der Gehalt nicht vom Denken hergestellt, sondern auch durch die Sinne gegeben wird. Dass uns Vorstellungen sinnlich gegeben werden, bedeutet, dass wir auf sie keinen Einfluss nehmen können. Das ermöglicht, die Welt in ihrer Selbstän‐ digkeit zu erkennen. Nun haben wir aber gesehen, dass Kritik nicht primär auf dieses Gegebensein geht, sondern auf dessen subjektives Scheinen. In diesem Scheinen wird nun die Welt nicht als gegebene transformiert, sondern insofern wir uns in Gedanken zur Welt verhalten - sie also zum Gegebenen machen. In <?page no="142"?> 1 Cramer, «Gegeben» und «Gemacht», op. cit., S. 46f., teilweise meine Hervorhebung. 2 Ibidem, S. 44. seinem Aufsatz mit dem Übertitel «Gegeben» und «Gemacht» schreibt Konrad Cramer dazu Folgendes: «Nur eine von einem der Vorstellungen fähigen Wesen erzeugte, also auf seiner ‹Selbsttätigkeit› beruhende Vorstellung ist die Vorstellung von einem Objekt seiner Vorstellungen, mithin die Vorstellung von etwas von seinem Vorstellungen Un‐ terschiedenem und Unabhängigem. […] Gerade dadurch, dass ein der Vorstellungen fähiges Wesen mit gewissen Vorstellungen das Bewusstsein davon verbindet, dass sie ihm nicht gegeben, sondern von ihm selbst hervorgebracht sind (dass es sich in An‐ sehung ihrer nicht ‹leidend›, sondern selbsttätig ‹handelnd› weiss), kann dies Wesen überhaupt vorstellen, dass sich Vorstellungen auf etwas beziehen, das von seinem Vorgestelltsein in einer solchen Vorstellung und das heisst auch von seinem Hervor‐ gebrachtsein in einer solchen Vorstellung unterschieden und von ihr unabhängig ist. Daher gilt: Nur etwas von einem ‹Subjekt› Erzeugtes mit Bezug auf von ihm nicht erzeugte, nämlich gegebene Vorstellungen, ist keine ‹bloss subjektive› Vorstellung, sondern die von einem Objekt.» 1 Der Ausgangspunkt dieses Zitats: dass Denken auf Gegebenes aus ist, weil es seine Gegenstände nicht hervorbringen, sondern sie so erkennen will, wie sie auch ohne das Denken (wie sie objektiv) sind, schliesst an die Bestimmung des Objekts aus Kapitel 3 an. Nun meint Cramer aber, dass wir eine Sache nur dann als vom Denken unabhängig denken können, wenn wir uns in Ansehung ihrer «nicht ‹leidend›, sondern selbsttätig ‹handelnd›» wissen. Das ist erstaunlich: Gerade im Zusammenhang mit der Phantasie haben wir gesehen, dass wir uns als Handelnde des Denkens verstehen, wenn Vorstellungen vom Bewusstsein abhängig, also frei kreiert sind. Und diese Kreationen zeichnen sich dadurch aus, die Frage nach der Objektivität offen zu lassen, da an ihnen nichts gegeben und alles gemacht ist; sie sind also Vorstellung von Dingen, die es nur in der Phantasie gibt. Leidend sind wir dagegen, sofern wir die Welt sinnlich empfangen. Das heisst, sofern uns die Freiheit fehlt zu entscheiden, sie vorzustellen oder nicht vorzustellen, da die Welt ohne unser Zutun im Bewusstsein «auf und ab tritt». 2 - Vor diesem Hintergrund wäre nun eigentlich die These naheliegend, dass wir die Welt gerade deshalb erkennen können, weil wir sie nicht erfinden, sondern erleiden; also, weil das Gedachte unabhängig von seinem Gedachtwerden gegeben ist. Cramer argumentiert jedoch umgekehrt. Er meint, dass eben das Gemachtsein von Vorstellungen deren Selbständigkeit be‐ 142 §14 Der kritische Akt <?page no="143"?> 3 Eine ähnliche These formuliert Cohen: «Es ist ein gefährlicher Ausdruck, dass der Gegenstand unmittelbar gegeben sei. Das ist er niemals für die Erkenntnis. Er muss für sie, in ihr immer erst erzeugt werden; seine Gegebenheit selbst muss erzeugt werden.» (Herman Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I (= Werke 8), Berlin 1912/ 1982, S. 78). 4 Kant, KrV, A92/ B125, meine Hervorhebung; Cramer führt dieselbe Stelle in seinem oben genannten Aufsatz als Beleg für seine These an. 5 Cramer, «Gegeben und Gemacht», op. cit., Anm. 3, S. 45. gründet. 3 Cramers These ist: Nur, wenn Vorstellungen erzeugt werden, können sie auf Nichterzeugtes, d. h. auf Gegebenes Bezug nehmen. Und so bleibt die Frage: Welche Vorstellungen werden durch das Denken eigentlich erzeugt? Cramers These besagt natürlich nicht, dass wir die Weltvorstellungen er‐ zeugen. Es geht ja darum, die Welt zu erkennen. Oder in Kants Worten: «Weil Vorstellung an sich selbst (denn von deren Kausalität, vermittelst des Willens, ist hier gar nicht die Rede,) ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht hervorbringt, so ist doch die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdann a priori bestimmend, wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen.» 4 Nach Kant ist eine Vorstellung also «bestimmend» - und das heisst: bestim‐ mend darin, dass sie die Vorstellung von einem Gegenstand erzeugt -, wenn es durch sie «möglich ist», irgendetwas «als einen Gegenstand zu erkennen». Ein Gegenstand ist etwas, «dessen Dasein durch dessen Erkenntnis nicht hervorge‐ bracht wird.» 5 Das Denken kann also nicht einen Gegenstand «seinem Dasein nach» erzeugen (der Gedanke davon, dass ich fliegen kann, lässt mich nicht davonfliegen etc.). Was «a priori bestimmend» hervorgebracht wird, ist daher kein Gegenstand, sondern die Möglichkeit ihn zu erkennen. Das ist in Kants Worten: «Wenn durch sie [also durch die a priori bestimmende Vorstellung, J.W.] allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen.» (s. o.) Das bedeutet: Was das Denken herstellt, das ist nicht der Gegenstand, und auch nicht die Vorstellung von einem Gegenstand, sondern diejenige Vorstellung, die es möglich macht, etwas als einen Gegenstand vorzustellen. Diese Vorstellung, die den Gegenstandsbezug möglich macht, nennt Cramer im obigen Zitat die «Vor‐ stellung von einem Objekt seiner Vorstellungen.» Gemeint ist die Vorstellung von der Vorstellung eines Erkenntnisgegenstands, also die Vorstellung von der Möglichkeit, «dass sich Vorstellungen auf etwas beziehen, das von seinem Vorgestelltsein in einer solchen Vorstellung […] unterschieden […] ist.» (s. o.) Jetzt ist klar, dass Cramers These vom Erzeugen des Nichterzeugten nicht die Dinge, sondern das Begreifen meint, oder genauer gesagt, das Bewusstsein des Begreifens der Dinge. Denn dieses Bewusstsein setzt voraus, dass «die Vorstellung von einem Objekt in der Vorstellung von etwas Gegebenem nicht 143 §14 Der kritische Akt <?page no="144"?> 6 Ibidem, S. 49. 7 Kant, KrV, B93. 8 Vgl. Bubner, Was ist Synthesis? , op. cit., S. 32-37. mitgegeben ist.» 6 Gemeint ist: Weil ich ein Bewusstsein davon habe, dass die Gegenstände in meinen Gedanken nicht die Gegenstände sind, die ich anfassen und wahrnehmen kann, oder anders gesagt, indem ich mir bewusst bin, dass ich denke, setze ich voraus, dass der Gegenstand als gedachter nicht wie der sinnliche Gegenstand wahrgenommen wird. Denn das Selbstbewusstsein des Denkens, dass ich etwas denke, (d. h. dass ich etwas denke, was nicht mit meinem Gedanken kreiert wird, sondern gegeben ist,) beruht auf der Differenz zum Gegebenen: Um einen Gegenstand zu denken muss ich annehmen, dass der Gegenstand auch ohne mein Denken ist, was er ist. Um aber einen Gegenstand so zu denken, dass ich annehmen kann, er sei auch ohne mein Denken, was er ist, muss ich mir zuerst bewusst werden, dass ich denke. Denn ohne dieses Selbstbewusstsein erscheine der Gegenstand ja nur als Setzung des Denkens, und nicht in der Differenz zum Denken als davon unabhängiges Objekt. - Was die synthetische Tätigkeit somit erzeugt, ist nicht die Selbständigkeit der Welt, sondern die Selbständigkeit der Welt als eine gegenständliche Welt, d. h. als mögliche Objekte des Denkens. Die Bestimmung von Gegenständen als Objekte des Denkens erfolgt in Urteilen. In Kapitel 5 zum Urteil haben wir gesehen, inwiefern das Urteil eine besondere Vorstellung ist: Es ist eine Vorstellung, deren Gehalt kein Gegenstand, sondern das Verhältnis anderer Vorstellungen ist, wobei deren jeweiliger Gehalt wiederum nicht aus dem Urteil hervorgeht, sondern unabhängig vom Urteil (durch die Sinne) gegeben wird. In Kants Vokabular ist das Urteil «die mittel‐ bare Erkenntnis eines Gegenstands, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben.» 7 Damit also ein Gegenstand im Urteil überhaupt vorgestellt werden kann, muss er als Gegenstand im Urteil zu bestimmen sein. 8 Daraus ergibt sich, dass die Vorstellung einer Vorstellung als Gegenstand des Urteils, von der Cramer sagt, dass sie im Denken «erzeugt» würde, nicht dasselbe ist wie die Vorstellung eines Gegenstands. Die Vorstellung der Vorstellung als Gegenstand ist die Vorstellung, die eine urteilslogische Bestimmung des Gegenstands erst ermöglicht. Doch welche Vorstellung der Vorstellung könnte dies sein? Die Bedingung dafür, etwas als etwas zu denken, ist den obigen Ausführungen zufolge Apperzeption. Sie ist Synthesis und selber synthetisch (§8), denn sie fasst die notwendige Differenz zum Gedachten im Verhältnis zum Denken und macht damit das Gedachte als das vom Denken Unabhängige, Selbständige vorstellbar. Dieser Ichgedanke ist allem Denken ursprünglich, weil im Denken vom Denken nicht abstrahiert werden kann. Könnte ich die Vorstellung mir 144 §14 Der kritische Akt <?page no="145"?> 9 Ibidem, S. 33. nicht zuschreiben, hätte ich niemals ein Bewusstsein davon, dass ich eine Vorstellung habe. - Und dasselbe gilt nun auch für die Vorstellung von der Vorstellung eines Gegenstands: Ich muss sie, um ein Bewusstsein von ihr zu haben, zum Inhalt «meiner» Vorstellung machen können. Andernfalls «dächte sich das Bewusstsein im Urteil nichts Bestimmtes, sondern fügte nur mecha‐ nisch mehrere gehaltvolle Vorstellungen auf eine nicht weiter zu Bewusstsein zu bringende Weise zusammen.» 9 Weil sich aber das Verhältnis des Urteils, also die Weise der Zusammenstellung von Vorstellungen bestimmen lässt - wir hatten sie bestimmt als: «S ist P» -, weil also das Denken auf sich reflektiert, muss auch diese Synthesis ihrer selbst bewusst werden können. Dieses Selbstbewusstsein ist wiederum nur möglich, weil die Synthesis nicht schon mit den Gegenständen gegeben ist. Wäre sie gegeben, so würde sie in jedem Denkakt neu vorgestellt werden und im Regress von immer neuen Vorstellungen und Synthetisierungsvorgängen untergehen, sodass letztlich die Möglichkeit, überhaupt Vorstellungen zu haben, aufzugeben wäre. Um diesen Regress zu vermeiden und die Möglichkeit zu erklären, wie wir Vorstellungen von Gegenständen haben können, die unabhängig von diesem Vorgestelltsein bestehen, muss im Begriff der Synthesis Selbstbewusstsein enthalten sein. Das heisst: Synthesis muss nicht nur das Gegebene synthetisieren, sondern selber synthetisch, also sich entgegengesetzt sein. Sonst könnte sich das Denken seiner selbst nicht als synthetischer Vorgang bewusst werden und würde in der Selbstbezüglichkeit immer nur sein Negativ hervorbringen, sodass das Ich als Subjekt vom Ich als Objekt abbrechen würde (§4) und wir entweder nie der Tatsache gewahr wären, dass wir denken, oder dass der Gedanke «Ich denke» keine Vorstellung begleiten könnte. Weil Synthesis synthetisch zu sein hat, ist sie - um nicht unendlich viele Synthesen vorauszusetzen - nur als ein Tun denkbar, das nicht auf der Ebene des Gegebenen, sondern des Geleisteten liegt, denn: Was durch sie zum Gegenstand hinzukommt, «kann nicht vom Vorhandenen determiniert sein, so als bestimmten die jeweiligen Vorstellungen ihrem wechselnden Inhalt nach bereits die Form ihrer Verbindung. […] Kant muss auf eine ganz andere, im Bewusstsein gelegene Potenz zurückgreifen, die vor aller Spezifikation des Trennens oder Verbindens anzusetzen ist, und deren freie Entfaltung die Möglichkeit des Urteilens von Fall zu Fall erklärt. Von dieser Potenz 145 §14 Der kritische Akt <?page no="146"?> 10 Ibidem, S. 33, Sperrung im Original. 11 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, op. cit., Θ 1. ist vorab gar nichts zu sagen, als dass sie ein Tun sei, das sich in Verstandesakten äussere.» 10 Demnach ist Synthesis «ein Tun», weil sie selbst synthetisch ist. Gleichzeitig ist sie kein Tun wie das Urteilen, obwohl sie sich «in Verstandesakten äusser[t].» Aber weil sie Urteilen ermöglicht, kann sie selbst kein Urteil oder Verstandesakt sein. Bubner meint aus diesem Grund, dass wir von ihr nur als «Potenz» sprechen können. Damit greift Bubner einen Begriff aus der aristotelischen Philosophie auf: Aristoteles unterscheidet die Potenz, griechisch δύναμις, vom Akt, griechisch ἐνέργεια. 11 Während der Akt die Wirkung eines Tuns beschreibt, geht es in der Potenz zunächst um die Möglichkeit oder die Anlage (Disposition) etwas zu tun. Verstehen wir Synthesis als Potenz, so ist sie «vor aller Spezifikation des Trennens oder Verbindens anzusetzen», zumal sie nicht das konkrete Tun oder Urteilen, sondern die «Möglichkeit des Urteilens» begründet - also nicht beurteilbar ist. Aus diesem Grund sei nun «von dieser Potenz […] vorab gar nichts zu sagen, als dass sie ein Tun sei, das sich in Verstandesakten äussere.» (s. o.) Das Tun äussert sich in konkreten Verstandesakten oder Urteilen als deren Potenz, ohne selber Gegenstand eines solchen Aktes werden zu können. Die Potenz des Denkens, von der Bubner schreibt, also die Bedingung der Möglichkeit, etwas als Gegenstand vorzustellen, ist ursprüngliches Tun. Denn was das Denken «tut», ist nicht die Hervorbringung der Welt, sondern seiner selbst, das ist: das Bewusstsein davon, dass ich denke. Somit reformuliert die Synthesis noch einmal die Urbedingung des Denkens (§1), aber auf der Ebene des Bewusstseins, als Handlung schlechtweg und ipso actu: In Ansehung der Synthesis können wir uns niemals leidend verhalten, sodass sie immer erst noch hergestellt werden muss, und dieses Herstellen sogar selber ist. Fassbar ist das Herstellen eben nur als Mögliches, und das heisst, sofern es sich am Negativen verwirklicht oder daran, was es nicht schon ist oder hat. Dabei gehört zum Negativen das Moment der Unabhängigkeit von diesem Tun: Weil die Handlung der Synthesis selber nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar (synthetisch) ist, muss sie danach greifen, was nicht gemacht, sondern gegeben ist. Urteile bestimmen die Art und Weise, wie wir das Gegebene in Gedanken ergreifen. Dabei sind Urteile Vorstellungen der Vorstellung von Gegenständen: sie stellen etwas durch den Gebrauch von Begriffen als etwas vor und bringen derart Gegenstände auf ihren Begriff. Diese im Urteil generierte Synthesis besagt 146 §14 Der kritische Akt <?page no="147"?> 12 Cramer, «Gegeben» und «Gemacht», op. cit., S. 57. 13 Ibidem, S. 45. 14 Vgl. Ibidem, S. 50. 15 Vgl. die Unterscheidung der zwei Bedeutungen des Objektbegriffs in Kapitel 9: Dort hielten wir fest, dass das Objekt analog zur Doppelbödigkeit der Apperzeption (§8) ebenso Selbständiges, wie Gemachtes umfasst. Als Selbständiges zeigt das Objekt, wie das Gedachte unabhängig vom Gedachtwerden ist. Als Gemachtes gewährt es die notwendige Verbindung zur Einheit des Selbstbewusstseins. Letzteres öffnet auch die nicht abzuwendende Möglichkeit, in unseren Gedanken falsch zu liegen. also genau: «Ich denke etwas durch den Gebrauch von Begriffen als etwas.» 12 - Weil aber dieses «etwas» nicht an sich schon begrifflich ist, sondern nur als Begriffliches beurteilt wird, steht das Urteil ständig unter Verdacht, das Gedachte nicht richtig zu erfassen. Dieses Problem drängte sich im bisherigen Gedankengang immer wieder auf: Wie können wir sicher gehen, dass es an sich nicht ganz anders ist als gedacht? (§6) Jetzt können wir dieses Problem der Legitimationsbeschaffung, also die Überschreitung des subjektiven Denkens hin zur objektiven Gültigkeit, als Aufgabe jenes ursprünglichen Tuns fassen, welches Synthesis ist: «Gerade dadurch nun, dass die Vorstellung von einem Objekt als die Vorstellung von etwas, das mit seinem Vorgestelltsein nicht identisch ist, nicht als die Vorstellung von etwas Gegebenem, sondern als die Vorstellung von etwas selbsttätig Gemachtem zu beschreiben sein soll, soll sich auch das Argument dafür ergeben, dass die Vorstellung von einem Objekt kein von einem vorstellenden Wesen bloss erhobener Anspruch, sondern ein zumindest grundsätzlich zu Recht erhobener Anspruch ist.» 13 Die zu Beginn dieses Kapitels mit Cramer aufgestellte These vom Gemacht‐ sein des Gegebenen betrifft nicht das Gegebene, sondern die Vorstellung des Gegebenen als Gegenstand des Denkens. Diese Vorstellung der Vorstellung des Gegebenen als Gegenstand des Denkens ist das Urteil. Weil nun das Bewusstsein vom Urteil wiederum denselben Regeln unterliegt, welche die Welt als Objektivität bzw. die Welt in ihrer Subjektunabhängigkeit betreffen, so liegt in der Vorstellung vom Objekt auch die Vorstellung davon, dass ein Unterschied besteht zwischen dem Objekt, insofern es Vorstellunginhalt ist, und dem Objekt, sofern es nicht blosser Vorstellungsinhalt ist. 14 Die Differenz im Begriff des Objekts schafft das Bewusstsein der ursprünglichen Synthesis: die Vorstellung davon, dass dies die Vorstellung eines gegebenen Inhalts ist. 15 Im Zuge der bisherigen Überlegungen hat der kritische Impuls (§1) das Ver‐ trauen in die Direktive der Gewohnheit aufgelöst und Selbstwie Weltbewusst‐ sein in einen Zustand fundamentaler Unsicherheit geführt (§11). Die negative Seite ist die epistemische Ungewissheit und vielleicht Verzweiflung darüber, 147 §14 Der kritische Akt <?page no="148"?> wie die Welt ist. Denken wir kritisch, so können wir niemals abschliessend sicher sein, ob es nicht anders ist als gedacht. Kehrseite dieser Unsicherheit ist das darin liegende Potential, die Welt zu verändern. (§10) Dieses Potential der Transformation betrifft die Welt nicht an sich, aber ihr Verhältnis zu uns. Denn transformiert kann nur werden, was im Machtbereich des Subjekts oder in dessen Scheinen liegt. Da die Welt des Scheins die Welt der Kritik ist, ist die Welt der Kritik eine Welt, die wir mitgestalten. Gestaltend verhalten wir uns im unschuldigen Blick (§12) und in der Phantasie (§13): Einmal lockern wir die fixierenden Begriffe, um die Welt in neuen Konfigurationen wahrzunehmen, einmal denken wir uns Verbindungen aus, welche nicht schon gegeben sind. Dabei liegt die Schwierigkeit nicht nur darin, den Bezug zum Bewusstsein im Abgleich mit der Welt, wie sie ist, nicht zu verlieren, sondern auch darin, den Boden gegenständlichen Denkens so weit wie möglich zu verlassen, ohne aber dem Irrsinn zu frönen. Denn die kritische Kraft des Denkens liegt in einer Kritik des gegenständlichen Denkens. Das bedeutet: Es geht um die Welt der Gegenstände, also um die erkennbare und begriffliche Welt, so, wie sie ist. Aber durch Kritik soll diese Welt nicht einfach beschrieben werden. Kritik sucht vielmehr dasjenige am Gegebenen, was (noch) nicht gegeben ist. Kritik sucht das Neue und Ungewöhnliche der gegenständlichen Welt. Aber so kann die Welt der Kritik durch gewohnte Begriffe nicht erfasst werden: Jede blinde Anerkennung eines Massstabs muss der Selbstverurteilung unterzogen werden und letztlich geltungslogisch fraglich bleiben. - Das hat zur Folge, dass der eigentlich kritische Gehalt, also was die kritische Welt ist, begrifflich schleierhaft bleibt: Das Kritische wird wesentlich als nicht fixierbare Impulsivität, Tatkraft manifest, sodass die Begriffe der Gewohnheit und die kategorialen Konturen ihrer Gegenstände weich werden müssen, ohne sich zu liquidieren. Diese grundsätzliche Beweglichkeit des Denkens ist eine Folge seines impulsiven Ursprungs, worin das Denken selbstbewusst wird und seine Begrenztheit erfährt. Selbstbewusstes Denken soll Unsicherheiten schaffen - aber ohne in Anbetracht derselben zu resignieren oder sich in ihnen zu verlieren, sondern um selbstbewusst, das heisst, um weiter gegen sich selbst zu denken. 148 §14 Der kritische Akt <?page no="149"?> 1 Fichte, Wissenschaftslehre, op. cit., S. 56. §15 Vernichtung Die anfängliche Dissonanz des Denkens (§1) hat sich jetzt zu einem Einspruch fortbestimmt, der so laut ist, dass er das Denken in die Verzweiflung zu führen vermag (§11). Denn er besagt, dass wir nicht abschliessend sicher sein können, ob die Legitimation, die im kritischen Denken beansprucht wird, auch wirklich gewährleistet ist oder nicht. - Weil wir im Denken nicht ausschliessen können, dass es ein Ausserhalb der Kategorien gibt, hat Fichte vorgeschlagen, das Denken zu «vernichten». In der Wissenschaftslehre von 1804 schreibt er: «Und so ist der Standpunkt der bei Besinnung bleibenden W.=L. [Wissenschaftslehre, J.W.] durchaus keine Synthesis post factum; sondern eine Synthesis a priori: weder Sonderung noch Einheit findend, sondern beide erzeugend in demselben Schlage. […] Welches sind ihre Bestandtheile? Die organische Einheit beider ist Construction oder Begriff, und zwar der absolute Eine, von nichts Bestehendem abgezogene Begriff, da ja sein eigenes Bestehen an sich, daher das Bestehen alles Begreiflichen geläugnet wird. Ferner, die Construction als Construction wird nun durch die Evidenz des für sich Bestehenden geläugnet; also wird durch diese Evidenz grade das Unbegreifliche, als Unbegreifliches, und schlechthin nur als Unbegreifliches, und nichts mehr gesetzt; gesetzt durch die Vernichtung des absoluten Begriffes, der eben desswegen, damit er nur vernichtet werden könne, gesetzt sein muss.» 1 Zunächst ist anzumerken, dass Fichte hier nicht von bestimmten Begriffen ir‐ gendwelcher Gegenstände, sondern von «de[m] absolute[n] Eine[n]», dem Be‐ griff schreibt, also vom Begriff, der sich selbst begreift. Das «absolute Eine» ist der sich vollständig begreifende Begriff, sich durchleuchtendes Denken. (Wo Fichte von «dem Begriff» schreibt, spreche ich im Folgenden synonym vom sich denkenden (begreifenden) «Denken».) Fichtes «Standpunkt» ist nun derjenige einer Wissenschaftslehre oder «Synthesis a priori»: er interessiert sich nicht für irgendeine Wissenschaft, sondern für die Lehre von der Wissenschaft überhaupt. Die Wissenschaftslehre ist zwar eine Wissenschaft, aber eine solche, die von der Wissenschaft handelt. Das kennzeichnet Fichtes «Standpunkt» im Anschluss an bisher Gesagtes als kritischen: Wissenschaftslehre ist die Wissen‐ schaft davon, wie und ob überhaupt etwas gewusst werden kann. In diesem Sinne ist «Wissenschaftslehre» ein anderer Titel für denselben Prozess, den <?page no="150"?> 2 Nach Fichte gilt: «Wissen ist construierend, also genetisch in sich selber», weil das Wissen um sich selber wissen muss, um Wissen zu sein. Vgl. Fichte, Wissenschaftslehre, op. cit., S. 43. ich «Kritik» nenne: Reflexion auf die Bedingungen der eigenen Möglichkeit. (§§2-3) Von der Wissenschaftslehre schreibt Fichte, sie sei «weder Sonderung noch Einheit», sondern Erzeugung von beidem: Sonderung und Einheit «in dem‐ selben Schlage.» Diese beiden Momente, Sonderung und Einheit, können nur dann zusammen sein, wenn wir ihre Einheit als Tun verstehen. Denn ein Tun kann eine Einheit sein, die Entzweiung erzeugt. Ein solches Tun hatten wir im vierten Kapitel bereits unter dem Namen «Ur=Theilung» (§4) kennengelernt: Sie ist ein Tun a priori, also ein ursprüngliches Tun, da ihr keine weitere Aktivität vorauszusetzen ist, die sie wieder teilte, weil die Aktivität selber dieses Teilen ist, das eben darin nur besteht, dass es sich teilt. Dies, die Ur=Theilung, soll nun mit Fichte transparent werden. Das heisst, er will die Einheit eines sich absolut durchleuchtenden Denkens herstellen. Eine solche Einheitsvorstellung hatten wir bisher nur negativ angetroffen. Denn wir gingen davon aus, dass sich das Denken faktisch bleibt und sich also nicht als Einheit, sondern nur als Geteiltes erfassen kann (§1). Fichte schlägt nun einen anderen Weg ein: Die «Bestand‐ theile» des ursprünglichen Tuns der Wissenschaftslehre seien nicht, wie in der Ur=Theilung, Urteilssubjekt und -prädikat, sondern einerseits der «von nichts Bestehendem abgezoge[ne] Begriff» des Begriffs (Fichte spricht, weil für das Wissen der Begriff konstruktiv ist, von «Construction als Construction», d. h. vom Begriff als Begriff 2 ) - und andererseits das daraus hervorgehende Unbe‐ greifliche als «Evidenz des für sich Bestehenden». Fichte versteht die beiden Seiten der Ur=Theilung also nicht urteilslogisch, sondern phänomenologisch. Die Frage ist nun, ob diese phänomenologische Dimension, die «Evidenz», vielleicht Licht in die Dunkelheit des nicht aufzulösenden Zweifels kritischen Denkens bringen kann. Von Fichtes phänomenologischer Perspektive aus betrachtet separiert die Ur=Theilung nicht Dass und Was, Denken und Gedachtes, Subjekt und Prä‐ dikat. Vielmehr teilt Fichte das Denken in ein Moment des Scheiterns und ein Moment des Einleuchtens. Obwohl also das Tun der Wissenschaftslehre struktural als Wiederholung der Ur=Theilung (als Teilungsbeziehung) geltend gemacht werden kann, artikuliert sie es nicht urteilslogisch. Trotzdem müssen beide, das logische Urteil und die phänomenologische Wissenschaftslehre, gleichermassen ursprünglich sein, sofern sie «in demselben Schlage» das Ge‐ teilte, welches sie sind, erzeugen. Das ist wichtig, damit wir hier nicht zwei unterschiedliche Dinge, Urteil und Phänomen, untersuchen, sondern zwei 150 §15 Vernichtung <?page no="151"?> 3 Den Begriff der Phänomenologie und dessen Zusammenhang mit der Urteilslogik werde ich in den Kapiteln 16 f. etablieren. Perspektiven desselben Ursprungs, des urteilenden «Schlage[s]». Von ihm aus geht Fichte aber noch einen Schritt weiter, und wir werden bald sehen, dass ein kritisches Denken diesen Schritt nicht mitgehen darf: Sobald nämlich die Ur=Theilung oder der Erzeugungsvorgang in Fichtes Dialektik von Scheitern und Einleuchten artikuliert sei, werde er evident. Die Evidenz bilde keine urteilslogische, sondern eine «organische Einheit» des Geteilten: Einsicht in das Teilungsverhältnis. Gleichzeitig muss diese Einsicht, obwohl bzw. weil sie als «organische Einheit» beschrieben wird, eine negative sein. Eine negative Einsicht sieht etwas als etwas, was sie nicht sehen kann; sie macht also die Uneinsichtigkeit einer Sache evident. Im gegebenen Kontext wird «negativ evident», dass ein Zustand vor der Teilung (d. h. eine Einheit für das Denken) unmöglich ist (weil Denken die Urtätigkeit der Entzweiung ist). Fichte sagt also mit dem organischen Begriff des «Einleuchtens», dass das Denken gerade in der Einsicht seiner Unbegreiflichkeit selbstevident wird. Weil diese Selbstevidenz aber dem Denken nichts hinzufügt, sondern es nur in seinem Vollzug explizit macht, wird das Denken dadurch als eine absolute Negativität, d. h. als «das Unbegreifliche […] gesetzt.» (s. o.) Der Ausdruck des «Setzens» meint einen Legitimationsprozess, in diesem Zusammenhang den der phänomenologischen Evidenz: Die Setzung ist zuerst Voraussetzung oder positio des Denkens, welches dann im Zuge der reflexiven Untersuchung - Fichte nennt sie «W=L» bzw. Wissenschaftslehre - sich als eine legitime Position zu erweisen hat. Das Unbegreifliche ist also die Einsicht in die Setzung des Denkens: die Evi‐ denz, dass die Reflexion des Denkens sich nicht vollenden kann. Reflexion oder das Denken des Denkens und das Unbegreifliche gehören nach Fichte unzer‐ trennlich zusammen: Das Unbegreifliche ist die «Evidenz» der Unmöglichkeit, das Denken zu denken (vgl. §1). Dass aber das Denken sich nicht vollständig denken kann, heisst eben mit Fichte nicht notwendigerweise, dass es nicht trotzdem evident werden kann. Denn gerade dadurch, dass die Unmöglichkeit dieser Denkbarkeit negativ verständlich ist, wird sie mit Fichte offenbar. Die Evidenz kann nun keinen Gedanken bilden - denn sie beinhaltet ja die Einsicht in Undenkbares. Und jetzt ist auch klar, weshalb Fichte die «Evidenz» nicht urteilslogisch, sondern phänomenologisch auffassen muss: 3 Phänomenologisch wird durch die Negativität des Denkens, die das Denken ist, «gerade das Unbegreifliche, als Unbegreifliches, und schlechthin nur als Unbegreifliches, und nichts mehr gesetzt.» (s. o.) Die phänomenologische Einsicht muss des‐ 151 §15 Vernichtung <?page no="152"?> 4 Fichte, Wissenschaftslehre, op. cit., S. 57, meine Hervorhebung. halb «durch die Vernichtung des absoluten Begriffes» (s. o.) erfolgen, weil sie evident macht, was genuin unbegreiflich ist. So lautet die phänomenologische Forderung des sich denken wollenden Den‐ kens letztlich: das Denken zu «vernichten». Es ist wichtig, diese Vernichtung wirklich phänomenologisch zu verstehen, sie also nicht mit der urteilslogischen Artikulation zu verwechseln. Schliesslich hören wir mit der Vernichtung des Denkens nicht zu denken auf. Denn die Negativität des Denkens liegt gerade darin, dass das Denken sein Ende (sich selbst) bzw. seinen Anfang nicht denken kann. Die Vernichtung kann nicht das Ende des Denkens meinen, sondern die Einsicht in die Unmöglichkeit, es zu beenden. Und um zu dieser Einsicht zu ge‐ langen, muss natürlich gedacht, oder mit Fichte: der Begriff «gesetzt» werden. Fichte fährt fort: «Und so ist 1) die nothwendige Vereinigung und Unabtrennbarkeit des Begriffes und des Unbegreiflichen klar eingesehen worden, und das Resultat lässt sich fassen in dieser Formel: Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muss der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet werden könne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffes leuchtet das Unbegreifliche ein. […] 2) Nun ist die Unbegreiflichkeit doch nur die Negation des Begriffes, Ausdruck seiner Vernichtung; daher ein aus dem Begriffe und dem Wissen selber herrührendes, durch die absolute Evidenz hinübergetragenes Merkmal. Dies beachtet, und daher von diesem Merkmale abstrahirt, bleibt Nichts an der Einheit übrig, als die Absolutheit, oder das reine Bestehen für sich. 3) Recht wichtig und eingreifend wird dies durch folgende Betrachtung: […] Es, das Absolute, ist nicht an sich unbegreiflich: denn dies hat keinen Sinn; es ist nur unbegreiflich, wenn der Begriff an ihm sich versucht, und diese Unbegreiflichkeit ist seine einzige Qualität. […] Klar ist aber, dass sie [diese Unbegreiflichkeit, J.W.] nur in der unmittelbaren Evidenz, der Intuition eintritt, also nur der Exponent und das Correlat des reinen Lichtes, und dieses sein genetisches Princip ist, wodurch nun zuvörderst nach unserer Verheissung aller Evidenz eine genetische Evidenz aufgeht, indem das reine Licht in sich selber als Genesis sich zeigt.» 4 Wir können also die gesuchte Vereinigung des im Denken Getrennten weder leisten (weil Denken immer auch Teilung ist) noch aufgeben (weil das Subjekt in der Teilung wesentlich Beziehung auf sich selbst ist). Und doch meint Fichte, dass die Unmöglichkeit des Anspruchs Inhalt des Bewusstseins werden, das heisst «einleuchten» kann. Auf Fichtes Vernichtung des Begriffs folgt daher wiederum eine Setzung (also die Evidenz) der Vernichtung. Wie wir gesehen 152 §15 Vernichtung <?page no="153"?> haben, kann diese Setzung allerdings kein Urteil oder Begriff sein, weil sie auf das Unbegreifliche geht, an dem der Begriff sich eben vernichtet hat. Das neue positum ist somit nur das «unmittelbare», phänomenologische Bewusst‐ sein, dass im Denken etwas zu denken beansprucht wird, was nicht gedacht werden kann - und das ist: das Denken selbst. Entsprechend liegt die undenk‐ bare Positivität mit Fichte darin, das Undenkbare als Undenkbares (nämlich im Denken) präsent zu machen. An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, neues Vokabular einzuführen: «Präsenz» ist kein Terminus Fichtes. Aber er soll verdeutlichen, dass das, was präsent wird, wie Fichte oben schreibt, «in der unmittelbaren Evidenz, der Intuition eintritt.» Das heisst, die Präsenz des Unbegreiflichen bleibt ohne irgendeine begriffliche Bestimmung ausser dieser: relativ zum Begriff unbegreiflich bzw. relativ zum Denken undenkbar zu sein. Was hier präsent wird, ist kein Objekt eines Denkvorgangs, keine Empfindung und kein Weltausschnitt, auch kein privates Gefühl oder Trugbild, sondern ein absolut abstraktes und nur phänomenologisch präsentes Negativum der Aktivität kritischen Denkens überhaupt. Die Positivität dieser Negation, also das Phänomen oder Bewusstsein von der Vernichtung des Begriffs, die Evidenz des Unbegreiflichen, nennt Fichte «reine[s] Licht». Rein ist ein Licht, das «in sich selber als Genesis sich zeigt.» (s. o.) Aber wie sollen wir uns ein Licht vorstellen, das sich «in sich selber» zeigt? Aus heutiger Sicht mag die - natürlich besonders in der Aufklärung gerne verwendete - Lichtmetaphorik wenig originell erscheinen. Dennoch kann sie uns begrifflich weiterhelfen: Die reflexive Wendung des in sich sich zeigenden Lichts macht auf ein Immanenzverhältnis aufmerksam, welches für Fichtes Ver‐ ständnis des Unbegreiflichen massgebend ist. Immanent ist, was in einer Sache liegt und nicht darüber hinausreicht oder nicht transzendent ist. Die Immanenz des Begriffes ist die Faktizität seiner Reflexivität oder Teilungsstruktur, die nicht zur Einheit mit sich kommen kann, und gleichzeitig für den Begriff des Begriffs konstitutiv ist. Diese Teilungsstruktur kann, weil sie dem Begriff immanent ist, als sein Prinzip nicht begrifflich eingesehen werden. So wäre denn das Licht dieser Einsicht die Unbegreiflichkeit jenes Prinzips und dem Begriff immanent, da sie nichts anderes ist als der Vollzug des Prinzips. Einfach gesagt: Die Einsicht in die Unbegreiflichkeit des Begriffs ist nicht auf einen Untersuchungsfehler oder Mangel an Durchsicht unsererseits zurückzuführen. Sondern die Einsicht in die Unbegreiflichkeit des Begriffs ist der Begriff des Begriffs; es ist die Evidenz seiner Unbegreiflichkeit, die den Begriff zum Begriff macht und ihm somit immanent ist. 153 §15 Vernichtung <?page no="154"?> 5 Fichte, Wissenschaftslehre, op. cit., S. 65. 6 Wolfgang Janke, Kommentar, Frankfurt am Main 1966, S. 108. 7 Ibidem, S. 108; dieselbe Unterscheidung von lux und lumen elaboriert Janke auch in seiner Fichte-Monographie: Janke, Fichte. Sein und Reflexion, op. cit., S. 322f. 8 Fichte, Wissenschaftslehre, op. cit., S. 81, meine Hervorhebung. Interessant ist, dass Fichte der Immanenz nicht etwa Transzendenz, sondern Emanenz entgegensetzt. 5 Der Terminus geht auf einen Grundgedanken Plotins zurück. Demzufolge müssten sich alle Aspekte des Kosmos als Emanation einer absoluten Einheit verstehen lassen. In unserer Lichtmetapher wäre das sichtbare, uns blendende Licht eine solche Emanenz, denn emanent ist die bewusste, «sichtbare» Seite eines immanent geregelten Prinzips. Das ist uner‐ wartet: Offenbar denkt Fichte die Teilungsstruktur des Denkens nicht nur, wie zunächst vermutet, als immanentes Prinzip des Denkens. Ist nämlich das immanente Prinzip bewusst gemacht, so wird es emanent. Emanenz meint das Bewusstmachen einer Immanenz, sodass dieses Bewusstmachen eben deshalb auch immanent ist, weil die Entäusserung aus der immanenten Bewegung des Denkens hervorgeht. Dieses verschachtelte Verhältnis von Immanenz und Emanenz lässt sich auf die Metapher des Lichts übertragen: Licht bedeutet sowohl lumen (Helle), wie auch lux (Strahl). Die Emanenz des Lichts, sein Aufleuchten ist wie ein «aus sich entspringender Strahl» 6 oder das, was ich weiter oben die Präsenz der Undenkbarkeit des Denkens genannt habe: Fichtes Licht ist unmittelbare Präsenz, also nicht begrifflich vermittelt, sondern die Emanenz oder das Bewusstsein davon, dass der Selbstbegriff dem Denken zwar wesentlich ist, aber sein Wesen gar nicht fassen kann. Ebenso bedeutet Licht auch Helle: unmittelbare Erfahrung davon, dass etwas mit einem Anspruch gedacht wird, der denkend nicht erfüllbar ist. Die Helle des Lichts erhellt nicht etwas in einem bestimmten Licht, sondern zeigt nur sich (das Licht) - etwa so, wie wenn wir direkt in die Sonne blicken würden: die Helle reinen Lichts «lässt an ihm selbst keine Bestimmtheit und Sonderung sehen.» 7 Solch strahlendes, helles Licht ist ohne Kontur und Begrenzung und zeigt sich somit «in sich selber». Entsprechend hält Fichte fest, dass es gar nicht um das Licht gehe «und eben so wenig die Einsicht des Lichtes, sondern die Einsicht der Einsicht von dem Lichte steht daher zwischen beiden, der Emanenz und der Immanenz, und davon hätten wir nun eben [zu handeln].» 8 Die «Einsicht der Einsicht von dem Lichte» bestimmt die Emanenz der Imma‐ nenz des Denkens. Die Immanenz des Denkens ist dessen reflexive Teilungs‐ struktur, die es unbegreiflich macht. Also ist die Emanenz die bewusstgemachte Einsicht von dieser Unbegreiflichkeit. So lässt sich eine weitere Bedeutungs‐ 154 §15 Vernichtung <?page no="155"?> 9 «Das Absolute» heisst hier das sich transparente Denken oder der Begriff, der sich ohne Unterschied zu sich begreift. ebene der Metapher vom «Licht» hinzufügen: Licht heisst nicht nur lumen und lux, sondern auch reflexio, also Selbstbewusstsein. Denn im blendenden Licht ist das Licht sein eigener Reflex; es ist das Bewusstsein der eigenen Unbegreiflichkeit - Emanenz oder das Phänomen, dass Licht. Die Unmittel‐ barkeit dieses Phänomens, «dass Licht», welches durch ein reines Dass ohne Was gekennzeichnet sein soll, deutet auf ein Erfahren hin, das nicht mehr im kantischen Sinne kategorial vermittelt ist. Es ist also nicht prädikativ, denn es hat ohne begriffliche Explikation und Beweisführung auszukommen und unmittelbar einzuleuchten, sofern an ihm das vermittelnde Denken vernichtet wird. Die Erfahrung dieses das Denken vernichtenden Lichts führt mit Fichte zu einer Präsenz, welche nicht mehr weiter zu begründen ist. Und so müsste sich das nach Gründen suchende Denken in letzter Instanz vor jener Präsenz verleugnen und sein Prinzip absetzen - ohne aber diesen Umsturz wirklich vollziehen zu können. Letzteres wird für Fichte zum Problem. Denn er will die Selbstvernichtung nicht nur tendenziell verstanden wissen. Vielmehr ist er der Meinung, dass die Selbstvernichtung des Denkens den Aufstieg zur Erfahrung des Absoluten begründe. 9 - Aber das Absolute kann nur evident werden, wenn der Boden des kritischen Denkens verlassen wird. Und dieser Schritt ist kein kritischer mehr: Mit Fichte gingen wir davon aus, dass das Prinzip des Denkens ein negatives, nämlich die Reflexion ist. Reflexion besteht in der Negativität, sich darin zu er‐ halten, sich von sich zu unterscheiden. Viele der voranstehenden Überlegungen haben auf den Reichtum dieser ursprünglichen Teilung aufmerksam gemacht: Für den Preis der Verzweiflung über die fragliche Legitimation eines Gedankens (§11) erhalten wir den Reichtum neuartiger Erfahrungen (§§12-13) und die Möglichkeit ihrer Transformation (§10). Aber diese Vorzüge lösen sich auf, sobald das Prinzip der Reflexion verabsolutiert wird. Denn die Verabsolutierung des negativen Prinzips führt - das schreibt Fichte selbst - in die Selbstvernich‐ tung des Denkens. Und was soll da für ein Licht sein, wo kein Denken ist? Im blendenden Licht des Absoluten wäre kein Gedanke, kein Begriff, kein Bewusstsein, da wäre Nichts ausser Finsternis. Finster ist also die Bestimmung von Fichtes reinem Licht, weil es ohne Unterschied ist. Und so können wir das reine Licht auch phänomenologisch wieder nur dadurch fassen, dass es nicht zu fassen ist. Diese Unfassbarkeit bzw. Finsternis des reinen Lichts erinnert an Hegels reines Sein am Anfang der Logik, welches im Zusammenhang mit Frege im 155 §15 Vernichtung <?page no="156"?> 10 Vgl. Angehrn, Kritik und Versöhnung, op. cit., S. 269f. Urteilskapitel diskutiert wurde. (§5) Dort sagten wir, das reinste Wahrsein sei derart abstrakt (von allem Inhalt unberührt), dass es ebenso Nichts sei. Es gäbe, weil es keine Bestimmtheit zuliesse, nichts über es zu sagen. Auf phäno‐ menologischer Ebene hat sich nun dieselbe Bewegung wiederholt, wie sie dort urteilslogisch herausgearbeitet wurde: Die Negativität reiner Bestimmungslo‐ sigkeit macht es unmöglich, sie zu denken. Weil aber die Negativität nicht hinter dieser Unmöglichkeit liegt, sondern gerade die Abstraktion ausmacht, die sie ist, weist das Undenkbare eigentlich eine Gliederung auf, um die wir nicht umhinkommen. Diese Gliederung ist die Selbstnegation des Denkens, dass Denken Ausschliessen dessen, was es nicht ist, ist: dass Denken Urteilen ist. Denn dem Urteil ist das, was es nicht ist, immanent. Es ist das Nichtsein des Absoluten; Kritik, Teilung, Reflexion. Wir haben gesehen, dass radikale Kritik im kantischen Sinne heisst, die sub‐ jektive Bedingtheit bzw. den Schein einer Sache zum Gegenstand der Untersu‐ chung zu machen. Kraft der aus diesem Impuls in Gang gebrachten Ur=Theilung wurde jede Äusserlichkeit, jeder mögliche Weltausschnitt, alles Erkennbare, Denkbare, Beurteilbare, durch das Nadelöhr der Kopula auf die Einheit der Apperzeption zurückgeführt. Aber der Gehalt dieser Selbstreflexion auf die Ur=Theilung kann nicht mehr begriffen werden, ohne die kritische Impulsivität sofort zu verlieren. Und an dieser Stelle tritt mit Kant eine anti-kantische These an die Oberfläche: Wenn Kritik möglich ist, dann bleibt sie unabgeschlossen. Sie bleibt genuin anti-autoritär, da nicht nur die Legitimation von Kritik der Kritik unterzogen werden muss, sondern auch die phänomenologische Einsicht oder Evidenz, dass diese Legitimation als Selbstlegitimation nicht gewährleistet werden kann. Durch Kritik kann das Subjekt unmöglich zur Ruhe kommen. Versöhnung ist weder im Gedanken noch im Phänomen zu erreichen; Kritik als positive Haltung undenkbar. Das kritische Subjekt muss prozesshaft und beunruhigt bleiben. 10 Der Prozess ist, weil er sich selbst zum Inhalt hat, Selbst‐ prozess. Und er macht das kritische Selbstbewusstsein aus. Der Selbstprozess verweist negativ auf ein inneres Jenseits, einen absoluten Widerstand, der nichts anderes als die Präsenz des unabschliessbaren Prozesses selber ist - Selbstvernichtung, die sich nicht selbst vernichten kann. Mit Fichte haben wir gesehen, dass dieser Widerstand, weil er seinen Grund im Subjekt hat, zur phänomenologischen Präsenz im Bewusstsein führen kann, obwohl er nicht Gegenstand des Bewusstseins ist. Ich nenne diese phänomenologische Präsenz die reine Erfahrung. 156 §15 Vernichtung <?page no="157"?> 1 Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 30, siehe hierzu: Michael Theunissen, Negativität bei Adorno, Frankfurt am Main 1983, S. 41-44. §16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung Mit Fichtes Forderung, das Denken zu vernichten, und mit der Einsicht gegen Fichte, die Vernichtung nicht vollstrecken zu können, drängt sich ein Phänomen auf; ein Erfahren des genuinen Scheiterns kritischer Legitimation, welches deshalb (weil die Legitimation scheitert) nicht kategorial bestimmt werden kann. Jetzt müssen wir den kategorialen Rahmen des kritischen Denkens überschreiten. Dabei ist die Schwierigkeit wieder, in dem Übertritt die Balance zu halten, um nicht erneut mit Jacobi kopfunter zu fallen (§1). Um das Gleich‐ gewicht zu finden soll zuerst das fragliche Phänomen noch genauer bestimmt werden, sodass wir im Kapitel 17 die geeignete Methodik dafür herausbilden können, es auf logischem Grund zu beschreiben und zu prüfen. Als Erstes ist wichtig, das Phänomen der reinen Erfahrung von anderen, insbesondere von sinnlichen Phänomenen abzugrenzen. Denn was es zur Erfah‐ rung bringt, ist die Evidenz, dass die für das Denken konstitutive Legitimation als Selbstlegitimation zwar gefordert, aber nicht gewährleistet wird. Es kann also nicht sinnlich bedingt sein - auch wenn Kritik, da sie sich nicht vollenden kann, des sinnlichen Stimulus notwendig bedarf. Aber das Sinnliche ist grund‐ sätzlich möglicher Begriff, wogegen der Gehalt dieser an der Selbstvernichtung scheiternden Erfahrung dem Begreifen genuin zuwiderläuft. Diese grundsätz‐ liche Negativität des Phänomens gegen seine Kategorisierbarkeit kennzeichnet es als Widerstand, nicht aber als Widerstand des sinnlichen Materials, sondern als des im Material sich reflektierenden Denkens, sowie das «Denken, an sich schon, vor allem besonderen Inhalt Negieren, Resistenz gegen das ihm Aufgedrängte […] [ist], Auflehnung gegen die Zumutung jedes Unmittelbaren, ihm sich zu beugen.» 1 Weil das Denken «an sich schon» und «vor allem besonderen Inhalt» «Resis‐ tenz gegen das ihm Aufgedrängte» ist, ist das «Denken an sich» auch Resistenz gegen sich selbst. Steht aber der Widerstand gegen sich selbst, so erfordert sein Erleben ein Tun, ein Widerstehen (§4). Und obwohl wir soeben sagten, dass dieses Tun nicht sinnlich motiviert, sondern «rein» sei, so wissen wir auch aus frü‐ heren Überlegungen, dass diese Reinheit gleichsam keinen Anti-Materialismus <?page no="158"?> 2 Vgl. Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft (I), Frankfurt am Main 1965/ 77, S. 102ff. 3 Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, op. cit., S. 153, meine Hervorhebung. 4 Ibidem. 5 Ibidem, S. 172. 6 Vgl. Kant, KU, BXXVI. bedeuten kann. 2 Denn ohne die sinnliche Wahrnehmung fände keine Teilung statt, die das Widerstehen aufrechterhielte. Alles kritische Tun und Denken ist Denken im Bezug zur Welt (vgl. §§9, 10, 14) - aber die belebende Quelle der reinen Erfahrung liegt nicht nur in ihr, sondern auch im Subjekt, sodass nicht nur «durch Affektion verschaffte Empfindungen […] der sinnliche Anteil der Erkenntnis [sind], sondern auch die Erfahrung des Denkens an sich selbst und mit sich selbst.» 3 Dieser Anteil der Erfahrung des Denkens an sich und mit sich selbst tritt hervor, wenn das sinnlich Gegebene als Reflex des Subjekts, der Widerstand als Widerstehen erkannt wird. Dann wird der Fremdbezug der Sinnlichkeit in einen Selbstbezug des Denkens verkehrt, und im Selbstbezug wendet sich umgekehrt das Denken zum Fremden. In diesem Wendepunkt als der κρίσις des Denkens (§2) sind die verschiedenen Fäden des vorgelegten Gedankengangs miteinander verknüpft: Hier greifen Phänomenologie und Transzendentallogik zusammen: das Denken ist Kritik, und Kritik sucht die reine Erfahrung als «doppelt[e] Negationserfahrung» 4 gegenüber dem sinnlichen Widerfahrnis. Das Subjekt der reinen Erfahrung «ist den Dingen gegenüber fremd, aber auch sich selbst gegenüber als demjenigen, was noch sich selbst zu reflektieren in der Lage ist.» 5 Damit reicht der hier verfolgte, reine Erfahrungsbegriff über den kantischen Begriff von Erfahrung als Empirie hinaus: Das Subjekt der reinen Erfahrung steht nicht aktiv gegen die passiv aufzunehmende Materie. Vielmehr versucht es, sich in die Materie zu versenken. Diese Hingabe entfremdet das Subjekt auf eine Weise, dass das Bewusstsein von der Entfremdung zugleich eine Rückkehr zu sich motiviert; zu einer Rückkehr jedoch, in der das Subjekt - weil es sich selbst nur im Bewusstsein als Entfremdung ist - «auch sich selbst gegenüber [fremd]» wird (s. o.). Die Materie nimmt in der reinen Erfahrung keine sinnliche, sondern eine intellektuelle Aufgabe an. Das unterscheidet die reine Erfahrung von der ästhe‐ tischen. 6 Während in der reinen Erfahrung der Impuls vom Subjekt ausgeht und ihr Gegenstand das Tun, das Widerstehen ist, vermöge dessen etwas überhaupt Gegenstand des Denkens werden kann, «[kann]» dagegen eine 158 §16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung <?page no="159"?> 7 Gunnar Hindrichs, Scheitern als Rettung. Ästhetische Erfahrung nach Adorno (= Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74), Luxem‐ burg 2000, S. 153 = Hindrichs, Zur kritischen Theorie, op. cit., S. 153. 8 Zur ästhetischen Erfahrung, siehe in diesem Buch §19. 9 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1927/ 2006, S. 28. «Erfahrung des Ästhetischen nur stattfinden, indem sie die ansonsten so überaus er‐ folgreiche identifizierende Erfahrung aus den Angeln hebt» und damit «im Verhältnis der Einheit und des Gegensatzes zur ausserästhetischen steht.» 7 Während sich der Gehalt der ästhetischen Erfahrung negativ aus der Inadäquanz des Begriffsvermögens in Anbetracht der sinnlichen Fülle eines ästhetischen Gegenstands speist, bringt reine Erfahrung ihr Scheitern selber hervor: Das Scheitern der reinen Erfahrung meint nicht das Scheitern der Begriffe, sondern das Scheitern daran, die Begriffe nicht vernichten zu können. (§15) So dreht sich das Denken - nicht als Begriffsvermögen, sondern als ursprüngliche Bewegung des Denkens - in der Hinwendung zum Gegenstand gegen sich, um gegen sich das Ausgehen zum Gegenstand bis hin zur am Gegenstand sich nicht vollenden könnenden Selbstvernichtung zu forcieren. Wenn diese sich nicht vollendende Selbstvernichtung jetzt Gehalt der reinen Erfahrung ist, so kommt ihr Impuls nicht aus dem Reich des Ästhetischen, Sinnlichen, sondern aus der ursprünglichen Dissonanz des Denkens (§1). 8 Die Ursprünglichkeit der reinen Erfahrung unterscheidet sie von ästheti‐ schen Vorkommnissen und kennzeichnet sie als Phänomen: Phänomen ist, was sich «von sich selbst her» 9 zeigt. Das ist keine Sache der Sinnlichkeit, keine Er‐ scheinung, die in anderem Licht auch anders aussehen könnte. Was sich von sich selbst her zeigt, Phänomen ist, das haben wir mit Fichte metaphorisch «reines Licht» genannt: das ist lux, lumen, reflexio. Ist nun die reine Erfahrung ein Phänomen, also selber Licht, so bedarf sie keiner äusseren Lichtquelle. Gleich‐ zeitig haben wir gesehen, dass reine Erfahrung nicht Widerfahrnischarakter hat, sondern ein aktives Widerstehen zur Präsenz bringt. Folglich müsste das Phänomen der reinen Erfahrung die widersprüchliche Eigenschaft haben, ein Tun zu sein, das nicht «etwas», sondern sich selber täte; das Tun müsste sich sozusagen selbst durch Reflexion in das Spektrum reinen Lichts aufbrechen. Diese paradoxe Forderung bringt der Name jener Wissenschaft zum Ausdruck, die solche Phänomene zum Gegenstand macht: die Phänomenologie. Denn, obwohl das Phänomen sich von sich selbst her zeigen soll, so sucht die Phänomenologie methodisch die Verbindung zur Logik. Zur Funktion der Logik muss dann gehören, das fragliche Phänomen durch Nachdenken freizulegen oder es zur Erfahrung zu bringen - aber ohne dessen Ursprünglichkeit dadurch 159 §16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung <?page no="160"?> 10 Ibidem, S. 37. 11 Die Nuss-Metapher als exegetisches Prinzip hat Wurzeln in mittelalterlichen Bibelkom‐ mentaren, siehe zum Beispiel: Fabius Planciades Fulgentius, Super Thebaiden, Leipzig ca.1200/ 1898, S. 180-186. 12 Heidegger, Sein und Zeit, op. cit., S. 19ff. 13 Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Hamburg 1907/ 2016, S. 6. 14 Diese holzschnittartige Darstellung wird Heidegger und Husserl natürlich nicht ge‐ recht. Aber für unsere Zwecke genügt dies, um die Tendenz zweier ganz unterschied‐ licher Weltsichten deutlich zu kontrastieren: Jene Variante der Phänomenologie geht davon aus, dass es «hinter» den Erscheinungen einen sinnvollen (geniessbaren) Kern gibt, den es zu entdecken gilt. Die kritische und hier verfolgte Variante einer Phäno‐ menologie setzt dagegen die Sinnhaftigkeit der Erscheinungen als Prämisse, negiert aber ein sinnvolles Jenseits davon. zu beschneiden. Paradox ist diese Bestimmung gerade, wenn man bedenkt, dass jenes Tun (die Logik, das Denken) wesentlich negativ, also gerade nicht selbstsondern genuin fremdbezüglich ist. Und gleichzeitig behauptet die Phänomenologie eine «-logie» für diesen selbstbestimmten Gehalt. Aber wie kann das sein: Wie können wir gedanklich zu einem Phänomen kommen, das von sich selbst her kommen soll, wenn das Denken dadurch bestimmt ist, das ihm Fremde zu suchen? Oft wird Phänomenologie als eine Art von Hermeneutik verstanden. 10 Das Phänomen der Hermeneutik ist die vom Schein befreite Erscheinung; also der verborgene Sinn des Scheinbaren oder das Wesen der Welt in nuce. Das methodische Prinzip lautet, vereinfacht gesagt: «Wer aus einer Nuss den Kern haben möchte, zerbricht die Nuss.» 11 In dieser exegetischen Tradition ist der hermeneutische Phänomenologe eine Art Nussknacker: Er schält das wesentliche Phänomen, den geniessbaren Kern aus der unwesentlichen Schale im Zuge einer «Destruktion» 12 oder «Reduktion» 13 . Wenn dem Nussknacker dann die Erscheinung zum Phänomen wird, spricht man von Transfiguration. Diesem Verständnis zufolge heisst «Phänomen» so viel wie transfigurierte Erscheinung. 14 Ein Phänomen als transfigurierte Erscheinung bezeichnet eine Erfahrung, welche im positiven Sinne die maximale Nähe zum Wesen dessen sucht, was erscheint. Das setzt zweierlei voraus. Erstens: Was erscheint, ist das Unwesentliche. Es bedarf eines Nussknackers, welcher das Wesen von der überflüssigen Schale befreit. Zweitens: Es gibt ein Wesen hinter dem Schein zu entdecken, wenn wir nur richtig hinsehen. Der Nussknacker vertraut darauf, dass die Nuss nicht faul ist, sondern einen geniessbaren Kern hat. - Aber beide Voraussetzungen sind unter dem kritischen Anspruch unhaltbar. 160 §16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung <?page no="161"?> 15 Vgl. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, op. cit., S. 224. Erstens: Kritik ist kein privilegierter Standpunkt, welcher sich gegen die Be‐ gründungsdefizite des Gegebenen äussert. Vielmehr ist sie Reflexion, - Spiegel: Was scheint, bleibt ihr nicht äusserlich, und sie bildet es auch nicht einfach ab, sondern sie bildet sich in und durch Erscheinung, indem sie sie auf deren subjektive Bedingungen hin untersucht. Schein ist für Kritik das Wesentliche, denn erst in dem und durch das, was erscheint, und dass es scheint, ist kritische Reflexion überhaupt möglich. Zweitens: Eine Beruhigung oder gar ein Genuss ist innerhalb des kritischen Rahmens in jeder Hinsicht undenkbar. Denn in ihrem spekulativsten Moment ist Kritik nicht Wesensschau, sondern Selbstnegation. (§15) Und das ist: Scheinen, Sein bei sich in und durch das Sein im Negativen. Demnach ist das, was das kritische Subjekt als Phänomen erfährt, nicht irgendein Objekt als Erscheinung. Sondern in der Rückkehr zu sich beim Aussersichsein erfährt es: sich selbst. Das Phänomen kritischer Subjektivität ist die ursprüngliche Beunruhigung des kritischen Subjekts in Anbetracht des Objektiven. Im Gegensatz zur hermeneutischen Auffassung von Phänomenologie kann der zweite Ansatz kreativ genannt werden: Was das kritische Subjekt erfährt, ist die Möglichkeit der Kreation, der Schaffenskraft und Transformation. (vgl. §10) Und die Schaffenskraft bricht mit allem Vertrauen ins Bekannte nicht deshalb, weil die Welt im Bekannten nicht aufginge; sondern weil das Subjekt diesem Drang nicht ausweichen kann, Schranken aktiv zu überschreiten. 15 Ent‐ sprechend entbirgt das Phänomen der reinen Erfahrung keinen transzendenten Sinn «hinter» einer falschen Scheinwelt, die es zu knacken, zu reduzieren, einzuklammern oder zu zerstören gelte. Denn die Aufgabe der Vernichtung (§15) muss selbstverantwortet und deshalb unlösbar bleiben. Die Methode der Phänomenologie reiner Erfahrung, nach der wir oben fragten, kann nur der Weg eines ewigen Zweifels sein - eines Zweifels also, der so radikal ist, dass wir ihn mit Hegel den «Weg der Verzweiflung» nennen können: «Auf ihm [dem Weg der Verzweiflung, J.W.] geschieht nemlich nicht das, was unter zweifeln verstanden zu werden pflegt, ein Rütteln an dieser oder jener vermeynten Wahrheit, auf welches ein gehöriges wiederverschwinden des Zweifels und eine Rück‐ kehr zu jener Wahrheit erfolgt, so dass am Ende die Sache genommen wird wie vorher. Sondern er ist die bewusste Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem dasjenige das reellste ist, was in Wahrheit vielmehr nur der nichtrealisirte Begriff ist. Dieser sich vollbringende Skepticismus ist darum auch nicht dasjenige, womit wohl der ernsthafte Eifer um Wahrheit und Wissenschaft sich für diese fertig gemacht und ausgerüstet zu haben wähnt; nemlich mit dem Vorsatze, in der Wissenschaft 161 §16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung <?page no="162"?> 16 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 56. 17 Vgl. Kant, MSI, A31. auf die Autorität sich den Gedanken anderer nicht zu ergeben, sondern alles selbst zu prüffen und nur der eigenen Ueberzeugung zu folgen, […] Die Reihe seiner Gestaltungen, welche das Bewusstseyn auf diesem Wege durchläufft, ist […] die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewusstseyns selbst zur Wissenschaft.» 16 Verzweiflung ist Phänomenologie als Gang des bewussten Denkens in die Of‐ fenheit und Unbestimmtheit, ins Reich der Kritik und der Möglichkeiten; «sich vollbringende[r] Skepticismus», wie Hegel schreibt. Das Eigentümliche einer solchen Phänomenologie des Zweifels ist, dass sie weder auf Erscheinung beschränkt werden kann - noch ohne sie auskommt. Denn das fragliche Phänomen der reinen Erfahrung besteht in einer Reflexion auf jene Reflexion, welche Erscheinung mit dem Denken via Urteile vermittelt; und obwohl sich diese Vermittlung nicht vollenden kann, ist sie die «Bildung des Bewusstseyns selbst zur Wissenschaft» (s. o.). Die Bildung kommt wiederum nur durch den Zweifel in Gang, der im Bekannten das Unbekannte sucht; jemand also, der nicht dazu bereit ist, etwas Neues zu denken, könnte auch nicht gebildet werden. Weil die Bereitschaft, auf das Ungewohnte zu gehen und sich verunsichern zu lassen im Denken nicht nebensächlich ist, sondern das Denken überhaupt erst in Gang bringt (§1), so meint die Bereitschaft auch nicht nur «ein Rütteln an dieser oder jener vermeynten Wahrheit», sondern die «bewusste Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens.» (s. o.) In Zweifel gezogen wird das «erscheinende Wissen» - also alles, was wir für wahr halten. Die Radikalität dieses Zweifels ist flagrant: Das gesamte kritische Gebäude gerät ins Wanken, wenn der Rechtsgrund des Denkens fraglich ist. Wie wir gesehen haben steht jedoch für die Anstrengung des Subjekts, die Balance in diesem erschütterten Horizont des Möglichen zu halten, ein Gewinn: Freiheit der Kreativität (§10), sinnlicher Reichtum (§12) und begriffliche Flexibilität (§§11, 13). In methodischer Hinsicht zeichnet sich damit ein weiterer anti-kantischer Zug des ursprünglich kantischen Gedankenerbes ab: Für Kant gehört es zur Aufgabe einer Phänomenologie, Prinzipien der Sinnlichkeit durch transzen‐ dentale Reflexion in ihre Schranken zu weisen, um das vitium subreptionis zu vermeiden. 17 Damit ist Kant kein Nussknacker-Phänomenologe, der die Transfiguration von Erscheinung zum Phänomen thematisiert. Aber ihn inter‐ essiert die Transformation von Empfindung in Erscheinung. (vgl. §9) Der Inhalt des kritischen Bewusstseins ist jedoch keine Erscheinung, und auch nicht die kantische Transformation von Empfindung in Erscheinung, sondern die Negativität der Bezugnahme auf diese Transformation. Das Phänomen, von 162 §16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung <?page no="163"?> 18 Vgl. Rüdiger Bubner, Adornos Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1983, S. 39. Zur Normativität von Kritik siehe in diesem Buch Kapitel 18. dem hier die Rede ist, ist die bewusste Dimension des krisenhaften Denkens: lebendiger Puls eigener Denktätigkeit, welche sich nicht der «Autorität […] anderer» (s. o.) übergibt. Sie sucht daher ebenso wenig den Absprung ins Irrationale wie die Negation des Materiellen. Die kritische Aufgabe besagt vielmehr, den Gegensatz von beidem herauszubilden und zu prüfen, wie die darin erschütterte Rechtsgrundlage zu balancieren ist. Aus dem Gegensatz hinausspringen können wir allerdings nicht. Dazu müsste die Reflexion sich verendlichen und das Subjekt sich vernichten. Aber anders als der Mensch kann das logische Subjekt sich nicht vernichten: Die Selbstvernichtung wäre nur wieder ein Reflexionsakt - und die Reflexion würde das Subjekt in den Gegensatz zurück spiegeln. Kritik hält das Denken in Bewegung, sodass kein Ende zu setzen ist, und das Denken in keinem Moment eindeutig werden soll. 18 163 §16 Phänomen und Phänomenologie der reinen Erfahrung <?page no="165"?> 1 Vgl. Wagner, Philosophie und Reflexion, op. cit., §11, S. 93. §17 Zu Methodenfrage und Dialektik Reine Erfahrung ist das Phänomen gewordene, kritische Denken, das um seine ursprüngliche Impulsivität, die in sich gegen sich gerichtete Denkkraft weiss. Erfahrung ist sonach ausschliesslich als Weise theoretischen Denkens verstanden. 1 Der Phänomencharakter dieser Erfahrung liegt darin, dass sie sich vom eigenen Gehalt, das heisst, vom kritischen Denken aus entfaltet. Sie ist sich ursprünglich. Problematisch ist diese Ursprünglichkeit aber wie gesehen deshalb, weil sie zuerst die kritische Tätigkeit fordert, welche sie dann reflexiv zur Präsenz bringt. Denn das Denken muss, um sich in seiner Ursprünglichkeit zum Phänomen zu werden, schon Kritisches tun. Und das heisst, wir müssen das Phänomen zum Gegenstand einer Phänomen-logie, einem Nachdenken über es machen können, ohne seine Selbstbezüglichkeit dabei zu untergraben. Das kann nur sein, wenn der gedankliche Weg hin zum Phänomen, also die Methode der Phänomenologie das Phänomen gleichsam hervorbringt. Diese methodische Schwierigkeit hat die Phänomenologie einer reinen Er‐ fahrung mit Offenbarungsphänomenologien gemeinsam. Auch dort ist die Ausgangslage so, dass, was sich offenbart, sich nicht von anderswoher, sondern von sich selbst her offenbart. Aber eine Offenbarung stösst dem Subjekt zu. Das heisst, das Subjekt muss die Autorität im Augenblick der Offenbarung an eine Transzendenz abgeben. Dagegen bleibt das Subjekt der reinen Erfahrung selbstverantwortet. Meine These ist, dass dieser Unterschied so scharf ist, dass sich eine Phänomenologie der reinen Erfahrung gerade im Gegensatz zur Offenbarungsphilosophie verstehen lässt und die phänomenologische Methodik reiner Erfahrung somit anhand der Kontrastierung mit der Offenbarungsphäno‐ menologie herausgearbeitet werden kann. Zu zeigen ist demnach, dass sich die kritische Phänomenologie dadurch auszeichnet, die Offenbarungsphilosophie in dem für die Offenbarung wesentlichen Moment des Abtretens der Autorität an eine Transzendenz zu negieren. Die Offenbarungsphänomenologie erweist ihr Phänomen am Ende als ein Offenbares; also nicht als Gemachtes, sondern als Gegebenes. Der Phänomeno‐ loge Marion beschreibt dies als die <?page no="166"?> 2 Jean-Luc Marion, Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Frei‐ burg/ München 2015, S. 32. 3 Dieser Gottesbegriff bleibt, auch in seinen phänomenologischen Aspekten, ein philo‐ sophischer. Das heisst, es geht nicht, oder zumindest: nicht nur um einen persönlichen Gott, welcher in religiösen Erfahrungen begegnet, sondern um den Begriff Gottes als den sich selbst ursprünglichen Begriff. Im Zuge der folgenden Ausführungen soll dieser Gottesbegriff mit dem kritischen Selbstverständnis kontrastiert werden, das sich gerade nicht, wie Gott, selbst ursprünglich begreifen kann (vgl. §1). 4 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 132. «Paradoxie, die am Beginn und Ende einer Phänomenologie [der Offenbarung] steht» und «genau genommen darin [liegt], die Initiative zu ergreifen, um sie wieder abzutreten.» 2 Offenbarungsphänomenologie ist also eine Art Vorspiel, bis das Phänomen sich ursprünglich kundgibt. Für diese Kundgebung muss das Subjekt sich zurück‐ nehmen, da sie nicht vom Subjekt, sondern von einem anderen herkommt: von einer Transzendenz, die gerade nicht das Subjekt ist - von Gott. 3 Darin liegt allerdings beschlossen, dass das Phänomen der Offenbarung nur solange präsent ist, wie sich das Subjekt Gott gegenüber als beschränktes setzt. Aus diesem Grund nennt Hegel das religiöse Bewusstsein auch ein unglückliches, sofern «für das unglückliche Bewusstseyn das Ansichseyn das Jenseits seiner selbst [ist].» 4 Gemeint ist, dass ein religiöses Bewusstsein das Wesen des Phänomens (das «Ansichseyn») als nicht von sich, dem Subjekt her kommendes wähnt: unglücklich ist es, weil es sich in der Unfassbarkeit des Phänomens beru‐ higt. Die Ruhe liegt in der Akzeptanz der eigenen Begrenztheit: Das unglückliche Bewusstsein besänftigt sich damit, Gott gegenüber klein und unbedeutend zu sein. In der Folge werden jeder Fortschritt und alle Bewegung im Kreisen um sich selbst und die eigene Unbedeutsamkeit zum Stillstand gebracht. Das Denken, das seine Begrenztheit hinnimmt, erfährt keinen Widerstand gegen das Undenkbare, der es vorantreiben würde, sodass die Impulsivität (§1) des Denkens im unglücklichen Bewusstsein verstummt. Der Offenbarungsphänomenologe Marion beschreibt diese religiöse Erfah‐ rung in vier Momenten, wobei insbesondere das vierte Merkmal das von Hegel genannte Unglück benennt: 1. Das Phänomen offenbart eine neue Welt und bewahrt so das Ungesehene als Manifestation. 2. Das Phänomen offenbart das Subjekt sich selbst als nicht von sich selbst herkommendes und überraschtes Subjekt. 166 §17 Zu Methodenfrage und Dialektik <?page no="167"?> 5 Zu den Punkten 1-4 siehe: Jean-Luc Marion, Das Erscheinen des Unsichtbaren. Fragen zur Phänomenalität der Offenbarung, Freiburg/ Basel/ Wien 2018, S. 20 und S. 30. 6 Ibidem. 3. Das Phänomen offenbart das Subjekt den anderen Subjekten, indem es einen neuen Raum der Gemeinschaft betritt, der keine Spielweise der Beliebigkeit ist, sondern logische Allgemeinheit. 4. Das Phänomen offenbart sich von anderswo her. 5 Während die ersten drei Charakteristika grosse Ähnlichkeiten mit dem Phä‐ nomen der reinen Erfahrung aufweisen, bildet das vierte deren genaue Negation. Entsprechend lässt sich Marions Charakterisierung wie folgt in Bezug auf reine Erfahrung parallelisieren: 1*. Im kritischen Licht wird die Welt nicht als Gegebenheit, sondern in ihrem Potential an Transformation erfahren. Sie manifestiert, kraft der kritischen Vermögen Empfindung und Phantasie, schlechthin Neues und Ungesehenes, oder nach Marion: eine «neue Welt». 6 2*. Das Neue und Ungesehene übersteigt die Welt der Gewohnheit. Es führt das Subjekt deshalb in einen Zustand radikaler Verunsicherung (§11), wo das Subjekt nicht im Einverständnis mit sich steht, sondern im Selbst‐ entzug: Hier kann der Gewissheitsanspruch, der das Subjekt konstituiert, nicht gewährt werden. Dieser Verlust, der sich im fragenden Weiterdenken artikuliert, macht die reine Erfahrung aus. 3*. In der reinen Erfahrung erfährt sich das Subjekt nicht als Person oder Individuum, sondern als logisches Subjekt, da es unter dem allgemeinen Anspruch des Urteilens steht. Entsprechend tritt das Phänomen mit der Kraft logischer Allgemeinheit auf und die Gemeinschaft, welche daraus entsteht, ist von so allgemeinem Charakter, dass sie geradezu die absolute Einsamkeit bedeutet: der Allgemeinheitsanspruch verlangt notwendig die Abstraktion von allem Persönlichen. Dadurch wird die Allgemeinheit gleichsam zum Zielpunkt und Resultat eines Tuns, welches ein Subjekt nur für sich (aber nicht für andere) erreichen kann. Salopp gesagt: Das Denken kann einem keiner abnehmen. 4*. Reine Erfahrung ist Differenzerfahrung zwischen dem, was beansprucht, und dem, was wirklich mit dem Denken erreicht werden kann. Und so ist es unmöglich, dass diese Erfahrung unabhängig vom wirklichen Denken des Subjekts auftritt. Aufgrund dieses vierten Punkts weist das Moment der Unverfügbarkeit des Phänomens also gerade nicht darauf hin, dass «die Offenbarung nicht von 167 §17 Zu Methodenfrage und Dialektik <?page no="168"?> 7 Ibidem, S. 26, meine Hervorhebung. 8 Hindrichs, Scheitern als Rettung, op. cit., S. 163 = Hindrichs, Zur kritischen Theorie, op. cit., S. 165. meinem Blick abhängt.» 7 Dass sich das Phänomen nicht vollständig im Er‐ scheinen dessen ergiesst, was von vornherein vorstellbar ist, liegt vielmehr an den kritischen Vermögen des Subjekts: einerseits, etwas vorzustellen, was noch nicht ist (Phantasie, §13) - andererseits, Welt zu erfahren, ohne sie bereits begrifflich zu strukturieren (rohes Empfinden, §12). Diese Vermögen ermöglichen die Erfahrung eines absolut Gegenständigen und Widerständigen, ohne die Autorität dem Subjekt entziehen zu müssen. Im Gegenteil: Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass das Widerständige nur deshalb überhaupt erfahren werden kann, weil es seinen Grund im Subjekt und die Grenze im Bewusstsein hat. Würde diese Grenze überschritten, so schwände auch das Phänomen reiner Erfahrung. Im Gegensatz zum Phänomen der Offenbarung kennt reine Erfahrung daher kein Ausserhalb, das plötzlich aufleuchtet, und folglich keine Erlösung im Selbstprozess. Denn alles Aussen, alles Sinnhafte - auch das Phänomen selbst! - ist im kritischen Licht in der Schwebe zu halten. Und in diesem letzten Punkt trennt sich die reine Erfahrung von der religiösen: Während das Phänomen der Offenbarung einen Entzug der Verfügbarkeit des Blicks desjenigen bedeutet, der es wahrnimmt, verweist ebendieser Entzug der Verfügbarkeit des Phänomens im Kontext der Kritik auf die Tätigkeit und unversöhnliche Kraft des Subjektseins. Dessen unversöhnliche Kraft schöpft sich aus der Differenz der Ur=Theilung, die der kritische Impuls in das Denken schlägt, und diese Teilung geschieht nicht von aussen, etwa durch die Trennung von einem erlösenden Jenseits: Sie ist die Selbstbestimmung des Denkens. Deshalb erscheint das Inkommensurable des Phänomens der reinen Erfahrung - also das, was an ihr das begriffliche Fassungsvermögen übersteigt - zwar innerhalb der Phänomenologie, aber ohne von ihr zugerichtet zu werden: Weil die Teilung der Subjektivität «eine rein negative Öffnung [ist], […] die von innen geschieht und nicht aus der Transzendenz ausserhalb der Vernunft.» 8 Im Kontrast zur Offenbarungsphänomenologie, wo die Trennung «von oben» kommt, zeigt sich an dieser Stelle erneut das tragische Moment des Phänomens der reinen Erfahrung (vgl. auch §11): Die Autorität bleibt beim Subjekt, das mit dem ersten Impuls nach der Gewissheit strebt, die zu erreichen durch eben diesen Impuls aber unmöglich wird. Tragisch ist, dass Subjektsein auf die eigene Aufhebung ausgerichtet ist, ohne sie vollziehen zu können. Und während sich das unglückliche oder religiöse Bewusstsein in demselben Kon‐ 168 §17 Zu Methodenfrage und Dialektik <?page no="169"?> 9 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 401. 10 Vgl. Wieland, Urteil und Gefühl, op. cit., §1, S. 32. 11 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I/ 1, op. cit., S. 56; zur Dialektik als der konsequente Vollzug der kantischen Kritik, siehe: Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, op. cit., S. 28. 12 Zur Engführung von immanenter Kritik und negativer Dialektik, siehe: Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 16f. 13 Vgl. Sommer, Was ist kritische Theorie? , op. cit., S. 164-185. 14 Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 27, dazu: Angehrn, Kritik und Versöhnung, op. cit., S. 269-270. flikt als erfülltes ahnt, bleibt das kritische Subjekt entsetzt: Es bleibt zerrissen und krisenhaft (§2), weil es sich der Offenheit verpflichtet, ohne in der göttlichen Hand Trost zu finden. Mit Hegel wäre das Phänomen der reinen Erfahrung also gerade als Negation einer Offenbarung zu beschreiben: als der «Schmerz», der sich «als das harte Wort ausspricht, dass Gott gestorben ist.» 9 Das kritische Denken kann die Sinnoffenheit, die es eröffnet, nicht schliessen, die Entfernung zum Ziel, welches es setzt, nicht einholen. Der «ὁδός», der Weg, der das Denken zu («μετά») dem Denken führt, d. h. der Weg zur reinen Erfahrung oder ihre Methode darf eigentlich keine Methode sein - oder zumindest keine, die geradewegs auf ein bestimmtes Ziel hinführte. Die Methode ist vielmehr: «Kritik statt Theorie» 10 , oder in einem Wort: Dialektik. 11 Eine Phänomenologie der reinen Erfahrung ist dialektisch strukturiert. Mit dem Begriff der Dialektik holen wir die ursprüngliche Bewegung des Denkens wieder ein, welche darin besteht, aus sich heraus zu seinem Negativen zu streben (§1): In der Dialektik sind kritische Instanz und kritisiertes Objekt einander nicht äusserlich, sondern in ihrer Vermittlung gedacht. Dialektisch erscheint alles als Modifikation des Subjekts. Aus diesem Grund verfährt Dialektik - will sie konsistent sein - immanent, weil dann der kritisierte Gegenstand als vermittelte Subjektivität vorgestellt wird. Sie bleibt indes negativ d.i. unabschliessbar, denn in Frage steht nicht nur ein konkreter Gegenstand, sondern immer auch die Möglichkeit der Kritik. 12 In der dialektischen Kritik geht es folglich nicht um die Auflösung von Schein. 13 Vielmehr liegt die Emphase auf der Arbeit an ihm, der nicht eintretenden Vernichtung des Begriffs (§15) und der kontinuierlichen, an sich scheiternden Selbstreflexion als der Puls des Subjekts im Leben des Geistes, der sich, wie Hegel in den berühmten Worten schreibt: nicht vor Tod und Verwüstung scheut, sondern sich sogar darin erhält, «indem er [der Geist, J.W.] in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet, […] indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bey ihm verweilt.» 14 169 §17 Zu Methodenfrage und Dialektik <?page no="170"?> 15 Vgl. Bubner, Dialektik und Wissenschaft, op. cit., S. 170ff. 16 Vgl. Emil Angehrn, Diesseits und jenseits des Sinns, op. cit. Mit dem Schritt von der negativen Kritik in die kritische Dialektik wird die Methode «autonom» 15 und das Dilemma des kritischen Impulses hebt sich auf. (§§1-3) Das Dilemma bestand darin, dass das kritische Subjekt zur Legitimation des kritischen Massstabs entweder unendlich viele Massstäbe und Standpunkte voraussetzen muss und im Regress endet - oder den Massstab dogmatisch behauptet, wodurch sich der kritische Impuls aber aufhebt. Mit der Dialektik als Methode hat Kritik nun regressfreie Selbstbezüglichkeit erreicht: Selbstbezüglich ist dialektische Kritik, sofern das Subjekt in der Vermittlung mit sich im Objektiven vorstellig wird. Regressfrei ist sie, da das Subjekt den Denkprozess von sich aus anstösst: Der Denkprozess ist dem Subjekt ursprünglich und kann ihm von niemand abgenommen werden, sodass es alle urteilslogisch artikulierten Ansprüche selber stellen muss. Nehmen wir diese Ansprüche an, und lassen wir den Zustand fundamentaler Verunsicherung (§11) zu, so gewinnen wir die Möglichkeit, über den status quo hinaussehen zu können. Dieses Hinaussehen ist, wie gesehen, kein Schauen Gottes, sondern, wie Hegel oben schreibt, ein Schauen ins Angesicht des Negativen und des Zweifels. - Das Negative aber ist das Denken, und das Denken ist der Gehalt radikaler Kritik: Negativität, welche sich nicht in der Fremde beruhigen kann, weil sie im Subjekt ihren bewussten Anfang nimmt. Die Erfahrung dieser Negativität ist daher weder Regress noch willkürliches Abbrechen oder Anfangen der Reflexion, und ebensowenig bleibt sie bei der kapitulierenden Einsicht stehen, dass, was sich in der urteilslogischen Vermittlung nicht darstellte, auch nicht artikuliert werden könnte. 16 Vielmehr ist eine dialektische Phänomenologie der reinen Erfahrung der entschlossene Versuch des Subjekts, sich wider die eigene Unmöglichkeit gegen sich zu erheben. Dieser Versuch verhindert die Beruhigung des Subjekts in einem göttlichen Jenseits, da die Autorität weder abgegeben noch der Impuls ungeschehen gemacht werden kann. Im Kontrast zur Offenbarungsphänomenologie liegt das Wahrheitsmoment der reinen Erfahrung, weil sie mit der kritischen Anstrengung des Urteilens einhergeht, in der gegenständlichen, wenngleich negativen Bezugnahme auf die Welt. Logisch gesprochen ist dies letztlich das Verdienst der Kopula (§6): Sie schafft den Raum, worin sich die Freiheit des Denkens zu seinem Gegenstand entfalten darf, und das Denken in der Hinwendung zur Sache über sie hinaus‐ schaut. Kehrseite ist, dass sie eine Sinnoffenheit schafft, die weder geschlossen noch negiert werden kann. Diese Sinnoffenheit ist der veritative Anspruch (§6), dem wir uns nicht entringen können, weil er uns allein dadurch auferlegt ist, 170 §17 Zu Methodenfrage und Dialektik <?page no="171"?> dass wir denken (§1). - Und mit dem Begriff des Anspruchs fasst die bisher vollzogene Denkbewegung wieder ihren Anfang, der jetzt - als Anspruch - reflektierter Ursprung ist. 171 §17 Zu Methodenfrage und Dialektik <?page no="173"?> 1 Kant, KrV, A758f./ B786f., teilweise meine Hervorhebung. §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens Zu Beginn des zurückgelegten Gedankengangs hielten wir fest: Zu jedem Gedanken gehört notwendig das Bewusstsein davon, dass er gedacht wird, weil es sinnlos wäre, von einem Gedanken auszugehen, der nicht gedacht würde, und weil es redundant wäre, aus einem Gedanken noch zusätzlich herleiten zu wollen, dass er gedacht wird: Dass ein Gedanke gedacht wird, sagten wir, ist ein Faktum, das den Ursprung des Denkens ausmacht. (§1) - Aber der Ursprung des Denkens kann nicht Sache des Denkens sein. Er kann nicht gedacht werden, weil ja der Gedanke, zu dem notwendig gehört, dass er gedacht wird, immer schon angefangen hat, wenn er gedacht wird. So ist, sagten wir, der Gedanke Einspruch gegen sich selbst: Der selbstbewusste Gedanke klingt atonal, weil das Denken nur als ein negatives oder als ein «Bewusstsein [s]einer Unwissenheit» zu sich kommt. Aber «statt dass sie [die Unwissenheit, J.W.] meine Untersuchungen endigen sollte, ist [sie] vielmehr die eigentliche Ursache, sie zu erwecken. Alle Unwissenheit ist entweder die der Sachen, oder der Bestimmung und Grenzen meiner Erkenntnis. Wenn die Unwissenheit nun zufällig ist, so muss sie mich antreiben, im ersteren Falle den Sachen (Gegenständen) dogmatisch, im zweiten Falle den Grenzen meiner möglichen Erkenntnis kritisch nachzuforschen. Dass aber meine Unwissenheit schlechthin not‐ wendig sei, und mich daher von aller weiteren Nachforschung freispreche, lässt sich nicht empirisch, aus Beobachtung, sondern allein kritisch, durch Ergründung der ersten Quellen unserer Erkenntnis ausmachen. Also kann die Grenzbestimmung unserer Vernunft nur nach Gründen a priori geschehen; die Einschränkung derselben aber, welche eine obgleich nur unbestimmte Erkenntnis einer nie völlig zu hebenden Unwissenheit ist, kann auch a posteriori, durch das, was uns bei allem Wissen immer noch zu wissen übrig bleibt, erkannt werden. Jene durch Kritik der reinen Vernunft selbst allein mögliche Erkenntnis seiner Unwissenheit ist also Wissenschaft, diese ist nichts als Wahrnehmung, von der man nicht sagen kann, wie weit der Schluss aus selbiger reichen möge.» 1 Das «Bewusstsein meiner Unwissenheit» führt also nicht zum Abbruch der Un‐ tersuchung, sondern es macht das Motiv für die Fortbestimmung des Denkens aus, weil es in einem Faktum gründet, welches ich notwendig annehmen muss, <?page no="174"?> 2 Kant, KrV, A45/ B75, zur korrelierenden Metapher der Blindheit der Sinnlichkeit, siehe in diesem Buch §12. aber nicht wissen kann. (§1) Das «Bewusstsein meiner Unwissenheit» ist dem‐ nach nicht nur irgendeine, sondern sogar «die eigentliche Ursache» dafür, über‐ haupt irgendeine Untersuchung zu erwecken, weil ohne sie dem Denken das Motiv fehlte: Erst durch das «Bewusstsein meiner Unwissenheit» erschliesst sich die Notwendigkeit, im Denken auf Nichtgedachtes Bezug nehmen zu müssen und Gedanken mit objektivem Gehalt zu bilden. «Unisono» würde nämlich kein Gedanke anfangen, oder der Gedanke wäre zu Ende - so oder so, es würde nicht gedacht werden, weil zu jedem Gedanken die Möglichkeit des Bewusstseins davon gehört, dass er gedacht wird. Also ist jeder Gedanken der Möglichkeit nach selbstbewusst, und dieses Bewusstsein kann der Gedanke nur in der Dissonanz zu sich erlangen. In dieser Dissonanz liegt folglich der Grund dafür, auf Dinge Bezug nehmen zu müssen, die nicht schon im Denken beschlossen liegen. Und was nicht schon Gedanke ist, ist möglicher Gedanke und gehört zur sinnlichen Welt (§9), ohne die das Denken «leer» 2 bzw. gar kein Denken wäre. In ebendiesem «Bewusstsein meiner Unwissenheit» liegt folglich der Impuls, überhaupt etwas zu denken. Mit dieser Einsicht in die eigene Unwissenheit, Kants «eigentliche[r] Ur‐ sache», eine Untersuchung «zu erwecken» (s. o.), hat auch der vorgelegte Gedankengang angefangen (§1). Sie erklärt, weshalb im Denken nicht nur Gedanken gebildet werden, sondern diese Gedanken auch auf Dinge zu beziehen sind, die ausserhalb des Denkens liegen und ihm gegeben sind. Das kennzeichnet das Denken als wesentlich synthetisches (§14): Die sinnliche Welt kommt ins Blickfeld, weil das Denken die Gewissheit, die es sucht, nicht an sich schon hat. So gesehen ist die sinnliche Welt viel mehr als eine Ansammlung von Fakten, die wir nur hinnehmen und beschreiben, aber nicht verändern können: Als Moment der negativen Selbstbezüglichkeit des Denkens ist die sinnliche Welt auch Korrelat des «Bewusstseins meiner Unwissenheit». Das heisst, ihre genuine Unabhängigkeit vom Denken oder ihr Objektcharakter gibt keinen Anlass, an der Sicherheit unserer Welterkenntnis zu zweifeln. Vielmehr soll die Sinnlichkeit jene Legitimität, die das Denken allein nicht geben kann, gerade ermöglichen. Die offene Kluft zwischen Sinnlichkeit und Denken stellt ja auch eine bildende Verknüpfung dar: Sie schafft Raum für die Kreativität, Dinge nicht nur aufzunehmen, sondern Gedanken von diesen Dingen zu bilden und die Dinge auf diese Weise mit zu gestalten. (§14) Diese Gestaltung erfolgt in der Hingabe zur Sache, entweder durch die Unschuld des Auges (§12) oder durch Phantasie (§13). Kritisch bei der Sache ist aber weder das Eine noch das Andere, 174 §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens <?page no="175"?> 3 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 391. 4 Was die Dinge aber ausserhalb des Denkens sind oder wie sie sein könnten, wenn eine Kategorientransfiguration stattfände, ist vorab nicht zu sagen. Denn dies zu denken verlangte eine Revolution der Denkart. Dass solche Revolutionen des Wissens wirklich geschehen, zeigt die Geschichte - man erinnere sich an Namen wie Kopernikus, Newton, Lavoisier oder Einstein. Sie haben eine Theorie derart verändert, dass neue Phänomene sichtbar werden und die Welt danach anders erscheint wie zuvor. (vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, op. cit., S. 21). Solche Revolutionen der Denkart, die zu einer Umgestaltung der Welt führen, erfordern die Neubewertung einer früheren Theorie. Das ist ein Prozess, der nur retrospektiv, also im Zuge einer geschichtlichen Betrachtung zum Vorschein kommen kann. - Dagegen sind die phi‐ losophischen Überlegungen dieses Buches nicht historisch: Weder datieren sie eine Revolution der Denkart noch führen sie eine solche durch. Viel grundsätzlicher geht es hier um eine transzendentale Fragestellung, nämlich um die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Revolution, oder eben um Kritik und darum, dass sie zur wesentlichen Aufgabe selbstbewussten Denkens gehört. Mit diesen transzendentalphilosophischen Überlegungen wird die Welt nicht verändert. Dennoch versucht dieses Buch, einen Beitrag zu leisten: Dies, indem das «Bewusstsein meiner Unwissenheit», wie oben genannt, als wesentliches Charakteristikum des selbstbewussten Denkens ausgewiesen wird. Denn kraft dieser These muss mit dem Denken notwendig die Anerkennung dessen einhergehen, dass die kategoriale Ordnung der Welt auch vom Subjekt abhängig ist. Dieses Bewusstsein verändert noch nichts Konkretes, aber es verändert doch die Haltung des Subjekts in Bezug auf alles Konkrete, in Leben und Wissenschaft: Mit dem Bewusstsein meiner Unwissenheit muss ich mich als Subjekt so verhalten, dass ich die Massstäbe meiner Urteile als beweglich anerkenne, ohne gleichsam den Anspruch auf deren Wahrsein aufgeben zu können; ich muss mich so verhalten, dass ich niemand anders als mich selbst mit meinem Denken als Mitverantwortliche für das Sein der Dinge annehmen muss. 5 Vgl. Kant, KrV, u.a.: A21/ B36f. sondern beide nur in deren Unterscheidung. Der Gewinn dieser Unterscheidung liegt in der Freiheit, Gedanken zu bilden, die weder im Denken noch in der Sinnlichkeit schon enthalten sein können - darin, einerseits über das Offen‐ sichtliche hinaus denken, andererseits über das Denkbare hinaus wahrnehmen zu können. So schafft Kritik das «Bewusstsein meiner Unwissenheit», indem sie daran erinnert, dass die Gegenstände des Denkens nicht alles sind, was ist. 3/ 4 Von dem «Bewusstsein meiner Unwissenheit» schreibt Kant im oben ange‐ führten Zitat, dass es auch aus empirischen Zusammenhängen bekannt sei, daraus zum Beispiel, dass in empirischen Nachforschungen immer wieder noch genauere Modelle und Differenzierungen möglich sind. An anderer Stelle spricht Kant auch von der unendlichen «Mannigfaltigkeit» der sinnlichen Welt, weil ihr sinnlicher Reichtum für das Denken unerschöpflich scheint. 5 Von einer sinnlichen «Einschränkung» empirischer Wissenschaftsmodelle unterscheidet Kant aber eine «Grenzbestimmung» durch Kritik. Anders als die Schranke sinnlicher Akribie ist eine Grenzbestimmung nicht zu überbieten. Weil nun 175 §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens <?page no="176"?> 6 Kant, KrV, A761f./ B789f. 7 Hamann, Metakritik, op. cit., §14. 8 Kant, KrV, A761f./ B789f. das «Bewusstsein meiner Unwissenheit» dem Denken, wie gesehen, ursprüng‐ lich ist und nicht überboten werden kann, vermag nur Kritik zu dessen «Er‐ kenntnis» zu führen, weil Kritik die Unwissenheit als notwendige, d. h. «nie völlig zu hebend[e] Unwissenheit» zu Bewusstsein bringt. Und diese Grenzbe‐ stimmung, die durch Kritik erfolgt, bringt das Denken zum Selbstbewusstsein, sodass umgekehrt das Selbstbewusstsein die Grenze des Denkens bedeutet. Das Selbstbewusstsein ist also ebenso eine notwendige wie negative Grenzbestim‐ mung, und es ist mehr als eine Schranke, denn das Selbstbewusstsein von meiner Unwissenheit ist «nicht bloss Unwissenheit an einem oder anderen Teil, sondern in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art, und zwar nicht etwa nur vermutet, sondern aus Prinzipien bewiesen […]. So ist der Skeptizism [sic! ] ein Ruheplatz für die menschliche Vernunft, die sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kann, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte; denn dieser kann nur in einer völligen Gewissheit angetroffen werden, es sei nun der Erkenntnis der Gegenstände selbst, oder der Grenzen, innerhalb denen alle unsere Erkenntnis von Gegenständen eingeschlossen ist.» 6 Von dieser Konzentration des Denkens am Ruhepunkt des «Skeptizism», an dem sich das Denken aber nicht ausruhen kann, weil keine letzte Gewissheit angetroffen wird, geht der Puls theoretischer Selbstauslegung des Denkens aus. - Hier wird noch einmal ersichtlich, wie schief Hamanns Einwände gegen Kant sind, welche im dritten Kapitel diskutiert wurden: Vernunftkritik, das vermeintliche «Formenspiel einer alten Baubo mit ihr selbst» 7 , ist nicht Selbstbefriedigung, sondern Selbstentzug; die Negativität ist nicht «Zensur», sondern «Kritik» 8 , also im griechischen Wortsinn Dialektik (§17): Aufforderung zur Antwort und Entscheidung (κριτική). Aber die geforderte Entscheidung kann weder gefällt noch abgewiesen werden, weil das Denken seine Grenze von Innerhalb nicht überschreiten, und von Ausserhalb nicht denken kann. Dennoch können wir uns von der «Ge‐ gend» des Denkens, wie Kant schreibt, einen «Entwurf» machen: Wenngleich das Unwissen nicht überboten werden kann, so kann doch zumindest seine Notwendigkeit eingesehen und ein negatives «Bewusstsein meiner Unwissen‐ 176 §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens <?page no="177"?> 9 Vgl. Norbert Fischer und Dieter Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen: Kant und Levinas, München/ Wien/ Zürich/ Paderborn 1999, S. 18. 10 Vgl. Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, op. cit., S. 172. 11 Kant, KrV, B132. 12 Ibidem, B767. 13 Ibidem, AVII. 14 Vgl. Figal, Erscheinungsdinge, op. cit., S. 17. 15 Vgl. Angehrn, Kritik und Versöhnung, op. cit., S. 268 und in diesem Buch §1. heit» (s. o.) erlangt werden. Das bewahrt vor dem Strudel des Irrationalismus 9 : Denn das selbstbewusste Denken starrt nicht wie gelähmt ins Ungewisse, sondern reflektiert das ursprüngliche Verhältnis auf eine Weise, dass es dieses gleichsam umdreht und das Denken im Ungewissen um sich weiss. Das kri‐ tische Subjekt ist sich selbst - als sich von sich teilendes Subjekt und im Bewusstsein seiner Unwissenheit - zu reflektieren in der Lage. 10 Und wo sich das Denken reflektiert, hat es ein Ich. Der Ausdruck: «Bewusstsein meiner Unwissenheit» meint deshalb: «Ich bin Ich» (§4), und mit Kant, «das: Ich denke, [das] alle meine Vorstellungen [muss] begleiten können» 11 (§8). Hierin liegt der Grund, weshalb «sich die Vernunft der Kritik niemals verwei‐ gern kann» 12 : Ich kann vom Denken das Bewusstsein meiner selbst, zumindest der Möglichkeit nach, nicht abstrahieren. Der schon mit dem Faktum des Denkens erhobene kritische Anspruch gehört zum Denken wie das Auge zum Sehen. Kant spricht sogar von einem «Schicksal» der menschlichen Vernunft, weil «sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann […].» 13 Dass es Fragen gibt, die sich weder abweisen noch beantworten lassen, macht den Keim des Zweifels aus, der in der «Natur der Vernunft», dem Faktum, dass ich denke, beschlossen liegt, und von dem ich denkend nicht loskomme. Aber das Denken ist deshalb nicht sinnlos. Vielmehr haben wir gesehen, dass die kreisende Selbstbezüglichkeit ein Abstossen von sich in einer Hinwendung zu dem ausmacht, was sie nicht schon hat. 14 Und dadurch, dass das Bewusstsein negativ ist, erlangt der Zweifel jene stimulierende Impulsivität, aber ohne das Negative zu einem Letzten zu machen 15 : Denn die Negativität bedeutet nicht Ausweglosigkeit, sondern Öffnung; Bereitschaft, das Unerwartete zu entdecken. Belebt wird diese Öffnung nur aufgrund der Defizienz des Denkens, sich zur absoluten Einheit fortzubestimmen. Der Zweifel ist die Folge dieser Defizienz, die also kein Defizit bedeutet, sondern das Fortschreiten des Denkens in dessen nicht abzuschliessender Selbstartikulation. 177 §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens <?page no="178"?> 16 Für einen Überblick über die juristische Metaphorik in der Philosophie, siehe: Georg Sterzenbach, Die Welt als Tribunal: Der Gerichtshof als Metapher in Philosophie und schöner Literatur (= Kritische Justiz 31/ 4), Baden-Baden 1998, S. 486-502, bes. S. 492f. Dieses «Schicksal» (s. o.) der reinen Vernunft weist den Ursprung selbstbe‐ wussten Denkens auch als dessen Ziel aus, weil es das Ziel dadurch charakteri‐ siert, Ursprung (der Suche nach dem Ziel) zu sein. Anders gesagt: Das Denken ist darin, sein Ursprung zu sein, zielhaft, da es diesen Ursprung, der es selbst‐ bestimmt macht, nicht selbst bestimmen kann. Was nicht bestimmt werden kann, obwohl es vorausgesetzt wird, muss Frage oder Anspruch bleiben. Und so schliesst sich im Begriff des Anspruchs das Weiterdenken mit seinem Ursprung wieder zusammen: Der Ursprung des Denkens macht die Teilung aus, die das Erreichen ebendieses Anspruchs auch verunmöglicht. - Derselbe Anspruch verhindert also auch, dass die theoretische Selbsterfahrung des Denkens, wie sie dieses Buch als Kritik der reinen Erfahrung zu artikulieren versucht, in einer Theorie ihr Ziel erreichen kann. Kritik und reine Erfahrung können nicht rein theoretisch bleiben. Und bevor ich meine Überlegungen abschliesse, möchte ich zumindest einen Ausblick auf die neuen Gegenstandsbereiche der Kritik geben, worin die hier erzielte reine Erfahrung wieder anfänglich wird. Der Ursprung des Denkens liegt im Anspruch. Der Anspruch macht das Denken zur Rechtssache, das heisst, er verpflichtet. 16 Weil der Anspruch dem Denken ursprünglich, also notwendig selbstbezüglich ist, obliegt seine Pflicht dem Subjekt. Daher kann die Verantwortung nicht im Sinne einer Offenbarung an eine Transzendenz abgegeben (§16) und der Rechtsstreit durch keinen göttlichen Richtstuhl geschlichtet werden (§11): Der Rechtsgrund des kritischen Denkens - auf dessen Boden der Anspruch allein sinnvoll ist - würde sonst verlassen. Das erste (oder letzte) Urteil kann nur vom Subjekt beansprucht, von ihm aber nicht gefällt werden. Auf diese Weise zwingt uns das Faktum des Denkens, weil sich das Denken «der Kritik niemals verweigern kann» (s. o.), zur unentschuldbaren Selbstverantwortung. Dieser judikative Zusammenhang schlägt sich in der Formulierung des Urteils nieder. Es hat die Form negativer Selbstbezüglichkeit: «S ist P.» (§5). Folgendes sind die in den Urteilskapiteln (§§4-9) herausgearbeiteten Merkmale dieser Formel: Sie spricht, erstens, den Anspruch des Soseins aus, der das Denken zur Rechtssache macht. Das Urteil besagt: es ist soundso. So bewahrt es aber, zweitens, den Abstand zum Behaupteten, wodurch die bewusste Selbstprüfung ermöglicht bzw. drittens, das Erreichen der beanspruchten Einheit verhindert wird. Die Kopula spricht den Anspruch des Soseins aus und behauptet damit, was sie selbst nicht leistet. Auf diese Weise formalisiert sie das Selbstbewusstsein des Denkens als negatives. Denn die Kopula offenbart, dass sich das Denken 178 §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens <?page no="179"?> 17 Fischer und Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, op. cit., S. 21. 18 Fischer und Hattrup beschreiben diesen Zustand als etwas, das «ausgehalten werden soll» (Ibidem, S. 20), weil er notwendig zum Faktum des Denkens gehöre. Diese Auffassung ergänzend darf das «Aushalten» aber kein Ruhen oder Leiden suggerieren. Als reine Erfahrung ist die Fraglichkeit gerade das Motiv eines Strebens. Ich möchte daher lieber von der Erfahrung der Fraglichkeit, als von einem «Zustand» sprechen, weil die Fraglichkeit nichts Gegebenes, sondern aufgegeben ist. 19 Kant, KrV, A758/ B786. 20 Fischer und Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, op. cit., S. 134. 21 Fischer und Hattrup beziehen sich an dieser Stelle auf die zu Beginn dieses Kapitels zitierte Passage aus der KrV: «Dass aber meine Unwissenheit schlechthin notwendig sei, und mich daher von aller weiteren Nachforschung freispreche, lässt sich nicht empirisch, aus Beobachtung, sondern allein kritisch, durch Ergründung der ersten Quellen unserer Erkenntnis ausmachen.» Kant räumt aber gleich im darauf folgenden Satz ein, dass dieses Wissen meiner Unsicherheit eine «nur unbestimmte Erkenntnis einer nie völlig zu hebenden Unwissenheit ist.» (KrV: A758f./ B786f., meine Hervorhebung). nie ganz befriedigt findet, weil es, viertens, sein Negatives will. Ausweis dieser Öffnung zum Negativen ist, fünftens, der Umschlag in die Phänomenologie. Diese ist Ausdruck der bewussten, wenngleich abstrakten Dimension des kritischen Subjekts, das sich weder ganz haben noch loswerden kann. Das Phänomen selbst nannte ich reine Erfahrung (§16). Dieser in der reinen Erfahrung präsente, «labil[e] Zustand der Fraglichkeit» 17 kritischen Denkens bringt die undogmatische Natur unseres logischen Seins zu Bewusstsein. Die Natur dieses Zustands ist eine Aufgabe; und die Fraglichkeit zu erfahren heisst, sich ihr als Aufgabe anzunehmen. 18 Das erfordert einerseits die Bereitschaft, sich aus der einschränkenden Gewohnheit zu befreien. Denn die Aufgabe verlangt, über das Gewöhnliche hinaus kreativ tätig zu werden. Andererseits ist diese Freiheit nicht der freien Wahl überlassen, sondern sie ist Pflicht. Kants «Bewusstsein meiner Unwissenheit» als die «Zurückweisung des Versuchs einer skeptischen Befriedigung des mit sich selbst veruneinigten Denkens» 19 ist mit einem theoretischen Sollen verbunden: «Wir unterliegen laut Kant der Pflicht des Fragens und Suchens in einer Weise, dass wir davon erst ablassen dürfen, wenn wir eingesehen hätten, dass unsere Unwissen‐ heit schlechthin notwendig sei und sie uns daher von aller weiteren Nachforschung freispreche.» 20 Die Pflicht umfasst zuerst ein «Frage[n] und Suche[n]» jener spezifisch kriti‐ schen Einsicht, dass «unsere Unwissenheit schlechthin notwendig sei.» Weil diese Pflicht unausweichlich ist, kann der «Freispruch», von dem Fischer und Hattrup schreiben 21 , nur bedeuten, dass die Einsicht in die Notwendigkeit der eigenen Unwissenheit diese Unwissenheit nicht mehr als Begrenzung, sondern 179 §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens <?page no="180"?> 22 Kant, KrV, B786. 23 Fischer und Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, op. cit., S. 65. als Öffnung erfährt - also findet das Denken dort, wo es seine Grenze zieht, auch seine Freiheit. Diese Freiheit entlastet nicht von der Pflicht zur Kritik, aber sie macht ihre Notwendigkeit transparent. Mit den Begriffen «Pflicht» und «Freiheit» entwirft theoretische Kritik eine gemeinsame Perspektive mit dem moralischen Handeln. Ihr Fluchtpunkt ist das Selbstbewusstsein des Denkens, die theoretische Einsicht in die «Unmöglichkeit der skeptischen Selbstbefriedigung» 22 , von wo aus sich überhaupt erst die Möglichkeit der Freiheit, und somit die Möglichkeit des guten Handelns auftut. Der Ursprung bleibt also eine theoretische These, nämlich «dass die Vernunft, die ihr Erkenntnisvermögen eingrenzt, aus der Beziehung auf das jenseits ihrer Grenzen Liegende lebt. Die Frage nach Ursprung und Ziel dieser Beziehung ist […] entscheidend, da es auf Unbedingtes weist, das innerhalb der theoretischen Philosophie nur im Modus der Defizienz begegnet, also fremd und befremdlich bleibt.» 23 Obwohl «Ursprung und Ziel» des selbstbewussten Denkens theoretischer Natur sind, kann dieses Denken in der Theorie nicht stehen bleiben: Das Resultat der kritischen Untersuchung des Denkens bleibt negativ und nur in einer Erfahrung abstrakter Impulsivität fassbar, die nicht theoretisch gedacht werden kann. Die reine Erfahrung der theoretischen Selbstherausforderung, sich gegen sich erheben zu sollen, fordert auch dazu auf, den Boden der Theorie zu überschreiten. Fischer und Hattrup nennen dies zurecht «fremd und befremdlich» (s. o.), weil die erfahrene Fremdheit nur im Denken erhaltene Fremdheit ist, die das Subjekt daher nicht in die Entfremdung führt, sondern es - weil die Fremdheit zugleich die Ursprünglichkeit des Denkens ausmacht (§1) - zu sich kommen lässt. Die Fremdheit macht das Selbstbewusstsein des Denkens aus, welches das Denken über sich hinaus in die Welt hinein drängt, sodass die dem Denken ursprüngliche Unruhe nicht nur der Ausgangspunkt kritischer Weltbetrachtung, sondern auch verantwortungsvollen Handelns ist. Wo das Denken seiner bewusst ist, wo es ein Ich hat und zum «Bewusstsein [s]einer Unwissenheit» gelangt, spricht es die Verpflichtung aus, über die theoretische Deutung der Welt Rechenschaft abzulegen. In dieser Pflicht reichen sich Theorie und Handlung die Hand. Und mit demselben verpflichtenden Handschlag, der die Möglichkeit der Freiheit beschliesst, öffnet sich eine dritte Dimension des kritischen Denkens. Sie ist Gegenstand des folgenden und abschliessenden Kapitels. 180 §18 Ursprung und Ziel: Über den Anspruch des Denkens <?page no="181"?> §19 Puls der Kunst Mit dem Faktum des Denkens (§1) verpflichten wir uns zum Fällen eines Urteils, das nicht gefällt werden kann. Würde es gefällt werden, so bräche der Gerichtshof der Kritik, der Abstand zwischen Welt und Ich zusammen. Das Denken verlöre seinen Rechtsgrund. Aber die Pflicht rechtmässig zu urteilen können wir nicht zurückweisen, weil die verpflichtende Autorität zugleich unser Selbstbewusstsein ausmacht. Diese Pflicht auszuschlagen würde bedeuten, uns aufzugeben - und das ist unmöglich, weil das Subjekt sich nicht vernichten kann (§15). Aus dieser Uneinigkeit heraus muss das Denken auf Nichtgedanken Bezug nehmen, welche nicht an sich selbst schon begrifflich bestimmt sind, zumal die vollständige Selbstbestimmung nur im Selbstverlust, der unmöglich ist, erreicht werden könnte. Dasselbe gilt nun auch für die reine Erfahrung: Erfahrung muss auf etwas bezogen sein, was nicht mit der Erfahrung hergestellt wird. Sie kann, wie Kritik, nicht schöpferisch werden. Zwar können wir Vorstellungen in der Phantasie erfinden, und diese irgendwie erfahren, doch haben diese Phantasien an sich keinen Objektbezug. Das heisst, in einer reinen Phantasiewelt erfahren wir nichts, was für Kritik relevant wäre. Dazu müssen wir das Phantasierte erst an seinem Anderen, also an gegebenen Vorstellungen der Sinnlichkeit prüfen. Tun wir das nicht, verfallen wir der Gefahr von Kants «Geisterseher» (§10): Traum wäre von Wirklichkeit ununterscheidbar, sodass wir in unserem «Luft‐ schloss» jeglichen Zugang zur geteilten Welt verlören. Deshalb muss alle kritisch relevante, bewusste Erfahrung, auch die reine, am Widerständigen stattfinden; daran, was nicht schon Erfahrung ist. Durch Kritik erscheint alles Widerständige als Schein des Subjekts. Die reine Erfahrung bringt ja gerade dies zur Präsenz: dass im Bezug auf Widerständiges, im Gegenstandsbezug, eine kreative Aktivität des Subjekts unausweichlich ist. Es ist aber nicht offensichtlich, welche Gegenstände die reine Erfahrung überhaupt vorliegen hat. Bloss sinnlich können diese Gegenstände nicht sein, denn sinnliche Gegenstände sind mögliche Begriffe (§9), wohingegen der Gehalt der reinen Erfahrung per definitionem nicht begriffen werden kann (§16). Die reine Erfahrung unterscheidet sich dadurch von der sinnlichen, dass sie keine Gegenstände erfährt, sondern abstrakt bleibt, obwohl sie auf Selbständiges bezogen ist. Was ist das also für eine selbständige Gegenständlichkeit, die nicht die sinnliche Welt ist, und doch zur Erfahrung kommen kann? <?page no="182"?> Die Gegenständlichkeit reiner Erfahrung, nach der wir suchen, muss zwei Kriterien erfüllen. Erstens: Es muss sich um eine Gegenständlichkeit handeln, welche dem Subjekt gegenüber nicht gleichgültig ist, sondern innerhalb der subjektiven Sphäre als widerständig erfahren wird. Zweitens: Das Gegenständ‐ liche kann nicht begreifbar sein, fordert aber ein Urteil; denn Gehalt der reinen Erfahrung ist die urteilende Tätigkeit der Kritik. Die Gegenständlichkeit, nach der wir suchen, muss also so beschaffen sein, dass sie das Paradox nicht urteilender Urteilstätigkeit fordert, weil sie zwar den Anspruch auf ein Urteil stellt, dieses aber nicht gefällt werden kann. (§18) Meine abschliessende These lautet: Der Gegenstandsbereich von Kritik wie auch derjenige der reinen Erfahrung ist mit der Kunst verwandt. Eine endgültige Argumentation für diese These würde eine eigene, kunst‐ philosophische Untersuchung erfordern, auf die ich auf den verbleibenden Seiten nur einen Ausblick geben kann. Ich möchte hier keine umfassende Theorie der Kunst aufstellen, sondern ein Beispiel heranziehen, um die Relevanz künstlerischen Tuns für das kritische Potential des Denkens zu demonstrieren. Es geht also noch immer um die Ausgestaltung der theoretischen Reflexion, in welcher der bisher verfolgte Gedankengang seinen Anfang nimmt. Mit dem Verweis auf die Kunst soll gezeigt werden, dass sie nicht in der schwebenden Abstraktion einer transzendental-philosophischen Abhandlung stehen bleiben muss, sondern beispielhaft in einem Kunstwerk zur Konkretion kommen kann. Damit wird für die theoretische Reflexion obsolet, dass sie nicht nur auf dem nach Eindeutigkeit suchenden (§7) Wissenschaftsmodell fusst, sondern ebenso das Widerspenstige sucht, welches nicht mehr eindeutig, sondern nur künstlerisch formulierbar ist. - Trotz dieser theoretischen Perspektive, welche hier im Zentrum steht, erscheint dadurch auch die Kunst in neuem Licht: Wenn Kritik und Kunst eine verwandte Geisteshaltung von uns verlangen und wir sie als eine reine Erfahrung beschrieben können, so ist die Kunsterfahrung - ent‐ gegen der philosophischen Tradition - nicht mehr nur sinnlich bzw. ästhetisch. Ihr spezifisch kritisches Potential entfaltet Kunst dann im Zuge einer reinen Erfahrung, das heisst, im Zuge einer bewussten intellektuellen Anstrengung des Subjekts. Das Exempel, anhand dessen ich diese Verbindung von Kunst und Kritik erschliessen möchte, ist Cy Twomblys «Study for Presence of a Myth» aus dem Jahre 1959 (Öl auf Leinwand, 178 x 200 cm). «Study for Presence of a Myth» ist ein Bild, das auf den ersten Blick komplett chaotisch und dezentriert erscheint: Schmierereien, Kritzeleien, Patzer und Kleckse auf weiss-dreckigem Grund. Die Erscheinung entzieht sich unserer begrifflichen Kontrolle völlig. Wir können nicht sofort begreifen, was sich uns darbietet. Das führt als 182 §19 Puls der Kunst <?page no="183"?> 1 Dagegen mutmasst Richard Leeman, Cy Twombly. Malen, Zeichnen, Schreiben, München 2004, S. 154), dass der Augenblick, in dem das Werk entstanden sei (es soll eine Silves‐ ternacht gewesen sein) etwas Episches an sich gehabt haben solle. Solche anekdotischen Zusammenhänge klären allerdings nicht über die Schriftzüge auf der Leinwand auf: Der Sinn des Gemäldes wird durch das zufällige Faktum, dass Twombly es (in einer Silvesternacht oder nicht) anfertigte, nicht offensichtlich. Dazu müssen wir weniger nach Hinweisen aus Twombly’s Leben, als nach Hinweisen auf der Leinwand suchen. erstes zu einer Unsicherheit des betrachtenden Subjekts - eine Unsicherheit, welche das kunstbetrachtende Subjekt mit dem kritischen gemeinsam hat (§11). Verunsichert und auf der Suche nach einer kontrollierbaren (begreifbaren) Regelmässigkeit, erkennen wir aber auf den zweiten Blick, dass die Kritzeleien durchaus eine Gesamtkomposition aufweisen: Es gibt ein deutliches Zentrum, etwas oberhalb der Bildmitte. Das Zentrum liegt auf einer Horizontalen, welche anhand einer Reihe ovaler und rechteckiger Formen und einer Zahlenreihe (1, 2, 3, 4) markiert wird. Durchkreuzt wird die Horizontale von einer aufstrebenden Diagonalen. - Man kennt solche dynamischen Kompositionen aus barocken Werken, etwa von Rubens› «Höllensturz der Verdammten» (1620). Offenbar ist die Komposition doch nicht ganz so zufällig und unkontrolliert, wie sie zunächst erscheint. Treten wir noch näher und suchen weiter nach bekannten Formen in dem scheinbaren Chaos, so erkennen wir in den Kritzeleien einzelne Schriftzüge: Neben Zahlenreihen und -kombinationen steht da, eingeklammert, der Titel des Werks: «(Study for Presence of a Myth)», darunter, durchgestri‐ chen: «EPIC MAKing» und «dec». Darunter wiederum: «Valley», und dann, umkreist: «Delos». Ich werde nicht auf alle Schriftzüge eingehen, sondern mich auf die beiden konzentrieren, welche uns über die Verbindung von Kunst und Kritik aufklären können: «Delos» und «EPIC MAKing». Wie so oft in Twomblys Gemälden finden wir Hinweise auf mythologische Zusammenhänge: hier auf die ägäische Insel «Delos», den Geburtsort der Göttin Diana. Der mythologische Verweis, den bereits der Titel nahelegt, eröffnet einen kollektiven Sinnhorizont. Er erinnert uns an jene Geschichten, mit denen sich unsere kulturellen Ahnen, die alten Griechen, die Welt erklärten. Diese Erinnerung bildet eine Art unsichtbare Linie vom heutigen Tag bis weit zurück zur Geburtsstätte unserer Sinnzusammenhänge, zu den Ursprüngen unserer Welterklärungen. Auf diesen Weg der kollektiven Erinnerung führt uns auch der Schriftzug «EPIC MAKing». Zunächst sind wir es, die Betrachterinnen und Betrachter, die etwas «ma‐ chen»: 1 Das Gemälde betrachtend versuchen wir Ordnung in das Chaos zu bringen. Getriggert durch Zahlen, Buchstaben und Zeichenformen hier und dort glauben wir immer wieder, Regelmässigkeiten zu finden: etwa die Zahlen 183 §19 Puls der Kunst <?page no="184"?> 2 Vorbehalte dagegen äussert Leeman, Cy Twombly, op. cit., S. 55-69. 1, 2, 3, 4, 5 und die Reihe 3339, oder auch die repetitiven Zickzacklinien und mandelförmigen Kreise. Ähnliche Zahlen und Formen wiederholen sich nicht nur in «Study for Presence of a Myth», sondern auch in anderen Werken Twomblys. In der Literatur zu Twombly wird deshalb oftmals der Versuch unternommen, die Zeichen wie eine Geheimsprache zu entschlüsseln: Dann werden zum Beispiel die mandelförmigen Formen als Venus und das weibliche Geschlecht dechiffriert, Sinusformen als Apoll und das männliche Geschlecht, und die wolkenähnlichen Gebilde als das Mythische und Transzendente ge‐ deutet. 2 Biographisch wird in diesem Zusammenhang auch gerne die Anekdote erwähnt, dass Twombly während seines Militärdienstes in der Dechiffrierab‐ teilung gearbeitet hat; ihm kam also die Aufgabe zu, Codes zu entschlüsseln. - Aber abgesehen davon, dass solche Versuche nur weitere Zeichen an die Stelle von Zeichen setzen, verunmöglicht das Werk selbst eine solche Deutung. Denn sobald wir glauben, eine Regelmässigkeit gefunden zu haben, entdecken wir auch wieder Abweichungen davon: hier fehlt die Zahl 3, dort ist die 4 doppelt, hier ist der Kreis rund, dort oval, usw. Die Regelmässigkeiten, die wir zunächst zu sehen glauben, sind in Wahrheit keine. Wir Betrachterinnen und Betrachter werden im Dunkel gelassen; wir wissen nicht, ob die Welt des Dargestellten erklärbar ist oder nicht. Diese Unsicherheit in Anbetracht des Werks kann nicht gelindert werden. Dies hat das kunstbetrachtende Subjekt mit dem kritischen gemeinsam. Doch die Unsicherheit ist kein Mangel, sondern der Anfang des Denkens: Dass wir verstehen wollen, aber nicht können, ist der Impuls für die Suche nach Sinn. Das wird klar, wenn wir uns das Gegenteil überlegen: Wer bloss hinnimmt und das Unverstandene zum Selbstverständlichen erklärt, der beendet das Denken. Indem uns Twomblys «Study for Presence of a Myth» aber Regelmässigkeiten anbietet und diese zugleich widerruft, wird unser Denken gerade dadurch herausgefordert, dass es zum Scheitern gezwungen wird. Das Scheitern gibt den Impuls zur Suche. Und so bildet sich in Anbetracht dieses Kunstwerks eine geistige Haltung, die wir bereits aus den theoretischen Überlegungen der voranstehenden Kapitel kennen: es ist eine kritische Haltung. Denn das Kunstwerk stellt die Aufgabe, es zu verstehen, und da wir es nicht verstehen können, erfordert dies, die Kategorien des Denkens zu verflüssigen, ohne dass wir sie ganz aufgeben können. Aber anders als in der theoretischen Kritik, welche von möglichen Gegenständen der Erkenntnis handelt, müssen wir beim Kunstwerk noch zusätzlich einsehen, dass es unmöglich ist, es zu begreifen: Wäre es grundsätzlich möglich, Twomblys «Study for Presence of a Myth» in 184 §19 Puls der Kunst <?page no="185"?> 3 Vgl. Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Frankfurt am Main 2013, S. 78. 4 Roland Barthes, Cy Twombly. Non multa sed multum, Berlin 1979/ 89, S. 29. 5 Vgl. den berühmten ersten Paragraphen von Baumgartens Ästhetik: «Aesthetica (the‐ oria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae.» (Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik I, Ham‐ burg 1762/ 2007, §1). 6 Kant, KU, §13, B37. Begriffen aufzulösen und es wie einen Geheimcode zu entschlüsseln, so verlöre es seine Kunsthaftigkeit. Das Kunstwerk ist also weniger ein Gegenstand des Denkens, als vielmehr ein Gegenüber des Subjekts, das den Widerstand gegen das Denken ebenso hervorzurufen vermag, wie es das Denken fordert - es ist ein Gegenüber, das sich der Objektkonstitution entzieht und die Selbstkonstitution des Subjekts unterläuft. 3 In der Logik des bisherigen Gedankengangs gesprochen bedeutet dies, dass die Unsicherheit des Subjekts in der Betrachtung des Kunstwerks fundamental ist: sie betrifft nicht nur das Weltsondern auch das Selbstbewusstsein (§11). Aber noch radikaler als beim epistemisch-kritischen Weltzugang sind wir in der Betrachtung des Kunstwerks dazu gezwungen, auch die Prämisse anzuzweifeln, dass es möglicherweise verständlich zu machen wäre: Auch eine Variation des Kategorienrahmens könnte keinen abschliessenden Sinn in Twomblys Kleckse und Kringel bringen. Denn obwohl die Zeichen und Formen vielleicht teilweise regelhaft scheinen, so bleibt ihre Regelmässigkeit Schein, also das Resultat unserer Suche nach Sinn. Ohne unser Suchen bezeichnen die Zeichen an sich nichts. Ihr «Code» bleibt ohne Regel. In jedem Moment, wo wir meinen etwas Bekanntes zu finden - eine Zahl, einen Kringel, eine Kombination - findet wieder etwas Neues statt. Die Linien führen uns nicht auf die Fährte eines versteckten Sinns, sie verbergen nicht das Mythische und Epische, sondern sie sind dieses «EPIC MAKing» selbst: unser unendliches Generieren und Durch‐ streichen von Sinn. Die Linien Twomblys begreifen nichts, «greifen nichts», wie Roland Barthes schreibt: sie setzen ab, und alles ist gesagt. 4 Das ist das «EPIC MAKing» von Twomblys Kritzeleien. Diese genuine Unbegreiflichkeit und Sinnoffenheit des Kunstwerks wird in der durch Baumgarten 5 geprägten Tradition oftmals - wenngleich als «von Reiz und Rührung unabhängig» 6 - als ein ästhetischer Konflikt, das heisst, als einer zwischen Sinnlichkeit (αἴσθησις) und Begriff ausgetragen. Demnach unterscheide sich das Kunstwerk von möglichen Objekten der Erkenntnis durch einen sinnlichen Einspruch, welcher beinhalte, dass das Kunstwerk zwar wahrnehmbar sei, wie andere Objekte des Denkens, seine Kunsthaftigkeit aber darin bestehe, mit den Begriffen dieser Objekte nicht erfasst, durch sie nicht 185 §19 Puls der Kunst <?page no="186"?> 7 Vgl. Hindrichs, Scheitern als Rettung, op. cit., S. 146ff. = Hindrichs, Zur kritischen Theorie, op. cit., S. 145ff. 8 Vgl. Figal, Erscheinungsdinge, op. cit., S. 14: «So verstanden, ist das Wissen der Dichter in der Tat unzureichend; sie können das, was sie in einer Dichtung vorstellen und zu erkennen geben, nicht begründen und nicht erläutern. Weil sie keinen situationsu‐ nabhängigen Blick auf eine Sache selbst haben, können sie das, was sie wissen, nicht auch anders sagen.» Die Sache der Kunst ist nicht unabhängig von ihrer jeweiligen Erfassung, weshalb sich ihre Aufweisung nicht als solche durchsichtig machen lässt. 9 Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, S. 71. 10 Diese These des «Ästhetischwerden[s] der Theorie» orientiert sich an einer be‐ stimmten Auslegung von Adornos Ästhetischer Theorie, die Bubner herausgearbeitet hat (Ästhetische Erfahrung, op. cit., hier S. 70ff.). Eine ähnliche These formuliert Menke in seinem Aufsatz zur philosophischen Bedeutung der Kunst (Christoph Menke, Noch nicht. Die philosophische Bedeutung der Ästhetik, München 2009, S. 42f.), wenn er schreibt, dass «der Mangel an Wissen, der die Kunst ausmacht, ihrem Machen nicht äusserlich [ist], sondern das Machen der Kunst als ästhetisches [definiert].» Das «Äs‐ thetische» wird dann zum Positivum eines in sich negativ verfassten Selbstbewusst‐ seinsverhältnisses, das ebenso für das Denken, wie für das Kunsthafte gelten solle: Weil das Machen der Kunst nicht Gegenstand des Wissens sei, im Wissen nicht seinen Grund habe, entziehe es sich demselben, und mache so den «dunkle[n] Grund» (Ibidem, S. 44) des sich nicht selbst wissen könnenden Wissens manifest. 11 Bubner, Ästhetische Erfahrung, op. cit., S. 75. 12 Vgl. Menke, Die Kraft der Kunst, op. cit., S. 70. 13 Zur Problematisierung dieser These, siehe: Birgit Sandkaulen, Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in ästhetische Theorie (= Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68), Stuttgart 1994. konserviert werden zu können. In dieser Tradition wird das Kunstwerk also negativ zum begrifflichen Fassungsvermögen definiert. 7 Wird das Kunstwerk zum Negativum des Begriffs, bleibt es an die Unmittelbarkeit seines materiellen Vorliegens gebunden. Entsprechend ist es unmöglich, ein Kunstwerk begrifflich zu paraphrasieren, da die Paraphrase es von seiner Aktuosität lösen würde. 8 Gleichzeitig muss die Entfaltung des Kunstwerks vom (scheiternden) Versuch abhängen, es zu begreifen. Dieser Auffassung zufolge müssten Kunst und Erkenntnistheorie, Sinnlichkeit und Begriff also in einer wechselseitigen Ne‐ gativität zur «Konvergenz» 9 gebracht werden können: Das kritische Denken müsse, indem es sich negiert, ästhetisch werden 10 - das Kunstwerk fordere umgekehrt (weil es negativ zum Denken erst kunstvoll sei) die Theoretisierung des Ästhetischen. So werde in einer ästhetischen Theorie die Kunst zur «Ersatz‐ funktion» 11 dafür, was Theorie nicht bewältigt. Kunst, so heisst es, exponiere 12 , was das Urteil nicht leisten könne. 13 - Aber ist die Kunst nicht mehr als Rebellin und Statthalterin einer anderen Wahrheit? Denken wir an Twombly: Sagen die Kleckse und Linien nicht mehr, als dass wir sie begreifen wollen und nicht begreifen können? 186 §19 Puls der Kunst <?page no="187"?> 14 Vgl. Bubner, Ästhetische Erfahrung, op. cit., S. 143-156 und dessen Kritik durch Figal in: Figal, Erscheinungsdinge, op. cit., S. 40f. 15 Obwohl die These dort in einem ganz eigenen Zusammenhang steht und (genau entgegen des vorliegenden Buches) zu einem Erlösungsgedanken hinführen soll, hat der vorgeschlagene Ansatz dennoch Ähnlichkeiten mit der Idee Cohens, eine Ästhetik des reinen Gefühls zu schreiben, deren Fundament im reinen Apriori liegen solle, und nicht im Sinnlichen. Das exemplarische Gefühl der Reinheit heisst bei Cohen «Rührung» und sei «der tiefe Urgrund der Bewegung des Bewusstseins, als Bewegung» (Cohen, Äs‐ thetik des reinen Gefühls I, op. cit., S. 208); über Namen und Beschreibung dieses ursprünglichen Gefühls lässt sich freilich streiten. Wichtig ist, dass es um ein Gefühl geht, das von relativen Gefühlsregungen dadurch zu unterscheiden sei, seinen eigenen Inhalt aus sich heraus zu erzeugen, und dadurch «zum Problem der systematischen Philosophie» zu werden. (Ibidem, S. 116). 16 Kant, KrV, Anm. B36. Siehe dazu: Wieland, Urteil und Gefühl, op. cit., §1, S. 25-45 und Figal, Erscheinungsdinge, op. cit., S. 34. Entgegen der Tradition einer ästhetischen Kunsttheorie, die auf dem Konflikt von Sinnlichkeit und Begriff aufbaut, legt der zurückgelegte Gedankengang zur reinen Erfahrung, insbesondere mit Blick auf Twombly, einen anderen Zusammenhang nahe: Zur Diskussion steht ein Kunstbegriff, der nicht in der relativen Inadäquanz der Begriffe gegen kunstvolles Sinnesmaterial gründet, sondern - genau wie Kritik - in der ursprünglichen Widerständigkeit des Denkens gegen sich selbst. Gegen eine «Ästhetisierung» 14 kommt also ein Kunstbegriff in Betracht, der nicht primär in einer ästhetischen, sondern vor allem in einer reinen Erfahrung, also in Kritik wurzelt. 15 Kant selbst hat den Begriff des Ästhetischen im Zusammenhang mit der Kunst vermieden: «Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heissen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten fasste, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich.» 16 Dieselbe Zurückweisung wird ausdrücklich auch von Hegel formuliert. Obwohl er, anders als Kant in der «Kritik der Urteilskraft», den traditionellen Namen für seine Vorlesungen zur «Ästhetik» übernimmt, stellt Hegel gleich zu Beginn klar, dass Ästhetik eigentlich die «Wissenschaft der Empfindung» bezeichne; 187 §19 Puls der Kunst <?page no="188"?> 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (= Gesam‐ melte Werke 28.1), Hamburg 1820-23/ 2015, S. 5 (zitiert gem. der Nachschrift von Wilhelm von Ascheberg und Wilhelm Sax van Terborg). «denn früher betrachtete man in dieser Wissenschaft die Eindrücke auf die Empfin‐ dung; dieser Ausdruck ist aber nicht passend, da hier bloss von der Schönheit der Kunst die Rede ist, und nicht von den Empfindungen, welche die Natur verursacht.» 17 Beide, Kant und Hegel sind der Meinung, dass das Kunsthafte kein kausal erklärbarer, sinnlicher Effekt sei, der mit dem Wort «ästhetisch» adäquat be‐ schreibbar wäre. Die These zu Beginn dieses Kapitels war denn auch: Kunst steht nicht nur sinnlich «rebellisch» gegen den Begriff, sondern sie lässt begriffliche Bezüge systematisch offen; sie verdreht diese derart, dass sie nicht nur nicht eindeutig werden können, sondern die Freiheit des ursprünglich gegen sich denkenden Denkens einfordern. Das heisst natürlich nicht, dass Kunst nicht auch sinnlich wahrgenommen werden kann; ihre ästhetische Dimension soll hier nicht geleugnet werden. Aber ihre spezifisch kritische Potentialität liegt weder darin, Sinneseindrücke zu sammeln, noch deren Konzeptualisierungen zu stören. Die Gerichtsmetaphorik des voranstehenden Kapitels aufgreifend lässt sich dasselbe so formulieren: Während die Pflicht zu denken darin besteht, den Anspruch auf Rechenschaft eines Gedankens ernst zu nehmen, ist es Aufgabe der Kunst, Einspruch im Rechtsprozess zu erheben. Der Einspruch der Kunst im Rechtsprozess verhindert die Fixierung eines Gedankens durch Begriffe. Aber der Einspruch ist nicht nur Reklamation von aussen: Er stellt dem Denken nicht das Unverständliche entgegen. Sondern der Einspruch der Kunst ist gerade als Echo des eigenen Anspruchs zu hören, der das Denken ist, und würde ohne diesen stumm bleiben. Das lässt sich am Beispiel Twomblys gut verdeutlichen: Sinn suggerierend und ihn gleichsam entziehend beansprucht das Kunstwerk unser erkennendes Denken. Es spricht uns an, fordert unser begriffliches Denken heraus; es inszeniert einen Code, den wir entschlüsseln können - aber es will die in Aussicht gestellte Gewissheit des begreifen wollenden Denkens nicht als Prämisse, die wir nicht erfüllen können, sondern als Anspruch, der darum weiss, (im Kunstwerk) nicht erfüllt werden zu können. Um radikalen Einspruch gegen das Denken erheben zu können, kann die Kunstbetrachtung nicht primär sinnlich sein, sondern muss vor allem auf dem Boden der Kritik stehen. Denn wo das Denken keinen Rechtsgrund hat und keine Ansprüche erhebt, hätte auch der Einspruch keine Resonanz. So entfaltet sich das Kritische am Kunstwerk von einer begrifflichen Anstrengung her, gerade weil das Kunstvolle das Begriffliche unterläuft. 188 §19 Puls der Kunst <?page no="189"?> 18 Menke, Die Kraft der Kunst, op. cit., S. 66. Obwohl die Zeichen auf Twomblys Leinwand uns ansprechen, schüren sie keine Hoffnung auf ein sinnvolles Dahinter. Sie lassen uns direkt auf die blanke Leinwand blicken. Der Prozess des Denkens selber ist sichtbar: der Prozess der Sinnsuche, das Ausprobieren, Aufschreiben, Kritzeln und Durchstreichen, jede Schicht der Bearbeitung. Nichts ist übermalt, was unser Blick wieder zu entde‐ cken sucht. Wir haben die transparente Schichtung scheiternder Sinnversuche vor uns. Der weisse Grund, die Leinwand, auf die wir durchblicken, ist die Möglich‐ keitsbedingung malerischer Darstellung überhaupt. Indem Farbe aufgetragen wird, verschwindet sie. Bleibt sie dagegen sichtbar, macht die weisse Leinwand einen Raum des absoluten Anfangens für uns betretbar: Sie ist das Neue und Un‐ bekannte, das noch nicht bestimmte Bestimmbare, die Absenz der Darstellung, weil auf ihr erst das Darstellen möglich wird. So ist die weisse Leinwand der Ort des «EPIC MAKing» und die aufgetragenen Zeichen mögliche Sinnangebote, welche die Zeichen gleichsam durchstreichen. Die Zeichen laden uns dazu ein, nicht zu verstehen, und verweisen so auf das Anfangen des Denkens und Suchen nach Sinn, auf die nackte Leinwand, das blanke Möglichsein. Das Kunstwerk besteht auf einem Urteil, aber auf einem, das «zugleich eine Kritik am Urteil ist.» 18 Hierin sind das kritische Subjekt und das kunstbetrach‐ tende identisch: Sie wenden sich in sich gegen sich selbst. Mit Twombly haben wir gesehen, dass diese kritische Wendung der Kunst noch mehr sein kann als αἴσθησις, als Empfindung, die das Begriffliche unterläuft: Als Einspruch im Urteilsprozess gehört Kunst erstens in die Sphäre des Subjekts, und somit in den öffentlichen Raum oder Rechtszusammenhang - den Raum, in dem im Übrigen auch das moralische Handeln stattfindet und alle Individuen Subjekte, das heisst gleich sind. Zweitens entfaltet sie ihre subversive Kraft nicht ausserhalb des Rechtszusammenhangs von der materiellen Empfindung her, sondern ist das selbstbewusste Tun der Vernichtung des Denkens, die nicht eintreten kann: Bewusstsein der ursprünglichen Impulsivität. (§1) Mit dieser Verbindung von Kunst und Kritik hängt die weitere Bedingung zusammen, dass der Einspruch gegen das Subjekt vom Subjekt selbst vollzogen werden muss. Fällt Kunst in die Sphäre des Subjekts, also den Gerichtshof der Kritik, so kann die gedankliche Arbeit am Kunstwerk zwar gelehrt und erklärt, aber niemals an andere Individuen abgegeben werden. Das Kunstvolle lebt von der Aktivität eines Ichs. Einem unkritischen Subjekt, das von Wahrnehmungen unberührt bleibt, weil ihm alles Gegenständliche äusserlich und epistemologisch eindeutig erscheint, einem solchen Subjekt bleibt das Kunstvolle ebenso fremd, 189 §19 Puls der Kunst <?page no="190"?> 19 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften 7), Frankfurt am Main 1970/ 2014, S. 391. 20 Vgl. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, op. cit., S. 149. wie dem unkritischen Individuum, das seine Meinungen auf private Gefühle reduziert. Für ein unkritisches Subjekt, sei es ein dogmatisches, sei es ein indi‐ viduelles, gibt es streng genommen keine Kunst. Besteht nämlich das Kunstvolle im Einspruch gegen das Urteil, so fordert es die Aktivität des Fällens eines Urteils - eines Urteils, das gleichzeitig die Befreiung von ihm erzwingt. Dieses Motiv, die eigenen Fesseln abzulegen, verschwistert die Kunst mit Kritik. Aber das heisst nicht, dass sie einfach Kritik gegen das Denken ausruft, sondern Kunst hat genau denselben Ursprung wie das Denken: die kritische Entzweiung, wodurch das Denken selbstbewusst wird. Sie hält für jedes Urteil die Verurteilung bereit, für jeden Gedanken seine Vernichtung, für jede Regel - das erfahren wir in Twomblys «Study for Presence of a Myth» - die Ausnahme. Der Einspruch von Twomblys «Study for Presence of a Myth» gegen unser begreifen wollendes Denken ist also nicht der unbegriffliche Abfall oder das, was übrigbleibt, wenn unsere Begriffe am Wahrgenommenen scheitern. Stattdessen ist das Werk vielleicht besser als das eigentliche Motiv des kritischen Denkens selbst zu beschreiben: als Beweggrund dieser dissonanten Melodie, die nach ihrer Auflösung strebt, ohne sie zu erreichen. Das Motiv des kritischen Denkens hat sein letztes Wort nicht in einer Ästhetik, sondern im Ursprung, wo die Kunst inmitten des Denkens, es vorantreibend und widerhallend, - atonal - «musiziert» (§1). Hier ist die Kunst also sogar mehr noch als Einspruch im Rechtsprozess: Sie ist Denken selber, aber Denken in Gestalt seiner Negation. Oder in einem Wort Adornos: Sie ist «der Gedanke, der sich nicht abbremsen lässt.» 19 Weil das Denken ursprünglich gegen sich steht, «sich nicht abbremsen lässt», habe ich in Kapitel 15 für die «Vernichtung» des Begriffs im kritischen Denken argumentiert und so den Umschlag in eine Phänomenologie des (verzweifelten) Denkens eingeleitet, da der Umschlag keinen Ausweg, sondern eine Vertie‐ fung des Pulses selbstvernichtenden Zweifels bedeutet. Verzweifelt ist diese Phänomenologie, weil sich die Vernichtung des Begriffs in ihr nicht einlösen kann; jedes erreichte Ende wäre wieder Reflex eines Anfangens. (§§1, 18) Ihr konsequenter Vollzug ist deshalb eine nicht zu vollbringende Tätigkeit, eine Aufhebungstätigkeit gegen sich selbst: eine revolutio, wenn man so will, d. h. eine Umkehrung im Augenblick ihrer Setzung. Konsequente Kritik - so könnte man nun in Bezug auf die Kunst etwas kühn formulieren - ist selber kunstvoll: ewige Revolution, eine Selbstaufhebung, die nicht eintreten kann. 20 190 §19 Puls der Kunst <?page no="191"?> 21 In seinem schönen Büchlein über Cy Twombly beschreibt Barthes diesen Sinnverlust als «Effekt» von Twomblys Kunst (Barthes, Cy Twombly, op. cit., S. 79): Der Effekt sei kein rhetorischer Trick, sondern eine Folge des Paradoxes einer «unzerlegbare[n] Einheit des Eindrucks […] und Komplexität der Ursachen, der Elemente: der Zusam‐ menhang ist nicht mysteriös […] aber er ist doch unauflöslich. Es ist beinahe eine andere Logik, eine Art Herausforderung […].». 22 Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 363. 23 Cohen beschreibt die Kunst, besonders die Musik, als «Verinnerlichung» des «reinen Selbst» (Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, op. cit., S. 137), weil sie «keinen an‐ deren Inhalt und Gegenstand haben kann, als derjenige allein es ist, den das Selbst bildet.» (Ibidem, S. 136). Viele Menschen haben in Anbetracht von Kunstwerken wie «Study for Presence of a Myth» den Eindruck, nichts zu verstehen - weil sie Sinn wollen, und ihnen das Kunstwerk keinen gibt. 21 Aber wie wir gesehen haben, ist dieses Kunstwerk nicht da um dechiffriert, sondern um nicht verstanden zu werden. Denn gerade in dem Moment, wo wir etwas nicht verstehen, lesen, schauen, hören wir noch einmal wie Kinder - befreit von abstrakten Begriffshüllen, aber auch fragil, verunsichert. Verunsichert wird, wer zu verstehen versucht. Was wir dann lesen, schauen, hören, wenn wir verstehen wollen und nicht verstehen, ist nichts Jenseitiges oder vom Denken Abfallendes, sondern das Suchen selber im begrifflich allgemeinen Horizont einer anspruchsvollen Welt. - Nur klebt der Sinn nicht am Kunstwerk. Das Kunstwerk ist nicht Nachahmung, «Proto‐ koll[…] von Regungen» 22 , Ausdruck eines Eindrucks oder die Kompensation begrifflicher Ungenauigkeit. Sein Sinn klebt an uns: Als Schwester der Kritik ist Kunst nicht zuvörderst äussere Gestalt und Materialität, sondern die Entfaltung eines Scheiterns als Gestaltung im Innern. 23 Das Innesein des Kunstwerks, das gleichsam ein Abstossen vom Bekannten ist, öffnet - sozusagen im Nadelöhr der Urteilskopula, also wo sich das Denken seiner bewusst wird und zur Welt ausgeht -, einen Raum, worin die Möglichkeit der Transformation sich entfaltet, ohne wiederum im Bekannten vergegenständlicht werden zu können. In diesem Raum findet das Subjekt seinen Puls als Echo kritischer Impulsivität. Hier ist der Puls die Kunst: das Leben des kritischen Subjekts, welches das Paradox eines Urteils beansprucht, das nicht gefällt werden kann. Damit erweist sich die Kunst, oder zumindest «Study for Presence of a Myth», am Ende unserer Argumentation als Kandidatin dafür, die Ausgangsfrage dieser Arbeit zu beantworten. Sie lautete: Wie ist Kritik möglich? Im Versuch, dies anzugeben, haben wir gesehen, dass Kritik eine Verpflichtung einfordert, die un‐ erfüllt bleibt. Würde sie erfüllt werden, verlöre das Denken seinen Rechtsgrund und die durch Reflexion gewonnene Distanz würde nichtig. Die Verpflichtung ist deshalb eine Pflicht zur Suche. Und weil nicht schon im vornherein absehbar 191 §19 Puls der Kunst <?page no="192"?> 24 Vgl. Menke, Noch nicht, op. cit. ist, wohin diese führt, wird von uns ebenso die Unschuld des Blicks wie Phan‐ tasie verlangt. Der Zielpunkt der Suche bleibt unsicher, und letztlich muss auch die Möglichkeit der Kritik in der Schwebe bleiben. Die Ausgangsfrage zu beant‐ worten bedeutet daher, ihre Unbeantwortbarkeit zu exponieren: Kritik kann ihre Möglichkeit nicht herleiten, weil sie sich in ihrem Reflexionsverhältnis immer wieder einfängt. Wenn Kritik daher möglich ist, dann muss ihre Möglichkeit in dieser Unmöglichkeit bestehen: in der Unmöglichkeit, die Möglichkeit der Kritik durch Kritik zu beweisen. Gilt nun für die Kunst die obige These, dass ihre Möglichkeit die Unmöglichkeit ihrer Möglichkeit ist 24 , so erweist sie sich als passender Spiegel dafür, den blinden Fleck des kritischen Denkens vor Augen zu führen. - Doch hier stellt sich sogleich das nächste Problem. Wenn die Möglichkeit der Kunst ihre Unmöglichkeit ist, wie kann sie dann sein? Soll die Möglichkeit der Kritik in der Kunst liegen, so kann Kunst nicht unmöglich sein - wenn Kunst aber möglich ist, und somit unmöglich ist, so gilt dasselbe für Kritik, und mit der Unmöglichkeit von Kritik müssten wir schliesslich aufhören, zu denken. Nun gehört es aber zum Faktum des Denkens, dass wir denken. (§1) Und wenn wir denken, so muss Kritik, und Kunst als Möglichkeit der Kritik, möglich sein. Die Möglichkeit der Kunst aber ist nicht von der Möglichkeit der Kritik her zu bestimmen, wenn sie Kritik erst ermöglichen soll. Wir drehten uns sonst im Kreis. Also stellt uns die Ausgangsfrage nach der Möglichkeit der Kritik am Ende vor eine neue Frage und einen neuen Gegenstandsbereich. Die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Kritik heisst: Wie ist Kunst möglich? 192 §19 Puls der Kunst <?page no="193"?> Siglenverzeichnis Immanuel Kant: AA Gesammelte Schriften (1900 ff.): Bd. 1-22 hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 von der Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. KrV Kritik der reinen Vernunft (= AA 03 und 04), Angabe der Seitenzahl gem. der ersten Auflage von 1781 (= A) und der zweiten Auflage von 1787 (= B). 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