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Mehrsprachigkeit in der Literatur

Das probeweise Einführen neuer Spielregeln

1218
2023
978-3-7720-5783-0
978-3-7720-8783-7
A. Francke Verlag 
Áine McMurtry
Barbara Siller
Sandra Vlasta
10.24053/9783772057830

Der Band versammelt 12 Beiträge, die verschiedene Aspekte literarischer Mehrsprachigkeit in den Fokus rücken. So wird das Potenzial mehrsprachiger Texte zur Erneuerung literarischer Formen analysiert. Literarische Übersetzungsstrategien sowie Momente der Intertextualität und Intermedialität bilden einen weiteren Schwerpunkt. Schließlich beleuchten die Beiträge Sprachbilder und Komposita, die aus anderen Sprachen übertragen oder neu gebildet werden. Gemeinsam ist all diesen Schreibverfahren, dass sie sprachliche Automatismen hinterfragen - dadurch eröffnen sich kritische Perspektiven auf sprachliche Formen und Inhalte sowie auf die Materialität von Sprache. Konventionelle Sprachregeln werden kritisch untersucht, neu gedacht, überschritten oder auf den Kopf gestellt und das auf eine spielerische Weise - mehrsprachige Texte erweitern somit das Set der Spielregeln. Die Beiträge untersuchen diese Schreibpraktiken bei Albert Drach, Johann Wolfgang von Goethe, Kurt Lanthaler, Klaus Modick, Karl Philipp Moritz, Herta Müller, Jean Paul, Yael Ronen, Yoko Tawada, Vladimir Vertlib, Olivia Wenzel, Uljana Wolf und Stefano Zangrando.

<?page no="0"?> L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M Mehrsprachigkeit in der Literatur Das probeweise Einführen neuer Spielregeln Áine McMurtry • Barbara Siller Sandra Vlasta (Hrsg.) <?page no="1"?> Mehrsprachigkeit in der Literatur <?page no="2"?> Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Genova) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 5 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism <?page no="3"?> Áine McMurtry / Barbara Siller / Sandra Vlasta (Hrsg.) Mehrsprachigkeit in der Literatur Das probeweise Einführen neuer Spielregeln <?page no="4"?> Die Publikation erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch das King’s College London und das College of Arts, Celtic Studies and Social Sciences am University College Cork. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057830 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8783-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5783-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0247-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 21 43 67 85 109 133 161 183 205 Inhalt Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Gunkel Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung - Überlegungen zur Analyse von mehrsprachigen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . Ramona Pellegrino Spiegel im eigenen Wort. Beispiele der Selbstübersetzung in der transkulturellen deutschsprachigen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sandra Vlasta „Nichts habe ich häufiger hier gehört, als den Ausdruck: never mind it! “ - Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19.-Jahrhunderts als mehrsprachiges Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Till Dembeck Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Siller Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta von Kurt Lanthaler und Stefano Zangrando: Fortsetzung, Rezeption und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Rath „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung Áine McMurtry [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Guldin „Eine Frauennase in einem Männergesicht“. Zum Verhältnis von Körper- und Raummetaphern der Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Garde Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen in der postmigrantischen mehrsprachigen Gegenwartsliteratur: Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst und Yael Ronens The Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 227 239 251 271 275 Rolf Parr Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anita Czeglédy Das schicksalhaft Einmalige der Sprache. Strategien der Ich- und Weltkonstruktion in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ester Saletta Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Wir bedanken uns bei Till Dembeck für diesen Titel, den er in der Diskussion bei unserer IVG-Sektion „Mehrsprachige Texte in der ‚deutschsprachigen’ Literatur‘“ in Palermo 2021 formuliert hat. 2 Wittgenstein, Ludwig (1999). Philosophische Untersuchungen. Herausgegeben von G. E. M. Anscombe, R. Rhees, G. H. Von Wright. Ludwig Wittgenstein Werkausgabe, Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 231-485, Punkt 3. Abrufbar unter: Philosophische Untersuchungen - The Ludwig Wittgenstein XE "Wittgenstein, Ludwig" Project (Stand: 22.05.2023). 3 Wittgenstein (1999: Punkt 7). Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 1 Ludwig Wittgenstein hat die Verbindung zwischen Spiel und Sprache hergestellt und daraus seine Definition für das Sprachspiel entwickelt. Den Ausgangspunkt bildet dabei zunächst die Betrachtung der Sprache als System, das Augustinus folgend für die Kommunikation ausschlaggebend ist, die vielfältigen Aspekte der Sprache jedoch nicht beschreiben kann, wie Wittgenstein sodann veran‐ schaulicht: Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: ‚Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar? ‘ Die Antwort ist dann: ‚Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.‘ Es ist, als erklärte jemand: ‚Spielen besteht darin, daß man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt …..‘ - und wir ihm antworten: ‚Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.‘ 2 Spielen wird also zunächst als ein automatisierter Prozess verstanden, in dem der Spieler bestimmten Regeln folgt, selbst aber keinen ‚Spielraum‘ hat, diese ab‐ zuändern, kreativ damit umzugehen oder sogar gegen die Regeln zu verstoßen. Offensichtlich wird dabei ein grundsätzlich entscheidender Aspekt des Spielens, nämlich das Regelsystem, das jedem Spiel zugrunde liegt. Wenn Wittgenstein sich dann auf ‚das Ganze‘ bezieht und dabei eine weitläufige Definition des Sprachspiels entwickelt, spricht er von „der Sprache und [den] Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist“ 3 und auch dem Sprachspiel in Verbindung mit einer <?page no="8"?> 4 Wittgenstein (1999: Punkt 23). 5 ›spiel‹ in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen | DWDS (Stand: 22.05.2023). 6 Crowley Patrick/ Jordan, Shirley (2020). What Forms can do: The Work of Form in 20thand 21st-century French Literature and Thought. Liverpool: University Press, 1. 7 Levine, Caroline (2015). Whole, Rhythm, Hierarchy, Network. Princeton: University Press, 6-11. 8 Vgl. Levine (2015: 2) sowie Crowley/ Jordan (2020: 13). 9 Vgl. Crowley/ Jordan (2020: 17). „Lebensform“. 4 Spiel hat also auch mit Formen zu tun und gleichzeitig mit einem vergnüglichen und scherzhaften Umgang mit Formen, wenn man die Etymo‐ logie des Wortes berücksichtigt. ‚Spiel‘ meint im Alt- und Mittelhochdeutschen unter anderem „Tanz, Zeitvertreib, Scherz, Unterhaltung, Vergnügen, Musik“ 5 . Jedoch selbst die Formen verfügen über ihre eigene „agency“ 6 und haben ihre ganz spezifischen Bedeutungen oder „affordances“ 7 , wie Caroline Levine es nennt. Der Begriff „affordances“ stammt ursprünglich aus der Psychologie, wanderte dann ins Feld des Designs weiter und findet inzwischen vielfach Verwendung in der Linguistik, insbesondere im Forschungsbereich der Mehr‐ sprachigkeit und des Spracherwerbs. ‚Affordances’ steht für die Eigenschaft eines Gegenstandes oder einer Umgebung, die dem Individuum Möglichkeiten und ein bestimmtes Handlungspotential eröffnet: Im Fall der Spracherwerbs‐ forschung, beispielsweise, bezieht sich der Begriff auf die Lernmӧglichkeiten, die den Lernenden geboten werden und die sie je nach Situation annehmen oder nicht. Angewandt auf die mehrsprachigen Literaturen bedeutet dies, dass deren ästhetische Formen über ihr ganz eigenes Potential verfügen. Sie stehen in einem Verhältnis zu sozialen Formen 8 , wenn beispielsweise ein Neologismus herkömmliche Denk- und Lebensmuster in Frage stellt. Formen kӧnnen neue Bedeutungen kreieren, geläufige Denkkategorien hinterfragen und Denkmuster unterlaufen und sind daher flexible ‚Kategorien‘, die für Verӓnderung offen sind und diese auch anregen kӧnnen: […] form is about the potential for transformation and of an unceasing translation of what surrounds us. As such, form transforms us and also serves to transform how we see and read the world. 9 Wenn wir also vom probeweisen Einführen neuer Spielregeln sprechen, wollen wir alle diese Bedeutungen des Spiels und die Funktionen der Formen in unsere Betrachtungen der Sprache(n) in mehrsprachiger Literatur mitaufnehmen: Sprache ist ein auf Konventionen basierendes System mit bestimmten Regeln und Formen mit ganz spezifischen Bedeutungen, mit denen die SprecherInnen kreativ und spielerisch umgehen und die sie abwandeln können. Dies kann durchaus auch unterhaltsam und scherzhaft sein, wie mehrere der Beitrӓge 8 Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln <?page no="9"?> 10 Kilchmann, Esther (2012). Poetik des fremden Wortes. Techniken und Topoi heterolin‐ gualer Gegenwartsliteratur. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3, 109-129. 11 Vgl. Šklovskij, Viktor (1971). Kunst als Verfahren. In: Striedter, Jurij (Hrsg.) Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1971, 3-35. 12 Dembeck, Till/ Parr, Rolf (2017). Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tü‐ bingen: Narr Francke Attempto, 9. 13 Als bedeutende Beiträge zum neueren Forschungsfeld im Bereich deutschsprachiger Literatur gelten u. a.: Schmeling, Manfred/ Schmitz-Emans, Monika (Hrsg.) (2002): Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann; Ette, Ottmar (2005). ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin. Kulturverlag Kadmos; Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert (Hrsg.) (2007). Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos; Zeitschrift für interkulturelle Germanistik ZIG (1. Ausgabe Juli 2010), herausgegeben von Heimböckel, Dieter/ W.B. Hess-Lüttich, Ernest/ Mein, Georg/ Sieburg, Heinz. Bielefeld: transcript. Bürger-Koftis, Michaela/ Schweiger, Hannes/ Vlasta, Sandra (Hrsg.) (2010). Polyphonie. Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien: Praesens Verlag; Heimböckel, Dieter/ Honeff-Becker, Irmgard/ Mein, Georg/ Sieburg, Heinz (Hrsg.) (2010). Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un-)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München: Wilhelm Fink; Radaelli, Giulia (2011). Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin: De Gruyter; Kilchmann, Esther (Hrsg.) (2012). Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3; Yildiz, Yasemin (2012). Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press. Dembeck, Till / Uhrmacher, Anne (Hrsg.) (2016). Das literarische Leben der Mehrsprachigkeit. Methodische Erkundungen. Heidelberg: Universitäts‐ verlag Winter; Gramling, David (2016). The Invention of Monolingualism. New York: Bloomsbury; Barbara Siller/ Sandra Vlasta (Hrsg.) (2020): Literarische (Mehr)Sprachre‐ flexionen. Wien: Praesens Verlag. im folgenden Band darstellen. Der kreative und innovative Umgang, der - wie Esther Kilchmann in ihrem Beitrag ‘Poetik des fremden Worts. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur’ darstellt 10 - den Blick auf die Sprache deautomatisiert oder verfremdet, und, mit Viktor Šklovskij gesprochen den Stein wieder zum Stein macht, uns also die Bedeutung der Wörter wieder fühlen lässt 11 , ist ein Kennzeichen von Literatur generell. Der Fokus des vor‐ liegenden Bandes liegt auf Texten mit Deutsch als Basissprache, die mit den Regeln und Formen verschiedener Sprachen spielen, also auf mehrsprachigen Phänomenen in der moderneren deutschsprachigen Literatur. Wie Till Dembeck und Rolf Parr schon 2017 in ihrer Einleitung zum Handbuch zur Literatur und Mehrsprachigkeit betonten, ist „[i]n der internationalen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung […] das Interesse an Mehrsprachigkeit in den vergangenen Jahren stark gestiegen.“ 12 Seit der Jahrtausendwende kann literarische Mehrsprachigkeit als neues Forschungsfeld beschrieben werden. 13 Laut Dembeck und Parr fördere diese Entwicklung „einen wichtigen Zugang zu Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 9 <?page no="10"?> 14 Dembeck/ Parr (2017: 9-10). 15 Kilchmann (2012: 11). 16 Wolf, Uljana (2022). Leben ist eine intensive Form des Übersetzens. Abrufbar unter: ht tps: / / www.tralalit.de/ 2022/ 05/ 11/ uljana-wolf-interview/ (Stand: 05.07.2023). 17 Tawada, Yoko (1996). Von der Muttersprache zur Sprachmutter. In: Talisman. Tübingen: konkursbuch, 9-15, hier 15. 18 Vgl. Greenblatt, Stephen (1980). Renaissance Self-Fashioning. From More to Shake‐ speare. Chicago: University of Chicago Press. Phänomenen sprachlicher, kultureller und auch sozialer Differenz“ und öffne ein „erstarkte[s] Interesse an der sprachlichen Struktur der literarischen Textu‐ alität“, sowie „die Möglichkeit, die Einschränkungen der nationalphilologischen Betrachtungsweise zu überwinden.“ 14 Vor diesem Forschungshintergrund und im Kontext des ständig anwach‐ senden Feldes zur literarischen Mehrsprachigkeit bietet dieser Band Fallstudien im Bereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Im Sinne Esther Kilch‐ manns werfen auch einige der hier versammelten Beiträge „Schlaglichter auf eine verdeckte Geschichte mehrsprachigen Schreibens in der deutschen Lite‐ ratur“, die immer noch vergleichsweise wenig erforscht ist. 15 In den mehrspra‐ chigen Werken im Fokus dieser Studie, so unsere These, ergeben sich durch die Begegnung zwischen verschiedenen Sprachen und Sprachvarietäten besondere Formen mit ihren eigenen, innovativen Spielregeln, die im Mittelpunkt der hier versammelten Beiträge stehen. So spricht die mehrsprachige Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf zum Beispiel von ihrem „Pendeln zwischen Spiel und Strenge“, wobei die Unsicherheit als „Erkenntnismotor“ für ihre Schreibpraxis gelte. 16 Für die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada erlaubt die Verwendung der Fremdsprache einen freieren Umgang mit der Sprache, der in ihrem bekannten Bild des Heftklammerentferners vermittelt wird: In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so dass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Ge‐ danken so fest an die Worte, dass weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerent‐ ferner: Er entfernt alles, was sich aneinander heftet und sich festklammert. 17 Die Sprachkontakte in diesen Werken haben unterschiedliche formale Erschei‐ nungsformen und verschiedene Funktionen: Es lassen sich zum Beispiel Per‐ spektivenwechsel erzeugen, Distanz zu den Sprachen herstellen, spielerische, subversive und komische Momente generieren und polyvalente Bedeutungen kreativ nutzen. Mehrsprachigkeit kann zur Erneuerung einer Gattung dienen oder auch zur Positionierung oder dem self-fashioning  18 der AutorInnen. Auf diese und andere Weisen entstehen durch die Mehrsprachigkeit Brüche, die 10 Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln <?page no="11"?> 19 Yildiz, Yasemin (2012), Beyond the Mother Tongue: the Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press, 29. 20 Kilchmann, Esther (2013). Die monolinguale Norm und ihre Durchkreuzung. Studien zu Kafka, Adorno, Tawada, Özdamar und Zaimoglu. (Rezension über: Yasemin Yildiz: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press 2012.) In: IASLonline [12.11.2013] Abrufbar unter: http: / / www.iaslonline.de/ index.php? vorgang_id=3614 (Stand: 05.07.2023). 21 Gramling, David/ Warner, Chantelle (2012). Critical Multilingualism Studies 1: 1, 1- 11. Abrufbar unter: https: / / cms.arizona.edu/ index.php/ multilingual/ article/ view/ 14/ 31 (Stand: 05.07.2023). auf Entautomatisierung und Verfremdung von Sprache abzielen und dadurch kritische Funktion haben können. Laut Yasemin Yildiz ermögliche die „kritische Mehrsprachigkeit“ eine alternative Konzeptualisierung der Muttersprache, die sprachliche Herkunft, gemeinschaftliche Zugehörigkeit und affektive Investi‐ tionen trenne. 19 Yildiz setzt beim problematischen Begriff der Muttersprache an, um neuere Formen der Mehrsprachigkeit zu untersuchen, die in den letzten Jahren durch erhöhte Migration, globale Bewegungen sowie neue Technologien und Medien zirkulieren und neu wahrgenommen werden können. Wie Esther Kilchmann hervorgehoben hat, schlägt Yildiz die Wendung „postmonolingual“ vor, um die Spannung zwischen der Kritik der Einsprachigkeit und den damit verbundenen Identitätskonzepten einerseits und dem Entwurf dieser multilin‐ gual orientierten Ordnungen andererseits beschreiben zu können. 20 Yildiz argu‐ mentiert, dass postmonolinguale Texte das einsprachige Modell nicht umstürzen wollen, aber kritische Perspektiven auf seine Einschränkungen bieten, die neue Verbindungen und Denkmuster ermöglichen, da sie Methoden der Sprach‐ wechsel und Sprachmischung vorziehen, die nichts mit angeborener, sprachlich determinierter Zugehörigkeit zu tun haben. Der Begriff der „kritischen Mehr‐ sprachigkeit“ ist bekannterweise auch von anderen Forschern - zum Beispiel im Titel der Zeitschrift Critical Multilingualism Studies, die 2012 von den nordame‐ rikanischen GermanistInnen David Gramling und Chantelle Warner gegründet wurde - aufgenommen worden, um transdisziplinäre Praktiken zu untersuchen, die einerseits Ideologien der Einsprachigkeit zerlegen, andererseits aber kritisch mit dem breitgefächerten Begriff umgehen. 21 Für die Aufsätze in diesem Band ist dieser breite Begriff der „kritischen Mehrsprachigkeit“ hilfreich, um die Verbin‐ dung zwischen diversen multilingualen Formen - unter anderen Sprachwechsel, Code-switching und Sprachmischung - und ihre Problematisierung der engen Definitionen und Kategorien des Hegemonialdiskurses zu verstehen. Auch Caroline Levine hat sich mit dem kritischen Potenzial von Formen auseinandergesetzt und dafür plädiert, Formen im literaturwissenschaftlichen Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 11 <?page no="12"?> 22 Vgl. Levine (2015: 4-5). 23 Levine (2015: 16). 24 Levine (2015: 18). 25 Levine (2015: 17). Kontext in einem weiteren Sinne zu definieren. Für eine fruchtbare Analyse literarischer Werke sowie anderer kultureller Artefakte sei nicht nur der Blick auf die ästhetischen, sondern auch auf die sozio-politischen Formen (die aus dem sozialen und politischen Kontext in ein Werk einfließen, wie Institutionen, Hierarchien, zeitliche Abläufe etc.) wichtig bzw. die Verschränkung der beiden Zugänge. Zudem unterstreicht sie die verschiedenen Eigenschaften, die Formen im literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurs zugeschrieben werden, wie die Einschränkung durch Formen, deren abgrenzende oder differenzierende Wirkung, ihr Überlappen, ihre Beweglichkeit sowohl in historischer als auch sozialer Perspektive und, schließlich, ihre politische Funktion in bestimmten historischen Kontexten. Diese Eigenschaften seien bei einer Analyse mitzu‐ denken, um zu einer neuen Theorie der Form zu gelangen. Levine versteht Formen als Politik - sie denkt zum Beispiel an die Aufteilung von Räumen, die Verteilung von Ressourcen sowie die Einteilung von Zeit, die ohne Form nicht denkbar wären. 22 Doch es geht ihr nicht nur um die Ordnung, die in und durch verschiedene Formen erzählt wird - binäre Strukturen wie Mann-Frau, schwarz-weiß etc. -, sondern gerade auch um die Unordnung, die „disorganization“ oder „collision“, wie sie es nennt. 23 Denn sie will politische Verhältnisse und Ideologien nicht nur analysieren (etwas, worauf sich ihrer Meinung nach die Linke zu sehr konzentriert hat), sondern spricht sich für einen Formalismus aus, der „radical social change“ 24 mit sich bringt. Dies wird möglich eben durch ein Augenmerk auf Kollisionen, dem Aufeinandertreffen verschie‐ dener Formen. Das bringt uns zurück zu den Texten, die im Mittelpunkt dieses Bandes stehen: Sprachen, gesehen als ästhetische sowie soziale Formen, als Formen mit verschiedenen, sich auch widersprechenden Eigenschaften, treffen in den mehrsprachigen Texten, die hier im Mittelpunkt stehen, wortwörtlich aufeinander. Damit passiert in diesen Texten eine Kollision auf formaler Ebene (d. h. auch auf syntaktischer, lexikalischer, teilweise auch auf morphologischer Ebene), der verschiedene Aufeinandertreffen auf der (semantischen) Ebene der Handlung, der Figuren sowie der soziolinguistischen Ebene der Rezeption (und auch schon der Produktion) etc. entsprechen. Viele der in diesem Band besprochenen Texte sind ein Beispiel dafür, wie „the multiple forms of the world come into conflict and disorganize experience in ways that call for unconventional political strategies.“ 25 So eröffnet in den Schriften Uljana Wolfs das Spiel um die Wanderwege der Wörter zwischen Sprachen und Ländern 12 Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln <?page no="13"?> 26 Oliver, José F.A. (2013). Lyrisches Schreiben im Unterricht. Seelze: Klett/ Kallmeyer, 212. 27 Vgl. dazu Levine (2015: 17). politische Fragen der Migration, Einwanderung und Sprachpolitik. Literatur, die Geschichten mehrsprachig erzählt und Momente einer konventionellen, linearen Kommunikation unterbricht, unterwandert Formen und bricht sie auf. Sehr deutlich wird dies in Kurt Lanthalers literarischem Werk, das durch seinen kreativ-spielerischen Umgang mit Sprach- und Übersetzungsebenen das monolinguale Paradigma gänzlich durchbricht und mehrsprachige Welten erschafft, die Sprachhierarchien, wie jene zwischen Standardsprachen und Sprachvarietäten, durchqueren. Noch existentieller betont der mehrsprachige Lyriker José F.A. Oliver die Wichtigkeit, kommunikative Sprachformen zu stören, um stattdessen Fälle von Unverständnis, Spannung und aktivem Nicht‐ verstehen zuzulassen: Das Nicht-Verstehen zulassen, immer tiefer hineinhören in die w: orte, um gehört zu werden angesichts all der Erklärungsmuster, die immer auch Ausgrenzung be‐ deuten. . . . Sprachwirksamkeit und Wortwirksamkeit, die zerstören: vernichten. Wie diese zur Shoa geführt haben. Nicht „führten“. Kein Präteritum des Wortes „führen“, denn die Tat ist vergangen, nicht die Zeit mit ihr zu leben. 26 Durch ihr teils radikal experimentelles Umgehen mit Sprachregeln und -kon‐ ventionen kritisieren multilinguale Texte bestehende Formen und fordern das Hinterfragen von Formen heraus. Hierin liegt schließlich das radikale politische Potential der Texte: Sie zeigen auf der Ebene der Texte, wie wir, mit Roberto Mangabeira Unger gesprochen, unser soziales Leben sinnvoller als „makeshift […] order“ denn als kohärentes System verstehen können. 27 Die Beiträge im vorliegenden Band loten die neuen Spielregeln aus, die lite‐ rarische Mehrsprachigkeit in die ,deutschsprachige‘ Literatur einbringt. Diese neuen Spielregeln betreffen Sprache, Form und Inhalte, aber auch theoretische Zugänge und literaturwissenschaftliche Ansätze. Schließlich haben sie auch Auswirkungen auf die Rezeption und sind im Kontext des literarischen Feldes zu denken. Dementsprechend vielfältig sind die folgenden Artikel. Sie versuchen, die Forschung zur literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeit theoretisch und methodisch zu erweitern, indem sie - nicht zuletzt im Sinne von Till Dembecks Vorschlag einer Mehrsprachigkeitsphilologie - die Schnittstellen zwischen Philologie und Linguistik sowie Literatur- und Translationswissen‐ schaft dafür fruchtbar machen. Andere Beiträge sind historischen Studien gewidmet, die unser heutiges Verständnis einer scheinbar monolingualen Ro‐ mantik bzw. des ganzen 19. Jahrhunderts hinterfragen, wenn nicht sogar wider‐ Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 13 <?page no="14"?> legen. Mehrere Beiträge zeigen anhand konkreter Textanalysen, wie AutorInnen mehrsprachiger Texte mit Stilmitteln wie der Metapher, aber auch anderen literarischen Strategien wie intertextuellen Verweisen und Übersetzung, Bedeu‐ tungen verschieben und neuen Sinn produzieren. Katrin Gunkel beleuchtet in ihrem Beitrag die Schnittstellen zwischen der Philologie und der Linguistik, die ihrer Ansicht nach für die Forschung der literarischen Mehrsprachigkeit bisher zu wenig fruchtbar gemacht wurden. Wenngleich sich das in den letzten Jahren zu verändern beginnt, u. a. mit den Arbeiten von Jochen Bär, Jana-Katharina Mende und Pamela Steen (2015) im Bereich der ‚Literaturlinguistik‘, so verdeutlicht der Beitrag, gibt es hier noch viel Forschungspotential. Dies zeigt sich beispielsweise am Code-switching, wo sich die mündliche Form von der schriftlichen oft kaum unterscheidet. Das Verständnis der Strategien des Code-switchings, die in den unterschiedlichen Ansätzen der Linguistik von der „soziolinguistische[n] Mehrsprachigkeitsfor‐ schung, [über] die kognitiv-psycholinguistische Mehrsprachigkeitsforschung [bis hin zur] Sprachkontaktforschung“ (31) beschrieben werden, kann nicht nur interessante Einsichten für literarisches Code-switching bieten, sondern liefert auch Begrifflichkeiten, die durchaus auch für die Philologie nutzbar sein können. Mehrsprachigkeitsphilologie versteht Gunkel als jene Disziplin, die sich sowohl von der Linguistik als auch von der Philologie bereichern lässt und die es versteht, Verknüpfungspunkte zwischen den Disziplinen wahrzunehmen und herzustellen. Ramona Pellegrino nähert in ihrem Beitrag ebenfalls zwei Disziplinen an, nämlich jene der Literaturwissenschaft und die der Übersetzungswissenschaft. Sie untersucht Selbstübersetzung bei einigen deutschschreibenden AutorInnen, deren Erstsprache nicht das Deutsche ist, wie Franco Biondi, Zwetelina Dam‐ janova, Yüksel Pazarkaya, Yoko Tawada und Vladimir Vertlib. Pellegrino hält fest, dass es sich bei den fraglichen Texten, die sie der transkulturellen Literatur zurechnet, um keine Selbstübersetzung im rein translationswissenschaftlichen Sinne handelt, sondern diese eng mit Realisierungsformen der literarischen Mehrsprachigkeit verbunden ist. In ihrem Beitrag analysiert sie die unterschied‐ lichen Motivationen, Entstehungskontexte und Formen der Selbstübersetzung der untersuchten AutorInnen, um damit die Komplexität dieses Phänomens innerhalb des umfangreichen Korpus der deutschsprachigen Texte, die in einem mehrsprachigen bzw. von Sprachwechsel geprägten Umfeld entstanden sind, zu unterstreichen. Auch der Beitrag von Sandra Vlasta bezieht sich auf die von Till Dembeck in die Diskussion eingebrachte Mehrsprachigkeitsphilologie und schlägt vor, die Gattung Reisebericht als mehrsprachig zu verstehen. Vlasta analysiert 14 Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln <?page no="15"?> historische Reiseberichte von Johann Wolfgang von Goethe, Georg Forster, Karl Philipp Moritz und Fanny Lewald, die üblicherweise der deutschsprachigen Literatur zugerechnet werden und zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Dabei geht sie von der These aus, dass literarische Mehrsprachigkeit ein typisches Element der Gattung Reisebericht ist. Diese Mehrsprachigkeit zeigt sich in den konkreten Texten auf unterschied‐ liche Weise, so zum Beispiel im Rahmen der Produktion von mehrsprachigen ReiseschriftstellerInnen, als explizite und latente Mehrsprachigkeit in den Texten oder als ‚mehrsprachige Intertextualität‘. Dementsprechend vielfältig ist auch die Funktion der literarischen Mehrsprachigkeit im Reisebericht: sie kann helfen, den Bericht authentisch erscheinen zu lassen; sie kann exotisie‐ rende Funktion haben; sie kann zur Inszenierung bzw. Positionierung des Erzählenden/ Reisenden dienen oder sie kann die LeserInnen stärker in den Bericht einbeziehen. Der Beitrag zeigt, dass unsere heutige Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts als einer Zeit, in der die Einsprachigkeit im Rahmen der Ausbildung der Nationen die angestrebte Norm war, nur bedingt gültig ist. Die zu jener Zeit äußerst beliebte Gattung des Reiseberichts war jedenfalls hochgradig mehrsprachig. Der Aufsatz von Till Dembeck zeigt ebenfalls eine Traditionslinie literarischer Sprachpolitik auf, die angesichts des aktuellen Interesses für die Etablierung des ‚Einsprachigkeitsparadigmas‘ im Zeitalter des romantischen Nationalismus oft übersehen wird. Anhand einer Analyse von Texten Jean Pauls, aber auch von Aspekten wie dem des ‚anderssprachigen‘ Namens dieses Autors, fragt Dembeck nach dem Stellenwert der Mehrsprachigkeit bei dem Romantiker und der Verbindung von Witz und Humor und Mehrsprachigkeit. Jean Paul vertrete eine humoristische Poetik der sprachlichen Fülle, die andere Sprachen als funktional äquivalente Mittel zur Erweiterung des Ausdrucksvermögens und zumal des ‚Witzes‘ nutzten. Wie Dembeck in seinem Beitrag zeigt, verwendet Jean Paul scheinbar konservative, von ihm propagierte Verfahren wie die Sprachreinigung und die Beseitigung des Fugen-s auf humoristische Weise zur Verfremdung der deutschen Einsprachigkeit. Dieses Denken zeige, so Dembeck, dass Einsprachigkeit nur als „Ergebnis einer humoristischen Verwechslung vorstellbar ist“ (85) und deshalb mit Humor behandelt werden muss. Barbara Siller liest Kurt Lanthalers Roman Das Delta (2007) als einen Text, der durch eine ausgesprochene Vielstimmigkeit (Bakhtin 1986) und intensivierte Sprachigkeit (Beyer 2002, Stockhammer/ Arndt/ Naguschewski 2007) gekenn‐ zeichnet ist und dadurch besondere kulturelle und politische Implikationen hat. Der Roman entwickelt sich in den Sprachen und durch die Sprachen, nämlich das Deutsche, das Italienische und die unterschiedlichen Varietӓten Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 15 <?page no="16"?> der Regionen Italiens, die der Protagonist aufsucht. Der Beitrag untersucht, wie der Text aufgrund der vielfältigen Übersetzungsstrategien, die der Autor wählt, insbesondere des „einschließenden code-switching“ (109), eine Reihe von Lesemӧglichkeiten eröffnet sowie auch einem Lesepublikum nahe gebracht werden kann, das die italienischen Textteile nicht versteht. Wie dieser bereits mehrsprachige Roman dann ins Italienische übersetzt werden kann, wird anhand der Übersetzung durch Stefano Zangrando beleuchtet, der sich mit den verschiedenen Formen von ‚Verlusten‘ durch Übersetzung konfrontieren musste. Die sprachliche, literarische und politische Relevanz dieser mehrspra‐ chigen Literatur und deren Übersetzung ist Siller zufolge unumstritten, jedoch kaum anerkannt und zu wenig wertgeschätzt, was zur Folge hat, „dass Texte wie jene von Kurt Lanthaler und Stefano Zangrando […] eine Randposition einnehmen und zu den ‚minorised literatures‘ zählen.“ (132) Die Beiträge von Brigitte Rath und Áine McMurtry sind der explizit mehr‐ sprachigen Schreibpraxis von Uljana Wolf gewidmet, einer der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartslyrik. Wolf ist für ihre experimentelle Schreib- und Übersetzungsarbeiten im deutschsprachigen als auch im interna‐ tionalen Raum anerkannt. Sie lebt in Berlin und Brooklyn und überträgt vor allem Lyrik aus germanischen und slawischen Sprachen. Weitere gemeinsame Übersetzungsprojekte ermöglichen ihr auch Zugang zu anderen Sprachen. Für den Aufsatzband ‚Etymologischer Gossip‘ gewann Wolf zuletzt den Leipziger Sachbuchpreis im Jahr 2022. Diese Sammlung gelte als Musterbeispiel für Es‐ sayistik und die Aufsätze erkunden Wortwanderungen zwischen Sprachen und offenbaren Momente und Prozesse der Übertragung. Vor diesem Hintergrund untersucht Brigitte Rath die ‚Poetik der Beziehungen‘ in Gedichten aus den Bänden falsche freunde (2009) und meine schönste lengevitch (2013), um das ly‐ rische Infragestellen von sprachlichen Grenzen und Absperrungen aufzuzeigen. Anhand von vier Analysen zeigt Rath wie Wolf durch neue Verbindungen neue Bedeutungen schafft: „dust bunnies“ teste die Grenzen zwischen Sprachen, „rede mit langen leinen“ die Gattungsgrenze zwischen Prosa und Gedicht, „art—apart“ die Grenzen eines Textes, und die Transformationen von „subsis‐ ters“ mit ihrem pronominalen Spiel erkunde die Grenze zwischen Figuren, ihren Schauspieler: innen und Rezipient: innen. Laut Rath öffne Wolfs Poetik der Beziehung neue „borderscapes“, die eine Aufforderung zu immer neuer Sinnbildung in sich tragen. Um das Besondere an Wolfs „transatlantischen“ borderscapes zu untersuchen, bespricht Áine McMurtry in ihrem Kapitel den Gedichtzyklus „alien I: eine insel“, aus Wolfs zweiter Lyriksammlung. Dieser Zyklus konzentriert sich auf die amerikanische Grenzpolitik des frühen 20. Jahr‐ hunderts durch eine lyrische Auseinandersetzung mit dem Fall von Ellis Island, 16 Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln <?page no="17"?> der Insel im New Yorker Hafengebiet, die lange Zeit als zentrale Sammelstelle für Einwanderer in die USA diente. Laut McMurtry hinterfrage die lyrische Behandlung von Flucht und Vertreibung begrenzte Auffassungen von Volk und Nation. Durch diverse literarische Methoden, akustische Ausdrucksformen und intertextuelle Hinweise vermittle Wolfs Zyklus Ausblicke, die Stimmen und Werke anderer Epochen abrufen. Der Text baue ein komplexes Netz von transhistorischen und transkulturellen Referenzen, das unterschiedliche Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung in nicht-hierarchische Beziehung setze. Indem ihr mehrsprachiger Text assoziative Verbindungen schafft, löse sich Wolf vom singulären Begriff der Muttersprache und erschließe stattdessen diverse Verwandtschaften und neue Gemeinschaften. In Rainer Guldins Beitrag wird das Zusammenspiel von Körper- und Raum‐ metaphern der Mehrsprachigkeit in der Herausbildung von Diskursen über Ein- und Mehrsprachigkeit besprochen. Durch die Betrachtung mehrsprachiger Werke von Herta Müller und Tawada Yōko untersucht Guldin Netzwerke von vielschichtigen Metaphern, die den organischen Zusammenhalt und die Einmaligkeit von Sprachen hinterfragen. Herta Müllers bekannte Metapher einer Frauennase in einem Männergesicht sprenge zum Beispiel „auf subver‐ sive Art und Weise die Vorstellung einer homogenen in sich geschlossenen Sprache.“ (186) Bei Tawada Yōko fungiert die Zunge als ein vielfältiger Ort der Sprachvermischung und eine vielschichtige Metapher der Mehrsprachigkeit. Tawadas Zunge sei „grundsätzlich rebellisch und nicht zu zähmen“ (191) und vielfach von Sprachen und Akzenten überschichtet. Guldins Analyse zeigt, wie die Texte Müllers und Tawadas das Dynamische und die kontinuierliche Verän‐ derung unabhängiger Körperteile betonen. Die einzelnen Metaphern tauchen aus dem Textfluss auf, seien aber durch vielfache Beziehungen miteinander verbunden. Diese Leseerfahrung reproduziere „die grundlegende Erfahrung von Mehrsprachigkeit, die darin besteht, aus dem scheinbar Disparaten eine neue vielschichtige Wirklichkeit zu konstruieren.“ (200) Damit stellt Guldin seinen Ansatz in einen klaren Zusammenhang mit dem multilingualen Verständnis von Sprache im Werk von Yasemin Yildiz (2012), als auch mit der new linguistic dispensation von Larissa Aronin und Vasilis Politis (2015). Ulrike Gardes Beitrag ist zwei Texten der jüngsten Gegenwartsliteratur gewidmet: Olivia Wenzels Roman 1000 Serpentinen Angst (2020) und dem Drama The Situation (2015), das Yael Ronens gemeinsam mit dem Ensemble der Premiere entwickelte. Beide Texte setzen spielerisch Mehrsprachigkeit als literarische Strategie der Bedeutungsproduktion und -verschiebung in interkul‐ turellen Rahmen ein. In ihrer Analyse geht Garde davon aus, dass mehrsprachige Literatur, wie die beiden untersuchten Werke, den interlingualen Sprachkontakt Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 17 <?page no="18"?> in der Figurenrede dazu nutzt, semantische Eindeutigkeit zugunsten einer ausführlichen Erkundung von Bedeutungen und Assoziationen aufzulösen. Die Vieldeutigkeit, die fiktionale Texte prinzipiell kennzeichnet, wird in mehrspra‐ chiger Literatur erweitert, indem sie ihre semantischen Erkundungen nicht auf die mehrschichtigen Bedeutungen ‚innerhalb‘ einer Sprache beschränkt, sondern gleichzeitig explizit den semantischen Spielraum auslotet, der sich durch den Sprachkontakt ergibt. Der sprachliche Reichtum, der sich daraus ergibt, zeigt sich zum Beispiel in Formulierungen und Interferenzen, die von deutschsprachigen Leserinnen und Lesern möglicherweise als fremd und anders empfunden werden. Außerdem bleiben mehrere Bedeutungen nebeneinander bestehen und in der Schwebe, ohne zugunsten einer ‚eindeutigen‘ Interpretation aufgelöst zu werden - Garde bezeichnet dies als „Poetik fluider Bedeutungszu‐ schreibungen“. Rolf Parr widmet seinen Beitrag einer bisher meist übersehenen Form der Mehrsprachigkeit, die dann entsteht, wenn sich Texte und englischsprachige Popmusik begegnen. Dem von Jürgen Link und Ursula Link-Heer (1980) ent‐ lehnten Begriff ‚Applikationen‘ folgend, beleuchtet Parr die unterschiedlichen Einbettungsmechanismen englischer Songzitate in Texte, deren Bedeutung für das Textgewebe sowie die daraus entstehenden Effekte. Die Texte von Klaus Modick bilden die Hauptgrundlage für seine Untersuchung. Parr versteht die Songtexte sowohl als „abrufbare und dabei zugleich aktualisierbare Elemente des kulturellen Gedächtnisses“ (226) als auch als eine Erweiterung des „Umfangs und damit [der] Semantik des eigentlichen deutschsprachigen Textes“ (226). Spannend ist dabei der Versuch, den Parr unternimmt, alle Zitate aus dem Text zu tilgen, um zu verstehen, welcher Text dann noch zurückbleibt. Der Beitrag geht außerdem der Frage nach, welches Lesepublikum diese mehrstimmigen Texte in all ihrer semantischen Komplexität rezipieren kann und inwiefern die Applikationen bewusst als eine Abgrenzung gegen ältere Generationen eingesetzt werden. Mit dem Blick auf „synästhetische […] Effekte“ (231), die durch Text und Musik entstehen, macht Parr eine interessante Feststellung, nämlich dass „Intermedialität […] Hand in Hand mit Mehrsprachigkeit“ (231) gehe. Anita Czeglédy erprobt in ihrem Beitrag die Umsetzbarkeit von Marijana Kre‐ sics sprachkonstruktivistischem Modell der multiplen Sprachidentität auf die Literatur. Das Modell geht von “mehrsprachige[n] Identitäten als ‘Normalfall’ aus und zeigt das identitätskonstitutive Moment der Verwendung verschiedener Sprachen und Sprachvarietäten” (236). Das von Kresic entwickelte Konzept, das Sein-in-der-Sprache, ermӧglicht ein sprachlich-interaktionales, sprechaktge‐ bundenes und prozessuales Verständnis von Identitӓten mit einem Fokus auf die 18 Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln <?page no="19"?> innersprachliche Mehrsprachigkeit des Individuums, die alle Sprachvarietäten miteinschließt. Angewandt auf die mehrsprachige Literatur, sieht Czeglédy in diesem Ansatz ein bedeutendes Potential, „weil die Erfassung und Erfahrung der Existenz durch die Sprache und in der Sprache es den Menschen ermöglichen, sich in der Welt, wie sie auch immer ist, heimisch zu machen.“ (246). Der sprachzentrierte und sprachpoetische Ansatz setzt auf die Mӧglichkeiten der Sprache in der Literatur, sowohl transformative Prozesse - „Neugeburten“ (246) durch die Sprache -, als auch die Integration von Differenzen innerhalb der Identitӓtskonstruktionen zuzulassen. Ester Saletta widmet ihren Beitrag der Sprachkunst des jüdisch-ӧsterreichi‐ schen Juristen und Romanciers Albert Drach (1902-1995), dessen Werke vom Li‐ teraturbetrieb lange Zeit nicht gewürdigt wurden. Als Grund dafür sieht Saletta die „unproduktive[…] narrative[..] Struktur der fiktiven Geschichtsdarstellung“ (250) und die „für Drachs Sprachkunst so charakteristische Darstellungsmoda‐ lität des Protokollstils, des alles Symbolische, Metaphorische und Imaginative ausschließenden Faktenberichts“ (250). Sie liest die Zusammenführung der juridischen und literarischen Sprache in Drachs Protokollen als eine beson‐ dere Form der Mehrsprachigkeit, als Sprachkoexistenz und als „immanente Sprachpolyvalenz“ (247). Der nüchterne Protokollstil, der Nominalstil und die reduzierte Verwendung von Nebensӓtzen, die Drach dazu benutzt, um mit sich selbst, mit den Frauen und seinem Umfeld hart ins Gericht zu gehen, hat Saletta zufolge dazu geführt, dass seine Literatur oftmals nicht den Erwar‐ tungen der Literatukritiker entsprach, die aufgrund ihrer fixierten Vorstellung von ‚Literatursprache‘ die Sprachkoexistenz nicht als Wert erkannten. Saletta schlussfolgert, dass der Autor „gerade durch die Schöpfung des Protokollstils paradoxerweise an eine Erzähldimension gedacht [hat], in der die Koexistenz von unterschiedlichen Formen des Schreibens und des Darstellens die Regel ist“ (252), die immer mit Sprachpolyvalenz verknüpft ist. Die theoretisch-methodischen Ansätze, die in den vorliegenden Beiträgen geboten werden, und die Darstellungen von spezifischen Phänomenen der literarischen Mehrsprachigkeit spiegeln die kreativ-spielerische Vielfalt wider, die diese Formen der Literatur eröffnen. Sie sind gedacht als Anregungen für weiterführende Auseinandersetzungen mit Texten, die es wagen, Spielregeln zu durchbrechen und probeweise neue einzuführen. Einleitung. Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 19 <?page no="21"?> 1 Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik (1979). In: Holenstein, Elma/ Schelbert, Tarci‐ sius (Hrsg.): Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 83-120, hier-87. Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung - Überlegungen zur Analyse von mehrsprachigen Texten Katrin Gunkel Abstract: Mehrsprachigkeit stellt ein Forschungsgebiet dar, in dem die Erkenntnisse von Sprach- und Literaturwissenschaft wechselseitig fürein‐ ander fruchtbar gemacht werden können. Was das für die Analyse mehrspra‐ chiger literarischer Texte bedeutet, zeigt sich bei der Betrachtung von auf der Sprachoberfläche sichtbaren Mehrsprachigkeitsphänomenen. Anhand von Beispielen wird deutlich, inwieweit sich linguistische Konzepte wie Code-Switching und Sprachtransfer auf literarische Texte übertragen lassen und inwieweit die Übergänge zwischen den Phänomenen im linguistischen Sinne und poetischer Sprachinvention verwischt werden. Die Verknüpfung beider Disziplinen ermöglicht es, ein tiefergehendes Verständnis von Mehr‐ sprachigkeitsverfahren, ihren Funktionen und ihren Korrelationen mit an‐ deren (mehrsprachigen) Verfahren zu erhalten. Keywords: Literaturlinguistik, Sprachwechsel, Code-Switching, Sprachmi‐ schung, Sprachtransfer Dass es fruchtbare Schnittstellen zwischen Philologie und Linguistik gibt, betonte bereits Roman Jakobson und mit ihm der Prager Strukturalistenkreis in den 1930er Jahren. Jakobson sprach sich gegen die „hartnäckige Trennung von Linguistik und Poetik“ aus, denn „Poesie sei Sprache in ihrer ästhetischen Funktion“. 1 Er sah in der Dichtersprache den Status der Sprache schlechthin und <?page no="22"?> 2 Jakobson (1979: -116). 3 Jakobson (1979: -116). 4 Vgl. Genette, Gérard (1972). Strukturalismus und Literaturwissenschaft. In: Blumensath, Heinz (Hrsg.) Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 71-88. 5 Vgl. Kristeva, Julia (1967). Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman. Critique 33: 239, 438-465. 6 Bär, Jochen A./ Mende, Jana-Katharina/ Steen, Pamela (2015). Literaturlinguistik - eine Einführung. In: Dies. (Hrsg.) Literaturlinguistik - philologische Brückenschläge. Frankfurt am Main: Peter Lang, 7-18, 8. 7 Bär/ Mende/ Steen (2015: -11). in diesem Sinne sei Poesie als Kunst der Ausgangspunkt jeder wissenschaftli‐ chen Analyse über die Grundlagen der Sprache. 2 Die in der morphologischen und syntaktischen Struktur der Sprache verborgene Quelle der Poesie, kurz die Poesie der Grammatik und ihr literarisches Produkt, die Grammatik der Poesie, sind den Kritikern selten bekannt, wurden von den Linguisten fast gänzlich übersehen und von schöpferischen Schriftstellern meisterhaft gehandhabt. 3 Literaturwissenschaftliche Konzepte mit linguistischen Denkansätzen finden sich auch in anderen strukturalistischen Theorien wie Gérard Genettes Narrato‐ logie 4 oder Julia Kristevas Intertextualitätsverständnis 5 . Trotz der angestoßenen Verknüpfungspunkte fanden Sprach- und Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten nur bedingt zueinander: „Bis heute neigen germanistische Litera‐ turwissenschaft und germanistische Linguistik dazu, die Fragestellungen und Beschreibungsansätze der jeweils anderen Seite zu ignorieren“, heißt es in dem 2015 von Jochen Bär, Jana-Katharina Mende und Pamela Steen herausgegebenen Sammelband „Literaturlinguistik - philologische Brückenschläge“, der sich gegen eben diese Trennung richtet. 6 Der Terminus Literaturlinguistik sei nicht als Deter‐ minativkompositum, sondern als „Klammer-Kopulativkompositum“ gemeint, das heißt, er sei „nicht zu verstehen als ‚Linguistik, die sich mit Literatur beschäftigt‘, sondern soll Literaturwissenschaft und Linguistik als gleichgewichtig erscheinen lassen“ 7 . Entsprechend des Forschungsansatzes werden in dem Band unterschied‐ liche thematische Teilbereiche wie Textlinguistik oder Gesprächsanalyse mit Erzähltheorie oder Motivanalyse verknüpft. Einer der Beiträge, verfasst vom Literaturwissenschaftler Leonhard Herrmann und dem Sprachwissenschaftler Beat Siebenhaar, beschäftigt sich mit der Dialektliteratur. Darin zeigen sie auf, dass die Verschriftlichung dialektalen Sprachgebrauchs per se eine Verfremdung darstelle, die der Fiktionalität literarischer Texte ähnlich sei. Sie verbinden eine variationslinguistisch-dialektologische Analyse der dialektalen Formen innerhalb der untersuchten Texte mit der fiktionalitätstheoretischen Frage nach der Wirk‐ 22 Katrin Gunkel <?page no="23"?> 8 Herrmann, Leonhard/ Beat, Siebenhaar (2015). Fiktive Sprachen. Wie der Dialekt in die Literatur kommt - ein dialektologisch-literaturwissenschaftliches Lehr- und Forschungs‐ projekt. In: Bär, Jochen A./ Mende, Jana-Katharina/ Steen, Pamela (Hrsg.) Literaturlinguistik - philologische Brückenschläge. Frankfurt am Main: Peter Lang, 47-73, hier 50. 9 Bär/ Mende/ Steen (2015: -15). 10 Bär/ Mende/ Steen (2015: -15). 11 Coseriu, Eugenio (1980). Textlinguistik. Eine Einführung. Hrsg. und bearbeitet von Jörn Albrecht. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 110; vgl. Bär/ Mende/ Steen (2015: -15). lichkeit von Dialekt in Literatur. 8 Aufgezeigt werden die Grenzen der literarischen Repräsentierbarkeit und Verschriftlichung von mündlichen Varietäten. Deutlich wird ebenso, dass diese Grenzen literarischer Wirklichkeitsreproduktion in der Dialektliteratur zuweilen bewusst evoziert und inszeniert werden. Zu fruchtbaren Begegnungspunkten zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft führt auch ihre Betrachtung der Metaebene, auf der Dialekt- und Literaturreflexionen angestellt werden. Der Beitrag verknüpft die Teilbereiche Dialektliteratur und Dialektologie und ist für den vorliegenden Aufsatz deshalb von Interesse, da er einen Brü‐ ckenschlag zum Forschungsfeld der Mehrsprachigkeit erlaubt. Er, wie auch der Sammelband, veranschaulichen, wie „literaturwissenschaftliche Fragestellungen aus (zusätzlichen) linguistischen Blickwinkeln eine Bereicherung erfahren: indem sprachliches Wissen […] explizit mit in die Literaturanalyse einbezogen wird“ 9 . Aber auch umgekehrt komme es zu einer fruchtbaren Bereicherung, „allein schon durch die Beschäftigung [der Linguistik] mit literarischen Texten“ 10 . Eine Referenz auf Eugenio Coseriu, Romanist und Allgemeiner Sprachwissenschaftler, veranschaulicht, warum: Zu Lebzeiten betonte er - ähnlich wie Roman Jakobson -, dass literarische Sprache „nicht eine Modalität des Sprachgebrauchs unter anderen“ sei, Literatur sei vielmehr die „volle Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten“, sie müsse „als Sprache schlechthin angesehen werden“. 11 Mehrsprachigkeit stellt ein Forschungsgebiet dar, in dem die Erkenntnisse von Sprach- und Literaturwissenschaft wechselseitig füreinander fruchtbar gemacht werden können. Insbesondere für die Analyse von auf der Sprach‐ oberfläche sichtbarer Mehrsprachigkeit in literarischen Texten bietet sich die Verbindung von linguistischen Methoden und literaturwissenschaftlichen Fra‐ gestellungen an - auch, um ein tiefergehendes Verständnis von den Verfahren, ihren Funktionen und der Korrelation zu anderen Mehrsprachigkeitsphäno‐ menen zu erlangen. Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 23 <?page no="24"?> 12 Vgl. Riehl, Claudia Maria (2014a). Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. 3. über‐ arbeitete Auflage. Tübingen: Gunter Narr Verlag. 13 Riehl, Claudia Maria (2014b). Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Darmstadt: WGB, 137; Riehl, Claudia Maria (2021). The Interplay of Language Awareness and Bilingual Writing Abilities in Heritage Language Speakers. Languages 6: 94, 1-23. 14 Riehl, Claudia Maria (2013). Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt. In: Peter Auer (Hrsg.) Sprachwissenschaft. Grammatik - Interaktion - Kognition. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 377-404, 385. 15 Riehl (2014b: -142). 16 Mahootian, Shahrzad/ Sebba, Mark (Hrsg.) (2012). Language mixing and code-switching in writing. Approaches to mixed-language written discourse. New York: Routledge. 1. Mehrsprachigkeit in Sprach- und Literaturwissenschaft In der linguistischen Forschung wird unter Mehrsprachigkeit das Zusammen‐ spiel von mehreren Sprachen oder Varietäten in individuellen und gesellschaft‐ lichen Zusammenhängen verstanden. 12 Beide Ebenen sind in der Regel mitein‐ ander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. In der Linguistik gilt es zudem als erwiesen, so die Sprachwissenschaftlerin Claudia Maria Riehl, eine der führenden Forschungsstimmen zu den Themen Sprachkontakt und Mehr‐ sprachigkeit, dass „im Bereich der Schriftlichkeit ähnliche Prozesse ablaufen können wie in der gesprochenen Sprache“ 13 . Mehrsprachige Phänomene wie Sprachwechsel bzw. Code-Switching (Wechsel zwischen [zwei oder mehr] Spra‐ chen oder Varietäten, wobei sich die verwendeten Sprachen nicht verändern), und Sprachtransfer bzw. Sprachmischung (Vermischung von zwei oder mehr Sprachen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen [Syntax, Semantik, Mor‐ phologie, Phonologie etc.], wobei sich die verwendeten Sprachen verändern) 14 fänden sich gleichfalls in literarischen Texten und das nicht erst in der modernen Literatur, sondern bereits seit der Antike. 15 Dass beim Schreiben ähnliche Prozesse wie beim Sprechen ablaufen, bestätigen auch die Beiträge des von Mark Sebba, Shahzad Mahootian und Carla Jonsson herausgegebenen Sammelbandes „Language Mixing and Code-Switching in Writing. Approaches to Mixed-Lang‐ uage Written Discourse“ (2012) 16 . Der Band schafft einen theoretischen und methodischen Rahmen für die Untersuchung verschiedener mehrsprachiger Texte und liefert Beispiele für empirische Studien - von literarischen Texten über Textnachrichten wie SMS bis hin zu E-Mails und Internettexten. Betont wird, dass schriftliche Mehrsprachigkeit erstens eine Ressource für sprachliche Vielfalt sei, und zweitens sei sie keine Ausnahme, sondern eine Norm in einer zunehmend globalen Sprachlandschaft. Aber auch Studien wie die von Laura Callahan, die sich in ihrer Monografie „Spanish/ English codeswitching 24 Katrin Gunkel <?page no="25"?> 17 Callahan, Laura (2004). Spanish/ English codeswitching in a written corpus. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company. 18 Ein interessanter, weil kontraintuitiver Befund ist, dass die literarischen Texte, die mehr Dialoge enthielten, weniger denselben Mustern folgten und somit weniger „authentisch“ waren als die Texte, die weniger Dialoge enthielten (vgl. Callahan [2004]). 19 Callahan (2004: 69). 20 Callahan (2004: 145). 21 Vgl. Roche, Jörg/ Schiewer, Leonore (2017). Pragmatik der Mehrsprachigkeit. In: Dem‐ beck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 113-122, hier 114f. 22 Ungeheuer, Gerold (1980). Gesprächsanalyse an literarischen Texten. In: Hess-Lüttich, Ernest W.B. (Hrsg.) Literatur und Konversation: Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft. Wiesbaden: Athenaion, 43-71, hier-46. 23 Hess-Lüttich, Ernest W. B. (1985). Soziale Interaktion und literarischer Dialog. Zeichen und Schichten in Drama und Theater. Bd. 2. Berlin: Erich-Schmidt-Verlag,-9. in a written corpus“ (2004) 17 mit Sprachwechsel in der Latino-Literatur in den Vereinigten Staaten von Amerika beschäftigt, bekräftigen, dass beim Schreiben ähnliche Prozesse wie beim Sprechen ablaufen. Callahan betrachtet 30 Romane und Kurzgeschichten, die zwischen 1970 und 2000 von insgesamt 24 Autorinnen und Autoren veröffentlicht wurden. Ihre Erkenntnis: Schriftliches Code-Swit‐ ching folgt größtenteils denselben syntaktischen Mustern wie das gesprochene Gegenstück. 18 Sie betont, dass es eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen schriftlichem und gesprochenem Code-Switching gäbe, und dass schriftliches Code-Switching „does not require a separate model of syntactic constraints“. 19 Es erfülle nicht nur dieselben authentischen Diskursfunktionen, die Verwendung stelle auch die gelebte strategische „rejection of monolingual English as well as of monolingual Spanish“ dar. 20 Auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung geht man von Parallelen zwischen beiden Disziplinen aus. Bereits vor Jahrzehnten wurde dafür argu‐ mentiert, dass die Ergänzung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen um linguistische Methoden eine Bereicherung für die Analyse literarischer Texte darstellt - zum Beispiel bei der Betrachtung literarisch fingierter Dialoge in erzählenden Texten oder im Drama. 21 Gerold Ungeheuer sieht in seinem Aufsatz „Gesprächsanalyse an literarischen Texten“ (1980) literarische Texte als die „Projektion der kommunikativen Gesamterfahrung des Autors“ und argumentiert dafür, dass literarische Gespräche wie natürliche untersucht werden können. 22 Ähnliche Ansichten vertritt Ernest Hess-Lüttich in seinem Buch „Soziale Interaktion und literarischer Dialog“, wenn er schreibt, „daß sich den Grundprinzipien dialogischer Verständigung auch der Autor literarischer Texte unterwirft, dessen fiktive Modellierung des Dialogs in seiner Kommu‐ nikationserfahrung gründet“. 23 Auch die jüngere Mehrsprachigkeitsforschung Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 25 <?page no="26"?> 24 Vgl. u. a. Radaelli, Giulia (2014). Literarische Mehrsprachigkeit. Ein Beschreibungsmo‐ dell (und seine Grenzen) am Beispiel von Peter Waterhouses „Das Klangtal“. In: Dem‐ beck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 157-182; Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) (2017). Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Gunter Narr Verlag; Benteler, Anne (2019). Sprache im Exil. Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh. Stuttgart: J.B. Metzler; Blum-Barth, Natalia (2021). Poietik der Mehrsprachigkeit. Theorie und Techniken des multilingualen Schreibens. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. 25 Schmeling, Manfred/ Schmitz-Emans, Monika (2002). Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.) Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 7-35, hier S. 23f. Sie berufen sich in ihren Ausführungen auf Horn, Andreas: Ästhetische Funktionen der Sprachmischung in der Literatur. In: Arcadia 16 (1981), H. 3, S. 225-241. Für einen umfangreichen Überblick zu existierenden Definitionen rund um das Thema Literarische Mehrsprachigkeit, der an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, siehe Blum-Barth (2021). 26 Blum-Barth (2021: 63). 27 Blum-Barth (2021: 69); vgl. auch Dembeck/ Parr (2017); Radaelli (2014). Anzumerken ist, dass Blum-Barth in ihrer Studie mit der Verwendung der Begrifflichkeiten Sprach‐ wechsel und Sprachmischung zwar auf linguistische Konzepte referiert, aber bewusst nicht auf die dazugehörigen „linguistischen Beschreibungsmodelle“ zurückgreift. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die „linguistischen Analysen von Mehrsprachig‐ keit […] keinen Unterschied zwischen Alltagskommunikation und literarischen Text“ machten, so Blum-Barth. „Sie abstrahieren damit gerade von den schöpferischen, geistreich-irregulären und ästhetisch motivierten Formen bei der Organisation und Verwendung von Sprache, die den literarischen Text charakterisieren und die kreative sieht bereichernde Schnittstellen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, wenn es um die Analyse literarischer Mehrsprachigkeitsphänomene geht. Unter literarischer Mehrsprachigkeit wird in der Forschung weitestgehend das Schreiben in mehreren Sprachen gefasst, sei es in Form eines mehrsprachigen Gesamtwerks eines Autors (und seiner Mehrsprachigkeit) oder eines mehrspra‐ chigen Einzelwerks. 24 Daneben gibt es auch ein weitläufigeres Verständnis des Begriffs. Monika Schmitz-Emans und Manfred Schmeling konstatieren bei‐ spielweise, dass unter literarischer Mehrsprachigkeit auch „gemischtsprachige Länder oder Regionen und ihre Literaturen“ verstanden werden können. 25 Bei der Erforschung der Mehrsprachigkeit eines Textes liegt der derzeitige Fokus - ähnlich wie in der Linguistik - auf der Betrachtung von auf der Sprachoberfläche sichtbaren Mehrsprachigkeitsphänomenen. „Hauptsächliches Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung ist bislang ihre sichtbare Präsenz, das heißt die manifeste Form der literarischen Mehrsprachigkeit“, so Natalia Blum-Barth. 26 Anknüpfend an die bisherige Forschung, zählt sie zu den häu‐ figsten manifesten Formen literarischer Mehrsprachigkeit „Sprachwechsel“ und „Sprachmischung“. 27 Sprachwechsel in Texten werden in Anlehnung an 26 Katrin Gunkel <?page no="27"?> Arbeit bestimmen.“ (2021: 20 f.) Warum der Einbezug linguistischer Konzepte als Vergleichspunkt zur genaueren Betrachtung von Mehrsprachigkeit in literarischen Texten lohnend ist und neue Perspektiven eröffnet, möchte die vorliegende Arbeit herausstellen. 28 Dembeck, Till (2017). Sprachwechsel/ Sprachmischung. In: Dembeck/ Parr (2017), S. 125- 166, hier S.-125. 29 Blum-Barth (2021: 70). 30 Dembeck (2017: 125). 31 Dembeck (2017: 125); Blum-Barth (2021: 72). 32 Blum-Barth (2021: 75). 33 Blum-Barth (2021: 63). 34 Blum-Barth (2021: 77 f.). 35 Radaelli, Giulia (2011). Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin: Akademie-Verlag, S.-61. 36 Vgl. u. a. Gunkel, Katrin (2020). Poesie und Poetik translingualer Vielfalt. Zum Eng‐ lischen in der deutschen Gegenwartslyrik. Wien: Praesens Verlag; Dembeck/ Parr (2017); Radaelli (2014). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Blum-Barth neben den Formen der latenten und manifesten Mehrsprachigkeit noch eine weitere Form benennt: „exkludierte literarische Mehrsprachigkeit“. Sie liegt vor, „wenn im Text eine andere Sprache erwähnt oder thematisiert wird, ohne dass sie die Basissprache des Textes beeinflusst und auf sie einwirkt.“ (Blum-Barth [2021: 85]) Zu dieser Form zählt Blum-Barth Sprachreflexionen und -verweise. Da diese Unterscheidung für die vorliegende Arbeit erkenntnistheoretisch und analytisch wenig hilfreich ist, wird an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen. den linguistischen Begriff des Code-Switchings als „[U]mschalten“ zwischen unterschiedlichen Sprachen verstanden. 28 Das Phänomen läge dann vor, „wenn stellenweise von der Grundsprache [eines Textes] in eine andere Sprache gewechselt wird.“ 29 Sprachmischung wird in Beziehung zu Kontaktsprachen gesetzt. 30 Von einer Kontaktsprache wird in der Linguistik gesprochen, wenn die „Strukturen und Elemente“ mindestens zweier Sprachen miteinander kom‐ biniert werden, sodass eine neue Sprache erzeugt wird. 31 Blum-Barth zählt hierzu auch die Entstehung von „Phantasiesprachen“. 32 Die grammatischen Kombinationsmöglichkeiten können alle sprachlichen Ebenen, von der Syntax über die Morphologie bis hin zur Lexik, betreffen. Latente mehrsprachige Verfahren rücken erst jüngst vermehrt in den Forschungsmittelpunkt. 33 Latente literarische Mehrsprachigkeit sei in der „Tiefenstruktur des Textes verortet“ und an der Oberfläche des Textes nicht sichtbar. 34 Ein Text sei immer dann latent mehrsprachig, „wenn andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind; er weist also auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf.“ 35 Zu häufigen Realisierungsformen zählen Sprachreflexionen und Sprachverweise, aber auch Übersetzungen. 36 Die vorliegende Arbeit schließt sich dem engeren Verständnis von literari‐ scher Mehrsprachigkeit aus pragmatischen Gründen an, da sie sich zum Ziel Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 27 <?page no="28"?> 37 Winkler, Dagmar (2010). „Code-Switching“ und Mehrsprachigkeit. Erkennbarkeit und Analyse im Text. In: Bürger-Koftis, Michaela/ Schweiger, Hannes/ Vlasta, Sandra (Hrsg.) Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien: Praesens Verlag, 181-195. 38 Dembeck/ Parr (2017). 39 Dembeck (2017: 166). 40 Dembeck (2017: 146 f.). 41 Benteler (2019, inbes. Kapitel 4). setzt, die Techniken mehrsprachigen Schreibens zu untersuchen. Konzentriert wird sich auf manifeste Mehrsprachigkeitsverfahren innerhalb eines Textes mit Blick auf die Mehrsprachigkeit der Autoren. Denn gerade auf der Textober‐ fläche sichtbare Mehrsprachigkeitsverfahren wie die des Sprachwechsels und der Sprachmischung erlauben Bezüge zu linguistischen Forschungsansätzen. Das verdeutlicht auch die Studie von Dagmar Winkler. In ihrem Aufsatz „,Code-Switching‘ und Mehrsprachigkeit. Erkennbarkeit und Analyse im Text“ (2010) weist sie nach, dass viele manifest mehrsprachige Texte der Autorin Marica Bodrožićs den Prozess des linguistischen Code-Switchings ästhetisch abbilden. 37 Auch in dem von Till Dembeck und Rolf Parr 2017 herausgege‐ benen Handbuch „Literatur und Mehrsprachigkeit“ greifen linguistische und literaturwissenschaftliche Parameter Hand in Hand. 38 Sprachwissenschaftliche Methoden können gemäß Till Dembeck auch auf literarische Texte zur litera‐ turwissenschaftlichen Erfassung angewendet werden. 39 Er betont allerdings den Unterschied zwischen mündlichen und schriftlich fixierten Phänomenen, die zudem in einem literarischen Kontext stehen: Natürlich können diese linguistischen Beschreibungsmodelle einzelne philologische Befunde nicht aus sich heraus erklären. Sie erleichtern es aber, abzuschätzen, inwie‐ fern sich ein Text an den linguistischen Gegebenheiten seines Kontextes bzw. des Kontextes der dargestellten Handlung orientiert, inwiefern seine Mehrsprachigkeit also ,akkurat‘ ist. 40 Diese Erkenntnis ermöglicht die Einschätzung, inwiefern die Mehrsprachigkeit der außerliterarischen Realität imitiert und stilisiert wird. Einen sprachwissen‐ schaftlichen Fokus setzt auch Anna Benteler in ihrer Monografie „Sprache im Exil. Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh“ (2019). Darin nutzt sie Konzepte mehrsprachiger Praktiken wie Code-Switching und Sprachtransfer aus dem Bereich der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung als Referenzpunkte zur systematischen Analyse der Mehrsprachigkeit in den literarischen Texten. 41 Sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Linguistik herrscht Einigkeit darüber, dass (literarische) Mehrsprachigkeit ein Phänomen darstellt, 28 Katrin Gunkel <?page no="29"?> 42 Riehl, Claudia Maria (2018). Analyse mündlicher Lernvarietäten. In: Roche, Jörg/ Terrasi-Haufe, Elisabetta (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 285-299, hier 286. 43 Riehl (2018). 44 Riehl (2018: -286). 45 Vgl. die Arbeiten von Dembeck/ Parr (2017); Willms, Weertje/ Zemanek, Evi (Hrsg.) (2014). Polyglotte Texte. Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin: Bachmann; Blum-Barth (2021). das beide Disziplinen gleichermaßen behandeln und das deshalb zu einer ge‐ genseitigen Bereicherung führen kann. Doch wie sehen diese Schnittstellen und die damit einhergehende Bereicherung für die Analyse mehrsprachiger Texte konkret aus? Um hier mehr Klarheit zu schaffen, ist es zunächst notwendig, die unterschiedlichen Forschungsparadigmen beider Disziplinen genauer zu betrachten, als es bisher geschah. Anhand zweier, in der Literatur häufig vorkommender, manifester Mehrsprachigkeitspraktiken und ihrer Konzepte - Sprachwechsel/ Code-Switching und Sprachmischung/ Sprachtransfer - können anschließend potenzielle Schnittstellen und der Mehrwert dieser für die Analyse mehrsprachiger literarischer Texte herausgearbeitet werden. 2. Schnittstellen: Literatur - Linguistik - Mehrsprachigkeit Gesprochene und geschriebene Sprache unterliegen unterschiedlichen Gesetz‐ mäßigkeiten. Es gibt zwar einen klassischen Sender und Empfänger und dazwischen einen Kanal, aber die Kommunikation läuft anders ab. Die unter‐ schiedlichen Gesetzmäßigkeiten hängen, so Riehl, beispielsweise mit der Anwe‐ senheit bzw. Abwesenheit der Kommunikationspartner im Raum zusammen. 42 Gesprochene und geschriebene Sprache unterliegen aber auch unterschiedli‐ chen Produktionsbedingungen: „Während man im Gesprochenen unmittelbar sprachlich handeln muss, hat man in einer typischen schriftlichen Situation mehr Planzeit“ 43 , aber auch Korrekturzeit. Auch die Rezeption unterscheidet sich: Das gesprochen Wort sei „flüchtig, kann nur einmal wahrgenommen werden, und ist darüber hinaus nur linear wahrnehmbar. Wenn Äußerungen in geschriebener Form vorliegen, kann man sie wiederholt lesen“ 44 , Dinge nachschlagen - zum Beispiel unbekannte Wörter. Sicherlich gibt es auch Misch‐ formen, wie Vorträge, die als (medial) mündlich, aber konzeptionell schriftlich zu bestimmen sind. Diese unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten werden auch relevant, wenn es um die Betrachtung von (literarischer) Mehrsprachigkeit geht. Tatsächlich handelt es sich bei Mehrsprachigkeit um ein genuin mündliches Phänomen, das es schon immer gegeben hat - auch in der Literatur, entspre‐ chend der gelebten Sprachrealität. 45 Das seit der Antike bekannte Figurenge‐ Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 29 <?page no="30"?> 46 Vgl. Ernst, Ulrich (2004). Bilingualität als Modell einer Ästhetik der Transgression. Zur manieristischen Polyglossie in visuellen Texten. In: Schmitz-Emans, Monika (Hrsg.) Literatur und Vielsprachigkeit. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 49-81, hier-50. 47 Vgl. Liede, Alfred (1963). Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. 2. Auflage. 1992. Berlin: De Gruyter; Forster, Leonard (1974). Dichten in fremden Sprachen. Vielsprachigkeit in der Literatur. München: Francke Verlag; Hein-Khatib, Simone (1998). Sprachmigration und literarische Kreativität. Erfahrungen mehrsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller bei ihren sprachlichen Grenz‐ überschreitungen. Frankfurt am Main: Peter Lang; Schmitz-Emans, Monika (1997). Die Sprache der modernen Dichtung. München: Wilhelm Fink Verlag. 48 Schmitz-Emans, Monika (2004). Literatur und Vielsprachigkeit: Aspekte, Themen, Voraussetzungen. In: Dies. (Hrsg.) Literatur und Vielsprachigkeit. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 11-27, hier-20. 49 Für weiterführende Betrachtungen vgl. Gunkel (2020: 28-34). 50 Liede (1963: 210ff.). 51 Liede (1963: 210 ff.). dicht, für das nicht nur die Überschreitung der konventionellen Grenzen eines Textes zu den Strukturen eines Bildes hin charakteristisch ist, sondern auch die Überschreitung von Sprachgrenzen zwischen dem Lateinischen und dem Griechischen, ist beispielhaft. 46 Die systematische Untersuchung von Mehrspra‐ chigkeit in literarischen Texten nimmt erst Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Anfang. 47 Die ersten analytischen Betrachtungen finden ihren Ausgangspunkt in der Dichtung. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts leistet Friedrich Wilhelm Genthe mit seiner Monografie zur „Geschichte der Macaronischen Poesie“ (1829), die er um eine „Sammlung der vorzüglichsten Denkmale“ makkaronischer Dichtung ergänzt, „Pionierarbeit“. 48 Genthe etabliert einen der ersten Termini für mehrsprachige Literatur, die er jedoch auf das Scherzhafte, Komische reduziert. Lange Zeit überwiegt die Ansicht, multilinguale Texte als scherzhaftes Randphänomen zu betrachten. 49 Alfred Liede ist eine der ersten Forschungsstimmen, die davon abrückt. Sein zweibändiges Werk „Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache“ (1963) themati‐ siert zwar ebenso ludische Formen der mehrsprachigen Dichtung. Liede betont allerdings eine gewisse Ernsthaftigkeit dahinter und stellt sprachpolitische Funktionen heraus. Die makkaronische Poesie betrachtet er als eine Reaktion auf die puristische Sprachpolitik der (italienischen) Humanisten. 50 Er sieht darin eine Parodie des humanistischen Gelehrtenlateins. 51 In den folgenden Jahrzehnten wird Mehrsprachigkeit in der Regel auf einen Kontext außerhalb des Textes zurückgeführt. Im Mittelpunkt stehen die Mehrsprachigkeit der Autorinnen und Autoren oder literarische Diskurse, die als besonders anfällig für Mehrsprachigkeit galten, so zum Beispiel die Migrationsliteratur oder die 30 Katrin Gunkel <?page no="31"?> 52 Zu nennen sind hier u. a. die Arbeiten von Simone Hein-Khatib (1998) oder Kremnitz, Georg (2015). Mehrsprachigkeit in der Literatur. Ein kommunikationssoziologischer Überblick. 2. erweiterte Auflage. Wien: Praesens Verlag. 53 Für einen umfassenden Überblick zur Mehrsprachigkeitsforschung vgl. u. a. Blum-Barth (2021); Gunkel (2020); Dembeck/ Parr (2017); Radaelli (2014); Helmich, Werner (2016). Ästhetik der Mehrsprachigkeit. Zum Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur. Heidelberg: Winter Verlag. 54 Eine der ersten Studien stammt von Jules Ronjat. Darin berichtet er von seinem deutsch-französisch bilingual aufwachsenden Sohn vor dem Eintritt in eine franzö‐ sischsprachige Schule (Ronjat, Jules [1913]. Le développement du langage observé chez un enfant bilingue. Paris: Éditions Honoré Champion). 55 Vgl. Riehl (2014a) u. (2014b). 56 Riehl (2013: 390). 57 Riehl (2013: 390). Exilliteratur. 52 Erst in den letzten Jahren rückt die Betrachtung der konkreten Sprachlichkeit als Interpretationselement stärker in den Blick der Forschung. 53 Ihren Anfang nimmt die Mehrsprachigkeitsforschung in der Sprachwissen‐ schaft mit der Bilingualismusforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 54 Im Fokus steht zunächst die Zweisprachigkeit sowohl in Bezug auf Einzel‐ personen (individueller Bilingualismus) als auch auf ganze Gesellschaften (gesellschaftlicher Bilingualismus). Im Laufe der Zeit haben sich unterschied‐ liche Forschungsrichtungen ausgeprägt, die sich mit verschiedenen Aspekten der Mehrsprachigkeit beschäftigen. Drei zentrale sind: die soziolinguistische Mehrsprachigkeitsforschung, die kognitiv-psycholinguistische Mehrsprachig‐ keitsforschung und die Sprachkontaktforschung. 55 Gegenstand der soziolingu‐ istischen Untersuchungen ist einerseits die soziale, politische und kulturelle Bedeutung sprachlicher Systeme und der Variationen des Sprachgebrauchs sowie andererseits die kulturell und gesellschaftlich bedingten Einflüsse auf die Sprache. Psycholinguistische Untersuchungen fokussieren vorrangig das mehr‐ sprachige Verhalten und Erleben eines Individuums - vom Spracherwerb über das Sprachwissen bis hin zur Sprachverarbeitung. Sprachkontakt bezeichnet das Aufeinandertreffen von zwei oder mehreren Einzelsprachen oder sprachlichen Varietäten entweder auf kollektiver Ebene (Sprechergemeinschaft) oder auf individueller Ebene (einzelne Sprachbenutzer). 56 Betrachtet man die Sprachkon‐ taktphänomene beim Individuum, und darauf liegt im Folgenden der Fokus, spricht man von Sprach-„Transfer“ und „Code-Switching“ 57 . Ein zentraler Teil der linguistischen Mehrspachigkeitsforschung ist die Unter‐ suchung der grammatischen Bestimmungen und Strukturen von Transfer- und Code-Switching-Prozessen. Die grammatischen Regelmäßigkeiten des Sprach‐ wechsels umfassen unter anderem die Erkenntnis, dass der Wechsel meist an Satzgrenzen, nach einem Teilsatz oder nach einem bestimmten Wort erfolgt. Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 31 <?page no="32"?> 58 Riehl (2014a: -33). 59 Dembeck (2017: 125). 60 Cotten, Ann (2017). Fast dumm. Essays von on the road. Fürth: Starfruit Publica‐ tions,-142, Hervorhebung Katrin Gunkel. Dementsprechend wird zwischen intersententiellem Code-Switching, von Satz zu Satz, und intrasententiellem Code-Switching, innerhalb eines Satzes, unter‐ schieden. 58 Eine ähnliche grammatisch bedingte Differenzierung nimmt auch Dembeck vor, wenn er zwischen „alternational code-switching“, hierbei wird die Sprache am Übergang von Satz(-teil) zu Satz(-teil) gewechselt, und „insertional code-switching“, wenn einzelne anderssprachige Wörter verwendet werden, differenziert. 59 Wie das zweite der folgenden Beispiele zeigt, kann es auch in einem literarischen Text zum Code-Switching kommen. Beispiel 1 (realsprachlich) Sprecher: Wenn ich so gestresst von der Arbeit komme, gehe ich in meinen Garten und well look after my flowers. Ähm… Ich kümmere mich um meine Blumen, gieße sie und ziehe Unkraut. Beispiel 2 (literarisch) Richtig ist, dass Weiße ebenso betroffen sind von den Fragen, die mit Rassismus zusammenhängen. […] [W]ährend der besserwisserische Kompetenztonfall des ame‐ rikanischen Idioms an den falschen Stellen mit Vorschlaghämmern hantiert, können sich andererseits von unschuldig tuenden Fragen und passiven Zuhörerangeboten Betroffene verarscht und alleingelassen vorkommen. How to be a good ally muss ich von Fall zu Fall entscheiden, durch Haltung und Taten mehr als durch Worte. 60 In beiden Beispielen kommt es zu einem intrasententiellen Sprachwechsel bzw. Code-Switching. Das erste, mündliche Beispiel stammt von einem englischen Auswanderer in Deutschland und entstand im Kontext einer Frage nach dem Befinden. In der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung geht man davon aus, dass die Wechsel in eine andere Sprache bestimmte Bedeutungen haben. Die eingebettete englische Einheit hängt beim ersten Beispiel mit der Mehr‐ sprachigkeit des Äußernden zusammen und ist psycholinguistisch motiviert. Psychologisch motiviertes Code-Switching wird auch als nicht-funktionales Code-Switching bezeichnet. Der Wechsel erfolgt bei Sprechern unbewusst. Es steckt also keine intendierte kommunikative Funktion dahinter. Beispielhaft sind Äußerungen, in denen es nach dem Code-Switching zur Selbstkorrektur kommt, wie es beim ersten Beispiel der Fall ist. Auslöser für nicht-funktionales Code-Switching können sogenannte „triggerwords“ (dt. ,Auslösewörter‘) sein, 32 Katrin Gunkel <?page no="33"?> 61 Riehl (2014a: -29). 62 Blum-Barth (2021: 101). 63 Blum-Barth (2021: 101). mit denen ein vollständiger Wechsel in eine andere Sprache einhergehen kann. Triggerwords sind beispielsweise bilinguale Homophone, lexikalische Übernahmen oder Eigennamen, die den Übergang in eine andere Sprache erleichtern. 61 Auslöser können aber auch strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Sprachen sein. Psychologisch motiviertes Code-Switching kann in literarischen Texten ebenso vorkommen. Da das Schreiben eines literarischen Textes jedoch selten ein unbewusster Prozess ist, handelt es sich in der Regel um eine Nachahmung. Das ist beim zweiten Beispiel der Fall, in dem Fragen und die Haltung zum Thema Rassismus erläutert werden. Es stammt aus dem literarischen, autobio‐ grafisch geprägten Essayband „Fast dumm. Essays von on the road“ (2017) der deutsch-amerikanischen Autorin Ann Cotten. Ann Cotten wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika geboren, ist in Wien aufgewachsen und lebt nun dort sowie in Berlin. Die Essays entstanden unter anderem auf einer ausgedehnten Amerika-Reise. Der Sprachwechsel im zweiten Beispiel hängt mit der Mehrsprachigkeit der Autorin zusammen, die auf die Figur mit dem Namen Ann Cotten übertragen wird. Die Mehrsprachigkeit hat damit die poe‐ tische Funktion einer realistischen Charakterzeichnung der handelnden Figur und es wird eine psycholinguistisch motivierte Sprachverwendung suggeriert. Der Sprachwechsel zeigt die Zugehörigkeit zum Land sowie zur Sprache an. Angelehnt an die Typologisierung von Blum-Barth und der dazugehörigen Funktionszuschreibung hat Mehrsprachigkeit hier folglich nicht nur die Funk‐ tion einer „sprachlichen Charakterisierung“, sondern ist auch Ausdruck der „Biografie“, der „Herkunft“ der Autorin. 62 Dass sich der Sprachwechsel an den grammatischen Regelmäßigkeiten realsprachlicher Phänomene orientiert, bestärkt die beschriebenen poetischen Funktionen. Erfolgt das Code-Switching aus pragmatischen Gründen, spricht man in der Linguistik von funktionalem Code-Switching. Die möglichen Funktionen können von der Verständnissicherung über Bevorzugung/ Vermeidung be‐ stimmter Wörter bis hin zu einer poetischen oder expressiven Absicht reichen. Letztere lässt sich in beiden Beispielen ausmachen: Die Sprachwechsel hängen mit der jeweiligen Gefühlswelt zusammen. In seinem Garten fühlt sich der Sprecher von Beispiel eins ebenso wohl wie in der englischen Sprache, was mit einem Erinnerungsvorgang an seine Heimat zusammenhängt. Eine expressive, auf Emotionalität basierende Funktion 63 lässt sich auch beim zweiten, literari‐ schen Beispiel ausmachen. Linguistische Untersuchungen haben ergeben, dass Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 33 <?page no="34"?> 64 Vgl. Appel, René/ Muysken, Pieter (1987). Language Contact and Bilingualism. London: Arnold. Nachdruck: Amsterdam 2006,-119; Riehl (2014á: -25-28). 65 Riehl (2014a: -25). 66 Gunkel (2020: -53). 67 Cotten (2017: -133). ein Wechsel dann häufig erfolgt, wenn persönliche Werte und Einstellungen ausgedrückt werden. 64 Wie zuvor, steht bei dem literarischen Beispiel auch die dargestellte expressive Funktion in einem poetischen Kontext und dient der Charakterisierung der Figur. Zum funktionalen Sprachwechsel kann es auch aufgrund von „äußeren Faktoren“ 65 kommen. Dazu zählt zum Beispiel die Situation: Ein situativer Sprachwechsel erfolgt als Konsequenz einer neuen Situation, die sich zum Beispiel durch den Wechsel des Gesprächspartners, des Themas oder des Ortes ergeben kann. Eine solche Situation kann im literarischen Text imitiert und damit als Ursache für einen Sprachwechsel angegeben werden. Sie kann jedoch ebenso die Schriftstellerin oder den Schriftsteller betreffen, wenn diese/ dieser beispielsweise während des Schreibprozesses in ein anderes Land reist und die Erfahrungen der anderen Sprache und Kultur in den Text einfließen lässt. 66 Der Sprachwechsel ist in beiden Beispielen auch situativ motiviert. Beim ersten Beispiel hängt er mit dem Wechsel des Themas vom stressigen Arbeitsalltag hin zur entspannten Gartenarbeit in der Freizeit zusammen. Das Besondere am literarischen Beispiel ist, dass der Sprachwechsel auch im Zusammenhang mit der Reise und der Sprachkontaktsituation der Autorin steht. Das Beispiel stammt aus einem Essay, in dem Ann Cotten ihre Erlebnisse und Gedanken während eines Aufenthalts in Kansas City und Detroit darstellt. Diese englischsprachige Umgebung wird in der fiktiven Welt imitiert und beeinflusst die Figur. So heißt es früher im Essay: Main Street entlang, feeling corn-fed-up, cruisend wie ein Studebaker Convertible, an der Videothek vorbei, mehreren verschiedenen Drive-in-Burgerbuden, Tankstellen. Organic Food, […]. 67 Beim literarischen Beispiel kommt mit der Verwendung der englischen Sprache noch eine andere Funktion hinzu, eine gesellschaftspolitische. Ann Cottens Essays entstehen im Rahmen einer Amerika-Reise kurz nach der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. „Was er nicht ertragen kann, kann er nicht kapieren“ lautet der Klappentext des Buches und darin lässt sich die Schreibhaltung der Autorin erkennen: Es geht 34 Katrin Gunkel <?page no="35"?> 68 Cotten (2017: -9). 69 Cotten (2017: 82). 70 https: / / www.starfruit-publications.de/ buecher/ ann-cotten/ (Stand: 21.09.2021). 71 Riehl (2014a: -35). 72 Riehl (2013: -398). 73 Vgl. Blum-Barth (2021: 69 u. 75 f.). weniger um die „objektive Auflistung der Realität“ 68 , es geht um Eindrücke und deren Reflektion: „Beim Anflug auf New York hatte ich mehrere Aufgaben im Kopf. Eine von ihnen war, herauszufinden, was es mit dem Trump-Problem wirklich auf sich hat“ 69 . Um zu „kapieren“, wie Donald Trump amerikanischer Präsident werden konnte, muss das Land an den Stellen „ertragen“ werden, an denen er gewählt wurde. Beschrieben wird ein Land voller Konflikte, sozialer Klüfte und innerer Verwerfungen. 70 Das Thema Rassismus ist hierfür ein Beispiel. Dass es Parallelen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft gibt, zeigen auch die folgenden Beispiele zur Sprachmischung bzw. zum Sprachtransfer. Während es beim Code-Switching zum Übergang von einer Sprache in die andere kommt und beide Sprachen unverändert bleiben, wird beim Sprach‐ transfer etwas von einer Sprache in eine andere übernommen und in deren System eingegliedert. 71 Den Ausgangspunkt der grammatischen Analyse bildet die sogenannte Einfluss-Sprache. Nach ihrem grammatischen System wird die andere Sprache verändert. Werden die sprachlichen Elemente in die Ziel‐ sprache integriert, kommt es zur Entwicklung einer Zwischensprache. Das ist beispielsweise bei Pidginsprachen der Fall. Die vereinfachten Sprachbildungen weisen kein vollständig ausgebautes Sprachsystem auf. Sie verfügen über einen begrenzten Wortschatz, eine einfache Grammatik und dienen dazu, die Kommunikation zwischen verschiedensprachigen Personen zu ermöglichen. 72 Solche Zwischensprachen, oder auch Phantasiesprachen 73 , finden sich ebenso in der Literatur. Man denke an die Makkaronische Poesie, die die Morphologie zweier Sprachen miteinander kombiniert. Die folgenden zwei Beispiele weisen klassische Transferprozesse auf: Beispiel 3 (realsprachlich) Sprecher A: Wo warst du gerade gewesen? Sprecher B: Ich war gerade am Bahnhof, als es fing an schrecklich zu regnen. engl. ,when it started to rain heavily‘ Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 35 <?page no="36"?> 74 Cotten (2017: -154), Hervorhebung Katrin Gunkel. 75 Vgl. Blum-Barth (2021: 69). 76 Blum-Barth (2021: 101). 77 Blum-Barth (2021: 101). 78 Ähnliche Ansichten vertreten Anna Benteler (2019: 166), aber auch René Appel und Pieter Muysken (1987: -119). Beispiel 4 (literarisch) Die Leute [in Los Angeles] sind so cool. Wieder packt mich die Sehnsucht danach, mich irgendwann irgendwo richtig zu integrieren. Vertraut zu werden. Man muss ja nicht alles als Problem framen Ann. 74 engl. ,to frame‘, dt. ,rahmen, entwerfen‘ Transfererscheinungen können unterschiedliche Ebenen der Sprache betreffen und finden sich sowohl im mündlichen wie im schriftlichen, literarischen Sprachbereich. Im ersten Beispiel, bei dem es sich um mündliche Äußerungen handelt, kommt es zu einer Generalisierung der Verbzweitstellung für Haupt- und Nebensatz. Die Äußerung stammt von einem deutschen Auswanderer in Amerika und erfolgte im Rahmen eines Alltagsgesprächs. Das zweite Beispiel, in dem ein englisches Verb deutsch konjungiert wird, stammt erneut aus dem Essayband „Fast dumm“ (2017) der Autorin Ann Cotten. Betrachtet man die Funktionen von Sprachtransfer lassen sich ähnliche Befunde wie beim Code-Switching ausmachen. 75 Es kann erneut zur bewussten Mischung aus funktionalen Gründen kommen, zum Beispiel aus diskursstrate‐ gischen Gründen, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Kultur oder auch Sprache anzuzeigen. Ebenso kann die Mischung unbewusst erfolgen und psychologisch motiviert sein. Letzteres trifft erneut auf das realsprachliche Beispiel zu, bei dem die Sprachmischung auf interne Prozesse der Sprachpro‐ duktion, also auf die Mehrsprachigkeit des Äußernden zurückzuführen ist. Die Mehrsprachigkeit von Ann Cotten, so lässt sich annehmen, beeinflusst ebenso ihre Textproduktion. Dem literarischen Beispiel können zudem, neben einer realistischen Charakterzeichnung der Figur Ann Cotten, deren Sehnsucht dargestellt wird, sowie der literarischen Aufarbeitung der Reise, weitere poe‐ tisch-ästhetische Funktionen zugesprochen werden wie Klangästhetik 76 oder ein mit dem Wort „framen“ einhergehender Aufmerksamkeits- und auch (falls unbekannt) Verfremdungseffekt - Blum spricht hier auch von der „Erzeugung des Nichtverstehens“ 77 . Zwar ist die deutsche Konjugation des englischen Verbs per se nichts Neues, aber es sind Sprachgestaltungen wie diese, die neue sprachliche Strukturen hervorbringen, aufgreifen oder auch stärken können. In diesem Sinne sind sie auch für die Sprachwissenschaft von Interesse. 78 36 Katrin Gunkel <?page no="37"?> 79 Dembeck, Till (2020). Es gibt keine einsprachigen Texte! Ein Vorschlag für die Litera‐ turwissenschaft. Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 11: 1, 163-176, 168. 3. „die rache der sprache ist das gedicht“ - zwischen grammatischer Regelmäßigkeit und poetischer Sprachinvention Ähnliche Formen, ähnliche Funktionen - die eine Hälfte der vier angeführten Beispiele ist realsprachlich/ mündlich, die andere literarisch/ schriftlich und sie alle zeigen die Gemeinsamkeiten zwischen den sprachwissenschaftlichen und den literarischen Phänomenen der Mehrsprachigkeit. Als Vergleichspunkt zur genaueren Betrachtung von Sprachdifferenzen in literarischen Texten werden in der Literaturwissenschaft zunehmend realsprachliche Phänomene und linguistische Termini und Parameter herangezogen - insbesondere die des Code-Switchings und Sprachtransfers. Ebenso wie die Parallelen werden auch die Unterschiede hervorgehoben. Auslöser bei Sprechern, wie Situationsgebun‐ denheit oder Spontanität, oder Funktionen wie Wortfindungsschwierigkeiten werden nur als bedingt auf literarische Texte anwendbar angesehen. Ähnliches gilt für grammatische Regelmäßigkeiten. Entscheidend ist der Unterschied zwischen mündlichen und schriftlich fixierten Phänomenen, die zudem in einem literarischen Kontext stehen. Diese Differenz zeigten auch die vier Beispiele auf. Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Analyse mehrsprachiger Literatur ziehen? Natürlich lässt sich mit linguistischen Begrifflichkeiten und Beschreibungsmodellen arbeiten, um zum Beispiel zu analysieren, wie Prozesse wie Sprachtransfer oder Code-Switching in literarischen Darstellungen funktio‐ nieren. 79 Doch die Analyse steht unter anderen Vorzeichen. Es gilt, unterschied‐ liche Aspekte zu berücksichtigen: Die aus pragmatischen Gründen gesetzten Begrifflichkeiten und schematischen Modelle der Linguistik müssen in Anbe‐ tracht der Beweglichkeit der Sprache und des Sprachwandels ihre Grenzen haben und zunächst für provisorisch gehalten werden. Es liegt in der Natur der Begrifflichkeiten und Konzepte, Gegenstände und Sachverhalte zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Schon Wilhelm von Humboldt unterschied in Bezug auf die Sprache zwischen Ergon und Energeia, also dem systematischen Aspekt von Sprache, ihrer Orientierung an Regeln einerseits, und ihrem kreativen Potenzial, die Regeln überschreitenden und den Sprachwandel antreibenden Gebrauch andererseits: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung […]. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 37 <?page no="38"?> 80 Von Humboldt, Wilhelm (1836). Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprach‐ baues und ihren Einfluss auf die Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin: Ge‐ druckt in der Druckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften,-41. 81 Dembeck (2020: -166). (Energeia)“. 80 Insbesondere mehrsprachige Texte zeichnen sich meist gerade dadurch aus, das kreative Potenzial von Sprache auszuschöpfen. Sie arbeiten mit der Beweglichkeit der Sprache, potenzieren sie gleichsam. Es handelt sich um Merkmale, die Literatur grundsätzlich kennzeichnen: Man muss davon ausgehen, dass sich im konkreten, stets singulären Sprachgebrauch und zumal in der Literatur, die ja in besonderer Weise auf die Originalität ihrer Ausdrucksmittel bedacht ist, immer schon eine beständige Veränderung dessen vollzieht, was man als Sprachsystem [bzw. Sprachnorm] bezeichnet. 81 Neben dem Unterschied zwischen schriftlicher und gesprochener Sprache sind es vor allem poetische Vorzeichen, die bei der Betrachtung von litera‐ rischen Texten in den Mittelpunkt rücken. Die Alltagssprache wird in der Literatur imitiert, reproduziert, ist jedoch mit ihr nicht identisch. Literarische mehrsprachige Phänomene weisen unterschiedliche Formen der Stilisierung und Ästhetisierung der außerliterarischen Realität auf. Maßgeblich sind die eigenen literarischen Gesetzmäßigkeiten, die für den jeweiligen Text entworfen werden. Ernst Jandl ist mit seiner besonderen Art des mehrsprachigen, avant‐ gardistischen Gedichts ein prägnantes Beispiel, das zugleich zeigt, inwieweit die Übergänge zwischen den Phänomenen im linguistischen Sinne und poetischer Sprachinvention verwischt werden können. In seinem Gedicht „calypso“ (1957) verbindet er deutsche (nach Wiener Bauart) und pidgin-englische Bestandteile zu einer Poesie, die zahlreiche mehrsprachige Verfahren - auch Sprachmischung und Sprachwechsel - kombiniert: 38 Katrin Gunkel <?page no="39"?> 82 Jandl, Ernst (1985). Gesammelte Werke. Band 1. Gedichte. Hrsg. von Klaus Siblewski. Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand Literaturverlag,-96. 83 Für weiterführende Betrachtungen vgl. Weissmann, Dirk (2014). „Stop making sense? “ Ernst Jandl et la traduction homophonique. Études Germaniques 69: 2, 289-306. calypso - - ich was not yet - in brasilien - nach brasilien - wulld ich laik du go [4] - - wer de wimen - arr so ander - so quait ander - denn anderwo [8] […] - wenn de senden [21] mi across de meer - wai mi not senden wer - ich wulld laik du go - - - yes yes de senden [25] mi across de meer - wer ich was not yet - ich laik du go sehr […] 82 - Das Gedicht handelt von der Sehnsucht nach einem fernen, fremden Land und der Kenntnis vieler fremder Sprachen. Jandl, der selbst als Übersetzer gearbeitet hat, macht sich hier den paradox anmutenden Tatbestand zunutze, dass die Distanz zwischen einander benachbarten Sprachen wie dem Deutschen und dem Englischen gerade wegen klanglicher und semantischer Ähnlichkeiten letztlich drastischer deutlich werden mag als zwischen Sprachen völlig unterschiedli‐ chen Charakters. Und so überzeichnet er die semantischen und klanglichen Ähnlichkeiten zweier Sprachsysteme, insbesondere mittels des mehrsprachigen Verfahrens der Oberflächenübersetzung 83 , bei der Laute einer Sprache (in diesem Fall des Englischen) durch eine andere (das Deutsche) imitiert werden. Das Prinzip zeigt sich in Verszeilen wie: „wulld ich laik du go“ (engl. ,would I like to go‘, V. 4). Jandl rückt eine sinnbezogene Übersetzungsebene in den Hintergrund und entscheidet sich vielmehr für eine homophone Übertragung. „[W]ulld“ Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 39 <?page no="40"?> 84 Uhrmacher, Anne (2007). Spielarten des Komischen. Ernst Jandl und die Sprache. Tübingen: Max Niemeyer Verlag,-125. 85 Uhrmacher (2007: -10). 86 Jandl, Ernst (1996). peter und die kuh. München: Luchterhand Literaturverlag. (engl. ,would‘), „laik“ (engl. ,like‘) und „wimen“ (engl. ,women‘ [Pl.], V. 5) sind Beispiele für die Anwendung der phonetisch-phonologischen Ausspracheregeln des Deutschen auf das Englische: Die Wörter sind auf Deutsch geschrieben, werden allerdings englisch ausgesprochen. Beispiele für eine Oberflächenüber‐ setzung finden sich auch in den Worten „denn“ (V. 8) und „de“ (V. 5) anstelle von „then“ und „the“ bzw. „they“ (V. 21 o. 25). Jandl stellt hier die Herausforderung für viele Lerner des Englischen dar, das englische „th“ auszusprechen. Es gibt weitere Sprachtransferprozesse: Wortbildungselemente aus dem Deutschen verraten, wo scheinbar englische Wörter durch ähnlich klingende deutsche ersetzt wurden. Ein Beispiel ist das deutsche Flexionsmorphem ,-en‘ in der Verbform ,senden‘. (V. 21) Es meint die 3. Person Plural und müsste ,sent‘ heißen. 84 Daneben gibt es auch zahlreiche Code-Switchings (u.-a. V.-1,-4 o. 22). Jandls Gedicht handelt auf den ersten Blick von den Sprachschwierigkeiten menschlicher Artikulation, der Sehnsucht nach fremden Orten, thematisiert aber auch die Verschiedenheit der Sprachen und übergeht sie gleichzeitig. Es ist weniger ein leichtes Sprachspiel, das sich aus der ungewohnten Sprachver‐ wendung ergibt: Jandls mehrsprachige Sprachkunst wird zu einer Spielart des Komischen, die er dazu nutzt, um mit dem „Fundament der Sprache“ selbst zu experimentieren, um so den Blick auf die Sprache zu verändern. 85 Ein zentrales Element des Textes ist seine Klanglichkeit, die sich aus der Komposition unterschiedlicher Mehrsprachigkeitsverfahren und ihren Auswirkungen auf den rhythmischen Versbau, der metrischen Struktur und dem Klang ergibt. „Calypso“ ist eines jener Gedichte, die Jandl für den musikalischen Vortrag anlegt. Er entdeckt den sich aus der Mehrsprachigkeit ergebenden Laut in der Sprache als autonomes Element, aus dem er Poesie entstehen lässt, die aus ihrem Klang heraus lebt. Es zeigt sich, dass Sprachvielfalt nicht nur unter‐ schiedliche Ebenen der Sprachstruktur beeinflusst, sondern auch klangliche oder ästhetische Auswirkungen hat. Insbesondere bei literarischen Texten gilt es, das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Ebenen genauer zu betrachten. „[D]ie rache / der sprache / ist das gedicht“ - so lautet das Motto von Ernst Jandls Gedichtband „peter und die kuh“ (1996). 86 Für Jandl stellt Dichtung die Manifestation sprachlicher Freiheit dar. Seine Texte bringen fest gefügte Ordnungen durcheinander, bringen neue sprachliche Strukturen hervor und ermöglichen auf diese Weise neue Perspektiven, die auch aus linguistischer 40 Katrin Gunkel <?page no="41"?> 87 Die Betrachtung, wie sprachwissenschaftliche Untersuchungen von Mehrsprachigkeit durch literaturwissenschaftliche Ansätze gewinnen, ist ein lohnendes Unterfangen, dem in der Mehrsprachigkeitsforschung bisher nicht ausreichend nachgegangen wurde. Allein die poetische Funktion von Sprache findet sich auch im realsprachlichen Sprachgebrauch und lässt sich nicht immer auf das Prinzip des Sprachwitzes bzw. -spiels reduzieren. Eine in diesem Kontext und vor dem Hintergrund der angestellten Analysen interessante Fragestellung ist, ob die Befruchtung zwischen Sprach- und Literaturwis‐ senschaft überwiegend in eine Richtung stattfindet. Dies genauer zu betrachten, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten. An dieser Stelle kann jedoch festgehalten werden, dass Sprachwissenschaftler sich dafür interessieren sollten, wie Literatur Sprache gestaltet, beeinflusst. Das Besondere an literarischen Texten ist, dass es sich um sprachliche Werke handelt, die über das Alltägliche hinausgehen. Die sprach‐ lichen Eigenschaften erzeugen ästhetische. Sprachwissenschaftler sollten sich deshalb auch dafür interessieren, wie Texte und Sprache, auch „ihre“ Forschungsgegenstände, von der Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen aus in den Blick genommen werden. Gleiches gilt auch umgekehrt: Literarische Texte bestehen aus sprachlichen Strukturen, mit deren System, Verwendung und „Funktionieren“ es sich zu befassen gilt. Sicht relevant sein können. 87 Beide Disziplinen stärker aufeinander zu beziehen, ist ein herausfordernder wie produktiver Weg, der ein anderes, besseres Ver‐ ständnis dessen ermöglicht, was Literatur auszeichnet und menschliche Sprache ist bzw. kann. Mit Blick auf das Gedicht von Ernst Jandl und die Beispiele aus Ann Cottens Essayband liegt auf der Hand, dass sprachwissenschaftliche Begriffe und Konzepte, die sich zudem maßgeblich auf mündliche Sprachformen beziehen, nur bedingt auf schriftliche, literarische Formen passen, die ohnehin weniger in ihrer Kommunikationsfunktion als in ihrer ästhetischen Qualität zu betrachten sind. Autorinnen und Autoren entwerfen meist ihre eigenen (Spiel-)Regeln, die oftmals bewusst von linguistischen Standards und Regeln abweichen. Literaturwissenschaftler können jedoch zur Untersuchung der konkreten Sprachlichkeit auf das zurückgreifen, was Linguisten bei der Erfor‐ schung von Mehrsprachigkeit tun, um die Ebene der sprachlichen Strukturen (Wortschatz, syntaktische Strukturen, morphologische Marker etc.) und deren Funktion und kulturpolitischen Einsatz genauer zu betrachten. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass Sprachkombinationen in literarischen Texten oft nicht dem entsprechen, was man aus linguistischer Sicht als Code-Switching oder Sprachtransfer betrachtet. Eine aufschlussreiche Darstellung der literarischen Phänomene erfordert ein Verständnis der Arten von mehrsprachigen Sprech- und Schreibpraktiken, an denen sich die Texte orientieren oder von denen sie sich auch distanzieren. Denn fest steht, dass Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung 41 <?page no="42"?> 88 Dembeck, Till/ Uhrmacher, Anne (2016). Vorwort: Erfahren oder erzeugt? Zum literari‐ schen Leben der Sprachdifferenz. In: Dembeck, Till (Hrsg.) Das literarische Leben der Mehrsprachigkeit. Methodische Erkundungen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 9-18,-hier 11. kein literarisches Werk seinen Umgang mit Sprachdifferenzen im luftleeren Raum pflegt. Im Gegenteil: Ihre kulturelle und soziale Wertigkeit ist unmittelbar Teil jeder ästhetischen Konstruktion von Sprachdifferenzen. 88 Auch wenn die grammatischen wie funktionalen Parameter in der Literatur nur bedingt Anwendung finden, so bieten sie dennoch die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Realitätsnähe literarischer Imitation und Realitätsferne literarischer Verzerrung abzuschätzen und ein tiefergehendes Verständnis von Mehrsprachigkeitsverfahren und ihren Funktionen zu erhalten. Und manchmal gibt es auch keine klare Dichotomie zwischen erfahren und erzeugt. 42 Katrin Gunkel <?page no="43"?> Spiegel im eigenen Wort. Beispiele der Selbstübersetzung in der transkulturellen deutschsprachigen Literatur Ramona Pellegrino Abstract: Im vorliegenden Artikel soll eine besonders faszinierende Erschei‐ nung innerhalb der transkulturellen Literatur vertieft werden, und zwar Selbstübersetzung bei einigen deutschschreibenden Autor*innen, deren Erst‐ sprache nicht das Deutsche ist. Anhand bedeutsamer Beispiele soll dieses fa‐ cettenreiche Phänomen - das im Rahmen der transkulturellen Literatur als keine Selbstübersetzung im rein translationswissenschaftlichen Sinne aufge‐ fasst werden kann, sondern eng mit Realisierungsformen der literarischen Mehrsprachigkeit verbunden ist - beleuchtet werden. Indem auf die Mo‐ tivation, die Entstehung, die Besonderheiten sowie einige sprachliche As‐ pekte der behandelten Fälle eingegangen wird, soll die Komplexität der Selbst‐ übersetzung innerhalb des umfangreichen Korpus der deutschsprachigen Texte, die in einem mehrsprachigen bzw. von Sprachwechsel geprägten Umfeld-entstanden sind, dargestellt werden. Keywords: Selbstübersetzung, literarische Mehrsprachigkeit, transkulturelle Literatur, Yoko Tawada, Vladimir Vertlib 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag setzt sich mit Selbstübersetzung aus einer literatur‐ wissenschaftlichen Perspektive auseinander, insbesondere damit, wie das Phä‐ nomen in der transkulturellen deutschsprachigen Literatur bei unterschiedli‐ chen Autor*innen zum Ausdruck kommt bzw. gekommen ist. Ich greife dabei <?page no="44"?> 1 Vertlib, Vladimir (2012). Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006. 3. bearb. Aufl. Dresden: Thelem. 2 „[T]he translation of an original work into another language by the author himself […].“ Popovič, Anton (1976). Dictionary for the Analysis of Literary Translation. Edmonton: University of Alberta, Department of Comparative Literature, 19. 3 „[T]he term ‚self-translation‘ can refer both to the act of translating one’s own writings into another language and the result of such an undertaking.“ Grutman, Rainier (2009). Self-translation. In: Baker, Mona/ Saldanha, Gabriela (Hrsg.) Routledge Encyclopedia of Translation Studies. 2° ed. London: Routledge, 257-260, hier 257. In einer späteren Publikation unterscheidet Rainier Grutman zwischen „Autotraducteurs sédentaires“ („sesshafte Selbstübersetzer*innen“), die keine Migration oder genauer gesagt keinen Sprachwechsel vollzogen haben, und „autotraducteurs migrateurs“ („migrierte Selbst‐ übersetzer*innen“), die dagegen in einer Sprache schreiben und publizieren, die sie erst im Zuge einer Migration erworben haben. Vgl. hierzu Grutman, Rainier (2015). den Titel von Vladimir Vertlibs Band Spiegel im fremden Wort  1 , der die Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen des Autors versammelt, auf und drehe die Me‐ tapher des Spiegels um. Vladimir Vertlib verwendet sie, um das Schreiben „im fremden Wort“ (d. h. in der Zweitsprache Deutsch) und die literarische Verarbeitung der in der Erstsprache (Russisch) erlebten Kindheits- und Jugend‐ erfahrungen bildlich darzustellen. In diesem Artikel soll der Spiegel dagegen als Symbol dafür stehen, wie verschiedene transkulturelle Schriftsteller*innen - darunter auch Vladimir Vertlib - ihr „eigenes Wort“ (d. h. einige ihrer Texte) selbst übersetzt haben und dadurch einen Text (ein metaphorisches Spiegelbild) geschaffen haben, der mehr oder weniger originalgetreu ist. Die Diskrepanz zwischen dem „Original“ - aus den folgenden Abschnitten wird deutlich, warum dieser Begriff problematisch ist - und dem übertragenen Text hängt nicht nur davon ab, wie wörtlich oder frei der Ausgangstext übersetzt wurde, sondern auch davon, welche Auffassung von Selbstübersetzung der jeweilige Autor bzw. die jeweilige Autorin vertritt. Zu diesem Zweck soll zunächst ein Überblick darüber geboten werden, was unter Selbstübersetzung in der transkulturellen deutschsprachigen Literatur verstanden werden kann. Anschließend soll darauf eingegangen werden, inwieweit sich einige Schriftsteller*innen in die eine oder andere Definition von Selbstübersetzung einordnen lassen. Die Begriffsbestimmung von „Selbstübersetzung“ ist alles andere als ein‐ deutig. Es handelt sich nämlich nicht immer, oder nicht ausschließlich, um die bloße Übersetzung eines originalen Werkes in eine andere Sprache durch den Autor bzw. die Autorin selbst, wie es 1976 Anton Popovič formuliert hat. 2 Ebenso kann Rainier Grutmans bekannte, im Jahre 1998 gelieferte Definition - wonach Selbstübersetzung sowohl als der Prozess des Übersetzens des eigenen Werkes in eine andere Sprache, als auch als das Ergebnis dieser Unternehmung zu verstehen ist 3 - zwar als Ausgangspunkt dienen, allerdings sollten auch 44 Ramona Pellegrino <?page no="45"?> Francophonie et autotraduction. Interfrancophonies 6 „Regards croisés autour de l’autotraduction“, 1-17. 4 Lamping, Dieter (1992). Die literarische Übersetzung als de-zentrale Struktur: Das Paradigma der Selbstübersetzung. In: Kittel, Harald (Hrsg.) Geschichte, System, litera‐ rische Übersetzung - Histories, Systems, Literary Translations. Berlin: Erich Schmidt, 212-228, hier 213. Nennenswert ist außerdem Lampings Unterscheidung zwischen verschiedenen Funktionen der Selbstübersetzung: die publikumsbezogene Funktion (d. h. die Vermittlung eines Textes für ein Publikum, das die Originalsprache des Ausgangstextes nicht kennt), die autorbezogene Funktion (wenn Autor*innen ihre Ausdrucksmöglichkeiten durch eine andere Sprache erweitern wollen) und die werk‐ bezogene Funktion (d. h. die Fortschreibung des Werkes). Vgl. ebd., 216. 5 Vgl. Gentes, Eva (2016). (Un-)sichtbarkeit der literarischen Selbstübersetzung in der romanischsprachigen Gegenwartsliteratur. Eine literatur- und übersetzungssoziologi‐ sche Annäherung. Inaugural-Dissertation. Düsseldorf, 25. Abrufbar unter: https: / / docs erv.uni-duesseldorf.de/ servlets/ DerivateServlet/ Derivate-45333/ Gentes_Dissertation.li t_Selbst%C3%BCbersetzung.pdf (Stand: 08.02.2022). 6 AUTOTRAD (2007). L’autotraduction littéraire comme domaine de recherche. Atelier de traduction 7, 91-100. 7 Vgl. López-Gay, Patricia (2007). Sur l’autotraduction et son rôle dans l’éternel débat de la traduction. Atelier de traduction 7, 131-144. Abrufbar unter: https: / / usv.ro/ fisiere_ utilizator/ file/ atelierdetraduction/ arhive/ AT/ AT%20NUMEROS/ AT%207/ 7_131-144_Pa tricia%20L%C3%B3pez%20L%C3%B3pez-Gay%20(Espagne)%20-%20Sur%20l'autotraduc tion%20et%20son%20r%C3%B4le%20dans%20l'%C3%A9ternel%20d%C3%A9bat%20de%2 0la%20traduction.pdf (Stand: 08.02.2022). 8 Vgl. Anselmi, Simona (2012). On Self-translation. An Exploration in Self-translators‘ Teloi and Strategies. Milano: LED, 19. die unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten von literarischer Mehrspra‐ chigkeit in einem Definitionsversuch berücksichtigt werden und stärker zum Ausdruck kommen. Auch Dieter Lampings Verständnis des Phänomens - „Unter Selbstübersetzung verstehe ich den Fall, dass ein Autor sich als sein Übersetzer betätigt und ein eigenes Werk übersetzt“ 4 - kann dessen Vielfalt nur ansatzweise wiedergeben. Bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt noch ein allgemeines Desinteresse an Selbstübersetzung, einerseits weil sie als selten galt, andererseits aufgrund der Tatsache, dass sie sich als Form des zweibzw. mehrsprachigen Schreibens nicht eindeutig in den Bereich der Literaturwissenschaft oder der Translations‐ wissenschaften einordnen lässt. 5 Die Auffassung, wonach Selbstübersetzung eher in den Translationswissenschaften anzusiedeln ist, wird beispielsweise von der internationalen Forschungsgruppe AUTOTRAD 6 , von Patricia López-Gay 7 und von Simona Anselmi vertreten, wobei letztere darauf hinweist, Selbstüber‐ setzung sei „first and foremost a translational phenomenon, which deserves to be studied as such, and not as an exceptional writing practice“ 8 . Für andere Spiegel im eigenen Wort 45 <?page no="46"?> 9 Vgl. Poch Olivé, Dolors (2002). La autotraducción. Quimera 210, 9. 10 https: / / app.box.com/ s/ 57vgm538l7turmaa2vl9gn63190wv6mf (Stand: 08.02.2022). 11 Vgl. Gentes (2016: 32-34). 12 Vgl. Weigel, Sigrid (2021). Selbstübersetzung. Zwischen kleiner Literatur, Extraterrito‐ rialität und „Bilingualism“. KulturPoetik 21/ 2. Abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10.13109 / kult.2021.21.2.283 (Stand: 08.02.2022). 13 Vgl. Falceri, Giorgia/ Gentes, Eva/ Manterola, Elizabete (2017). Narrating the Self in Self-Translation. Ticontre. Teoria testo traduzione 7, vii-xix. 14 https: / / hkw.de/ de/ app/ mediathek/ video/ 71067 (Stand: 08.02.2022). 15 Venzo, Paul (2016). (Self)Translation and the Poetry of the „In-between“. Abrufbar unter: http: / / cordite.org.au/ scholarly/ selftranslation-in-between/ (Stand: 08.02.2022). Wissenschaftler*innen, wie z. B. Dolors Poch Olivé, 9 ist Selbstübersetzung dagegen als Erscheinung des mehrsprachigen Schreibens zu verstehen. Im Laufe des 21. Jahrhunderts wurde Selbstübersetzung zunehmend analy‐ siert, was zu einer Vielzahl an Publikationen führte. Diese werden in der von Eva Gentes herausgegebenen Bibliography on Self-Translation  10 systema‐ tisch aufgelistet. Die existierende Forschung zur Selbstübersetzung besteht erwartungsgemäß aus zahlreichen Einzelstudien, die sich überwiegend mit den bekanntesten Selbstübersetzern der Moderne (vor allem mit Vladimir Nabokov und Samuel Beckett) auseinandersetzen. 11 Im Zuge der Postcolonial Studies wurden zunehmend Forschungen zu Autor*innen aus Afrika und Südamerika angefertigt, 12 während im theoretischen Diskurs der Fokus auf Hybridität (hybride Kulturen, Sprachen und Identitäten) gelegt wurde, insbesondere auf das Verhältnis zwischen Literatur, Migration und Mehrsprachigkeit. 13 Dadurch wurde das „Selbst“ in „Selbstübersetzung“ - d. h. wie das „Ich“ des Selbstüber‐ setzenden im Text zum Vorschein kommt - immer weiter hervorgehoben, wie auch Sigrid Weigel 2019 anmerkte. 14 Ähnliches hatte bereits Paul Venzo im Jahre 2016 festgestellt, als er die Definition von Selbstübersetzung wie folgt erweiterte: In general terms self-translation refers to the practice of writing and translating one’s own work across two or more languages. However, self-translation entails more than just a single author’s capacity to transport words across languages. Rather, the ‘self ’ in self-translation suggests a mechanism through which the author / translator enacts a kind of personal cultural and linguistic nomadism, one that reflect the kind of cross-cultural identity I have just described above. 15 Im deutschsprachigen Raum geht das Interesse für Selbstübersetzung mit der Entwicklung und dem Erfolg der transkulturellen bzw. interkulturellen Lite‐ ratur sowie mit einer systematischeren Auseinandersetzung mit literarischer 46 Ramona Pellegrino <?page no="47"?> 16 Ivančić, Barbara (2013). Autotraduzione: riflessioni sull’uso del termine. In: Ceccherelli, Andrea/ Imposti, Gabriella Elina/ Perotto, Monica (Hrsg.) Autotraduzione e riscrittura. Bologna: Bononia University Press, 99-104, hier 102. 17 Vgl. ebd., 100. 18 Evangelista, Elin-Maria (2013). Writing in translation. A new self in a second language. In: Cordingley, Anthony (Hrsg.) Self-translation: Brokering originality in hybrid cul‐ ture. London/ New York: Bloomsbury, 177-187, hier 178. 19 Vgl. Kellman, Steven G. (2003). Switching Languages: Translingual Authors Reflect on their Craft. Lincoln/ London: University of Nebraska Press, ix. Mehrsprachigkeit einher, 16 denn gerade die Tatsache, dass deutschsprachige Literatur von Autor*innen, deren Erstsprache nicht das Deutsche ist, umfas‐ sender untersucht wurde, führte dazu, dass auch Selbstübersetzung zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dabei ist die Grenze zwischen Übersetzung im engen Sinne und Rewriting (also Reformulierung) überaus verschwommen, da Selbstübersetzer*innen zwar wie bei einer „üblichen“ Übersetzung den Text interpretieren müssen, zudem aber zwischen zwei Sprachwelten vermitteln, die sich nicht nur im Text wieder‐ finden 17 , sondern auch ein fester Bestandteil ihrer Identität sind. Man kann sogar so weit gehen, dass selbst das Schreiben in einer Zweit- oder Drittsprache als eine Art Selbstübersetzung angesehen werden kann, da die Gedankenwelt des Schriftstellers bzw. der Schriftstellerin förmlich in eine andere Sprache übersetzt wird. Elin-Maria Evangelistas Interpretation von Selbstübersetzung ist genau in diesem Sinne zu verstehen: I use the term to designate the translation process occurring when a bilingual writer chooses to write in a second or acquired language, translation thereby forming an integral part of the „original“ creative writing process. 18 Laut dieser Auffassung ist Selbstübersetzung auf den kreativen Schreibprozess bei mehrsprachigen Autor*innen und nicht auf „traditionelle“ Übersetzungsver‐ fahren anzuwenden, zumal in diesem Fall gar kein Ausgangstext bzw. kein „Ori‐ ginal“ vorhanden ist und sich Selbstübersetzung ausschließlich im Bewusstsein des Individuums abspielt. Hierbei greift Evangelista einen Gedanken auf, den Steven Kellman bereits 2003 dargelegt hatte, und zwar dass Selbstübersetzung einen wesentlichen Bestandteil des Lebens bei sogenannten „translingualen“ Autor*innen - Individuen, die in mehr als einer Sprache schreiben oder deren Literatursprache nicht mit der Erstsprache übereinstimmt - ausmacht. 19 Das Konzept der Selbstübersetzung wurde vor allem seit dem sogenannten Cultural Turn innerhalb der Translation Studies erweitert: Sie wird als eine der möglichen Strategien verstanden, auf die Autor*innen zurückgreifen, um sich in der Spiegel im eigenen Wort 47 <?page no="48"?> 20 Diesbezüglich sei noch zu erwähnen, dass Gema Soledad Castillo García den kulturellen Beitrag innerhalb der Forschung zur Übersetzung und Selbstübersetzung als eine der ersten erkannt und vertieft hat. Vgl. Castillo García, Gema Soledad (2006). La (auto)traducción como mediación entre culturas. Alcalá de Henares: Universidad de Alcalá. 21 Piccolo, Fruttuoso (1985). Arlecchino Gastarbeiter - Harlekin Gastarbeiter. Hannover: Postskriptum. 22 Abate, Carmine (1984). Den Koffer und Weg! Kiel: Neuer Malik. 23 Abate, Carmine (1993). Il muro die muri. Lecce: Argo. 24 Kofler, Gerhard (1988). Die Rückseite der Geographie. Wien/ Bozen: Effeff/ Frischfleisch. 25 Eschgfäller, Sabine (2005). In die Ecke gesprochen=Receno do kouta. Olomouc: Verlag Burian a Tichák. 26 Pumhösel, Barbara (2005). pflaumenbäume/ prugni. Semicerchio XXXII-XXXIII, 74-76. Spannung zwischen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen (neu) zu verorten und die eigene Identität auszuhandeln. 20 Oft haben sich mehrsprachige Schriftsteller*innen zu Beginn ihrer literari‐ schen Aktivität für Selbstübersetzung (im engsten Sinne) entschieden. Ein Beispiel dafür sind die Autoren italienischer Herkunft Fruttuoso Piccolo und Carmine Abate: Ersterer übersetzte die Texte seines Gedichtbandes Arlecchino Gastarbeiter - Harlekin Gastarbeiter  21 aus dem Italienischen ins Deutsche, wäh‐ rend Carmine Abate seinen ersten Erzählband Den Koffer und weg!   22 zunächst auf Deutsch veröffentlichte und ihn anschließend ins Italienische übersetzte (1993 erschien Il muro dei muri  23 ). Innerhalb der jüngeren transkulturellen Literatur lassen sich weitere Bei‐ spiele für Selbstübersetzung finden. Gerhard Kofler, der in Südtirol geboren wurde, zweisprachig aufwuchs und sich in Österreich niederließ, veröffentlichte zahlreiche Gedichtsammlungen, in denen er die deutsche und die italienische Version nebeneinanderstellt. Zu Beginn seiner dichterischen Laufbahn schrieb er die deutschen Gedichte parallel zum italienischen Äquivalent; seit der Veröf‐ fentlichung des Bandes Die Rückseite der Geographie  24 schrieb Kofler dagegen erst die italienische Version seiner Werke und übersetzte sie anschließend ins Deutsche. Sabine Eschgfäller, eine in Südtirol geborene Autorin, die in Österreich studierte und seit zahlreichen Jahren in Tschechien tätig ist, hat 2005 einen Gedichtband veröffentlicht (In die Ecke gesprochen=Receno do kouta  25 ), den sie in Zusammenarbeit mit einem anderen Übersetzer ins Tschechische übertragen hat. Zu erwähnen ist außerdem Barbara Pumhösel, eine in Öster‐ reich geborene Schriftstellerin, die in Italien lebt und sowohl auf Deutsch als auch auf Italienisch schreibt; normalerweise veröffentlicht sie entweder in der einen oder in der anderen Sprache, aber die Gedichte der Sammlung pflaumenbäume/ prugni  26 hat sie zunächst auf Italienisch verfasst und dann ins Deutsche - und zwar ins österreichische Deutsch (z. B. findet sich im 48 Ramona Pellegrino <?page no="49"?> 27 Vgl. u. a. Guldin, Rainer (2009). „Das sonderbare Francodeutsch“. Georges-Arthur Goldschmidt: Übersetzer und Selbstübersetzer. In: Arnold, Heinz-Ludwig (Hrsg.) Ge‐ orges-Arthur Goldschmidt (Text+Kritik 181). München, 59-70; Thome, Gisela (2008). Ein Grenzgang der besonderen Art: zur Selbstübersetzung von Georges-Arthur Gold‐ schmidts Autobiografie „La traversée des fleuves“. Lebende Sprachen 53/ 1, 7-19; Willer, Stefan (2007). Selbstübersetzungen. Georges-Arthur Goldschmidts Anderssprachigkeit. In: Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert (Hrsg.) Exophonie. Anders‐ Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 264-281. 28 Vgl. Sgambati, Gabriella (2017). Die Selbstübersetzung im transkulturellen Raum am Beispiel Ilma Rakusas. In: Bernardo, Ana Maria/ Mota Alves, Fernanda/ Abrantes, Ana Margarida (Hrsg.) Vom Experiment zur Neuorientierung. Forschungswege der Germa‐ nistik im 21.-Jahrhundert. Berlin: Frank & Timme, 153-160. 29 Tawada, Yoko (2014). Etüden im Schnee. Tübingen: Konkursbuch. Gedicht Leute auf der Brücke das Substantiv „Doppler“, das im süddeutschen, österreichischen Raum mit der Bedeutung „Zweiliterflasche“ verwendet wird) - übersetzt. Mehrfach untersucht wurden Mehrsprachigkeitsaspekte im Werk des französisch-deutschen Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt, die z.T. auch auf Selbstübersetzung zurückgeführt wurden. 27 Schließlich sei noch auf die in der Schweiz lebende Autorin slowakischer Herkunft Ilma Rakusa hingewiesen: Mit der Selbstübersetzung in ihren Werken hat sich Gabriella Sgambati ausein‐ andergesetzt und dabei Selbstübersetzung nicht unbedingt als Übersetzung im engsten Sinne, sondern als „Modalität des Schreibens“ und als Übersetzung des „Sich-Selbst“ - also als Nachdichtung der eigenen Identität - aufgefasst. 28 Ausgehend von diesen allgemeinen Anmerkungen zu den Erscheinungs‐ formen der Selbstübersetzung soll in den folgenden Abschnitten insbeson‐ dere auf deren Realisierungsmöglichkeiten bei Yoko Tawada und Vladimir Vertlib sowie weiteren Beispielen (Franco Biondi, Zwetelina Damjanova, Yüksel Pazarkaya) eingegangen werden. 2. Yoko Tawada Die deutsche Schriftstellerin japanischer Herkunft Yoko Tawada, die sowohl auf Deutsch als auch auf Japanisch schreibt und publiziert, hat mehrere ihrer Werke selbst übersetzt, überwiegend aus dem Deutschen ins Japanische und nur einmal aus dem Japanischen ins Deutsche. Genau letzterer Fall soll zuerst betrachtet werden. Die deutschsprachige Version des Romans Etüden im Schnee  29 ist nach der japanischen entstanden, was als Einzelfall im literarischen Gesamtwerk der Schriftstellerin gilt. Das ist darauf zurückzuführen, dass Tawada das Übersetzen in die Zweitsprache als wesentlich anstrengender empfindet als das Übertragen in die Erstsprache, wie auch dem folgenden Zitat entnommen werden kann: Spiegel im eigenen Wort 49 <?page no="50"?> 30 Weissmann, Dirk (2018). „Jedes Mal suche ich nach einer Art der Übersetzung, die mir etwas Neues bringt“. Ein Gespräch mit Yoko Tawada. Quaderna 4. Abrufbar unter: https: / / quaderna.org/ 4/ dossier-4/ jedes-mal-suche-ich-nach-einer-art-der-ubers etzung-die-mir-etwas-neues-bringt/ (Stand: 08.02.2022). 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Tawada, Yoko (2000). Opium für Ovid: Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen. Tübingen: Konkursbuch. 34 Weissmann (2018). Das ist viel schwieriger als umgekehrt. Denn auf Japanisch schreibe ich sehr - wie soll ich das denn sagen? „frei“ ist falsch, aber - gesetzlos und wild, und das passt überhaupt nicht. Das kann ich nicht hinterher in die deutsche Grammatik hineinpressen. Aber das habe ich dann gemacht. Erst war es sehr schwierig, und ich dachte, ich muss das ganz umschreiben. Aber umschreiben kann man es auch nicht […]. Und so bin ich dann wieder zurück in die treue Übersetzung, und die war auch unmöglich. Und so kam ich wieder in die Freiheit und so habe ich mich mehrmals hin- und herbewegt. 30 Etüden im Schnee wurde in viele andere Sprachen übersetzt, erstaunlicherweise nicht ausgehend von der japanischen, sondern überwiegend von der deutschen Fassung (ausgenommen die chinesische Übersetzung), als würde es sich dabei um ein zweites Original handeln. Dass die deutsche Selbstübersetzung als eigenständiges Werk aufgefasst werden soll, hat die Autorin selbst bestätigt: „Bei Etüden im Schnee würde ich sagen, dass es zwei Originale gibt. Also die deutsche Fassung von Etüden im Schnee würde ich auch als Original bezeichnen.“ 31 Bei der japanischen und deutschen Version von Etüden im Schnee gibt es also einen Ausgangs- und einen Zieltext, was einem „traditionellen“ (Selbst)überset‐ zungsprozess entspricht. Aus Tawadas Sicht ist diese Vereinfachung aber zu einschränkend, denn die stetige Bewegung „hin- und her“ zwischen treuer und freier Übersetzung veranlasst die Autorin dazu, die beiden Versionen als zwei getrennte Werke anzusehen, als wären sie unabhängig voneinander konzipiert worden. Weil sich das Selbstübersetzen in die Zweitsprache als äußerst aufwendig herausstelle („die Arbeit war […] so mühsam - also aus dem Japanischen ins Deutsche selber zu übersetzen -, dass ich mir gesagt habe: Das mache ich nie wieder! “ 32 ), übersetzte Yoko Tawada kein weiteres ihrer Werke selbst ins Deutsche. Wesentlich häufiger hat sie ihre zunächst auf Deutsch geschriebenen Texte selbst ins Japanische übertragen. Das Kurzprosawerk Opium für Ovid  33 aus dem Jahre 2000 hat Tawada „sehr originalgetreu [übersetzt], so originalgetreu, dass die japanische Übersetzung wiederum sehr schwer zu verstehen ist.“ 34 50 Ramona Pellegrino <?page no="51"?> 35 Ebd. 36 Tawada, Yoko (1997). Wie der Wind im Ei. Tübingen: Konkursbuch. 37 Tawada, Yoko (1997). Die Orangerie. In: Tawada, Yoko (Hrsg.) Aber die Mandarinen müssen heute Abend noch geraubt werden. Tübingen: Konkursbuch, 29-42. 38 Tawada, Yoko (1996). Im Bauch des Gotthards. In: Tawada, Yoko (Hrsg.) Talisman. Tübingen: Konkursbuch, 93-99. 39 Vgl. ebd. Vgl. u. a. Rigault, Tom (2017). L’original n’existe pas: Yoko Tawada entre allemand et japonais. TRANS- Revue de littérature générale et comparée. Abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10.4000/ trans.1670 (Stand: 08.02.2022); Russo, Eriberto (2022). Yoko Tawada. Metamorfosi kafkiane. Milano: Mimesis. Beim Übersetzen dieses Werkes entschließt sich Yoko Tawada dafür, dem deutschen Original sehr stark zu entsprechen, was sich auf den Stil des japani‐ schen Zieltextes bedeutend auswirkt: Das war mein Versuch, Japanisch zu schreiben wie [sic! ] ich es normalerweise nicht schreiben würde oder könnte. Nur weil ich es auf Deutsch so geschrieben habe, wie ich es geschrieben habe, und das dann übersetzt habe, kam ich auf diesen Schreibstil oder diese Schreibweise des Japanischen. Und um so etwas Neues zu entdecken, habe ich extra streng, originaltreu übersetzt. 35 Da Yoko Tawada Opium für Ovid originalgetreu übersetzt hat, weicht die Sprache bzw. der Schreibstil ihrer japanischen Selbstübersetzung vom Japani‐ schen, das sie „normalerweise“ verwendet - d. h. wenn sie „freier“ schreibt und übersetzt -, entscheidend ab. Es handelt sich dabei um eine bewusste stilistische Absicht, die es der Schriftstellerin ermöglicht, mit ihrer literarischen Sprache zu experimentieren und dadurch neue kreative Impulse zu bekommen. Anders hat sich die Autorin bei der Übersetzung des Theaterstücks Wie der Wind im Ei  36 , das sie in der japanischen Übersetzung als Kurzgeschichte - also als Prosatext - verfasst hat, verhalten. Dass Tawada bei dieser Selbstübersetzung größere Veränderungen vorgenommen und sich dabei sogar für eine andere Gattung entschieden hat, stellt keine Ausnahme dar. Auch den Text Die Oran‐ gerie  37 hat sie in den beiden Sprachen in unterschiedlicher Form konzipiert: Nachdem Tawada die deutsche Version als Gedicht geschrieben hat, hat sie die japanische Übersetzung in Prosa verfasst. Der deutsche Text Im Bauch des Gotthards  38 ist als kurzer Reise-Essay gestaltet, während die japanische Version zu einer längeren Erzählung wurde. Aufgrund dieser wesentlichen Unterschiede wird in der Literatur in Bezug auf Tawadas Selbstübersetzungen oft die Bezeichnung „Partnertexte“ anstelle der herkömmlichen Ausdrücke „Original“ und „Übersetzung“ verwendet. 39 Da‐ durch soll unterstrichen werden, dass es sich bei Tawadas Selbstübersetzungen ins Japanische um grundsätzlich unterschiedliche, in verschiedenen Sprachen Spiegel im eigenen Wort 51 <?page no="52"?> 40 Vgl. Matsunaga, Miho (2002). „Schreiben als Übersetzung“. Die Dimension der Über‐ setzung in den Werken von Yoko Tawada. Zeitschrift für Germanistik. Vol. 12, No 3, 532-546, hier 540. 41 Tawada, Yoko (1997). Spiegelbild. In: Tawada, Yoko (Hrsg.) Aber die Mandarinen müssen heute Abend noch geraubt werden. Tübingen: Konkursbuch, 17-23. 42 Einen genaueren Vergleich zwischen den beiden Versionen - insbesondere in Bezug darauf, wie Wortspiele wiedergegeben wurden - hat u. a. Matsunaga (2002) vorge‐ nommen. 43 Vgl. Genz, Julia/ Adachi-Rabe, Kayo (2014). Übersetzung als po(i)etisches Verfahren: Yoko Tawadas deutsch-japanische Partnertexte Im Bauch des Gotthards, Orangerie und Spiegelbild. PhiN 69, 1-19, hier 16. 44 Vgl. ebd, 13. 45 Tawada, Yoko (2008). Schwager in Bordeaux. Tübingen: Konkursbuch. 46 Für eine genauere Analyse der beiden Partnertexte vgl. Saito, Yumiko (2010). Une tentative de double traduction. Analyse du Voyage à Bordeaux (Schwager in Bordeaux) de Yoko Tawada. Études Germaniques 65/ 3, 525-534. verfasste Versionen einer ursprünglichen Textidee handelt. Miho Matsunaga, die den Ausdruck „Partnertexte“ als Bezeichnung für Yoko Tawadas selbstüber‐ setzte Werke eingeführt hat, stellt fest, dass die japanischen Fassungen in der Regel bedeutend länger sind und mehr Figuren enthalten, 40 ausgenommen im Falle von Spiegelbild  41 , bei dem sich die Partnertexte inhaltlich und formal ähneln. 42 Julia Genz und Kayo Adachi-Rabe führen außerdem einige Beispiele dafür an, dass Tawada teilweise „fehlerhaft“ - z. B. beim Übertragen von eta‐ blierten Zitaten - oder umständlich bzw. schwerfällig ins Japanische übersetzt. 43 Das ist als stilistische Umsetzung eines poetischen Konzepts zu verstehen, das oftmals darauf bedacht ist, einen Verfremdungseffekt zu erzielen. Beispielsweise wählt die Autorin bei der Wiedergabe eines Bibelzitats eine japanische Überset‐ zung, die nicht mit der etablierten Formel übereinstimmt, damit das Wortspiel, das im Anschluss daran vorkommt, im Japanischen erhalten bleibt. 44 Auch der Roman Schwager in Bordeaux  45 wurde zuerst auf Deutsch verfasst und anschließend ins Japanische übersetzt. Das Werk setzt sich aus den Frag‐ menten des Notizbuches seiner Hauptfigur zusammen, einer japanische Erzäh‐ lerin, die versucht, mit nur einem Ideogramm jedes Abenteuer aufzuschreiben, das sie erlebt. 46 Gerade das Wechselspiel zwischen lateinischen und chinesischen Schrift‐ zeichen stellt einen weiteren, nennenswerten Aspekt der Selbstübersetzung bei Yoko Tawada dar. Die japanische Schrift besteht selbst aus zwei Schrift‐ zeichen: den chinesischen Ideogrammen, die die Aussprache eines Wortes nicht markieren, und der japanischen Silbenschrift. Besonders die chinesische Bilderschrift, deren Ideogramme Informationen zur Bedeutung eines Wortes enthalten, die in der Aussprache nicht markiert sind und durch das Schreiben in 52 Ramona Pellegrino <?page no="53"?> 47 Vgl. Genz, Julia (2010). Yoko Tawadas Poetik des Übersetzens am Beispiel von Übersee‐ zungen. Études Germaniques 65/ 3, 467-482. 48 Tawada, Yoko (2008). Magische Schrift: Körper der Literatur oder Tarnmantel der Po‐ litik? In: Pörksen, Uwe/ Busch, Bernd (Hrsg.) Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Valerio 8. Göttingen: Wallstein, 81-88, hier 88. 49 Kloepfer, Albrecht (1998). „Also, es gibt kein Original“. AOG 11, 11-19, hier 14f. 50 Tawada, Yoko (1998). Verwandlungen. Tübinger Poetikvorlesungen. Tübingen: Kon‐ kursbuch. Alphabetschrift verloren gehen, wird von Tawada dekonstruiert und insofern übersetzt, als eine Übersetzungsleistung zunächst zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Ebene entsteht. Durch die Transkription in die lateinische Schrift entstehen außerdem Homonymien, die von Tawada aufgegriffen und kreativ eingesetzt werden. 47 Dass die Bilderschrift einen bedeutenden Einfluss auf Tawadas Schreiben im Allgemeinen ausübt, hat die Autorin selbst thematisiert: Selbst wenn ich auf Deutsch schreibe, bleibt die Bilderschrift im weitesten Sinne in meinen Texten anwesend […], die Bausteine der deutschen Wörter enthalten für mich einen ideographischen Charakter, der für mein Schreiben elementar zu sein scheint. 48 Dieser ideographische Charakter der Wörter und die entsprechende schrift‐ liche Übertragung kann als besondere Form der Selbstübersetzung verstanden werden, und zwar als Konzept, das Tawada in einem bereits 1996 geführten Gespräch mit japanischen Germanistinnen und Germanisten „Übersetzung aus der Idee“ genannt hat: Normalerweise bezeichnen wir den entstandenen, geschriebenen Text als Original, aber es gibt ja noch ein Vorher, bevor dieser Text so endgültig auf dem Papier steht. Und wenn man schon in dem Moment, wo man schreibt, richtig ausformuliert, ist das wie eine Übersetzung aus der Idee. - Die eigene Idee übersetzt man in die richtige Sprache. Insofern ist das ja kein Original, was auf dem Papier steht. Und die Idee ist bei mir die Übersetzung von den Bildern, die davor sind, und deshalb auch kein Original. […] Also, es gibt kein Original! 49 Diese Vorstellung einer Übersetzung ohne Original hat Tawada auch in ihrer zweiten Tübinger Poetik-Vorlesung, die im Anschluss daran als Essay im Band Verwandlungen  50 veröffentlicht wurde, aufgegriffen. Dort betont die Autorin, dass es ihr beim „Übersetzen aus der Idee“ von der einen (gedachten) in die andere, geschriebene Sprache nur geringfügig um die Semantik eines Wortes, Spiegel im eigenen Wort 53 <?page no="54"?> 51 Tawada, Yoko (1998). Schrift einer Schildkröte oder das Problem der Übersetzung. In: Tawada, Yoko (Hrsg.) Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tübingen: Konkursbuch, 23-40, hier 36. 52 Ebd. sondern eher um dessen Form und Klang geht. 51 Das ist ein entscheidender Unterschied zu anderen Selbstübersetzer*innen, die den Selbstübersetzungspro‐ zess und das Ergebnis dieses Verfahrens in einem engeren Sinne verstehen: Bei ihnen liegt der Fokus meistens darauf, den Inhalt eines Textes in eine andere Sprache zu übertragen, ohnehin wissend, dass keine Eins-zu-eins-Kor‐ respondenz bestehen kann, da Auslassungen, Kompensationen, linguistischen Verstärkungen usw. immer in gewissem Maße vorhanden sind. Bei Yoko Ta‐ wadas Auffassung der Selbstübersetzung stehen dagegen die Eigenschaften der involvierten Schriftsysteme und das Spiel mit Bildern und Homonymien, aber auch Assoziationen, die durch den Klang eines Wortes entstehen - d. h. die un‐ mittelbare Oberfläche der jeweiligen Sprache - im Vordergrund. Diesbezüglich hat sich die Autorin wie folgt geäußert: Mir war bis vor Kurzem nicht klar, dass diese Oberflächenübersetzung so wichtig ist für mich, bzw. dass vieles, was ich gemacht habe, mit diesem Begriff zu tun hat. Ich habe mich immer sehr für den Klang der Literatur interessiert oder die Buchstaben. Und das sind mehr oder weniger die Oberflächen des Textes im Vergleich zu dem Inhalt. […] Ohne diese Oberfläche ist eine poetische Sprache nicht möglich. Daher ist es logisch, dass ich mich für die Oberfläche interessiere. 52 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Tawadas Konzept der Selbstüberset‐ zung je nach selbstübersetztem Werk unterschiedlich sein kann. Die von Tawada vorgenommenen Übersetzungen von Etüden im Schnee (ins Deutsche) und Opium für Ovid (ins Japanische) fallen in die Kategorie der Selbstübersetzung „im eigentlichen Sinne“ und entsprechen den „traditionellen“ Definitionen des Phänomens (u. a. Popovičs und Grutmans), da es ein originales Werk gibt, das von der Autorin selbst in eine andere Sprache übersetzt wurde. Andere Texte, u. a. Die Orangerie und Im Bauch des Gotthards, weichen derart von der jeweiligen japanischen Übersetzung ab, dass diese als „Partnertext“, d. h. als unterschiedliche Version derselben (zunächst auf Deutsch verfassten) Text‐ idee, verstanden werden kann. Schließlich lässt sich bei Tawada eine dritte, abstraktere Ebene feststellen, und zwar die „Übersetzung aus der Idee“, die mit der im Bewusstsein der Autorin stattfindenden Interaktion zwischen chinesi‐ schen Ideogrammen, japanischer Silbenschrift und lateinischen Schriftzeichen verknüpft ist. Hauptsächlich kann Selbstübersetzung bei Yoko Tawada im Sinne einer Nachdichtung bzw. Transformation aufgefasst werden, die dazu dient, 54 Ramona Pellegrino <?page no="55"?> 53 Vertlib, Vladimir (1995). Abschiebung. Salzburg: Otto Müller. 54 Vertlib, Vladimir (1999). Zwischenstationen. Wien/ München: Deuticke. 55 Vertlib (2012: 24 f). den Klang, die Form und die Körperlichkeit der involvierten Sprachen wieder‐ zugeben, ungeachtet der Tatsache, ob ein geschriebenes Original vorhanden ist oder nicht. 3. Vladimir Vertlib Der in Österreich lebende Schriftsteller russisch-jüdischer Herkunft Vladimir Vertlib hat seine Bekanntheit durch die Erzählung Abschiebung  53 und seinen Debütroman Zwischenstationen  54 erlangt. Beide Werke sind autobiografisch gefärbt und basieren teilweise auf den Tagebüchern, die der Autor in den USA auf Russisch geschrieben und anschließend, nachdem er sich schon Jahre zuvor in Österreich niedergelassen hatte, selbst ins Deutsche übersetzt hat. In der deutschen Version hat Vertlib einige Textstücke hinzugefügt und andere gestri‐ chen, wie der Autor selbst in seiner ersten Dresdner Chamisso-Poetikvorlesung thematisiert hat: „Dabei veränderte oder ergänzte ich manches, strich einige Passagen weg und schuf so die Grundlage für Abschiebung, mein erstes Buch. Bis das Manuskript schließlich fertig war, mussten aber noch viele weitere Transformationsschritte durchlaufen werden.“ 55 Die Selbstübersetzung erfolgte nicht ausgehend von einem Text, der als eigenständiges Werk veröffentlicht wurde, sondern von Schriften, die als Grundlage für die Verfassung des litera‐ rischen Werks dienten. Es ging weder um die originalgetreue Wiedergabe eines Ausgangstextes - zumal der Autor angibt, er habe manches ergänzt, gestrichen oder verändert - noch um die Schaffung eines zweiten, unabhängigen Originals wie bei Tawadas „Partnertexten“, da die auf Russisch verfassten Tagebücher nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Nachdem er sie übersetzt hatte, überarbeitete Vertlib den daraus resultierenden deutschsprachigen Text noch mehrmals, bevor er ihn publizierte: Dadurch bringt der Autor nochmal zum Ausdruck, dass das Übersetzen seiner Tagebücher als reiner Ausgangspunkt für sein Schreiben auf Deutsch gedacht war. In seinen Chamisso-Poetikvorlesungen geht Vertlib nicht weiter auf die mentalen Interaktionen zwischen Russisch (seiner Erstsprache) und Deutsch (die Sprache seines literarischen Schaffens) ein. Erst in den letzten Jahren hat sich der Autor erneut zur Selbstübersetzung seiner Tagebücher geäußert und dabei die Rolle der gedanklichen Übersetzungsprozesse und des Interpretierens der Realität betont: Spiegel im eigenen Wort 55 <?page no="56"?> 56 Vertlib, Vladimir (2017). „den leserinnen und lesern einen zerrspiegel vorhalten.“ im gespräch mit wiebke sievers. In: Sievers, Wiebke/ Englerth, Holger/ Schwaiger, Silke (Hrsg.) ich zeig dir, wo die krebse überwintern. Wien: edition exil, 191-210, hier 197. 57 Ebd., 203. Die Übersetzung war natürlich schon wichtig. Aber noch wichtiger war der ge‐ dankliche Übersetzungsprozess aus diesem fiktiven Tagebuch, das ja damals schon eine Interpretation der Wirklichkeit war und fiktionale Elemente enthielt, in eine Perspektive der 1990er Jahre, zwölf, dreizehn Jahre später. Da habe ich die Ereignisse selber schon anders eingeordnet und ein anderes Vokabular gewählt für manche Teile, ob bewusst oder unbewusst. Und dann die Übersetzung dieser Übersetzung in Literatur, also aus einer eher banalen Sprache in eine Literatursprache. Jeder dieser Schritte im Schreibprozess ist Interpretation. 56 Vladimir Vertlibs mentale Selbstübersetzungsarbeit erinnert zwar an Tawadas „Übersetzung aus der Idee“, in der kein Original als Ausgangstext vorhanden sein muss, weist aber doch unterschiedliche Besonderheiten auf. Der Autor unterstreicht die verschiedenen Momente, in denen sich die mentale Selbst‐ übersetzung vollzogen hat: Zunächst wurden die selbst erlebten Erfahrungen in Worte gefasst und durch fiktionale Elemente angereichert; in den 1990er Jahren wurden diese auf Russisch niedergeschriebenen Gedanken aus der Perspektive des Erwachsenen ins Deutsche übertragen; schließlich erfolgte eine weitere Selbstübersetzung innerhalb derselben Sprache, und zwar aus der Alltagssprache („einer eher banalen Sprache“) in die Literatursprache. Zudem scheint im Gegensatz zu Yoko Tawada die Tatsache, dass Vertlibs Erst- und Zweitsprache in unterschiedlichen Schriftzeichen geschrieben werden, keine bedeutende Rolle bei diesen mentalen Übersetzungsprozessen und im Allgemeinen bei seinem kreativen Schaffen zu spielen - jedenfalls hat sich der Autor nie dazu geäußert. Die mentale Übersetzungsarbeit aus dem Russischen ins Deutsche spiegelt sich - wie so oft im Werk transkultureller Autor*innen - im Satzbau, in der Melodie und in einigen Redensarten wider, die aus der Erstsprache entnommen und wörtlich ins Deutsche übersetzt werden. Bei Vladimir Vertlib geschieht Letzteres vergleichsweise selten (eines der wenigen Beispiele ist „Man soll das Fell eines nicht erlegten Bären nicht zerteilen“ 57 - die wörtliche Übersetzung eines russischen Idioms). Derartige Selbstübersetzung fungiert größtenteils als Stilmittel und wird nach den ästhetischen Vorstellungen des Autors bewusst eingesetzt. Dennoch finden Übertragungsverfahren aus dem Russischen zum Teil auch latent, d. h. intuitiv und unbewusst, statt, 56 Ramona Pellegrino <?page no="57"?> 58 Ebd., 203. 59 Vertlib (2012: 61). 60 Biondi, Franco (2005). Giri e rigiri, laufend. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel. weil das Russische […] mitschwingt in der Idiomatik und im Tonfall. Das ist keine bewusste Übersetzung. Erst nachträglich fällt mir auf, wie stark gerade bei den Szenen, die in Russland angesiedelt und eigentlich auf Russisch gedacht sind, das Russische mitschwingt. […] Da bringt offenbar der Tonfall des Russischen diese Idiomatik mit sich, die ich dann in ein korrektes Deutsch transformiere, denn wenn ich die Bilder eins zu eins übersetzen würde, würden sie nicht funktionieren. Das mache ich nur ganz, ganz selten, wenn es passt. 58 In dieser Hinsicht kann Selbstübersetzung bei Vladimir Vertlib als Erscheinung des mehrsprachigen Schreibens - wie von Dolors Poch definiert - verstanden werden. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Vertlib eine eher kritische Haltung gegenüber dem (Selbst)Übersetzen im engsten Sinne vertritt, und zwar aufgrund der Überzeugung, dass das Ergebnis eines Übersetzungsprozesses seinen ästhetischen Erwartungen nicht völlig entsprechen kann. In Verbindung mit seinen Überlegungen dazu, dass Mehrsprachigkeit nicht nur Gewinn, sondern auch Reduktion und Verlust impliziert, da es Bereiche gibt, in denen man de facto einsprachig ist, fügte der Autor nämlich Folgendes hinzu: „Der monoglotte Außenbereich zwingt entweder zur Selbstbeschränkung […] oder zur Übersetzung. Übersetzung aber ist sowieso immer eine Fiktion. Je perfekter sie zu sein scheint, desto weniger gelingt sie einem.“ 59 In der Tat hat Vertlib kein einziges seiner Literaturwerke - die alle auf Deutsch geschrieben wurden - ins Russische übersetzt. 4. Weitere Beispiele - 4.1. Franco Biondi Der 2005 veröffentlichte Gedichtband Giri e rigiri, laufend  60 des in Deutschland lebenden Autors italienischer Herkunft Franco Biondi ist beispielhaft dafür, dass die Grenze zwischen Original und Selbstübersetzung äußerst verschwommen sein kann. Der Band entstand aus der Verbindung der beiden Gedichtzyklen I mi zir und laufend: Der erste, dessen Titel ein Ausdruck aus dem Dialekt der Romagna ist und „meine Runden“ (aber auch „meine Drehungen“) bedeutet, wurde in den Jahren 1989-1993 auf Italienisch geschrieben, als Biondi sich auf einer Spiegel im eigenen Wort 57 <?page no="58"?> 61 Vgl. ebd., 116f. 62 Ebd., 118. 63 „Die Logik der doppelten Sprachführung habe ich nicht bei allen 39 Gedichten des Zykus ‚laufend‘ umgesetzt; hier möchte ich 19 vorstellen. Bei der Auswahl gab es Aspekte, die nicht nur sprachlicher Natur waren und ihre Reifezeit brauchen; was reif ist, liegt nun hier vor.“ Ebd. 64 Ebd., 119. 65 Vgl. Tatasciore, Claudia (2013). Giri e rigiri / laufend di Franco Biondi: direzionalità circolare, tra (auto)traduzione e riscrittura. In: Ceccherelli, Andrea/ Imposti, Gabriella Lesereise durch Italien befand, und fast zehn Jahre später vom Autor selbst ins Deutsche übersetzt. Dass Biondi die Gedichte in I mi zir auf Italienisch verfasste, stellt eine Ausnahme dar, denn zu dem Zeitpunkt veröffentlichte er eigentlich nur noch auf Deutsch. 61 Den zweiten Zyklus, laufend, hat der Autor dagegen auf Deutsch verfasst und anschließend ins Italienische übertragen. Geschrieben hat er die deutschen Gedichte in der Zeit zwischen 1995 und 2004, als er den ersten Zyklus ins Deutsche übersetzte. In seinem Nachwort, das sowohl auf Deutsch als auch auf Italienisch vorliegt, erklärt Franco Biondi, dass er sich genau zu diesem Zeitpunkt fragte, „Wie würde die Logik meines Alltags auf Italienisch klingen? “ 62 , was zu einer Teilübersetzung dieses zweiten Gedichtzyklus - oder, besser gesagt, zu einer Reformulierung - führte. 63 Der Autor selbst betont nämlich, seine Gedichte seien nicht im wahrsten Sinne des Wortes übersetzt worden, denn obwohl sie dem jeweiligen Original inhaltlich entsprechen, weisen sie Unterschiede bzgl. Konnotation und Gefühlswelten auf: Diese Gedichte sind nicht übersetzt worden. Anders als der Übersetzer, der ein Werk in eine andere Sprache überträgt und dabei einen Zwang zur Übertragungstreue hat, verfügt der zweisprachige Lyriker über die wunderbare Möglichkeit, die gleichen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle in zwei Sprachen sprechen zu lassen. Zwar gleichen sich die Inhalte, zwar meinen die Worte das Gleiche, doch in jeder der beiden Sprachen schwingt etwas anderes mit, auch wenn es sich stets um graduelle Unterschiede handelt. […] Insofern bewegt sich ein Zweisprachiger wie ich in zwei parallelen Sprachwelten. Aus diesem Grund habe ich die Gedichte nicht wortgetreu von einer Sprache in die andere übersetzt. 64 In diesem Fall ist der Autor an konkrete Erfahrungen in den involvierten Sprachen gebunden und möchte durch die Selbstübersetzung seine Gefühlswelt in der anderen Sprache vermitteln. Laut Claudia Tatasciore kann Selbstüberset‐ zung bei Franco Biondi als Fortschreiben aufgefasst werden, d. h. als Fortsetzung des kreativen Schreibprozesses, der potenziell unendlich weitergeführt werden kann: 65 Das Übersetzen in die andere Sprache wirkt sich auf den „Originaltext“ aus, denn dieser wird durch die Perspektive in der anderen Sprache nochmals 58 Ramona Pellegrino <?page no="59"?> Elina/ Perotto, Monica (Hrsg.) Autotraduzione e riscrittura. Bologna: Bononia Univer‐ sity Press, 365-379, hier 369. 66 Vgl. ebd., 371ff. 67 Vgl. ebd., 370. 68 Eine vollständige Liste sowie ein Interview mit dem Autor zum Thema Selbstüberset‐ zung findet sich in der folgenden Dissertationsarbeit: Vgl. Öğünmez, Mukaddes (2019). Die Selbstübersetzung im interkulturellen Raum am Beispiel Yüksel Pazarkayas Werk „Ben Araniyor“ und dessen Übersetzung „Ich und die Rose“. Inauguraldissertation. Ankara, 127. Abrufbar unter: http: / / www.openaccess.hacettepe.edu.tr: 8080/ xmlui/ bitst ream/ handle/ 11655/ 12017/ 10309818.pdf ? sequence=1&isAllowed=y (Stand: 08.02.2022). 69 Pazarkaya, Yüksel (2002). Ich und die Rose. Hamburg: Rotbuch. 70 Pazarkaya, Yüksel (1989). Ben Araniyor. Istanbul: Cem Yayinlari. 71 Pazarkaya, Yüksel (2008). Wal-Baby. Hückelhoven: Anadolu. 72 Pazarkaya, Yüksel (1988). Balina’nın Bebeği. Hückelhoven: Anadolu. verändert; das „überarbeitete Original“ wird wiederum übersetzt, wobei es dadurch erneut verändert werden kann, und so weiter. Am stärksten sei der Drang zum Fortschreiben vor allem in Verbindung mit den Gedichten gewesen, in denen es um das Verhältnis des lyrischen Ichs mit seinen Sprachen geht: Dem Autor erschien die deutsche Übersetzung gelungener als das italienische Original, was ihn dazu veranlasste, noch einige Veränderungen im italienischen Text vorzunehmen 66 - Ein ähnlicher Entstehungsprozess wie bei den Gedichten von Gerhard Kofler. In Biondis Werk gibt es noch einen weiteren Fall der Selbstübersetzung: Seine Erzählung Passavantis Rückkehr hat der Autor ursprünglich auf Italienisch geschrieben und anschließend ins Deutsche übersetzt, wobei es sogar drei unterschiedliche deutschsprachige Versionen gibt (die erste erschien im Jahre 1982). Claudia Tatasciore hat festgehalten, dass sich die deutschsprachigen Versionen vom italienischen Urtext insofern unterscheiden, als sie zusätzliche Passagen enthalten, vor allem wenn es darum geht, Figuren psychologisch zu vertiefen. 67 - 4.2 Yüksel Pazarkaya Der deutsche Autor türkischer Herkunft Yüksel Pazarkaya hat sich mehrmals selbst übersetzt. 68 Als eines der bedeutendsten Beispiele kann sein deutschspra‐ chiger Roman Ich und die Rose  69 , der im Jahre 2002 als Selbstübersetzung der 1989 verfassten türkischen Version Ben Araniyor  70 veröffentlicht wurde, angeführt werden. Nennenswert ist auch das Kinderbuch Wal-Baby  71 , das der Autor auf Deutsch geschrieben und 2008 veröffentlicht hat: Ursprünglich hat Yüksel Pazarkaya es 1988, d. h. 20 Jahre zuvor, auf Türkisch mit dem Titel Balina’nın Bebeği  72 publiziert. Spiegel im eigenen Wort 59 <?page no="60"?> 73 Vgl. ebd. sowie Küçükler Özdemir, Miray (2019). „Das Wal-Baby“ von Yüksel Pazar‐ kaya. Übersetzung oder eine Neufassung? Eine übersetzungswissenschaftliche Ausein‐ andersetzung. Magisterarbeit. Ankara. Abrufbar unter: http: / / www.openaccess.hacett epe.edu.tr: 8080/ xmlui/ bitstream/ handle/ 11655/ 7874/ 10253459.pdf ? sequence=1 (Stand: 08.02.2022). 74 Öğünmez (2019: 238). 75 Ebd. In Bezug auf die eben genannten Werke wurden Vergleiche zwischen der jeweiligen deutschen und türkischen Version vorgenommen, insbesondere aus einer translationswissenschaftlichen Perspektive, aus der vor allem Über‐ setzungsmethoden und -verfahren (u. a. Reduktion, Addition, lexikalische Ersetzung) untersucht wurden. 73 Daraus ergab sich, dass in der deutschen Übertragung einige Passagen hinzugefügt, während andere gestrichen wurden, was grundsätzlich auf die unterschiedliche Leserschaft der jeweiligen Version zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu Franco Biondi ist der Grund, weshalb Pazarkaya sich dafür entschieden hat, sich selbst zu übersetzen, also rein praktischer Natur: Da ich in Deutschland lebte, wurde die deutsche Sprache mit der Zeit zu meiner ersten Umgangssprache. Eine zwangsläufige Folge davon für einen Schreibenden, wenn auch anfangs zaghaft, wurde Deutsch mit der Zeit immer mehr auch zu meiner zweiten Schriftsprache. 74 Bei Pazarkaya dient die Selbstübersetzung einerseits dazu, das deutschsprachige Lesepublikum zu erreichen. Andererseits stellte das Übersetzen der eigenen Texte zu Beginn seiner literarischen Laufbahn eine Zwischenstufe dar, die zum direkten Schreiben in deutscher Sprache führte: Zuerst versuchte ich einzelne Gedichte deutscher Dichter ins Türkische zu übersetzen. Erst dann wagte ich, Gedichte von türkischen Dichtern ins Deutsche zu übertragen […]. Erst als ich zu Lesungen eingeladen wurde, versuchte ich, eigene Texte ins Deutsche zu übertragen bzw. gelegentlich mich direkt in Deutsch zu üben. 75 Abschließend zu Yüksel Pazarkaya lässt sich sagen, dass der Autor selbst betont hat, wie das Produkt seines Selbstübersetzungsprozesses verstanden werden soll, und zwar als „neues Original“, das in Hinblick auf die neue Leserschaft verfasst wird: Als Übersetzer bin ich gebunden an einen fertigen Text. Den in die Zielsprache zu projizieren, ist die Aufgabe. Während der eigene fertige Text für mich eine Orientierung bedeutet. Ich nehme mir bei eigenen Texten alle möglichen Freiheiten, die bei der Verantwortlichkeit für den Text eines anderen Autors nicht opportun ist. 60 Ramona Pellegrino <?page no="61"?> 76 Ebd. 77 Vgl. http: / / www.ernstschmiederer.com/ 2009/ 04/ spanisch_wenn_es_um_die_liebe_geh t.php (Stand: 08.02.2022). 78 Damjanova, Zwetelina (2012). Аз und tú. Wien: Yara Edition. 79 http: / / www.edition-yara.at/ index.php/ 14-beispielbeitraege/ 81-a3-und-tu (Stand: 28.07.2021). Im Falle des eigenen Textes handelt es sich also um eine Transformation, um die Erstellung eines neuen Originals. 76 - 4.3 Zwetelina Damjanova Die in Bulgarien geborene, in Österreich lebende Autorin Zwetelina Damjanova schreibt auf Deutsch, Bulgarisch und Spanisch - eine Sprache, die in ihrer Familie gesprochen wurde, da die Mutter ihre Jugendjahre in Kuba verbracht hatte. 77 Im Gedichtband Аз und tú  78 vermischt Zwetelina Damjanova diese drei Sprachen durch das wechselseitige Selbstübersetzen. Der 2012 erschienene Gedichtband, dessen Vorwort vom österreichischen Schriftsteller Semier Insayif geschrieben wurde, besteht nämlich aus siebenundzwanzig Texten, die auf Bulgarisch, Spanisch und Deutsch geschrieben wurden. Jedes Gedicht ist in sich mehrsprachig, da jede einzelne Version aus unterschiedlichen Sprachen besteht: Die Texte sind aus drei Strophen zusammengesetzt, wobei jede Strophe in einer anderen Sprache geschrieben wurde. Danach wird je eine Strophe in eine der drei Sprachen übersetzt, was dazu führt, dass jedes Gedicht in einer oder in zwei Sprachen gelesen werden kann. Bei diesem Band handelt es sich demnach um keine herkömmliche mehrsprachige Ausgabe, in der einem einsprachigen Text seine deutsche, spanische oder bulgarische Übersetzung gegenübersteht, denn jedes Gedicht enthält bereits mehrere Sprachen und wird durch einen anderen Text wiedergegeben, der auch mehrsprachig ist. Was das Bulgarische betrifft, so wird es übrigens in Kyrillisch geschrieben und nicht in die lateinische Schrift transliteriert. Den Grund, weshalb sich Damjanova für diese künstlerische Strategie ent‐ schieden hat, hat die Lyrikerin selbst verraten: Ich bin mit diesen drei Sprachen aufgewachsen und habe beim Schreiben bis dahin immer das Gefühl gehabt, eine Wahl treffen zu müssen, in welcher Sprache ein Text entstehen wird. Bei diesem Projekt habe ich mir die Freiheit genommen, alle drei Sprachen zu verwenden, so wie ich es auch im Leben tue. 79 Danach dient der Selbstübersetzungsprozess bei Zwetelina Damjanova der Suche nach einer hybriden Dimension, die einer „vierten Dimension“ entspricht Spiegel im eigenen Wort 61 <?page no="62"?> 80 Ebd. 81 Vgl. Walburg, Myriam-Naomi (2020). Dichten und Übersetzen. Die intertextuelle Über‐ setzung in der mehrsprachigen Poesie von Marica Bodrožić und Zwetelina Damjanova. Germanistische Mitteilungen 46, 67-94, hier 76. Abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10.336 75/ GM/ 2020/ 46/ 9 (Stand: 08.02.2022). 82 Vgl. u. a. Salmon, Laura (2013). Il processo autotraduttivo: definizioni e concetti in chiave epistemologico-cognitiva. In: Ceccherelli, Andrea/ Imposti, Gabriella Elina/ Pe‐ rotto, Monica (Hrsg.) Autotraduzione e riscrittura. Bologna: Bononia University Press, 77-98, hier 79. und die aus der Verschmelzung der von ihr erworbenen Sprachen entsteht: „Die Mischung aus allen drei Sprachen ist eine weitere, mögliche vierte Dimension, in der das Leben stattfindet.“ 80 Dabei handelt es sich um einen Raum, der wie bei Yoko Tawada Sprachspiele, Experimente und sprachliche Reflexionen ermöglicht. 81 5. Fazit In diesem Artikel wurde Selbstübersetzung durch die Metapher des „Spiegels im eigenen Wort“ - die auf Vladimir Vertlibs Sammlung seiner Chamisso-Poe‐ tikvorlesungen verweist - versinnbildlicht, da selbstübersetzende Autor*innen ihr eigenes (geschriebenes oder gedachtes) Wort in einer anderen Sprache wiedergeben, es im übertragenen Sinne reflektieren, als würden sie sich beim Selbstübersetzen einen Spiegel vorhalten. Einige Literatur- und Translationswissenschaftler*innen haben angemerkt, dass bei Selbstübersetzung unbedingt unterschieden werden muss, ob damit entweder ein Text eines zweisprachigen Autors bzw. einer zweisprachigen Autorin, der/ die den gleichen Text bereits in einer anderen Sprache verfasst hat, oder der mentale Prozess, der sich in seinem bzw. ihrem Kopf beim Sich-Selbst-Übersetzen abspielt, gemeint ist. 82 Die Autor*innen, die in diesem Beitrag vertieft wurden, vertreten beide Interpretationsmöglichkeiten auf indi‐ viduelle Art und Weise. Bei allen genannten Werken ist - zumindest in gewisser Hinsicht - ein Ausgangstext vorhanden, wodurch die allererste, von Anton Popovič vorgeschlagene Definition von Selbstübersetzung - die Übersetzung eines originalen Werkes in eine andere Sprache durch den Autor bzw. die Autorin selbst - grundsätzlich eingehalten wird. Außerdem spiegeln Yüksel Pazarkaya und Yoko Tawada die von Rainier Grutman und Dieter Lamping gebotenen Definitionen wider - während Dieter Lamping Selbstübersetzung allgemein als Phänomen versteht, bei dem ein Autor bzw. eine Autorin das eigene Werk übersetzt, präzisiert Rainier Grutman, dass Selbstübersetzung sowohl für den Prozess des Übersetzens des eigenen Werkes als auch für das Er‐ 62 Ramona Pellegrino <?page no="63"?> gebnis dieses Verfahrens steht -, da sie zahlreiche ihrer bereits veröffentlichten Werke selbst in eine andere Sprache übersetzt haben. Allerdings fassen Yoko Tawada und Vladimir Vertlib Selbstübersetzung auch als mentalen Ablauf auf, was wiederum den jüngeren Entwicklungen und Definitionsversuchen dieses Phänomens entspricht. Schließlich vertritt Zwetelina Damjanova durch ihre Suche nach einer „vierten Dimension“, in der sich ihre Dreisprachigkeit kreativ entfalten kann, den Fokus, den die neuere Forschung auf Hybridität gerichtet hat. Die Fälle, die in den vorhergehenden Abschnitten behandelt wurden, stellen einige Realisierungsmöglichkeiten und Funktionen der Selbstübersetzung in‐ nerhalb der transkulturellen deutschsprachigen Literatur beispielhaft dar. So hat die Auseinandersetzung mit dem Gedichtband Giri e rigiri, laufend gezeigt, dass Franco Biondi sich selbst übersetzt hat, um unterschiedliche Gefühlswelten, die mit einem bestimmten Sprachraum verknüpft sind, in einer anderen Sprache zu vermitteln. Der Selbstübersetzungsprozess wird als Fortschreiben erlebt, das potenziell unendlich fortgesetzt werden kann, da Ausgangs- und Zieltext in stetiger Wechselwirkung zueinanderstehen. Bei Yüksel Pazarkaya entspricht Selbstübersetzung im Wesentlichen dem Verlangen, eine bestimmte Leserschaft zu erreichen, was dazu führt, dass die selbstübersetzten Texte ihr gezielt angepasst werden. Bei Yoko Tawada können unterschiedliche Ebenen der Selbstübersetzung unterschieden werden: Einerseits kann sie in der „traditio‐ nellen“ Auffassung als Übersetzung des eigenen Werks in eine andere Sprache verstanden werden, wodurch sogenannte „Partnertexte“ entstehen; andererseits erscheint sie im weitesten Sinne als Übersetzung ohne Original, d. h. als Verschriftlichung einer Idee, die ihrerseits durch unterschiedliche Sprachsys‐ teme und Schriftzeichen beeinflusst wird. Dabei dient Selbstübersetzung vor allem der Auseinandersetzung mit dem Klang und der Form der betroffenen Sprachen. Zwetelina Damjanova setzt Selbstübersetzung innerhalb desselben Werkes ein, um die Ausdrucksmöglichkeiten in ihren Sprachen bzw. durch ihre Sprachen, die in einer hybriden Dimension harmonisch kombiniert werden, zu erweitern. Die sprachliche Vermischung, die durch Selbstübersetzung entsteht, wird somit zum Sinnbild des mehrsprachigen Lebens und der hybriden Identität der Lyrikerin. Vladimir Vertlib fasst Selbstübersetzung vor allem als mentalen Übertragungsprozess aus der Erstsprache auf, der beim Schreiben mehr oder weniger bewusst eingesetzt wird, und verkörpert somit Elin-Maria Evangelistas und Steven Kellmans Interpretation des Phänomens, wonach mehrsprachige Autor*innen sich bereits selbst übersetzen, wenn sie nicht in ihrer Erstsprache schreiben. Spiegel im eigenen Wort 63 <?page no="64"?> 83 http: / / www.polyphonie.at/ index.php? op=interviewdatabase&off=12 (Stand: 08.02.2022). 84 Dinev, Dimitré (2017). „die möglichkeit unsterblich zu sein, ist sicher ein anreiz zum schreiben.“ im gespräch mit wiebke sievers. In: Sievers, Wiebke/ Englerth, Holger/ Schwaiger, Silke (Hrsg.) ich zeig dir, wo die krebse überwintern. Wien: edition exil, 35-57, hier 41. 85 Vgl. dazu Garazi, Arrula Ruiz (2017). What we talk about when we talk about identity in self-translation. Ticontre. Teoria Testo Traduzione 7, 1-21, hier 4. Abrufbar unter: h ttps: / / teseo.unitn.it/ ticontre/ article/ view/ 1041/ 1042 (Stand 08.02.2022). Allerdings teilen nicht alle mehrsprachige Autor*innen die Ansicht, dass das Schreiben in der Zweit- oder Drittsprache mit einem mentalen Selbstüberset‐ zungsprozess gleichzusetzen ist. Der deutsche Autor bosnischer Herkunft Saša Stanišić hat beispielsweise in mehr als einem Interview betont, er schreibe direkt auf Deutsch, ohne dass ein gedanklicher Übersetzungsprozess stattfindet: weil ich nie original in meiner ersten Muttersprache denke, sondern ich denke natürlich schon auf Deutsch. Das heißt, es gibt gar keine Übertragungsleistung, die scheitert, weil gar keine Übertragung stattfindet. Es ist immer original Deutsch. 83 Auch Dimitré Dinev hat sich eher zurückhaltend zur Selbstübersetzung geäu‐ ßert. Der in Österreich lebende Autor bulgarischer Herkunft, der seine ersten Texte auf Bulgarisch - also in seiner Erstsprache - schrieb und sie nicht ins Deutsche übersetzte, meinte Folgendes dazu: Ich habe keine einzige Geschichte von damals ins Deutsche übersetzt. Das sind für mich zwei Parallelwelten, zwei Sprachen, in denen die Möglichkeiten sich auszudrü‐ cken sehr unterschiedlich sind. […] Außerdem kann ich meine Sachen nicht selbst übersetzen. Es dauert zu lange und ist viel zu langweilig, denn es passiert nichts Neues. 84 Letzterer Gedanke erinnert eindeutig an Yoko Tawadas Äußerung zu ihrer Selbstübersetzungstätigkeit aus dem Japanischen ins Deutsche, woraus sich schließen lässt, dass bei transkulturellen Autor*innen durchaus Gemeinsam‐ keiten erkannt werden können. Trotz gewisser Übereinstimmungen sollte Selbstübersetzung allerdings bei jedem Schriftsteller bzw. jeder Schriftstellerin individuell untersucht werden, da sie eng mit seiner/ ihrer Identitätskonstruk‐ tion 85 und seinem/ ihrem Schreibprozess und Schreibkonzept verbunden ist. Sich selbst zu übersetzen bedeutet, seine Texte neu zu lesen, neu zu schreiben, neu zu erfinden und sich selbst aus einer anderen Perspektive zu beobachten und sich neu darzustellen. Abschließend lässt sich sagen, dass Selbstübersetzung in der transkulturellen Literatur als Kontinuum aufgefasst werden kann, das von einer Übersetzung 64 Ramona Pellegrino <?page no="65"?> im engsten Sinne bis hin zu einer metaphorischen Extension reicht, in der Übersetzen und Rewriting keine klar voneinander abgegrenzten Aktivitäten darstellen, sondern oft ineinander verschmelzen. Dabei steht die Suche nach dem eigenen Schreib- und Übersetzungsprozess durch den Dialog zwischen den involvierten Sprachen stets im Mittelpunkt des kreativen Handelns. Spiegel im eigenen Wort 65 <?page no="67"?> „Nichts habe ich häufiger hier gehört, als den Ausdruck: never mind it! “ - Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19.-Jahrhunderts als mehrsprachiges Genre Sandra Vlasta Abstract: Dieser Beitrag geht von der These aus, dass literarische Mehrspra‐ chigkeit ein typisches Element der Gattung Reisebericht ist. Im Folgenden analysiere ich Texte mehrsprachiger ReiseschriftstellerInnen, verschiedene Formen der Mehrsprachigkeit im Reisebericht, wie explizite und latente Mehrsprachigkeit, sowie mehrsprachige Intertextualität. Ich frage nach der Funktion und den Anlässen für den Einsatz literarischer Mehrsprachigkeit: so kann Mehrsprachigkeit helfen, den Bericht authentisch erscheinen zu lassen; sie kann exotisierende Funktion haben; sie kann zur Inszenierung bzw. Posi‐ tionierung des Erzählenden/ Reisenden dienen oder sie kann die LeserInnen stärker in den Bericht einbeziehen (als „Mitwisser“, „Mitversteher“). Ich beziehe mich auf (primär deutschsprachige) Texte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, einer sehr populären Periode des Genres, und betrachte Reiseberichte von Johann Wolfgang von Goethe, Georg Forster, Karl Philipp Moritz (von dem das Zitat im Titel stammt) und Fanny Lewald. Die Analyse zeigt, dass unsere Wahrnehmung des 19.-Jahrhunderts als einer Zeit, in der Einsprachigkeit die angestrebte Norm war, nur bedingt gültig ist - der Reisebericht war jedenfalls ein hochgradig mehrsprachiges Genre. Keywords: Reiseliteratur, Mehrsprachigkeit, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Forster, Karl Philipp Moritz, Fanny Lewald Die literaturwissenschaftliche Mehrsprachigkeitsforschung hat sich bislang auf bestimmte AutorInnen und Texte konzentriert: Einerseits auf AutorInnen, die aufgrund ihrer durch Flucht, Exil oder andere Formen der Migration <?page no="68"?> 1 Siehe zum Beispiel Kellman, Steven/ Lvovich, Natasha (Hrsg.) (2022). The Routledge Handbook of Literary Translingualism. New York/ Abingdon: Routledge. 2 Ausnahmen stellen die drei Beiträge zu antiken Formen der literarischen Mehrspra‐ chigkeit im Handbook of Literary Translingualism dar: Bozia, Eleni/ Alex Mullen (2022). Literary Translingualism in the Greek and Roman Worlds. In: Kellman, Steven/ Lvovich, Natasha (Hrsg.) Routledge Handbook of Literary Translingualism. New York/ Abingdon: Routledge, 45-59; Mahmoud, Alaaeldin (2022). Literary Translingual Practices in the Persianate World: Past and Present. In: Kellman, Steven/ Lvovich, Natasha (Hrsg.) Routledge Handbook of Literary Translingualism. New York/ Abingdon: Routledge, 60-70 and Patel, Deven M. (2022). The Curious Case of Sanskrit Literary Translingua‐ lism. In: Kellman, Steven/ Lvovich, Natasha (Hrsg.) Routledge Handbook of Literary Translingualism. New York/ Abingdon: Routledge, 71-82. Siehe außerdem folgende Sammelbände: Anokhina, Olga/ Dembeck, Till/ Weissmann, Dirk (Hrsg.) (2019). Mapping Multilingualism in 19th Century European Literatures/ Le plurilinguisme dans les littératures européennes du XIXe siècle. Zürich: LIT und Mende, Jana (Hrsg.) (2023). Hidden Multilingualism. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter. 3 Siehe Dembeck, Till (2017). There is no such thing as a monolingual text! New tools for literary scholarship. Polyphonie 4: 1, 1-21. Abrufbar unter: http: / / www.polyphonie.at / index.php? op=publicationplatform&sub=viewcontribution&contribution=105 (Stand: 06.06.2023). 4 Dieser Beitrag stellt eine übersetzte und überarbeitet Fassung des folgenden Artikels dar: Vlasta, Sandra (2023). Multilingualism in 19 th -century travel writing. A first typology. In: Mende, Jana (Hrsg.) (in print). Hidden Multilingualism. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter, 219-240. Für eine erste Analyse von Mehrsprachigkeit im englischsprachigen Reisebericht siehe Vlasta, Sandra (2022). 19 th -century English travel writing as a multilingual genre: first observations on multilingual travel writers, multilingual travelogues and multilin‐ gual intertextuality. Polyphonie 9: 2, 1-13. Abrufbar unter: http: / / www.polyphonie.at gekennzeichnete Biographien Literatur in verschiedenen Sprachen schreiben. 1 Andererseits lag ein Fokus auf den fiktionalen Werken dieser AutorInnen bzw. auf fiktionalen Texten generell, die eine mehrsprachige Ästhetik aufweisen, und weniger auf Schriften, die dem Autobiographischen, Essayistischen oder anderen Formen zuzurechnen sind, die zwischen Fakt und Fiktion oszillieren. Weiterhin sind diachrone Analysen immer noch die Ausnahme. 2 Dieser Beitrag schlägt mit einer historischen Analyse von Reiseberichten, die üblicherweise der deutschsprachigen Literatur zugerechnet werden und zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind, vor, die Gattung der Reiseberichte als mehrsprachig zu verstehen und bewegt sich damit im Feld der Mehrsprachigkeitsphilologie, wie sie Till Dembeck in die Diskussion eingebracht hat. 3 Der Hintergrund dafür ist meine Forschung im Rahmen des Projekts European Travel Writing in Context, in dem ich Mehr‐ sprachigkeit von Reiseberichten als eines der literarischen Mittel analysiere, die AutorInnen zur Identitätsverhandlung und Identitätskonstruktion einsetzen. 4 Im Folgenden steht die Frage nach der Mehrsprachigkeit dieser Gattung im 68 Sandra Vlasta <?page no="69"?> / index.php? op=publicationplatform&sub=viewcontribution&contribution=297 (Stand: 07.06.2023). 5 Thompson, Carl (2011). Travel Writing. Abingdon: Routledge, 9. 6 Vgl. Thompson (2011: 14). Fiktionale Reiseberichte (wie z. B. von Jules Verne, Daniel Defoe und vielen anderen) klammere ich damit in dieser Untersuchung aus. 7 Vgl. Lejeune, Philippe (1975). Le Pacte autobiographique. Paris: Seuil. In der Reiseberichtsforschung wird hingegen üblicherweise auf den Unterschied zwi‐ schen dem/ der AutorIn (die außerhalb des Textes stehen), dem Erzähler (der auch als implizite/ r AutorIn verstanden werden kann, die/ der von den LeserInnen konstruiert wird) und der reisenden Persona (d. h. der Selbstgestaltung des reisenden Protagonisten im Text) hingewiesen. - Die Einheit der Identität von Autor, Erzähler und Reisendem wird damit in der Analyse wieder als Konstrukt entlarvt. Vgl. Drace-Francis, Alex (2019). Persona. In: Forsdick, Charles/ Kinsley, Zoë/ Walchester, Kathryn (Hrsg.) Keywords for Travel Writing Studies: A Critical Glossary. London: Anthem Press, 181-183. 8 Johnston, Judith (2016 [2013]). Victorian Women and the Economies of Travel, Trans‐ lation and Culture 1830-1870. London and New York: Routledge, 2. Für weitere Untersuchungen zur Verbindung von Übersetzung und Reisebericht siehe Bassnett, Susan (2019). Translation and Travel Writing. In: Das, Nandini/ Youngs, Tim (Hrsg.) The Cambridge History of Travel Writing. Cambridge: Cambridge University Press, 550-564; Cronin, Michael (2000). Across the Lines: Travel, Language, Translation. Cork: Cork University Press. Vordergrund; ich schlage eine erste Gruppierung ihrer Formen und Funktionen vor und illustriere diese anhand einiger Beispiele. Von welcher Art von Reise die Berichte auch immer sprechen, beinhalten sie höchstwahrscheinlich eine Begegnung zwischen dem Erzähler/ Reisenden und der Außenwelt. Dementsprechend definiert Carl Thompson das Reisen als: „the negotiation between self and other that is brought about by movement in space” 5 . Doch wie findet diese Aushandlung statt? Höchstwahrscheinlich beinhaltet sie eine Art von Sprache, oder sogar Sprachen. Der Reisebericht, d. h. die schriftliche Dokumentation einer Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen, spiegelt diesen sprachlichen Aspekt des Reisens wider. Daher können wir davon ausgehen, dass der Reisebericht, insbesondere wenn er von Reisen über nationale Grenzen hinweg handelt, ein Genre ist, das für Mehrsprachigkeit prädestiniert ist. Unter Reiseberichten verstehe ich Berichte über Reisen, die tatsächlich stattgefunden haben und von den AutorInnen selbst unternommen wurden. 6 Dabei gehen LeserInnen und AutorInnen einen autobiographischen Pakt im Sinne Philippe Lejeunes ein, das heißt, sie nehmen die Identität von Autor, Erzähler und Reisendem im Text an. 7 In der Reiseberichtsforschung wurden Fragen der Übersetzung - ein Prozess, der als eine Form der Mehrsprachigkeit definiert werden kann - thematisiert und sogar als „eine andere Form der Reise“ 8 bezeichnet. Wie Michael Cronin Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 69 <?page no="70"?> Für einen aktuellen Überblick siehe Aedín Ní Loingsighs Eintrag im Band Keywords for Travel Writing Studies und Susan Pickfords Kapitel im Handbook of British Travel Writing. Loingsigh, Aedín Ní (2019). Translation. In: Forsdick, Charles/ Kinsley, Zoë/ Walchester, Kathryn (Hrsg.) Keywords for Travel Writing Studies: A Critical Glossary. London: Anthem Press, 259-261. Pickford, Susan (2020). Travel Writing and Transla‐ tion. In: Schaff, Barbara (Hrsg.) Handbook of British Travel Writing. Berlin/ Boston: De Gruyter, 79-94. 9 Vgl. Cronin (2000: 102-103) und Loingsigh (2019: 269). 10 Vgl. Agorni, Mirella (2002). Translating Italy for the Eighteenth Century: British Women, Translation and Travel Writing (1739-1797). Abingdon: Routledge und Martin, Alison E./ Pickford, Susan (Hrsg.) (2012). Travel Narratives in Translation, 1750-1830: Nationalism, Ideology, Gender. Abingdon and New York: Routledge. jedoch feststellt, widmen viele der betreffenden Studien den eigentlichen sprachlichen Prozessen der Übersetzung nur wenig Aufmerksamkeit. Vielmehr verwenden sie die Übersetzung in metaphorischer Weise und konzentrieren sich auf Aspekte wie die kulturelle Übersetzung (d. h. die Vermittlung), nicht zuletzt diejenige, die die AutorInnen für ihre LeserInnen vornehmen. Nur selten wurden bislang konkrete Übersetzungssituationen in Reiseberichten analysiert oder Erkenntnisse aus den Übersetzungswissenschaften in die Analysen mitein‐ bezogen. 9 Eine andere Forschungsrichtung konzentriert sich auf die Verbreitung von Reiseberichten in Übersetzung und auf die Rolle der ÜbersetzerInnen in diesem Prozess. 10 Die Mehrsprachigkeit dieser Texte wurde bisher noch nicht eingehend untersucht, obwohl Mehrsprachigkeit - ob manifest oder latent (Formen, die ich weiter unten näher erläutern werde) - ein typisches Phänomen in diesem Genre ist. Die Analyse der literarischen Mehrsprachigkeit in Reiseberichten kann uns neue Einblicke in diese Texte geben: Sie verrät uns mehr über die Absichten der AutorInnen, die Funktionen der Texte und ihre Rezeption. Dies ist insbesondere wegen der großen Popularität des Genres ab dem Ende des 18. Jahrhunderts von Bedeutung. Für diese Beliebtheit gibt es eine Reihe von Gründen. Einerseits stieg aufgrund der verbesserten Infrastruktur und der zunehmenden Reisemög‐ lichkeiten das allgemeine Interesse am Reisen. Die Lektüre von Reiseberichten diente dabei häufig der Vorbereitung auf die Reise. Für diejenigen, die es sich noch nicht leisten konnten zu reisen, bot die zunehmende Zahl von Reiseberichten eine Möglichkeit, zumindest in Gedanken zu reisen (auch als armchair travel bezeichnet). Darüber hinaus war das Reisen Teil des Projekts der Aufklärung: Durch die Lektüre von Reiseberichten konnte man sich über 70 Sandra Vlasta <?page no="71"?> 11 Zur Bedeutung des Reiseberichts in der Aufklärung siehe z. B. Jäger, Hans-Wolf (Hrsg.) (1992). Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg: Winter und Brenner, Peter J. (2015). Reisen. In: Thoma, Heinz (Hrsg.) Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Heidelberg: J. B. Metzler, 429-438. 12 Im folgenden Beitrag habe ich diesen Aspekt vertieft: Vlasta, Sandra (2021). Narrating the Other, Narrating the Self. Intertextuality and Multilingualism as Literary Strate‐ gies of Identity Negotiation in European Travel Writing in the Nineteenth-Century. CompLit. Journal of European Literature, Arts and Society 2: 2, 21-36. verschiedene Orte informieren, seien sie nun fern und exotisch oder den LeserInnen eher vertraut. 11 Gleichzeitig förderten Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Identitätsdiskurse im Allgemeinen und speisten sie. Dies gilt sowohl für die Konstruktion von kollektiven als auch von individuellen Identitäten. 12 Während erstere Teil der Entwicklung von Nationalstaaten und Nationalkulturen war, kann letztere auf das Anwachsen des Bürgertums seit dem späten 18. Jahrhundert zurückgeführt werden. In Reiseberichten finden wir häufig beide Diskurse: Menschen werden als Vertreter einer Nation be‐ schrieben und dargestellt, die ErzählerInnen/ Reisenden selbst identifizieren sich zuweilen ausdrücklich mit einer Nation und/ oder die LeserInnen werden als Angehörige einer bestimmten Nation angesprochen. Gleichzeitig sind die Reisenden/ ErzählerInnen in einem Reisebericht exemplarische Individuen, die einerseits ein Modell für die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft und dem neuen nationalen Kollektiv sein kann. Andererseits können sie erkunden, was es bedeutet, ein individuelles Subjekt zu sein, indem sie eine eigene Identität als singuläres Mitglied der Gesellschaft erforschen. Die Mehrsprachigkeit im Reisebericht dient zum Teil der Darstellung, Perfor‐ manz und Verhandlung von Identitäten. Sprache ist konstitutiv für individuelle und kollektive Identitäten, d. h. Sprache wird zur Konstruktion dieser Identi‐ täten verwendet. Dabei dient sie nicht nur als Vehikel zur Vermittlung von Ideen, sondern spricht auch für sich selbst und weist insbesondere in literarischen Texten über sich selbst hinaus. Dies gilt umso mehr für mehrsprachige Elemente in literarischen Texten. In der Tat kann die Verwendung verschiedener Sprachen in Reiseberichten entweder Widerstand gegen nationalistische Entwicklungen leisten oder die Idee der kulturellen Identität und/ oder Differenz verstärken (wenn dadurch zum Beispiel Unterschiede hervorgehoben werden). Im Folgenden stelle ich verschiedene Aspekte der Mehrsprachigkeit im Reisebericht vor: jene des/ r mehrsprachigen ReiseschriftstellerIn; Formen der manifesten Mehrsprachigkeit, die sich durch verschiedene Formen des Code-Switching ausdrücken, aber auch durch mehrsprachige Intertextualität, Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 71 <?page no="72"?> 13 Eine aktuelle Ausgabe des Reiseberichts ist 2017 erschienen: Goethe, Johann Caspar (2017). Viaggio per l’Italia. Meier, Albert/ Hollmer, Heide (Hrsg.). Acireale: Bonanno. 14 Siehe Humboldt, Alexander von. (1810-1813). Vues des Cordillères et Monuments des Peuples Indigènes de l’Amérique. Paris: F. Schoell und Humboldt, Alexander von. (1805-1834). Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent: fait en 1799, 1800, 1801, 1803 et 1804. Paris: F. Schoell. 15 Johannes Görbert (2014) hat gezeigt, dass Humboldt seine Texte nicht nur übersetze, sondern auch für das deutschsprachige Publikum adaptiert hat. Vgl. Görbert, Johannes (2014). Die Vertextung der Welt. Forschungsreisen als Literatur bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso. Berlin/ München/ Boston: De Gruyter. und Formen der latenten Mehrsprachigkeit, zu der ich auch die Kategorie der versteckten Mehrsprachigkeit zähle. 1. Mehrsprachige AutorInnen von Reiseberichten Zahlreiche VerfasserInnen von Reiseberichten waren mehrsprachig und nutzten ihre Mehrsprachigkeit beim Abfassen ihrer Reisetexte. So schrieb Johann Caspar Goethe, Johann Wolfgang von Goethes Vater, seinen Reisebericht über Italien, Viaggio per l'Italia (1740-1741/ 1932), in italienischer Sprache. 13 Dieser Reisebericht, der auf einer zwischen 1740 und 1741 unternommenen Reise basierte und nur für den privaten Gebrauch bestimmt war, wurde erstmals 1932 veröffentlicht. Vermutlich hat sich Goethe einfach für die italienische Sprache entschieden, weil er sie beherrschte und dazu in der Lage war. Die Möglichkeit, sich in der Sprache des Landes, über das er schrieb, auszudrücken, gemeinsam mit der Tatsache, dass er sich nicht an ein breiteres Publikum wandte, haben bei dieser Entscheidung wohl mitgespielt. Ein weiteres Beispiel für einen mehrsprachigen Reiseschriftsteller ist Alex‐ ander von Humboldt, der seine Reiseberichte auf Französisch schrieb und sie später ins Deutsche übersetzte. 14 Für seine Sprachwahl gibt es verschiedene Gründe: Erstens nahm er an französischen Expeditionen teil und musste daher seine Erkenntnisse auch in dieser Sprache veröffentlichen; zweitens war er Mitglied der Pariser Académie des sciences und es war ihm wichtig, auch in der französischen Wissenschaftswelt weiterhin als Gelehrter wahrgenommen zu werden. Schließlich war es für Humboldt als deutscher Universalgelehrter wichtig, auch von einem breiteren deutschsprachigen Publikum gelesen zu werden, und so übersetzte er seine eigenen Schriften in diese Sprache. 15 Ebenfalls ein Beispiel ist Georg Forster (und sein Vater Johann Reinhold Forster), der den Bericht über seine Reise um die Welt (1777) mit Kapitän James Cook zunächst auf Englisch schrieb und veröffentlichte und ihn dann 72 Sandra Vlasta <?page no="73"?> 16 Forster, Georg (1777). A Voyage round the World in His Britannic Majesty’s Sloop Resolution, Commanded by Capt. James Cook, during the Years, 1772, 3, 4, and 5. London: B. White. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1778-1780: Forster, Georg (vol. 1 1778- vo. 2 1780). Johann Reinhold Forster’s […] Reise um die Welt während den Jahren 1772 bis 1775. Berlin: Haude und Spener. 17 Ich übernehme an dieser Stelle den Begriff translingual von Steven Kellman, siehe Kellman, Steven G. (2000) The Translingual Imagination. Lincoln/ London: University of Nebraska Press. selbst in seine deutsche Muttersprache übersetzte. 16 Dass die erste Ausgabe in englischer Sprache erschien, war dem Umstand geschuldet, dass Johann Reinhold Forster den Auftrag erhalten hatte, den offiziellen Bericht über die Reise zu schreiben. Als er jedoch den ersten Entwurf vorlegte, wurde der Text von der Admiralität abgelehnt. Der darauf folgende Streit führte dazu, dass der Auftrag zur Abfassung des offiziellen Reiseberichts vollständig zurückgezogen wurde; außerdem wurde Forster die Erlaubnis verweigert, die Bilder des Malers William Hodges für seinen Text zu verwenden. Da Vater und Sohn jedoch dringend Geld brauchten, beschlossen sie, ihre eigene Version des Reiseberichts zu verfassen - basierend auf den Aufzeichnungen des Vaters, aber geschrieben von Georg, dessen Englisch wesentlich besser war als das seines Vaters. Er schrieb den Bericht so schnell wie möglich, um ihn vor dem Erscheinen von James Cooks Buch zu veröffentlichen. In diesem Fall richtete sich die Wahl der Sprache nach dem Zielpublikum: Die Forsters hofften, den Reisebericht an das Publikum in Großbritannien verkaufen zu können. Dennoch hatte Georg Forster bereits parallel zur englischen Version mit der Arbeit an der deutschen Fassung begonnen, wohl wissend um den hohen Bekanntheitsgrad seines Vaters in Deutschland und die Bedeutung einer deutschen Ausgabe. Letztere wurde vom Publikum tatsächlich viel besser aufgenommen und war, im Unterschied zur englischen Ausgabe, auch ein kommerzieller Erfolg. Der Unterschied in der Rezeption wird schon durch die Titel der Reiseberichte antizipiert: Im englischen Titel wird die Tatsache betont, dass die Expedition im Auftrag der Krone gesponsert und von James Cook unternommen wurde (A Voyage round the World in His Britannic Majesty's Sloop Resolution, Commanded by Capt. James Cook). Der deutsche Titel hingegen stellt Johann Reinhold Forster in den Mittelpunkt (Johann Reinhold Forsters […] Reise um die Welt […]). Diese drei Beispiele von mehrsprachigen Reiseschriftstellern - Johann Caspar Goethe, Alexander von Humboldt und Georg Forster - führten zu translingu‐ alen Texten, d. h. zu Texten, die in Sprachen verfasst wurden, die nicht die Erstsprachen der Autoren waren. 17 In diesen Texten finden sich darüber hinaus Beispiele für Mehrsprachigkeit, etwa in Form von Ausdrücken in den Sprachen der Ureinwohner Neuseelands, die Forster in seinem Reisebericht aufzeichnet Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 73 <?page no="74"?> 18 Siehe Radaelli, Giulia (2011). Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin: Akademie Verlag. 19 Vgl. Dembeck 2017, der zwischen diesen beiden Formen unterscheidet. 20 Radaelli, Giulia (2014): Literarische Mehrsprachigkeit. Ein Beschreibungsmodell (und seine Grenzen) am Beispiel von Peter Waterhouses Das Klangtal. In: Dembeck, Till/ Mein, Georg (Hrsg.) Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg: Winter, 156-182, hier 165. und bespricht. Die folgenden Abschnitte sind dieser Art von Mehrsprachigkeit in den Texten gewidmet. 2. Manifeste Mehrsprachigkeit im Reisebericht Giulia Radaelli schlug 2011 vor, zwischen manifesten und latenten Formen der Mehrsprachigkeit in literarischen Texten zu unterscheiden. 18 Manifeste Mehr‐ sprachigkeit bezeichnet dabei alle Formen der Mehrsprachigkeit, die für die LeserInnen an der Oberfläche eines Textes sichtbar sind. Dazu gehören Formen des Code-Switching und des Code-Mixing, d. h. sowohl der Sprachwechsel als auch die Vermischung verschiedener Sprachen, um ein neues Idiom zu schaffen. 19 Latente Mehrsprachigkeit hingegen beschreibt die Situation, in der andere Sprachen auf der Oberfläche eines Textes nicht sichtbar sind, sondern nur implizit vorhanden oder vielleicht sogar versteckt sind. Übersetzungen, Verweise auf andere Sprachen und Reflexionen über Sprache sind mögliche Beispiele für latente Mehrsprachigkeit. Ein Text ist in der Regel nicht ausschließ‐ lich durch manifeste oder latente Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Vielmehr treten oft beide Formen in ein und demselben Text in unterschiedlichem Ausmaß auf. Radelli vertritt deshalb die Auffassung, dass manifeste und latente Mehrsprachigkeit nicht isoliert, sondern parallel betrachtet werden sollten: „Bei der Analyse eines literarischen Textes sollen vielmehr die zwei Kriterien der Wahrnehmbarkeit und der Diskursivierung miteinander verknüpft werden, um zu beschreiben, wie wahrnehmbar die jeweiligen diskursiven Figuren der Mehrsprachigkeit sind.“ 20 Eine häufige Form der manifesten Mehrsprachigkeit ist das Code-Switching. Code-Switching bezeichnet einen Sprachwechsel, der auf verschiedenen Ebenen eines Textes stattfinden kann: zum Beispiel auf der intrasententialen Ebene, d. h. innerhalb eines Satzes, wenn ein oder mehrere Wörter in (einer) anderen Sprache(n) als der Hauptsprache in einen Text eingeführt werden. Intersenten‐ tiales Code-Switching hingegen bezeichnet den Wechsel der Sprache zwischen Sätzen. 74 Sandra Vlasta <?page no="75"?> 21 Goethe, Johann Wolfgang von (1992 [1813-1817]). Italienische Reise. München: Carl Hanser, 28. 22 Vgl. zum Beispiel die Inschriften an den vier Giebelseiten der von Palladio geplanten Villa Rotonda in Vicenza sowie jene auf der Büste des Kardinals Bembo in Padua (Goethe 1992 [1813-1817]: 65 und 69). 23 Siehe Goethe (1992 [1813-1817]: 527 und 570-571). 24 Siehe Goethe (1992 [1813-1817]: 570). 25 Goethe (1992 [1813-1817]: 29). Die Gattung des Reiseberichts scheint für diese Art der manifesten Mehr‐ sprachigkeit prädestiniert zu sein, insbesondere wenn es sich um Reisen ins Ausland handelt. Und doch finden wir in vielen der fraglichen Texte relativ wenig manifeste Mehrsprachigkeit. Dies ist umso erstaunlicher, als viele der VerfasserInnen von Reiseberichten mehrsprachig waren: Johann Wolfgang von Goethe beispielsweise beherrschte die italienische Sprache, die ihm von seinem Vater beigebracht wurde. Auch Karl Philipp Moritz, dessen Reisebericht ich im Folgenden bespreche, konnte Englisch und Italienisch, als er nach England bzw. Italien reiste. Goethe schreibt zwar in seinem Reisebericht, dass er sich nach seiner Einreise nach Italien darüber freut, endlich Italienisch sprechen zu können: „Wie froh bin ich, daß nun die geliebte Sprache lebendig, die Sprache des Gebrauchs wird! “ 21 Trotzdem finden sich in seinem Reisebericht nur relativ wenige Beispiele für Code-Switching. Manchmal werden lateinische Inschriften von Gebäuden oder Statuen zitiert. 22 Weitere Beispiele sind ein Brief, den Goethe aus der Heimat erhält und der in französischer Sprache verfasst (und im Text wiedergegeben) ist, sowie ein Diplom in italienischer Sprache, das Goethe bei der Aufnahme in die Gesellschaft der Arkadia überreicht wurde. 23 Letzteres ist auf Italienisch wiedergegeben und der Autor selbst kommentiert seine Entscheidung, es in seinem Reisebericht nicht zu übersetzen, da es sonst seine Eigenart verlieren würde. 24 Zu Beginn des Reiseberichts entsteht der Eindruck, dass Goethe seinen LeserInnen zeigen möchte, dass er die italienische Sprache häufig verwendet. Ein Beispiel dafür findet sich gleich nach seiner Ankunft im italophonen Gebiet südlich von Trient. Es handelt sich um einen Fall von intersententialem Code-Switching und behandelt ein eher intimes Thema - die Suche nach einer Toilette: „[…] drittens fehlt eine höchst nötige Bequemlichkeit, so daß man dem Naturzustand hier ziemlich nahe kömmt. Als ich den Hausknecht nach einer gewissen Gelegenheit fragte, deutete er in den Hof hinunter, ‚qui abasso puo servirsi! ‘ Ich fragte: ‚dove? ‘ - ‚da per tutto, dove vuol! ‘ [sic! ] antwortete er freundlich.“ 25 (… ‚hier unten können Sie sich erleichtern! ‘ Ich fragte: ‚Wo? ‘ - ‚überall, wo Sie wollen! ‘…) Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 75 <?page no="76"?> 26 Ich beziehe mich hier auf Julia Kristevas Konzept und die Idee, dass jeder Text im Kontext anderer Texte gelesen werden muss: mit seinen Bezügen auf sowie Abgren‐ zungen von anderen Texten. Kristeva, Julia (1972). Probleme der Textstrukturation. In: Blumensath, Heinz (Hrsg.) Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 243-263. 27 Dementsprechend sind in aktuellen Handbüchern zum Reisebericht eigene Kapitel der Intertextualität des Genres gewidmet. Vgl. z. B. Beilein, Julia/ Schaff, Barbara (2020). Intertextual Travel Writing. In: Schaff, Barbara (Hrsg.) Handbook of British Travel Writing. Berlin/ Boston: De Gruyter, 113-223 und Hagglund, Betty (2019). Intertextua‐ lity. In: Forsdick, Charles/ Kinsley, Zoë/ Walchester, Kathryn (Hrsg.) Keywords for Travel Writing Studies: A Critical Glossary. London: Anthem Press, 133-135. 28 Siehe Pfister, Manfred (1993). Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext. In: Foltinek, Herbert (Hrsg.) Tales and „their telling difference“. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Heidelberg: Winter, 109-132. 29 Für eine Analyse des Gebrauchs von Mottos in der Romantik siehe Grutman, Rainier (2010). How to do things with mottoes: recipes from the Romantic era (with special reference to Stendhal). Neohelicon 37, 139-153. Auf diese Weise präsentiert Goethe seine reisende Persona als einen in‐ formierten Reisenden, der Italienisch kann. Die Mehrsprachigkeit in dieser Szene verleiht dem Text Atmosphäre und Authentizität. Außerdem teilt er den LeserInnen kurz vor der zitierten Szene seine positiven Gefühle gegenüber der italienischen Sprache mit - einer Sprache, die er bereits von seinem Vater gelernt hat, auf den er sich in seinem Reisebericht direkt und indirekt bezieht. Überdies sehen wir, wie er die Sprache aktiv anwendet; er wird also nicht als distanzierter Beobachter dargestellt, sondern als jemand, der durch die Sprache teilnimmt. Abgesehen von diesen Formen des Code-Switching verwenden einige Autor‐ Innen in ihren Reiseberichten eine besondere Form der Mehrsprachigkeit, die ich als mehrsprachige Intertextualität bezeichnen möchte. 26 Neuere Studien zum Reisebericht haben gezeigt, dass es sich dabei um ein hochgradig intertextuelles Genre handelt, d. h. die betreffenden Texte enthalten zahlreiche implizite und explizite Verweise auf andere Texte. 27 Manfred Pfister legte 1993 eine erste Typologie der Intertextualität in Reiseberichten vor, die Formen wie verdrängte Intertextualität, kompilatorische Intertextualität, huldigende Intertextualität und dialogische Intertextualität umfasst. 28 Die Kategorie der mehrsprachigen Intertextualität kann dieser Typologie hinzugefügt werden. Eine Reihe von ReiseschriftstellerInnen des 18. und 19. Jahrhunderts verwenden in ihren Texten intertextuelle Verweise in verschiedenen Sprachen. Die Praxis, am Anfang von Kapiteln oder Abschnitten Motti, auch in fremden Sprachen, zu verwenden, war generell bei den britischen und französischen Romantikern beliebt. 29 Im Reisebericht haben diese Einschübe von Zitaten in anderen Sprachen, die sprachlich gesehen eine Form des intersententialen 76 Sandra Vlasta <?page no="77"?> 30 Vgl. Greenblatt, Stephen (1980). Renaissance Self-Fashioning. From More to Shake‐ speare. Chicago: University of Chicago Press. 31 Siehe Goethe (1992 [1813—1817]: 654). 32 Dieses zeitgenössische Interesse wird als Anglophilie bezeichnet, siehe Maurer, Michael (2010). Anglophilie. Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. Abrufbar unter: http: / / www.ieg-ego .eu/ maurerm-2010-de (Stand: 07.06.2023). 33 Siehe Moritz, Karl Philipp (1784). Englische Sprachlehre für die Deutschen. Berlin: Wever. Für mehr Informationen zu Moritz als Sprachlehrer und Linguisten siehe Schmidt, Hartmut (1993). Karl Philipp Moritz, der Linguist. In: Hollmer, Heide (Hrsg.) Karl Philipp Moritz. München: Edition Text + Kritik, 100-106. Code-Switching darstellen, verschiedene Funktionen. Wie die oben erwähnten Formen von Code-Switching dient es dazu, die Autorität der AutorInnen als Ver‐ mittlerInnen der Sprache und Kultur, über die sie schreiben, zu unterstreichen, und ist somit Teil des „self-fashioning“ eines Schriftstellers, wie Stephen Green‐ blatt den Prozess der Konstruktion der eigenen Identität und der öffentliche Persona nannte. 30 Es kann auch als eine noch tiefere Auseinandersetzung mit der besuchten Kultur eines fremden Landes gesehen werden, die sich nicht auf eine oberflächliche Beschreibung beschränkt, sondern es den LeserInnen ermöglicht, zumindest für den Moment des fremden Zitats in die Sprache einzutauchen. Andere Formen der mehrsprachigen Intertextualität finden sich im Text selbst: So zitiert Goethe zum Abschluss seines Reiseberichts Verse von Ovid, in denen der römische Dichter seine melancholischen Gedanken an Rom im Exil beschreibt, um seine eigene Sehnsucht nach der ewigen Stadt auszudrücken, die der deutsche Autor verlassen musste, um nach Weimar zurückzukehren. 31 In Karl Philipp Moritz’ Reisebericht Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 (1783) hat der Einsatz der mehrsprachigen Intertextualität eine ganz andere Funktion. Wie viele aufgeklärte Deutsche zu dieser Zeit interessierte sich Moritz sehr für England und alles Englische; 32 er hatte viel englische Literatur gelesen (zeitgenössische Autoren wie Laurence Sterne, Daniel Defoe, Samuel Richardson, Henry Fielding und James Macpherson's Ossian) und viele englische Dramen gesehen. Darüber hinaus gab es politische Gründe für sein Interesse an England: Moritz studierte in Hannover, das zu dieser Zeit in Personalunion mit England regiert wurde. Außerdem hatte Moritz schon als Kind Englisch gelernt. Später arbeitete Moritz selbst als Englischlehrer und schrieb mehrere Bücher über englische Aussprache und Etymologie und nach seiner Englandreise sogar ein Englisch-Kursbuch für Deutsche (1784). 33 Im Jahr 1782 verbrachte Moritz einige Monate in England, von Ende Mai bis Mitte Juli, und er schrieb einen Reisebericht über diese Erfahrung. Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 77 <?page no="78"?> 34 Siehe Maurer (2010: 22) und Kofler, Peter (2007). Übersetzung und Modellbildung: Klassizistische und antiklassizistische Paradigmen für die Entwicklung der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. In Kittel, Harald/ Frank, Armin Paul/ Greiner, Norbert/ Her‐ mans, Theo/ Koller, Werner/ Lambert, José/ Paul, Fritz (Hrsg.) Übersetzung. Translation, Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. An Interna‐ tional Encyclopedia of Translation Studies. Encyclopédie internationale de le recherche sur la traduction, vol. 2. Berlin/ New York: De Gruyter, 1723-37, hier 1726-1727. 35 Maurer (2010: 19). 36 Moritz, Karl Philipp (2000 [1783]). Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782. Frankfurt am Main/ Leipzig: Insel, 132-133. Moritz nahm John Miltons Paradise Lost (1667) mit auf seine Reise, ein Text mit dem die deutsche Leserschaft vertraut war - es war von Johann Jakob Bodmer ins Deutsche übersetzt worden. 34 Moritz’ detaillierte Lektüre des Texts, die er im Reisebericht immer wieder erwähnt, sowie die vielen Zitate aus dem englischen Original im deutschen Text festigen Moritz’ Image als Kenner der englischen Literatur. Außerdem sind sie Teil der Neuartigkeit seines Reiseberichts, der sich aus verschiedenen Gründen von anderen deutschen Reiseberichten über England unterscheidet. Erstens, weil Moritz oft zu Fuß unterwegs war und diese Erfahrung in seinem Reisebericht verarbeitet hat. Zweitens wegen seiner Reiseroute: Während die meisten Reisenden London, „die Universitätsstädte Oxford und Cambridge, Bath und andere Badeorte, schließlich auch die neuen Industriestädte wie Manchester und Birmingham“ 35 besuchten, entschied sich Moritz, weiter nach Norden zu reisen und die Peak Cavern im Peak District zu besuchen. Drittens steht sein Reisebericht in einer neuen Tradition der Gattung, die sich auf das reisende Subjekt und die persönlichen Eindrücke, die die Reise hinterlässt, konzentriert. Seine Lektüre von Milton, die im Reisebericht dargestellt und reflektiert wird, ist Teil dieser Erfahrung. So umrahmt Moritz seinen Besuch in der Peak-Höhle mit langen englischen Zitaten aus Paradise Lost, die an einer Stelle die perfekte Beschrei‐ bung der Landschaft zu sein scheinen, die er sieht, als er sich der Höhle nähert: - - delicious Paradise,/ Now nearer crowns with her Enclosure green./ As with a rural Mound, the Champain [Champion] Head/ Of a steep Wilderness, Whose hairy sides/ With Thicket overgrown, grottesque and wild./ Access denied. - - 36 Moritz verzichtet darauf, Zitate wie diese zu übersetzen, sondern delegiert dies an seine LeserInnen. Diese Nichtübersetzung könnte als elitär interpretiert werden, gerichtet an eine bestimmte Gruppe von LeserInnen innerhalb des sehr breiten Publikums, das Reiseberichte ansprach, nämlich diejenigen, die aufgrund ihrer Bildung in der Lage sind, Milton im Original nicht nur zu erkennen, sondern auch 78 Sandra Vlasta <?page no="79"?> 37 Radaelli (2011: 61). 38 Blum-Barth, Natalia (2020). ‘[W]enn man schreibt, muss man […] die anderen Sprachen aussperren‘ Exkludierte Mehrsprachigkeit in Olga Grjasnowas Roman Gott ist nicht schüchtern. In: Siller, Barbara/ Vlasta, Sandra (Hrsg.) Literarische (Mehr-)Sprachreflex‐ ionen. Wien: Praesens, 49-67, hier 61. Vgl. dazu auch Blum-Barths Monographie: Blum-Barth, Natalia (2021). Poietik der Mehrsprachigkeit. Theorie und Techniken des multilingualen Schreibens. Heidelberg: Winter. 39 Vgl. Jana Mende, die diesen Begriff für literarische Mehrsprachigkeit im 19. Jahrhundert geprägt hat: Mende (Hrsg.) (2023). zu verstehen. Doch Moritz war auch Englischlehrer und veröffentlichte ein Jahr später ein Englischlehrbuch für eine deutsche Leserschaft. Seine Zitate im Original, ebenso wie die Bemerkungen, die er im Laufe seines Reiseberichts über die Aussprache und den Gebrauch von englischen Wörtern und Sätzen macht, können als Teil seines sprachlichen Interesses und seines pädagogischen Bestrebens gelesen werden und waren keineswegs snobistisch gemeint. 3. Formen latenter Mehrsprachigkeit im Reisebericht Radaelli spricht von latenter Mehrsprachigkeit, wenn in einem Text „andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind; er weist auch auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf “ 37 . Typische Beispiele für diese Art von Mehrsprachigkeit sind Dialoge, von denen die LeserInnen wissen, dass sie in einer anderen Sprache stattfinden als der, in der sie geäußert werden oder Dokumente, die in der Haupt-/ Matrixsprache des Textes zitiert werden, aber in einer anderen Sprache verfasst wurden (z. B. Briefe). Radaelli führt darüber hinaus Übersetzungen, Verweise auf andere Spra‐ chen und Reflexionen über Sprache als Beispiele für latente Mehrsprachigkeit an. Natalia Blum-Barth verwendet den Begriff „exkludierte Mehrsprachigkeit“, um ein ähnliches Phänomen zu bezeichnen, nämlich „wenn im Text eine andere Sprache erwähnt oder thematisiert wird, ohne dass sie die Basissprache des Textes beeinflusst“ 38 . Exkludierte Mehrsprachigkeit spricht nach Blum-Barth über Mehrsprachigkeit, ohne sie in der eigentlichen Sprache des Textes zu verwirklichen. Sie nennt die Inquit-Formel (z. B. er sagte auf Englisch/ Franzö‐ sisch etc.) und Verweise auf andere Sprachen als die beiden Hauptformen der exkludierten Mehrsprachigkeit. Anstatt exkludierter Mehrsprachigkeit betrachte ich latente Mehrsprachig‐ keit mit Jana Mende eher als eine Form der „versteckten Mehrsprachigkeit“ 39 und stimme Marianna Deganutti und Johanna Domokos zu, die einen weiteren Begriff für dieses Phänomen geprägt haben, nämlich Zero-degree code-swit‐ Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 79 <?page no="80"?> 40 Vgl. Domokos, Johanna/ Deganutti, Marianna (2022). Zero degree code-switching and the narrative framework. Polyphonie 11: 1, 1-23. Abrufbar unter: http: / / www.polyph onie.at/ index.php? op=publicationplatform&sub=viewcontribution&contribution=268 (Stand 07.06.2023). 41 Domokos, Johanna (2018). Multilingualism in the Contemporary Finnish literature (Suomen kirjallisuus). In: Domokos, Johanna/ Laakso, Johanna (Hrsg.) Multilingualism and Multiculturalism in Finno-Ugric literatures 2. Münster: LIT Verlag, 39-60, hier 46. 42 Siehe Domokos/ Deganutti 2022, die unterstreichen, dass zero-degree code-switching sowohl ein literarisches Mittel als auch ein analytisches Verfahren sein kann. 43 Vgl. Sturm-Trigonakis, Elke (2007). Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann und die englische Über‐ setzung desselben Werks: Sturm-Trigonakis, Elke (2013). Comparative Cultural Studies and the New Weltliteratur. West Lafayette: Purdue University Press. ching. 40 Deganutti und Domokos definieren dies als: „[…] scenes where the story de facto happens in another language, but the cinematic or literary narrator does not address this phenomenon, and the characters speak the language of the targeted audience.“ 41 Diese Art von latenter Mehrsprachigkeit als versteckt, implizit oder als Zero-degree Code-Switching zu lesen, bedeutet, die Prozesse des Translanguaging innerhalb eines Textes anzuerkennen, die trotz ihrer (scheinbaren) Unsichtbarkeit ablaufen. 42 Im Fall von Reiseberichten vom Ende des 18. und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ist es in der Tat sehr nützlich, Texte auf diese Art von Mehrsprachigkeit hin zu lesen, da sie die Form ist, die am häufigsten auftritt. Manchmal sind die latenten Formen der Mehrsprachigkeit so offensichtlich, dass sie von den LeserInnen nicht bemerkt werden: die mehrsprachigen Auto‐ rInnen, die ich im ersten Teil dieses Beitrags erwähnt habe, sind Beispiele dafür. Forsters Reisebericht in englischer Sprache, Humboldts Reisetexte in fran‐ zösischer Sprache, Goethes persönliche Reiseaufzeichnungen in italienischer Sprache sind auf den ersten Blick einsprachige Texte, obwohl sie alle auch Fälle von manifester Mehrsprachigkeit enthalten. Gleichzeitig sind sie offenkundig mehrsprachig, da sie in einer Sprache verfasst sind, die nicht die Erstsprache ihres Autors ist. Auch Metamehrsprachigkeit ist eine Form der Mehrsprachigkeit, die sich nicht in Form von Code-Switching oder Code-Mixing an der Oberfläche eines Textes zeigt. Mit diesem Begriff bezeichne ich die Fälle, in denen Mehrsprachig‐ keit, Sprachenerwerb oder das Leben in verschiedenen Sprachen in einem Text erwähnt und reflektiert werden. Elke Sturm-Trigonakis hat den Begriff Metal‐ ingualismus in ähnlicher Weise verwendet, um Fälle zu bezeichnen, in denen ein Text Sprache oder Mehrsprachigkeit auf der Diskursebene thematisiert. 43 In Goethes Italienischer Reise ist Goethes Eintritt in den italophonen Teil Ita‐ liens von Metamehrsprachigkeit geprägt, wenn er glücklich festhält: „Nun hatte 80 Sandra Vlasta <?page no="81"?> 44 Goethe (1992 [1813-1817]: 28). 45 Siehe Goethe (1992 [1813-1817]: 257-258). 46 Siehe Lewald, Fanny (1992 [1847]). Italienisches Bilderbuch. Frankfurt am Main: Ulrike Helmer, 118-126. ich zum erstenmal einen stockwelschen Postillon; der Wirt spricht kein Deutsch, und ich muß nun meine Sprachkünste versuchen. Wie froh bin ich, daß nun die geliebte Sprache lebendig, die Sprache des Gebrauchs wird! “ 44 Hier drückt Goethe seine positiven Gefühle gegenüber dem Italienischen ausschließlich auf Deutsch aus. Gleichzeitig werden die LeserInnen darüber informiert, dass sich der Reisende von nun an hauptsächlich des Italienischen und nicht mehr seiner deutschen Muttersprache bedienen wird. Um dies zu unterstreichen, folgt auf den Abschnitt die weiter oben zitierte Szene (die Toilettensuche), in der auf die (latente) Metamehrsprachigkeit eine manifeste Mehrsprachigkeit folgt. Viele Berichte über Erlebnisse mit Einheimischen und Erzählungen von Gesprächen, die Reisende mit Menschen eines Ortes führen, sind Beispiele für latente Mehrsprachigkeit, wenn sie in der Haupt-/ Matrixsprache des Textes wiedergegeben werden. So gibt Johann Gottfried Seume in seinem Reisebericht über Italien, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (1803), zwar gelegentlich Dialoge auf Französisch wieder, einer Sprache, von der er annehmen konnte, dass seine LeserInnen sie verstehen würden, doch beschränkt er sich im Falle des Italienischen auf Ein-Wort-Code-Switching und greift häufiger auf latente Mehrsprachigkeit zurück, wenn er Gespräche, die auf Italienisch stattfanden, in Deutsch, der Matrixsprache des Textes, beschreibt. Abgesehen von solchen Begegnungen mit Einheimischen (die oft im Zusam‐ menhang mit den praktischen Aspekten des Reisens beschrieben werden - Grenzübertritt, Suche nach Unterkunft und Verpflegung, Eintritt in Museen und andere Sehenswürdigkeiten usw.) können auch Konfrontationen mit anderen Reisenden zu Situationen der Mehrsprachigkeit führen. So verbringt Goethe in Caserta die Abende bei dem britischen Botschafter Sir William Hamilton und seiner Frau, der bekannten Lady Hamilton. 45 Die anzunehmende Mehrsprachig‐ keit in diesen Szenen wird im Text überhaupt nicht wiedergegeben. Fanny Lewald widmet ein ganzes Kapitel ihres italienischen Reiseberichts Italienisches Bilderbuch (1847) anderen Reisenden, die sich in Rom aufhalten, hauptsächlich Engländer, Deutsche und Franzosen. 46 Sie spricht über deren Umgangsformen, über die Infrastruktur für Reisende aus bestimmten Ländern, wie Bibliotheken und Lebensmittelgeschäfte, und über die verschiedenen aus‐ ländischen Künstler, die in Rom leben. Besonders kritisch äußert sich Lewald über die Engländer, die in großer Zahl nach Italien kommen, mit der gesamten Familien reisen und sich wie Touristen verhalten, d. h. bequeme Reisekleidung Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 81 <?page no="82"?> 47 Siehe Lewald (1992 [1847]: 118). Die Unterscheidung zwischen anderen Reisenden, die stets lediglich Touristen sind, und den ErzählerInnen als wahre Reisende, die wirklich sehen, erleben und verstehen ist eine häufiges Motiv in Reiseberichten. Siehe dazu z. B. Thompson (2011: 122-124). Für meine Analyse des Kapitels in Lewalds Reisebericht siehe Vlasta, Sandra (2020). Writing the Nation, Writing the Self: Discourses of Identity in Fanny Lewald’s Italienisches Bilderbuch and George Sand’s Un hiver à Majorque. In: Bachleitner, Norbert/ Hölter, Achim/ McCarthy, John A. (Hrsg.) Taking Stock - Twenty-Five Years of Comparative Literary Research. Leiden: Brill | Rodopi, 270-287. 48 Lewald (1992 [1847]: 119). 49 Yildiz, Yasemin (2012). Beyond the Mother Tongue: The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press. tragen und stets ihren Reiseführer, den roten Murray, zu Rate ziehen. 47 Am Ende ruft sie schließlich aus: „Diese Engländer sind eine Plage“ 48 . Lewald beschreibt mehrere Szenen, in denen sie Gespräche zwischen anderen Reisenden mithört; in diesen Momenten sind die jeweils anderen Sprachen implizit vorhanden. Doch Lewald gibt sie nicht an der Oberfläche ihres Textes wieder - sie entscheidet sich hingegen für eine Form der versteckten Mehrsprachigkeit. 4. Zum Abschluss Das lange 19. Jahrhundert wird oft als das Jahrhundert der Nationenbildung wahrgenommen, in dem sich nationale Sprachen und Literaturen herausbil‐ deten und somit die Einsprachigkeit die angestrebte Norm war. Man könnte annehmen, dass es in einem solchen Umfeld wenig Raum für Mehrsprachigkeit in gedruckten Texten gab. Möglicherweise ist diese (heutige) Sichtweise jedoch stark von dem beeinflusst, was Yasemin Yildiz das „monolinguale Paradigma“ 49 nannte. Bei der Analyse der sehr populären Gattung des Reiseberichts vom Ende des 18. und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt sich, dass es sich in der Tat um ein hochgradig mehrsprachiges Genre handelt, das voller manifester und latenter Mehrsprachigkeit sowie mehrsprachiger intertextueller Bezüge ist. Vor allem bei letzteren gingen die AutorInnen offensichtlich davon aus, dass ihre LeserInnen in der Lage sein würden, die Verweise zu verstehen; wir können also auch von einer mehrsprachigen Leserschaft ausgehen. Darüber hinaus wird die Verwendung verschiedener Sprachen in diesen Texten von den AutorInnen meist nicht reflektiert. Dies könnte Teil der Selbstdarstellung der AutorInnen sein: Moritz stellt sich beispielsweise einfach als Kenner des Englischen dar. In diesem Fall untermauern seine sprachlichen Fähigkeiten seine Autorität. Die fehlende Reflexion über die Mehrsprachigkeit könnte aber auch die damaligen Konventionen der Gattung sowie die Erwartungen der 82 Sandra Vlasta <?page no="83"?> AutorInnen und LeserInnen widerspiegeln, die mehrsprachige Elemente als gattungstypisch rezipierten und keine Reflexionen darüber erwarteten. Wie andere literarische Strategien, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahr‐ hunderts im Reisebericht entwickelt und umgesetzt wurden, hat sich die Mehrsprachigkeit durchgesetzt: Auch heute sind Reiseberichte ein hochgradig mehrsprachiges Genre, sei es in Form von Reisebüchern, Reiseblogs, Reise-Vlogs oder in anderen Formaten. Die in diesem Beitrag vorgestellten Kategorien sind ein erster Versuch, die verschiedenen Formen der Mehrsprachigkeit in Reiseberichten vom Ende des 18. und bis ins 19. Jahrhundert zu erfassen. Er will Anstoß für weitere Forschungen geben, sowohl in der Reiseberichtsforschung als auch im Bereich der gattungsspezifischen Mehrsprachigkeit. Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 83 <?page no="85"?> Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit Till Dembeck Abstract: Der Beitrag fragt nach dem Stellenwert von Anderssprachigkeit im Werk Jean Pauls und möchte damit das Augenmerk auf eine Traditionslinie literarischer Sprachpolitik lenken, die angesichts des aktuellen Interesses für die Etablierung des organologischen ‚Einsprachigkeitsparadigmas‘ im Zeitalter des romantischen Nationalismus oft übersehen wird. Jean Paul vertritt eine humoristische Poetik der sprachlichen Fülle, der die Benutzung anderer Sprachen und die gezielte intrinsische Vervielfältigung scheinbarer Einsprachigkeit als funktional äquivalente Mittel zur Bereicherung des Aus‐ drucksvermögens und zumal des ‚Witzes‘ gelten. Vor diesem Hintergrund erscheinen die von Jean Paul propagierten Verfahren der Sprachreinigung und die Beseitigung des Fugen-S gerade als Mittel zur Verfremdung deutscher Einsprachigkeit; zugleich macht Jean Pauls Sprachdenken deutlich, dass Ein‐ sprachigkeit ohnehin nur als Ergebnis einer humoristischen Verwechslung vorstellbar ist - und daher mit Humor behandelt werden muss. Keywords: Sprachvielfalt, Anderssprachigkeit, Sprachreinigung, Fremd‐ wort, Witz, Humor Auch anscheinend einsprachige Texte gehen auf je spezifische Weise mit der Tatsache um, dass es Sprachvielfalt gibt; und manche von ihnen denken überdies mehr oder weniger explizit über diesen ihren Umgang mit Sprachvielfalt nach. In solchen Fällen bietet sich die Gelegenheit, Praxis und Poetik des Texts abzugleichen und so seinen kulturpolitischen Impuls abzuschätzen. Dieser Beitrag unternimmt einen solchen Versuch am Beispiel Jean Pauls. Dies geschieht einerseits im Namen eines Verständnisses von Sprachvielfalt, das über das moderne Alltagsverständnis von Mehrsprachigkeit als Vervielfältigung von Einzelsprachen hinausgeht: Vorausgesetzt wird, dass Sprachproduktion im Regelfall gerade nicht auf der Gegebenheit eines Sprachsystems aufruht, son‐ <?page no="86"?> 1 Vgl. David Gramlings an Halliday angelehnte Gegenüberstellung von „glossodiver‐ sity“ und „semiodiversity“ oder auch die Arbeiten von Sinfree Makoni und Alastair Pennycook: Gramling, David (2016). The Invention of Monolingualism. New York: Bloomsbury, 31-36; Halliday, M. A. K. (2007). Applied Linguistics as an Evolving Theme (2002). In: Collected Works. Hrsg. von Webster, Jonathan. Bd. 9. London/ New York: continuum, 1-19, hier 13 f.; Makoni, Sinfree/ Pennycook, Alastair (2005). Disinventing and (Re)Constituting Languages. Critical Inquiry in Language Studies. An International Journal. 2: 3, 137-156. 2 Siehe hierzu Dembeck, Till (2017). There Is No Such Thing as a Monolingual Text! New Tools for Literary Scholarship. Abrufbar unter: www.polyphonie.at (Stand: 27.7.2022); ders. (2018). Multilingual Philology and Monolingual Faust: Theoretical Perspectives and a Reading of Goethe’s Drama. German Studies Review. 41: 3, 567-588. 3 Siehe Grutman, Rainier (1997). Des langues qui résonnent: L’hétérolinguisme au XIX e siècle québecois. Montréal: Fides. dern situationsgebunden auf vielfältige sprachliche Ressourcen zurückgreift. 1 Andererseits wird daraus für die philologische Auseinandersetzung mit Texten abgeleitet, dass einsprachige Texte allenfalls ein auf massive kulturpolitische Intervention zurückgehendes Ausnahmephänomen darstellen. Daher darf ein an Sprachvielfalt interessierter philologischer Umgang mit Texten nie Einspra‐ chigkeit voraussetzen, sondern muss umgekehrt immer nach dem je singulären Umgang eines Texts mit Sprachvielfalt fragen. 2 In Anlehnung an einen Begriff von Rainier Grutman spreche ich im Fol‐ genden von der ‚Anderssprachigkeit‘ der Jean Paul’schen Textproduktion. Grutman bezeichnet mit „héterolinguisme“ die Gegebenheit von Strukturen, welche die Einsprachigkeit eines Textes überschreiten oder beeinträchtigen; eingeschlossen sind damit u. a. dialektale oder soziolektale Variation. 3 Für den folgenden Argumentationszusammenhang schlage ich vor, Anderssprachigkeit über die Distanz des jeweils vorliegenden Sprachgebrauchs zu einem vom Text selbst implizierten bzw. erzeugten einbzw. einzelsprachigen Standard zu definieren. Dieser Begriffsgebrauch geht ein wenig über denjenigen bei Grutman hinaus bzw. ich fasse den Begriff der Anderssprachigkeit etwas allgemeiner: Entschei‐ dend ist, dass im Text ein Kontrast zwischen mindestens zwei Idiomen wahr‐ nehmbar wird, wobei als Idiom nicht nur die von der Linguistik beschriebenen Stardardisierungsformen (nationale Standardsprache, Dialekt, Soziolekt etc.) gelten, sondern auch ‚künstlich‘ oder idiosynkratisch festgelegte ‚constraints‘ des Sprachgebrauchs: Erzählungen können beispielsweise Anderssprachigkeit aufweisen, wenn erkennbar ist, dass die wiedergegebenen Gespräche in der fiktiven Welt in einem anderen als dem von der Erzählung benutzten Idiom stattfinden; oder eine mehr oder weniger willkürlich festgelegte Schreibregel führt zur Verfremdung der benutzten Sprache, macht sie in diesem Sinne 86 Till Dembeck <?page no="87"?> 4 Dass Anderssprachigkeit von (literarischen) Texten in erster Linie selbst diskursiv erzeugt wird, zeigt ausführlich Suchet, Myriam (2014). L’imaginaire hétérolingue: Ce que nous apprennent les textes à la croisée des langues. Paris: Classiques Garnier. Zur funktionalen Äquivalenz zwischen ‚constraint‘ und Muttersprache siehe Mathews, Harry von 1998). Translation and the Oulipo: The Case of the Persevering Maltese. Brick 58, 70-76. 5 Yildiz, Yasemin (2012). Beyond the Mother Tongue: The Postmonolingual Condition. Fordham University Press, 2. ‚anders‘ (man denke an Georges Perecs ohne den Buchstaben E geschriebenen Roman La disparition von 1969). 4 Geht man von diesen Überlegungen aus, so ist die Einsprachigkeit eines Textes vor allem das Resultat der Bemühung, den Anteil der Andersprachigkeit auf ein Minimum zu reduzieren - denn alles Sprechen findet immer vor dem Hintergrund der Alternative andersartigen Sprechens statt, der aber mehr oder weniger bewusst begegnet wird. In literatur- und kulturhistorischer Sicht ist Jean Pauls Beispiel insofern lehrreich, als es deutlich macht, dass gerade in der Zeit um 1800, die gemeinhin als derjenige Zeitpunkt gilt, an dem sich das „Einsprachigkeitsparadigma“ zumindest im deutschsprachigen Raum durchsetzt, 5 gleichwohl auch Anders‐ sprachigkeit eine erhebliche poetische und kulturpolitische Relevanz zukommt. Für eine noch zu schreibende Kulturgeschichte des modernen literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt kann dies allerdings nur ein erster Ansatzpunkt sein. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt die Konstellation angedeutet, innerhalb derer sich die Argumentation im Anschluss entfaltet: Jean Paul nutzt einerseits selbst die französische Variante seines Vornamens, plädiert aber anderseits für die Verwendung ‚urdeutscher‘ Eigennamen; in beiden Fällen besteht ein Zusammenhang zum humoristischen Schreibprogramm des Autors. Im Anschluss daran wird in zwei weiteren Schritten Jean Pauls Auseinander‐ setzung mit dem zeitgenössischen Sprachpurismus skizziert - einmal anhand seiner Kritik an Johann Heinrich Campe und Johann Gottlieb Fichte und einmal mit Blick auf seine Kampagne gegen das Fugen-S. Entfaltet wird hier die These, dass die spezifische Jean Paul’sche Variante einer Einschränkung auf Einsprachigkeit (die allerdings nie sehr streng umgesetzt wird) der Ver‐ wendung von Anderssprachigkeit funktional äquivalent ist (Einsprachigkeit ist hier Anderssprachigkeit, Jean ist ein ‚urdeutscher Taufname‘). Aus Jean Pauls humoristisch-witzigem Schreibprogramm leitet sich so eine plausible Gegenposition zur um 1800 sich entfaltenden Einsprachigkeitssemantik ab. Abschließend wird anhand eines Beispiels plausibilisiert, dass die in Jean Pauls theoretischen Texten entfaltete Poetik der Anderssprachigkeit auch in den im engeren Sinne literarischen Texten zum Tragen kommt. Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 87 <?page no="88"?> 6 Ich zitiere Jean Paul nach: Sämtliche Werke (2000). Hrsg. von Norbert Miller. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, unter Angabe des Werktitels und der Bandnummer (und ohne Rückverweis auf diese Fußnote). Alle Hervorhebungen in Zitaten von Jean Paul entstammen dem Original. 7 Siehe etwa Der Jubelsenior. Ein Appendix (1797), I.4, 415: „Jean Paul Friedr. Richter“; Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele, nebst einer Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus (1797), I.4, 565: „Jean Paul Fr. Richter“; Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (1796/ 97), I.2, 14: „Dr. Jean Paul Fr. Richter“ (zweite Ausgabe, 1818); Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana (1800), I.3, 1018: „Jean Paul F. Richter“. 8 Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußteil und einigen Jus de tablette (1796), I.4, 13: „Jean Paul Friedrich Richter“. 9 Siehe Über die deutschen Doppelwörter; eine grammatische Untersuchung in zwölf alten Briefen und zwölf neuen Postskripten (1818/ 20), II.3, 57-60. 10 Siehe ausführlich Dembeck, Till (2007). Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin/ New York: de Gruyter, 395-403. 11 Siehe Vorschule der Ästhetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit (1804, zweite Ausgabe 1813), I.5, 124-f. 1. Jean? Schon dem Namen nach ist Jean Paul kein einsprachiger Autor. 6 Das ist in diesem Falle nicht unbedeutend, denn der Autorname spielt in den Werken Jean Pauls eine wichtige Rolle: Sorgfältig wird seine Schreibung vor allem in den Signaturen zu Vorreden und ähnlichen Paratexten variiert, 7 wird die erste Nennung des vollständigen Namens des Autors verzeichnet, 8 werden die Titel aufgezählt, die der Autor gesammelt hat, 9 und tritt der Autor selbst in vielen seiner Werke als handelnde Person auf. 10 Dies geschieht im Namen des spezifisch modernen humoristischen Pro‐ gramms, dem dieses Schreiben folgt: Die Autorpersona garantiert die Einheit des vorgelegten Weltentwurfs, der allerdings auf einer humoristischen Verwechs‐ lung beruht, also Sinn- und Zusammenhanglosigkeit der Welt als Sinnfülle und Zusammenhang ausweist. Humor, so definiert Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik (1804), bedeutet, die Unzulänglichkeit der Welt, im Wissen um die Unmöglichkeit, sie unmittelbar mit Sinn zu versehen, dennoch als Anzeichen eines höheren Sinns zu interpretieren. 11 Die Wendung, Humor sei, wenn man trotzdem lacht, gilt hier buchstäblich. Im Kosmos der literarischen Fiktion aber kann nur der Autor selbst das Gelingen dieser Operation verantworten - auch das aber immer nur vorläufig und auf höchst idiosynkratische Weise. Der hu‐ moristische Sinnentwurf muss, wenn er in einem Moment empfindsam gelingt, im nächsten Moment satirisch gebrochen werden, was selbst wieder Anlass 88 Till Dembeck <?page no="89"?> 12 Vgl. die Ausführungen über „[h]umoristische Subjektivität“ in der Vorschule (I.5, 132- 139, Zitat 132); siehe hierzu Dembeck, Texte rahmen (Anm. 10), 340-352 sowie 395-403. Siehe auch Profitlich, Ulrich (1971). Humoristische Subjektivität. Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 6, 46-85; Proß, Wolfgang (1975). Jean Pauls geschichtliche Stellung. Tübingen: Niemeyer, 1975. 13 Siehe zum Beispiel Nonnenmacher, Kai (2004). Der unübersetzbare Allübersetzer: Jean Paul als ‚Deutsch-Franze‘. Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 39, 112-140, hier vor allem die sehr lesenswerten Abschnitte zur „Übersetzung als Ich-Philosophie“ (122) und zur „Sprachgebundenheit der Idee“ (129); am Beispiel von Jean Pauls Rezension zu Mme de Staëls De l’Allemagne vgl. Becker, Katrin (2007). Eine deutsche Betrachtung der Deutschlandbetrachtung. Mme de Staël, Jean Paul und die Darstellbarkeit des Fremden. In: Krings, Marcel/ Luckscheiter, Roman (Hrsg.). Deutsch-französische Literaturbezie‐ hungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann, 157-170, die aber die humoristische Schlagseite der Rezension unterschätzt; zur politischen Dimension von Jean Pauls Verhältnis zu allem Französischen siehe Wölfel, Kurt (1974/ 1989). Zum Bild der Fran‐ zösischen Revolution im Werk Jean Pauls. In: ders.: Jean Paul-Studien. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 140-170; ders. (1976/ 1989): Jean Pauls poetischer Republikanismus. Über das Verhältnis von poetischer Form und politischer Thematik im 18. Jahrhundert. In: ebd., 171-237; zu Jean Pauls Verhältnis zu allem Deutschen Kaiser, Herbert (2001). Jean Paul und die deutsche ‚Allerweltsnation‘. In: Scheuer, Helmut (Hrsg.). Dichter und ihre Nation. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 200-215. 14 Dr. Katzenbergers Badereise nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen (1809), I.6, 150. zu einer weiteren humoristischen Verwechslung bietet, usw. Der Autor ist die Personifizierung dieses fortgesetzten Prozesses, und als solche muss er sich als in sich zerrissen, intrinsisch aufgespalten und vervielfältigt präsentieren. 12 So betrachtet liegt die Vervielfältigung und Aufspaltung des Autornamens in der Konsequenz des humoristischen Schreibprogramms. Was aber hat es mit dem französischen „Jean“ auf sich? Allgemeiner: wie verhält sich das humoristische Schreibprogramm Jean Pauls zur Frage der Sprachvielfalt? Um der Frage des „Jean“ auf den Grund zu gehen, wäre eine ausführliche Re‐ konstruktion des komplexen Verhältnisses notwendig, das Jean Paul Zeit seines Lebens zur französischen Sprache und Literatur unterhalten hat. Das kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. 13 Einen wichtigen Hinweis allerdings kann eine ironische Wendung geben, die der Autor in eines der „Werkchen“ einflicht, die Dr. Katzenbergers Badereise (1809) eingelegt sind. Erteilt wird hier ein „Rat zu urdeutschen Taufnamen“. Gemeint sind damit Namen, die Jean Paul aus althochdeutschen Wurzeln ableitet, also etwa diejenigen, welche einige Helden der Badereise tragen, „Theoda (von theod, vornehm)“ oder „Theudobach (von theut, Volk)“. 14 Auf den Rat an alle Eltern, ihrem Nachwuchs solche Namen zu geben, und die Ankündigung, fortan solche Namen in den eigenen Werken zu verwenden, folgt eine „Nachschrift: Was ein bloßer Name vermag, sieht Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 89 <?page no="90"?> 15 Badereise, I.6, 152. 16 Schon der barocke Titel zeigt, dass Wolke gewissermaßen aus der Zeit gefallen ist: Wolke, Christian Heinrich (1912). Anleit zur deutschen Gesamtsprache oder zur Erkennung und Berichtigung einiger (zu wenigst 20) tausend Sprachfehler in der hochdeutschen Mundart; nebst dem Mittel, die zahllosen, - in jedem Jahre den Deutsch‐ schreibenden 10000 Jahre Arbeit oder die Unkosten von 5000000 verursachenden - Schreibfehler zu vermeiden und zu ersparen. Dresden. Zur Bewegung der Sprachrei‐ nigung siehe ausführlich Kirkness, Alan (1975). Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789-1871. Eine historische Dokumentation. Tübingen: Narr, zu Campe 90-170, zu Wolke 222-226, zu Jean Paul 260-265. man an meinem; sonst könnt’ ich ihn leicht verdeutschen, um mir nicht zu widersprechen.“ 15 Das ist vermutlich so zu verstehen, dass der französische Vorname, obwohl er selbst gewählt ist, nicht mehr aus dem Verkehr gezogen werden kann, wenn er einmal vom Publikum angenommen wurde - und womöglich mit Konnotationen besetzt ist, die sein Träger und Urheber nicht kontrollieren kann. Steht aber das selbst gewählte Pseudonym tatsächlich im Widerspruch zur Forderung nach urdeutschen Taufnamen? Ich hoffe, im Folgenden zeigen zu können, dass dies nur bedingt der Fall ist, denn mit Blick auf die humoristische Poetik des Jean Paul’schen Schreibens sind nicht nur das französische „Jean“ und das urdeutschen „Theudobach“ einander funktional äquivalent, sondern auch ihnen korrespondierende Verfahren des Umgangs mit Sprachvielfalt bzw. Anderssprachigkeit. Um dies zu sehen, ist zunächst eine zumindest grobe Kontrastierung des Jean Paul’schen Sprachdenkens zu anderen um 1800 vor‐ herrschenden Modellen notwendig. 2. Reinheit als Vielfalt Jean Paul steht zumindest in den späteren Jahren der zeitgenössischen Bewe‐ gung der Sprachreinigung nahe und spricht sich insbesondere für Christian Heinrich Wolke aus, dessen Anleit zur deutschen Gesamtsprache (1812) Vor‐ schläge zur Ersetzung von Fremdwörtern durch deutsche Äquivalente macht und damit die Arbeiten etwa Johann Heinrich Campes zu radikalisieren sucht. 16 Tatsächlich hat Jean Paul in den Wiederauflagen seiner Werke, vor allem im Zuge der Arbeit an der Werkausgabe, viele anderssprachige Elemente getilgt. Damit scheint er sich von einer früheren Schreibpraxis abzuwenden, die An‐ derssprachigkeit als Ressource ansah. Mit diesem eher oberflächlichen Befund ist es allerdings nicht getan. Denn nicht nur lassen sich frühere wie spätere Schreibpraxis auf ein und dieselbe Auffassung von Sprachvielfalt zurückführen; beide stehen vielmehr auch im Gegensatz zur einer um 1800 sich fest etablie‐ 90 Till Dembeck <?page no="91"?> 17 Die nach wie vor umfassendste Studie über Jean Pauls Sprachphilosophie ist Schmitz-Emans, Monika (1986). Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn: Bouvier. Rekonstruiert wird hier vor allem Jean Pauls Theorie der Metapher bzw. der (Sinn-)Bildlichkeit als (transzendentalem) Sprachursprung vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Seele. Es findet sich aber auch ein sehr prägnanter Abschnitt zur „Muttersprache als Nationalidiom“ (159-184). Schmitz-Emans kommt hier zu der Einschätzung, dass Jean Paul mit Blick auf die Semantik der National- und Muttersprache „zwar auf der Höhe der zeitgenössischen Diskussion steht, aber wenig Originelles anzubieten hat“ (162). Sie legt den Fokus vor allem auf Jean Pauls Überlegungen zur Entwicklung und zur (willentlichen poetischen) Erneuerung der Sprache (169-178) sowie auf seine damit einhergehende Gegnerschaft zur rationalistischen Grammatiktradition und zum Sprachpurismus. - In der aktuelleren Forschung ist auf Jean Pauls Nachdenken über Einsprachigkeit und Sprachvielfalt nur wenig eingegangen worden. Siehe aber Nonnenmacher, Der unübersetzbare Allübersetzer (Anm. 13); Korencsy, Ottó (1992). Wortbildung zwischen Klassik und Romantik: Überlegungen zur Wortbildung und zum ästhetischen Programm Jean Pauls. Neohelicon 19: 1, 59-69. 18 Vorschule, I.5, 307f. renden, organologischen Auffassung von Sprachen, die wir heute gerne mit dem Programm der Sprachreinigung identifizieren. Es ist daher notwendig, Jean Pauls Haltung zur Frage der Sprachreinheit genauer zu rekonstruieren. 17 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Programm Johann Heinrich Campes findet sich im XV. Programm der Vorschule der Ästhetik. Dem Ansatz Campes, der in erster Linie die Verständlichkeit von abstrakten Wortbildungen im Auge hat, die einer aufgeklärten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen müssen, setzt Jean Paul Argumente entgegen, die zeigen, dass für ihn Einheitlichkeit und Reinheit der Sprache jedenfalls nicht per se relevant sind. Sprache ist für Jean Paul kein System: abgelöst vom konkreten Sprachgebrauch existiert sie nicht - und sie entzieht sich daher der prinzipiellen, von ihrer konkreten Verwendung absehenden Betrachtung. Jean Paul weist zum einen darauf hin, dass es historisch betrachtet unmög‐ lich ist, Grenzziehungen zwischen den Einzelsprachen aufrecht zu erhalten - die Eigenheit der Einzelsprachen kommt sozusagen selbst immer schon aus der Fremde. Nicht nur postuliert er einen gemeinsamen Sprachursprung - für ihn haben „[a]m Ende […] doch alle […] Strömungen [der Sprache] eine morgenländische Quelle hinter sich“ 18 -, sondern die Sprachgeschichte stellt sich auch unabhängig von der Ursprungsfrage als ein Geschehen der dauerhaften wechselseitigen Beeinflussung und Beerbung unterschiedlicher Sprachen dar. Daher würde eine gründliche „Tempelreinigung der Sprache“ im Sinne Campes „unglaublich mühselig ausfallen, wenn nicht die Zeit zum Glücke den Spracheiferern durch das Absterben der Sachen so vorgearbeitet hätte, daß sie nur gelassen abzuwarten brauchen, bis den Sachen gar die Worte nachfahren. Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 91 <?page no="92"?> 19 Vorschule, I.5, 311. 20 Vorschule, I.5, 312f. 21 Vorschule, I.5, 301. 22 Vorschule, I.5, 302. 23 Vorschule, I.5, 303. 24 Vorschule, I.5, 303. Jede Zunge ist dann rein und Reinsprecherin.“ 19 Im Klartext: Sprachreinigung führt letztlich zum Tod der Sprache, denn rein ist nur ein Sprechen, das bereits verstummt ist. Oder umgekehrt gewendet: wer „untersucht, was wir vollends von der griechischen Sprache - und dann von der persischen noch haben und fortsprechen“, und dies „alles ausstößt und nur Wörter behält, deren Ursprung und Ahnentafel nicht nachzuweisen ist“, muss letztlich die deutsche Sprache gänzlich neu erfinden: „Und warum wird denn nicht überhaupt die ganze deutsche Sprache […] nicht echt deutsch gemacht und sozusagen aus sich übersetzt in sich? “ 20 Zum zweiten verwirft Jean Paul die Sprachreinigung deshalb - und das scheint aus seiner Perspektive wichtiger -, weil für ihn den größten Wert der Sprache ihre Vielfalt und Fülle darstellt: „Desto besser, sag’ ich, desto bereicherter ist es [das Deutsche], je mehr Sprach-Freiheiten, Wechselfälle, Abweichungen eben da sind“. 21 Oder: „Unsere Sprache schwimmt in einer so schönen Fülle, daß sie bloß sich selbst auszuschöpfen und ihre Schöpfwerke nur in drei reiche Adern zu senken braucht, nämlich der verschiedenen Provinzen, der alten Zeit und der sinnlichen Handwerkssprache.“ 22 Die hier als Arbeit im Bergwerk der Sprache vorgestellte Tätigkeit der Sprachfortentwicklung bringt eine enorme Veränderlichkeit mit sich: „Der immer komplette Deutsche kann leichter jedes Buch vollständig schreiben als ein Wörterbuch seiner Sprache, welchem jede Messe einen Ergänzband voll neuester Wörter nachschickt“ - dies eine Eigenschaft, die das Deutsche in Jean Pauls Augen durchaus von anderen Sprachen unterscheidet. 23 Dabei rechtfertigt die Spontaneität der Wortneubildungen schon ihre Notwendigkeit: sein „ungesuchte[s] Entgegen‐ schlüpfen führt […] den besten Beweis für den Wert eines neuen Worts“. 24 Dieses Argument impliziert, dass die Vervielfältigung und Veränderung der sprachli‐ chen Ressourcen, der Sprachwandel allgemein, aus der Situationsgebundenheit des Sprechens erklärt werden muss. Sprache verändert sich, weil Sprecher bevorzugt naheliegende, ihnen verständliche Ausdruckslösungen auswählen anstelle womöglich bestehender funktionaler Äquivalente. Dies geschieht aus dem Moment heraus und ohne Rücksichtnahme auf die historische oder lokale Herkunft der dabei verwendeten sprachlichen Mittel. 92 Till Dembeck <?page no="93"?> 25 Vorschule, I.5, 310. 26 Vorschule, I.5, 308. 27 Vorschule, I.5, 307f. 28 Siehe Reden an die deutsche Nation durch Johann Gottlieb Fichte (1809), II.3, 688-703. Vgl. hierzu Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten (Anm. 17), 116-119. 29 Siehe Fichte, Johann Gottlieb (1808/ 2008). Reden an die deutsche Nation. Hrsg. von Alexander Aichele. Hamburg: Meiner, 60-92. Siehe hierzu Martyn, David (2000). Fichtes romantischer Ernst. In: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.). Sprachen der Ironie - Sprachen des Ernstes. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 76-90. Dieses Argument rechtfertigt und erklärt den Gebrauch von Fremdwörtern und überhaupt die Nutzung anderssprachiger Ressourcen: „Überhaupt wird unsere Gastfreundlichkeit für ausländische Wörter sehr entschuldigt und erklärt durch die ebenso große, welche wir auch für älteste und neueste deutsche zeigen“ 25 - also für jene Bergwerksadern, die sozusagen die Eigenressourcen der deutschen Sprache darstellen (auch wenn die sprachhistorische Argumentation Jean Pauls schon geklärt hat, dass auch sie eigentlich keine Eigenressourcen sind). Gerade die je situative Verständlichkeit von Fremdwörtern spricht für diese und gegen die „unverständliche[n] Übersetzungen verstandener Aus‐ länder“, 26 wie Campe sie systematisch und aus prinzipiellen Gründen vorschlägt: „An und für sich ist uns der Geburtsort jeder Sprache, dieses zweiten Seelenor‐ gans, gleichgültig, sobald wir sie verstehen.“ 27 Das heißt: Fülle und Vielfalt einer Sprache beweisen und reproduzieren sich im Sprachgebrauch, wobei die im Hier und Jetzt lebenden Sprecher sich um Herkunftsfragen ganz und gar nicht kümmern müssen. Für Jean Paul läuft daher jede willkürliche Einschränkung auf (angeblich) Einheimisches auf eine Einschränkung des Potentials sprachlichen Ausdrucks schlechthin hinaus. Dieses Argument findet sich weiter ausgefaltet in einer Rezension, die Jean Paul zu Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) publiziert hat. 28 Fichte erklärt die deutsche Sprache im Vergleich zu den anderen europäi‐ schen Sprachen (und gemeint ist natürlich zuvorderst das Französische) zur einzigen im wahrsten Sinne des Wortes lebendigen Sprache und leitet daraus eine sehr weitreichende kulturelle Überlegenheit ab. 29 Als Grund führt Fichte unter anderem historische Kontinuitäten an: Das Deutsche habe durchgängig den Zusammenhang zu älteren Sprachformen bewahrt, die wiederum, weil sie am Ursprung von Sprechen wie Denken stehen, den unmittelbaren Zusammenhang von Kognition und Ausdruck gewährleisten. Dieses Argument stellt Sprachen als Quasi-Organismen vor, die sich entweder, wie das Deutsche, auf natürliche, d. h., ihren ursprünglichen Bildungsprinzipien entsprechende Weise fortent‐ wickeln oder sich durch fremde Einflüsse verändern, die diesen Prinzipien eben nicht entsprechen. Die erste Art und Weise der Entwicklung gilt dann Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 93 <?page no="94"?> 30 Aus der umfassenden Literatur zur Geschichte der Linguistik siehe nur Morpurgo Da‐ vies, Anna (1992/ 1998). Nineteenth-Centry Linguistics. London / New York: Longman, 68 f., 73 f., 86-88. Allgemein zur organologischen Metaphorik um 1800 Metzger, Stefan (2002). Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18.-Jahrhundert. München: Fink. 31 Vgl. Morpurgo Davies, Nineteenth-Centry Linguistics (Anm. 30), 30-52, 124-146 et passim. 32 Diese Entwicklung wird nicht zufällig in der Romanistik angestoßen, u. a. von Graziadio Isaia Ascoli. Siehe Morpurgo Davies, Nineteenth-Centry Linguistics (Anm. 30), 263. 33 Fichte-Rezension (1809), II.3, 698. 34 „Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblaßter Metaphern“, folgert Jean Paul (Vorschule, I.5, 184). Es handelt sich im Grunde um dieselbe These wie die, welche dann in der Version Friedrich Nietzsches bekannt als organisch, die zweite als mechanisch. 30 Die Vorstellung von Sprachen als Organismen und von Sprachwandel als organischer Evolution hat, auch wenn Fichtes Reden in dieser Entwicklung keine wirkliche Rolle gespielt haben, weite Teile der historischen Sprachwissenschaften des 19. Jahrhunderts beherrscht, unter anderem vermittelt durch das Wirken Jakob Grimms, mit dem Jean Paul später in den Postskripten zu seiner Publikation Über die deutschen Dop‐ pelwörter (1818/ 20) debattieren wird. Es ist charakteristisch für diese Richtung der Sprachwissenschaft, dass sie aufräumt mit älteren Arten und Weisen, durch vereinzelte Etymologien Sprachwandel zu veranschaulichen. Etymologien sind, dem neuen Forschungsparadigma gemäß, aus Gesetzmäßigkeiten heraus zu legitimieren, die sich mehr oder weniger allgemein im vorliegenden Korpus belegen lassen - man denke etwa an Lautgesetze. Dieser systematische Zugriff ermöglicht es dann wiederum, Genealogien von Sprachformen zu erstellen, im Vergleich nähere und entferntere Verwandtschaften der in Frage stehenden Idiome zu belegen usw. 31 Jene organische Kontinuität der Entwicklung, die Fichte für das Deutsche postuliert, wird so in der Rekonstruktionsarbeit der späteren historischen Linguistik methodisch sichergestellt - die Relevanz von Sprachkontakt für die Sprachentwicklung rückt erst am Ende des Jahrhunderts in den Fokus der historischen Sprachwissenschaft. 32 In seiner Rezension der Reden rekonstruiert Jean Paul die Argumentation mittels einer signifikanten Formulierung: Fichte gehe davon aus, dass nicht historisch gewachsene und durch die Übernahme fremden Materials von ihren Wurzeln abgetrennte Sprachen zwar adäquat „ihren sinnlichen Teil unmittelbar mitteilen, aber die sinnbildliche Anwendung“ im geistig produktiven Sprachge‐ brauch nicht. 33 Diese Unterscheidung ist für Jean Pauls eigenes Sprachdenken durchaus zentral, ist doch für ihn die Metapher in ihrem sinn-bildenden Potential die entscheidende Kraft der Sprachentwicklung, Grundlage zwischen‐ menschlicher Verständigung und Medium der Einheit von Körper und Geist. 34 94 Till Dembeck <?page no="95"?> geworden ist; siehe ders. (1873/ 1999): Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli/ Mazzino Montinari, München, Bd.-1, 873-890. 35 Fichte-Rezension, II.3, 699. 36 Es findet sich allerdings eine Stelle in der Fichte-Rezension, die fast so klingt, als wende sich Jean Paul grundsätzlich gegen Zweisprachigkeit und trete so für das zeitgenössische Ideal der Muttersprachlichkeit ein: „Die Sprache ist eine laute Seele; nur wer zwei Sprachen auf einmal spricht, hat eine tote, nicht wer eine; und alles, was Fichte gegen die neu-lateinischen Völker spricht, gilt nicht gegen diese, sondern gegen die deutschen, französischen, englischen und sonstigen Alt-Lateiner auf den Ciceroni‐ anischen Rednerstühlen.“ (Fichte-Rezension, II.3, 700) Vermutlich handelt es sich aber mehr um einen Seitenhieb auf die fehlgehende Verwendung eines versteinerten, an Cicero orientierten und daher, also wegen der Fixierung auf eine Entwicklungsstufe, sich nicht fortbildenden gelehrten Lateins. 37 Vorschule, I.5, 309. Auch in diesem ihm so wichtigen Punkt trägt Jean Paul eben jenes Argument vor, das er bereits gegen Campe in Stellung bringt: Nicht nur können innerhalb des Sprachwandels die ‚inneren‘ Anlässe für Wandel (also die angeblich organische Entwicklung der Sprachen) und die ‚bloß‘ mechanischen, durch Sprachkontakt herbeigeführten, nicht so einfach unterschieden werden; vor allem aber sind sie per se nicht mehr oder weniger wert, weil sie ja ihren Wert jeweils im Moment und gemessen an den Umständen ihrer Verwendung gewinnen. Natürlich mag die Fremdheit einer Sprache im Einzelfall die Ausdrucksfähigkeit einschränken, das aber hat sprachgeschichtlich keine Relevanz, weil sich jede Fremdheit, wiederum: kraft der Situationsgebundenheit des Sprechens, langfristig im Ver‐ trautheit verwandelt, wenn Sprache nur benutzt wird: „Höchstens der Vater, kaum der Sohn, gar nicht der Enkel büßet durch eine adoptive Sprachwelt ein, eben weil dieses sich ihre sinnbildliche Bedeutung schon ohne Geschichte, durch bloßen Verkehr der Gegenwart zubildet.“ 35 Sinnbildlichkeit und lebendige Sprachfortbildung sind für Jean Paul daher auf der Grundlage jedweder sprach‐ licher Ressourcen möglich. Nicht ihre organische Gewachsenheit, sondern allein die Umstände ihrer Benutzung im Hier und Jetzt garantieren für Jean Paul die Lebendigkeit der sprachlichen Ressourcen, was auch bedeutet, dass Sprache niemals stillstehen und sich, modern gesprochen, zum System verdichten kann. 36 Damit ist die eine Seite des Jean Paul’schen Nachdenkens über Sprachigkeit markiert: Die Nutzung des französischen Vornamens mag als Ausdruck von Weltoffenheit durchgehen, so wie die Tatsache, dass „wir unsere Sprache aus allen Sprachen bauen“ für Jean Paul darauf zurückzuführen ist, dass „wir eben aus allen lernen und wir ein Allerweltsvolk sind, ein kosmopolitisches.“ 37 Dennoch bleibt das Bild unvollständig, wenn man nicht zugleich zumindest an‐ Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 95 <?page no="96"?> 38 Vorschule, I.5, 318. 39 Vorschule, I.5, 310. 40 Vorschule, I.5, 301. 41 Levana oder Erziehungslehre (1807), I.5, 828. 42 Vorschule, I.5, 301. deutungsweise rekonstruiert, wie Jean Paul dennoch Einsprachigkeit denkt und befürwortet - denn auch wenn er sich Sprachen weniger als Organismen denn als Bergwerke vorstellt, macht er ja einen Unterschied zwischen demjenigen, das dem Deutschen zugerechnet werden kann, und demjenigen, das ihm nicht, noch nicht oder nicht mehr zugehört, und gibt sich als eminent deutschsprachiger Autor. Wenn Jean Paul in der zweiten Auflage der Vorschule schreibt, er habe in dieser „so viel fremde Wort-Eingewanderte […] fortgeschickt, als nur die Reinheit der Sprache bei noch viel höhern Ansprüchen derselben […] begehren konnte“, 38 so impliziert dies einen bestimmten Grad der Unterscheidbarkeit. Allerdings überschreiten die Ansprüche der Sprache eben diejenigen ihrer Reinheit, und die Unterscheidung von Innen und Außen, die auch in der Beschwichtigung anklingt, niemals werde „Ausländerei, die unsern Kronmantel mit einigen Flitterpünktchen stickt, doch die inländische Webe aus ältestem und neuestem Reichtum […] erdrücken und bedecken“, 39 ist alles andere als einfach handhabbar. Das wird vor allem an einer Stelle deutlich, an der Jean Paul den Unterschied zwischen „uns, die wir aus der Regel der Regeln, aus dem Sprachgebrauche schöpfen“ und dem „Ausländer“ näher beschreibt: Für ‚uns‘, so Jean Paul, „gibt es“ in der gesamten Sprache „keine Unregelmäßigkeit“, wohingegen dieser „erst unsern Sprachgebrauch, d. h. unsern Gesetzgeber dem seinigen unterwerfen und unsere Gesetze durch seine abteilen und erlernen muß“, so dass die Regelhaftigkeit immer nur unvollständig erfasst wird. 40 Be‐ merkenswert ist hier, wie Jean Paul den Begriff der Muttersprache umschreibt: aus dem Sprachgebrauch zu schöpfen ist etwas völlig anderes als an einen muttersprachlichen Quasi-Organismus, eine „Sprach-Mutter“, wie Jean Paul an anderer Stelle witzig bemerkt hat, 41 angeschlossen zu sein. Die Einheit der Sprache wird so denkbar als hochgradig variabel - und eben als weltoffen. Und der ‚Ausländer‘ ist aus dieser Einheit nur insofern ausgeschlossen, als ihm der Sprachgebrauch nicht so vertraut sein kann und er sich abstrakter Regeln als Behelf bedient. An der Reichweite solcher Regeln, genauer: an der Existenz situationsabstrakter Regeln für die Sprachproduktion, zweifelt Jean Paul aber grundsätzlich, wenn er gleich im Anschluss an die eben zitierte Stelle schließt: „Denn gäb’ es eine allgemeine Regel, so hätten alle Sprachen eine Grammatik.“ 42 Für Jean Paul scheitert der rationalistische Traum einer Universalgrammatik 96 Till Dembeck <?page no="97"?> 43 Vorschule, I.5, 318. schon daran, dass die Regeln des Sprachgebrauchs im Sprachgebrauch pausenlos an diesen angepasst werden - ohne Rücksicht auf das Herkommen. Diese Überlegungen lassen Jean Pauls Argumente für die Sprachreinigung und für den Einsatz ‚urdeutscher Taufnamen‘ in einem anderen Licht er‐ scheinen. Zunächst kann man darauf hinweisen, dass Jean Paul auch der Rückgang auf ‚urdeutsches‘ Sprachmaterial in erster Linie der Vervielfältigung des Ausdruckspotentials dient. Urdeutsche Taufnamen bewirken ebenso wie neue Wortbildungen, wie sie ja meist als Ersatz für Fremdwörter angeboten werden, eine Steigerung sprachlicher Diversität, wenn auch dabei zumindest der Eindruck gewahrt wird, dies finde innerhalb der Grenzen einer Sprache statt. Gerade der Einbezug älterer Sprachformen ist, wenn Jean Paul darin recht hat, dass sie dem Sprecher ja gerade nicht naheliegend zur Verfügung stehen, funktional äquivalent zur Einführung neuer Fremdwörter. Dasselbe gilt im Grunde für jede neue Wortbildung - was der angeführte Einwand gegen Campe’sche Vorschläge beweist, dass sie im Vergleich zu bereits geläufigen Fremdwörtern ihrerseits zu fremd erscheinen. Überdies aber scheint es für einen humoristischen Autor womöglich in be‐ sonderem Maße wünschenswert, Sprachmaterial zu verfremden. Ein Argument, das Jean Paul in der Vorschule (und zwar in der zweiten, bereinigten Ausgabe von 1813) dafür anführt, man dürfe es mit der Reinheit nicht übertreiben, ist vermut‐ lich auch hier am Platz: „bloße jungfräuliche Reinheit gebiert und ernährt doch kein Kind“, heißt es da, und das ist umso bedeutsamer, als zuvor die Verwendung anderssprachigen Materials explizit mit Ehebruch gleichgesetzt wurde. 43 Könnte es sein, dass die für Jean Pauls Schreiben notwendige Diversifizierung des Sprachmaterials gerade dann, wenn sie aus Sicht der Sprachreiniger illegitim ist, als besonders fruchtbar gilt? Wenn dem so ist, dann kann die Sprachreinigung, die Jean Paul in den späteren Ausgaben seiner Werke vornimmt, eigentlich nur aus seinem humoristischen Programm heraus gerechtfertigt sein, wenn sie, trotz des Anscheins der Legitimität, um so illegitimere Verbindungen einschmuggelt. Man hätte es dann womöglich mit dem Versuch zu tun, das vormals offenkundig auf ehebrecherische Weise in den Text eingefügte Wortmaterial durch gerade solche funktionale Äquivalente zu ersetzen, die, auch wenn sie zunächst den Anschein erwecken, legitime Angehörige der Sippe zu sein, dieser im Grunde nur umso fremder sind - und daher umso fruchtbarer. Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 97 <?page no="98"?> 44 Vorschule, I.5, 171. 45 Vorschule, I.5, 173. - Mit Spannung zu erwarten ist der von Ralf Simon, Sina Dell’Anno und anderen derzeit vorbereitete Kommentar zu Jean Pauls Vorschule, der auch ein ausführliches Kapitel zum IX. Programm enthalten wird. 46 Das liegt in erster Linie daran, dass der Witz am Wesen der Dinge, die er verkoppelt, keinerlei Interesse hat: „Der Witz - das Anagramm der Natur - ist von Natur ein Geistes- und Götter-Leugner, er nimmt an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, sobald es gleich und ähnlich wird; “ er „will nichts als sich und spielt ums Spiel - jede Minute ist er fertig - seine Systeme gehen in Kommata hinein - er ist atomistisch, ohne wahre Verbindung“ (Vorschule, I.5, 201). Siehe hierzu Dembeck, Texte rahmen (Anm. 10), 366-379. Zur (Un-)Verbindlichkeit des Witzes nach Jean Paul vgl. Menke, Bettina (2014). Die Zufälle der Sprache. Der Witz der Worte und die Unentscheidbarkeit von Spiel und Ernst (anhand von Baltasar Gracián und Jean Paul). In: Kretzschmar, Dirk u. a. (Hrsg.). Spiel und Ernst: Formen - Poetiken - Zuschreibungen. Zum Gedenken an Erika Greber. Würzburg: Ergon, 37-51; dies. (2002). Jean Pauls Witz als Kraft und Formel. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76: 2, 201-213; Menke nimmt m. E. die an der Unverbindlichkeit des Witzes geäußerte Kritik Jean Pauls zu ernst. 3. Witz und Doppelwörter Eine der wichtigsten Quellen für die Wort- und damit die Sprachfortbildung ist in Jean Pauls Schreiben bekannter- und erklärtermaßen der Witz. Jean Paul widmet ihm das IX. Programm der Vorschule und stellt auch in diesem Zusammenhang Überlegungen über Sprachvielfalt an. Entscheidend ist es aber zunächst zu verstehen, welchen Stellenwert der Witz innerhalb des humoristi‐ schen Schreibprogramms Jean Pauls hat. Jean Pauls Definition des Witzes ist berühmt, und sie lässt sich unmittelbar an die Überlegungen zur Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit sprachlicher Di‐ versifizierung anschließen. Jean Paul präsentiert sie (mindestens) doppelt, in einer Form einer Definition und als seinerseits witziges Bonmot. Die Definition lautet: „Der Witz, aber nur im engern Sinn, findet das Verhältnis der Ähnlichkeit, d. h. teilweise Gleichheit, unter größere Unähnlichkeit versteckt“. 44 Das Bonmot: „Der […] Witz [ist] der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert“. 45 Wichtig ist hier zweierlei: Zum einen wird der Witz von Jean Paul als ein Vermögen beschrieben, das disparate, ja, inkommensurable Vorstellungen miteinander in Verbindung bringt. Zum anderen bleibt diese Verbindung insofern immer illegitim, als sie auf das Wirken eines bloß verkleideten Priesters zurückgeht. Es wird hier kein heiliger Bund geschlossen, auch wenn es nach Außen hin so scheinen könnte, ja, auch wenn womöglich generell in Zweifel steht, ob legitime und nicht-legitime Wortehen überhaupt systematisch unterschieden werden können. 46 98 Till Dembeck <?page no="99"?> 47 Siehe den Abschnitt über „[h]umoristische Sinnlichkeit“ in der Vorschule, I.5, 139-144. Vgl. Dembeck, Texte rahmen (Anm. 10), 360-370. Zu Jean Pauls witzig-humoristischer Schreibweise liegen eine Reihe hervorragender Arbeiten vor, etwa Esselborn, Hans (1991/ 1992). Die Vielfalt der Redeweisen und Stimmen. Jean Pauls erzählerische Moder‐ nität. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 26/ 27, 32-66; Müller, Götz (1996). Mehrfache Kodierung bei Jean Paul. In: ders. Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Wolfgang Riedel. Würzburg: Königshausen & Neumann, 77-96; Schäfer, Armin (2001). Jean Pauls monströses Schreiben. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 36, 216-234; Sina Dell’Anno (2022). satura. Aspekte eines monströsen Schreibens in Antike und Aufklärung. Diss. Basel, 362-504 (erscheint 2023 bei de Gruyter unter dem Titel: satura. Monströses Schreiben in Antike und Aufklärung. Lucilius, Varro, Horaz, Petron, Martianus Capella, Hamann, Jean Paul). Zu Jean Pauls witzigem Umgang mit Inter‐ textualität und Wissen und dessen kulturgeschichtlichen Hintergründen siehe Proß, Jean Pauls geschichtliche Stellung (Anm. 12); zu seinem Umgang mit Wissensquellen siehe Müller, Götz (1988). Jean Pauls Exzerpte. Würzburg: Königshausen & Neumann; Böck, Dorothea (1989). Satirische Raffinerien für Menschenkinder aus allen Ständen. Überlegungen zur Genesis von Jean Pauls Kunstmodell. Greizer Studien, 149-187; dies. (2002). Die Taschenbibliothek oder Jean Pauls Verfahren, das ‚Bücher-All‘ zu destillieren. In: Münz-Koenen, Inge/ Schäffner, Wolfgang (Hrsg.). Münz-Koenen, Inge/ Schäffner, Wolfgang. Berlin: de Gruyter, 18-40. 48 Vorschule, I.5, 171. Wichtig ist das Vermögen des Witzes für Jean Paul deshalb, weil es dem Humor eine unerschöpfliche Quelle von Ausgangsmaterial bietet. Ist für das humoristische Schreiben das ständige Oszillieren zwischen Verwechslung (das Disparate als Anzeichen des Harmonischen, das Unzulängliche als Anzeichen des Ideals usw.) und ironischer Aufhebung charakteristisch, die wiederum Anlass zur erneuten Verwechslung bieten kann, so entspricht dem auf der Ebene des Sprachmaterials recht genau das Schillern zwischen der Legitimität und Illegitimität witziger Verbindungen: Der Witz entbirgt eine Verbindung und man kann ihm ein Stückweit Glauben schenken, auch wenn im nächsten Au‐ genblick die Bedenken Überhand nehmen mögen. Das humoristische Schreiben verträgt sich insofern gut mit dem Verfahren der witzigen Verkettung. Der Witz liefert sozusagen jene Fülle an scheinbar - oder doch wirklich? - verbun‐ denen Vorstellungen, die der Humor benötigt, um sein Werk der fortlaufenden Umdeutung zu vollziehen. 47 Er ist in seiner Unvermitteltheit nachgerade der Inbegriff jenes sprachschöpferischen Impulses, dem Jean Pauls Interesse in den bereits rekonstruierten Passagen über die (deutsche) Sprache gilt: „Der Witz allein […] erfindet, und zwar unvermittelt“. 48 Die Überlegungen zum Witz in der Vorschule speisen sich aus einer großen Zahl von Beispielen, die zu einem erheblichen Teil aus anderen Sprachen stammen, insbesondere aus dem Französischen und dem Englischen. Jean Paul weist explizit darauf hin, dass es dem und den Deutschen an einer witzigen Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 99 <?page no="100"?> 49 Vorschule, I.5, 200f. 50 Vorschule, I.5, 204f. 51 Die Schrift über die Doppelwörter und die Kampagne gegen das Fugen-S haben in der Jean Paul-Forschung bisher in erster Linie Irritation ausgelöst. Schmitz-Emans etwa bezeichnet sie als „auffällige Inkonsequenz“; Schnupftuchsknoten (Anm. 17), 175. Im Folgenden soll versucht werden, die Kampagne als Teil des humoristischen Grundprogramms des Jean Paul’schen Schreibens auszuweisen. 52 Doppelwörter, II.3, 10. 53 Doppelwörter, II.3, 70. Kultur fehle. 49 Und er plädiert schließlich für die breite Verwendung des gelehrten Witzes, und zwar mit der Begründung, dass die Fremdheit des für diese Form des Witzes hinzugezogenen Wissensmaterials den Effekt des Verfahrens steigere - vermutlich impliziert das die Lizenz zur Inspiration des Witzes an an‐ deren Sprachen: „[W]arum soll man bei den zunehmenden Miß- und Fehljahren und Fehljahrhunderten nicht anspielen können, auf was man will, auf alle Sitten, Zeiten, Kenntnisse, sobald man nur den fremden Gegenstand einheimisch macht […]? “ 50 Der gelehrte Witz, dessen Verwendung Jean Paul den Vorwurf der barocken Manieriertheit eingebracht hat, ist insofern funktional äquivalent zur Sprachverfremdung - unabhängig davon, ob sie durch Anderssprachigkeit oder intrinsische Vervielfältigung der Sprache erreicht wird. Gelehrter Witz wie Sprachverfremdung garantieren Sprachfülle und dienen dem humoristischen Schreiben als Katalysator. Ein besonders wichtiges Verfahren des Witzes besteht für Jean Paul, in Theorie und Praxis, in der Produktion von Doppelwörtern, also in der witzigen Zusammenfügung zweier Wörter meist zu einem Substantiv. Dieses Verfahren ist insofern für die Frage nach der Stellung des Autors zur Sprachvielfalt von Bedeutung, als eine sehr große Zahl der von Campe und anderen für die Ersetzung von Fremdwörtern vorgeschlagenen deutschen Wortbildungen eben solche Doppelwörter sind. Überdies verbinden sich mit ihnen, wie bereits angedeutet, Jean Pauls intensivste Bemühungen um eine Sprachreform in der bereits angeführten Abhandlung über die Doppelwörter, die aus zwölf (natürlich fiktiven) „Briefen an eine vornehme Dame“ und Postskripten zu diesen Briefen besteht. Jean Pauls Interesse gilt hier vordergründig der Absage an das Fugen-S, das als Zischlaut den Wohlklang beeinträchtigt. 51 Diesen „Übellaut“, 52 dessen Missklang in immer wieder neuen Wendungen und witzigen Vergleichen beschworen wird (im Gegensatz übrigens zum ebenfalls als Fugenlaut anzutreffenden „Wohl‐ laut-N“ 53 ), will Jean Paul systematisch (was angesichts des bisher Gesagten sogleich skeptisch stimmen sollte) aus dem Sprachgebrauch entfernt wissen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist zunächst die (zutreffende) Einsicht, dass 100 Till Dembeck <?page no="101"?> 54 Doppelwörter, II.3, 14. 55 Doppelwörter, II.3, 18. 56 Doppelwörter, II.3, 18. 57 Doppelwörter, II.3, 23. An anderer Stelle wird ausführlich begründet, „daß man in der Sprache nicht genug Schattierungen von Schatten, Halbschatten, Viertelschatten haben kann, und daß also, wenn ein bloßes Anheft-S einen ganz neuen Begriff darstellen kann, der krumme Schnörkel mit etwas Dank, wie ein militärischer Achselunterschied oder sonstige Rockflagge, anzunehmen ist.“ (98) die Bildung der Doppelwörter offenkundig schwer auf eine Regel zurückgeführt werden kann - was angesichts der Argumentation in der Vorschule wie in der Fichte-Rezension eigentlich als ein Moment der Fülle der deutschen Sprache gelten könnte: „Dem Anschein nach ist nichts regelloser als die Art, auf welche unsere Sprache in den Doppelwörtern das Bestimmwort mit dem Grund‐ worte verknüpft; und die menschlichen Ehen werden bei den verschiedenen Völkern kaum mannigfaltiger geknüpft als bei uns die grammatischen der Doppelwörter.“ 54 Der anscheinenden Willkürlichkeit und Oberflächlichkeit des Witzes bzw. der von ihm gestifteten Ideen- und Wort-Ehen scheint mit Blick auf die potentiell immer witzigen Doppelwörter eine ebenso große grammatische Anarchie zu entsprechen. Jean Paul aber behauptet nun - auch wenn man sich, wie zu sehen sein wird, fragen muss, inwiefern das überhaupt (nur) ernst gemeint sein kann -, dennoch die Regel gefunden zu haben, „nach welcher sich die verschiedenen Klassen der Bestimmwörter an die Grundwörter knüpfen und mit einer Überzahl von Stimmen das Genitiv-es verwerfen.“ 55 Die Abhandlung legt einigermaßen plausibel dar, dass das Fugen-S nicht grundsätzlich von einer Genitiv-Form abgeleitet werden kann, 56 und entfaltet eine ausführliche Typologie von Wort‐ bildungsverfahren nach zwölf Klassen. Genauer lautet das Argument, die Zusammenfügung der Doppelworte richte sich nach der Art und Weise, wie das Bestimmwort (also der erste Doppelwortbestandteil) seinen Plural bilde. Für jede dieser Klassen, mit der Ausnahme der letzten, wird dann an einer Fülle von Beispielen nachgewiesen, dass sie das Fugen-S nur in wenigen Ausnahmefällen zulasse. Behauptet wird so, das Fugen-S sei ein dem Deutschen im Grunde genommen fremdes Wortbildungselement, das daher nicht nur um des Wohlklangs willen, sondern auch aus systematischen Gründen vermieden werden solle. Die einzige Ausnahme, die Jean Paul zuzulassen bereit ist, betrifft die semantische Differenzierung qua Fugen-S, wie im Falle der Unterscheidung zwischen ‚Landmann‘ und ‚Landsmann‘. 57 Der Witz des Textes liegt darin, dass Jean Paul unentwegt die jeweils behandelten Wörter personifiziert und ihr Verhalten im Wortbildungsprozess so beschreibt, als lägen sie selbst miteinander im Streit um das korrekte Verfahren. Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 101 <?page no="102"?> 58 Doppelwörter, II.3, 19. 59 Doppelwörter, II.3, 25. 60 Doppelwörter, II.3, 26. 61 Doppelwörter, II.3, 31. 62 Doppelwörter, II.3, 31. 63 Doppelwörter, II.3, 46. 64 Doppelwörter, II.3, 45. 65 Doppelwörter, II.3, 29. Sie stimmen, wie gesehen, in Jean Pauls Sinne ab oder ziehen gegeneinander in den Krieg: „Aber mit einer Macht von so viel Tausenden sollten, dächt’ ich, die wenigen Überläufer zu schlagen und zu bessern sein, derer ich im Ganzen kaum ein Dutzend mühsam auftreibe.“ 58 Die Nennung der zahlreichen Ausnahmen wird dabei zu einer Art running gag des Texts. Wenige Beispiele aus einer extremen Fülle, die tatsächlich von einer eingehenden Beschäftigung Jean Pauls mit der Materie zeugen, müssen hier genügen: „Die Sprache wird nun ihr eigener Zweikämpfer, wenn sie […] zwar Kalb- und Lammfleisch festsetzt, aber doch Kalbs- und Lammskopf […] annimmt“, heißt es etwa. 59 Oder: „Kurz diese Wortklasse schickt mit ihrer Aprilhaftigkeit uns ordentlich in den ersten des Monats hinein“, an dem dieser Brief der Entstehungsfiktion gemäß geschrieben wird. 60 Die widerborstigen Worte entfalten sogar eine gewisse diabolische Kraft: „Es tritt uns hier, wie immer, der Esel samt dem Teufel entgegen; der eine verlangt seinen Eselsohren etc. und der andere seine Teufelskinder etc., obgleich den Teufel sein einziger Reim Zweifel mehr an die Regel erinnern könnte.“ 61 Und ihre Bündnisse werden - obwohl das ja eigentlich für alle Produkte des Witzes womöglich gilt - delegitimiert: „Hunger, Wasser und Feuer werden in einigen wilden Ehen sich und der Regel untreu durch den falschen Schlangen- und Zischton.“ 62 Schließlich stellt sich „die 12te oder Judasklasse“ 63 ganz quer: „Die Bestimmwörter auf heit, keit, schaft, ung, ion, nehmen […] gerade das s an, wogegen die ganze Tabelle und meine zwölf Briefe an eine vornehme Dame geschrieben worden.“ 64 Kurzum: „Es sind dies wahre grammatische Verdrüßlichkeiten.“ 65 Nimmt man sie für bare Münze, ist diese Argumentation in mehrfacher Hinsicht irritierend. Zum einen ist die Erklärung, das Fugen-S sei in den einzelnen Klassen der Typologie immer nur eine Ausnahme, ganz offenkundig nicht triftig. Denn wenn die Zusammenfügung der Doppelwörter mit Fugen-S tatsächlich in allen der angeblich die gesamte Wortbildungspraxis erschöp‐ fenden Typologie vorkommt, so ist diese Typologie falsch konstruiert oder zumindest unvollständig. Der Ausschluss der jeweils der Behauptung Jean Pauls widersprechenden Beispiele, deren witziger Beschreibung, ich wiederhole es, zugleich ein sehr großer Raum eingeräumt wird, ist ostentativ willkürlich. Zum 102 Till Dembeck <?page no="103"?> 66 Doppelwörter, II.3, 35. 67 Doppelwörter, II.3, 48. 68 Doppelwörter, II.3, 47. 69 Doppelwörter, II.3, 97. 70 Doppelwörter, II.3, 101. 71 Siehe Dell’Anno, satura (Anm. 47), 133 f., die von der immer offenzuhaltenden „Ent‐ scheidung zwischen dem ductus rectus und einem ihm entgegenarbeitenden ductus obliquus der Doppelwörterschrift“ (134) spricht. Ich danke Sina Dell’Anno dafür, mich nach langen Jahren der Jean Paul-Abstinenz nicht nur wieder für diesen Autor begeistert, sondern auch auf die Doppelwörter-Schrift aufmerksam gemacht zu haben. anderen aber widerspricht die systemische Auffassung von Sprache, die dem Verfahren zugrunde liegt, dem antisystemischen Ansatz des Jean Paul’schen Sprachdenkens, der auch in dieser Abhandlung immer wieder zum Ausdruck gebracht wird. Konstatiert wird etwa, „daß man in der Sprache über kein einzelnes Wort, ohne dessen ganze lange Sippschaft und die Hausverträge der‐ selben zu kennen, etwas verfügen kann, über kein Bausteinchen ohne Übersicht des Sprachgebäudes.“ 66 Es muss daher der Sprechergemeinschaft überlassen werden, welchen Regeln sie in welcher Situation gehorcht: „Freilich bloß das Publikum entscheidet und sagt bei diesen Trauungen […] das Amen“. 67 Ja, Jean Paul greift sogar die von seinem Gegner Fichte und anderen Zeitgenossen verwandte organologische Metapher auf, um sie im Sinne der Formenvielfalt zu unterlaufen: Der „logisch[e] Organismus“ der Sprache treibe wie der leibliche „zuweilen regellose Überbeine, sechs Finger und Gliederschwärrme aus dem Regelleibe heraus“. Wenn zugleich behauptet wird, „daß wir hier als freiere Geister das Ausschneiden und Verwelkenlassen der Aus- und Fehlwüchse ganz in unserer Gewalt und Willkür haben“, 68 so liegt darin ganz offenkundig auch das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht gegenüber der Macht des Publikums, das Jean Paul in Gestalt der publizierenden Öffentlichkeit stark zusetzt und die Abfassung der zwölf Postskripte motiviert, in denen sich Jean Paul so kämpferisch wie resigniert präsentiert: „meine Widersacher selber werden zufrieden sein, wenn ich mir widerspreche und ihnen nicht,“ 69 heißt es gegen Ende, und: „Indes sehen Sie, gnädige Frau, aus diesen Postskripten immer deutlicher, wie schwer es einem unbescholtenen Manne gemacht wird, irgend etwas zu behaupten und zu beweisen.“ 70 Kurzum: Trotz des Eifers, mit dem sich Jean Paul auch außerhalb der Abhandlung und der Postskripte, in denen er auf Einwände reagiert, für die Sache engagiert hat, und trotz der Tatsache, dass er ab einem gewissen Zeitpunkt auf das Fugen-S verzichtet und frühere Schriften in diesem Sinne umarbeitet, sind erhebliche Zweifel daran angebracht, dass wir es hier mit einem ausschließlich ernst gemeinten Unternehmen zu tun haben. 71 Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 103 <?page no="104"?> Die hier vorgetragene These, es handele sich um einen humoristisch zu lesenden Text, ist von ihren mündlichen Mitteilungen inspiriert. 72 Allenfalls Jean Pauls Eintreten für den ‚Wohllaut‘ N als Fugenelement steht dieser Interpretation womöglich im Wege. Es ist in mehrfacher Hinsicht kein Zufall, dass Jean Paul gerade das wohl unsystematischste Wortbildungsverfahren der deutschen Sprache zum Gegen‐ stand seiner Bemühungen auswählt. Ist schon der Witz dasjenige Verfahren, das gegenüber denjenigen, die auf die organische Einheit der Sippe bedacht sind, auf Scheinehen und Ehebruch setzt, so ist die offenkundig antisyste‐ mische Wortbildung der potentiell witzigen Doppelwörter ein Element von ‚mechanischer‘ Willkür innerhalb eines sprachpolitischen Unternehmens, das angeblich Sprachreinheit und damit organische Einheit erzeugen will. Gerade in seinen durchweg humoristisch-launigen Antworten auf die Einwände seiner Kritiker macht Jean Paul deutlich, dass es ihm auf dieses Element von Willkür und von Unberechenbarkeit in der Sprachfortbildung ankommt: Parallel zur Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegner spricht Jean Paul in der Schreibfiktion der Postskripte fortlaufend von der Unberechenbarkeit des Wetters. Unberechenbarkeit und die Aussetzung des Glaubens an die Möglich‐ keit universeller, systemischer Sinngebung sind aber, wie gesehen, im Rahmen von Jean Pauls humoristischem Schreibverfahren die Voraussetzung für das Wirken des Witzes und der Einsatzpunkt der humoristischen Weltdeutung. Der angeblich ‚barocke‘ gelehrte Witz Jean Pauls lebt davon, dass er gerade keine systemische Einheitlichkeit von Wissen und Sinn mehr annimmt - diese wird ja erst durch die Verwechslungen des Humors im Schein erzeugt und immer wieder aufgehoben. Jean Pauls Schreiben richtet sich so gegen die Präferenz für den Geist der Einheit und die Einheit des Geistes, die das Denken vieler Zeitgenossen, und zwar gerade mit Blick auf Sprache, bestimmt. Womöglich dient also die ganze Argumentation der Doppelwörter-Abhand‐ lung in erster Linie dem Schaulaufen eines wortbildnerischen Witzes und die Tilgung des Fugen-S selbst der ostentativ willkürlichen Verfremdung - die zusammengefügten Worte stoßen ja um so unvermittelter zusammen, wenn kein Fugen-S sie auseinanderhält. 72 Womöglich läuft also Jean Pauls angebliche Sprachreinigung in Wirklichkeit auf die Markierung der Disparatheit des Sprach- und Vorstellungsmaterials hinaus, auf die es beim Witz ankommt. Dahinter verbirgt sich, so meine Schlussfolgerung und These, eine grundlegend humoristische Haltung gegenüber Sprache, Sprachgebrauch und Einsprachig‐ keit, ja, Jean Paul macht eigentlich sichtbar, dass der Glauben an Ein-, Mutter- oder Nationalsprachigkeit auf einer (aber leider: unbewussten) humoristischen Verwechslung beruht, die bei ihm wiederum humoristisch gebrochen und 104 Till Dembeck <?page no="105"?> 73 Paul, Hermann (1880). Principien der Sprachgeschichte. Halle: Niemeyer (in der zehnten Auflage von 1995 weiterhin im Angebot bei de Gruyter). 74 Vgl. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten (Anm. 17), 422-448. gewendet wird: Die regelhafte, in der Integrität eines Sprachorganismus wur‐ zelnde Einzelsprache ist Resultat einer Verwechslung, die das immer nur unvollkommene Material, das im Sprachgebrauch zu beobachten ist, als Verweis auf das Ideal der sprachlichen Einheit nimmt und so der unvollkommenen Sprachwirklichkeit die Vorstellung ihrer Vollkommenheit nur unterschiebt. Jean Paul eigene, wenn auch spärliche Ausführungen zur intrinsischen, von außen aber nicht zu erfassenden Regelhaftigkeit der deutschen Sprache zeigen, dass er diese Verwechslung bewusst vornimmt. Die ostentativ haltlose Argumentation für eine Vereinheitlichung der Wortbildung im Deutschen ist, so betrachtet, nichts anderes als die satirische Brechung dieser Verwechslung, die wiederum Gegenstand einer humoristischen Verwechslung sein kann usw. Wenn dem so ist, dann lässt sich noch Jean Pauls Einsatz für die Sprachfor‐ schung Wolkes auf diese Haltung zurückführen. Denn Wolke fällt aus dem Zusammenhang der sich eben etablierenden modernen Sprachwissenschaft insofern heraus, als er deren systematisch-systemische Strenge missen lässt - bei allem sprachpuristischen Furor. Von den Verfahren her steht Wolkes Argumentation dem vergleichsweise ‚wilden‘ Etymologisieren der ‚barocken‘ Vorgänger der Grimms näher als diesen selbst. Auch wenn Wolkes Ansatz wissenschaftlich letztlich nicht haltbar gewesen ist: Jean Pauls Eintreten für ihn ist womöglich auch von der Einsicht getragen, dass die organologische Metaphorik der entstehenden historischen Sprachwissenschaft, insofern sie sys‐ temische Entwicklung voraussetzt, einen blinden Fleck hat: Sie trägt der aus dem jeweiligen Moment des Sprechens gebundene Kreativität der Sprachfortbildung und insbesondere auch Phänomenen des Sprachkontakts keinerlei Rechnung. Theoriegeschichtlich hat es ungefähr bis zu Hermann Pauls Principien der Sprachgeschichte (1880) gedauert, bis der Zusammenhang zwischen den großen Linien der Sprachentwicklung und dem volatilen Geschehen des momentanen Sprechens angemessen erfasst werden konnte, 73 auch wenn sich natürlich sehr weitgehende, aber zeitgenössisch viel zu wenig beachtete Ansätze hierzu im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts finden, mit dessen Sprachdenken Jean Paul durchaus in Verbindung gebracht werden kann. 74 Immerhin aber richtet sich die Satire der Doppelwörter-Abhandlung bereits sehr schlagkräftig gegen die definitiv humorlosen Einsprachigkeitspostulate des Sprachdenkens um 1800 - auch wenn Jean Paul so seinerzeit gewiss nicht verstanden werden konnte. Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 105 <?page no="106"?> 75 Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten (Anm. 17), 457. 76 Siehe den berühmten Akademievortrag Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens von 1813/ 1816; Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (2002). Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813). In: ders. Kritische Gesamtausgabe. 1. Abt.: Schriften und Entwürfe. Bd. 2: Akademievorträge. Hrsg. von Martin Rössler. Berlin/ New York: de Gruyter, 65-93. „Wer möchte nicht lieber Kinder erzeugen, die das väterliche Geschlecht rein darstellen, als Blendlinge? “, fragt Schleiermacher beispielsweise mit Blick auf die Schwierigkeiten einer verfremdenden Übersetzung (81). 77 Schleiermacher, Methoden des Übersetzens (Anm. 76), 82 f., 92. 4. Fruchtbare Monstren Eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse ist angebracht: Zum einen ist im Rahmen eines auf ausufernden Witz gegründeten humoristischen Schreibens der Gebrauch von anderssprachigem Material funktional äquiva‐ lent zur Verwendung entweder entfernten Materials aus dem anscheinenden Inneren der Sprache bzw. zur Verwendung fremdartiger Neologismen. Die früheren, offenkundig nicht-deutscher Sprache gegenüber offeneren Schreib‐ verfahren Jean Pauls sind insofern funktional äquivalent zu den neueren, die vordergründig einsprachig sein wollen, aber in Wirklichkeit ebenfalls witzig-verfremdend verfahren - dies gilt sowohl für die Einführung von Neologismen als auch für die Verfremdung durch Streichung des Fugen-S. In diesem Sinne ist die Verwendung des ‚Jean‘ in der Tat funktional äquivalent zur Verwendung ‚urdeutscher Taufnamen‘. Zum zweiten zeigt sich, dass Jean Pauls sprachtheoretisches Schreiben ebenso einem humoristischen Programm folgt wie sein literarisches. Wenn daher Monika Schmitz-Emans in ihrer einschlägigen Studie zu dem Ergebnis kommt, Jean Paul entwerfe „keine in sich stimmige Theorie der Sprache“, 75 so liegt dies zumindest mit Blick auf seine Überlegungen zur Sprachvielfalt eben darin begründet, dass er das Konzept der Einzelsprache allenfalls mittels einer humoristischen Verwechslung bilden kann - und dies auch weiß bzw. wiederum zum Anlass weiterer humoristischer Verwechslungen nimmt. Das unterscheidet seinen Ansatz von der zeitgenössisch entstehenden Sprachwissenschaft und ihrer organologischen Metaphorik, aber auch von Denkern wie Fichte und z. B. auch Friedrich Schleiermacher, der insofern einen signifikanten Vergleich ermöglicht, als er, wie Jean Paul, Metaphern von Ehebruch und Bastardisierung bemüht, um schriftstellerische Mehrsprachigkeit zu delegitimieren. 76 Auch Schleiermacher möchte, wie Jean Paul, das Deutsche und seine Literatur in ihren Ausdrucksmöglichkeiten bereichern, vor allem mittels der massenhaften Übersetzung von Texten aus anderen Sprachen. 77 Die durchweg ernstgenom‐ 106 Till Dembeck <?page no="107"?> 78 Das zeigt schon die Tatsache, dass Schleiermacher der Muttersprache beim Schreiben die Rolle des Vaters zuschreibt: „[W]enn von Werken, die in einem höheren Sinne der Wissenschaft und Kunst angehören, der eigentümliche Geist des Verfassers die Mutter ist: so ist seine vaterländische Sprache der Vater dazu“; Schleiermacher, Methoden des Übersetzens (Anm. 76), 89. 79 Zur monströsen Textstruktur der Badereise selbst siehe Schäfer, Jean Pauls monströses Schreiben (Anm. 47), sowie Pethes, Nicolas (2019). The Novel as Miscellaneous Antho‐ logy: Jean Pauls ‚D. Katzenbergers Badereise‘ (1809). In: Gretz, Daniela u. a. (Hrsg.). Media (B)Orders: Between Periodicals and Books. Miscellaneity and Classification in Nineteenth Century Magazines and Literature. Hannover: Wehrhahn, 44-51. 80 Badereise, I.5, 129. mene (wenn auch im Details brüchige 78 ) organologische Metaphorik dient bei Schleiermacher aber dazu, eine Art Abschluss des Deutschen als System, dessen Grenzen genau festgelegt sind (weil man weiß, wann eine Äußerung nicht korrekt gebildet ist) zumindest zu postulieren, die eventuell nur den Status eines Ideals oder Regulativs hat, aber auf keinen Fall Gegenstand von Humor werden darf. Bleibt, abschließend an einem im engeren Sinne literarischen Beispiel vorzu‐ führen, dass die in der Vorschule und der Doppelwörter-Abhandlung entfaltete Poetik auch in literarischen Texten fortgeführt wird, wenn auch nicht in derselben Ausdrücklichkeit. Der Text Jean Pauls, der die im Hintergrund der hier rekonstruierten Witz- und Sprachtheorie stehende organische Metaphorik am gründlichsten ausgearbeitet hat, ist Dr. Katzenbergers Badereise. Auf die dort enthaltenen sprachpolitischen Einlassungen wurde ja bereits hingewiesen. Die Lektüre dieses Textes mit Blick auf ihren Umgang mit Sprachvielfalt ist in mehrfacher Hinsicht vielversprechend: Die Hauptfigur benutzt als Arzt ebenso wie der Erzähler relativ viel anderssprachiges Material, und dies steht auch im Zusammenhang mit den Themen des Ekels und des Zynismus, die das Werk prägen. Dabei geht es unter anderem um die Frage, welche organischen Zusammenhänge auf wie verständliche oder unverständliche Weise angespro‐ chen werden können - und Protagonist wie Erzähler spielen hier mit den Grenzen des gesellschaftlich Verträglichen. Auch dabei handelt es sich um eine radikale Ausprägung eines Humors, der die Frage der Umdeutbarkeit der niedrigsten, ekelerregenden Materialität des Körperlichen in höheren Sinn selbst zum Ansatzpunkt macht. 79 Das wesentliche Interesse Dr. Katzenbergers gilt bekanntlich den Missge‐ burten - nur mit Mühe kann er die Enttäuschung darüber unterdrücken, dass die eigene Tochter ganz wohlgeformt auf die Welt gekommen ist. 80 (Immerhin hat er aber eine Frau geheiratet, wie sie im Kosmos von Jean Pauls Erzählungen Jean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit 107 <?page no="108"?> 81 Badereise, I.5, 95. 82 Siehe Badereise, I.5, 128 f.; vgl. auch 198-200. 83 Vgl. hierzu Elena Agazzi (1995). Teratologisches Vergnügen bei Jean Paul. Athenäum 5, 43-55; Bergengruen, Maximilian (2003). Missgeburten: Vivisektionen des Humors in Jean Pauls ‚Dr. Katzenbergers Badereise‘. In: Helm, Jürgen (Hrsg.). Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18.-Jahrhundert. Wiesbaden: Steiner, 271-291. für sprachlich-kulturelle Hybridität einsteht, nämlich eine Elsässerin. 81 ) Sein Plädoyer für das wissenschaftliche Interesse an der Missgeburt entfaltet eine Argumentation, die man sehr gut auf Jean Pauls sprachtheoretischen Einsatz beziehen kann. Katzenberger geht davon aus, dass sich gerade an den Missge‐ burten die kreative Kraft der Natur ablesen lässt - viel besser jedenfalls als an allen wohlgebildeten Organismen, die nichts Neues erkennen lassen und in diesem Sinne fruchtlos sind, auch wenn sie sich, anders als die meisten Missgeburten, fortpflanzen können. 82 Es kommt an dieser Stelle nicht darauf an, die wissensgeschichtlichen Hinter‐ gründe der Katzenberger’schen Theorie aufzuzeigen. 83 Wichtig ist nur zu sehen, dass Katzenbergers Missgeburten recht genau denjenigen Figuren sprachlicher Diversität kongruent sind, die für witzige Fülle sorgen und dabei zugleich den Anschein von Einsprachigkeit erwecken. Sie entspringen einer Gattung, überschreiten aber deren Grenzen. Liest man dementsprechend Katzenbergers Monstrentheorie als Allegorie der Jean Paul’schen Sprachpolitik, so entpuppt sich die Vorliebe für das fugenlos gebaute witzige Doppelwort nicht nur als funktionales Äquivalent der Verwendung von ‚echter‘ Anderssprachigkeit im Rahmen des humoristischen Schreibens, sondern auch als impliziter Verweis auf den blinden Fleck aller organisch-systemischen Theorien von Spracheinheit und Sprachentwicklung. 108 Till Dembeck <?page no="109"?> Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta von Kurt Lanthaler und Stefano Zangrando: Fortsetzung, Rezeption und Übersetzung Barbara Siller Abstract: Der vorliegende Beitrag liest den Roman Das Delta von Kurt Lan‐ thaler (Haymon Verlag 2007) als einen Text der intensivierten Sprachigkeit und der Vielstimmigkeit, der Prozesse der Übersetzung und Fortsetzung in den Vordergrund stellt und davon geleitet ist. Der Beitrag beleuchtet unterschiedliche intratextuelle Übersetzungsstrategien, die durch die Ver‐ wendung des ‚einschließenden Code-switching‘ den Text einem breiteren - auch monolingualem Leser*innenpublikum - zugänglich machen, während den bilingualen Leser*innen ein erweitertes Spektrum an Lesemöglichkeiten geboten wird. Gleichzeitig besteht die Erwartung an alle Leser*innen, sich auf einen literarisch mehrsprachigen Langtext einzulassen. Darauf aufbauend widmet sich der Beitrag auch der Fortschreibung durch die Übersetzung des Romans in die italienische Sprache und stellt anhand der Übersetzungsüber‐ legungen und -strategien des Übersetzers die Frage nach dem ‚Verlust und Gewinn durch die Übersetzung mehrsprachiger Texte. Schließlich wird die sprachkulturelle sowie sprachpolitische Bedeutung dieses Romans im Feld der Gegenwartsliteratur betont, die gleichzeitig mit der tatsächlichen Rand‐ position kontrastiert, in der dieser vielstimmige Text sich im Literaturbetrieb wiederfindet. Keywords: Sprachigkeit, Vielstimmigkeit, Code-switching, Übersetzung, Fortsetzung, Randposition Mikhail M. Bakhtins Verständnis von heteroglossia im Kontext des Romans betont die mehrstimmigen und mehrsprachlichen Aspekte sowie die stylistische Vielfalt im Genre des Romans, dessen Sprache ihm zufolge immer schon ein plurales System von Sprachen voraussetzt, was zur Folge hat, dass der Roman grundsätzlich auf Dialogik basiert. Veranschaulicht wird dieses Konzept durch <?page no="110"?> 1 Der Philosoph, Literaturkritiker und Linguist Mikhail M. Bakhtin (1895-1975) setzt sich besonders im Kapitel ‚The Problem of Speech Genres‘ (60-103, hier 60) im Buch Speech Genres and Other Late Essays (1986 Texas: university press) mit den Genres auseinander, die für ihn die Grundlage für den Romandiskurs bilden, ein Diskurs, der sich für ihn immer als sehr heterogen und zentrifugal darstellt: „Special emphasis should be placed on the extreme heterogeneity of speech genres (oral and written). In fact, the category of speech genres should include short rejoinders of daily dialogue (and these are extremely varied depending on the subject matter, situation, and participants), everyday narration, writing (in all its various forms), the brief standard military command, the elaborate and detailed order, the fairly variegated repertoire of business documents (for the most part standard), and the diverse world of commentary (in the broad sense of the word: social, political).” 2 Lanthaler, Kurt (2007). Das Delta. Innsbruck/ Wien: Haymon Verlag. die Vorstellung der Sprechgenres, die vor allem den pragmatischen und sozialen Kontext widerspiegeln ‒ für Bakhtin ist jede Äußerung innerhalb eines ganz konkreten Kontextes verortet und von einer extremen Heterogenität gekenn‐ zeichnet: Sprechgenres umfassen Bakhtin zufolge mündliche und schriftliche Genres, reichen von einfachen bis zu komplexeren Genres und bilden Ideologien und Weltbilder ab 1 . Der ‚auf Deutsch verfasste italienische Roman‘ Das Delta von Kurt Lanthaler 2 lässt sich ‒ vor dem Hintergrund von Bakhtins Ausführungen ‒ als ein Roman lesen, in dem dieses Konzept der heteroglossia ganz explizit verwirklicht wird, indem der Autor den Protagonisten in unterschiedlichen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch mehrere italienische Regionen reisen lässt und der Roman dadurch ganz besonders die sprachliche und stylistische Vielfalt ‒ das Mündliche miteinbeziehend ‒ in den Vordergrund stellt; dies geschieht häufig anhand von Sprichwörtern in unterschiedlichen italienischen Sprachvarietäten, an denen sich tradierte Überzeugungen, soziale Hierarchien und sogar ganze Weltbilder ablesen lassen. Lanthaler arbeitet also grundsätzlich mit sehr unter‐ schiedlichen Sprachvarietäten, die er aber nicht nur so im Text stehen lässt, sondern für die er jeweils originelle und sprachlich faszinierende Übersetzungen anbietet, womit er den Roman auch einem monolingual deutschsprachigen Pu‐ blikum zugänglich macht. Das daraus entstandene Werk hat selbstverständlich politischen Charakter - die sprachlichen als auch chronotopischen Grenzüber‐ schreitungen verweisen stets auf andere Formen von Grenzüberschreitungen. 110 Barbara Siller <?page no="111"?> 3 Kurt Lanthaler wurde 1960 in Bozen geboren. Er verfasst Kurzgeschichten, Romane, Theater, Hörspiele und Gedichte. Lanthaler ist auch Übersetzer aus dem Italienischen (Peppe Lanzetta, Roberto Alajmo). Bekannt wurde der Autor vor allem durch seine fünf Tschonnie-Tschenett-Romane (Der Tote im Fels 1993, Grobes Foul 1993, Herzsprung 1995, Azzurro 1998, Napule 2002). 4 Liberto, Valentino (2014). Nel (o sul) delta con Kurt Lanthaler. È in preparazione la traduzione del romanzo ‚Das Delta‘ di Kurt Lanthaler, a cura di Stefano Zangrando per alphabeta di Merano. [Die Übersetzung des Roman ‚Das Delta‘ von Kurt Lanthaler ist in Vorbereitung. Kuratiert von Stefano Zangrando für den Verlag alphabeta.] Abrufbar unter: http: / / www.salto.bz, 24.11.2014 (Stand: 27.04.2023): [„ein italienischer Roman, geschrieben auf Deutsch“]. 5 An einer anderen Stelle habe ich den Roman als einen „Reflexionsroman über Sprach- und Diskurssysteme“ bezeichnet. Siller, Barbara (2015). Identitäten - Imaginationen - Erzählungen. Literaturraum Südtirol seit 1965. Innsbruck: university press, 182. 6 Auf Seite-77-78 (Lanthaler: Das Delta 2007) erfolgt die Namenserklärung des Protago‐ nisten Fedele Conte Mamai: Fedele trifft auf einen Feuerschluckerspucker, der ihm seine Fähigkeit weitergeben möchte. Seine Antwort darauf: „ - Con te? Ma mai […] Nie im Leben nicht, mit dir. […] / - Con-te ma-mai. Und wie heißt du? / - Fedele, sagte ich. / Fedele Conte Mamai, sagt er. Der treue Graf Niemals. Das wär ein brauchbarer Künstlername für einen Feuerschluckerspucker auf Weltumrundung. Überleg es dir. - Kann ich den Namen auch behalten, wenn ich kein Feuer spucke? , sage ich. / Da lacht er und haut mir auf die Schulter.“ 7 Lanthaler (2007: 24). 8 Lanthaler (2007: 23). 1. „Romanzo italiano scritto in tedesco“ ‒ die Sprachigkeit in Das Delta Wenn der in Bozen geborene, in Berlin und Zürich lebende Autor Kurt Lanthaler 3 seinen 2007 im Haymon Verlag erschienenen Roman Das Delta als einen italieni‐ schen Roman bezeichnet, der auf Deutsch verfasst wurde („un romanzo italiano, scritto in tedesco“ 4 ), streicht er damit die besondere sprachliche oder vielmehr die besondere ‚sprachige‘ Form seines Romans hervor, eines heteroglotten Textgewebes, das sich entlang und mittels der Sprachenvielfalt entwickelt. Was diesen Roman aber vor allem zu einem Text der Sprachigkeit 5 macht - und ich komme auf den Terminus der Sprachigkeit noch zurück -, sind die zahlreichen Übersetzungsprozesse, die einen wesentlichen Teil des Romans ausmachen und ein bestimmendes Antriebselement für die Geschichte bilden. Erzählt werden die Geschichten rund um das Findelkind Fedele Conte Mamai 6 , das beim wortkargen „Flußschiffer“ 7 Bombolo in Maierlengo - einem imaginierten Ort in Norditalien - „wenige Tage nach Kriegsende“ 8 geboren wird und dort aufwächst, in den 1950er Jahren diesen Ort verlässt und eine Reise quer durch Italien und darüber hinaus antritt, um 40 Jahre später wieder an den Ausgangsort zurückzukehren. Die Kindheit „flußauf, flußab […] an Bord Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 111 <?page no="112"?> 9 Lanthaler (2007: 23). 10 Lanthaler (2007: 24-25). 11 Beyer (2002: 48). des Lastkahns“ 9 verbringend, meist schweigend, bringt sich Fedele (‚der Treue‘), wie ihn Bombolo nennt, das Sprechen selbst bei. Dieser Sprachlernprozess wird im Text anhand des folgenden Beispiels erzählt, in dem Bombolo Fedele den Auftrag gibt, das Tau aus dem Wasser zu holen: Ciappa, Fedele, schnapp’s dir. Und so schnappe ich mir ciappa auf und so behalte ich mir Fedele. Sehr viel mehr hat Bombolo, der Stolperauffindvater, nicht mit mir gesprochen. Er grummelt. Und wenn er grummelt, dreht er den Kopf von einem weg. Aber ich verstehe, was er meint, wenn etwas zu verstehen ist. Also beginne ich, Worte zu sammeln, eins nach dem andern, immer wenn ich an einem vorbeikomme. Ich warte auf sie. Was manchmal Tage dauern kann. Auf dem Fluß, wenn von einem der kreuzenden Lastkähne herübergerufen wird. Von den fluchenden Tagelöhnern beim Löschen der chiatta. […] Ich sammle wie der Beerensammler. Leuchtet es im Gebüsch, bückt er sich. Ich ging an den Pappeln vorbei, die überall im Delta standen, um das neu geschaffene Land zu entwässern, und dachte so lange: diese dünnen Dinger da, bis ich eines Tages das Wort dazu aufschnappte und nicht mehr losließ. Pioppi. Pappeln. Und schon gab es in meiner vorläufigen Welt ein Ding weniger und ein Wort mehr. Und eine Pappel. 10 Von dieser Sprachfindung und Wörteraneignung ausgehend sammelt Fedele auf seiner Reise durch Italien regionale Sprichwörter und Redeweisen ein, Dorfgeschwätz und Erzählungen, die in den Romantext integriert werden, wodurch der Roman zu einem Roman der Sprachigkeit wird, der die vielfältige Geschichte, Politik und Lebensweisen zahlreicher italienischer Regionen in ihrer Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit erzählt. 2. Der Begriff ‚Sprachigkeit‘ Marcel Beyer verwendet in seinem Beitrag „Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan“ (2002) den Terminus ‚Sprachigkeit‘. „Wörter, Namen, Bezeichnungen […], die [ihm] beim Lesen von Paul Celans Gedichten immer wieder von neuem auffallen“ 11 , setzt er zueinander in Beziehung, sei es durch Reime, sei es durch die Perspektive der Mehrsprachigkeit oder das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wodurch er bei der folgenden Definition der ‚Sprachigkeit‘ anlangt: 112 Barbara Siller <?page no="113"?> 12 Beyer (2002: 49). 13 Beyer (2002: 48). 14 Beyer (2002: 57). 15 Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert (Hrsg.) (2007). Exophonie: Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kadmos Verlag, 26. 16 Stockhammer (2017): Zur Konversion von Sprachigkeit in Sprachlichkeit (Langagifica‐ tion des Langues) in Goethes Wilhelm Meisterromanen. Critical Multilingualism Studies 5: 3, 13-31, hier 15. 17 Stockhammer (2017: 14). Der Reim. Die verschiedenen Sprachen. Geschriebene und gesprochene Sprache. Der Ton, der Sprachgestus. Nicht als Substanzen, sondern als Wechselverhältnisse, zwischen Mündlich- und Schriftlichkeit, Fremd-, Eigen-, Ein-, Zwei- und Mehrspra‐ chigkeit: Das nenne ich Sprachigkeit. 12 Was in Beyers Definition besonders auffällt, ist die Betonung der Austauschbe‐ ziehungen zwischen Sprachen und Sprachformen, sowie die Fokussierung auf Elementen, die die Sprachverwendung angehen, wie dem Ton und dem Gestus. Dieses Verfahren des In-Beziehung-Setzens will Beyer nicht als „spekulative Kartografie“ oder „poetische Sprachbetrachtung“ verstanden wissen, sondern als „Politik“ 13 . Diese „Politik“ zeigt er sodann anhand von Landschaftsbezeich‐ nungen in ausgewählten Gedichten Celans, die er in größere historische, sprachliche und darüber hinausführende Kontexte stellt, wie zum Beispiel jenen, die aus den Briefwechseln Celans hervorgehen. Beyer denkt Sprache in einer „geografische[n] und zeitliche[n] Dimension“ und mit Bezug auf den Sprechenden. 14 In ihrer Einleitung zum Buch Exophonie: Anders-Sprachigkeit (in) der Lite‐ ratur nehmen Robert Stockhammer, Susan Arndt und Dirk Naguschewski den Begriff der ‚Sprachigkeit‘ auf und beziehen ihn auf das „Medium eines Sprachgeschehens“ 15 . In einem späteren Beitrag reflektiert Stockhammer Texte als komplexe Gebilde von Sprachen, die „in bestimmten Verhältnissen zu spezi‐ fischen Idiomen (etwa vom Typ der ‚Nationalsprachen‘ oder ‚Dialekte‘) stehen, denen sie sich niemals vollständig, aber doch in verschiedenen Graden der Vollständigkeit zurechnen lassen.“ 16 Betont wird hier, dass sich „die intensivierte Sprachigkeit [der] Texte nicht auf lebensweltliche Faktoren“ 17 zurückführen lasse, sondern die Texte immer als ein ästhetisches Medium zu verstehen seien, die ihre eigenen Sprachwelten entfalten und in einem kreativen Verhältnis zu den ‚lebensweltlichen‘ Idiomen stehen. Im Unterschied zum Begriff ‚Sprachlich‐ keit ‘, der auf die „unhintergehbare[…] Sprachlichkeit aller Texte“ abzielt, liegt dem Begriff ‚Sprachigkeit‘ ein relationales und dialogisches Prinzip zugrunde. Neben dem Verhältnis der Sprachen im Text zu den Sprachen außerhalb des Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 113 <?page no="114"?> 18 Im Beitrag von Liberto (2014) in der Literaturzeitschrift salto gibt es den Verweis, dass Lanthaler den Begriff ‚Sprachlichkeit‘ gegenüber ‚Mehrsprachigkeit‘ bevorzugt. 19 Auszug aus einem E-mail-Austausch mit Kurt Lanthaler (2021): „Zum Thema Sprachig‐ keit: archiv/ gesammelte Werke Bd. 15, 428: De le lingue (aus dem Privatarchiv des Autors), Sprachigkeit: Zur Poetik. Auf Nachfrage einer Germanistin. Literatur ist: geschichten erzaehlen. (es gab es literatur, lang bevor es schrift gab.) und geschichten erzaehlen - von roman bis lyrik - sich über die sprachen. sprachen ergeben orte. fremde sprachen fremde orte. und orte menschen. und menschen geschichten. und fremde sprachen fremde orte fremde menschen fremde geschichten. das ganze dann : sprachigkeit. (…) Habe irgendwann einmal, auch schon wieder jahre her, lang schon nicht mehr in südtirol, weder im koerper noch im buch (also auf jeden fall nach Grobes Foul), in einem gespraech (welches, wo? ich weisz es nicht mehr) aus gründen der klarheit (wie der polemik) darauf bestanden, im zusammenhang mit meinen texten nicht von »mehrsprachigkeit« zu sprechen (nach einsprach und doppelsprach sprach man, stellte ich fest, in st irgendwann von mehrsprach/ igkeit); das wort ist mir, übrigens auch in anderen, z.b. berliner oder zürcher zusammenhaengen, laengst schon viel zu stark: politisch miszbraucht (sagnwers mal so); hab ich nix zu tun mit. deswegen verfiel ich, in meinem zusammenhang, auf den begriff »sprachigkeit«. er trifft immer noch. sprachen, mehrere, viele, aus der freud, an der musik. und nicht aus berechnung, vernunft, oekonomie, angst und gut- oder unmenschlichkeit. und sprachen als der andere bestandteil von literatur (der eine waer: geschichten erzaehlen). (dazu auch zitat aus Grobes Foul: »Dazu war sie zu ungemütlich, diese italienische Provinz mitten in den Bergen, in der sie drei Sprachen redeten, aber immer nur von einer die Rede ging. Von der eigenen.« s27 der tb-ausgabe)“ (brief, 04/ 06/ 09). Textes bezieht sich Stockhammer vor allem auf die Beziehung, die die Sprachen im Text untereinander unterhalten, einen Aspekt, der auch bei Mikhail M. Bakhtins Überlegungen zum Roman eine wesentliche Rolle spielt. Stockhammer resümiert: „Dichter dichten, zugespitzt formuliert, in keiner Sprache (langue), weil Dichtung selbst in einem anderen Sinn eine Sprache (langage) ist.“ Diese Diskussion rund um ‚Sprachigkeit‘ ist für Lanthalers Roman Das Delta besonders relevant, da dem Sprachenverhältnis innerhalb des Textes eine besondere Bedeutung zukommt. Bezieht man den Autor in die literaturtheoretische Dis‐ kussion mit ein, ist interessant anzumerken, dass auch er sich Gedanken zu dem Begriffsinventar ‚Sprachlichkeit‘ und ‚Sprachigkeit‘ gemacht hat. Lanthaler weist den Begriff ‚Mehrsprachigkeit‘ im Kontext seiner Texte sehr entschieden zurück, da er ihn als politisch belastet wahrnimmt, und plädiert stattdessen für den Begriff ‚Sprachigkeit‘: 18 Literatur ist: geschichten erzaehlen [sic im Original! ]. (es gab es literatur, lang bevor es schrift gab.) und geschichten erzaehlen - von roman bis lyrik - sich ueber die sprachen. sprachen ergeben orte. fremde sprachen fremde orte. und orte menschen. und menschen geschichten. und fremde sprachen fremde orte fremde menschen fremde geschichten. das ganze dann : sprachigkeit. […] 19 114 Barbara Siller <?page no="115"?> 20 Lanthaler in: Siller, Barbara (Hrsg.) (2023). Das Un: gehörte, un: gehörig Un: erhörte im mehrkulturellen Schreiben. The un: heard, unsee: mly un: heard-of writing more cultures. Corker Poetikgespräche 2021 mit Dragica Rajčić Holzner, Kurt Lanthaler and José F. A. Oliver. Dresden: Thelem Verlag, 80. 21 Stockhammer (2017: 14). 22 Bakhtin, Mikhail (1986: 124): Speech Genres and Other Late Essays. Übersetzt von Vern W. McGee. Emerson, Caryl/ Holquist, Michael (Hrsg.) Austin: Texas University Press: „Each large and creative verbal whole is a very complex and multifaceted system of relations. With a creative attitude toward language, there are no voiceless words that belong to no one. Each word contains voices that are sometimes infinitely distant, unnamed, almost impersonal (voices of lexical shadings, of styles, and so forth), almost undetectable, and voices resounding nearby and simultaneously.“ Lanthaler stellt damit offensichtlich die Sprache(n) in den Vordergrund allen Erzählens, in ihr und durch sie entwickeln sich die Räume und Figuren. Daneben wird das Fremde, und damit die Differenz, in die Definition mit aufgenommen: Fremde Sprachen lassen fremde Orte, Figuren und Geschichten entstehen. Ähnlich wie Marcel Beyer, der den Ton der Sprachen nennt, betont auch Kurt Lanthaler in seinen weiteren Ausführungen die Musikalität der Sprache. Lanthaler unterscheidet zwischen „der Sprache, in der sie [die Literatur] schreibt“, die „prävalent dem Vorwärtskommen eines Ungetüms namens Plot“ dient und „der Sprache, in die sie sich schreiben würde, nähme sie ihre Sache ernst“. 20 [Hervorhebung durch Lanthaler]. In dieser Literatur tritt die erzählte Geschichte selbst in den Hintergrund, stattdessen rückt das Sprachgeschehen in den Vordergrund und die Frage „Was geschieht? “ bezieht sich auf die sprachlichen Ereignisse. Was geschieht also auf der sprachlichen Ebene im Roman Das Delta, zumal es sich um einen Text der „intensivierte[n] Sprachigkeit“ 21 handelt? Ergänzend zum Begriff ‚Sprachigkeit‘ wird an gegebenen Stellen auch der Begriff ‚Vielstimmigkeit‘ in Anlehnung an Mikhail Bakhtins Begriff der Poly‐ phonie 22 verwendet, denn Lanthalers Text lebt von diversen ‚Stimmen‘, die sich insbesondere an den spezifischen Redeweisen und Sprichwörtern äußern, die - und das ist bei Bakhtin zentral - an ganz bestimmte regionale Lebenswelten, Sprechsituationen und Sprecher*innen gebunden sind. Der Begriff reflektiert außerdem die Aspekte der Mündlichkeit, der Musikalität und des Klangs der Wörter und Sprachen, die bei Lanthaler von zentraler Bedeutung sind. Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 115 <?page no="116"?> 23 Tobias Döring ist zuzustimmen, wenn er behauptet: „Communication across languages and cultures never operates outside the material framework and conflicts in which they are placed.“ Döring, Tobias (2007). Fictions of Translation: The Celts, the Canon and the Question of World Literature. ZAA 55: 2, 107-122, hier 108. 24 Lanthaler (2007: 138). 25 In mehreren Literaturveranstaltungen, so beispielsweise auch in den Poetikgesprächen in Cork 2021, hat sich Lanthaler explizit darüber geäußert, wie wesentlich für ihn die Sichtbarkeit der Sprachen sei. 3. Intensivierte Sprachigkeit, Vielstimmigkeit und Dialogizität in Das Delta Eine ‚intensivierte Sprachigkeit‘ wird in Lanthalers Roman auf sehr unterschied‐ lichen Ebenen sichtbar. Innerhalb des Textgewebes enftalten sich dezidiert sprachliche Räume, in denen die Sprachen aufeinander reagieren, aufeinander Bezug nehmen, besonders in Begegnungsmomenten zwischen einer Textstelle und deren Übersetzung, wodurch ein produktives Wechselverhältnis entsteht. Diese Sprachigkeit steht sodann auch in einer Beziehung zur außersprachlichen Welt, nimmt Bezug auf reale oder transformierte Georäume, deren Sprach‐ welten, deren politische und kulturelle Situation 23 . Im Roman wird auf diese mehrfache Beziehung der Sprachigkeit explizit auf‐ merksam gemacht, wenn der Ich-Erzähler über sich selbst folgendes berichtet: Seit den Zeiten auf Bombolos chiatta sammelte ich Sprichwörter. Hatte sie auswendig gelernt, lange bevor ich die einzelnen Wörter verstehen konnte. Und hatte sie mir behalten, auch nachdem ich die Wörter gelernt hatte, und die Sätze, und das Sprechen und das Lesen. Hatte weiter Sprichwörter aufgelesen, vielfarbige Musik in den multiplen Klängen des disparaten Landes. Wo immer ich sie fand im Vorbeigehen. Ganz wie andere Geld häufeln auf ihrem Weg vom Tellerwäscher. Sie waren mir Musik und Rhythmus. 24 Ausgehend von der „chiatta“, das italienische Wort für ‚Lastkahn‘, das an dieser Stelle unübersetzt bleibt, führt der Weg zu den Sprichwörtern, die erstmals für den Ich-Erzähler rein semantisch bedeutungslos sind, während ihm die Musik der Wörter Bedeutung zu vermitteln vermag, die er mit den unterschiedlichen Regionen Italiens verknüpft. Durch die Verwendung der Synästhesie „vielfarbige Musik“ kommt der visuelle Sinn ins Spiel und damit die Sichtbarkeit der Stimmen. Mit Blick auf Lanthalers Gesamtwerk - vor allem auf seine vielsprachige Poesie, die weitere Alphabete, wie das griechische oder arabische verwendet - ist zu bemerken, dass das Sichtbarmachen von unterschiedlichen Zeichen und Sprachen dem Autor in seinen Texten sehr wichtig ist 25 . Die Sprichwörter reflektieren in ihrer 116 Barbara Siller <?page no="117"?> 26 Bakhtin, Mikhail/ Holquist Michael (1981). The Dialogic Imagination. Austin: Texas University Press, 47 ̶ 48: 27 Siller (2023). 28 Vgl. Hier - in Anlehnung an Ottmar Ette (2005 und 2007) - weitere Ausführungen zur Verwendung des Terminus im Ausgangstext der Poetikgespräche: „Im deutschspra‐ chigen Kontext ist beispielsweise die Rede von einem - „durch das Ineinanderblenden verschiedener Sprachen“ - Fremdschreiben der deutschen Sprache, das sich über das Sich-Einschreiben in die Sprache entfalte und zu deren „F: ortschreiben“ führe, die als „Vervielfachung, aber auch als örtliche „Verrückung“ verstanden wird, worauf die Schreibung des Wortes explizit verweist.“ Abrufbar unter: www.networks.h-net. org/ node/ 79435/ discussions/ 7532613/ poetikvorlesungen-cork-das-ungehörte-ungehör ig-unerhörte-im#_ftn2 (Stand: 08.11.2023). 29 Vgl. Ette (2007). Kurt Lanthaler (2023: 79) erklärt diese Begriffsverwendung in den Poetikgesprächen anhand eines mehrsprachigen Gedichtes: „Der deutsche Part ist als Fortsetzung, nicht als Übersetzung zu sehen.“ Ebenda vgl. FN 21: „Fortschreibungen“. Dieser Beitrag verwendet den Begriff ‚Übersetzung‘, wenn es sich um sogenannte ‚wortwörtliche‘ Übertragungen handelt, und den Begriff ‚Fortsetzung‘, wenn es sich um ,freiere Übertragungen‘ handelt, wohlwissend, dass diese Unterscheidung nicht immer so deutlich gemacht werden kann. 30 Lanthaler (2023: 82). referentiellen Funktion die Mannigfaltigkeit der Sprachen Italiens. Dialogizität findet hier also sowohl zwischen Text und Lebenswelt statt, als auch innerhalb des Textes, zwischen den Stimmen des Textes 26 . Insofern kann man folgern, dass der Begriff ‚Sprachigkeit‘ nicht so zu verstehen ist, dass Texte abgekoppelt von der Lebenswelt zu lesen wären - selbst wenn Dichter ihre eigene Sprache formen, stehen diese Sprachen in einer Beziehung zu textexternen Faktoren. 4. Das Prinzip der sprachlichen Fortschreibung / Fortsetzung im Das Delta Das Poetikstatement, das Kurt Lanthaler im April 2021 anlässlich der Poetik‐ gespräche in Cork zum Thema ‚Das Un: gehörte, un: gehörig Un: erhörte im mehrkulturellen Schreiben / The un: heard, unsee: mly un: heard-of writing more cultures‘ vorgetragen hat, beginnt folgendermaßen: „Facciamoci due passi. Lassen Sie uns zwei Schritte gehen. Due passi a braccetto. Zwei Schritte, Arm in Arm.“ 27 Der erste Kurzsatz steht in der ersten Person Plural, angehängt an das Verb ist das Reflexivpronomen ‚ci‘, ebenso in der ersten Person Plural und damit übereinstimmend mit der Form des Verbs - des weiteren Übersetzungen, Fortschreibungen 28 und Fortsetzungen 29 vom Italienischen ins Deutsche: Lassen Sie uns zwei Schritte gehen. Neben den Begriffen ,Fortschreibung‘ / ‚Fortsetzung‘ fiel in den Poetikgesprächen auch der Begriff ‚Miterzählen‘ 30 . Sogleich wird Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 117 <?page no="118"?> 31 Lanthaler (2007: 12). 32 Lanthaler (2007: 46). 33 Lanthaler (2007: 87). 34 Lanthaler (2007: 7). 35 Lanthaler (2007: 96). 36 Lanthaler (2007: 134). 37 Lanthaler (2007: 159). deutlich, dass die einleitenden Sätze im Zeichen des Dialogischen, der Rezipro‐ zität und des Plurals stehen - im Zeichen der Vielstimmigkeit also. Diese einleitenden Sätze sind programmatisch für die Schreibkunst, die der Autor im Roman Das Delta entfaltet, die im Folgenden eine etwas genauere Betrachtung findet: Bereits die Titel der 48 durchnummerierten Kapitel erscheinen als Überset‐ zung/ Fortsetzung, die in zwei unterschiedlichen Verfahren realisiert wird: - zum einen als Übersetzung, in der die Signifikanten im Italienischen und im Deutschen auf ‚denselben‘ Signifikat verweisen, üblicherweise als wort‐ wörtliche Übersetzung bezeichnet, beispielsweise: [3] [La valigia | Der Koffer] 31 [14] [Il Delta | Das Delta] 32 [24] [Tre fiumi | Drei Flüsse] 33 - zum anderen als Fortsetzung, in der sich die Signifikanten in den beiden Sprachen voneinander unterscheiden, aber einen inhaltlichen Bezug zu‐ einander haben, beispielsweise erläuternde Funktion in Bezug auf den nachfolgenden Text haben: [1] [La piazza | Die Geschichten, die kleinen] 34 [28] [Digos | Gar nicht peinliche Befragung] 35 [40] [La vecia col pist | Ein Rezept] 36 [48] [In cucina | Mise en place] 37 Weitere Kennzeichen dieser Übersetzungen / Fortsetzungen sind: • die Reihenfolge: Die sprachliche Reihenfolge folgt immer demselben Prinzip, zuerst stehen die italienischen Titel, gefolgt von den deutschen. • die Verwendung der Idiome: Neben der italienischen Standardsprache finden auch andere Idiome des Italienischen (regionale Sprachen) Verwen‐ dung, so im Titel [40] oder andere Standardvarietäten, so im Titel [48]: Hier wird auf Französisch fortgeschrieben. 118 Barbara Siller <?page no="119"?> 38 Diese visuellen Details sind bei Lanthalers Werken immer sehr wichtig, weil sie auf sehr bewusste Entscheidungen des Autors beruhen. Siehe Fußnote 23. 39 Mary Catherine Frank spricht vom ‚multilingual humour‘. Sie plädiert für einen ‚thick‘ und ‚creative‘ Übersetzungsansatz, der den Effekt der Form voranstellt, wodurch ein „heterolingual humour for speakers of other languages“ entsteht. Frank, Mary Catherine (2009). One text, two varieties of German: fruitful directions for multilingual humour in ‘translation’. European Journal of Humour Research. 7: 1, 91 ̶ 108‚ hier 91. 40 Lanthaler (2007: 19). • die Sonderzeichen und Symbole: Sowohl die Kapitelnummer als auch die Titel sind zwischen eckigen Klammern abgedruckt; der italienische und deutsche Titel sind durch die eckige Klammer verbunden; lediglich ein senkrechter Strich trennt sie voneinander. 38 Der Romantext arbeitet mit demselben Prinzip der Übersetzung/ Fortsetzung von Sprachen - und hier ist nicht die Rede von einer einzigen Ausgangssprache im Singular, vielmehr handelt es sich um eine Reihe von Sprachen aus un‐ terschiedlichen Regionen Italiens, die in die deutsche Standardsprache einge‐ schrieben werden, und auch hier nicht selten in unterschiedliche Sprachregister des Deutschen, insbesondere ins Umgangssprachliche, wodurch der Effekt des heterolingualen Humors erzielt wird 39 . Bilinguale Leser*innen verstehen beide Textversionen und auch den daraus entstehenden Humor, der aus der Vermischung unterschiedlicher Sprachvarietäten und -ebenen in den beiden Sprachen resultiert. Indem der deutschsprachige Textteil auf kreative und humorvolle Weise fortgesetzt wird, entsteht bei den bilingualen Leser*innen auch nicht der Eindruck, dass man es mit einer inhaltlichen Wiederholung des Textes zu tun hat. Auf der sprachlichen Ebene entsteht ohnehin eine gewisse Spannung, weil sich für die bilingualen Leser*innen beim Lesen des Textes verschiedene Möglichkeiten eröffnen: man kann, beispielsweise, die Übersetzungen vergleichen, man kann selbst Übersetzungsversuche wagen oder man kann die im Text angebotenen Übersetzungen und deren Humor genießen. Im folgenden wird eine Differenzierung dieser Fortschreibungsbeispiele vorge‐ nommen und deren Form genauer beleuchtet: a) die sequentielle, wörtliche Übersetzung: Diese bezieht sich auf Textbei‐ spiele, in denen die Fortschreibung direkt nach dem Ausgangssatz erfolgt und sich in Form und Inhalt relativ genau am Ausgangstext orientiert. Dem italienischen Ausgangstext folgt die deutsche Übertragung. Eine Ausnahme bildet das zweite Beispiel, in dem in umgekehrter Reihenfolge dem deutschen Wort die italienische Übertragung folgt. - Non muoverti. Beweg dich ja nicht. Hai sentito? Verstanden? 40 Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 119 <?page no="120"?> 41 Lanthaler (2007: 21). 42 Lanthaler (2007: 59). 43 Lanthaler (2007: 39). 44 Lanthaler (2007: 59). 45 Lanthaler (2007: 55). - Unwahrscheinlich, dachte ich, sagte der Polizist mit der dicken Weste, unwahr‐ scheinlich, daß Plastiksprengstoff nach Fisch richt. Also haben wir geröntgt, und dann geöffnet. Und: Er ist nicht explodiert. So ein Scheißtag, che giornata di merda. 41 - Sti idioti de la terra ferma, die Idioten vom Festland, glaubte ich gehört zu haben. 42 b) die sequentielle, freie Fortsetzung: In diesen Textbeispielen folgt die Fort‐ setzung ebenso unmittelbar dem Ausgangssatz bzw. ist ihr vorangestellt; diese weicht allerdings in Form oder Inhalt stärker vom Ausgangstext ab: - Holt die beiden Kollegen von der Bahnpolizei wieder herein. Wir rücken ab. Basta così. Ende der Veranstaltung. Hier ist Ihr Ausweis. 43 Das ‚basta così‘ findet hier seine inhaltliche Entsprechung durch eine freiere Übersetzung in den beiden Sätzen ‚Wir rücken ab‘ und ‚Ende der Veranstaltung‘. in der Gegend, die er il su per le montagne nannte, das Daoben. 44 Der italienische Teilsatz wird mit einem Adverb inhaltlich freier übersetzt. c) die nicht-sequentielle Übersetzung: In diesen Textbeispielen folgt die Fort‐ schreibung im Text nicht unmittelbar dem Ausgangstext, sondern wird erst nach mehreren Sätzen in den Text eingewoben, sodass die Leser*innen die entsprechende Übersetzung im Text finden müssen, wie im folgenden Beispiel, in dem ‚Che mi fai, ma che mi fai! ‘ mit ‚was tust du mir da an, du! übertragen wird: Che mi fai, ma che mi fai! , hatte der Bombolo immer wieder in den Regen und den Wind und den Po gerufen, in das Morgengrauen, den Mittag und die Dämmerung, was tust du mir da an, du! , seinetwegen konnte sich der Po das ganze Land holen, gerne, aber seine chiatta nicht. 45 d) die Nicht-Übersetzung: In Textbeispielen dieser Art bleiben vereinzelte Wörter unübersetzt. Dies geschieht an Textstellen, in denen eine Überset‐ zung für das Textverständnis nicht unbedingt notwendig ist, da die Wörter den Lesenden entweder bekannt sind oder sich deren Bedeutung aus dem Kontext erschließt, so in den folgenden Beispielen: 120 Barbara Siller <?page no="121"?> 46 Lanthaler (2007: 65). 47 Lanthaler (2007: 14). 48 Dass die Übersetzung von Sprichwörtern im Allgemeinen eine Reihe interessanter Fragen aufwirft, immer nur jenseits einer ‚literal translation‘ funktionieren kann und viel Kontextualisierung verlangt, hat Kwame Anthony Appiah in seinem Beitrag ,Thick Translation‘ gezeigt, in dem er auf Sprichwörter der Twi/ Akan Sprache in Ghana eingeht: „To use a proverb as such is […] to imply that, starting with the literal meaning […] and building on mutually known fact (some of it, perhaps, extremely context-bound) […].“ Appiah, Kwame Anthony (2004): Thick Translation. In: The Translation Studies Reader. Venuti, Lawrence (Hrsg.). New York/ London: Routledge, 389-401, 396. 49 Lanthaler (2007: 94). 50 Lanthaler (2007: 138). 51 Lanthaler (2007: 66). 52 Lanthaler (2007: 139). Du hilfst den signori, sagte er. Wir haben zu tun. 46 Bestelle einen caffè, ristretto, mi raccomando, bitteschön, und überlege, wie ich weiterkommen würde. 47 e) die Fortsetzung von Sprachvarietäten: In diesen Textbeispielen werden Sprichwörter in ihren regionalen Sprachen wiedergegeben und - meist mit umgangssprachlichen/ mündlichen/ saloppen (Verkürzung von ‚habe‘ zu ‚hab‘, ‚absaufen‘) oder vulgären Ausdrucksweisen (‚Arsch‘, ‚draufscheißen‘) - ins Deutsche übertragen 48 : Es verschlingt dieser Deltanebel alles und jeden. A gh’era tant d’c’la nebia ch’ho supià al nas a n’áltar, da war so viel von diesem Nebel, daß ich einem anderen die Nase geputzt hab. 49 - Chisto è ‘o munno: chi naviga e chi va ‘nfunno, sagte ich. Habe ich mir aus Napule mitgebracht, zusammen mit dem babà. So ist die Welt: Der eine schwimmt, der andere säuft ab. 50 Hört mal, sagte der schnauzbärtige Diesc’e’mes, wie sagt man? A chi nasse desfortunà, ghe piove sul culo stando sentà. Begriffen? Wer vom Unglück verfolgt zu Welt kommt, dem regnet’s selbst dann noch auf den Arsch, wenn er sitzt. 51 La liggi è uguali ppi‘ tutti, cu‘ avi rinari si ‘nni futti. Das Gesetz ist für alle gleich. Und wer Geld hat, scheißt drauf. 52 Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 121 <?page no="122"?> 53 Lanthaler (2007: 159). 54 Lanthaler (2007: 160). f) die Fortsetzungen im Paratext: Eine weitere Strategie dieser Fortsetzungen bilden längere Gedichte, Abzählreime oder Zitate aus Sekundärtexten (z. B. aus Torquato Tassos La Gerusalemme Liberata oder das Lied ‚Bombolo‘ von Vittorio Mascheroni, von dem die Figur Bombolo ihren Namen erhält), die im Fließext unübersetzt bleiben, deren Übersetzung dann im Glossar im Anhang erfolgt. Beispiele dafür sind auf den Seiten 5, 61, 111 und 114 zu finden. Im letzten Kapitel des Romans tritt zudem ein chinesischer Koch als Protago‐ nist auf, wodurch zusätzlich Sätze auf Chinesisch in den Text eingewoben werden; auch diese werden zum Großteil ins Deutsche fortgesetzt. Die Fortset‐ zungen lassen immer wieder humorvolle Textsituationen entstehen, wie auch vorhergehende Beispiele zeigen, wenn beispielsweise der Ich-Erzähler mit den Leser*innen seine sprachliche Unkenntnis teilt und der Protagonist darauf mit ‚das nichts machen‘ reagiert: - Wăn ān, sagt er. Xiànzài jĭ diăn? - Tut mir leid, sage ich, ich verstehe Sie nicht. - Das nichts machen, sagt er. Guten Abend. Wie spät ist es? - Fünf vor fünf, sage ich. - Chā wŭ fēn wŭ diăn, sagt er, wirklich? Dann ist in China in fünf Minuten Silvester, bàn yè, dann ist dort der achtzehnte Februar. Und es beginnt das Goldene Jahr des Schweines. 53 Der Roman endet außerdem auf Chinesisch: „Shuĭluò-shíchū“. Die Übersetzung dieses Sprichwortes wird im vorhergehenden Satz geboten, „Das Wasser fällt, die Steine kommen zum Vorschein“ 54 , der auf die illegale Arbeitssituation der chinesischen Arbeiter*innen in Italien verweist, die der chinesiche Protagonist offenlegt. Die mannigfaltigen Strategien dieser Fortschreibung tragen zur vielfältigen Sprachlichkeit und zur Vielstimmigkeit des Romans bei: Die Sprachen sind ein zentrales Antriebselelement und die Fortschreibungen ein strukturelles Element des Textgewebes: Der Text entfaltet sich entlang der Sprachen und Sprachebenen und der Spannungsmomente, die dadurch entstehen. Das Zu‐ sammenspiel zwischen Ausgangstext und Fortschreibung wird zum Auslöser humorvoller, ironischer und komischer Effekte; dies vor allem dadurch, dass unterschiedliche Sprachregister eingesetzt werden, die die standardsprachliche 122 Barbara Siller <?page no="123"?> 55 Bakhtin (1981: hier besonders 269 ̶ 275): Bakhtin unterscheidet zwischen Zentripetal- und Zentrifugalkräften, die sich in der sprachlichen Form des Romans äußern. Zentri‐ petale Kräfte stehen im Kontext von ‚centralisation‘ und ‚unification‘, also im Zeichen einer ‚unitary language‘ und einer Vereinheitlichung der ‚verbal-ideological world‘, zentrifugale hingegen im Kontext von ‚stratification‘ und ‚heteroglossia‘. 56 Bakhtin (1981: 48). Hervorhebung im Original. 57 Bakhtin (1981: 47). Hervorhebung im Original. 58 Lanthaler (2002). Napule. Innsbruck: Haymon Verlag. Der Autor verwendet auch in all seinen Tschonnie-Tschenett-Romanen ausführliche Glossare. In Grobes Foul (Haymon Verlag, Innsbruck 1993) findet sich im Glossar neben dem Text auch eine Abbildung eines Plans der Festungsanlage Franzensfeste aus dem Jahre 1833. In Das Delta verzichtet der Autor auf ein Glossar. Ebene durchbrechen und ‚zentrifugal‘ 55 wirken, so, beispielsweise, wenn vul‐ gärer und derber Jargon eingesetzt wird (z. B. die Wörter ‚Arsch‘, ‚scheißen‘, ‚ab‐ säufen‘). Mit Bakhtin lässt sich die Sprache des Romans Das Delta als ein „cong‐ lomeration of heterogeneous linguistic and stylistic forms“ 56 , als ein „system of languages“ 57 beschreiben, in dem Sprachen einander durchqueren und dadurch Wechselwirkungen auslösen. Dadurch hat der Text immer auch dialogischen Charakter: auf jeder Seite des Buches kommunizieren die Sprachen miteinander und Grenzen zwischen Sprachen werden grundsätzlich durchschritten, aber auf eine Weise, die dem Dialog immer förderlich ist und ihn fortführt. Denkt man an die Rezeptionsebene, stellt sich die Frage, wie Lesende mit einem derartig vielstimmigen Text umgehen. Diese Frage stellt sich besonders dann, wenn ihnen Textstellen begegnen, die sie rein sprachlich nicht verstehen. 5. Die Rezeption eines vielstimmigenTextes Zurückkehrend zum anfangs zitierten Zitat des Autors aus den Corker Poe‐ tikgesprächen und wie die hier genannten Textbeispiele verdeutlicht haben, nimmt der Autor bzw. der Text den Lesenden an die Hand, macht ‚due passi a braccetto‘ mit ihm, indem er Übersetzungen / Fortschreibungen anbietet, die ein grundsätzliches Verständnis des Textes durchwegs gewährleisten. In anderen Roman Lanthalers erfolgen manche Fortschreibungen auch in ausführlichen Glossaren am Ende des Buches, so z. B. im Roman Napule, wo der Romantext selbst aus 173 Seiten besteht, während das Glossar 46 Seiten ausmacht. 58 Daneben bleibt dem Lesenden, falls er sprachlich dazu in der Lage ist, auch die Freiheit, die jeweiligen Textstellen selbst fortzuschreiben und zu übersetzen, bzw. die Fortschreibungen genauer mit den Ausgangssätzen zu vergleichen sowie Gefallen an den Übersetzungen / sprachlichen Fortschreibungsspielen zu finden und in den Genuss des durch die Übersetzungsebene entstehenden Hu‐ Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 123 <?page no="124"?> 59 „Readers -both monoand bilingual- are given unique power in these texts: power that supersedes the normal amount of agency a reader has in terms of textual meaning.“ Womble, Todd (2017). Non-Translation, Code-Switching, and the Reader-as-Transla‐ tors. Clina: 1-3, 57-76, hier 71. 60 Womble (2017: 57). 61 Womble (2012: 58). 62 Womble (2017: 67): „To a certain degree, this type of non-translation fosters a reading experience of exclusion ‒ similar to the exclusion felt by monolingual Spanish speakers confronted with English language texts. This is at the heart of what Diaz says above in terms of his linguistic ‚revenge‘, and the narrative choice to code-switch in this way is a direct catalyst for this thematic emphasis.“ mors zu kommen. Monolinguale Leser*innen haben die Möglichkeit, mit Hilfe eines Wörterbuchs zu übersetzen bzw. nicht zu übersetzen und zu überspringen und dennoch den Inhalt im Wesentlichen zu verstehen. Demnach gestehen Texte mit intensivierter Sprachigkeit und Vielstimmigkeit den Lesenden eine größere Handlungsmöglichkeit („agency“ 59 ) zu. Todd Womble spricht im Kontext von ‚Non-translation und Code-switching‘ vom Lesenden, der eine Reihe an Lese‐ möglichkeiten hat und zum Übersetzenden wird: […] the normative experience of reading is contrasted with the multitude of potential experiences that code-switching literary texts can trigger in monolingual and bilingual readers. 60 On the other hand, the unmarked, untranslated portions of these narratives afford a peculiar role for the reader: he or she becomes the translator. Various scholars have pointed out the inherent power -and inevitable conflict- that comes with the act of translation, and the reader-as-translator has access to forms of narrative power that other texts simply do not offer. 61 Womble bezieht sich dabei auf Beispiele der lateinamerikanischen Literatur, nämlich auf Texte von Helena Maria Viramontes, Cormac McCarthy und Junot Diaz, in denen sich die Autor*innen ganz bewusst dafür entscheiden, spanische Textausschnitte, besonders in Dialogen, unübersetzt und unmarkiert zu lassen, und dabei Ausschlusserfahrungen abbilden, mit denen sie in ihrer Lebensum‐ gebung konfrontiert sind. Diese Strategie bezeichnet Womble als „linguistic revenge“ 62 , die auf monolinguale englischsprachige Leser*innen abzielt. Anders als in den literarischen Beispielen aus Lateinamerika, die Womble bespricht, eröffnet der Roman Das Delta eine Vielheit an Leseerfahrungen, ohne dabei irgendeinen der Lesenden auszuschließen, denn es ist anzunehmen, dass auch Lesende ohne Italienischkenntnisse dem Text mit Genuss folgen können, zumal sie sprachlich an die Hand genommen werden, indem ihnen Überset‐ 124 Barbara Siller <?page no="125"?> 63 Dieser Beitrag verwendet den Begriff ‚einschließendes Code-switching‘ für textuelles Code-switching, in dem nicht vorausgesetzt wird, dass die Leser*innen alle darin ver‐ wendeten Sprachen verstehen, sondern ihnen durch Übersetzungsverfahren Verständ‐ nishilfen geboten werden, die es ermöglichen, den Text auch dann zu verstehen, wenn nicht alle Sprachen verstanden werden, die im Text Verwendung finden. Der Begriff ‚Code-switching‘ ‒ ohne diese attributive Ergänzung ̶ setzt nämlich voraus, dass eine Gesprächssituation besteht, in der die Sprecher*innen beide Sprachen verstehen; ist dies nicht der Fall, sind sie vom Gespräch teilweise ausgeschlossen (Vgl. Gardner-Chloros, Penelope 2009. Code-Switching. Cambridge: University Press, 4). 64 Stefano Zangrando (2014, zit. nach Liberto) definiert seine Übersetzung des Textes als das Produkt der Arbeit eines Schriftstellers: „Non è una tradizione editoriale, ma autoriale.” [Es handelt sich nicht um eine publikationsorientierte Übersetzung, sondern um eine auktoriale.“] 65 Benjamin, Walter (1977). Die Aufgabe des Übersetzers. In: Benjamin, Walter. Illumina‐ tionen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 50-62, hier 51: „So wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne ihm etwas zu bedeuten, geht die Übersetzung aus dem Original hervor. Zwar nicht aus seinem Leben so sehr denn aus seinem ‚Überleben‘. Ist doch die Übersetzung später als das Original und bezeichnet sich doch bei den bedeutenden Werken, die da ihre zungen geboten werden und somit ein ‚einschließendes Code-switching‘ 63 passiert, während plurilingualen Lesenden ein erweitertes Lesepotenzial zur Verfügung steht. 6. Delta 2 - Übersetzung als explizite Fortsetzung und der begrenzte ‚Verlust‘ durch das Prinzip der Fortschreibung Wie lässt sich nun ein solch mehrstimmiger Roman in eine andere Sprache, und noch komplexer, in die italienische Sprache übersetzen? Letzteres ist vor allem deshalb schwierig, weil die standardsprachlichen italienischen Roman‐ teile in der vorliegenden italienischen Übersetzung italienisch bleiben und damit bestimmte Aspekte dieses besonderen sprachlichen Experiments aufgehoben werden. Der Autor und Übersetzer Stefano Zangrando, der den Literaturraum Süd‐ tirol und darüber hinaus die deutsch- und italienischsprachige Kultur- und Literaturwelt sehr gut kennt, hat diesen Übersetzungsversuch gewagt. Welchen Herausforderungen er bei der Übersetzung dieses in sich schon mehrsprach‐ lichen Textes begegnet ist, hat er in einem seiner Beiträge erörtert, in dem er anhand von konkreten Beispielen seine Entscheidungen darstellt und von einem „plurilingualismo all’ altro“ (Zangrando 2017) spricht. Er versteht seine Übersetzung auch als Schaffung eines Neuwerkes. 64 Liest man die Übersetzung eines Werkes als eine sprachliche Fortschreibung bzw. Fortsetzung, auch im Sinne eines Fortlebens oder Überlebens 65 , wie es Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 125 <?page no="126"?> erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entstehung finden, das Stadium ihres Fortlebens.“ 66 Zit. nach Stefano Zangrando (2012): La poesia plurale del delta. Sulla traduzione di un romanzo italo-tedesco. [Die plurale Poesie des Deltas. Zur Übersetzung eines italienisch-deutschen Romans.] In: Ender, Markus/ Fürhapter, Ingrid/ Kathan, Iris/ Leitn er, Ulrich/ Siller, Barbara (Hrsg.) Landschaftslektüren. Lesarten des Raums von Tirol bis in die Poebene. Bielefeld: transcript, 106-118, hier 111. 67 Vgl. den Titel von Zangrandos Beitrag 2012. 68 Vgl. auch den Begriff „Ausgangston“. Lanthaler. In Siller (2023: 75). 69 Lanthaler. In: Siller (2023: 85). Walter Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers darstellt, lässt sich auch nach‐ vollziehen, warum Lanthaler die Übersetzung als Delta 2 bezeichnet und noch mehr, sogar davon spricht, dass das Buch in der Übersetzung „nach Hause zurückgekehrt / tornato a casa“ sei. 66 Delta 2, die Zahl hinter dem Titel verweist auf die Fortsetzung, während das „tornare a casa“ auf die Kreisbewegung hindeutet, wonach sich der Text im Das Delta von zu Hause wegbewegt habe und dann in der Übersetzung heimgekehrt sei. Auch die Wortverwendung ‚Haus‘ / ‚casa‘ ist interessant, zumal sie vermittelt, dass der Roman in der mehrsprachig italienischen Form angesiedelt sei. Auch die Wortreihenfolge in der Bezeichnung des Romans als „romanzo italo-tedesco“ 67 durch den Übersetzer Stefano Zangrando suggeriert diesen Gedanken, denn das Attribut ‚tedesco‘ kommt an zweiter Stelle. In dieser Autor-Übersetzer-Diskussion wird also vorerst noch an den Begrifflichkeiten ‚Ausgangsort des Textes‘ und ‚Ausgangs‐ text‘ festgehalten 68 . Andernorts ist diese Begriffsdifferenzierung weniger klar: Beispielsweise, wenn der Autor von einer „contaminatio“ spricht, sowohl in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Sprachen eines Textes, als auch in Bezug auf Prozesse der Fortschreibung von Genres, indem zum Beispiel aus einem längerem Gedicht ein kürzeres weiter „wandert“ oder aus einem längeren (und mehr-sprachigen) Gedicht […] zum Zwecke einer Einzelpublikation wie Weiterschreibung als dritte eine vierte Strophe eingefügt wird. Erkennbar abgesetzt. Durch Einrückung und Kursivierung. Soweit unaufregend. Aber: Die dritte Strophe entstammt ungekürzt/ unverändert einem Roman. Sie wurde nur neu umgebrochen. So einfach sieht man, geht, unter Umständen, contaminatio. (Und soviel Sinn und surplus ergibt sie.) (Und so einfach macht es sich der Schriftsteller.) 69 In diesem Falle ist also der Begriff ‚Ausgangstext‘ nur bedingt produktiv, zumal sich nicht mehr so einfach sagen lässt, bei welchem Text es sich um keinen Ausgangstext handelt. 126 Barbara Siller <?page no="127"?> 70 „Nota del traduttore. […] questo Delta è in parte nuovo, diverso, a sua volta ‘originale’ rispetto al precedente.“ [Anmerkung des Übersetzers: […] dieses Delta ist zum Teil neu, anders, auf seine Art ‚original‘ im Vergleich zum vorhergehenden Buch.] Lanthaler, Kurt (2015). Il delta. Traduzione dal tedesco di Stefano Zangrando. Meran/ Merano: edizioni Alpha Beta Verlag, 6. 71 Zangrando (2012: 109). 72 Zangrando (2012: 111): „Ebbene, fin dall’inizio era evidente che questo elemento di estraniazione e recupero sarebbe andato perduto in traduzione. O meglio, sarebbe stato ridotto, conservando, dal punto di vista idiomatico, solamente lo scarto fra la lingua del narratore - non importa se declinata in forme più o meno colloquiali o letterarie - e quella dialettale delle espressioni regionali, dei motti e dei proverbi.“ [Nun, von Beginn an war es offensichtlich, dass dieser Effekt der Verfremdung und Einholung in der Übersetzung verloren gehen würde. Besser gesagt, er würde reduziert werden: Bewahrt hätte man lediglich den Unterschied zwischen der Sprache des Erzählers - egal ob in Formen des mehr oder weniger Kolloquialen oder Literarischen - und jener dialektalen der regionalen Ausdrücke, der Mottos und der Sprichwörter.] Die Fortschreibung ist dem Autor zufolge also auch im Sinne einer Wan‐ derbewegung zu verstehen, im Sinne von sprachlichen und genrebasierten Grenzenüberschreitungen. Ein ähnliches Begriffsverständnis hat auch der Übersetzer, wenn er in der dem übersetzten Roman Il delta vorausgestellten Notiz von einem neuen, anderen Text spricht, der auf seine eigene Weise ein Original darstellt 70 , die auf kreative Weise die Vielstimmigkeit des Textes fortschreibt. Für Zangrando ist Lanthalers Text ein Roman von großer linguistischer, politischer und territorialer Aktua‐ lität, der von einem „specifico plurilinguismo“ gekennzeichnet ist. 71 Durch die Übersetzung ins Italienische geht für ihn ein Teil dieser Sprachigkeit verloren, wird reduziert, wie Zangrando es auch ausdrückt. Er spricht auch von einem Verlust eines Elements der Entfremdung und Wiederherstellung 72 , die sich aus dem Verlust der deutschsprachigen Erzählstimme ergibt. Ein derartiger Verlust der intensivierten Sprachigkeit, wenn der Ausdruck ‚Verlust‘ dafür überhaupt geeignet ist, ist beispielsweise an Textstellen zu verzeichnen, in denen im Ausgangstext vereinzelt italienische Wörter (Beispiel a) oder kurze Sätze im Standard (b) eingestreut sind, die im Zieltext keiner Übersetzung bedürfen. Dasselbe gilt für manche Sätze in einer italienischen Varietät (c), bei denen der Übersetzer die Entscheidung getroffen hat, sie nicht in den Standard zu übersetzen. Diese Strategie könnte aber auch eine Strategie der Kompensation bedeuten, zumal nicht alle italienischsprachigen Leser*innen die Sätze in der Varietät vollständig verstehen: Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 127 <?page no="128"?> 73 Lanthaler (2007: 120). 74 Zangrando (2015: 122). 75 Lanthaler (2007: 73). 76 Zangrando (2015: 73). 77 Lanthaler (2007: 138). 78 Zangrando (2015: 140). 79 Zangrando (2015) nennt in seiner ‚Nota del traduttore‘ den wertvollen Beitrag, den der Autor bei der Übersetzung geliefert hat: „Questo testo, portato a compimento con il prezioso contributo dell’autore […]“. [Dieser Text wurde mit dem wertvollen Beitrag des Autors vollendet.] 80 Lanthaler (2007: 9). 81 Zangrando (2015: 9). 82 Lanthaler (2007: 92). 83 Zangrando (2015: 93). a) Wieso nicht, caro Conte? , sagte ich. 73 Perché no, caro conte? , dissi. 74 b) Lasciate fare a me, laßt mich nur machen. 75 Lasciate fare a me. 76 c) - Calati juncu ca passa la china, sagte er und lachte. Bieg dich, Schilf, die Flut zieht vorüber. 77 - Calati juncu ca passa la china, disse lui ridendo. 78 An anderen Stellen ist von einer Strategie der Übersetzung als expliziter Fortset‐ zung zu sprechen. Diese zeigt sich beispielsweise an den Überschriften, in denen im Ausgangstext die deutschsprachige und die italienischsprachige Version inhaltlich eine große Ähnlichkeit aufweisen; in diesem Fall hat der Übersetzer mit dem Autor neue Zweittitel verhandelt 79 , um die ‚Form der Doppelung‘ beizubehalten. Der zweite Teil des Titels, der ursprünglich deutschsprachige Teil, wird somit im Zieltext zu einer Ergänzung, die es im Ausgangstext nicht gibt, z. B.: d) D1: [2] [L’osteria | Die Kaschemme] 80 in Das Delta wird zu D2: [2] [L’osteria | Un rituale] 81 in Il delta D1: [26] [Dell’altro mare | Vom anderen Meer] 82 D2: [26] [Dell’altro mare | Della terraferma] 83 Diese Strategie der Übersetzung als explizite Fortsetzung spiegelt die Textstra‐ tegie des Autors in einer Anzahl von Titeln im Ausgangstext, in denen die deutschsprachige Übersetzung auch eine Fortschreibung darstellt, so z. B. im 128 Barbara Siller <?page no="129"?> 84 Lanthaler (2007: 7). 85 Lanthaler (2007: 10). 86 Zangrando (2015: 10). 87 Lanthaler (2007: 94). 88 Zangrando (2015: 95). 89 Zangrando (2012: 111). Titel des ersten Kapitels [1] [La piazza | Die Geschichten, die kleinen] 84 . Insofern ist der Ausdruck ‚Verlust‘ nur bedingt gültig, handelt es sich an mehreren Textstellen doch auch um einen Gewinn. An weiteren Textstellen lässt sich von einer Verschiebung der intensivierten Sprachigkeit sprechen, wenn italienische Sprachvarietäten in den italienischen Standard übersetzt werden, während sie im Ausgangstext in den deutschen Standard übersetzt werden: e) Che bon caffè ca fè. Was Ihr heut wieder für einen guten Caffè gemacht habt, Herr Wirt. 85 [C]he bon caffè ca fè. Che buon caffè avete fatto anche oggi, oste. 86 A gh’era tant d‘c’la nebia ch’ho supià al nas a [sic] n’áltar, da war so viel von diesem Nebel, daß ich einem anderen die Nase geputzt hab. 87 A gh’era tant d‘c’la nebia ch’ho supià al nas n’áltar, c’era tanto di quella nebbia che ho soffiato il naso a un altro. 88 Das Prinzip der Fortsetzung des vielstimmigen Textes zeigt sich im Il delta jedoch auch an anderen Aspekten: Beispielsweise verweisen paratextuelle Elemente wie der bilinguale Verlagstitel, die dem Roman vorangestellte Notiz des Übersetzers, sowie die Autorenbiographie auf der hinteren Seite des Covers mit Verweis auf ‚scrittore italiano di lingua tedesca - auf die zusätzliche Sprache im Original. Auch wird die Differenz (der Übersetzer spricht von „lo scarto“ 89 ) zwischen der Erzählstimme im italienischen Standard und der Vielstimmigkeit durch die italienischen Sprachvarietäten, die auch unterschiedliche Stilebenen umfasst, in Zangrandos Roman fortgesetzt. Dagegen entfallen die von Lanthaler am Ende des Romans angehängten Übersetzungen des Abzählreims aus dem Delta, der Lieder (Bombolo und Giovinezza) und der Textstelle aus Torquato Tasso. 7. Das Delta und Il delta - Randpositionen innerhalb der Gegenwartsliteratur Der Roman Das Delta ist ein sprachliches Kunstwerk, das von der Sprachigkeit und Vielstimmigkeit lebt. Es lohnt sich daher, den Text zunächst losgelöst Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 129 <?page no="130"?> 90 Vgl Appiah (2004: 394): “These saying belong to a genre - what I have called the proverb, which in Two is called ébé (pl. mmé) - that is well-known to speakers of that language.” 91 Zangrando (2012: 107): „ai margini cioè non soltanto in senso geografico, poiché tutto è nato nel Grenzland ›euro-regionale‹“. [„das heißt, nicht nur im geographischen Sinn am Rande, da alles im euro-regionalen Grenzland entstanden ist.“] von seinen politisch-kulturellen Implikationen zu betrachten und dagegen die sprachlichen Strategien im Text genauer zu untersuchen, wohlwissend, dass man als Rezipierende nicht dort stehen bleiben darf. Von dieser Perspektive aus stellt man fest, dass der Text einer Dialogik folgt, die Sprachen (und hiermit sind alle Sprachen gemeint, auch diejenigen die gemeinhin als Dialekte, regionale Varietäten oder mündliche Sprachen bezeichnet und bewertet werden) grund‐ sätzlich miteinander in Beziehung setzt, Austausch- und Verhandlungsmomente in den Mittelpunkt stellt, Übersetzungen als Fortsetzungen begreift, und den Leser*innen, je nach sprachlichem Interesse und individueller Sprachbiogra‐ phie, eine Reihe von Möglichkeiten eröffnet, mit dem Text umzugehen. Durch das Prinzip des ‚einschließenden Code-switching‘, das der Autor entwickelt, werden keine Leser*innen vom Text ausgeschlossen. Es war zu erwarten, dass viele Momente der Sprachigkeit in der italienischen Fortsetzung verloren gehen würden. Zwar sind im Il delta bestimmte Fortsetzungen aufgrund der italienischen Basissprache im Text abwesend, andererseits setzt Zangrando ganz bewusst textuelle und paratextuelle Elemente ein, die die Sprachigkeit und Vielstimmigkeit des Textes fortsetzen: Somit ist von Das Delta zu Il delta nur bedingt von einem Verlust der Sprachigkeit zu sprechen. Dass die intensivierte Sprachigkeit, Vielstimmigkeit und Dialogik im Text sowohl als Zeichen der Freude an sprachlichen Unterschieden und Feinheiten als auch als Zeichen der Toleranz für sprachlich-kulturelle Differenzen zu lesen ist, steht außer Zweifel: Der Roman ist als ein Text zu lesen, der ganz konkrete sprachpolitische und sprachkulturelle Implikationen hat: Die mehrsprachigen, translationalen und mehrkulturellen Textstrukturen erschaffen eine Welt, die außerhalb des Textes zumeist ignoriert und marginalisiert wird. Regionale Dialekte haben - nicht nur - im italienischen Sprachraum ein sehr geringes Prestige und finden nur in Randdomänen ihren Platz. Lanthaler greift durch die Sprichwörter ein ‚Genre‘ 90 auf, das auf Mündlichkeit und transgenerationeller Überlieferung basiert und historische und gegenwärtige Wertvorstellungen und Überzeugungen vermit‐ telt. Der Übersetzer Stefano Zangrando verbindet den Roman auch ganz explizit mit dem Euregio-Raum (Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino) 91 und plädiert in seiner Vermittlerposition zwischen dem deutsch-italienischen Sprachraum 130 Barbara Siller <?page no="131"?> 92 Vgl. Zangrando (2021): Per una letteratura transfrontaliera e plurilingue. Note intorno a un dibattito troppo locale. [Für eine grenzüberschreitende und plurilinguale Literatur. Anmerkungen zu einer allzu lokal geführten Diskussion.] Abrufbar unter: https: / / www. ildolomiti.it/ blog/ il-lanternino/ per-una-letteratura-transfrontaliera-e-plurilingue-note -intorno-a-un-dibattito-troppo-locale [Stand: 27.04.2023]. 93 Zangrando (2012: 112). [Aber dieselben paratextuellen Elemente sind jenseits des literarischen Ausdruck eines kulturellen und politischen Projektes, nämlich jenes, der italienischsprachigen Leserschaft, in Südtirol und darüber hinaus, einen Roman anzubieten, der eine freudvolle Behauptung der Entgrenzung und der interkulturellen Kontamination darstellt.] 94 Als Beispiel sei hier die Abgrenzung von Damroschs Begriff durch Francesca Orsini erwähnt: Gemeinsam mit ihrem Team der SOAS University of London verfolgt sie mit ihrem ERC-Projekt ‚Multilingual Locals and Significant Geographies: For a New Approach to World Literature‘ das Ziel, im Rahmen eines ERC-Projekts das Konzept Weltliteratur weiterzuentwickeln, indem sie einen anderen Fokus setzt: „Multilingual Locals and Significant Geographies (MULOSIGE) will aim to counter the identification of world literature with English by highlighting the multilingualism and the many factors that contribute to regional and transnational literary fields. Instead of imitation and diffusion, the project will seek to illuminate the dynamics of appropriation and creativity.” Abrufbar unter: About - Mulosige (soas.ac.uk) [Stand: 09.05.2023]. 95 Damrosch, David (2003). What is World Literature? Princeton: University Press, 5: Der Aspekt ,mode of circulation’ ist ein Aspekt neben anderen Aspekten, die Damrosch in seinem Buch, das er in die Bereiche ,Circulation’, ,Translation’ und ,Production’ einteilt, anführt: „My claim is that world literature is not an infinite, ungraspable canon of works but rather a mode of circulation and of reading, a mode that is as applicable to individual works as to bodies of material, available for reading established classics and new discoveries alike.” 96 Döring (2007: 108) argumentiert sogar noch starker in die Übersetzungsrichtung: „On the level of linguistic practice, therefore, world literature is realized only by and in translation.“ für eine „letteratura transfrontaliera e plurilingue“ 92 . Deshalb versteht er seine Übersetzung zu Recht nicht nur als ein Angebot an die italienischsprachigen Leser*innen, sondern auch als ein „kulturelles und politisches Projekt“: Ma questi stessi elementi paratestuali intendono esprimere un progetto culturale e politico oltre che letterario, quello appunto di offrire al pubblico italofono, altoatesino e non, un romanzo che è già di per sé una gioiosa affermazione dello sconfinamento e della contaminazione interculturale. 93 Mit Bezug auf Damroschs nicht unumstrittener Definition von Weltliteratur 94 , derzufolge der Begriff jene Literatur umfasse, die sich über ihre Ausgangskultur hinaus entwickle, sei es im Original selbst oder durch Übersetzung 95 , lassen sich sowohl Das Delta als auch Il delta dieser Kategorie zuordnen. In beiden Romanen nehmen Übersetzungs-, Fortsetzungs- und Verhandlungsprozesse eine zentrale Bedeutung ein 96 und beide Texte schlagen transkulturelle und mehrkulturelle Intensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta 131 <?page no="132"?> 97 Vgl. Zangrando (2012: 107 und 117). 98 Vgl. Orsini, Francesca (2021). Beitragstitel: World literature and minorisation. Tagung: World Literature and the Minor: Figuration, Circulation and Translation, KU Leuven. Abrufbar unter: www.arts.kuleuven.be/ world-literature-and-the-minor-figuration-circ ulation-translation/ programme [Stand: 06.11.2023]. Wege ein. Wirft man den Blick allerdings auf den Literaturbetrieb und den Literaturmarkt, wird man rasch von der Realität eingeholt und muss feststellen, dass Texte wie jene von Kurt Lanthaler und Stefano Zangrando dort eine Randposition 97 einnehmen und zu den ‚minorised literatures‘ 98 zählen. 132 Barbara Siller <?page no="133"?> „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung Brigitte Rath Abstract: In vier Analysen von Gedichten aus Uljana Wolfs Gedichtsamm‐ lungen falsche freunde (2009) und meine schönste lengevitch (2013) zeige ich, wie Wolfs Poetik der Beziehung kategoriale Grenzen zwischen Sprachen, zwischen Gattungen, von Texten und zwischen Fiktion und Realität durch dichte Verbindungen in Frage stellt. Mit „dust bunnies“ wird lesbar, wie Sprache im lauschenden Austausch „meine und deine“ wird. „rede mit langen leinen“ zettelt als Prosagedicht auch ohne Zeilenumbruch die charakteristi‐ sche Wendung des Blicks durch andere „revolten“ an und entpuppt sich so als Verstext. „art—apart“ performiert, dass kein Textbeginn ex nihilo sein kann, und dennoch jeder Anfang aus dem Rahmen der Erwartungen fällt. Im siebten Set aus „subsisters“, das einer „Originalversion“ ihr „Original mit Un‐ tertitel“ gegenüberstellt, laden die die Texte generierenden Verschiebungen Leser: innen dazu ein, sich probeweise zum „ich“ des Textes in Beziehung zu setzen. So, argumentiert „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“, wird die kraftvolle Relevanz dieser Poetik der Beziehung spürbar. Keywords: Poetik der Beziehung, nicht-Einsprachigkeit, Prosagedicht, Sub‐ jektbildung, Textbegriff <?page no="134"?> 1 Wolf, Uljana (2014). „Rede, seltsam angezettelt“, Rede zur Absolvent_innenfeier der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin am 16. Juli 2014 im Audimax. Abrufbar unter: https: / / docplayer.org/ 24188265-Rede-seltsam-angezettelt.ht ml (Stand: 26.04.2023). 2 Rüdenauer, Ulrich (2016). Zwischen den Orten, zwischen den Sprachen zu Hause. Ein Porträt der Dichterin Uljana Wolf. Chamisso. Viele Kulturen - Eine Sprache 14, 4-9. 3 Patrut, Iulia-Karin/ Bauer, Matthias (2017). Facetten des Vielfältigen in der Lyrik. Interferenz und interkulturelle Literatur. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8: 2, 53-72, hier 62. 4 Graf, Daniel (2014). (WI)ESELKUNDE. Lyrische Übersetzungsreflexion bei Ulf Stolter‐ foht und Uljana Wolf. Sprache im technischen Zeitalter 212, 414-426, hier 425. 5 Vgl. u. a. Heidi Hart, die von einem „continuous contesting of language-borders“ spricht. Hart, Heidi (2017). Gaps and Tatters. The Poetry of Uljana Wolf. Music & Literature. Abrufbar unter: http: / / www.musicandliterature.org/ features/ 2017/ 2/ 28/ gap s-and-tatters-the-poetry-of-uljana-wolf (Stand: 18.04.2023). Vermutlich auf Deutsch, weil das verständig, wenn auch nicht selbstverständlich ist. 1 Uljana Wolf, die neben vielen anderen hochkarätigen Auszeichnungen 2016 den Chamisso-Preis erhielt, wird für ihre Gedichtbände kochanie ich habe brot gekauft (2005), falsche freunde (2009), sonne from ort (2012, mit Chris‐ tian Hawkey) und meine schönste lengevitch (2013) als Poetin „zwischen den Sprachen“ 2 gefeiert, die „borderscapes“ 3 in ihren Texten erkundet. In seiner aufmerksamen Lektüre von meine schönste lengevitch sieht Daniel Graf in Uljana Wolfs Gedichten eine „Ethik der Begegnung“ am Werk, in der Mehrstimmigkeit als Pluralismus, Mehrsprachigkeit als transkulturelle so‐ ziale Praxis politisch aufgeladen wird. Erst von hier aus eröffnet sich Uljana Wolfs Begriff der (Sprach-)Grenze mit seinem Gespür für den gewaltigen Unter‐ schied zwischen „borders“ und „boundaries“ (Richard Sennett), zwischen Begeg‐ nungsort und Grenzzaun. Das Leichte, Verspielte, Übermütige von Uljana Wolfs Gedichten und die Erkundungsgänge im mehrsprachigen Grenzgebiet sind Teil dieses Über-Grenzen-(hinweg-)Sprechens. Elementare lengevitch skills. 4 Grafs sensibler und präziser Essay zeichnet die Beweglichkeit der Lyrik Uljana Wolfs in ihrem ethischen und politischen Impuls nach. Das Spannungsfeld von Mehrsprachigkeit und Grenze, das hier differenziert aufgespannt wird, charakterisiert die Diskussion zu mehrsprachiger Literatur, deren Stärke im Überschreiten oder Subvertieren bestehender Grenzen ausgemacht wird. 5 Damit allerdings, so scheint mir, werden eben jene Grenzen zunächst erneut affirmiert und mehrsprachige Texte wie selbstverständlich in Grenzgebieten verortet. Daniel Grafs Formulierung der „Ethik der Begegnung“ bietet einen Impuls, der 134 Brigitte Rath <?page no="135"?> 6 Damit greift „Beziehungen“ sowohl Daniel Grafs schöne Metapher der Begegnung wie Yoko Tawadas Charakterisierung Uljana Wolfs als „Meisterin der Ähnlichkeit“ (Lau‐ datio zum Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2015) auf und verbindet sie. Uljana Wolfs eigene poetologische Texte finden sich gesammelt in: Wolf, Uljana (2021). Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Berlin: kookbooks; eine Argumentation für Interpretationen entlang heterarchischer Beziehungsnetze entwickle ich ausgehend von Uljana Wolfs und Christian Hawkeys Erasure Projekt sonne from ort: Rath, Brigitte (2021). Exceedingly Non-Monolingual: Associating with Uljana Wolf and Christian Hawkey’s sonne from ort. SubStance 50: 1, 76-94. das Denken über mehrsprachige Literatur aus dieser Oszillation von Grenze und Überschreitung löst, denn eine Begegnung setzt weder Grenzen voraus, noch ist sie notwendig randständig. In der Begegnung selbst entsteht vielmehr, was für diese Begegnung relevant und zentral ist: Mehrsprachigkeit, so zeigen Uljana Wolfs Gedichte, lässt sich jenseits einer Logik der Grenzziehung denken und wird so nicht nur in Grenzgebieten, sondern in jeder Situation relevant. Uljana Wolfs Gedichte lassen sich als Begegnungen lesen: ausgehend von, aber nie gefangen in gängigen Wort- und Gedankenverbindungen stellt ihr kreativer Assoziationsreichtum eine Fülle von Beziehungen her, quer zu kate‐ gorischen Unterscheidungen etwa zwischen dieser Sprache und jener, zwischen Prosa und Dichtung, Realität und Fiktion. Entkoppelt von Gewohnheitsverbin‐ dungen und definierenden Unterscheidungen entwickeln Uljana Wolfs Texte eine Poetik, die Spezifität, Präzision und Relevanz durch In-Beziehung-Setzen erzeugt und dabei dichte, heterogene Beziehungsnetze entwickelt, die Figuren und Personen, Worte, Bedeutungen und Materialien über Begegnungen, Ähn‐ lichkeiten, Nachbarschaften verbinden. 6 Uljana Wolfs Poetik der Beziehung beschäftigt sich mit Fragen, die in einer Situation relevant werden und bearbeitet sie in dieser Situation. Diese Poetik nutzt die Impulse und Bezugspunkte der Situation in ihrem gesamten Spektrum und gestaltet sie mit, indem sie durch Bezugnahmen andere Impulse in die Situation einträgt, und mit neuen Verbin‐ dungen auch neue Bedeutungen schafft. Das sollen die folgenden vier Analysen zeigen: „dust bunnies“ testet die Grenzen zwischen Sprachen, „rede mit langen leinen“ die Gattungsgrenze zwischen Prosa und Gedicht, „art—apart“ in der Frage nach dem Anfang die Grenzen eines Textes, und die Transformationen von „subsisters“ mit ihrem pronominalen Spiel die Grenze zwischen Figuren, ihren Schauspieler: innen und Rezipient: innen. Die volle Kraft dieser Poetik der Beziehung zu erfahren erfordert, so will ich zeigen, selbst dazu in Beziehung zu treten. „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 135 <?page no="136"?> 7 Vgl. Walter Fabian Schmids Formulierung: „Mit falsche freunde legt die Lyrikerin […] einen durch und durch komponierten zweiten Band vor […].“ Schmid, Walter Fabian (2009). Bilinguale Kippfiguren. Uljana Wolf, falsche freunde. poetenladen.de. 7.11.2009. Abrufbar unter: http: / / www.poetenladen.de/ wf-schmid-uljana-wolf.htm (Stand: 18.04.2023). 8 Wolf, Uljana (2009). falsche freunde. Berlin: kookbooks, 5. 1. in deiner sprache und in meiner: Kippfigur, Fleck, Lauschen Das Prologgedicht „dust bunnies“ aus Uljana Wolfs zweitem, sorgfältig durch‐ komponierten 7 Band falsche freunde widmet sich programmatisch Mehrspra‐ chigkeit in und als Beziehungen. Es erkundet aufmerksam einen Moment, in dem Mehrsprachigkeit in einer Beziehung zum Thema wird, und entwickelt im Sprechen einen Sprachgebrauch, der diesem Moment in seiner auch ethischen Komplexität gerecht wird. Meine Analyse folgt zwei darin spielerisch erprobten Metaphern für Mehrsprachigkeit, um zu zeigen, dass das Gedicht in seiner Konzentration auf die jeweilige Situation eine unbegriffliche Sprachtheorie entwirft, eine sich vollständig im Sprechen zeigende Haltung. dust bunnies wir wollten über kleine tiere sprechen, wollten auf die knie gehen für die kleinen tiere, jene aus staub und schlieren, in ritzen und dielen, jene, die in grauen fellen frieren, unsere tiere aus nichts. wir wollten auch ganz nah in deiner sprache und in meiner hauchen, sag mir liebes, hast du heute schon gesaugt. nein, wir wollten unsere tiere nicht erschrecken, klein wie flecken, sind das flecken, haben sie nicht puschelschwänze, lange löffel, oder lange schwänze, tuschelohren, wollten wir nicht weniger rauchen, weniger husten, weniger entweder oder sein. gestern war die zimmerecke einsam in ihrer knarzenden öde. heute ist sie hort, heute zärtlichen horden ein port, wir wollen also still sein, auf den knien lauschen: unsere kleinen tiere, wie sie ihre wollenen, mondgrauen namen tauschen. 8 Der Text evoziert ein wohlbekanntes Alltagsphänomen: Staub sammelt und ballt sich in Zimmerecken, unter Kommoden und an anderen geschützten Orten zu stetig wachsenden Agglomerationen, die stumm an Haushaltsaufgaben erinnern: „hast du heute schon gesaugt“. Das Gedicht beschäftigt sich mit einem Moment, in dem - im Gespräch über den gemeinsamen Umgang mit diesem Aspekt des Alltags - in den Fokus rückt, dass die zwei Sprachen, die in dieser Beziehung eine Rolle spielen - „deine Sprache und meine“ - und ihre Sprecher: innen ihre Umgebung verschieden benennen und auf je andere Weise konstruieren. Der Titel „dust bunnies“ verweist auf die englischsprachige Per‐ spektive, die in den Zimmerecken Staub-Kaninchen mit „puschelschwänze[n], 136 Brigitte Rath <?page no="137"?> langen löffel[n]“ sieht; ein deutschsprachiger Blickwinkel dagegen entdeckt - phonetisch im Text gestützt durch die wiederholten „wollten“, sowie im letzten Satz „wollen“ und „wollenen“ - Wollmäuse mit „lange[n] schwänze[n], tuschelohren“. So bildet sich aus „staub und schlieren“ eine Kaninchen-Maus, eine Kippfigur, die verschiedene Blicke als verschiedene Formen erkennen. „dust bunnies“ thematisiert das Bewusstwerden einer Wahrnehmungsdifferenz, die aus einer Sprachdifferenz entsteht. Die Herausforderung, der sich der Text stellt, liegt im Umgang mit dieser wahrgenommenen Differenz. Die sprachbasierten Wahrnehmungsdifferenzen werden im Text nicht als sich gegenseitig ausschließende Alternativen behandelt, sondern - programmatisch „weniger entweder oder“ - als Erweiterung des Bezugs zur Welt. Obwohl hier ein mehrsprachiges Gespräch in einem - mit Ausnahme des englischsprachigen Titels - durchgehend einsprachig-deutschsprachigen Text evoziert wird und so eine Hierarchie zwischen der Sprache, in der der Text spricht, und den Sprachen, über die er spricht, entstehen könnte, verdeckt dennoch nicht die eine Sprache die andere. Denn die anfängliche Formulierung „kleine tiere“, die den Text durchzieht und die Vorstellung beim Lesen prägt, benennt das Phänomen so, dass sich die mit „dust bunnies“ wie auch die mit „Wollmäusen“ verbun‐ denen Assoziationen anknüpfen und weiterspinnen lassen, etwa zu „kleine[n] tiere[n], die in grauen fellen frieren“. Kleine Tiere, vielleicht mit langen Löffeln, vielleicht mit langen Schwänzen: Die Unterscheidungen und damit auch ihre Differenzierungsmöglichkeiten stehen weiterhin zur Verfügung, aber ihre Ausschließlichkeit wird im Geltenlassen auch anderer Unterscheidungen, in der Erweiterung der Möglichkeiten der Weltwahrnehmung obsolet. Das Gedicht ermutigt so zu einem aufmerksamen Sprechen, das den Assoziationen und Konnotationen anderer Sprachen, anderer Unterscheidungsgewohnheiten Anschlussmöglichkeiten bietet. Der lexikalisch-grammatisch einsprachige Text des Gedichts öffnet einen gleichberechtigten Raum für die Assoziationen beider Partner: innen in der Beziehung, und erlaubt so einem „wir“, gemeinsam an einem Ort zuhause zu sein, auf den auf verschiedene Arten Bezug genommen wird. Mit der Kaninchen-Maus beschreibt das Gedicht einen Effekt des Wechsels zwischen einer Sprache und einer anderen und erprobt damit die Kippfigur als eine Metapher für Mehrsprachigkeit. Für eine Kippfigur gilt: Man sieht nicht beide Figuren gleichzeitig. Hat man aber einmal Kaninchen und Maus gesehen, bleibt die Alternative präsent und verändert die Wahrnehmung grundlegend: Man sieht dann nicht mehr ein Kaninchen, sondern etwas als Kaninchen, „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 137 <?page no="138"?> 9 Wittgenstein verwendet die Kippfigur - darunter einen Enten-Hasen - als ein zentrales Gedankenspiel für das Aspektsehen; seine Überlegungen dazu, die Sara Fortuna im Detail auffächert, können hier aber nur angespielt, nicht in ihrer Komplexität nutzbar gemacht werden. Fortuna, Sara (2012). Wittgensteins Philosophie des Kippbilds. As‐ pektwechsel, Ethik, Sprache. Übersetzt von Arnold A. Oberhammer. Wien, Berlin: Turia + Kant. 10 Vgl. Rath, Brigitte (2013). Unübersetzbares, schon übersetzt. Sprachliche Relativität und Pseudoübersetzungen. Dünne, Jörg/ Schäfer, Martin Jörg/ Suchet, Myriam/ Wilker, Jessica (Hrsg.). Les Intraduisibles/ Unübersetzbarkeiten. Paris: Éditions des archives contemporaines, 15-25, hier 20-25. weil man weiß, man könnte es auch als Maus sehen. 9 Wenn es aber weder Kaninchen noch Maus ist, was ist es dann, was man sieht? Eine so gestellte Frage beruht auf der Annahme, es gäbe eine neutrale Repräsentation, in der zu beschreiben wäre, was verschiedene Sprachen jeweils als etwas konzeptua‐ lisieren. In Benjamin Lee Whorfs Überlegungen zu linguistischer Relativität übernehmen Strichzeichnungen genau diese Funktion. 10 Damit jedoch sucht man eine Position auf einer anderen Ebene: „jenseits“ der Sprachen bei den Dingen selbst, in einer Wahrnehmung noch ohne Bedeutung oder in der Reflexion etwa über Sprache und Wahrnehmung. „dust bunnies“ will sich auf diesen Ebenenwechsel nicht einlassen und bietet mit den „kleinen tieren“ eine andere Lösung. Sie zwingt nicht dazu, von Kaninchen und Mäusen abzusehen, sondern vermeidet die trennende Ausdifferenzierung und funktioniert dennoch im Sprechen wie „Kaninchen“ und „Mäuse“ - und gleichermaßen für „Kanin‐ chen“ und „Mäuse“. Mehrsprachigkeit als prismatisches Sehen-als der Kippfigur Welt zu denken, so zeigt sich in der Auseinandersetzung mit diesem Gedicht, birgt weitreichende Implikationen: Der Fokus auf den Differenzen zwischen Sprachen, die zur Triangulation der Distanz zwischen Sprache und Welt von einem supponierten ‚neutralen‘ Beobachtungspunkt aus genutzt werden, stellt Distanz zum Sprechen her. „kleine tiere in grauen fellen“ erlaubt, Kaninchen und Mäuse - ohne als - in der Zimmerecke zu sehen, damit zu sprechen und sich zu den Kaninchen und Mäusen zu verhalten, und so „weniger entweder oder“ zu sein. Verstehen wäre dann nicht ein Über- oder Dahinterblicken: Verstehen wären die facettenreichen Bedeutungen, die die Interaktionen - mit Mäusen, mit Kaninchen, mit kleinen Tieren, die in grauen Fellen frieren - in der Situation jeweils gewinnen. Die „kleinen flecken“ als Irritationen in der visuellen Wahrnehmung bieten eine andere Metapher für Mehrsprachigkeit, die die Unerschöpflichkeit jeder Sprache durch In-Beziehung-Treten zeigt. Sie sind ungeformt, sie stören, weil sie dort eigentlich nicht hingehören; sie verunsichern, denn vielleicht entgeht einem etwas, vielleicht hat man etwas nicht richtig gesehen, noch nicht erkannt: 138 Brigitte Rath <?page no="139"?> 11 Vgl. Lacan, Jacques (1978). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar 11, 1964. Textherstellung von Jacques-Alain Miller, übersetzt von Norbert Haas. Olten: Walter-Verlag, hier 73-126. 12 Lüthy, Michael (2005). Relationale Ästhetik. Über den Fleck bei Cézanne und Lacan. In: Blümle, Claudia/ Von der Heiden, Anne (Hrsg.). Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie. Zürich/ Berlin: diaphanes, 265-288, hier 271. 13 Aichinger, Ilse (2003). Schlechte Wörter. Frankfurt am Main: Fischer, 15-18. 14 Hawkey, Christian/ Wolf, Uljana (2012). sonne from ort. Berlin: kookbooks, 39. Sonne from ort ist ein Erasure-Projekt auf der Basis der zweisprachigen Insel-Ausgabe von Elizabeth Barrett Brownings Sonnets from the Portuguese und Rainer Maria Rilkes zuerst 1908 veröffentlichten Übersetzung des Sonettzyklus; „Palmenhaine“ findet sich in Rilkes Übersetzung von Sonett XVII, Uljana Wolf macht daraus für sonne from ort „Palmenhai“ (39). daher die sofortige Nachfrage „sind das flecken“. Jacques Lacan nennt Fleck sowohl diejenige Irritation, die der Blick des anderen im eigenen Blickfeld bedeutet, also diejenige fürs eigene Sehen unerreichbare Stelle, an der man selbst gesehen wird, wie auch das Resultat der Geste des oder der Malenden auf der Leinwand, die diesem Blick des anderen etwas zu sehen gibt und ihn so entwaffnet. 11 Der Kunstwissenschaftler Michael Lüthy kondensiert Lacans Begriff des Flecks in der Formulierung „Bedeutung ohne Form“. 12 Die Bedeutung des Flecks ist nicht durch einen Umriss, durch eine Grenzlinie bestimmt; sie entsteht vielmehr in dem Moment, in dem der Fleck für jemanden bedeutsam wird. Nichts begrenzt oder arretiert diese Bedeutung. Das zeigt sich auch hier: die „kleinen Flecken“ sind Anlass und Metapher für die Erfahrung, dass das Sprechen in und mit und über die Welt nicht eine ausgefüllte und endliche Ordnung hat, sondern dass da immer unbegrenzt mehr ist, was für mich bedeutsam und im Sprechen relevant werden kann. Ilse Aichinger insistiert in ihrem kurzen Prosatext „Flecken“ auf deren die Hierarchien nicht nur systemerhaltend leicht erschütternden, sondern sie ins Schwanken bringenden Kraft, die daher rührt, dass die Flecken uns betreffen. 13 Der Fleck erprobt, was ich sehen kann, und fordert mich heraus, aus der Ordnung zu treten. Flecken können puschelschwänze und bandersnatches sein; Uljana Wolf begegnet in einem „Palmenhaine“ Rilkes dem „Palmenhai“ 14 . Keine Sprache ist beherrschbar. Keine Sprache endet, wenn man zu ihr in Beziehung tritt. Uljana Wolfs scheinbar einsprachiger Text führt so eine Herangehensweise an Mehrsprachigkeit vor, die mir genau deshalb bemerkenswert scheint, weil sie ohne markierten Sprachwechsel im Gedichttext selbst, ohne offensichtliche Grenzüberschreitungen also, operiert. Das Gedicht fordert eine Grenzziehung zwischen Sprachen nicht notwendig ein: statt „in deiner Sprache und in meiner“ wie selbstverständlich als zwei Sprachen zu lesen, kann es auch deine und meine, eine gemeinsame Sprache meinen. „in deiner sprache und in meiner“ „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 139 <?page no="140"?> benennt dann eine ad-hoc-Sprache, die mit dieser Beziehung, in diesem Ge‐ spräch entsteht: Eine Sprache, die sowohl deine als auch meine ist, in der mit „wir“ auch „ich“ und „du“ emergieren. „puschelschwänze“ wie „tuschelohren“ sind möglich, die lexikalischen ad-hoc-Bildungen charakteristisch für die aus der Situation heraus im spielerischen Austausch entstehende Sprache. Die Sprache des Gedichts ist damit nicht notwendigerweise „meine“ Sprache, in die Unterscheidungen „deiner Sprache“ eingetragen sind. Vielmehr könnte sich die gemeinsame Sprache des Gesprächs im Gedicht fortsetzen. Bleibt mit dem präteritischen „wir wollten“ des Auftakts noch unklar, ob ein ich über ein wir oder ob ein wir spricht, führt das Gedicht konsequenterweise im futurischen Präsens zu einem Sprecher: innen-wir, das weitere ichs und dus in das Gespräch mit einbezieht: „wir wollen also still sein, auf den knien lauschen: unsere kleinen tiere, wie sie ihre wollenen, mondgrauen namen tauschen.“ Das Sprechen über kleine Tiere wendet sich so ihnen zu und tritt damit - ohngeachtet sonst üblicher Kategorien möglicher Gesprächspartner: innen - in eine Beziehung. Das Gedicht endet in diesem stillen Lauschen. Durch diese unkategorische Öffnung können Leser: innen mitlauschen, welche in der Begegnung auf Augenhöhe getauschten Eigenbezeichnungen sie in der darauffolgenden Stille der weißen Seite hören. „in deiner sprache und in meiner“ selbst kann so „weniger entweder oder sein“: Sprachen, die manchen gehören und anderen nicht, münden in ein sich ständig erweiterndes Sprechen aller, die zuhören und dazu-hören. 2. folgt revolte: bleibt weiter „rede mit langen leinen“ aus dem ersten Zyklus des Bandes meine schönste lengevitch schreibt sich parallel von markierten Grenzen zwischen Sprachen und markierten Grenzen zwischen den Versen eines Gedichts los und zeigt dabei, dass der Verzicht auf diese beiden gewohnten Grenzziehungen individuelle An‐ schlussmöglichkeiten sichtbarer macht und damit relevantere Bezugsetzungen ermöglicht. rede mit langen leinen märzlese: charles bernstein schreibt sich von den zeilen des gedichts (lines) zur fütte‐ rung eines mantels (lining). the lining kann man nicht übersetzen, aber übertragen, wers zu lange trägt. lining ist also, was man im frühling abnehmen sollte. folgt revolte: die dem gedicht angeborene fütterung ist nicht angeboren. ein gedicht ohne lining bleibt weiter ein gedicht. es trottet eben vorbei, sogar ohne strümpfe. ich rufe es in meiner futtersprache, im übergangsüberzug: he da, leichtfuß, wo aber nähst du dein feuer ein, gewissheit, gewissheit, wo versteckst du den plötzlichen scheit? stocken, 140 Brigitte Rath <?page no="141"?> 15 Wolf, Uljana (2013). meine schönste lengevitch. Berlin: kookbooks, 12. 16 Uljana Wolf erwähnt die Frage nach der Übersetzbarkeit von Namen in ihrem Essay „Das Unauffindbare übersetzen“, der sich Ilse Aichingers Umgang mit „Andersspra‐ chigkeit“ widmet: „Und Namen, mutmaßte die Literaturwissenschaftlerin Yunte Huang einmal im Anschluss an Ezra Pound und Charles Sanders Peirce, bleiben immer konkret, eigen und fremd; sie sind in keine Sprache übersetzbar.“ Wolf, Uljana (2013b). Das Unauffindbare übersetzen. In: Fußl, Irene/ Gürtler, Christa (Hrsg.) Ilse Aichinger: „Behutsam kämpfen“. Würzburg: Königshausen & Neumann, 119-121, hier 119. 17 Kara ben Nemsi ist bekanntermaßen die Übertragung von „Karl May“ ins Pseudo-Ori‐ entalische als „Karl, Sohn der Deutschen“. Für „Karl Bovary“ siehe etwa Arthur Schurigs Übersetzung von Madame Bovary: Flaubert, Gustave (1911). Frau Bovary. Übers. v. Arthur Schurig. Leipzig: Insel. keine regung. dann zeigt es auf tulpen, ihr zwiebliges noch-nicht, auf osterglocken, ausgestülpt, im gelben rock. 15 „rede mit langen leinen“ grenzt zunächst scheinbar Sprachen klar voneinander ab. Durch eine Klammer wie durch den senkrechten Strich im Vokabelheft typo‐ graphisch getrennt, folgt ein englisches Wort auf seine deutsche Entsprechung: „zeilen des gedichts (lines)“, „fütterung eines mantels (lining)“. Im nächsten Schritt wird „lining“ mit der Begründung, man könne es „nicht übersetzen“, schlicht in den deutschen Satz eingesetzt. Es bleibt, als unübersetzbar themati‐ siert sowie gestützt durch den englischen Artikel „the“, auch ohne Klammer klar als „fremdes“ Wort markiert. So eingesetzt macht „the lining“ darauf aufmerksam, dass auch das vorausgehende „Charles Bernstein“ in dieser Weise monolithisch unübersetzt aus einer anderen Sprache stammt. Dass gegenwär‐ tige deutschsprachige Leser: innen „Charles“ vermutlich zunächst nicht als ein „fremdes Wort“ im Text wahrnehmen, zeigt, dass Konventionen regeln, ob Namen als übersetzbar gelten 16 - Kara ben Nemsi und Karl Bovary 17 lassen grüßen - und, grundsätzlicher, welche Wörter „fremd“ sind. Eine definierende Paraphrase setzt zu einem weiteren Versuch an, „lining“ in den deutschspra‐ chigen Text zu integrieren - „lining ist also, was man im Frühling abnehmen sollte“ - und unterläuft damit das scheinbare Bemühen um klare Grenzen und Eindeutigkeit: die Polysemie von „abnehmen“ aktiviert das Bedeutungsfeld „Nahrungsaufnahme“ und regt so zum Imaginieren ungewöhnlicher Szenarien für „fütterung des mantels“ an. Die so mehrdeutig gewordene „fütterung“ bildet im nächsten Satz die Brücke zur einzigen nicht metasprachlichen Verwendung von „lining“: „ein gedicht ohne lining bleibt weiter ein gedicht.“ Substituiert man die bisher angebotenen Umschreibungen für „lining“, ergeben sich non‐ sense-Sätze wie: ein Gedicht ohne die Fütterung eines Mantels bleibt weiter ein Gedicht. Dem „fremden“ Wort gelingt es also nicht, in einen sinnvollen semanti‐ schen Zusammenhang zu treten; es fällt weiter aus der Sprache. Auch wenn sich „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 141 <?page no="142"?> 18 Bernstein, Charles (1988). Of Time and the Line. Bernstein, Charles/ Andrews, Bruce (Hrsg.). [Section] L=A=N=G=U=A=G=E lines. In: Frank, Robert/ Sayre, Henry (Hrsg.) The Line in Postmodern Poetry. Urbana, Chicago: University of Illinois Press, 215-216. 19 Für eine differenzierte Beschäftigung mit dem Begriff Anderssprachigkeit siehe Stock‐ hammer, Robert/ Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk (2007). Die Unselbstverständlichkeit der Sprache (Einleitung). In Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert (Hrsg.) Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 7-27. die Reihe der überraschenden Beobachtungen zu den Kleidungsgewohnheiten eines Gedichts mit fehlenden Strümpfen fortsetzt, drängt sich die Vermutung auf, man sei in der Vokabelheftzeile um eins verrutscht, und nicht „lining“, sondern „lines“ sei „gemeint“: Ist ein Gedicht auch ohne Zeilenumbrüche weiter ein Gedicht? Damit evoziert der Text - ohne sie direkt zu stellen - die Frage der eigenen Gattungszugehörigkeit. Denn der Untertitel des Bandes meine schönste lengevitch lautet „Gedichte“, und „rede mit langen leinen“ verzichtet auf bewusst gesetzte und damit bedeutungsvolle Zeilenwechsel. Ist „rede mit langen leinen“ - man liest mit: mit langen lines - also ein Gedicht? Charles Bernsteins Gedicht „Of Time and the Line“ (1988), auf das zu Beginn verwiesen wird, stellt die Frage nach dem Status dieses Gattungsmerkmals explizit und weicht ihr dabei mit einer spielerisch-ironischen Geste aus: „Nowadays, you can often spot a work / of poetry by whether it’s in lines / or no; if it’s in prose, there’s a good chance / it’s a poem.“ 18 Die Zeilenumbrüche, die Bernsteins umgangssprachli‐ chen „one-liner“ Witz „arbiträr“ zergliedern, liefern zur behaupteten neuen, invertierten Normalität von Gedichten ohne „lines“ einen komplex-subversiven Kommentar. Uljana Wolfs Gedicht scheint spätestens hier aber nicht nur die Vokabelheftzeile, sondern auch den Faden verloren zu haben. Denn das bisher entfaltete Spektrum des Umgangs mit „fremden“ Wörtern wird offenbar nicht fortgesetzt, und die folgende Beschreibung einer skurrilen Begegnung zwischen einem „ich“ und einem „ohne strümpfe“ etwas derangiert wirkenden Gedicht staffiert scheinbar die nonsense-Lesart der Mantelfütterung bis hin zum „gelben rock“ der „osterglocken“ weiter fantasievoll aus, statt zur harten Gattungsfrage Stellung zu nehmen. Das täuscht: Der Faden ist nicht verloren; vielmehr schürzen sich hier „lange leinen“ zu einem intrikaten Knoten, in dem die Frage nach Anderssprachigkeit 19 im Text und die Frage nach den Gattungsmerkmalen eines Gedichts durch die grenzenlose Assoziationslust, die beide hier miteinander verknüpft, beantwortet wird. So werden jenseits von markierter Anderssprachigkeit die Assoziations‐ linien, die im abschließenden „gelben rock“ zusammentreffen, bedeutungsrei‐ cher und dichter. Die Bekleidungsisotopie von „mantel“ über „strümpfe“ und 142 Brigitte Rath <?page no="143"?> 20 Vgl. für die folgenden Definitionen „ROCK, m.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 21. Abrufbar unter: https: / / www.woerterbuchnetz. de/ DWB? lemid=R06590 (Stand: 18.04.2023). 21 „BERNSTEIN, m.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 21. Abrufbar unter: https: / / www.woerterbuchnetz.de/ DWB? lemid=B04758 (Stand: 18.04.2023). 22 Vgl. etwa Makoni, Sinfree/ Pennycook, Alastair (2005). Disinventing and (Re)Constitu‐ ting Languages. Critical Inquiry in Language Studies 2: 3, 137-156; Sakai, Naoki (2009). How Do We Count a Language? Translation and Discontinuity. Translational Studies 2: 1, 71-88. „überzug“ schlüpft im „rock“ gleich in mehrere mögliche Bedeutungen 20 : die im gegenwärtigen Sprachgebrauch dominante für ein Kleidungsstück, das üblicherweise als eine Alternative zur Hose getragen wird, die kaum mehr gebräuchliche für eine Herren-Oberbekleidung, oder die noch ältere, in der man mit dem Rock „unterschiedslos von dem hauptstücke der männlichen, wie der weiblichen kleidung“ spricht. Eine weitere Möglichkeit greift eine völlig andere Spur auf, die von „bernstein“ - im Grimm findet sich die Entsprechung „brennstein“ 21 - über das versteckte „feuer“ nahelegt, „rock“ als das englische Wort für „Stein“ zu lesen. „gelbe[r] rock“ wäre dann teils eine Beschreibung des mit „bernstein“ bezeichneten Gegenstandes, teils eine partielle englische Über‐ setzung des für diesen Zweck aufgespaltenen deutschen Wortes, das zu Beginn des Textes scheinbar unsemantisch und unübersetzbar als Nachname eines ame‐ rikanischen Lyrikers ins Spiel kam. Der „gelbe rock“ stülpt die Frage nach dem Umgang mit „fremden“ Wörtern im eigenen Text um. Denn Ausgangspunkt von Übersetzen, Einsetzen und definierender Paraphrase sind getrennte Sprachen, deren Trennung im Text modelliert und mediatisiert wird. „rock“ erinnert daran, dass - hier chronologische - Varietäten es schwer machen, von „einer“ Sprache zu sprechen, und unterstreicht Zweifel, dass sich Grenzen zwischen Sprachen fundamental von Grenzen innerhalb „einer“ Sprache unterscheiden. 22 In „rock“ laufen, als Endpunkt des Textes besonders wirkungsvoll, ganz unterschiedliche Bedeutungsstränge des Gedichts zusammen, die „rock“ deshalb miteinander verknüpfen kann, weil hier keiner der möglichen Kontexte und damit keine der heterogenen Anschlussmöglichkeiten durch Varietäten- oder Sprachgrenzen abgeschnitten ist. Derart umgewendet ergibt sich die Bedeutung von „rock“ im Netz aus heterogenen Beziehungen, und die Unterscheidung von „fremd“ und „eigen“ verliert hier, weil ihr kein Gewicht beigemessen wird, ihre Relevanz. Wie verbindet sich nun diese Haltung zu „Anderssprachigkeit“ mit der Gattungsfrage nach den „zeilen des gedichts“? Offensichtlich verzichtet der „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 143 <?page no="144"?> 23 Wolf, Uljana (2009). Box Office. München: Stiftung Lyrik Kabinett, 12. 24 „SCHEIT, n.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitali‐ sierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 21. Abrufbar unter: https: / / www.woerterbuchnetz.de/ DWB? lemid=S06424 (Stand: 18.04.2023). 25 Als „furchenwendig“ oder „bustrophedon“ werden Texte bezeichnet, bei denen die Zeilen abwechselnd von links nach rechts und wieder zurück verlaufen, wie die Ackerfurchen beim Pflügen eines Feldes mit einem Ochsen. Text, wie Uljana Wolf in ihrer Rede zum Prosagedicht formuliert, „auf die Zeile als Kompositionseinheit“. 23 Trotz rhythmisierter Passagen ergibt sich auch keine Gliederung durch Reim oder Metrum. Die Syntax allein segmentiert also den Text, der damit völlig zurecht als „leichtfuß“, ungebunden durch die für Dichtung charakteristischen zusätzlichen Restriktionen, adressiert wird. Von einem Vers kann also keine Rede sein. Von „Vers“ ist auch nicht die Rede. Und doch stellt das „ich“ dem vorbeitrottenden Gedicht die Frage nach der überraschenden Trennung, wie sie der Zeilenwechsel schafft: „gewissheit, gewissheit, wo versteckst du den plötzlichen scheit“. „[S]cheit“, sagt Grimm, „ist zunächst das gespaltene brennholz, sowol von den groszen stücken, in die ein klotz zerschlagen wird, als auch von den dünneren und kleineren zum anmachen des feuers.“ 24 Versgrenzen könnten die Syntax in Scheite schlagen, oder, wie in Morgensterns „Ästhetische[m] Wiesel“, das „raffinier-/ te Tier“ und damit das Wort um des Reimes willen spalten. Schnitte können irritier-ende, neue Lesarten öffnen oder erzwingen. Diese ästhetische Möglichkeit der Reorganisation der Wahrnehmung scheint ein wie ein Pflugochse dahintrottendes und nur an der Feldgrenze sich umwendendes Gedicht zu vergeben. 25 Doch „scheit“ ist hier selbst ein Scheit, abgespalten, mit überraschendem Effekt, vom Klotz der „gewis-sheit“. Ist die Gewissheit zerschlagen, dass Grenzen typographisch markiert sein müssen, befreit sich aus dem „versteckst“ der Vers-Text. Die durch Verse markierten Schnitte sind nur eine Möglichkeit, jene Revolte, jene Umwendung des Blicks anzustoßen, die ein Gedicht kennzeichnet. Die Schnitte, die den „scheit“ aus „gewissheit“ und den „vers-text“ aus „versteckst“ schneiden und damit die Notwendigkeit von typographisch mar‐ kierten Umbrüchen performativ bezweifeln, sind in ihren Effekten Montage- und Collagetechniken verwandt, wie sie Iulia-Karin Patrut und Matthias Bauer in ihrem Aufsatz zum dialogischen Verhältnis von „Eigenem“ und „Fremdem“ in interkultureller Lyrik unter anderem für Texte Rolf-Dieter Brinkmanns oder Herta Müllers Collagen beschreiben: Diese [Technik der Montage und Collage] läuft aber zumeist gerade nicht auf Spaltung und kategoriale Trennung von Eigenem und Fremdem hinaus, sondern auf ein 144 Brigitte Rath <?page no="145"?> 26 Patrut, Iulia-Karin/ Bauer, Matthias (2017). Facetten des Vielfältigen in der Lyrik. Interferenz und interkulturelle Literatur. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8: 2, 53-72, hier 62. 27 Zu den Assoziationen, die mit „merz“ entstehen, darunter März als der Monat der Revolution, siehe Neustadt, Jeannette (2011). Ökonomische Ästhetik und Markenkult: Reflexionen über das Phänomen Marke in der Gegenwartskunst. Bielefeld: transcript, 132-133. 28 Genauer: es gibt verschiedene Ätiologien für „merz“, eben weil es ausgeschnitten in neuen Kontexten frei flottieren soll, während offenbar gleichzeitig der Wunsch nach einem „erklärenden“ ursprünglichen Kontext besteht. Vgl. Nantke, Julia (2017). Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters: Zwischen Transgression und Regelhaf‐ tigkeit. Berlin/ Boston: de Gruyter, 140. borderscape, auf eine Landschaft einander überlagernder Grenzziehungen, in deren Ensemble sich Interferenzen und Übergänge ergeben. Der Betrachterblick wird dazu aufgefordert, zwischen den Schnitten hin und her zu oszillieren, bereits verinnerlichte Mindmaps zu verwerfen und die Sinnüberschüsse in eine produktive, dialogische Trajektorie zu überführen. 26 Wie Patrut und Bauer zeigen, ergibt sich durch das Zerschneiden für Leser: innen der Anstoß, den daraus resultierenden Verlust gewohnter Verbindungen als Befreiung von restringierenden Gewohnheiten zu nutzen und neue Zusammen‐ hänge zwischen den angebotenen Ausschnitten herzustellen. Im Auftaktwort der „rede mit langen leinen“, „märzlese“, schwingen diese Schnitt- und Colla‐ getechniken phonetisch mit: es erinnert an „merz“ 27 , den durch einen Schnitt entstandenen Namen, den Kurt Schwitters seinem Projekt und seiner Zeitschrift gab. Schwitters „merz“ verwirft programmatisch das vorausgehende „kom“. 28 „märzlese“ als Auslese und Neuordnung also? Die graphemische Verschiebung von „merz“ zu „märz“ suggeriert eine andere Haltung: die üblichen Verbin‐ dungen von „märz“ werden in dem Gedicht mit Verweisen auf Kleidungsge‐ wohnheiten im Frühling und das Aufblühen von Osterglocken und Tulpen genutzt. Nicht statt, sondern zusätzlich zu diesen gewohnten Frühlingsbildern gewinnt der „märz“ über die im Gedicht performativ thematisierten Schnitte und ihren plötzlichen Umperspektivierungen die Assoziation zu den Collage‐ techniken des „merz“. Die „revolte“ liegt überraschenderweise im „bleibt weiter“. Bereits vorhandene Bezugnahmen zur Welt, etablierte Ordnungsmuster müssen nicht verworfen werden, um einen neuen Blick zu ermöglichen. Stattdessen führt das Gedicht vor, wie sich eine Situation radikal ändern kann, wenn am Bekannten Neues anschließt und sich so die Gewichtung und Relevanz im Beziehungsnetz verschiebt. Möglichkeiten zu solchen Erweiterungen und Um‐ orientierungen bietet die in ihrer Konkretheit nie einzufangende situative Fülle, die ein sprachliches Äquivalent beispielsweise in der Sinnfülle von Polysemien „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 145 <?page no="146"?> 29 „So wird das Fremdwort „galy“ im Deutschen vielleicht immer ein wenig „gallig“ sein und im Englischen für den Leser immer sein glückliches Geisterwort „gaily“ enthalten, obwohl das „i“ verschwunden bleibt.“ Wolf (2013b: 120); „Dieses bittersüße Abgeschiedensein in der Sprache, die Doppelhelix heiteren Abhandenkommens mit verschwundenen Geisterworten führt direkt ins Zentrum von Aichingers Schreiben.“ Wolf (2013b: 121). findet. Im Gedicht führt die Folge „übersetzen“, „übertragen“, „übergehen“ und „überziehen“ vor, dass die vorhandene semantische Über-Fülle nie vollständig in das Beziehungsnetzwerk eines Textes eingebunden ist: so bietet sich immer ein Überschuss an losen Leinen, um einen bleibenden Umschlag anzuzetteln. Zu diesem Überschuss tragen auch Wörter bei, die nicht „da“ sind. Wolf nennt sie „Geisterwörter“. 29 „Muttersprache“ etwa kann man kaum nicht mithören, wenn man „futtersprache“ liest, gerade deshalb, weil sich das Wort neu in die „muttersprache“ einführt. Als „Geisterwort“ präsent zeigt es die Macht etablierter Denkmuster, die sich (auch) im eigenen Denken nicht einfach zer‐ schneiden lassen, die man aber spielerisch umdeuten und so weiterführen kann, dass andere Assoziationen relevanter werden. Solche „Geisterwörter“ können aber auch, plötzlich aufblitzend, eine hermeneutische Spannung befriedigend entladen, wie etwa das semantisch durch „strümpfe“, phonetisch durch „rock“, „Osterglocken“ und „stocken“ evozierte Geisterwort „socken“. Hat man die „socken“ gehört, hört man auch, dass das Gedicht „ohne strümpfe“ geradewegs am Reim vorbeitrottet. Das lässt sich als weiterer Kommentar zu den formalen Gattungserwartungen lesen: der Verzicht auf den Reim ist hier, wie der Verzicht auf Zeilenumbrüche und Versfüße - leichtfuß, strümpfe - programmatisch. Selbst die Frage danach, ob ein Gedicht ohne Zeilenwechsel ein Gedicht ist, wird ja nur durch Assoziation evoziert; sie wird also nur dann thematisch, wenn sie sich beim Lesen stellt. Statt die Aufmerksamkeit der Leser: innen auf formal ausgezeichnete Stellen zu richten und dort zu binden, bietet sich ihnen der gesamte Text mit Bruchstellen und Geisterwörtern als der gleichen intensiven Aufmerksamkeit würdig dar. „Geisterwörter“ sind ein metonymisches Beispiel für den Moment, in dem ein assoziativer Kontakt zwischen Text und Lesenden entsteht. Uljana Wolf erzählt davon, wie sie darauf aufmerksam gemacht wurde, dass englischsprachige Leser: innen Ilse Aichingers „galy sad“ fälschlicherweise als Tippfehler lesen und mit einem „i“ zum Oxymoron „gaily sad“ ergänzen würden. Dieses „Geisterwort“ bildet den Ausgangspunkt für Wolfs Überlegungen zu solchen „Webfehlern“, die nicht zu vermeiden, sondern für die Beschäftigung mit Lyrik wesentlich sind: Der Jubel beim Lesen von Ilse Aichingers Anderssprachigkeit wiederum besteht darin, das Unauffindbare in der eigenen und zwischen den Sprachen bei jedem Lesen neu 146 Brigitte Rath <?page no="147"?> 30 Wolf (2013b: 121). Mit kleinen Änderungen wiederabgedruckt in Wolf (2021: 44-45). 31 Wolf, Uljana (2009). falsche freunde. Berlin: kookbooks, 10. in Gegenwart zu übersetzen. Dieser Vorgang, so reich an Möglichkeiten, nähert das Lesen dem Schreiben an, fast so, als würde man eine neue Sprache lernen, die nicht nur anders, sondern für jeden anders ist. Warum zum Beispiel sollte, denke ich, das „i“ in „galy sad“ nicht zweimal verschwunden sein? Dann wäre das heiter gesagte („gaily said“) Nichtgesagte der anderssprachige Abdruck der Sprache, da, wo sie nicht allein, aber bei sich ist, stockend und unverlockt, die nicht reklamierte Trophäe der schlechten Wörter in der Hand. 30 Assoziationen lassen sich nicht vollständig kontrollieren. In „rede mit langen leinen“ reagiert das vorbeitrottende Gedicht mit regungslosem „stocken“ auf die Anrede durch das „ich“, gefolgt von einer Zeigegeste, die den Blick des „ich“ umlenkt. Worauf deutet die Geste? Auf das Potential, auf das, was in der Vorstellung schon zu sehen, aber „noch nicht“ da ist, und auf das, was „ausgestülpt“ die weiter bleibenden Fäden neu verbindet. Was „rede mit langen leinen“ vormacht ist ein in-Bezug-setzen, das die Assoziationen des Gedichts mit denen des „ichs“ in einer zum Stocken führenden Anrede, in einer blickwendenden Geste zusammenführt. Dieses kurze Innehalten und gestische Neuperspektiveren, das auch der Effekt eines Zeilenwechsels sein könnte, antwortet hier nicht auf eine feststehende graphische Markierung, sondern auf ein Angesprochensein: „he da“. Da ist etwas, das mich meint. „märzlese“ wäre so ein frühlingshaft-revolutionärer Lektüreprozess, der Assoziationen nicht abschneidet, sondern ein Gedicht in die Formen wendet und ausstülpt, die Bedeutung für mich, gegenwärtig, annimmt. 3. oder zu beginn: Text-Anfänge „am anfang war“: so beginnt „art—apart“. Doch was heißt das: ein Text be‐ ginnt? Die Beschäftigung mit dem Anfang, die „art—apart“ als Auftaktgedicht der 26-teiligen „DICHTionary“-Serie thematisiert, ist auch eine Beschäftigung damit, wo und wann man die Grenze um einen Text zieht: am anfang war, oder zu beginn, welche art laut, oder leise: listen, when they begin the beguine, und wann ist das. und muss, wer a sagt, gar nichts, wer b sagt, der lippen sich gewiss (gebiss erst etwas später) und sein: sei sprechen dann die art of falling auseinander, der stille, dem rahmen, immer apart, so ausgefallen wie nur eben ein. 31 „am anfang war“: so anfangen heißt fortsetzen. Diese drei-Wort-Kombination ist als der Anfang des Evangeliums nach Johannes wiedererkennbar, weil sie „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 147 <?page no="148"?> 32 Goethe, Johann Wolfgang. Faust I, „Studierzimmer“, v. 1224-1237. Zitiert nach Goethe, Johann Wolfgang (2019). Faust. Historisch-kritische Edition. Bohnenkamp, Anne/ Henke, Silke/ Jannidis, Fotis (Hrsg.) Version 1.2 RC. Frankfurt am Main, Weimar, Würzburg. Abrufbar unter: http: / / faustedition.net (Stand: 27.04.2023). so häufig gehört und gelesen, übersetzt, zitiert, angespielt und umgearbeitet wurde, weil sie immer wieder aufgerufen wird, wenn sich erneut die Frage nach einem Anfang stellt. „art—apart“ beginnt nicht ex nihilo; den Anfang dieses Gedichts gab es als Anfang schon, lange bevor dieses Gedicht begonnen wurde. Und entsprechend denkt man, man wisse, was nach diesen drei Worten komme: „das Wort“ nämlich. Stattdessen folgt ein Zögern, ein Zurücknehmen des Anfangs in einer alternativen Formulierung: „oder zu beginn“. Statt vom Wort zu sprechen, spricht das Gedicht von der Wortwahl; statt den Ursprung zu benennen, benennt es eine Alternative. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne; in jedem Anfang kann man das Geisterwort, das ihm vorausging, als Erwartung hören. Die zögernde Reformulierung geht einen Schritt zur Seite. Sie erlaubt, „das Wort“ mitschwingen zu lassen und dennoch ein anderes Wort zu wählen, das, dem „anfang“ synonym, lautlich in eine andere Richtung führt und „das Wort“ umgeht. Das in der Syntax sichtbar werdende Paradigma „anfang, beginn“ erinnert an eine andere, kanonisch gewordene Kaskade von Alternativen für „das Wort“, diejenige, die Faust in der Übersetzungsszene produziert: Geschrieben steht: „im Anfang war das Wort! “ Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: im Anfang war der-Sinn. […] Es sollte stehn: im Anfang war die-Kraft! […] Und schreibe getrost: im Anfang war die-That! 32 Anders als „anfang - beginn“ gehört die Folge „Wort - Sinn - Kraft - That“ keinem vor dieser Szene etablierten Paradigma im Deutschen an, sondern wird hier durch die semantische Breite des griechischen „logos“, durch Fausts philosophische Überlegungen und durch das Metrum und Reimschema des Textes motiviert. Durch den Kontakt mit anderen Beziehungsmustern - der Koine des Neuen Testaments, Fausts sondierendem Weltbild und metrischen 148 Brigitte Rath <?page no="149"?> 33 Dass die verschiedenen Restriktionen verschiedener metrischer Formen als Sprachva‐ rietäten gelesen werden können, argumentiert Till Dembeck etwa in: Dembeck, Till (2018). Multilingual Philology and Monolingual Faust: Theoretical Perspectives and a Reading of Goethe’s Drama. German Studies Review 41: 3, 567-588, besonders 577-579. 34 Jakobson, Roman (1960). Closing Statement: Linguistics and Poetics. In: Sebeok, Thomas A. (Hrsg.) Style in Language. Cambridge, Mass.: MIT Press, 350-377, hier 358. 35 Vgl. Babel, Reinhard (2015). Translationsfiktionen. Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens. Bielefeld: transcript, 22-29. 36 In Tawadas Formulierung: „Jedoch geht es hier um keine Lautpoesie, denn Uljana Wolf schreibt nicht laut, sondern laut und leise. Bei Ernst Jandl heißt es übrigens „laut und luise“. Ich erinnere mich, wie er einst die Bibel in Lautpoesie verwandelte. „Am Anfang war das Wort“: Ich höre diesen Satz noch mit Jandls Stimme.“ Tawada, Yoko. Laudatio auf Uljana Wolf. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2015 am 28. August 2015. Stadt Erlangen. Erlanger Poetenfest 2015. Abrufbar unter: http: / / archiv.poetenfe st-erlangen.de/ 2015/ presse7655.html? PID=43 (Stand: 27.04.2023). 37 Erstabdruck in: Jandl, Ernst (1970). Der künstliche Baum. Neuwied am Rhein, Berlin: Luchterhand, 109. Restriktionen 33 - entsteht hier in einem Sprachsystem eine Verbindung, die im Prozess des Übersetzens als neue Äquivalenzrelationen, als Paradigma im Syntagma sichtbar wird. 34 Goethes Szene von Fausts Versuch, den neutesta‐ mentarischen Anfangsgedanken umzuschreiben, verändert damit nicht nur diesen Satz, sondern etabliert eine neue Assoziationslinie und damit eine neue Struktur, die potentiell weitere Gedanken ordnen kann. 35 Im Faust folgt auf diese Übersetzungsszene dann auch eine Änderung der Ordnung, der erste Auftritt Mephistopheles’. Was „art—apart“ nach dem Zögern an den Anfang setzt ist „eine art laut“, modifizierend ergänzt zu „oder leise“. Die erneute Alternative ist asymmetrisch: liest man „laut“ wegen des vorausgehenden „eine art“ als Nomen, zwingt „leise“ zum Zweifel an dieser zunächst im Kontext eindeutigen Auflösung: könnte „laut“ hier ebenfalls ein Adjektiv sein? Stünde am Beginn also keine Substanz, sondern eine Qualität? Das ungleiche Paar erinnert (auch Yoko Tawada) 36 an den ebenso asymmetrischen Titel eines Gedichtbands von Ernst Jandl, laut und luise (1966). In diesem Band findet sich ein Gedicht nicht, das ebenfalls den Beginn des Johannesevangeliums umschreibt. Jandls „fortschreitende räude“ setzt mit „him hanfang war das wort hund“ 37 ein und (z)ersetzt das Wortmaterial in jeder der fünf Iterationen weiter, so dass am Ende das Wort mit einem „flottsch“ verschwindet. Jandls Verwendung der Buchstaben- und Klangsequenz des Evangeliums als Material für ein spielerisch-kombinatorisches Auflösen des göttlichen Worts, so fürchtete der Lektor, würden die Verleger als Angriff auf ihre gewohnten Ordnungsmuster verstehen; er bat Jandl, das Gedicht zurück‐ „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 149 <?page no="150"?> 38 Vgl. Jandl, Ernst (1985). Vom Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vor‐ lesung. Berlin: Volk und Welt, 20-22. 39 Andreas Degens Aufsatz zu Wolfs falschen freunden bietet eine präzise Analyse der linguistischen Grundlagen dieser Mehrdeutbarkeiten: Degen, Andreas (2016). Poetik des ‚falschen Freundes‘. Sprachmischung in Uljana Wolfs Gedicht-Zyklus ‚DICHTio‐ nary‘. Binder, Eva/ Klettenhammer, Sieglinde/ Mertz-Baumgartner, Birgit (Hrsg.) Lyrik transkulturell. Würzburg: Königshausen & Neumann, 203-221. 40 Das Oxford English Dictionary verweist für die Etymologie von „beguine“ auf den Eintrag zu „béguin“; dort findet sich dann der lakonische Verweis auf „colloquial French“ sowie die Worterklärung „an infatuation, a fancy“ mit folgendem Beispiel aus W. Somerset Maughams Roman Moon and Sixpence: „It appears that she has a béguin for you. … She’s willing if you are.“ zuziehen. 38 Die Anfangs-Fortschreibung von „art—apart“ erinnert also an eine Geschichte von Fortschreibungen, die diesen wirkmächtigen Text bearbeiten, um Denkmuster zu ändern. Das ist kein einfaches Unterfangen; es kann den Teufel oder den Zensor auf den Plan rufen. Uljana Wolfs Weiterschreiben verbindet die Frage nach dem Anfang mit der Temporalität der medialen Relation zwischen Schrift und Ton. „listen“ kann, auf die Paradigmata „anfang - beginn“ und „laut - leise“ anspielend, ein deutsches Nomen sein; als englischer Imperativ schließt es eng an das eben thematisierte Urgeräusch an. Mit dem damit aufgespannten Möglichkeitsraum für die Bezie‐ hungsnetze der Wörter wendet sich der suchende Blick zurück: vielleicht ist „eine art laut“ dann die Kunst des Lauts. 39 Der Doppelpunkt lenkt also den Blick und das Hören um: denn „art“ ist nicht gleich „art“. Welcher Laut ist da? Der Buchstabe verrät es nicht. Umso wichtiger also, der Anweisung zu folgen, nicht nur hinzusehen, sondern darauf zu achten, was man hören könnte. „listen, when they begin the beguine“: hier hört man nun mit beginn - begin - beguine die Folgen der neu eingeführten Anfangs-Alternative. Nach Synonymen und einem asymmetrischen Antonym folgt eine Reihe von (fast-)Homonymen. Klang wird so nicht nur thematisiert, sondern auch zu einem Entwicklungsprinzip des Textes. Die lautliche Ähnlichkeit von „beginn“ und „begin“ ist durch einen gemeinsamen etymologischen Ursprung motiviert; die Ursprünge von „beguine“, einem bestimmten Liedtyp, hingegen verlieren sich im Oxford English Dictionary mit Verweis auf eine (nur) mündliche Überlieferungsgeschichte und der vagen Andeutung sexueller Attraktion; 40 es findet sich allerdings der Hinweis auf einen Song von Cole Porter, „Begin the Beguine“ (1935), dessen Refrain das Gedicht zitiert. Das Lied erzählt von einer Liebesbeziehung, die mit dem Beginn einer Beguine begann; die Beziehung endete, zum Bedauern des Sprechers, aber ein erneutes Hören des Musikstücks bringt die Vergangenheit in die Gegenwart zurück und schafft dadurch möglicherweise die Grundlage 150 Brigitte Rath <?page no="151"?> 41 „Wenn man im Gange war, dachte [die junge Antonie, nachdem sie in der Anfangsszene der Buddenbrooks beim Aufsagen eines Artikels des Katechismus auf die „glatte Bahn“ gebracht worden war], war es ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den ‚Jerusalemsberg‘ hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte.“ Mann, Thomas (2002). Buddenbrooks. Verfall einer Familie. 1901. Herausgegeben von Eckhard Heftrich. Frankfurt am Main: Fischer, 9. für einen zukünftigen Neubeginn. Die komplexe Zeitstruktur des Liedtexts, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Phrase „when they begin the beguine“ überblendet, führt zu der Frage, die sich im Prosagedicht unmittelbar anschließt: „und wann ist das“. Wie verhält sich die schriftsprachliche Einladung „listen“ zu dem Klang von Cole Porters Song, zu dem Klang des Songs, von dem er wiederum erzählt, zum „laut“, der am Anfang war? Ist es sinnvoll zu fragen, was zuerst da war, der lesbare Text oder der hörbare Ton? Und wann wäre das. Diese lange Faszination mit Anfängen stammt von der Kraft, die ihnen zugeschrieben wird: Anfangen stellt Weichen. Wer a sagt, lernen wir, muss auch b sagen. Der Anfang setzt uns auf eine glatte Bahn, auf der man nicht mehr einhalten kann, wenn man auch wollte. 41 Deshalb sind Anfänge so schwer und wichtig: sie reichen weit über sich hinaus. Oder, zeigt das Gedicht, das ja mühelos von der Bahn, die von „am anfang war“ zu „das Wort“ führt, auf eine andere kommt, eben auch nicht: „und muss, wer a sagt, gar nichts“. Wenn der nächste Gedanke, das nächste Wort, der nächste Laut nicht natürlich notwendig ist, dann kann er, dennoch ausgesprochen, auf nicht selbstverständliche Art interessant und neu werden: „und muss, wer a sagt, gar nichts, wer b sagt, der lippen sich gewiss und sein“. Wer „b“ nicht sagen muss, hat Raum, sich zu fragen, was die Bedingungen des Sprechens, die - mit den Lippen für das „b“ hier körperlichen - Bedingungen dieser spezifischen Äußerung sind; und ob man den Buchstaben „b“ nach der deutschen Konvention oder, die Bahn dieser Sprache verlassend, etwa wie den englischen Buchstaben „b“ und so das englische Wort „be“ aussprechen soll - und damit der Buchstabe „b“ mit der medialen Frage zum Verhältnis von Schrift und Laut auch die ontologische nach dem Sein stellt. Dieser Text muss gar nichts, auch nicht das b nach dem a vermeiden. Deshalb hat er die Freiheit, in einer Fülle alternativer Verbindungen den vielfältigen Implikationen und Bedingtheiten eingefahrener Verbindungen nachzugehen und so scheinbare Notwendigkeit in spielerische Freiheit zu wenden. Diese Freiheit ist keine Beliebigkeit, denn jedes Anfangen setzt in Beziehung. Uljana Wolfs Texte machen dies explizit. Sie legen kein besonderes Gewicht darauf, wo ein Text beginnt, weil er immer schon fortsetzt; interessant ist, auf welche Weise „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 151 <?page no="152"?> 42 Moure, Erín (2016). Einleitung. In: O Cadoiro. Übersetzt und herausgegeben von Uljana Wolf. New York, Berlin, Schupfart: roughbooks, 1-10, hier 1. Moure bindet das Fallen nicht rückwärtsgewandt an den Ursprung, sondern folgt seiner Dynamik: „Das Fallende selbst stellt die Fragen an die Zukunft.“ Moure (2016: 9). 43 Wolf, Uljana (2016). Transatlantische Tapisserien. Zu Erín Moures O Cadoiro und zum Übersetzen mehrsprachiger Lyrik. Merkur 70, 88-93, hier 90. 44 Jandl (1985: 21). 45 Latour, Bruno (1996). On actor-network theory: A few clarifications. Soziale Welt 47: 4, 369-381. er wohin führt, welche Verbindungen er aktualisiert und in welche Richtungen er sie fortschreibt und fortschreiben lässt. Wie geht man also mit dem Rahmen um, der immer bereits gegeben ist? Man fällt heraus. Sprechen als die „art of falling“ ist die Kunst, an vorhandene Beziehungen anzuknüpfen und doch anders, etwa in einer anderen Sprache weiterzumachen. Uljana Wolf übersetzt Erín Moures Beschreibung des Dichtens als „Fallen. Für mich ist das der Ort des Gedichts. Wer Gedichte schreibt, muss immer darauf vorbereitet sein, zu fallen.“ 42 und setzt fort: „Das Fallen durch die Sprachen elektrifizierte und affizierte auch mich.“ 43 Nur den eingefahrenen Verbindungen und Erwartungen nachgehend findet sich kein Weg aus der Bahn; es braucht „den Einfall, ohne den ein Gedicht nicht entsteht“ 44 , einen Impuls, der nicht durch bereits Vorhandenes determiniert ist und so immer unerwartet kommt. Er fällt ein, mittendrin, und die Kraft dieses Falls reißt aus der Bahn. Die Kunst ist, sich mitreißen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass nicht der Rahmen der Grenze, sondern das Netz der Beziehungen halten wird. 4. gene und ich und laura und sophie Uljana Wolfs Poetik der Beziehung prägt die Haltung ihrer Dichtung: Die Positionierung ihrer Gedichte zu Sprachgrenzen, Gattungsgrenzen oder den Grenzen eines Textes folgt aus der Arbeit in und an dem, was in der jeweiligen Si‐ tuation als Beziehungsnetz gegenwärtig relevant ist, auch wenn dabei scheinbar verschiedenen Kategorien Zugehöriges in Verbindung gebracht wird. 45 In der diesen Beitrag abschließenden Analyse eines Text-Sets aus der Serie „subsisters“ aus dem Band falsche freunde will ich zeigen, wie ihre Gedichte Beziehungen quer zu den Grenzen spannen, die Fiktion und Realität, Text und Leben unterscheiden, und dadurch die Lesenden einladen, sich nicht nur implizit angesprochen zu fühlen. Der Titel der Serie „subsisters“ spielt auf „subsisting“ an, sich trotz Widrig‐ keiten, wenn auch nur knapp, am Leben erhalten, und auf „sisters“, Frauen einer Generation, die ein Entwicklungsumfeld teilen. Man kann auch subversive 152 Brigitte Rath <?page no="153"?> 46 Man kann dabei auch an Ilse Aichingers 2006 in der Wiener Edition Korrespondenzen veröffentlichten Band Subtexte denken, die Eberhard Rathgeb in der FAZ vom 2.11.2006 als „Widerstand gegen alles scheinbar Selbstverständliche, das Verharmlosen und das verdrängende Dahindämmern“ liest. 47 Wolf (2009: 37), aus: Cazdyn, Eric (2005). A New Line in the Geometry. Egoyan, Atom/ Balfour, Ian (Hrsg.) Subtitles. On the Foreignness of Film. Cambridge, Mass; London: MIT Press, 403-419, hier 414-415. 48 Das sind für die ersten sechs Sets Howard Hawks The Big Sleep mit Lauren Bacall; Fritz Langs Clash by Night mit Barbara Stanwyck und Marilyn Monroe; Douglas Sirks All That Heaven Allows mit Jane Wyman; Alfred Hitchcocks Lifeboat mit Tallulah Bankhead; Josef von Sternbergs Morocco mit Marlene Dietrich; Douglas Sirks Imitation of Life mit Lana Turner. Jedes Prosagedicht erwähnt den Vornamen der jeweiligen Hauptdarstellerin und schafft so eine offensichtliche Verbindung zwischen den Texten und dem entsprechenden Film. Die Reihe an weiblichen Vornamen in den Texten der Serie evoziert eine Schwesternschaft von Schauspielerinnen, die als weibliche Stars im Hollywood der Golden Era wie auch ihre Charaktere mit systemischem Sexismus, Gewalt gegen Frauen und hohem psychischen Druck umgehen mussten. Subtexte mithören 46 , wie sie „subtitles“, Untertitel, sein können; denn das Motto der Serie, ein Zitat aus einem Artikel Eric Cazdyns, beschreibt Untertitel als eine Transformation, die Exzess sichtbar macht: „All subtitles invariably transform the original text … Transformative subtitling implies that the original is not only what it is, but that it also exceeds itself.“ 47 Die Gleichung „O ist O plus X“ denkt ein Original - oder allgemeiner: eine scheinbar abgegrenzte Einheit - als nie vollständig abgeschlossen. Etwas bleibt weiter etwas, auch wenn definierende (Zeilen-)Grenzen verloren gehen; etwas ist etwas und noch mehr. Um genau diese Dynamiken der Identitätstransformation, wie sie etwa durch Untertitel angestoßen werden können, geht es in „subsisters“. Das Layout der sieben Doppelseiten dieser Serie spielt visuell auf das Kino an: je zwei zusammengehörende neunzeilige Prosagedichte als längliche Text-Blöcke - ungefähr im widescreen-Seitenverhältnis - stehen sich auf einer Doppelseite gegenüber. Der linke Text trägt die Bezeichnung „OV“, Originalversion, der rechte „OmU“, Original mit Untertitel. Ein aphoristischer Satz auf Englisch, gesetzt unter die jeweilige OmU-Fassung in invertierten Farben, weiße Schrift auf einem schwarzen Band, erinnert an einen Untertitel. Eine kurze Erklärung auf der letzten Buchseite listet die sieben Kinofilme aus der „Golden Era“ Hollywoods auf, auf die die Sets jeweils reagieren. 48 Das siebte Set, dem ich mich im Folgenden widme, bezieht sich auf Otto Premingers Laura mit Gene Tierney: 7 OV gene geniert sich. ich will ein bild von ihr malen, aber sie hält nicht still. ihr mantel ist weiß, ihr hut ist weiß, dazu das leise, graue flackern im kamin - es ist schwer, hier ihre „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 153 <?page no="154"?> 49 Wolf (2009: 50-51). grenze zu finden. ein schatten liegt auf dem fauteuil. er zeigt uns seinen ausweis. wir lassen ihm die leinwand, die wir laura nennen, und rennen, gene und ich, vorbei an seinem unbeweglichen gesicht, der alten standuhr und der zeugenschaft des falschen interieurs. 7 OmU wer schämt sich nicht manchmal seiner gene. weder sie noch ich haben ein bild davon. ein weißer mantel, das schon, aber was weiß der hut, das graue flackern im kamin - klarer fall von borderline. nicht einmal die farbe des lehnsessels weist uns aus, entlassen sind wir aus der zeugenschaft des segeltuchs, der aura eines falschen namens, gene und ich, und schließen wetten ab, dass unsere einrichtung vorübergeht, mit starre, standuhr, licht, gesicht. electroshocks? sister, being in the picture doesn’t mean you have to play a painting. 49 Wie „untertiteln“ und erweitern diese Prosagedichte Premingers Kinofilm Laura (1944)? Die Handlung des Films kreist um problematische Identität: Das die Filmhandlung auslösende Mordopfer, das durch entstellende Schüsse ins Gesicht getötet wurde, ist eine der Titelfigur Laura ähnlich sehende Frau, die Lauras Verlobter in deren Abwesenheit in ihre Wohnung brachte und die Lauras „Mentor“ im Irrglauben, sie sei Laura, dort erschoss, weil er Laura nicht an die Ehe mit einem anderen Mann „verlieren“ wollte. Die Gedichte nehmen die im Film verhandelte prekäre Identität - eine Verwechslung, die zur Ermordung einer Frau führt; die Austauschbarkeit der Geliebten; der „Verlust“ eines Menschen als Bedrohung der eigenen Identität, auf die mit Aggression reagiert wird - durch eine Reihe von Referenzen auf einzelne Szenen auf. So bleibt der Blick der Kamera wie auch des ermittelnden Polizisten immer wieder auf einem großen Portraitgemälde des vermeintlichen Mordopfers haften, „ein bild von ihr“, das in ihrer Wohnung prominent über dem „leise[n], graue[n] flackern des kamins“ hängt. Als in einem Plottwist einige Tage nach Beginn der Ermittlungen die doch nicht ermordete Laura in „weißem mantel“ und „weiß[em] hut“ in ihre Wohnung zurückkehrt, „liegt auf dem fauteuil“ jemand, der, als sie die Polizei zu rufen droht, ihr „seinen ausweis“ zeigt und sich damit als Ermittler in ihrem Mordfall identifiziert. Die beiden letzten Worte der „7 OmU“ Fassung, „licht, gesicht“ evozieren eine Verhör-Szene in der Polizeistation, während der blendendhelles „licht“ einer Lampe unmittelbar in Lauras „gesicht“ gerichtet ist, um Lauras Unschuld an der Ermordung der ihr ähnelnden Frau zu überprüfen; Laura wird schließlich „entlassen […] aus der zeugenschaft“. „einrichtung“ und „interieur“ verweisen unter anderem auf die „standuhr“, die 154 Brigitte Rath <?page no="155"?> 50 Tierney, Gene/ Herskowitz, Mickey (1980). Self-Portrait. 1979. New York: Berkley Books, 120. 51 „It is one of the curious facts of movie-making that paintings seldom transfer well to film. Otto felt that mine lacked the mystic quality he insisted on having. He sent me instead to pose for Frank Polony, the studio photographer whose pictures of me as a starlet had appeared in so many magazines. Otto had this one enlarged and lightly brushed with paint to create the effect he wanted. So the ‚portrait‘ of Laura was, in truth, a blow-up of a photograph.“ Tierney/ Herskowitz (1980: 121-122). 52 Tierney/ Herskowitz (1980: 123). Lauras Mentor ihr geschenkt hatte und in deren Geheimfach versteckt sich schließlich seine Tatwaffe findet, womit der Mord ein „klarer fall“ wird. Uljana Wolfs „subsisters“ binden diese im Film nicht unmittelbar zusammenhängenden Momente in neuen Konstellationen in einen Prozess der Sinnstiftung ein, der Fragen instabiler Identität über die Handlung des Films hinaus nachgeht. Die Gedichte entwickeln diese Identitätsfragen klanglich aus dem Vornamen der Schauspielerin, Gene, und so wird die Grenze zwischen Schauspielerin und Rolle durchlässig. Der „Untertitel“„sister, being in the picture doesn’t mean you have to play a painting“ stärkt die Verbindung von Rolle und Schauspielerin, indem er „And who wants to play a painting? “ 50 - ein Zitat aus Gene Tierneys gemeinsam mit Mickey Herskowitz verfassten Autobiographie Self-Portrait - in einem Wortspiel mit dem Bedürfnis zusammenführt, „im Bilde zu sein“: was ist man bereit, für eine Filmkarriere zu tun? Die Identitätszuschreibung durch einen frame, durch den Rahmen des Bildes und die Einstellung des Films hat Macht. „bild“, „ausweis“, „borderline“, „zeugenschaft“ setzen die Reihe der Beispiele für die problematische Identitätsfeststellung von Außen fort, die eine scheinbar feste, für sich alleinstehende Identität erzeugt. Diese scheinbar identitätssichernden Zeichen sind, wie sich zeigt, dabei nicht mit sich selbst identisch. Die Erwähnung der „leinwand, die wir laura nennen“ mit „der aura eines falschen namens“ erinnert nicht nur an die nicht-Identität von Person und Portrait, sondern verweist auch darauf, dass wir einen Film sehen, in dem wir ein Portrait Lauras sehen; genauer: wir sehen eine filmische Wiedergabe eines leicht übermalten Fotos von Gene Tierney, das als Gemälde fungiert, das Laura abbildet. 51 Zudem führt genau die Abhängigkeit von einer identitätsstiftenden Zuschreibung durch etwas Anderes potentiell zum Kollabieren der Identität mit dem sie definierenden Zeichen: „I am pleased that audiences still identify me with Laura, as opposed to not being identified at all“ 52 formuliert Tierneys Autobiographie die Schwierigkeit, die „grenze zu finden“, die „borderline“ zwischen Gene Tierney und Laura, der Figur, die sie verkörpert. Gene Tierneys Autobiographie erzählt von den schmerzhaften Folgen pre‐ kärer Identität. So entkam Tierney, die einige Zeit in psychiatrischen Einrich‐ „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 155 <?page no="156"?> 53 Tierney/ Herskowitz (1980: 184). 54 „I had no trouble playing any kind of role. My problems began when I had to be myself.“ Tierney/ Herskowitz (1980: 121). 55 Tierney/ Herskowitz (1980: 7). tungen verbrachte, einmal an einem Wintertag, wobei sie nach der Erzählung in ihrer Autobiographie ohne Zögern ihren schweren Pelzmantel abwarf, um schneller laufen zu können; diese Szene greifen einige Formulierungen aus den Gedichten auf, etwa „rennen“ und „schließen wetten ab, dass unsere einrichtung vorübergeht“. 53 In diesem Kontext gewinnt auch das Wort „borderline“ in der „7 OmU“ Fassung eine spezifischere Bedeutung. 54 Die Behandlung einer Depres‐ sion mit einer - im Untertitel angespielten - „electroshocks“-Therapie führte dazu, dass Tierney beträchtliche Teile ihrer autobiographischen Erinnerungen verlor. Wer ist also das Ich, das beim Schreiben des eigenen Lebens über diesen Verlust von Erinnerung an das zu Beschreibende schreibt: For the flight to Kansas I had to be sedated. I remember little about the trip, and only a blurred impression of my brother leading me into the admitting office at Menninger’s. In fact, it should be said that I have no recollection of some of the incidents described in this book, other than a face half-seen, a voice half-heard. I have had to recover the details from sources outside myself, from my family and friends, scrapbooks and letters. 55 Die Autobiographie, die thematisch die quälenden Schwierigkeiten von Identi‐ tätsbildung ausstellt, legt hier ihre Konstruiertheit aus verschiedenen Quellen offen und beschreibt, wie sich ein Effekt von Identität nur in einem Netz von Beziehungen bildet. Die Frage nach der Umgrenztheit des Textes, seiner problematischen Iden‐ titätssicherung durch Autorschaft, die die Autobiographie aufwirft, führen die Gedichte fort: Ein Film - genauer: eine Filmrezeptionserfahrung - wird übersetzt in Dichtung, ein Gedicht verwandelt sich in ein anderes. Wie viele Texte ergibt das? Es wäre schwer, hier ihre Grenze zu finden, denn wie „art— apart“ beginnt „subsisters“ nicht ex nihilo, sondern schreibt explizit fort. Von der Energie, die im Aufnehmen und Weitergeben besteht, erhalten (sich) diese Texte (am) Leben. „7 OV“ und „7 OmU“ haben einen Großteil ihres lexikalischen und phonetischen Materials gemeinsam, und beide folgen Klangspuren, angefangen mit dem Klang eines Namens, der sich entfaltet: „gene geniert sich“, heißt es in „7 OV“, die Lautlichkeit des Subjekts bedingt das darauf folgende Prädikat; der Beginn von „7 OmU“ „übersetzt“ das aus dem Französischen stammende Verb semantisch in ein Wort mit germanischen Wurzeln, „schämt sich“, und löst die durch das Geisterwort „genieren“ präsente Klangerinnerung lautlich 156 Brigitte Rath <?page no="157"?> 56 Untertitelungen, die ein sich Verhören simulieren und damit gleichzeitig einen Kom‐ mentar zum Original abgeben, haben sich zu einer eigenen Kunstform entwickelt; auf youtube finden sich etwa zahlreiche Beispiele für „misheard lyrics“. 57 Jakobson, Roman (1971). Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb. In: Jakobson, Roman. Selected Writings. 2 Bände. Band 2: Word and Language. Den Haag, Paris: Mouton, 130-147. am Ende des Satzes mit dem spielerisch uneindeutigen „gene“ ein: „wer schämt sich nicht manchmal seiner gene? “ Solche Transformationen, die Worte entlang des Lauts wie der Semantik verschieben, generieren den Text: „weiß“ changiert zwischen Farbe und wissen, wird zu „ausweis“ und „ausweisen“, und „laura“ zur „aura eines falschen namens“. „7 OV“ wie „7 OmU“ arbeitet also mit der seman‐ tischen Fülle, die durch minimale phonetische Verschiebungen entsteht. Diese „subsisters“ interessieren sich für sogenannte mondegreens, für den Moment, wenn ein sich Verhören überraschenden Sinn ergibt: „Sweet dreams are made of cheese“. 56 Hat man es einmal gehört, ist das eine Wort, der eine Text immer schon im anderen enthalten: das Verhören schafft den untertitelnden Exzess, der das Original aus sich heraus erweitert. Wo also wäre die identitätsstiftende Grenze eines Textes? Diese transformierende Dynamik ließe sich nur verhindern, wenn ihn nie jemand läse. Konsequenterweise bleibt die Konstruktion eines Identitätseffekts durch Beziehungen nicht eine unbeteiligte Beobachtung, sondern wird mit den Ge‐ dichten performiert: „gene und ich“ heißt es mehrmals im Gedicht. So wird der beziehungs- und textstiftende Akt des Lesens und Schreibens in den Gedichten durch ein „ich“ markiert, das in jedem Gedicht der „subsisters“-Serie mit Ob‐ jekten oder Protagonist: innen interagiert. In der „7 OV“ Fassung will „ich“ Genes „bild malen“ - was sowohl das „ich“ auf die Leinwand projiziert als auch durch die Gedichte tatsächlich geleistet wird - in Anspielung auf die Episode in Lauras Leben, in der ein Maler ihr Portrait malte und sich zwischen Maler und Modell eine Affäre entspann, und „ich“ läuft gemeinsam mit Gene aus der „einrichtung“ weg, wobei sich seine Lautlichkeit ebenso produktiv entfaltet wie zuvor die von „gene“: „und rennen, gene und ich, vorbei an seinem unbeweglichen gesicht“. Dieses Pronomen der ersten Person, das als Index 57 Identität voraussetzt und schafft, interagiert also mit Laura wie mit Gene; die Gedichte, genau wie der Körper der Schauspielerin im Moment des grell-blendenden Verhör-Lichts im Gesicht, verbinden Lauras und Genes Erfahrungen mit labiler Identität in einem Akt des Lesens, der die Erfahrungen miteinander in Beziehung bringt und ihnen damit weitere Bedeutung gibt. Wo soll man also die Grenze ziehen? Wo ist der Umriss, die „borderline“, die Identität schafft? Die Gedichte folgen Klangassoziationen, die sich aus dem phonetischen Impuls eines Namens ent‐ „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 157 <?page no="158"?> 58 Brezsny, Zoe/ Seita, Sophie (2017). Conversation Smudging: Sophie Seita on Translating Uljana Wolf. Bomb Magazine. 27. Oktober 2017. Abrufbar unter: https: / / bombmagazin e.org/ articles/ conversation-smudging-sophie-seita-on-translating-uljana-wolf (Stand: 27.04.2023). 59 Wolf (2013: 10). wickeln, verbinden sich mit Szenen aus einem Kinofilm, mit der gemeinsam mit einem Co-Autor verfassten und auf fremdem Erinnerungsmaterial basierenden Autobiographie einer Schauspielerin, mit der Praxis der Untertitelung, in der die Filmerfahrung durch Schreiben supplementiert oder exceeded wird, und mit einem „ich“, das sich in imaginierten Momenten körperlicher Interaktion in das dichte Netzwerk an Beziehungen einbringt, das diese Texte erzeugen. Jedes dieser Netzwerke ist komplex und heterogen; es öffnet sich einer anhaltenden, aktiven Auseinandersetzung. Das „ich“ lässt sich als dasjenige lesen, das den Film mit diesen Prosagedichten „untertitelte“, und - auch dieses „ich“ ist nicht eins - als eine Selbstbezeichnung des Gedichts, und lädt überdies dazu ein, es probeweise als das eigene Pronomen zu verstehen, sich in den Prozess der Sinnbildung einzuschreiben und ihn fortzusetzen. Das scheint mir genau der Impuls der Poetik der Beziehung dieser Texte zu sein, dem Sophie Seita in ihrer englischen Übersetzung gefolgt ist, die „7 OV“ und „7 OmU“ eine weitere Untertitelungstransformation folgen lässt: It’s a subtitle that rewrites or deliberately misunderstands the first, but such bounda‐ ries between original and translation blur when Uljana translates herself translating. My process then involved translating Uljana’s translation back into English, and adding a third, supposedly „English,“ version. It’s sort of a Möbius strip of multiple, equally valid versions of one another. 58 Was immer das Original überschießt, was bei jedem Rezeptionsakt dazukommt, das exzessive X also zu jedem O, ist ein Ich als der Untertitel, der missverste‐ hend-transformierend mitläuft, der Überschuss, der nicht einzufangen oder wegzulassen ist. Eine Poetik der Beziehung bezweifelt, dass es fundamentale Unterschiede gibt. Das kann den Fokus auf „borderscapes“, auf immer wieder neu und anders gezogene Schnitte und ihre Aufforderung zu immer wieder neuer Sinnbildung lenken. Uljana Wolfs Texte ermöglichen auszutesten, welche Positionen „ich“ einnehmen kann, wenn ich das Augenmerk auf Beziehungen lege. „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“ heißt es in „rede mit koppelzwil‐ ling“ 59 : das „fürwas“ der Relevanz ergibt sich aus der jeweiligen Beziehung von ich und du, die diese indexikalischen „fürwörter“ erst mit „fürwaswörtern“ ver‐ bindet. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung fordert mich heraus, meine Begriffe von Mehrsprachigkeit, Gattung und Text zu relationalen zu transformieren, 158 Brigitte Rath <?page no="159"?> auch indem ich mich selbst zu ihnen in Beziehung setze. Und so untertitle ich Uljana Wolfs Gedichte, um diese Dynamik weiterzugeben: He da. „du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung 159 <?page no="161"?> [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf Áine McMurtry Abstract: Der Beitrag untersucht die mehrsprachige Schreibpraxis von Uljana Wolf, einer der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartslyrik, die für ihre experimentelle Schreib- und Übersetzungsarbeiten international anerkannt wird. Um Wolfs „transatlantischen“ Beitrag zu einer explizit mehrsprachigen Schreibpraxis zu verstehen, bespricht dieses Kapitel den Gedichtzyklus „alien I: eine insel“, der in falsche freunde (kookbooks 2009) - Wolfs zweiter Lyriksammlung - erschien. Dieser Zyklus konzentriert sich auf die amerikanische Grenzpolitik des frühen 20. Jahrhunderts durch eine lyrische Auseinandersetzung mit dem Fall von Ellis Island, der Insel im New Yorker Hafengebiet, die lange Zeit als zentrale Sammelstelle für Einwanderer in die USA diente. Die lyrische Behandlung von Erfahrungen von Flucht und Vertreibung wird als literarisches Verfahren verstanden, das die begrenzte Auffassung von Volk und Nation hinterfragt. In der mehrsprachigen Beschäf‐ tigung mit akustischen Ausdrucksformen und intertextuellen Hinweisen lässt sich eine weitere Abkehr von optischen Ordnungen der Zeugenschaft erkennen, die als bestimmend für die experimentelle Erinnerungsarbeit im 21.-Jahrhundert verstanden wird. Keywords: „aliens“, Gegenwartslyrik, transatlantisch, translingual, Uljana Wolf, Zeugenschaft, Zitat <?page no="162"?> 1 Wolf, Uljana (2022). Why write in many languages. In: Wolf, Uljana. Etymologischer Gossip: Essays und Reden. Berlin: kookbooks, 132-137, hier 137. 2 „It is ‚transatlantic‘ writing because it is informed as much by my transatlantic or transnational movements, as it is by translation as a poetic practice.“ Wolf, Uljana (2022). Fibel Minds: A conversation between Uljana Wolf and Simen Hagerup. In: Etymologischer Gossip, 101-113, hier 103. 3 Adelbert von Chamisso Preis 2016. Abrufbar unter: https: / / www.bosch-stiftung.de / de/ news/ adelbert-von-chamisso-preis-2016-aussergewoehnlich-sprachsensibel-schoe n (Stand: 26.04.2023). 4 Wolf, Uljana (2013). meine schönste lengevitch. Berlin: kookbooks. 5 Unsere Preisträger: innen. Abrufbar unter: https: / / www.preis-der-leipziger-buchmesse .de/ de/ nominierungen-preistraeger/ (Stand: 26.04.2023). While the desire to invent a language of arrival might be shared by translingual poets across the globe, the politics and results of translingual writing are necessarily local and historically grounded in specific silencings and linguistic ruptures. […] Perhaps the purpose of translating such translingual writing is not and never to produce adequate relations but to create unmodest inadequate relations, multiply narrations, re-learn hearing, amplify common struggle, and to re-draw maps of diverse linguistic relations which ultimately detach from the concept of the mother tongue and its sociopolitical, limiting demarcations. 1 Uljana Wolfs Überlegungen zum translingualen Schreiben bilden den Ausgangs‐ punkt dieses Aufsatzes, der sich einer Untersuchung der mehrsprachigen Praxis dieser Autorin widmet, die als eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartslyrik gilt. Wolf wurde 1979 in Ost-Berlin geboren und lebt derzeit in Berlin und New York. Sie versteht ihre Schreibpraxis als eine „transatlan‐ tische“, da ihre Methode genauso von ihren transatlantischen und transnatio‐ nalen Reisen beeinflusst wird, wie von ihrer Übersetzungsarbeit, die sie als poetisches Verfahren konzipiert. 2 Wolf ist für ihre experimentelle Schreib- und Übersetzungsarbeiten im deutschsprachigen als auch im internationalen Raum anerkannt und gefeiert worden. Schon im Jahr 2006 wurde sie mit dem Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichnet und 2016 bekam sie den Chamisso-Preis für ihr bisheriges Gesamtwerk, 3 insbesondere für den dritten Lyrikband, meine schönste lengevitch (2013). 4 Zuletzt gewann sie 2022 den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse für ihre Essaysammlung Etymologischer Gossip (2021). 5 Als Übersetzerin überträgt Wolf vor allem Lyrik aus germanischen und slawischen Sprachen und zusammen mit anderen SchriftstellerInnen unternimmt sie auch gemeinsame Übersetzungsprojekte, die den Zugang zu anderen Sprachen - unter anderem Dänisch, Französisch, Slowenisch, Alt-Okzitanisch - ermöglichen. Um Wolfs transatlantischen Beitrag 162 Áine McMurtry <?page no="163"?> 6 Wolf (2022: 137). 7 Wolf, Uljana (2009). falsche freunde. Berlin: kookbooks. 8 Yildiz, Yasemin (2012). Beyond the Mother Tongue: The Postmonolingual Condition. Fordham University Press, 29. 9 Yildiz (2012: 29). zu einer explizit mehrsprachigen Schreibpraxis zu verstehen, die darauf zielt, „unbescheidene, ungeeignete Beziehungen zu schaffen, Erzählungen zu verviel‐ fachen, das Hören erneut zu lernen“, 6 bespricht dieses Kapitel „alien I: eine insel“, den ersten Teil ihres zweiteiligen Zyklus „aliens“, der 2009 in falsche freunde - Wolfs zweiter Lyriksammlung - erschien. 7 Dieser Zyklus konzentriert sich auf deutsche und nordamerikanische Kontexte und vergleicht Bestimmungen - inklusive medizinischer Inspektionen, eugenischer Untersuchungen und Tests der Einwanderer in die USA - im frühen 20. Jahrhundert mit biometrischen Formen der Grenzkontrolle von heute. Wie auch in ihren anderen Arbeiten untersucht und bestreitet Wolfs Sammlung Sprachgrenzen, in diesem Fall zwischen Deutsch und Englisch, in der Lyrik sowie in der Übersetzung als lyrische Anwendung. 1. Kritische Mehrsprachigkeit in Wolfs „alien I : eine insel“ In ihrem Aufruf zu einer notwendigen Loslösung vom Begriff der Muttersprache lässt sich Wolfs Ansatz auch als ein Beispiel „kritischer Mehrsprachigkeit“ verstehen. Laut Yasemin Yildiz öffnet dieser sprachliche Modus „neue, affektive Wege“, die nichts mit Verwandtschaft oder ethnischen Identitäten zu tun haben. 8 Wolfs translinguale Praxis im ersten Teil ihres Zyklus „aliens“ eröffnet kritische Perspektiven auf sprachliche Diskurse und Automatismen, sowie auf die Materialität der Sprachen. Für Yildiz ermöglicht dieser kritische Modus „an alternative conceptualisation of the mother tongue that disaggregates linguistic origins, communal belongings, and affective investments.“ 9 Wolfs ständige Verflechtung mehrerer Sprachen und Stimmen unterbricht monolin‐ guale Annahmen zu Formen der Identität und Zugehörigkeit. Marie Luise Knott betonte 2019 in ihrer Laudatio an Wolf zur Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung: [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 163 <?page no="164"?> 10 Knott, Marie Luise (2019). Laudatio zur Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Überset‐ zung. Abrufbar unter: https: / / www.978-3.com/ verlagsveroeffentlichungen/ wolf-gossip -essays-und-reden (Stand: 11.09.2023). 11 Wolf (2009: 54). Ihr schmugglerisches Sprachhandeln geschieht nämlich keineswegs aus Daffke, also aus irgendeinem Trotz, sondern aus Sprachnot und Denkverzweiflung. Ihr Rütteln am Mythos von Einsprachigkeit und Sprachzuhörigkeit verteidigt in der Sprache die Existenz „des Anderen“ ‒ richtiger der vielen Anderen, die es ja gibt. 10 Die lyrische Auseinandersetzung mit transtemporalen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung im „aliens“-Zyklus wird letztendlich als literarisches Verfahren verstanden, das Meistererzählungen und deren Bevorzugung linearer Modelle der Zeit sowie begrenzter Auffassungen von Völkern und Nationen hinterfragt. In der multilingualen Beschäftigung mit akustischen Ausdrucksformen und intertextuellen Hinweisen lässt sich eine Abkehr von optischen Ordnungen der Zeugenschaft erkennen, die ich als bestimmend für die lyrische Erinnerungsar‐ beit im 21.-Jahrhundert verstehe Wolfs Zyklus fängt mit einem englischsprachigen Lexikoneintrag an, der das Wort „alien“ definiert. Es wird sofort klar, dass sich Wolfs Text mit sprachlichen Kategorisierungen und deren Ausgrenzungen beschäftigt, und zwar in thema‐ tischer und struktureller Hinsicht: Alien adj I a: belonging or relating to another person, or thing: STRANGE b: relating, belonging, or owing allegiance to another country or go‐ vernment: FOREIGN 2: differing in nature or character typically to the point of incompatibility; n I: a person of another family, race or nation 2: a foreign-born resident who has not been naturalized and is still a subject or citizen of a foreign country. 3: EXTRATERRESTRIAL / Webster’s Ninth New Collegiate Dictionary. Springfield, Massachusetts, 1998 11 In seiner Aneinanderreihung unterschiedlicher Definitionen hebt dieser Lexi‐ koneintrag die vielen Kategorien hervor, die das Wort „Alien“ als das „An‐ dere“ auffassen, sowie deren ideologische, nationalistische und rassistische Ursprünge. Gleichzeitig legt der Eintrag bloß, inwiefern negative Unterschei‐ dungen und Verbote all diese Kategorien bestimmen. Als Epigraph für den ersten Teil des Zyklus - „alien I : eine insel“ - verwendet Wolf ein übersetztes Zitat aus dem Drehbuch eines Dokumentarfilms über Ellis Island, die Insel im New Yorker Hafengebiet, die lange Zeit als zentrale Sammelstelle für Einwanderer in die USA diente. Der Dokumentarfilm - Récits d’Ellis Island: Histoires d’errance et d’espoir (Geschichten von Ellis Island oder Wie man Amerikaner macht, 1980) 164 Áine McMurtry <?page no="165"?> 12 Bober, Robert/ Perec, Georges (1980). Récits d’Ellis Island: Histoires d’errance et d’espoir. TF1. 13 Wolf (2009: 55). 14 Baumann, Zygmunt (2005). Liquid Life. Cambridge: Polity, 2. 15 Baynton, Douglas C. (2016). Defectives in the Land: Disability and American Immigra‐ tion Policy, 1882-1924. In Bukowczyk, John J. (Hrsg) Immigrant Identity and the Politics of Citizenship: a Collection of Articles from the Journal of American Ethnic History. Urbana-Champaign: University of Illinois, 60-73, hier 61. -, der in den siebziger Jahren von dem Regisseur Robert Bober und dem Schriftsteller Georges Perec gedreht wurde, schildert die Geschichte der Insel, sowie der osteuropäischen Juden, die über die Lager auf der Insel in die USA gekommen waren. 12 Das Zitat stammt von Perec, französischer Schriftsteller der Nachkriegszeit und führende Stimme des Oulipo Autorenkreises: „auch auf Ellis Insel hatte das Schicksal die Gestalt eines Alphabets“. 13 Die Wahl des Zitats betont die sprachliche Grundlage der Ausgrenzungsmechanismen, die an der wichtigster Grenzübergangsstelle der USA eingesetzt wurden. Im ersten Teil des Zyklus schildern die lyrischen Texte die amerikanische Grenzpolitik des frühen 20. Jahrhunderts und die Rolle der Sprache in ihren Ausschließungsme‐ chanismen. Im zweiten Teil des Zyklus - „alien II : liquid life“ - konzentriert sich Wolf auf biometrische Zugangskontrollen der Gegenwart, die weniger sichtbar sind. In diesem Teil deutet der Untertitel den lyrischen Dialog mit dem Soziologen Zygmunt Baumann an. Damit wirft Wolf ein Streiflicht auf Baumanns Beschreibung des modernen Lebens als „flüchtig“ (in Baumanns Begriff: „liquid“), eine Bezeichnung die das Leben als prekär und permanent unsicher versteht. 14 Im gesamten lyrischen Zyklus werden stetig wechselnde Formen der hegemonischen Kontrolle verglichen, um die sprachliche Grundlage ihrer Ausgrenzungen bloßzustellen und neuzudenken. 2. Eine lyrische Antwort auf Kategorien des Hegemonialdiskurses Die siebzehn Texte im ersten Teil des Zyklus stellen lyrische Stellungnahmen zu den siebzehn Buchstaben-Kategorien der englischsprachigen, alphabetisch geordneten Checkliste dar, die von Beamten der US-Einwanderungsbehörde eingesetzt wurde, um Neuankömmlinge auf Krankheiten und anderweitige ‚Störungen‘ zu überprüfen. Schon mit dem ersten Einwanderungsgesetz 1882 zielte die staatliche Legislatur darauf, Menschen mit sogenannten psychischen und körperlichen Schäden auszuschließen, die als Bedrohung für die Gesundheit der Nation angesehen wurden. 15 Mit dem Einwanderungsgesetz von 1891 schuf die Bundesregierung schließlich Vorschriften, um bestimmte Gesundheitsun‐ tersuchungen sofort durchführen zu lassen, welche die allgemeine Überzeugung [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 165 <?page no="166"?> 16 Siehe hierzu Fairchild, Amy L. (2003). Science at the Borders: Immigrant Medical Inspection and the Shaping of the Modern Industrial Labour Force. Baltimore/ London: The Johns Hopkins University Press, 31. 17 Fairchild (2003: 124). 18 Arslan, Gizem. False Friends in Constraint. In Uljana Wolf and the Oulipo. In Bearbei‐ tung und zitiert mit der Erlaubnis der Autorin, April 2023. 19 Wolf, Uljana (2022). Sichtbarmachen ist eine Form des Übersetzens. Zu M. NourbeSe Philips Zong! In: Etymologischer Gossip, 138-141. 20 Philip, M. NourbeSe (2008). Zong! Middletown, CT: Wesleyan University Press. widerspiegelten, dass Krankheit förmlich auf den Körper ‚geschrieben‘ sei. 16 Am New Yorker Hafen gab es zwei Gruppen von Einwanderern. Für Passagiere aus der ersten und zweiten Klasse kam medizinisches Personal an Bord, um diese zu untersuchen, während Passagiere der dritten Klasse, des sogenannten Zwischendecks, mit kleinen Booten zur medizinischen Einreisekontrolle auf Ellis Island gebracht wurden. In der Logik des hegemonialen Systems entsprach die sozioökonomische Klasse der Einwanderer sowohl ihrer Reiseklasse, als auch ihrem Lebensstand, und daher ihrer zukünftigen Perspektive. 17 Sobald die Passagiere aus der dritten Klasse auf Ellis Island ankamen, wurden sie von Auf‐ sehern untersucht, die mit Kreide Buchstaben auf ihre Kleidung schrieben. Diese Buchstaben dienten als Kürzel für eine Reihe von Schwächen, von „suspected mental defect“ (vermutete geistige Störung), „back“ (Rücken), „eyes“ (Augen), „face“ (Gesicht), „goiter“ (Kropf), „pregnancy“ (Schwangerschaft), bis hin zu „trachoma“ (Bindehautentzündung) und „senility“ (Senilität). In Wolfs Band wird diese Kurzschriftcheckliste mit einem einzigen lesbaren Schlagwort auf jedem Seitenanfang wiedergegeben. Unter der Liste findet man ein achtzeiliges Prosagedicht, welches das entsprechende Schlagwort mit einer Betrachtung von Flucht und Exil verbindet. Wie Gizem Arslan in ihrer Analyse des stilisti‐ schen Einflusses des Oulipo Autorenkreises im Werk Wolfs zeigt, setze Wolf experimentelle Methoden wie Ausradieren ein, um die Gewalt des Auslöschens in den Text zu übertragen. Die typographische Gestaltung der Seiten, wobei die meisten Wörter mit weißer Korrekturflüssigkeit durchgestrichen und kaum lesbar sind, unterstreiche die lyrische Auseinandersetzung mit der Sichtbarkeit von Erfahrungen des Auswanderns und des Ankommens. 18 Wolf befasst sich weiterhin mit „Sichtbarmachen“ als „eine Form des Übersetzens“ 19 in einer Besprechung ihrer Teilübersetzung des Gedichtbands Zong! (2008) der kanadi‐ schen Lyrikerin M. NourbeSe Philip, der Zeugnis eines Massakers von 130 Menschen auf einem transatlantischen Sklavenschiff im Jahr 1781 ablegt. 20 Wie in Wolfs Zyklus benutzt Philip Sprachfragmente und Formen des Ausradierens, um historische Erinnerungsarbeit im transatlantischen Nicht-Raum zu leisten. Wolfs Analyse ihres eigenen Übersetzungsprojekts hinterfragt ihre privilegierte 166 Áine McMurtry <?page no="167"?> 21 Wolf (2022: 140). 22 Wolf (2022: 141). 23 Die folgenden Studien werden explizit aufgelistet: „David M. Brownstone u. a.: Island of Hope, Island of Tears, Alan M. Kraut: Silent Travelers, John Parascandola: Doctors at the Gate, Elizabeth Yew: Medical Inspection of Immigrants at Ellis Island, Amy L. Fairchild: Science at the Borders, Howard Markel: »The Eyes Have It«, Howard Markel and Alexandra Minna Stern: The Foreignness of Germs, Georges Perec und Robert Bober: Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht, Friedemann Fegert: »Ihr göhnt es Eich gar nicht vorstelen, wie es in Amerigha zu ged.«, Hans-Jürgen Grabbe: Vor der großen Flut“. Wolf, falsche freunde, 86. 24 Perloff, Marjorie (2012). Unoriginal Genius: Poetry by Other Means in the New Century. Chicago: University of Chicago Press, 4. 25 Telge, Claus (2019). Displaced Writing: Surface Translation as Post-Conceptual Récri‐ ture in Contemporary German Poetry. In Broqua, Vincent/ Weissmann, Dirk (Hrsg.) Sound/ Writing: traduire-écrire entre le son et le sens, Homophonic translation - traducson - Oberflaechenübersetzung. Paris: Éditions des archives contemporaines, 253-268, hier 255. Position und „Diskursmacht als weiße Mitteleuropäerin“ 21 und das dazugehö‐ rende Problem des weißen Blattes: „Auf dem weißen Raum der Seite, der auch ein Herrschaftsraum ist, in dem manches sichtbar gemacht wird, vieles nicht, darunter, immer noch zu oft, das Schreiben vieler BIPOC-Autor*innen.“ 22 Um eben den Stimmen der Verfolgten Platz zu schaffen, ohne diese lyrisch oder narrativ zu ergänzen, verflechten die Prosagedichte in „alien I“ Zitate aus Zeugenaussagen und Unterlagen und beziehen sich auf historische Studien der Geschichte der Einwanderung in die USA. Die Notizen am Ende des Bands nennen die Werke, die zum Schreibprozess beitrugen; Wolf schlägt sogar vor, dass „alien I“ nicht nur von ihr, sondern im Dialog mit den Drehbuchautoren des Ellis-Island-Films, Robert Bober und Georges Perec, sowie den Autoren von acht wissenschaftlichen Studien zu dem Thema, geschrieben wurde. 23 Claus Telge hat die Beziehung zwischen Wolfs übersetzerischer Methode und Marjorie Perloffs Auffassung von „récriture“ aufgezeigt - d. h. eine Zitationssprache, die in unserem digitalen Zeitalter neues Leben und neue Bedeutung gewinnt. 24 Laut Telge sei Perloffs „unoriginelles Schreiben“ ein Schreiben in Übersetzung, eine umgestaltende Literatur, die ständig dabei sei, gemacht und ungemacht zu werden. 25 Auch im Zyklus „aliens“ zeigt Wolfs Praxis der Oberflächenüberset‐ zung vor allem eine Ästhetik, die das Konzept des authentischen Muttersprach‐ lers bestreitet und damit verbundene sprachliche Widersprüche und Störstellen bloßlegt. Der erste Text im Zyklus befasst sich mit dem Buchstaben X, der - laut der Beamten der US-Einwanderungsbehörde - eine „vermutete geistige Störung“ bezeichnete: [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 167 <?page no="168"?> 26 Wolf (2009: 56). 27 Wolf (2022: 111). x marks the spot? und ob. wir, überführt allein durchs irre hiersein, auf der stelle, am kopf der steilen treppe, in sechs sekunden ist alles entdeckt: wir sind die stelle selbst. stinkende inseln. in tücher gehüllt, üble see im leib, imbecile, labil, im besten fall bloß durch den wind. ein flatternder zettel zwischen den zähnen, name, passage, die schatzkarte. selbst ausgegraben, selbst hergetragen. in der gepäckstation: ‚ein blick auf die bündel, ich weiß alles. die knoten verraten den knüpfer, seine zitternde hand.‘ 26 Der Zyklus fängt also mit einer Aussage an, die die historische Wirklichkeit der ärztlichen Untersuchungen schildert. Sobald die Passagiere von den Schiffen an Land gingen, wurden sie von Medizinern beobachtet, die nach bestimmten physiognomischen Merkmalen suchten, während die Passagiere - zum Bei‐ spiel - die Treppe zur Empfangshalle emporstiegen. Im Gegensatz zu den drastischen offiziellen Kategorien, die psychische und körperliche Schäden aufreihen, werden die Prosagedichte in der Wir-Form von einer entstellten Gruppenperspektive gesprochen und bieten einen Kommentar, der an einen inneren Monolog erinnert. In einem Gespräch mit dem norwegischen, in Berlin lebenden Dichter und Übersetzer Simen Hagerup, bespricht Wolf explizit die Schwierigkeiten dieser Wir-Form, sowie das damit verbundene Risiko, die Leiderfahrungen von anderen in Anspruch zu nehmen, als auch dieselben zu zähmen: The pronoun question was especially difficult in the Ellis Island poems of the ALIEN section, which contain a lot of material from original documents and immigrant testimonies. There is a strong ‚we‘ in those poems, and I almost took it out in the end for fear that it could give the poems an usurpatory tone, overwrite the experience of displacement with proper pronoun-domestication. But the truth is, for both the I and the We, that they represent fractured, multiple, traversed-and-traversing, fluid, collaged perspectives, bubbly nodes of experience, between languages, and it is also true that they’ve all lost the i in iota, that they are ota, other. 27 Wolfs Behauptung, dass sich die Ich- und Wir-Perspektiven von jeglicher Identitätszuschreibung lösen, lässt sich auch im ersten Text erkennen, wo die Pronomen sich auf keine festen Sprecher beziehen und dabei einen Zustand des radikalen Andersseins übermitteln. Die Prosagedichte im „aliens“ Zyklus sind daher als Textfelder zu lesen, wie Anastasia Telaak betont, die - anders als die Checklisten der Einwanderungsbehörde - nicht linear oder hierarchisch 168 Áine McMurtry <?page no="169"?> 28 Telaak, Anastasia (2020). ‘“mit der Iris des Menschen muster lesen”. Grenzpolitiken und Ästhetik des Affekts in Uljana Wolfs Prosagedichten’. In: Szybisty, Tomasz/ Godle‐ wicz-Adamiec, Joanna (Hrsg.) Literatura a Polityka / Literatur und Politik (= Literatura Konteksty 5). Warschau, Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego, 199-216, hier 209. 29 Telaak (2020: 202). 30 Telaak (2020: 206). gegliedert sind. 28 Telaak erkennt ein emanzipatorisch-subversives Potential in den Gedichten, das sie mit poststrukturalistischen Konzepten der Grenze als „graue Zone“ oder „Raum kontinuierlicher Bewegung und Begegnung“ in Verbindung bringt. 29 In diesem Fall hebt das Gedicht die Willkürlichkeit der Aufnahmen in die USA hervor, indem es das körperliche Elend der Reise und die anschließenden Schnelldiagnosen in den Vordergrund rückt. Die eng‐ lischsprachige Frage, mit der der Text beginnt, lenkt die Aufmerksamkeit der LeserInnen darauf, dass der Migrantenkörper zum bloßen Ort des Verbotes und des Exils wird. Laut Telaak bilde der Buchstabe X eine signifikante Ausnahme in der alphabetisch geordneten Liste, die den besonderen Stellenwert psycho‐ pathologischer Phänomene in der modernen Einwanderungspolitik bestätigt. 30 Eine Reihe umgangssprachlicher Formulierungen - „imbecile, labil, im besten fall bloß durch den wind“ - betont die gleichgültige Stigmatisierung von Menschen, die gerade eine strapaziöse, transatlantische Reise hinter sich hatten. Diese multiperspektivischen Sprechakte verflechten Fragmente von Dialogen und englischsprachige Redewendungen, die subjektive Gegenbilder zu den mangelhaften Sammelkategorien der offiziellen Checkliste anbieten. 3. Die Kehrseite des amerikanischen Traums Eine weitere Kategorie auf der Checkliste, nämlich das Wort „gesicht“, bildet den Ausgangspunkt für eine lyrische Auseinandersetzung mit der starken Diskrepanz zwischen der unmenschlichen Behandlung der Auswanderer und den leeren Versprechungen des amerikanischen Traums. Als der Teil des menschlichen Körpers, der mit einzigartigen Identitätsmerkmalen verbunden wird, bildet das Gesicht üblicherweise ein Symbol der Menschlichkeit und des Individuums. Im Gegensatz bietet Wolfs Gedicht einen pointierten Kommentar zu den unmenschlichen Bedingungen der Massenauswanderung: erst zwischendeck im gesicht, dann gitter vor der nase: ‚genuinely like cattle.‘ welche mine sollten wir dann aufsetzen? das steerage kein spiel, tagelanger pferch auf pritschen keine kur, wissen das nur wir. in den falten, bitte, kann man alles lesen, die stirn, die wir bieten, kennt bloß einen trieb: jetzt durchkommen. vielleicht heißt [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 169 <?page no="170"?> 31 Wolf (2009: 62). 32 Markel, Howard/ Stern, Alexandra Minna (2002). The Foreignness of Germs: The Persistent Association of Immigrants and Disease in American Society. The Millbank Quarterly 80: 4, 757-788, hier 766. 33 Jackson Turner, Frederick (1920). The Significance of the Frontier in American History. In: The Frontier in American History. New York: Open Road Integrated Media, 10-32, hier 11. 34 Hine, Robert V./ Faragher, John Mack (2000). The American West: a New Interpretive History. New Haven/ London: Yale University Press, 10. die große halle deshalb stierpark. vielleicht sind wir hier vieh. die frontier hatten wir weiter im westen vermutet. 31 Der plötzliche Einbruch des englischsprachigen Kommentars - „genuinely like cattle“ - in den deutschsprachigen Text unterstreicht die entsetzte Erkenntnis, dass dieser Vergleich keine bloße Metapher sei. Das Gedicht stellt lebhaft die Verhältnisse im Zwischendeck dar, das untere Fahrgastdeck bei Passagier‐ dampfern, das durch die massenweise Unterbringung und ungenügende Belüf‐ tung die billigste Reisemöglichkeit bat, sowie die anschließende Internierung der Migranten auf Ellis Island. Die Drahtställe oder sogenannten „pens“ für Ankömmlinge erscheinen im Gedicht als ein „stierpark“, eine Bezeichnung, die auf den vermeintlichen Status der Einwanderer als ‚Zuchtstoff ‘ für die Nation hindeutet. Ab 1914 schlossen sich der US-Generalstabarzt und einige führende Beamte im staatlichen Gesundheitsdienst der Eugenik-Bewegung an und übernahmen deren Sprache, um für eine Senkung der Migrantenzahlen zu plädieren. 32 Wolfs Gedicht betont konsequent die unvorstellbaren Umstände für die Reisenden im Zwischendeck, die oft aus der Not flohen und für die das Überleben das einzige Ziel wurde. Nicht nur rufen die lyrischen Hinweise auf Rinder und Einhegung einen Zustand des bloßen Auskommens hervor, sondern sie hinterfragen auch die expansiven Ansprüche der Neuen Welt. In der fragenden Bemerkung „Vielleicht sind wir hier vieh“ lässt sich deutlich eine akustische, bilinguale Ambivalenz zwischen „vieh“ und „free“ heraushören, die genau diese Spannung hervorhebt. Vor allem bestreitet Wolf Vorstellungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, die das amerikanische Grenzland („frontier“) als „Treffpunkt zwischen der Zivilisation und der Wildheit“ 33 darstellen, indem sie die Täuschungen dieses Binärdenkens bloßlegt. Stattdessen weist die lyrische Schilderung der unmenschlichen Behandlung der Auswanderer auf die dunkle Kehrseite romantischer Siedlergeschichten und verwickelt die Geschichte des sogenannten „Wilden Westens“ in Formen der Gewalt, die von ihrer „creation and defense of communities, the use of the land, the development of markets, and the formation of states“ nicht zu trennen sind. 34 170 Áine McMurtry <?page no="171"?> 35 Wolf (2009: 70). 36 Wolf, Uljana (2014). „Rede, seltsam angezettelt“, Rede zur Absolventinnenfeier der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin am 16. Juli 2014. Abrufbar unter: https: / / docplayer.org/ 24188265-Rede-seltsam-angezettelt.html (Stand: 26.04.2023). Eine ähnliche Kritik der idealisierenden Bilder der Neuen Welt findet man im Prosagedicht, das sich mit der Kategorie der Schwangerschaft befasst, einem Zustand dessen Pathologisierung im Rahmen der Einwanderungsgesetze zu jener Zeit Sorgen um Ethnizität und Staatsbürgerschaft widerspiegelt. Hier entblößt Wolf die Doppelmoral und die geschlechtsspezifischen „Freiheiten“, die konventionell mit dem „American Dream“ verbunden waren. Auf der einen Seite war der Geschlechtsverkehr den männlichen Matrosen, Maschinisten und Kohlenziehern nicht verboten, vermutlich als impliziter Anreiz für ihre Arbeit auf dem Schiff; auf der anderen Seite missbilligten die Behörden ein solches Verhalten für reisende Frauen, vor allem wenn sie danach schwanger wurden. Obwohl Schwangerschaft die Fortpflanzung der Arbeiterklasse versicherte, wurde sie auch - sowie im Fall von Geschlechtskrankheiten - als Kennzeichen eines Mangels an Selbstbeherrschung verstanden, die die Voraussetzung für Teilnahme an einer kultivierten Gesellschaft war: „zwischendecksverkehr. oder: no room of our own. frauenzimmer nur dem namen nach, »miss liberty«, begriffen zu oft als offen, dann betroffen. guter hoffnung, noch ein misnomer. »kontakt ist matrosen, maschinisten, kohlenziehern nicht verboten.«“ drunter und drüber für manche willkommene enge, und keine gelegenheit, engel zu machen. bei ankunft, dann diverse fälle, »from grace«, face verlust auf s.s. vaterland. »are you sure you’re not pregnant? « »yes sir, i think i am.« 35 Durch die bewusste Aufnahme mehrsprachiger Sätze, Zitate und Wortspiele wirft Wolfs Text ein Streiflicht auf die Kluft zwischen Formen der Sprache und ihrer Bedeutungen, um den Mangel an Grundrechten und Freiheiten für Frauen im Zwischendeck aufzuzeigen, die versuchten ins Land der Freiheit zu kommen. Die rhythmische Häufung der Wörter „frauenzimmer“, „offen“, „betroffen“, „guter hoffnung“ - zusammen mit der englischsprachigen Anrede „miss liberty“ - spielt explizit mit den wechselnden Bedeutungen der Wörter, die oft als dop‐ peldeutige Synonyme gebraucht werden, ohne sich je semantisch festzulegen. Wie Wolf es ausdrückt in „Rede, seltsam angezettelt“, einer Ansprache, die sie 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin hielt: „Nun ist es so, dass ich auf Deutsch schreibe, aber trotz Germanistikstudium durchaus nicht vater-, eher falschländisch.“ 36 Die lyrischen Texte im „alien I“ schildern eine patriarchalische Gesellschaftsordnung, die durch hegemoniale Sprachformen versucht, binäre [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 171 <?page no="172"?> 37 Gebauer, Mirjam (2019). Postmonolingual Stuggles and the Poetry of Uljana Wolf. In: Schramm, Moritz/ Pultz Moslund, Sten/ Ring Petersen, Anne (Hrsg.) Reframing Migration, Diversity and the Arts: The Postmigrant Condition, New York/ London: Routledge, 170-192, hier 181. 38 Heed, Levke (2022). Ein schwimmendes Hotel. Die „Vaterland“. Abrufbar unter: htt ps: / / www.ndr.de/ geschichte/ schiffe/ Die-Vaterland-Einst-groesstes-Passagierschiff-der -Welt,vaterland101.html (Stand: 26.04.2023). 39 In Schiffsnamen steht das Kürzel „S.S.“ für „Steamship“. Der Transatlantik „Vaterland“ befand sich bei Kriegsbeginn in der USA und wurde dann beschlagnahmt und in den Dienst der US Navy gestellt. Abrufbar unter: https: / / currell.net/ maritime_history/ levi athan/ leviathan.html (Stand: 30.05.2023). Kategorien und Ausschließungen zu verfestigen. Stattdessen macht sich Wolf sprachliche Fehler und Missverständnisse zu Nutze, um semantische Wider‐ sprüche und Mehrdeutigkeiten hervorzuheben. Wie Mirjam Gebauer feststellt: „Wolf opens up new spaces of language in which the fixation or closing of meanings is purposefully undermined and brought to the point of collapse, and the meaning of words and phrases is fluid and diffuse.“ 37 Die oben zitierten Zeilen untermauern die bilingualen, sich reimenden Homonyme zwischen Deutsch und Englisch, die diese mehrdeutigen Verschiebungen bewirken: „diverse fälle, »from grace«, face verlust auf s.s. vaterland“. Die ungewöhnlichen Worterfin‐ dungen - beispielsweise in den Formulierungen „fälle, »from grace«“ und „face verlust“ - agieren zwischen den Sprachen und evozieren damit die verschie‐ denen Bedeutungen der Wörter. In diesem Fall weisen die mehrsprachigen Neo‐ logismen auf die vielen Sprüche und Sprichwörter für Frauen, die „in Ungnade fielen“ oder „das Gesicht verloren“, um die Rolle dieser geschlechtsspezifischen Geheimsprache im sozialen Ausschluss von misshandelten Frauen zu entblößen. Einmal schwanger wurden die Frauen als „fälle“ behandelt, die keinen sicheren Platz mehr in der zivilisierten Gesellschaft angeboten bekamen. Durch die weitere Erwähnung des Schiffes „S.S. Vaterland“, der größte Passagierdampfer, der jemals unter deutscher Flagge fuhr und 1913 auf der Nordatlantikroute eingesetzt wurde 38 und dessen Name 39 (S.S. war die gängige Abkürzung für ‚steamship‘) erschreckende Assoziationen mit der SS, der sogenannten Schutz‐ staffel im terrorisierenden System des Nationalsozialismus, hervorruft, liefert Wolf eine explizite Kritik der patriarchalischen Gesellschaftsordnung, die solche geschlechtsspezifischen Ausweisungen durchdringt und Traumata verursacht. Die sprachlichen Verschiebungen, die zur Erfahrung des Auswanderns ge‐ hören, werden auch in dem Text, der Lähmung anspricht, deutlich vorgeführt und thematisiert: so gesehen: mit einem bein noch daheim. was eine extra runde nach sich zieht. ums leben gehen, »5 or 10 feet«, vor den augen das inspektors. wie aber gehen 172 Áine McMurtry <?page no="173"?> 40 Wolf (2009: 67). 41 Wolf (2009: 66). 42 Wolf (2009: 86). 43 Fairchild (2003: 65). wir aus afede, daaden, talysarn, aus tarnów, bilcze złote, dolná súča oder kreshopel. besser nicht mit »bobbing up-and-down motion«. besser nach springfield, »welches springfield? «, »das billigste.« besser nach szekenevno pillsburs, das sich, wenn wir den richtigen gang haben, in second avenue, pittsburg befindet. 40 Die Zeilen schildern die diversen Heimatsstädte der Auswanderer, die aus ganz Europa nach Amerika übersiedelten. Die mehrsprachige Auflistung dieser Städte und der begleitende Verweis auf den anstrengenden Charakter der weiten Reisen, sowohl physisch als auch psychisch, rücken die menschliche Erfahrung des Auswanderns ins Zentrum und deuten auf die Unmenschlichkeit eines Systems, das gleich nach einer Atlantiküberquerung die Gangart der Reisenden strafend überprüft. Die aufgenommenen Zitate entstammen zeitgenössischen Berichten, die die weiteren, sprachlichen Hürden für die Reisenden eindringlich vermitteln. Die lyrische Aufnahme mehrsprachiger Ortsnamen, die zusammen mit ihren entsprechenden diakritischen Zeichen aufgenommen werden, for‐ dert die LeserInnen performativ heraus, die unmögliche Begegnung mit einer unbekannten Aussprache anzuerkennen, die, auf der Seite der Einwanderer, real-existentielle Ausmaße annimmt. So gesehen kritisieren Wolfs Sprechakte demonstrativ die einsprachigen Vorschiften und willkürlichen Normen der gesetzten Gesellschaftsordnung. 4. Grenzpolitik und Pathologie Mit Instanzen von Code-Switching ins Englische weisen die lyrischen Texte auf pathologische Tendenzen hin, die das Untersuchungsverfahren bestimmen - „i believe a doctor can find any disease he’s looking for“ (ich glaube, ein Arzt findet jegliche Krankheit, nach der er sucht). 41 Eine kühne Analyse der Machtstrategien hinter der medizinischen Untersuchung von Einwanderern in die USA findet man in Amy Fairchilds historischer Studie der Grenzpolitik der Vereinigten Staaten und der Anfänge der industriellen Arbeiterschaft, die Wolf explizit in den Notizen als eine ihrer Quellen nennt. 42 Fairchild argumentiert, dass „der öffentliche Charakter der Untersuchung gleichzeitig die Quelle seiner Stärke war: sie vermittelte industrielle Werte und Normen in der Öffentlichkeit und indem sie - als Zeichen - eine geringe Zahl von Migranten zurückschickte, fungierte sie auch als deutliche Inszenierung der Macht.“ 43 Auf ähnliche Weise [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 173 <?page no="174"?> 44 Wolf (2009: 69). 45 Wolf (2009: 59). 46 Wolf (2009: 86). untersucht Wolfs Zyklus die Herrschaft des Sichtbaren innerhalb dieser Ord‐ nung und betont den „prüfblick, den wir durch die zeiten spüren“ 44 , eine For‐ mulierung die die aktuelle Relevanz des Themas hervorhebt. Nicht nur zeugen die Texte von der Rolle sichtbarer Differenzen in der Konstruktion staatlicher Ausschließungsmechanismen, sie betonen auch die staatliche Beschäftigung mit Sehbehinderungen als Antrieb für die Abschiebung von Migranten. Drei der Kategorien auf der Checkliste - „conjunctivitis“ (Bindehautentzündung), „trachoma“ (Trachom), „eyes“ (Augen) - richten sich auf Sehstörungen und die entsprechenden lyrischen Texte untersuchen den Hintergrund nationaler Neurosen im Bereich der Sehstörungen. Der Text, der Bindehautentzündung anspricht, fängt mit der Behauptung einer gemeinsamen Erinnerung an. Die lyrische Auseinandersetzung mit der üblichen Augenkrankheit weist auf eine volkstümliche Auffassung von Ellis Island als sogenannte „Träneninsel“ und erinnert gleichzeitig an den Ursprung dieses Ausdrucks in der körperlichen Erfahrung der Ankömmlinge: wir erinnern uns. april was the cruellest ship, kapitän de groot, firma kress & rodenbrock. wir waren an bord und bewegten uns nicht: zu viele, zu schwer (»öd und leer das meer«). man sprach von faul- und nervenfieber, „fehlten zu appelliren ihnen pecuniere mittel“. manche aßen ihre finger, anderen fehlte selbst der mund. die toten lagen unvergraben unter uns. wer lebte, legte nur in seinen träumen ab. wir waren bereits diese träneninsel. unsere augen, seither, bei jeder ankunft, rot und leer. 45 Mit einer Reihe gezielter Hinweise ruft die lyrische Aufforderung zur Erinne‐ rung eine berüchtigte transatlantische Schiffsfahrt des frühen neunzehnten Jahrhunderts hervor. Anhand von Zitaten aus TS Eliots ‘The Wasteland’ (‘Das wüste Land’, 1922) und seinem Spiel mit deutschsprachigen Zitaten aus Wag‐ ners Tristan (1865), entwickelt Wolfs Text eine zweisprachige Zitierpraxis, die berühmte europäische Werke der Moderne aufruft, um der Opfer der Kata‐ strophe von 1817 zu gedenken und die Unmenschlichkeit der offensichtlichen Markttreiber bloßzulegen. Wie Wolf in den Notizen zum Band betont: „Dieses Unglück, dem andere folgten, geschah 1817/ 18, gut 90 Jahre vor der großen Einwandererzeit auf Ellis Island, und prägte seitdem die kollektive Erinnerung der Auswanderer mit.“ 46 Gechartert von der niederländischen Firma Kress & Ro‐ denbrock für Passagiere und Fracht, stach das Auswandererschiff, die April, von Amsterdam, mit 1200 Menschen an Bord in See. Völlig überfüllt erlebte das Schiff schon Typhusausbrüche, als es noch in niederländischen Gewässern weilte. 174 Áine McMurtry <?page no="175"?> 47 Swierenga, Robert P./ Lammers, Henry (1994). „Odyssey of Woe“: The Journey of the Immigrant Ship April from Amsterdam to New Castle. 1817-1818. The Pennsylvania Magazine of History and Biography 118: 4, 303-323, hier 307. 48 Wolf (2009: 60). 49 Fairchild (2003: 37). Viele Opfer waren süddeutsche und schweizerische Bauern, die in der Zeit nach den Napoleonischen Kriegen aus Europa flohen. Auf dem Schiff waren sie in ungeeigneten Quartieren eingepfercht und ohne ausreichende Vorräte oder medizinische Hilfe. Als die April endlich Philadelphia erreichte, war nur noch die Hälfte der Passagiere am Leben. 47 Aus der Wir-Form erzählt, entwickelt Wolfs Text ein gesprochenes Zeugnis, das die körperlichen und seelischen Leiden der Auswanderer ins Zentrum der Erinnerungsarbeit rückt. Indem der lyrische Text die roten Augen der Passagiere als körperliches Symptom ihrer seelischen Not darstellt, „wir waren bereits diese träneninsel. unsere augen, seither, bei jeder ankunft, rot und leer“, wird der (seelisch) leidende Migrantenkörpers in staatlichen Ausgrenzungsmechanismen als ‚krank‘ dargestellt, hervorgehoben, und dann abgeschoben. Der Text zeigt die strenge Überwachung des Körpers in der „Neuen Welt“, als auch die Unzuverlässigkeit ihrer Ausschließungen und Zulassungen. Damit zeigt der lyrische Text die Absurdität der pathologi‐ sierenden Klassifizierungssysteme schonungslos auf. Im nächsten Text des Zyklus zeigen englischsprachige Zitate die nationalen Neurosen gegenüber Trachom, eine höchst ansteckende, bakterielle Erkrankung der Binde- und Hornhaut, die zur Blindheit führen kann: »thousands of trachomatous aliens.« im öffentlichen auge sind wir ein phantom, das bald erblindung bringt. ostwind, salzluft, das räudige wasser dritter klassen: alles will sich schleusen unters lid der nation. sie weiß es schon: »teachers watch out for sore eyes among pupils.« den wächtern an der grenze aber fehlt die zeit, ihre hände zu waschen. körnchen, du musst wandern. von dem einen aug zum anderen. vielleicht will man es sichtbar. »scientific management.« wir wären sonst einfach zu rasch gewachsen. 48 Schon im Jahr 1897 bezeichnete das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten das Trachom als die erste „abscheuliche, gefährliche, ansteckende Krankheit“. 49 Im lyrischen Text werden giftige Überflutungsmetaphern, die oft die Gefahr der Einwanderung heraufbeschwören, explizit mit der öffentlichen Fixierung auf Sehvermögen und sichtbare Formen der Ansteckung in Verbindung gebracht. In ihrer Analyse, die dem Einfluss der Oulipo-Gruppe nachgeht, hinterfragt Gizem Arslan ob dieser Text aus der Perspektive der Einwanderer auf Ellis Island gesprochen wird oder ob er dem intrazellular lebenden Bakterium Chlamydia [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 175 <?page no="176"?> 50 Arslan (2023). 51 Wolf (2009: 61). 52 „Ihr lyrisches Werk operiert bewusst mit semantischen Asymmetrien, die Äquivalenzen ablehnen und insofern nationalsprachige Grenzen bzw. hierarchische Bezüge subver‐ tieren.“ Occhini, Beatrice (2020). „Ein Zittern zwischen den Zeilen der Nationalspra‐ chen“: (Un)übersetzbarkeit und Resilienz in Uljana Wolfs falsche freunde. In: Moraldo, Sandro/ Nünning, Asgar/ Polland, Imke (Hrsg) Europe’s Crises and Cultural Resources of Resilience: Conceptual Exploration and Literary Negotiations. Trier: WVT, 341-358, hier 355. 53 Wolf (2022: 103). trachomatis, das Trachom verursacht, eine Stimme gibt? Laut Arslan umgehen die lyrischen Verbformen jegliche Bezugnahme, die es dem Leser ermöglicht, die Identität des Sprechers festzulegen. Einwanderer, ähnlich wie Bakterien, wurden oft im öffentlichen Diskurs pathologisiert. Arslan hebt insbesondere Wolfs bivalente Anwendung der Wörter „Lid“ und „pupils“ hervor, die diese Am‐ bivalenz verstärken. Durch den Vergleich mit mikroskopischen Lebensformen, die millionenfach den menschlichen Körper bewohnen, spreche der Text die Allgegenwärtigkeit und Unsichtbarkeit von Erfahrungen der Migration an. Ars‐ lans Analyse hebt vor allem die Zwickmühle hervor, in der sich die Migranten befinden. Auf der einen Seite werden Migranten unsichtbar gemacht und als unbekannte, gefährliche „Phantome“ dargestellt; auf der anderen Seite werden sie ständig als Sündenböcke hingestellt, damit der Staat sie überwachen und kontrollieren kann. 50 An einer anderen Stelle im Zyklus erscheint der Knopfhaken-tragende Inspektor als Verkörperung einer patriarchalischen Ordnung, die obsessiv nach Krankheit und Verseuchung sucht: „stattdessen den inspektor, seine hand, darin ein »button-hook«, der unsere lider fischt: »such a fright.« oder freight“. 51 Im Gegensatz zur hegemonialen Ordnung, in der optische und semantische Normen herrschen, hebt Wolfs lyrische Methode Beziehungen und Zusammen‐ hänge hervor, die im Mehrheitsdiskurs verdrängt und ausgeblendet werden. Wie schon Beatrice Occhini feststellt, operieren Wolfs Texte „bewusst mit semanti‐ schen Asymmetrien, die Äquivalenzen ablehnen und insofern nationalsprachige Grenzen bzw. hierarchische Bezüge subvertieren.“ 52 Das Politische an Wolfs mehrsprachigen Texten ist daher in solchen Brüchen und unerwarteten Verbin‐ dungen zu finden, die semantische Bedeutungen und symbolische Deutungs‐ muster ablehnen und stattdessen materielle Verknüpfungen ermöglichen. 53 Das Gedicht stellt die auffällige Suche nach sichtbaren Formen der Verseuchung in den Vordergrund und zeigt, wie die Staatsinspektoren zur Ursache unsichtbarer Ansteckung wurden. Nach der Beschreibung des Fischens in den Augen der Migranten, wird die Vergegenständlichung der Migrantenkörper durch das 176 Áine McMurtry <?page no="177"?> 54 Fairchild (2003: 39). 55 Fairchild (2003: 47). 56 Wolf, Uljana (2022). Box Office: Zum Prosagedicht. In: Etymologischer Gossip, 70-91. 57 Wolf (2022: 84). mehrsprachige Echo von „fright“ und „freight“ betont. Mit diesem Wortspiel deutet der Text auf die sozio-ökonomischen Gründe der Ausgrenzung von Menschen hin, die unter dem Verdacht einer Sehbehinderung stehen. Die „abscheuliche“ Gefahr des Trachoms - laut der amerikanischen Behörde - hatte damit zu tun, dass die Krankheit die Fähigkeit von Menschen beeinträchtigt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und das damit verbundene Risiko, dass sie zur finanziellen Last für den Staat werden. Bis 1907 verband das Gesund‐ heitssystem der Vereinigten Staaten das Trachom mit der Ansteckung, dem finanziellen Ruin, sowie mit einer rassistischen Auffassung des ökonomischen Verfalls. 54 In dieser Hinsicht kritisiert Wolfs Gedicht die schizophrene Indust‐ riewirtschaft der Vereinigten Staaten, die von zwei gleichzeitig bestehenden Imperativen getrieben wird, nämlich auf der einen Seite zukünftige Arbeiter auszuschließen und auf der anderen Seite diese zu bestrafen. 55 Wolfs Zyklus ver‐ flechtet Momentaufnahmen, vertraute Tropen und gesprochene Erinnerungen in einer assoziativen, translingualen Antwort auf Erfahrungen von Flucht und Vertreibung. So betont das Gedicht den anhaltenden Platz von Ellis Island in der kollektiven Erinnerung als normative Szene im industriellen Projekt der Staatenbildung und legt gleichzeitig Zeugnis ab für die einzelnen Geschichten, die sich weigern, in die hegemonialen Masternarrative eingeordnet zu werden. 5. Schluss: „Sprache, die sich zur Stimme emanzipiert“ Das zentrale Infragestellen von optischen Ordnungen, besessen von Formen der Besitznahme und Kategorien der Differenz, die sich durch die Texte von Wolfs „Aliens“ Zyklus zieht, findet ein spannendes poetologisches Pendant im „Box Office“, ihrer Münchner Rede zur Poesie von 2009. 56 Wolfs Vortrag bietet eine längere Betrachtung der formalen Möglichkeiten des Prosagedichts und seiner Stellung in einer subversiven Tradition der Moderne, die zu Baudelaires Spleen de Paris (1869) zurückreicht. Ihre Analyse betont die experimentellen und materiellen Eigenschaften des Prosagedichts und liest seine bloße Form als eine Art „Leinwand“, die jeglichen Versuch problematisiert, das Sichtbare und das Reelle wiederzugeben. 57 Laut Wolf bilde Bildbeschreibung nur einen Ausgangspunkt für das Prosagedicht, das nie die Beschreibung als transparente Abbildung versteht: [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 177 <?page no="178"?> 58 Wolf (2022: 84-89). 59 Wolf (2014). In seinen extremen, experimentellen Varianten kündigt das Prosagedicht jegliche Referenzialität der Sprache auf […] Permutation, Wiederholung, Löcher, Montage und Collagierung von Wortmaterial. An die Stelle der hierarchischen Vertikalen der gebrochenen Zeilen, ihr Arrangement im Raum, ihr Vergehen in der Zeit, setzt das Prosagedicht einen anderen rhizomatischen, intern gebrochenen, nicht linear organisierten Raum, eine immer in Bewegung gehaltene Gleichzeitigkeit, eine fast befremdliche, vordergründige Präsenz der Sprache selbst. […] Der Leser wird zum Hörenden, nicht zum Sehenden […] Sprache, die sich zur Stimme emanzipiert, keinen Inhalt mehr transportiert, sich stattdessen aussagt, verausgabt, präsent ist und gleichzeitig unverfügbar. 58 In ihrer Rede vergleicht Wolf das Prosagedicht mit der lyrischen Dichtung, die - formal gesehen - von ihren immanenten Beziehungen zu Raum und Zeit verbunden sei. Stattdessen betont Wolf das Potenzial des Prosagedichts, das Nicht-Lineare experimentell zu bevorzugen. Ihre Texte entwerfen lyrische Formen, die sich von Systemen hegemonialer Disziplin und Kontrolle ableiten und - wie Wolf selber betont - „falschländische“ Alternativen zum Vaterland anbieten. 59 Durch eine collageartige Anwendung der englischsprachigen Check‐ liste der US-Behörde ermöglichen ihre Prosagedichte eine schöpferische Deter‐ ritorialisierung industrialisierender Kräfte, die keine Außendarstellung zulässt. Stattdessen spiegelt das mehrsprachige Projekt ein Verständnis des Lebens als materiell bedingt wider und zeigt durch die verschiedenen Strömungen und Differenzen die eigene Verwicklung in den kritisierten Herrschaftssystemen auf. Die diversen Stimmen, die in die Prosagedichten eingeflochten werden, bevorzugen akustische Ausdrucksformen und intertextuelle Hinweise und wenden sich von optischen Ordnungen der Zeugenschaft ab. Diese Stimmen lassen sich nie festlegen. Dadurch vermitteln die Gedichte konsequent die Brüche und Gewalt der Flucht und Vertreibung, die immer ein sprachliches Anderssein mit sich ziehen. Indem sie die sprachliche Grundlage systemim‐ manenter Ausschließungen bloßlegt und neu denkt, verwirklicht die materi‐ elle Erinnerungsarbeit eine akustische Erfahrung, wobei die Sprache sich zur Stimme emanzipiert. Auf diese Weise widerstehen die gebrochenen Zeugnisse in den Prosagedichten Formen der hegemonialen Inbesitznahme, um Momente der Gleichzeitigkeit und Bewegung, sowie der sprachlichen Präsenz, durch experimentelle Methoden in den Vordergrund zu rücken. In einer Besprechung der kritischen Möglichkeiten des experimentellen Schreibens aus dem Jahr 2016 hinterfragen Wendy Knepper und Sharae Deckard 178 Áine McMurtry <?page no="179"?> 60 Gebauer (2019). 61 Rath, Brigitte (2021). Exceedingly Non-Monolingual: Associating with Uljana Wolf and Christian Hawkey’s sonne from ort. SubStance 50: 1, 76-94. 62 Codina Solà, Núria (2022): Translational Authorship and Multilingual (Re)writing in Uljana Wolf and Sophie Seita’s Subsisters: Selected Poems (2017), Textual Practice, 36: 1, 1-19. 63 Telge (2019). 64 Occhini (2020). 65 Occhini (2020). 66 Knepper, Wendy/ Deckard, Sharae (2016). Towards a Radical World Literature: Experi‐ mental Writing in a Globalizing World. ariel: a review of international English literature 47: 1/ 2, 1-25, hier 9-10. 67 Wolf (2022: 137). neuere Tendenzen in der Literaturwissenschaft, stilistische Entwicklungen immer mit dem Vorzeichen „post“ oder sogar „post-post“ zu beschreiben. Das Werk Uljana Wolfs lässt sich auch als Teil dieses Phänomens erkennen, da Kritiker Wolfs Texte oft mit den Begriffen „postmonolingual“ 60 , „postlingual“ 61 , „post-translational“ 62 , „post-conceptional“ 63 , „postnational“ 64 und „postmigran‐ tisch“ 65 kennzeichnen. Um gegen den teleologischen Impuls, den solche Begriffe implizit vermitteln, sowie die damit einhergehende Gefahr, Kunst immer durch eine willkürlich gesetzte Grenze zu vermitteln, plädieren Knepper und Deckard für eine „zyklische Periodizität“, die das Dogma hinterfragt, dass Praktiken der Avantgarde im späten Kapitalismus überholt sind: In light of the developmental cycles of capitalism, an approach to experimental writing that privileges a more cyclical sense of periodicity over linear periodization can help escape the impasse produced by critical debates over the exhaustion of aesthetics and that which might secede the “post-post.” Rather than seeing literary experimentation as dead, exhausted, past, or superseded, it should be understood as occurring in multiple periods with intensities that wax and wane in conjuncture with socio-economic crises and political moments that demand new varieties of mimesis. 66 In dieser Hinsicht zeigt sich Wolfs experimentelle Auseinandersetzung mit der Behandlung von Auswanderern im frühen 20. Jahrhundert, die darauf bedacht ist, „unbescheidene, ungeeignete Beziehungen zu schaffen, Erzählungen zu ver‐ vielfachen, das Hören erneut zu lernen“ 67 , als zeitgenössische Stellungnahme zur zyklischen Pathologisierung von allen, die nicht zum Hegemonialbild der Nation gehören. Durch diverse literarische Methoden, akustische Ausdrucksformen und intertextuelle Hinweise vermitteln die Texte Ausblicke, die Stimmen und Werke aus anderen Epochen abrufen. Der Text baut ein komplexes Netz von transhistorischen und transkulturellen Referenzen auf, das unterschiedliche Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung in nicht-hierarchische [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 179 <?page no="180"?> 68 Wolf (2014). 69 „Uljana Wolf hat keine Angst vor Verwirrungen. Im Gegenteil. Sie empfängt jede Verwirrung mit offenen Armen als Anlass für eine neue Freundschaft.“ Tawada, Yoko (2015). Laudatio auf Uljana Wolf: Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung, 2015. Abrufbar unter: https: / / lyrikzeitung.com/ 2015/ 08/ 31/ laudatio-auf-uljana-wolf-von-yoko-tawada/ (Stand: 26.04.2023). 70 Wolf (2022: 137). Beziehung bringt. Der assoziative, mehrsprachige Text schafft Verbindungen, ohne problematische Formen der Identifizierung zu versuchen oder sich pa‐ ternalistisch für jemanden zu äußern. Der Ruf von Knepper und Deckard, literarisches Experimentieren mit sich wandelnden sozio-ökonomischen Krisen und politischen Momenten in Verbindung zu bringen, die immer neue Formen der Mimesis verlangen, bringt die LeserInnen zu Wolfs bereits oben zitierter Beschreibung ihres Deutsch als „falschländisch“ aus dem Jahr 2014 und erlaubt eine neue Perspektive auf das, was sie darüber hinaus zu diesem Thema sagt: Nun ist es so, dass ich auf Deutsch schreibe, aber trotz Germanistikstudium durchaus nicht vater-, eher falschländisch. Es ist ein Deutsch, das von anderen Sprachen angehustet wird, jeder Ferne, jedem Fehler, das gern umfällt, auseinander, apart und immer apart. 68 Zehn Jahre später und nach der globalen Pandemie liest man diese Wörter vor einem neuen Erfahrungshorizont. Wolfs Konzeptualisierung vom Husten als literarisches Schaffungsprinzip ermöglicht eine Einsicht in ihr textuelles Verfahren, das Wörter wie Keime versteht, und ein organisches Bild von ihrer mehrsprachigen Praxis eröffnet, die in Querkontamination oder „Verwirrung“ - wie Yoko Tawada bekannterweise schon erwähnt hat - „Anlass für eine neue Freundschaft“ sieht. 69 Statt Angst vor Ansteckung, Krankheit und Deformierung zu haben, ergreift Wolf die Chance, „falschländische“ Verwandtschaften zu schließen und diverse Gemeinschaften zu entwickeln. Diese zusammengefügte Sprache gibt aber nie vor, ein organisches Ganzes zu bilden, sondern bleibt immer unvollständig und brüchig. Der mehrsprachige Gebrauch vom „apart“ impliziert immer auch Abtrennung und Unterscheidung und trägt den Klang von ‚abartig‘ in sich, was daran erinnert, dass Sprache nie als reines Mittel gelten kann. Im „apart“ findet man allerdings auch das englischsprachige Nomen „art“ sowie, durch das deutschsprachige Adjektiv, weitere Bedeutungsfelder von ‚besonders‘, ‚speziell‘ und ‚anders‘, die wiederum bestimmend für den besonderen Platz der Kunst, mit ihrem notwendigerweise eigenen Status, sind. Somit löst sich Wolf vom singulären „Begriff der Muttersprache“, „sowie von dessen sozialpolitischen, engen Abgrenzungen“. 70 Wolf erfindet regelrecht 180 Áine McMurtry <?page no="181"?> mehrsprachige Mittel, die uns erlauben, Wörter und Texte neu zu denken und neu zu inszenieren, um das Politische an der experimentellen Literatur, sowie die Notwendigkeit neuer Simulationen und Konstellationen für jedes Zeitalter, zu bejahen. [k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf 181 <?page no="183"?> „Eine Frauennase in einem Männergesicht“. Zum Verhältnis von Körper- und Raummetaphern der Mehrsprachigkeit Rainer Guldin Abstract: In diesem Essay geht es um das Zusammenspiel von Körper und Raummetaphern der Mehrsprachigkeit in der Herausbildung von Diskursen über Mono- und Multilingualismus und zugleich um einen spezifischen Umgang mit Metaphern, der nicht von einzelnen isolierten Beispielen aus‐ geht, sondern sich auf Cluster konzentriert. Metaphern tauchen selten allein auf, sondern bilden zusammenhängende Netzwerke, deren Zweck es ist, einen gesteigerten argumentativen Zusammenhang hervorzubringen. Diese beiden Momente sollen anhand von Beispielen aus der monolingualen und multilingualen Tradition verdeutlicht werden. Die Körpermetaphern des Gesichts, der Zunge und der Augen und die damit verbundenen Raummeta‐ phern der osmotischen Offenheit und Durchlässigkeit, der Überschichtung und Doppelbödigkeit, der Heterogenität, Hybridität und des Dazwischen spielen im Werk der translingualen Schriftstellerinnen Herta Müller und Yoko Tawada eine wichtige Rolle. Um aber in ihrer radikalen Neuheit und Originalität erfasst zu werden, müssen diese Metaphern vor dem Hintergrund des immer noch wirksamen monolingualen Diskurses gesehen werden, von dem sie sich implizit absetzen. Dieser operiert mit Körpermetaphern, die den organischen Zusammenhalt und die Einmaligkeit von Sprachen hervorheben, wie z. B. das Gesicht und die Zunge, und deutet diese im Zusammenhang mit Raummetaphern, z. B. dem Kreis, die für Abgeschlossenheit und innere Homogenität stehen. Keywords: Körper, Raum, Mehrsprachigkeit, Metapher <?page no="184"?> 1 Zill, Rüdiger (2020). Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biogra‐ phie. Berlin: Suhrkamp, 390-383. 2 Vgl. Blumenberg, Hans (2012). Quellen, Ströme, Eisberge. Berlin: Suhrkamp. 3 Vgl. Guldin, Rainer (2020). Metaphors of Multilingualism. Changing Attitudes towards Language Diversity in Literature, Linguistics and Philosophy. New York: Routledge. „[…] dessen Gesicht und Stimme [wies] eine Menge Narben auf […] das Gesicht von zahl‐ losen früheren Pickeln, die Stimme von den Spuren der vielen wechselnden Idiome, die Folge eines entlegenen Ursprungs und einer kosmopolitisch verbrachten Kindheit […].“ Marcel Proust, Auf der Suche nach der ver‐ lorenen Zeit 1. Mit Metaphern arbeiten: Methodische Vorüberlegungen Hans Blumenberg hat über Jahre hinweg auf Tausenden von Karteikarten einen umfassenden Materialspeicher angelegt. Diese Arbeit umfasste in der Regel vier Schritte: Die Lektüre der Texte diente zur Auswahl wichtiger Passagen, die auf Karteikarten übertragen, in verschiedene Rubriken des Zettelkastens einsortiert und zum Schluss mit Querverweisen, Schlagworten und Kommen‐ taren versehen wurden. 1 Blumenberg hat bestimmte Metaphern systematisch gesammelt und deren multiple Umdeutungen und Funktionsveränderungen über die Jahrhunderte hinweg verfolgt, so zum Beispiel die Lichtmetapher und die Metapher des Weltbuches. Diese Arbeitsmethode kommt im posthum publizierten Band Quellen, Ströme, Eisberge besonders deutlich zum Ausdruck. 2 Auf den einzelnen Karteikarten findet man neben dem handschriftlich einge‐ tragenen Thema, aufgeklebte Zeitungsausschnitte mit Unterstreichungen, Foto‐ grafien und Graphiken neben hingekritzelten Notizen, mit der Schreibmaschine geschriebene Zitate und kommentierende Kurztexte. Diese langwierige, colla‐ gierende und annotierende Sammelarbeit, welche die vielfachen Vernetzungen der ausgewählten Metaphern in den Vordergrund stellt, ist Voraussetzung einer erfolgreichen Arbeit mit Metaphern. Die Korpus-Bildung kommt stetig, aber langsam zustande. Oft sind es glückliche Funde, die einer rein quantitativ vorgehenden umfassenden Untersuchung entgehen würden. Diese spezifische Vorgehensweise habe ich auch meiner Monographie Metaphors of Multilingua‐ lism. Changing Attitudes towards Language Diversity in Literature, Linguistics and Philosophy  3 zugrunde gelegt, auf die der vorliegende Text zurückgeht. Die Wahl der einzelnen Autorinnen und Texte ist, in Anlehnung an Blumenbergs 184 Rainer Guldin <?page no="185"?> 4 Lakoff, George/ Johnson, Mark (2003). Metaphors We Live By. Chicago and London: University of Chicago Press, 18-19. 5 Sommer, Manfred (1998). Husserl on Ground and Underground. In: Orth, E.W/ Cheung, Chan-Fai (Hrsg.) Phenomenology of Interculturality and Life-World. Freiburg und München: Springer, 137. Methode, über Jahre hinweg entstanden und geht auf eine Reihe von Lehrveran‐ staltungen zu translingualen Autorinnen in der europäischen Literatur zurück, die ich an den Universitäten von Sankt Gallen (HSG) und Lugano (USI) von 2013 bis 2019 gehalten habe. Ein weiteres wesentliches methodologisches Moment ist die Suche nach Clustern von assoziierten Metaphern, innerhalb eines Textes, im Werk einer Autorin oder epochenumfassend. Es geht nicht so sehr darum, ausführliche Listen von Metaphern anzulegen, sondern um die Suche nach besonders vielschichtigen Metaphern, die sich durch die Dichte ihrer Beziehungen zu anderen Metaphern auszeichnen. Lakoff und Johnson sprechen in diesem Zusammenhang von einer internal systematicity der einzelnen etaphern und einer external systematicity der unterschiedlichen Metapher-Cluster. 4 Die erste Form der Systematizität betrifft die verschiedenen, oft heterogenen Aspekte, die in einer einzelnen Metapher gebündelt werden. Bei der zweiten Form hingegen geht es um die komplexen Verbindungen der verschiedenen Metaphern zu einem kohärenten Ganzen. Um eine Raummetapher zu verwenden, könnte man die erste Form als vertikale Überschichtung und die zweite als horizontale Vernetzung beschreiben. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, verbinden sich unterschiedliche Metaphern in kollektiven Diskursen oder im Werk ein‐ zelner Autorinnen und unterstützen einander in der Hervorbringung einer gemeinsamen Vorstellung, wobei es dabei auch zu internen Spannungen und Widersprüchen kommen kann. Dies kommt im Zusammenspiel von Körper- und Raummetaphern besonders deutlich zum Ausdruck. Im Zusammenhang mit seiner Metaphorologie hat Blumenberg eine sich auf metaphorische Subtexte konzentrierende Interpretationstechnik vorge‐ schlagen. Manfred Sommer hat diese Methode mit Hilfe einer räumlichen Metapher anschaulich umschrieben. […] below the surface of the text manifest to the reader there is an imaginary sub-stratum. And the metaphors are the places where this sub-stratum projects out into the text and becomes visible. Thus, metaphors scattered through the text are not to be understood as occurrences. Instead, one has to conceive of them as indications and parts of a whole pictorial structure. The metaphors are interconnected underground […]. 5 „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 185 <?page no="186"?> 6 Müller, Herta (2001). Wenn sich der Wind legt, bleibt er stehen oder Wie fremd wird die eigene Sprache beim Lernen der Fremdsprache. Abrufbar unter: http: / / www.dhm. de/ archiv/ ausstellungen/ goethe/ katalog/ mueller.htm (Stand: 26.10.2021). 7 Tawada, Yoko (2017). Akzent. In: akzentfrei. Tübingen: konkursbuchverlag, 22-28. 8 Yildiz, Yasemin (2012). Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press. Zwei Punkte sind hier besonders hervorzuheben: obwohl die einzelnen Me‐ taphern in der Regel im Text getrennt auftauchen, muss man sie als Teil eines untergründigen zusammenhängenden Netzwerks sehen. Ich möchte diese spezifische Lesestrategie im zweiten Teil des Essays anhand von zwei Texten vorführen: Herta Müllers „Wenn sich der Wind legt, bleibt er stehen oder Wie fremd wird die eigene Sprache beim Lernen der Fremdsprache“ 6 und Yoko Tawadas „Akzent“ 7 . Die beiden Texte weisen eine hohe Dichte an miteinander verwobenen Metaphern der Mehrsprachigkeit auf, die ein zusammenhängendes Netzwerk aus Körper- und Raummetaphern bilden, welche sich zugleich implizit auf die Tradition monolingualer Diskurse bezieht und diese in Frage stellt. Die Körpermetaphern des Gesichts, der Zunge und der Augen werden auf vielfache Art und Weise mit den Raummetaphern der osmotischen Offenheit, und Durchlässigkeit, der Überschichtung und Doppelbödigkeit, der Hybridität und des Dazwischen sowie des Austausches und der steten Bewegung ver‐ bunden. Um aber ihren innovativen Charakter zu verstehen, müssen sie vor dem Hintergrund des immer noch bedeutenden monolingualen Diskurses, von dem sie sich implizit absetzen, untersucht werden. Dieser operiert mit Körpermetaphern, die den organischen Zusammenhalt und die Einmaligkeit von Sprachen hervorheben, wie z. B. das Gesicht und die Zunge, und deutet diese im Zusammenhang mit Raummetaphern, wie z. B. dem Kreis, die für Abgeschlossenheit und innere Homogenität stehen. Wie die nachfolgenden Überlegungen verdeutlichen werden, steht im monolingualen Diskurs vor allem die Statik und Funktionalität interagierender Teile im Mittelpunkt. Die Texte Müllers und Tawadas hingegen betonen das Dynamische und Unstete und die kontinuierliche Veränderung unabhängiger Körperteile. Hier schließt sich ein diachronischer Aspekt an. Anhand von Veränderungen in den zentralen Metaphern eines Diskurses - in diesem Fall des Verhältnisses von Mono- und Multilingualismus - kann man Verschiebungen in der jeweils vorherrschenden Metasprache feststellen. Auf diesen spezifischen Aspekt ver‐ weist auch der Untertitel meiner Arbeit, der von einem partiellen Übergang von einem vorherrschend monolingualen zu einem neuen multilingualen Verständnis von Sprache(n) im Sinne von Yasemin Yildiz’ post-monolingual condition  8 und der new linguistic dispensation von Larissa Aronin und Vasilis 186 Rainer Guldin <?page no="187"?> 9 Aronin, Larissa/ Politis, Vasilis (2015). Multilingualism as an Edge. In: Theory and Practice of Second Language Acquisition, 1: 1, 27-49. Politis ausgeht. 9 Dieser Übergang zu einem neuen Paradigma, zu dem auch die beiden hier untersuchten Texte von Müller und Tawada gehören, lässt sich an der Umdeutung und/ oder Auswechslung der jeweilig vorherrschenden Metapher-Cluster ablesen. Es ist hier noch wichtig festzuhalten, dass diese Verschiebung vor dem Hintergrund früherer Metaphorisierungen stattfindet, auf die sich die neuen Metaphern meist implizit beziehen. Damit ist zugleich die Frage beantwortet, warum man sich überhaupt mit Metaphern im Zusammenhang mit kollektiven Diskursen zum Verhältnis von Mono- und Multilingualismus und deren Veränderung und mit der Präsenz von Metaphern im Werk einzelner literarischer Autorinnen beschäftigen soll. Metaphern eröffnen in beiden Fällen neue theoretische Einsichten, die sowohl synchronisch als auch diachronisch bedeutungsvoll sind. Sie zeigen einerseits, wie sich Diskurse über die Zeit hinweg verändern können, besonders in Hinblick auf einen möglichen Paradigmenwechsel. Andererseits ermöglicht ein metapho‐ risches close reading neue Einblicke in die Ästhetik und Argumentationsstruktur eines bestimmten Textes, die auf das Gesamtwerk einer Autorin bezogen werden können. Anfangen möchte ich mit einigen allgemeinen Betrachtungen zum Verhältnis von Körper- und Raummetaphern. 2. Körper- und Raummetaphern Das Zusammenspiel von Körper- und Raummetaphern spielt eine zentrale Rolle in der metaphorischen Erfassung von Mehrsprachigkeit wegen den vielfältigen Schnittstellen zwischen den beiden Bereichen, was Form, Ausdehnung, Grenz‐ verlauf und innere Zusammensetzung angeht. In diesem Sinne können Körper zum Beispiel als geschlossene Räume oder Behälter betrachtet werden, die eine äußere Grenze aufweisen und deren innere Zusammensetzung homogen oder heterogen ist. Die Wahl bestimmter Metaphern impliziert in der Regel eine epistemolo‐ gische Vorstrukturierung. Dies wird besonders deutlich, wenn man die domi‐ nanten Sprachmetaphern der monolingualen Tradition in Europa ab dem späten 18. Jahrhundert mit den neu aufkommenden Metaphern des 20. und 21. Jahr‐ hunderts vergleicht. Der monolinguale Diskurs geht im Wesentlichen vom Körper als einem homogenen organischen Ganzen aus und definiert zugleich die neuen Nationalsprachen als in sich geschlossene geopolitische Gebiete, die „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 187 <?page no="188"?> 10 Sakai, Naoki (1999). Translation and Subjectivity. On ‚Japan‘ and Cultural Nationalism, Minneapolis: University of Minnesota Press, 15. 11 Bay, Hansjörg (2012). Eine Katze im Meer suchen. In: Gutjahr, Ortrud (Hrsg.) Yoko Tawada. Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Tübingen: kon‐ kursbuchverlag, 237-295 und Gutjahr, Ortrud (2012). Vom Hafen aus. Meere und Schiffe, die Flut und das Fluide. In: Ortrud, Gudrun (Hrsg.) Yoko Tawada. Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge, Tübingen: konkursbuchverlag, 451-476. sich klar von den anderen Nationalsprachen abheben. Naoki Sakai beschreibt diesen metaphorischen Zusammenhang, der Körper, Sprache und Territorium als vergleichbare in sich geschlossene Behälter sieht, mit dem Begriff der cofiguration: „the means by which a national community represents itself to itself, thereby constituting itself as a subject“. 10 In dieser Vorstellung steht die Sprache als System im Vordergrund. In der Gegenwart dagegen stößt man vermehrt auf Metaphern des Vielfältigen und Heterogenen, welche die osmotische Fluidität von Sprachgrenzen und die hete‐ rogene Vielfalt unterschiedlicher Sprachen innerhalb desselben (Text)Raumes hervorheben. Einzelne autonom agierende Körperteile, die sich aus dem organi‐ schen Zusammenhang emanzipieren - z. B. die Zunge -, verbinden sich hier mit Metaphern des Fließens. Im Werk von Yoko Tawada z. B. nehmen die Metaphern des Wassers und des Meeres 11 im Zusammenhang mit der Metapher der flexiblen feuchten Zunge eine prominente Stellung ein. In dieser Vorstellung stehen der jeweilige Sprecher und die sprachlichen Ressourcen, auf die er zurückgreift, im Vordergrund. Neben Metaphern, die sich tendenziell ausschließen, findet man auch Meta‐ phern, die für gegensätzliche Vorstellungen verwendet wurden, so zum Beispiel das Gesicht und die Zunge, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde. Die deutschsprachige Philologie, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahr‐ hunderts herausbildet und im Laufe des 19. verfestigt, geht davon aus, dass die einzelnen Teile eines Sprachkörpers zu einem ausgewogenen organischen wohl funktionierenden Ganzen gehören. Man unterscheidet dabei nicht nur zwischen der Anatomie und der Physiologie eines Sprachkörpers, dieser wird zugleich geschlechtsspezifisch gedeutet. So unterscheidet Jacob Grimm in der Deutschen Grammatik (1822) zwischen einem festeren männlichen ‚Konsonantenleib‘, der für das äußere Erscheinungsbild der Sprache verantwortlich ist, und einer flüssigeren weiblichen ‚Vokalenseele‘, die einer Sprache ihre Färbung verleiht. Die einzelnen Sprachen werden durch das Vorhandensein unterschiedlicher grammatikalischer Geschlechter belebt, die von Anfang an ein natürlicher Bestandteil sind. Grimm betrachtet dabei das Männliche als ursprünglich, aktiv und agil und das Weibliche als diskret, empfänglich und sekundär. Dieser 188 Rainer Guldin <?page no="189"?> 12 Adelung, Johann Christoph (2016). Über den deutschen Stil, Norderstedt: Hansebooks. 13 Lakoff und Johnson (2003: 25). 14 Vossler, Karl (1925). Die Nationalsprachen als Stile. In: Jahrbuch für Philologie, Bd. I, 6. inneren Hierarchisierung entspricht eine äußere. In Über den deutschen Stil (1785) bezeichnet der deutsche Grammatiker und Philologe Johann Christoph Adelung Sprachen mit vielen Konsonanten als hart, was er als ein Zeichen der Überlegenheit der deutschen Sprache gegenüber anderen europäischen Nationalsprachen deutet. 12 Neben der organischen Ausgewogenheit, der inneren Homogenität und der Hierarchie der Teile spielen die Grenzen eine wesentliche Rolle. Elemente, die aus fremden Sprachen kommen, werden als Fremdkörper wahrgenommen, die so schnell wie möglich assimiliert werden sollen. Ein bedeutendes Beispiel für diese Metapher findet sich in der Einleitung zum ersten Band des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm, das 1854 erstmals veröffentlicht wurde. Alle gesunden Sprachen besitzen einen natürlichen Trieb, der fremde Elemente in Schach hält, diejenigen vertreibt, die seine Grenzen durchdrungen haben, oder versucht, diese umgehend zu absorbieren. Im Laufe der Geschichte hat der Widerstand gegen die Aufnahme von Fremdwörtern nachgelassen, was das allgemeine Gefühl für die eigene Sprache geschwächt hat. Es ist eine Aufgabe der Sprachtheorie, diesem allgemeinen Trend entgegenzuwirken und klare Grenze zu ziehen. Die zu schützenden Grenzen des Sprachkörpers entsprechen dabei den politischen Grenzen der Nation, innerhalb dessen Territorium die jeweilige Nationalsprache gesprochen wird. Der Körpermetapher entspricht auch hier eine Raummetapher. Im aufkommenden monolingualen Diskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahr‐ hunderts werden Nationalsprachen als Personen mit einer eigenen Identität und einem spezifischen Charakter dargestellt. Lakoff und Johnson sprechen in diesem Zusammenhang von ontologischen Metaphern und container metaphors: „Understanding our experience in terms of objects and substances allows us to pick out parts of our experience and treat them as discrete entities or substances of a uniform kind“ (meine Hervorhebung). 13 Der deutsche Romanist Karl Vossler bezeichnet in seinem Aufsatz „Die Nationalsprachen als Stile“ Nationen als „leibhafte Einzelmenschen“, lebende Individuen, die einen eigenen Willen besitzen. 14 Die Konstitution einer in sich geschlossenen Nation und die Erfindung einer Landessprache spiegeln einander und bringen einander hervor. Sprachen und Nationen sind in sich geschlossene weitgehend homogene autonome Körper. Hier ließe sich eine Verknüpfung zum Titelzitat und zweiten Teil des Essays erstellen. Herta Müllers Metapher einer Frauennase in einem Männergesicht „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 189 <?page no="190"?> 15 Müller, Herta. Wenn sich der Wind legt, bleibt er stehen oder Wie fremd wird die eigene Sprache beim Lernen der Fremdsprache 2001, (ohne Seitenangabe) Abrufbar unter: http: / / www.dhm.de/ archiv/ ausstellungen/ goethe/ katalog/ mueller.htm (Stand: 26.10.2021). 16 Humboldt, Wilhelm von (1998). Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprach‐ baues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Paderborn, München, Wien und Zürich: Schöningh, 187. sprengt auf subversive Art und Weise die Vorstellung einer homogenen in sich geschlossenen Sprache. Die Metapher betont nicht nur so etwas wie Zweige‐ schlechtlichkeit, sondern verleiht dem Weiblichen auch noch eine privilegierte tonangebende Rolle, was in Hinblick auf Grimms dualistisch argumentierende Hierarchisierung von Bedeutung ist. Die Frauennase im Männergesicht oder der Frauenmund im Männergesicht 15 , wie es in einer anderen Variante heißt, ist zwar prinzipiell eine Körpermetapher, aber sie ist auch eine Raummetapher: Das hybride zusammengesetzte Sprachgesicht ist zugleich ein Kreis, der durch einen Fremdkörper aufgebrochen wird, wodurch ein spannungsvolles Hin und Her entsteht. Ganz anderes wird in den nun folgenden Beispielen argumentiert, die auf Stimmigkeit und Ausgewogenheit setzen. Um Missverständnisse vorzubeugen, möchte ich an dieser Stelle noch her‐ vorheben, dass das Werk Johann Gottfried Herders und Wilhelm von Humboldts von einer grundlegenden Spannung lebt. Ihre Verteidigung der Einmaligkeit von Sprachen, die wohl als philosophische Grundlage des heutigen Multilingu‐ alismus betrachtet werden kann, geht Hand in Hand mit einer Ablehnung mehrsprachiger Texte, was in den von ihnen privilegierten Metaphern zum Ausdruck kommt. 3. Kreis und Gesicht Anhand der Metaphern des Kreises und des Gesichts im Werk Wilhelm von Humboldts lässt sich das Zusammenspiel von Raum und Körpermetaphern noch weiter präzisieren. Jede Landessprache, schreibt Wilhelm von Humboldt in Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, „zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren hinübertritt“. 16 Die verschiedenen Nationalsprachen sind eine Reihe von Kreisen, die dicht nebeneinander liegen, ohne sich jedoch zu überschneiden. Diese Vorstellung kommt auch in Vilém Flussers unveröffentlichtem Essay aus den 1960er Jahren „ Melodie der Sprachen“ vor. Flusser wählt die Metapher 190 Rainer Guldin <?page no="191"?> 17 Flusser Vilém , (o.D.). Melodie der Sprachen (unveröffentlichtes Typoskript), 2. 18 Herder, Johann Gottfried (2012). Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart: Reclam, 104. 19 Humboldt (1998: 173). der einheitlichen Melodie, um die Einmaligkeit und Spezifität von Nationalspra‐ chen zu beschreiben. Jede Melodie definiert eine unverwechselbare Stimmung, die eine ebenso „gestimmte“ Wirklichkeit definiert, in welcher der Sprecher einer Sprache eingetaucht ist. Wenn wir von einer Melodie in die andere „hinüberwechseln“, zerfällt die uns vertraute Realität von selbst. Die verschie‐ denen Melodien sind voneinander getrennt. Es sind nicht „einander schneidende Kreise, deren Mittelpunkte nah beieinanderliegen und die darum beinahe dieselbe Fläche bedecken. Denn die Melodie der portugiesischen Sprache ist von der deutschen verschieden, und darum handelt es sich um zwei prinzipiell verschiedene Welten.“ 17 Die Metapher des Kreises definiert eine klare unverwechselbare linguistische Zugehörigkeit. Man kann nicht gleichzeitig in unterschiedlichen Sprachen zu Hause sein. So wie jede Nationalsprache in einem bestimmten Territorium verankert ist, sind auch die Sprecher einer bestimmten Landessprache in dieser und dem ihr zugewiesenen Territorium pflanzenartig verwurzelt. Wie die Metapher des Kreises, der die einzelnen Sprecher einer Gemein‐ schaft versammelt und schützend umgibt, so definiert auch die Metapher des Gesichts einen begrenzten, in sich abgeschlossenen Raum mit einem einmaligen spezifischen Charakter und einer unverkennbaren Melodie. Im sechzehnten Kapitel seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) vergleicht Herder die Einmaligkeit der einzelnen Landessprachen mit der körperlichen Besonderheit von Gesichtern. Zwei Sprachen unterscheiden sich voneinander wie die Gesichtszüge zweier verschiedener Personen. 18 Im achten Kapitel von Humboldts Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues kommt die Metapher des Gesichts im Zusammenhang mit dem Begriff der inneren Form einer Sprache zum Einsatz. Im Unterschied zu Herder, ist die Einheit der Sprache jedoch nicht einfach gegeben, sondern das Ergebnis einer syntheti‐ schen Leistung des Geistes. „Die Sprache bietet uns eine Unendlichkeit von Einzelheiten dar.“ Dies kann auf ersten Anhieb wie ein „verwirrendes Chaos“ aussehen, lässt sich aber in „einfache Umrisse zusammenziehen“, so wie die „zerstreuten Züge in das Bild eines organischen Ganzen.“ 19 Dieser Vorgang ist vergleichbar mit dem „Gesamteindruck“, der entsteht, wenn die einzelnen Züge eines Gesichts in ihrer entschiedenen Individualität wahrgenommen werden. Die „menschlichen Gesichtsbildungen“ beruhen auf „dem Ganzen“ und der „in‐ dividuellen Auffassung“, wodurch „jede Physiognomie jedem anders erscheint. „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 191 <?page no="192"?> 20 Humboldt (1998: 176). Da die Sprache […] immer ein geistiger Aushauch eines nationell individuellen Lebens ist, so muß beides auch bei ihr eintreffen“ (meine Hervorhebung). 20 Das individuelle und kollektive Leben einer Nation sind aufeinander abgestimmt und fließen ineinander als Teile einer einzigen umfassenden Melodie. Das folgende Beispiel zeigt wie vor dem Hintergrund dieser Vorstellung Mehrsprachigkeit und Code-Mixing als Abweichung wahrgenommen werden müssen. 4. Das zusammengeflickte Gesicht der Mehrsprachigkeit In Jean-Jacques Annauds Verfilmung von Umberto Ecos Erfolgsroman Der Name der Rose, die 1986 in die Kinos kam, findet sich eine kurze Szene, die der Begegnung des jungen Adson von Melk mit dem buckligen Mönch Salvatore gewidmet ist. Von Melk besucht Ende November 1327 als Novize in der Obhut des Franziskaners William von Baskerville eine Benediktinerabtei im liguri‐ schen Apennin. Die ersten Einstellungen zeigen Nahaufnahmen von teuflischen Fratzen und verzerrten Gesichtern an den Wänden eines dunklen Vorraumes der Klosterkirche, untermalt von langen schrillen Tönen. Aus der Dunkelheit taucht der missgestaltete Salvatore auf und hält wild gestikulierend einen ausufernden mehrsprachigen Monolog. Er verwendet mehrfach das Wort „Penitenziagite“ - vom Lateinischen Poenitatentiam agite, bereut - den Schlachtruf der Anhänger Fra Dolcinos. Dieser hatte um 1300 in Oberitalien die Laienbewegung der Apostelbrüder gegründet, die zur Vernichtung der römischen Einheitskirche aufrief, und von Papst Clemens V. zum Ketzer erklärt, gefangengenommen und nach öffentlicher Folterung hingerichtet und verbrannt wurde. Als Baskerville und Adson wieder ins Offene und Helle treten, entspinnt sich ein kurzer Dialog. Welche Sprachen hat dieser Mensch verwendet? fragt er Baskerville, worauf dieser antwortet: Alle Sprachen und keine. Der Filmausschnitt webt ein dichtes assoziatives Netz um Salvatores Mehr‐ sprachigkeit: das Dunkle, Verborgene und Abgelegene des kleinen engen Raumes, die körperlichen Metaphern des Entstellten, Verwachsenen und Ani‐ malischen sowie das Ketzerische. Der Monolog Salvatores wirkt auf den ersten Blick wild und anarchisch, vor allem wegen den insgesamt fünf Sprachen und dem häufigen Code-Switching, liest man ihn aber aufmerksamer, so entpuppt er sich als wohlgeordnete Argumentation, die zwar von Sprache zu Sprache hüpft, aber eine klar erkennbare argumentative Linie erkennen lässt. Wichtig sind dabei auch die Mimik und die Gestik. Der Mönch humpelt hin und her, schubst den jungen Adson und zerrt an dessen Kutte, er gestikuliert, deutet 192 Rainer Guldin <?page no="193"?> 21 Eco, Umberto (1982). Der Name der Rose. München: Hanser, 65. mit der Hand, klatscht erfreut in die Hände und streckt geräuschvoll seine überlange wolfartige Zunge heraus, um seine Ähnlichkeit mit dem Teufel zu unterstreichen. Im Roman, der 1980 auf Italienisch und zwei Jahre später in einer deut‐ schen Übersetzung erschien, finden sich in derselben Szene einige weitere, äußerst aufschlussreiche Details in Hinblick auf Salvatores Mehrsprachigkeit. Sein braungebranntes Gesicht gleicht den Monstern, die an den Kapitellen der Kirchenvorhalle prangen. Den runden Kopf trägt er kahlgeschoren, aber nicht aus Bußfertigkeit, sondern wegen eines Hautausschlages. Das Gesicht ist grundsätzlich disharmonisch, die Stirn tief und eng, die Nase formlos, die Unterlippe wulstig, die Oberlippe nur ein knapper Strich. Die Augenbrauen sind struppig und die Nasenlöcher überwuchert von schwarzen Haaren. Der Mund ist breit und schief und die Zähne sind spitz wie die eines Hundes. Die Figur des Mönchs kumuliert verschiedene Formen der Devianz, die sein Aussehen, seinen Lebensstil und seine Sprache ineinander spiegeln. Er trägt eine zerlumpte schmutzige Kutte und gleicht daher eher einem Vagabunden. Seine Wurzellosigkeit und die Tatsache, dass er verschiedenen Sprachen durch‐ einander spricht, machen ihn grundlegend suspekt, da man ihn keiner Kultur oder Sprache eindeutig zuordnen kann. Salvatore hat sich in der Bewegung, im steten Unterwegssein eingerichtet und dieses kontinuierliche Hin und Her kommt auch in seinem Idiolekt deutlich zum Ausdruck, springt er doch ruhelos von einer Sprache zur anderen. Die metaphorische Verbindung zwischen no‐ madischer Existenz und Mehrsprachigkeit wird auch im Text Yoko Tawadas, auf den ich am Ende dieses Essays näher eingehen möchte, direkt angesprochen. Das zusammengesetzte asymmetrische Gesicht Salvatores wird im Roman explizit auf seinen mehrsprachigen Monolog bezogen, wobei die einzelnen unzusammenhängenden Teile den fragmentarischen Sprachfetzen entsprechen. „Es war, wie wenn seine Zunge gleich seinen Zügen zusammengeflickt worden wäre aus Teilen und Stücken anderer Zungen […].“ 21 Das Gesicht der mehrspra‐ chigen Rede widerspricht dem klassischen ästhetischen Kanon der inneren Har‐ monie und des ausgewogenen Zusammenhalts. Salvatore fügt seine Sätze nach Belieben aus verstreuten Bruchstücken des Katalanischen, Provenzalischen oder Lateinischen zusammen, die er irgendwann irgendwo aufgeschnappt hat. „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 193 <?page no="194"?> 22 Canetti, Elias (1994). Die gerettete Zunge. München: Hanser, 63. 5. Zungen und Augen Salvatores tierhafte Zunge ist ungezähmt, vielseitig und flexibel, was darauf hindeutet, dass dieser Körperteil sich jeder Sprache anpassen und dadurch ganz unterschiedliche individuelle und kollektive Identitäten artikulieren kann. Die Singularität der Zunge ist auch in ihrer doppelten Verwendung als Körperteil und Sprache angelegt. So bedeutet in vielen europäischen Sprachen ‛Zunge’ zu‐ gleich ‛Sprache’: im Russischen (язык, yazyk), Griechischen (γλώσσα, glóssa), Italienischen (lingua), Portugiesischen (língua) Spanischen (lengua), Französi‐ schen (langue) und Türkischen (dil). Obwohl die Zunge dadurch, dass sie sich leicht in jede Richtung drehen und wenden kann, eine ideale Metapher der Transformation und Metamorphose darstellt, ist sie auch in einem monolingualen Sinn gedeutet worden. In Die gerettete Zunge beschreibt Canetti eindrücklich, wie er zu seiner Schreibsprache gekommen ist. Der Titel deutet darauf hin, dass die Erlangung dieser einen Sprache bedroht war. Ein Bild der Kastration und möglichen Amputation der Zunge kommt ganz am Anfang vor. Der junge Elias wird Zeuge, wie die Ange‐ stellte der Eltern eine Beziehung zu einem Mann pflegt, den sie in ihr Zimmer einlädt. Der Liebhaber droht Elias, die Zunge mit einem Messer abzuschneiden, sollte er ihr Geheimnis seinen Eltern preisgeben. Eine weitere Bedrohung stellt die schwierige Lernsituation mit der Mutter dar, die einen Gesprächspartner für den gestorbenen Mann in ihrem Sohn sucht, ein Ohr, welches das verlorene ersetzen soll. Unter wahren Qualen lernt Elias die deutsche Sprache. Im Laufe dieses langwierigen Prozesses wird das frühere Bulgarisch und das Ladino, das er von den Eltern gelernt hatte, durch das neue hinzu gekommene Deutsch ersetzt. Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auf spanisch oder bulgarisch ab. Sie haben sich mir später zum größten Teil ins Deutsche übersetzt. Nur besonders dra‐ matische Vorgänge, Mord und Totschlag sozusagen und die ärgsten Schrecken, sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben, aber diese sehr genau und unzerstörbar. Alles übrige, also das meiste, und ganz besonders alles Bulgarische, wie die Märchen, trage ich deutsch im Kopf (meine Hervorhebung). 22 Anstatt sich auf die alte bulgarische Zunge zu legen, nimmt die deutsche Sprache dessen Platz ein. Eine Zungentransplantation, die nicht ohne Verlust zustande kommt. Der achtjährige Elias eignet sich damit eine vollkommen neue Sprache an, die fortab im Alleingang sein Denken und Schreiben bestimmt. Die Mutter 194 Rainer Guldin <?page no="195"?> 23 Canetti (1994: 69). 24 Tawada, Yoko, (2006). Zungentanz. In: Überseezungen. Tübingen: konkursbuchverlag, 9-14. zwingt ihn mit drastischen pädagogischen Maßnahmen, die deutsche Sprache zu erlernen, die dadurch zu einer nachträglichen Muttersprache wird. Es ist eine unlösbare pflanzenartige Bindung, eine Mischung aus Schmerz und Glück. So zwang sie mich in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging. […] es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache. Bei diesen Schmerzen war es nicht geblieben, gleich danach erfolgte eine Periode des Glücks, und das hat mich unlösbar an diese Sprache gebunden“ (meine Hervorhebung). 23 Im Gegensatz zu Elias Canetti, deuten Yoko Tawada und Emine Sevgi Özdamar die Zunge als einen vielfältigen Ort der Sprachvermischung und eine viel‐ schichtige Metapher der Mehrsprachigkeit. Tawadas Zunge ist beweglich und feucht. Sie ist grundsätzlich rebellisch und nicht zu zähmen. In „Zungentanz“ 24 verwendet Tawada die Metapher der leidenden Zunge, um den drohenden Sprachverlust in einem fremden Land zu beschreiben. Die Ich-Erzählerin wacht auf und stellt fest, dass ihre Zunge so angeschwollen ist, dass sie sich in der Mundhöhle nicht mehr bewegen kann und sie erstickt. Doch dann schrumpft die Zunge wieder zusammen und zieht sich wie ein ausgetrockneter Schwamm in die Speiseröhre zurück und nimmt ihren ganzen Kopf mit. Sie träumt, dass sich ihr Körper in eine riesige, unerträglich feuchte rosa Zunge ohne Augen verwan‐ delt hat, die nackt durch die Straßen wandert. Im metaphorischen Universum der Zunge signalisieren Feuchtigkeit und Trockenheit Kreativität bzw. deren Einschränkung. Die Erzählerin hat das Gefühl, dass sich ihre Krankheit in ihrer Zunge eingenistet hat. Sie sucht einen Spracharzt auf, der ihr beim Erlernen der neuen Sprache durch Umerziehung der Zunge hilft. Sie hat Schwierigkeiten, das neue Alphabet zu lesen, also schlägt er vor, dass sie ein bestimmtes Wort wählt, um die restlichen Wörter eines Satzes zu dominieren, um Anarchie im Mund zu vermeiden. Doch während dieses Trainings beginnt ihre Zunge plötzlich Japanisch zu sprechen. Im Gegensatz zu Canettis Vorstellung konservieren in diesem metaphorischen Universum die Zungen die verschiedenen Sprachen eines Sprechers. Wie auch der kurze Texte „Akzente“ verdeutlicht, auf den ich noch näher eingehen werde, ist Tawadas Zunge flexibel und vielfach von Sprachen und Akzenten überschichtet, wie zahlreiche Falten, die sich sukzessive um die Augen legen. In Özdamars Erzählsammlung „Mutterzunge“ begegnen wir einer gedrehten, gewendeten, einer überschichteten Zunge, die auch in Tawadas Text „Akzent“ „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 195 <?page no="196"?> 25 Vlasta, Sandra (2016). Contemporary Migration Literature in German and English. Leiden and Boston: Brill Rodopi. 26 Özdamar, Emine Sevgi (2010). Mutterzunge. In: Mutterzunge. Berlin: Rotbuch, 7. 27 Yildiz (2012: 143-144). eine Rolle spielt. Der Titel Mutterzunge ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Türkischen: ana (Mutter) und dil (Zunge). 25 Özdamar nutzt die Asymmetrie zwischen Deutsch (Muttersprache) und Türkisch (Mutterzunge) als Ausgangs‐ punkt für eine interlinguale Schreibstrategie, die darin besteht, zwei Sprachen distanzierend zu verbinden, dadurch dass man sie palimpsestartig aufeinander‐ legt. So basieren auch die ersten Sätze der gleichnamigen Kurzgeschichte auf einer wörtlichen Übersetzung türkischer Sprichwörter. „In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin. Ich saß mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin“. 26 Die knochenlose, umgedrehte Zunge betont die grundsätzliche Körperlichkeit von Zungen als Sprachen. Ihre Agilität und Elastizität stellen die Starrheit und Steifheit einer einzigen Muttersprache in Frage. Eine Zunge ohne Knochen kann sich in jeder Sprache zurechtfinden. Diese Zunge, die sich beliebig (ver)drehen kann, lässt sich wiederum auf ein türkisches Sprichwort zurückführen. Dies fügt dem hybriden Charakter des zweisprachigen Satzes eine weitere Ambivalenz hinzu. Die verdrehte Zunge (çevrilmiş dil) ist eine übersetzte Zunge, eine umgedrehte Zunge. 27 Übersetzen bedeutet im Türkischen wie im Ungarischen nicht, etwas hinüberzusetzen, sondern etwas auf den Kopf zu stellen. Özdamar konstruiert einen mehrsprachigen Text, der türkische Elemente verfremdend in das deutsche Textgewebe einfügt. Die sichtbaren Wörter stechen durch ihre Fremdheit hervor, sie tauchen aus dem Textfluss auf und verweisen auf einen unsichtbaren Subtext, ein zweites unterirdischen Gewebe. Ist die Zunge eine Metapher für Ausdruck und Fluidität, so stehen die Augen für Wahrnehmung und Differenz. Im Gegensatz zur Zunge, die man, wie gesehen, sowohl als Metapher des Einheitlichen wie des Vielfältigen verwenden kann, definiert die Metapher der Augen von Anfang an einen zweifachen Zugang zur Wirklichkeit, eine doppelte Perspektive, die nach Belieben durch weitere Standpunkte erweitert werden kann. Im Werk Herta Müllers findet in diesem Sinne eine wahre Proliferation der Augen und der damit verbundenen Standpunkte statt. So wie jede Sprache unterschiedliche Augen hat, besitzt auch jedes einzelne Wort Augen. Dank der Augen der Mehrsprachigkeit kann man sich von einer Weltanschauung zur anderen bewegen, zwischen verschiedenen Blickwinkeln hin und her pendeln und dabei verschiedene Perspektiven aus‐ testen. 196 Rainer Guldin <?page no="197"?> 28 Marven, Lyn (2005). „In allem ist der Riss“: Trauma, Fragmentation, and the Body in Herta Müller’s Prose and Collages. In: The Modern Language Review, 100: 2, 396-411. 29 Müller (2001: 1). Die beiden Augen erfassen zwei voneinander leicht abweichende Perspek‐ tiven auf die Wirklichkeit, die erst in einem zweiten Moment durch die synthe‐ tische Leistung des Gehirns verbunden werden. Der Mehrsprachige ist stets dazwischen und von Perspektive zu Perspektive unterwegs. Müller spricht in diesem Zusammenhang von einem befreienden, aber auch schmerzhaften existentiellen Riss, einer Ruptur, die das homogene (sprachliche) Gefüge der Welt aufbricht. 28 Augen können lügen. Das Schauen hat eine aggressive Seite. Eine genaue Beobachtung kann das Beobachtete zerstören, dadurch, dass dieses fragmentiert wird. Ein eigenwilliger Blick kann zum Verlust durch Distanzierung führen, aber auch zu einem Gewinn durch das Öffnen und Auflösen einer vorgegebenen Situation. Dies geschieht auch, wenn im Sprachvergleich ein Perspektivwechsel vorgenommen wird. Müllers Verwendung der Metapher des Auges in der Beschreibung von Sprachen und ihrer Beziehung zueinander hat somit sowohl eine dekonstruktivistische, als auch eine schöpferische Seite. Aus ihrer Sicht geben uns verschiedene Sprachen unterschiedliche Augen, um die Welt zu betrachten, aber diese schauen auch auf uns zurück. „Jede Sprache betrachtet die Welt anders und hat durch diese eigene Sichtweise ihren gesamten Wortschatz gefunden. […]. In jeder Sprache gibt es andere Augen in den Wörtern“. 29 Indem man den Worten Augen gibt, indem man die Sprache personifiziert, greifen die rein instrumentellen und darstellenden Funktionen nicht mehr. Sprachen sind immer da, bevor wir sie lernen. Die einzelnen Sprachen betrachten die Welt nicht nur anders, sondern sie betrachten auch einander. Ich möchte nun die beiden ausgewählten Texte von Herta Müller und Yoko Tawada auf ihren metaphorischen Subtext hin untersuchen. 6. Herta Müller: Hybridität und Doppelbödigkeit „Wenn sich der Wind legt, bleibt er stehen oder Wie fremd wird die eigene Sprache beim Lernen der Fremdsprache“ beginnt mit einer dreisprachigen Vision des Windes. Im Hochdeutschen weht der Wind, während er im Dialekt des banatschwäbischen Dorfes, in dem Herta Müller aufgewachsen ist, geht und im Rumänischen schlägt, vintul bate. „Und genau so unterschiedlich wie das Wehen ist das Aufhören des Windes. Auf Deutsch heißt es: Der Wind hat sich gelegt. Auf Rumänisch aber: Der Wind ist stehen geblieben, vintul stat.“ Zwischen den Sprachen „tun sich Bilder auf. Jeder Satz ist ein von seinen „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 197 <?page no="198"?> 30 Müller (2001: 1). 31 Müller (2001: 1). 32 Müller, Herta (2009). In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: Herta Müller Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main: Fischer, 25. 33 Müller (2009: 25). Sprechern so und nicht anders geformter Blick auf die Dinge. Jede Sprache sieht die Welt anders an […]. In jeder Sprache sitzen andere Augen in den Wörtern.“ 30 Die unterschiedlichen Augen der Sprache und die Blickwinkel, die sie eröffnen, zerbrechen die Einheitlichkeit des einsprachigen Universums und konstituieren dadurch einen hybriden, vielfältigen Raum dazwischen, in dem sich neue Bilder manifestieren, doppeldeutige zusammengesetzte Bilder. Im Ge‐ gensatz zur hierarchisierenden Vision der monolingualen Diskurse liegt dieser Vorstellung von Mehrsprachigkeit ein zutiefst demokratisches Verständnis zugrunde. Müller stellt nicht nur das Deutsche und das Rumänische, sondern auch den banatschwäbischen Dialekt auf dieselbe Stufe: Jede Sprache hat Recht. Um diese innere mehrsprachige Spannung zu veranschaulichen, benutzt sie die Metapher des Gesichts, die sie provokativ umdeutet. Im Gegensatz zum Deutschen ist ‚die Rose‘ im Rumänischen (trandafir) maskulin. Die Einheit und Homogenität des Gesichts wird aufgebrochen. Wenn man beide Sichtweisen kennt, tun sie sich im Kopf zusammen. Die feminine und die maskuline Sicht sind aufgebrochen, es schaukeln sich in der Rose eine Frau und ein Mann ineinander. Es entsteht eine überraschende, verblüffend doppelbödige Poesie […]. Was ist die Rose in zwei gleichzeitig laufenden Sprachen? Sie ist ein Frauenmund in einem Männergesicht (meine Hervorhebung). 31 Eine andere Variante dieser Metapher findet sich in „In jeder Sprache sitzen andere Augen“. Dort ist es ‘die Lilie’, ‘crin’, die im Rumänischen ebenfalls mas‐ kulin ist. „Was wird die Lilie in zwei gleichlaufenden Sprachen? Eine Frauennase in einem Männergesicht […] (meine Hervorhebung)“. 32 Diese zweisprachige Vision der Welt, die mit dem Geschlechtsunterschied spielt, erinnert an Grimms männliche Konsonanten und weibliche Vokalen. Es ist ein hybrides dissonantes Gesicht, das nicht mehr ganz in sich stimmig ist. Diese doppelbödige Sicht ist nicht dualistisch und statisch. Die beiden Momente sind gleichlaufend und schaukeln sich ineinander. „Eine doppelbödige Lilie ist immer unruhig im Kopf und sagt deshalb ständig etwas Unerwartetes von sich und der Welt“ (meine Hervorhebung). 33 Die Körper- und die Raummetapher betonen dabei dieselben Momente: die Aufspaltung, den Riss, die Gleichzeitigkeit und die daraus resultierende Spannung sowie das stete Hin und Her, das Müller als 198 Rainer Guldin <?page no="199"?> 34 Müller (2001: 1). 35 Müller (2001: 2). 36 Müller (2001). 37 Müller (2001: 1). 38 Müller (2001: 2). 39 Müller (2001: 21). 40 Müller (2009: 25). 41 Müller (2001: 2). 42 Müller (2001: 2). „ein kleines Theater“, eine „niemals endende Handlung“, von „einer Sprache zur anderen“ 34 und als „Spagat der Verwandlungen“ 35 beschreibt. Neben der Gesichtsmetapher kommen noch weitere Geschlechtsmetaphern zum Einsatz. So wie in den beiden Gesichtsmetaphern dem weiblichen Teil die tonangebende primäre Rolle zukommt, kehrt Müller in diesen Metaphern die traditionelle Vorstellung einer privaten zurückgezogenen Weiblichkeit und einer dazu gehörenden schützenden öffentlichen Männlichkeit um. Die weib‐ lich-männliche Rose ist ein „zehenlanges Frauenkleid, in dem eingerollt ein Männerherz sitzt“, „Frauenhandschuh und Männerfaust in einem.“ 36 Diese dop‐ pelte zweisprachige Sicht ist der einfachen einsprachigen stets überlegen: „Eine doppelbödige Rose sagt immer mehr von sich und der Welt als die einsprachige Rose.“ 37 Im Text findet man auch Körpermetaphern, welche die äußere und innere Körperseite verbinden. So ist die Muttersprache „wie die eigene Haut. Und genauso verletzbar wie diese.“ 38 Zugleich fungiert sie „im Schädel als tragbare Heimat“ 39 , was an die verwandte Formulierung „immer unruhig im Kopf “ aus „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ 40 erinnert. Das Rumänische ist keine Schreibsprache, schreibt aber stets mit, weil sie ihr „in den Blick hineinge‐ wachsen ist“ (meine Hervorhebung). 41 Damit wird die später hinzugekommene rumänische Sprache mit einem organischen Attribut versehen, das man in den monolingualen Diskursen in der Regel der Muttersprache zuschreibt, da allen anderen später erlernten Sprachen etwas Artifizielles, Unechtes anhaftet. Im Gegensatz zu Canetti schwingt hier aber etwas Störendes, Unstimmiges mit, auch weil dieser Blick grundsätzlich zweisprachig ist. Das Rumänische wird auch als Taschengeld beschrieben, das nie ganz aus‐ reicht, um die neu entdeckten Gegenstände zu bezahlen. „Was ich sagen wollte, musste bezahlt werden mit entsprechenden Worten, und viele kannte ich nicht, und die wenigen, die ich kannte, fielen mir nicht rechtzeitig ein.“ 42 Dies führt eine ganz andere Dimension ein, die eine eigene Untersuchung verdienen würde. Man könnte sie aber auch den vielen anderen Bildern des Austausches und der Bewegung zuordnen. „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 199 <?page no="200"?> In Müllers Text (vgl. Abb. 1) unterstützen die Körper- und Raummetaphern der Mehrsprachigkeit sich gegenseitig. Dabei stehen das Doppelte, Hybride, Zweifache, Doppelbödige und der damit verbundene Raum des Dazwischen im Vordergrund. Im Gegensatz zu den Metaphern, die in der Mehrsprachigkeit das Problem der Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Teile betonen, bestehen hier die einzelnen Teile nicht bloß nebeneinander, sondern interagieren auf vielfache und kontinuierliche Art und Weise. Diese gespaltene aufgebrochene Weltsicht, die man im Spagat überbrückt, generiert vielfache Verwandlungen und dialogische Austauschbewegungen, die für innere Spannung, aber auch für kreative Einsichten sorgen. Einmal angestoßen kommen diese Bewegungen nicht mehr zum Stillstand, sondern schaukeln sich gegenseitig hoch. Damit wird die räumliche Offenheit durch eine zeitliche ergänzt. Dieses mehrsprachige Universum besteht aus widersprüchlichen, ja unversöhnbaren Sichtweisen, was aber nicht zu Unordnung und einem Verlust der Stabilität und Harmonie führt, sondern zu einer Ordnung höherer Komplexität. Körpermetaphern Blick: Der Blick auf die Dinge Die Sicht der Muttersprache Rumänisch in den Blick hineingewachsen Raummetaphern Augen: in jeder Sprache sind andere Augen in den Wörtern Drei Blickweisen auf den Wind → Pluralität Muttersprache im Schädel, tragbare Heimat immer unruhig im Kopf Beide Sichtweisen → Zweiheit Zwischen zwei Sprachen/ zwischen allen Sprachen Frauenmund in einem Männergesicht von einer Sprache zur anderen Zehenlanges Frauenkleid/ eingerolltes sich ineinander schaukeln Männerherz → Hin und Her, Austausch Männerfaust in Frauenhandschuh gleichzeitig laufend → Parallelismus → Geschlecht, Hybridität den Spagat der Verwandlungen ein kleines Theater vollführen Zusammentreffen: niemals endende Handlung Bewegung Abb. 1: Das Verhältnis von Körper- und Raummetaphern in Herta Müllers „Wenn sich der Wind legt“ und „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ 200 Rainer Guldin <?page no="201"?> 43 Tawada (2017: 24). 44 Tawada (2017: 26). 45 Tawada (2017: 25). 7. Yoko Tawada: Durchlässigkeit und Überschichtung In „Akzente“ deutet Yoko Tawada die Gesichtsmetapher im Sinne der Pluralität um. Es gibt keinen Menschen ohne Akzent, so wie es keinen Menschen ohne Falten im Gesicht gibt. Der Akzent ist das Gesicht der gesprochen Sprache, und ihre Falten um die Augen und in der Stirn zeichnen jede Sekunde eine neue Landschaft. Der Sprecher hat all diese fernen Landschaften durchlebt […] und das zeigt sich in seiner Aussprache. Sein Ak‐ zent ist seine Autobiografie, die rückwirkend in die neue Sprache hineingeschrieben wird (meine Hervorhebung). 43 Sprachen prägen sich nacheinander ein und hinterlassen bleibende Spuren, die sich mit der Zeit ansammeln und zusammenwirken. „Wer mit Akzent spricht, kann mehr als eine Sprache gleichzeitig auf die Zunge legen“ (meine Hervorhebung). 44 Die anderen Sprachen sind hier indirekt gegenwärtig, nicht als fremde Einsprengsel, sondern als signifikante Differenz, wie das Türkische in Özdamars „Mutterzunge“. Die Zunge und das Gesicht erfahren dadurch eine Erweiterung auf das Mehrfache hin, die auch das Moment der Entwicklung der je anderen Biographie der einzelnen Sprecher umfasst. Die verschiedenen Akzente legen sich nacheinander auf eine zunehmend überschichtete Zunge. Falten sammeln sich zu immer komplexeren Gesichtslandschaften. Andere Sprachen hinzuzulernen, bedeutet nicht nur, den eigenen Horizont zu erweitern, sondern auch vorhandene Ansichten neu zu denken und umzugestalten. Tawada fasst dies in Körpermetaphern, die Wachstum und Erweiterung betonen. Auch im hohen Alter können wir unseren Gaumen erweitern, uns fiktive Zähne wachsen lassen, mehr Speichel produzieren und unsere Gehirnzellen durchkneten und durchlüften. Das Ziel der Sprachlernenden ist nicht, sich dem Zielort anzupassen. Man kann immer wieder eine neue Sprache lernen und die alten Sprachen als Akzent beibehalten. 45 Tawada verweist auf unterschiedliche Formen von Akzent: „eine regionale Färbung, einen ausländischen Akzent, einen Soziolekt und einen Sprachfehler medizinischer Art […].“ (ebd.: 23) Der oft verpönte Akzent, den man als eifriger Sprachlerner so gut wie möglich auszumerzen hat, erweist sich hier als eine „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 201 <?page no="202"?> 46 Tawada (2017: 25). 47 Tawada (2017: 24). 48 Tawada (2017: 26). unumgängliche Tatsache. Mehr noch: „Gäbe es keinen Akzent mehr, bestünde die Gefahr, dass man schnell vergisst, wie unterschiedlich die Menschen sind.“ 46 Der Text verbindet die äußere und innere Körperseite mit entsprechenden äußeren und inneren Räumen. Wie in Müllers Text unterstützen die Körper- und Raummetaphern der Mehrsprachigkeit sich gegenseitig. Wer mit Akzent spricht, fühlt sich zu Hause. Der Akzent ist seine Eigentumswohnung […]. Er trägt ihn immer mit sich im Mund und kann somit immer in den vier eigenen Wänden gemütlich seine Fremdsprache sprechen (meine Hervorhebung). Die zunehmende Mehrsprachigkeit führt zu einer Vervielfältigung der inneren und äußeren (Körper)Räume und diese wiederum generiert - wie im Text Herta Müllers - zahlreiche Bewegungen, die sowohl im Inneren wie im Äußeren stattfinden. Im folgenden Zitat finden Raum und Körper im Wort ‚Atemzug‘ zusammen. Der Akzent ist eine großzügige Einladung zu einer Reise in die geografische und kulturelle Ferne. […] Eine Kellnerin öffnet den Mund, schon bin ich unterwegs nach Moskau, nach Paris oder nach Istanbul. Die Mundhöhle der Kellnerin ist der Nachthimmel, darunter liegt ihre Zunge, die den eurasischen Kontinent verkörpert. Ihr Atemzug ist der Orientexpress. Ich steige ein (meine Hervorhebung). 47 Neben vielfachen Überschichtungen und Bewegungsformen spielt auch die os‐ motische Durchlässigkeit von Grenzen und deren Durchdringung eine wichtige Rolle. Das Wort ‛dicht’ wird zuerst im Sinne von ‛nicht ganz dicht’, d. h. ‛nicht recht bei Verstand’, ‛leicht verrückt’ benutzt. In einem zweiten Moment aber wird es für räumliche und körperliche Grenzen eingesetzt, die wiederum als doppelte Metapher für die Grenzen zwischen den Sprachen dienen. Es kann für mehrsprachige Dichterinnen und Dichter ein Vorteil sein, wenn die Wände in ihrem Gehirn ‚nicht ganz dicht‘ sind. Durch die undichte Wand sickert der Klang einer Sprache in eine andere hinein und erzeugt eine atonale Musik (meine Hervorhebung). 48 Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung von Melodie gründet die atonale Musik auf einer chromatischen Tonleiter. Ihre Harmonik und Melodik ist nicht auf ein tonales Zentrum, d. h. auf einen Grundton fixiert. Erwähnenswert ist noch eine weitere Metapher, die allerdings den Raum nicht direkt einbezieht. 202 Rainer Guldin <?page no="203"?> 49 Tawada (2017: 26). Wollen wir heute Fondue essen oder lieber Couscous? […] Ein Schweizerdeutsch mit arabischem Akzent kann […] ein kulinarischer Ohrenschmaus sein. Es ist nicht mehr notwendig, sich für das Fondue oder für den Couscous zu entscheiden (meine Hervorhebung). 49 Indem sie die normalerweise getrennten Prozesse des Hörens und Essens vermischt, leistet die Metapher des Ohrenschmauses genau das, was Mehrspra‐ chigkeit anbietet: eine komplexere Sicht der Wirklichkeit. Körpermetaphern Raummetaphern äußere Körperseite äußerer Raum Akzent = Gesicht der (Gesichts)Landschaft gesprochenen Sprache/ Falten um die Augen und in der Stirn innere Körperseite äußerer Raum Atemzug: Orientexpress Atmen = Reisen Mundhöhle Nachthimmel Zunge eurasischer Kontinent innere Räume Gehirn, Gehirnzellen Zimmer/ vier Wände im Mund tragen Akzent = Eigentumswohnung Durchlässigkeit (innen ↔ außen) Wände im Gehirn (nicht ganz dicht) Klang der Sprache sickert durch undichte Wand → Hin und Her, Austausch Gehirnzellen durchlüften → osmotische Grenzen Überschichtung: mit Akzent sprechen = Akzente: regional/ ausländisch/ Soziolekt Mehr als eine Sprache auf die Zunge legen Sprachfehler → Pluralität Sprechen/ Hören - Essen: kulinarischer Ohrenschmaus Neue Sprachen lernen und die alten Akzente beibehalten Pluralität Gaumen erweitern, Zähne wachsen lassen Muskeln des Mundwerks trainieren auf Weltreise geschickt Bewegung Abb. 2: Das Verhältnis von Körper- und Raummetaphern in Yoko Tawadas „Akzent“ Es gibt eine Reihe von Entsprechungen zwischen den beiden Texten. Müllers Vorstellung, dass eine neue Sprache in den Blick hineinwachsen kann, entspricht Tawadas Metapher des erweiterten Gaumens und der wachsenden Zähne, die das Organische ebenfalls in einem dynamischen Sinn deuten. Beide Schriftstel‐ „Eine Frauennase in einem Männergesicht“ 203 <?page no="204"?> lerinnen verwenden Metaphern der physischen Bewegung. Tawada verbindet Atmen und Reisen, was auch in der Doppeldeutigkeit von Atem/ Zug zum Ausdruck kommt. Bei Müller sind es Metaphern, die Denk- und Schreibprozesse als Bewegungen veranschaulichen: der Spagat der Verwandlungen, ein kleines Theater vollführen und die nie endende Handlung. Wie in Müllers Text bilden die Körper- und Raummetaphern in „Akzent“ einen doppelten Cluster, der dazu dient, eine verwandte Gesamtsicht der Mehrsprachigkeit hervorzubringen (vgl. Abb. 2). Die einzelnen Metaphern tauchen aus dem Textfluss auf, sind aber durch vielfache Beziehungen mitein‐ ander verbunden. Durch das stete interpretative Hin und Her zwischen den unterschiedlichen Metaphern webt der Leser ein dichtes Bedeutungsnetz und reproduziert damit die grundlegende Erfahrung von Mehrsprachigkeit, die darin besteht, aus dem scheinbar Disparaten eine neue vielschichtige Wirklichkeit zu konstruieren. 204 Rainer Guldin <?page no="205"?> 1 Olivia Wenzel (2020), 1000 Serpentinen Angst. Frankfurt a.M.: Fischer, 349. Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen in der postmigrantischen mehrsprachigen Gegenwartsliteratur: Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst und Yael Ronens The Situation Ulrike Garde Abstract: Das Kapitel untersucht, wie (post)migrantische, performativ ge‐ prägte Gegenwartsliteratur spielerisch Glosso- und Semiodiversität als lite‐ rarische Strategien der Bedeutungsproduktion in interkulturellen Rahmen einsetzt. Die Analyse fokussiert auf Olivia Wenzels Roman 1000 Serpentinen Angst und das Drama The Situation von Yael Ronen & Ensemble. Beide Texte gehören zu einer preisgekrönten mehrsprachigen Gegenwartsliteratur, die eine Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen aufweist. Dabei dient der interlinguale Sprachkontakt in der Figurenrede dazu, sprachliche Automa‐ tismen zu destabilisieren und semantische Eindeutigkeit zugunsten einer ausführlichen Erkundung von Bedeutungen und Assoziationen aufzulösen. Manifeste Mehrsprachigkeit fungiert somit als eine effektive literarische Strategie, um Vielstimmigkeit zu generieren, die eine komplexe Darstellung von multipler Zugehörigkeit ermöglicht. Keywords: (post)migrantisch, fluide Bedeutungszuschreibungen, Performa‐ tivität, Automatismen, Zugehörigkeit „Gemächlich steigt die Blase in den Nachthimmel. […] [A]uf meinem Handy erscheint eine Nachricht von Kim. Nur ein Satz, I’m all in.“ Mit diesen Worten schließt der vorletzte Abschnitt in Olivia Wenzels Buch 1000 Serpentinen Angst (2020). 1 Durch das symbolische Loslassen der Kau‐ gummi-Luftblase und die verbindliche Zusage seitens der ehemaligen Partnerin der schwangeren Protagonistin, gemeinsam das werdende Kind aufzuziehen, <?page no="206"?> 2 ‚Sprache‘ bedeutet hier eine Sprache, die als Nationalsprache wahrgenommen wird und die sich linguistisch von anderen Nationalsprachen unterscheidet, wobei die Grenzen zwischen den Sprachen fließend sind. Ergänzend siehe dazu auch Gramlings Definition, die die linguistische Bezeichnung ‚Codes‘ benutzt: Gramling, David (2016). The Invention of Monolingualism. New York: Bloomsbury, 32. 3 Dembeck, Till (2017). Sprachwechsel/ Sprachmischung. In: Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr, 125-166, hier 152. Dembeck verweist hier auf Gramling (2016), 31-36. 4 Wenzel, Olivia (2020), 333. hebt der Roman die ihm zugrunde liegende Bewegung in Schleifen und Serpentinen auf. Diese schlangenförmige Suchbewegung nach Bedeutungen, Verständigung und Verstehen steht stellvertretend für eine Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen in Literatur, die glossodivers, das heißt in unter‐ schiedlichen Sprachen verfasst ist. 2 Diese glossodiverse Literatur nutzt den interlingualen Sprachkontakt in der Figurenrede dazu, semantische Eindeutig‐ keit zugunsten einer ausführlichen Erkundung von Bedeutungen und Assozia‐ tionen aufzulösen. Sie erweitert damit die Vieldeutigkeit, die fiktionale Texte gemeinhin charakterisiert, indem sie ihre semantischen Erkundungen nicht auf die mehrschichtigen Bedeutungen ‚innerhalb‘ einer Sprache - das heißt auf Semiodiversität - beschränkt, sondern gleichzeitig explizit den semantischen Spielraum auslotet, der sich durch einen interlingualen Sprachkontakt ergibt. Durch Anwendung von David Gramlings soziolinguistischer Unterscheidung zwischen ‚glossodiversity‘ und ‚semiodiversity‘ auf die Analyse postmigran‐ tischer literarischer Mehrsprachigkeit zeigt sich in diesem Kapitel ein diffe‐ renziertes Bild davon, wie diese mehrsprachige Literatur Glossodiversität als „das [übersetzbare] Nebeneinander unterschiedlicher Verfahren der Codierung, nach denen Texte erzeugt werden“, nutzt und diese mehrsprachigen Texte gleichzeitig „im Prozess der Bedeutungsgenerierung jeden Code […] verändern und damit potentiell [semiodivers] vervielfältigen“. 3 Der daraus hervorgehende sprachliche Reichtum manifestiert sich beispielsweise in Formulierungen und Interferenzen, die von deutschsprachigen Leserinnen und Lesern möglicher‐ weise als fremd und anders empfunden werden. Dieses literarische Prinzip führt dazu, dass mehrere Bedeutungen nebeneinander bestehen und in der Schwebe bleiben, ohne zugunsten einer ‚eindeutigen‘ Interpretation aufgelöst zu werden. Insofern lässt sich die titelgebende Serpentine in Wenzels Roman als Metapher für eine Schreibweise interpretieren, die Sinn nicht auf direktem Weg zu einem Ziel entwickelt, sondern durch Kehren, seitwärtige und kreisförmige Bewegungen gekennzeichnet ist. Das literarische Prinzip einer Sinngebung über „Umwege“ 4 wird in Wenzels Roman auch an anderer Stelle in der Beschreibung 206 Ulrike Garde <?page no="207"?> 5 Wenzel, Olivia (2020), 302. 6 Wenzel, Olivia (2020), 333. 7 Ronen, Yael & Ensemble. The Situation. Fassung von 2018. Unveröffentlichtes Skript. Um den Schreib- und Lesefluss zu unterstützen, benutze ich im Folgenden den Autor‐ namen „Ronen“ für das Autor: innenkollektiv. Wenn der Text sich auf Yael Ronen als Einzelperson oder als Regisseurin bezieht, wird dies entsprechend deutlich gemacht. 8 2020 erhielt der Roman den Literaturpreis der Stadt Fulda und stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. The Situation wurde 2016 zum Berliner Theatertreffen und zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen und zum „Stück des Jahres“ (Theater heute) gewählt. 9 Premiere: August 2021. Regie: Anta Helena Recke. Im Dezember 2021 führte Miriam Ibrahim bei einer Inszenierung am Schauspiel Hannover Regie. 10 Zur Schreibung von Schwarz und weiß, siehe Colvin, Sarah (2022). Freedom Time: Temporal Insurrections in Olivia Wenzel’s 1000 Serpentinen Angst and Sharon Dodua Otoo’s Adas Raum. German Life and Letters 75: 1, 138-165: „In line with current standard practice I am capitalising Black to indicate the political import of the term, and italicising (but not capitalising) white to mark it as a racialised construction”(139). von Krebsen, die seit- und vorwärtslaufen können, versinnbildlicht. 5 Gegen Ende des Romans reflektiert die Protagonistin schließlich die Auswirkungen dieser iterativen semantischen Suche auf die Erzählweise des Romans, als sie darauf verweist, dass ihr angolischer Vater dieses Fehlen „EINER ROTEN LINIE“ als „typisch afrikanisch“ bezeichnet habe. 6 Diese Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen soll im Folgenden anhand zweier Texte näher untersucht werden. Die literarische Analyse richtet den Fokus neben Wenzels Roman auf das Drama The Situation (2015), das Yael Ronen gemeinsam mit dem Ensemble der Premiere entwickelte. 7 Beide Texte gehören zu der preisgekrönten mehrsprachigen Literatur der jüngsten Vergan‐ genheit 8 , die spielerisch Glosso- und Semiodiversität als literarische Strategien der Bedeutungsproduktion und -verschiebung in interkulturellen Rahmen ein‐ setzt. Wenzels und Ronens Texte sind in mehrfacher Hinsicht performativ geprägt. Auf semantischer Ebene betonen sie den performativen Charakter von Bedeutungsproduktion. The Situation wurde als dramatischer Text verfasst, der während der Aufführungen gemeinsam mit dem Ensemble weiterentwickelt und abgewandelt wurde. Wenzels 1000 Serpentinen Angst, der erste Roman der Theaterautorin, Musikerin und Performerin, eignet sich durch seine dialogische Struktur ebenfalls als Vorlage für Theaterinszenierungen. Er wurde nach seinem Erscheinen bereits zweimal für die Bühne adaptiert und unter anderem - wie The Situation - am Maxim Gorki Theater in Berlin aufgeführt. 9 Für diesen Identitätsbeziehungsweise Entwicklungsroman schuf Wenzel Dialoge, in denen eine namenlose 30-jährige, Schwarze 10 , queere Protagonistin, die im Osten Deutschlands aufgewachsen ist, Fragen der Zugehörigkeit stellt Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 207 <?page no="208"?> 11 Gottschalk, Katrin, Interview mit Olivia Wenzel, taz, 05.03.2020. Abrufbar unter: https : / / taz.de/ Autorin-Olivia-Wenzel-ueber-Identitaet/ ! 5666451/ (Stand: 20.03.2022). 12 Wenzel, Olivia (2020), 18, 19. und sich mit einer Angststörung, dem Verlust ihres Zwillingsbruders, Alltags‐ rassismus und einer Liebesbeziehung auseinandersetzt. In dem dreiteiligen, autofiktional geprägten Buch sind vor allem der erste und letzte Teil in Fragen und Antworten strukturiert. Hier nimmt die „fragende Instanz“ (meist durch Versalien markiert) unterschiedliche Rollen ein, die sich häufig nicht klar bestimmen lassen. Ihre oft provozierenden und widerspenstigen Fragen orientieren sich teils am politischen Zeitgeschehen, in anderen Dialogen sind sie psychologisch angelegt oder erinnern laut Autorin „teilweise auch Verhör‐ situationen, wie bei einer Einreise in die USA. Und später wird es eher ein Zwiegespräch der Protagonistin mit sich selbst.“ 11 Sowohl diese Wechselrede als auch die Gesamtstruktur des Romans sind auf inhaltlicher Ebene durch eine zirkuläre Rückkehr zu zentralen Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen geprägt. Außerdem wird der Text durch das Leitmotiv des Kaugummi- und Snackautomaten strukturiert, auf das sich auch die Kaugummiblase aus dem Zitat am Anfang dieses Aufsatzes bezieht. Die Entwicklung dieses Leitmotivs im Roman trägt zu den zahlreichen Vor- und Rückblenden in der fragmentarisch erzählten Handlung bei. Während der Roman überwiegend in einem Standarddeutsch verfasst ist, das zwischen dem gehobenen Vokabular einer Prosaerzählung und dem eines infor‐ mell gehaltenen Gesprächs variiert, unterbricht der Wechsel in andere Idiome gelegentlich den Erzählfluss. Die Sprachwechsel sind auf Handlungsebene zum einen den internationalen und innerdeutschen Reisen der Protagonistin geschuldet, spiegeln zum anderen aber auch ihren Konsum globaler Popkultur, insbesondere Musik. Bei ihrer Reise in die USA häufen sich erwartungsgemäß kurze Sätze auf Englisch, deren Klischeehaftigkeit teilweise ausgestellt wird, indem Ausdrücke wie „this is amazing“ 12 in passenden und unpassenden Kon‐ texten wiederholt werden. Neben dem globalisierten Englisch benutzt der Text Glossodiversität auch zur potenziellen lokalen Verortung. Entsprechend signalisiert der thüringische Dialekt eine gedankliche oder reale Rückkehr der Protagonistin zu Orten und Menschen ihrer Kindheit, wie zum Beispiel zu ihrer Großmutter. Die meist kurz gehaltenen glossodiversen Einschübe auf Englisch, Polnisch und Vietnamesisch, sowie der thüringische Dialekt werden meist typografisch durch Kursivdruck hervorgehoben. Auf diese Weise betont die Textgestaltung die manifeste Mehrsprachigkeit, die auf linguistischer Ebene durch „eine segmentäre Differenzierung zwischen unterschiedlichen Idiomen“ in der Fi‐ 208 Ulrike Garde <?page no="209"?> 13 Dembeck, Till (2017). Mehrsprachigkeit in der Figurenrede. In: Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch (Tübingen: Narr Francke Attempto), 167-92, hier 168. 14 Zur intersektionalen Marginalisierung vgl. „In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane.“ Die Protagonistin genießt die Selbstver‐ ständlichkeit dieser Handlung in New York, weil diese in Deutschland aus drei Gründen - „rassistische Affenanalogien“, „Unterlegenheit des beigen Ostens gegenüber dem goldenen Westen“ und „[d]ie Banane als Penisanalogie und Werkzeug des Sexismus“ - zu Ausgrenzungen führen würde. Wenzel, Olivia (2020), 49. 15 Siehe Dembeck, Till (2020). Es gibt keine einsprachigen Texte! Ein Vorschlag für die Literaturwissenschaft, Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11: 1, 163-176, hier 167. gurenrede deutlich wird. 13 Der jeweilige Sprachwechsel dient zum einen der Charakterisierung der Figuren und destabilisiert zum anderen Bedeutungszu‐ schreibungen und sprachliche Automatismen. Durch ein Umkreisen eines sprachlichen Ausdrucks entstehen Bedeutungsverschiebungen, die stellenweise auch auf Prozesse der (interkulturellen) Verständigung und des (Nicht-)Verste‐ hens hinweisen. Dabei treten wiederholt Widersprüche zutage, die geschickt durch die Dialogform offengelegt und nicht aufgelöst werden. Somit spiegelt der Umgang mit Reibungen, die sich aus Glosso- und Semiodiversität ergeben, das ‚Aushalten‘ der Widersprüche, die auch die Protagonistin in sich vereint. Beispielsweise ist sie sich dessen bewusst, dass sie in einigen Situationen als deutsche Reisende privilegiert ist, während sie sich in zahlreichen anderen Situationen als Schwarze ostdeutsche Frau dreifach marginalisiert fühlt. 14 Somit fungiert in Wenzels Roman manifeste Mehrsprachigkeit als eine effektive literarische Strategie in einem „Netzwerk der Mittel“, die der Text benutzt, um eine Vielstimmigkeit zu generieren, die die Vielschichtigkeit der Protagonistin und ihres gesellschaftlichen Umfelds spiegelt. 15 Glossodiversität ist Teil einer Palette literarischer Strategien, die zum Beispiel Variationen in der Länge der Fragen und Repliken einschließen. Außerdem umfassen sie unterschiedliche Register, wie poetische und bildhafte Reiseberichte einerseits, und andererseits Passagen, die sich an Kommunikation in sozialen Medien orientieren oder Anspielungen an Songtexte enthalten. Durch eine derart gestaltete Poetik entsteht eine Polyphonie, deren einzelne Stimmen sich nie zu einer harmonischen Melodie zusammenfügen, was zum einen die Verfasstheit der Protagonistin spiegelt, zum anderen der Leserschaft einen Blick auf gesell‐ schaftliche Zustände aus einer Vielzahl von Blickwinkeln bietet. Im Vergleich zu Wenzels Roman ist der Anteil explizit mehrsprachiger Dialoge und Monologe in The Situation groß. Das preisgekrönte Drama, das Yael Ronen gemeinsam mit einem von sprachlicher und kultureller Vielfalt Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 209 <?page no="210"?> 16 Die Mitglieder des Ensembles sind Ayham Majid Agha, Karim Daoud, Maryam Abu Khaled, Orit Nahmias, Yousef Sweid. Statt Ayham Majid Agha wirkt nun Mazen Aljubbeh mit. 17 Ich verwende „mehrsprachig“ hier als Oberbegriff für Glosso- und Semiodiversität. 18 Langhoff, Shermin/ Kulaoglu, Tuncay / Kastner, Barbara (2011). Dialoge I: Migration dichten und deuten: Ein Gespräch zwischen Shermin Langhoff, Tuncay Kulaoglu und Barbara Kastner. In: Pelka, A. / Tigges, S. (Hrsg.) Das Drama nach dem Drama: Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Bielefeld: transcript, 400. Ich variiere Langhoffs Ausdruck, indem ich „post“ in Klammern setze, um darauf hinzuweisen, dass viele der Autor: innen in diesem Artikel eigene Migrationserfah‐ rungen haben. 19 Siehe z. B. Foroutan, Naika (2013): ‚Hybride Identitäten. Normalisierung, Konflikt‐ faktor und Ressource in postmigrantischen Gesellschaften‘. In: Heinz-Ulrich Brink‐ geprägten Ensemble verfasste, 16 spielt in einem fiktiven Deutschkurs in dem Berliner Stadtteil Neukölln, in dem erwachsene israelische, israelisch-arabische, palästinensische und syrische Protagonisten aufeinandertreffen. Der Titel des Stücks leitet sich von dem Begriff „Situation“ ab, der in Diskussionen über den Konflikt in Israel/ Palästina auf Hebräisch oder Arabisch als bewusst vage poli‐ tische Referenz verwendet wird. Das Stück verhandelt die politische Situation im Nahen Osten (so wie sie 2015 erschien) auf Deutsch mit zahlreichen Szenen auf Arabisch, Englisch, Hebräisch und Russisch. Aufgrund der Zusammensetzung der Kursteilnehmer: innen lassen sich die persönlichen Fragen, die als Teil des Spracherwerbs gestellt werden, mit politischen Inhalten verbinden. In den sieben Szenen des Stücks, die die Lernprogression vom ab initio Lernenden bis zum Konjunktiv spiegeln sollen, setzt Ronen die Figur des Lehrers Stefan sowie den Rahmen des sprachlichen und interkulturellen Austauschs ein, um in humorvollen Wortwechseln und semi-autobiografischen Monologen, die sich aus simplen „W-Fragen“ nach Namen und Herkunft ergeben, heikle Themen und politische Konflikte anzusprechen. Durch die damit einhergehende kreisförmige Suche nach adäquater Versprachlichung von unaussprechlichen Erfahrungen verschieben sich Bedeutungen, indem sprachliche Automatismen hinterfragt und ihre Deutungshoheit verhandelt werden. Wenzels und Ronens Texte setzen sich beide mehrsprachig 17 mit komplexen Mustern multipler Zugehörigkeit auseinander, wobei sie insofern (post)migran‐ tische Einflüsse aufweisen, als sie durch Migrationshintergrund beeinflusste „Geschichten und Perspektiven […] als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung [ihrer Autor: innen] mitbringen“. 18 Während diese Definition wie andere frühe Interpretationen postmigrantischer Literatur sich vor allem auf die Darstellung lebensweltlich fundierter Migrations- und Fremdheitserfahrungen bezog, 19 tendieren jüngste Veröffentlichungen dazu, das Augenmerk auf „sub‐ versive Praktiken“ als kreative Haltung und Forschungsmethode innerhalb 210 Ulrike Garde <?page no="211"?> mann / Haci-Halil Uslucan (Hrsg.): Dabeisein und Dazugehören. Integration in Deutschland. Wiesbaden: Springer, 85-99. 20 So argumentieren beispielsweise Jara Schmidt und Jule Thiemann in ihrer Einleitung (2021, 12-13) zu dem Sammelband Reclaim! Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung, Berlin: Neofelis, 11-16. 21 Siehe Hill, Marc / Yıldız, Erol (Hrsg.) (2018). Postmigrantische Visionen. Erfahrungen - Ideen - Reflexionen, Bielefeld: transcript. 22 Priscilla Layne bietet eine Interpretation von Wenzels Roman als Autofiktion in ihrem Vortrag an: Layne, Priscilla (2020). Suspicious Spiral: Autofiction and Black German Subjectivity in Olivia Wenzel’s 1000 Serpentinen Angst. Brandeis University, 26/ 10/ 2020. Abrufbar unter: https: / / www.brandeis.edu/ cges/ news-events/ fall-2020/ 201026_layne_ priscilla.html (Stand: 10.01.2022). eines breiter gefassten Diversitätsdiskurses zu legen. 20 Dabei bleibt auch in diesem offeneren Konzept die Auseinandersetzung mit Diversität und Mobilität häufig eng mit sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen verknüpft. 21 Da‐ gegen soll im Folgenden verstärkt die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, dass mehrsprachige (post)migrantische Literatur jenseits ihrer potenziellen Abbildungsfunktionen von Lebenswelten und eines damit verbundenen ge‐ sellschaftspolitischen Engagements durch ihre literarischen Strategien einen Mehrwert in fiktionalen und fiktionalisierten Narrativen generiert. Entsprechend werden Migrationserfahrungen in The Situation zwar mehr‐ fach angesprochen, und es gibt einen direkten Zusammenhang mit den Mi‐ grationsbiografien einiger Mitglieder des Ensembles, jedoch verkörpern diese Figuren mit anderen Namen auf der Bühne und sprechen einen fiktionalisierten Text. In 1000 Serpentinen Angst werden verschiedene nationale und geografische Zugehörigkeiten vor allem durch die Mobilität der Protagonistin thematisiert, wobei auch die Migrationserfahrung des Vaters, der kurz nach der Geburt seiner Kinder nach Angola zurückgekehrte, sowie Erinnerungen an die DDR zur Sprache kommen. Wichtig ist jedoch, dass der (post)migrantische Hinter‐ grund gleichzeitig eine narrative Funktion in Wenzels Roman erfüllt, da die semantische Öffnung von Konzepten in mehreren Idiomen der Figurencharak‐ terisierung dient. Um eine Lesart anzubieten, die sich weniger auf mögliche autobiografische Elemente der Texte 22 als auf deren Poetik konzentriert, sollen im Folgenden ausgewählte Textausschnitte mit einem Fokus auf ihre Wirkungsästhetik als fiktionale Texte untersucht werden. Im Zentrum der detaillierten Analyse steht Mehrsprachigkeit als ein ästhetisches Verfahren, das in der Figurenrede kreis‐ förmig beziehungsweise serpentinenartig mehrfach in verschiedenen Idiomen zu einer Äußerung zurückkehrt, und diese durch das Hinterfragen und Ver‐ schieben von automatisierten Bedeutungszuschreibungen semantisch öffnet. Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 211 <?page no="212"?> 23 Bezüglich der kritischen Betrachtung von nationalen Sprachgrenzen siehe unter an‐ derem Gramling, David (2016) und Dembeck, Till (2017). Multilingual Philology and National Literature: Re-Reading Classical Texts. Critical Multilingualism Studies 5: 3, 2-12. 24 Hamacher, Werner (2010). Kontraduktionen. In: Mein, Georg (Hrsg.) Transmission. Übersetzung - Übertragung - Vermittlung. Wien/ Berlin: Turia und Kant, 13-34, hier 13. 25 Siehe beispielsweise Sturm-Trigonakis, Elke (2007). Global Playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 154. Siehe auch Dembeck (2017) Sprachwechsel/ Sprachmischung., hier 152. So entsteht ein Spiel mit Konnotationen und neuen Assoziationen, das zum einen durch die modifizierte Wiederholung von Fragen und Antworten und zum anderen durch das Aufbrechen automatisierten Verstehens von idiomatischen Wendungen hervorgerufen wird. Da sich die Kreisfigur glossodivers, das heißt über idiomatische ‚Grenzen‘ hinweg 23 , entwickelt, offenbart sie Übersetzung als eine „Unterbrechung des Kontinuums, als das die einzelnen Sprachen erscheinen“. 24 Durch die Fragmentierung entstehen Brüche, die scheinbar feste Verbindungen zwischen Signifikanten und Signifikat lösen und zum spieleri‐ schen ‚Ausprobieren‘ neuer Interpretationsweisen einladen. Das Ergebnis ist eine Poetik, in der fluide Bedeutungen performativ konstituiert werden, und die semantische Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit in der Schwebe hält. Die Kreisfigur erlaubt hierbei einerseits die Rückkehr an die Stelle eines Dialogs, die sprachlich variiert werden soll. Andererseits regelt sie das Spiel mit Bedeutungen, indem sie möglicherweise ‚endlosen‘ Aneinanderreihungen von Assoziationen durch die Rückkehr zu einem präzisen Gesprächsthema und -kontext Grenzen setzt. Das Konzept, das sprachlich umkreist wird, ist jeweils insofern fremd, als die involvierten Idiome zumindest teilweise nicht zu den Erstsprachen der Sprecherinnen gehören. Durch das glossodiverse Spiel mit Bedeutungen finden semantische Verschiebungen statt, die möglicherweise den Ausdruck auch für jene Rezipienten und Rezipientinnen verfremden, die ihn spontan als sprachlich und stilistisch unmarkiert wahrnehmen. Das Resultat ist eine „Entautomatisierung der Sprache“ 25 und eine damit einhergehende Vervielfältigung von konnotierten und assoziierten Bedeutungen. 1. 1000 Serpentinen Angst - Das Umkreisen passender Bezeichnungen Wie bereits durch den Titel 1000 Serpentinen Angst suggeriert, ähnelt die Kreisfigur in Wenzels Roman einer schlangenförmigen Fortbewegung, die auf der Suche nach Identität, Verständigung und Verstehen an einen ähnlichen, 212 Ulrike Garde <?page no="213"?> 26 Wenzel, Olivia (2020), 333. 27 Siehe 271: “ES GEHT DOCH ALLES NUR UM DICH, ODER? / UND WIE DAS ALLES MIT DIR ZU ENDE GEHT.“ 28 Wenzel, Olivia (2022). 1000 coils of fear, übers. Priscilla Layne, New York: Catapult. aber nicht denselben Ausgangspunkt zurückkehrt. Statt sich um einen zentralen Punkt zu drehen, nähert sich die Bewegung auf „Umwege[n]“ 26 nach und nach einem Ziel, das in der eingangs beschriebenen Szene mit der losgelassenen Blase erreicht zu sein scheint. Indem die meist parallellaufenden Lebenswege der namenlosen Protagonistin und ihrer Freundin zusammentreffen und das Kind als Zeichen einer positiven Zukunft angenommen wird, hat der Entwicklungs‐ roman in seinem mit „Fluchtpunkte“ betitelten dritten Teil sein „ZIEL“ erreicht. 27 Während im deutschen Originaltext der Titel 1000 Serpentinen Angst den Weg zu diesem Ziel und die Bedeutung des Reisemotivs für die Erzählung betont, hebt seine englische Übersetzung als 1000 coils of fear  28 das Motiv der Angst hervor. Damit suggeriert die Übersetzung eine Spirale der Angst, aus der es aufgrund des Fokussierens auf einen zentralen Punkt schwer ein Entkommen gibt. Auf diese Weise werden einerseits Erwartungen an einen sich verschlechternden Zustand der Protagonistin geweckt. Zum anderen gehen mögliche intertextuelle Konnotationen zum Entwicklungsroman, in dem die Protagonist: en durch ihre Wege und Reisen reifen, verloren. In 1000 Serpentinen Angst wird auf dem Weg zu diesem Ziel Glossodiversität gezielt eingesetzt, um mehrere Funktionen zu erfüllen. Sie dient zum einen dazu, das emotionale Befinden der Protagonistin vielstimmig zu schildern. Zum anderen sensibilisiert sie für die Rolle der Sprache in einem interkulturellen Austausch zwischen sozial ungleich gestellten Gesprächspartnerinnen, um daran grundsätzliche Fragen nach den Möglichkeiten der Sprache als Mittel der Verständigung und des Verstehens anzuschließen. Dies wird in einer Szene im dritten Teil des Romans deutlich, die dreimal - auf Vietnamesisch, Englisch und Deutsch - einen ähnlichen, semantisch kulturspezifisch geprägten Ausdruck der (Un)Besorgtheit umkreist, der in direkter Verbindung zum titelgebenden Gefühl der Angst steht. Der Dialog spielt an einem Strand in Vietnam, einem Heimatland von Kim, der zeitweiligen Partnerin der Protagonistin, in dem letztere ihren Urlaub verbringt. Wie in diesem Roman üblich, ist die fragende und kommentierende Instanz in Versalien gedruckt. Anders als in anderen Teilen des Romans spricht sie in diesem Auszug die Protagonistin in der zweiten Person Singular an, als sie ihr die Ereignisse schildert, die sie erlebt. Die genaue Rolle der erzählenden ‚Ich-Instanz‘ bleibt unklar. So könnte diese die innere Stimme der Protagonistin oder die imaginierte Sicht eines Psychologen oder Freundes aus Deutschland wiedergeben. Aufgrund Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 213 <?page no="214"?> 29 Wenzel, Olivia (2020), 302. 30 Wenzel, Olivia (2020), 303. 31 Siehe MacKinnon, Allan (2010). The Vietnam Consortium Fellowship Program. In: Linder, Cedric/ Östman, Leif/ Roberts, Douglas A. et al. (Hrsg.) Exploring the Landscape of Scientific Literacy. New York: Routledge, 223-35. der Vermittlung durch die Stimme haftet dem geschilderten Geschehen eine traumhafte Distanz an, die durch die Frage der Protagonistin zu Anfang des Kapitels „WO BIN ICH JETZT? “ 29 eingeleitet wird. Innerhalb dieses Dialograhmens kommuniziert die Protagonistin mit einer alten vietnamesischen Dosensammlerin, welche sie unterstützt, indem sie ihr ihre eigenen leeren Dosen gibt. Daraus ergibt sich die Beschreibung des fol‐ genden Gesprächs: Sie hockt sich neben dich, grinst, sagt Thank you, zeigt dabei auf die zerdrückten Coladosen. […] Ihr Thank you klingt kehlig und warm, du setzt deine Kopfhörer ab, antwortest: Không sao đâu. Sie schaut dich fragend an. Du versuchst es noch mal, denn du hast vorab ambitioniert ein paar Vokabeln gepaukt: Không sao đâu. Sie versteht dich nicht, lächelt und zeigt auf die Berge, redet auf Vietnamesisch weiter. Du wechselst ins Englische, zeigst aufs Meer, sagst, wie schön es hier sei, in ihrem Land. You know, sometimes I think we are so drawn to the sea, because the sound of the breaking waves resembles the sound of our breathing in and out.[…] Die alte Frau redet weiter auf Vietnamesisch, zeigt jetzt in den Himmel. And because of that we feel that we should be or that we once were part of the ocean.  30 Der unübersetzte vietnamesische Ausdruck Không sao đâu leitet das Umkreisen des Motivs der (Un)Besorgtheit ein, indem er als Antwort auf den Dank nicht nur ausdrückt, dass die Tat gern geschehen ist, sondern im Vietnamesischen auch die Konnotation eines allgemeinen Vertrauens auf einen guten Ausgang der Dinge hat, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen. 31 Leserinnen und Lesern, die weder Vietnamesisch sprechen noch die Bedeutung des Ausdrucks nachsehen, können die Leerstelle, die durch den unverständlichen Ausdruck entsteht, teilweise dadurch füllen, dass sie von der Kommunikationssituation und dem Sprechakt des Dankens darauf schließen, dass die vietnamesischen Worte eine Erwiderung sind. Diese Herangehensweise büßt jedoch die positive Konnotation der Unbekümmertheit ein, die in dieser Lesart lediglich durch die Schilderung des Kontextes (der grinsenden Alten und der positiv besetzen Landschaft) vage angedeutet wird. Rezipient: en, die die Bedeutung des vietna‐ mesischen Ausdrucks kennen, bemerken möglicherweise, dass durch die Kon‐ 214 Ulrike Garde <?page no="215"?> 32 Wenzel, Olivia (2020), 304. notation der Unbesorgtheit die nachfolgenden semantischen Verschiebungen ex negativo in das für den Roman zentrale Motiv der Angst eingebunden sind. Nachdem der Protagonistin die Kommunikation durch die formelhafte Antwort des vietnamesischen Ausdrucks nicht gelingt, folgt in der Erzählung eine Floskel auf Englisch, die wörtlich genommen ebenfalls Unbekümmertheit suggeriert: Du wusstest vorher, dass das Klima dich anstrengen würde, aber zu Luise hast du gesagt: Das stecken meine afrikanischen Gene locker weg, no worries, und ihr ein Victoryzeichen gezeigt. Jetzt bist du dir nicht mehr so sicher. JETZT IST DER EMBRYO NICHT MEHR SO SICHER. 32 Wie in den vorausgegangenen englischsprachigen Äußerungen der Protago‐ nistin, die Stereotypen aus der Wellness-Industrie anklingen lassen, wirkt der Ausdruck „no worries“ klischeehaft, zumal er einer vietnamesischen Formulie‐ rung folgt, bei der ein Vertrauen in eine höhere Schicksalsmacht anklingt, die aber letztendlich in dem interkulturellen Kontext des Gesprächs ohne Resonanz bei den Figuren bleibt. Die Schablonenhaftigkeit des englischen Ausdrucks wird zudem durch die emblematische Geste verstärkt, die sowohl mit dem 2. Weltkrieg als auch mit ‚girl power‘ sowie mit der Selbstdarstellung auf Selfies assoziiert werden kann. Die Bedeutungskomponente der Unbesorgtheit verwandelt sich damit in eine modisch vage beschworene Sorglosigkeit, die gut zu der häufig klischeehaften Verwendung der englischen Sprache im Roman passen würde, wenn der Ausdruck nicht gleichzeitig in einem Spannungsver‐ hältnis zu dem Kommentar über die „afrikanischen Gene“ stände, dessen Ton aufgrund der fluiden Identitätszuschreibungen der Protagonistin mehrdeutig bleibt. Auf der Handlungsebene weist das körperliche Unwohlsein der schwangeren Protagonistin darauf hin, dass auch der idiomatische englischsprachige Aus‐ druck der Sorglosigkeit nicht zu ihr passt. Das ‚Ausprobieren‘ adäquater sprach‐ licher Ausdrücke in verschiedenen Idiomen endet mit dem Parallelismus „Jetzt bist du dir nicht mehr so sicher./ JETZT IST DER EMBRYO NICHT MEHR SO SICHER“, in dem beide Stimmen auf Deutsch die fehlende Sicherheit bestätigen. Im Gegensatz zu den ‚unpassenden‘ Formulierungen der Sorglosigkeit in den ‚Fremdsprachen‘ drücken die Variationen des deutschen Ausdrucks Unsicher‐ heit und Angst aus, wobei die Wiederholung des idiomatischen Ausdrucks „sich sicher sein“ durch die nachfolgende nicht-reflexive Variation sowohl die idiomatische Bedeutung des Zweifelns beinhaltet als auch auf eine potenzielle Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 215 <?page no="216"?> 33 Dieser Eindruck wir durch die nachfolgende Bemerkung verstärkt: „Solange du nicht tagelang Durchfall kriegst, wird er klarkommen.“, 304. 34 Wenzel, Olivia (2020), 304. 35 Wenzel, Olivia (2020), 26. 36 Wenzel, Olivia (2020), 120. existentielle Bedrohung hinweist. 33 Somit bewegt sich die glossodiverse Erkun‐ dung des Wortfelds „(Un)Besorgtheit“ auf der Suche nach einem passenden Ausdruck von einem möglicherweise exotisch anmutendem Weltvertrauen zu einer floskelhaften Antwort, die in ihrer wörtlichen Bedeutung in einem globalisierten Englisch das Gegenüber zur Sorglosigkeit einlädt, um schließlich auf Deutsch zum übergeordneten Leitmotiv der Angst und Sorge zurückzu‐ kehren. Dem Leitmotiv des Romans entsprechend ist die deutsche Formulierung der Protagonistin, die durch die variierte Wiederholung des Ausdrucks „sich nicht sicher sein“ ihre und die Zustimmung der erzählenden Instanz erfährt, keine, die positiv konnotiert ist. Stattdessen versprechen die Ausdrücke in den ‚fremden‘ Sprachen, die sich jedoch als unpassend erweisen, eine positive Sichtweise. Die Bedeutsamkeit der passenden Bezeichnungen wird auch an anderer Stelle deutlich, als die Protagonistin sich wundert, „dass du und dieses Wort [schwanger] jetzt miteinander zu tun haben.“ 34 Der Roman untersucht so die Identifikation mit möglichen Bezeichnungen und ihren Bedeutungen sowohl in unterschiedlichen Idiomen als auch innerhalb dessen, was geläufig als ‚eine‘ Sprache bezeichnet wird. Innerhalb des Gesamtromans sind diese sprachlichen Variationen des Angst-Motivs in einem vielschichtigen Netz mit anderen glossodiversen Szenen verbunden, in denen ebenfalls Angst und Sorge angesprochen werden. So spannt sich ein Bogen zurück zu einer der ersten Szenen des Romans, als die Protagonistin aus Furcht vor einem terroristischen Anschlag einen Sicher‐ heitsbeamten auf einen verdächtigen Fluggast hinweist, und seine Antwort „in breitem Thüringisch“ „Keen Grund zur Sorge, gäh“ lautet. 35 Wie an anderer Stelle wird der lokale Dialekt aus der Kindheit der Erzählerin dazu benutzt, um ein widersprüchliches Gefühl von potenzieller Zugehörigkeit und Abscheu aufgrund rassistischer Erfahrungen zu vermitteln. Dabei verweisen die wieder‐ kehrenden Episoden, in denen die Erzählerin Alltagsrassismus ausgesetzt ist, stets sowohl auf die Angststörung der Protagonistin als auch auf den damit verknüpften Selbstmord ihres Zwillingsbruders. Als Teil des Spiels mit den Bedeutungsschattierungen des Leitmotivs der Sorge bemerkt so die Erzählerin in einem imaginierten Zwiegespräch mit dem durchweg abwesenden Bruder: „ich hatte immer so viele sorgen um dich, so viele albträume, dass die dir was tun.“ 36 Die durchgehende Kleinschreibung dieses Dialogs variiert den Ausdruck 216 Ulrike Garde <?page no="217"?> 37 Wenzel, Olivia (2020), 270. 38 Neumann, Gerhard (2000). Einleitung. In: Neumann, Gerhard/ Pross, Caroline/ Wild‐ gruber, Gerald (Hrsg.) Szenographien: Theatralität als Kategorie der Literaturwissen‐ schaft (Freiburg: Rombach), 11-32, hier 13. 39 Colvin, Sarah (2022), 159. 40 Wildgruber, Gerald (2000). Die Instanz der Szene im Denken der Sprache. In: Neu‐ mann, Gerhard/ Pross, Caroline/ Wildgruber, Gerald (Hrsg.) Szenographien: Theatra‐ lität als Kategorie der Literaturwissenschaft (Freiburg: Rombach), 35-64, hier 53. 41 Wenzel, Olivia (2020), 271. der Sorge semiodivers, indem sie ihn graphisch und durch das Sprachregister in die scheinbar spontane, nicht-edierte Unterhaltung der Geschwister zwölf Jahre nach dem Selbstmord überführt. Auf der Ebene der Figurencharakterisierung vermittelt das Umkreisen des Leitmotivs sowohl die Wiederholung rassistischer und diskriminierender Erfah‐ rungen als auch die zwanghaft wiederkehrenden Erinnerungen an vergangene traumatische Ereignisse, die hier sowohl aus dem Selbstmord des Zwillings als auch aus vielen einzelnen Erfahrungen von Rassismus bestehen. Dies wird auf der Metaebene der narratologischen Strategien in einem kurzen Austausch mit der fragenden Instanz reflektiert: Das Problem ist doch nicht, dass die Dinge, die ich erzähle, sich wiederholen. SONDERN? Dass diese Dinge selbst sich wiederholen, ständig, dass sie nie aufgehört haben. 37 Gleichzeitig dienen die Schleifen im Text dazu, immer wieder den Standort der Protagonistin im wörtlichen und figurativen Sinn durch die Frage „WO BIN ICH JETZT? “ zu bestimmen, um im Anschluss Facetten ihrer Identität zu erproben. Auf diese Weise betont der Roman seine performativ hervorgebrachte Bedeu‐ tungsproduktion, „die als dynamisches Muster der Sprache selbst innewohnt“, indem sie immer wieder neu den Signifikanten Bedeutungen zuschreibt. 38 Sarah Colvin interpretiert zudem das Verschieben von Bedeutungen und die Vor- und Rückblenden in 1000 Serpentinen Angst im Kontext poetischer Strate‐ gien Schwarzer avantgardistischer Autor: innen, die konventionelle ästhetische Strukturen der Zeitlichkeit durchbrechen und so unterschiedliche Vorstellungen von Gegenwart, Vergangenheit und zukünftigen Ordnungen zulassen. 39 Die dem Text innewohnende Glossodiversität hebt zusätzlich hervor, dass der Roman kein „mimetisches Verhältnis zur ‚Wirklichkeit‘ [unterhält], sondern die Erprobung“ von Sinn inszeniert. 40 Dieses mehrfache Erproben von Sinn erlaubt nicht nur fluide Bedeutungszuschreibungen, sondern unterstützt auch die kreisförmige, prozesshafte Suche nach einer möglichen Sprecheridentität, die auch am „ZIEL“ 41 mehrschichtig und offen bleibt. Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 217 <?page no="218"?> 42 Wenzel, Olivia (2020), 302. 43 Wenzel, Olivia (2020), 303. 44 Humboldt, Wilhelm von (1836). Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprach‐ baues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin: Dümmler, Digitalisierte Ausgabe, Bayerische Staatsbibliothek, https: / / www.digitale-sa mmlungen.de/ de/ view/ bsb10904366? , 64. 45 Ebd. 46 Siehe Glissant, Édouard (1998). Introduction à une Poétique du Divers. Paris: Gallimard, 45-46. 2. Glossodiversität und (Nicht)Verstehen im interkulturellen Kontext Der Gesprächsversuch der Protagonistin mit der vietnamesischen Frau steht insofern stellvertretend für das Aushandeln von sozialen Privilegien und Aus‐ grenzungen in dem Roman, als er eine komplexe Haltung der beiden Akteu‐ rinnen schildert. So wird zum einen die Protagonistin sprachlich durch das Verb „begaffst“ 42 sowie durch die ‚Requisiten‘ der Kopfhörer und die Gabe der Coladosen mit einer touristischen und kolonialen Haltung assoziiert. Jedoch lassen weder die Position der Protagonistin noch das glossodiverse Gespräch eine eindeutige Bewertung zu. Zwar läuft der Versuch, die „vorab ambitio‐ niert“ 43 gelernten Vokabeln anzubringen, ins Leere, doch kommt gleichzeitig ein Wortwechsel zustande, in dem die Sprecherinnen sich einerseits nonverbal ver‐ ständigen und andererseits auf das Verständnis des Gesprochenen verzichten. Sie illustrieren dabei einen Moment des Nicht-Verstehens, der Wilhelm von Humboldts Beobachtung verstärkt, dass „[k]einer bei dem Wort gerade und genau das [denkt], was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort.“ 44 Während Humboldt das Augenmerk auf den individuellen Sprachgebrauch lenkt, findet der oben beschriebene Wortwechsel in einem interkulturellen Kontext statt, in dem wie bei Humboldt „[a]lles Verstehen daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen [ist].“ 45 Diese Gleichzeitigkeit besteht in dem Gespräch mit der Dosensamm‐ lerin darin, dass die Figuren in verschiedenen Idiomen abwechselnd ‚für sich‘ sprechen, dabei stellenweise mithilfe von Gesten kommunizieren, aber letzt‐ endlich Édouard Glissants Prinzip der opacité gilt, indem das Gesagte für die Gesprächspartnerin (und den Rezipient: en) nicht transparent erscheint und sich dadurch dem Zugang entzieht. 46 Als die Protagonistin darüber nachdenkt, dass sie aufgrund unterschiedlicher kultureller und historischer Erfahrungen, wie etwa des Vietnamkriegs, auch mithilfe guter vietnamesischer Sprachkennt‐ 218 Ulrike Garde <?page no="219"?> 47 Wenzel, Olivia (2020), 304. 48 Wenzel, Olivia (2020), 329. 49 Bezüglich der Rolle der Leser: innen als potenzielle Übersetzer: innen in dieser Situation siehe Womble, Todd (2017). Non-Translation, Code-Switching, and the Reader-as-Translator. CLINA 3-1 ( Juni), 57-76. 50 Siehe Ch’ien, Evelyn Nien-Ming (2004). Weird English. Cambridge, MA: Harvard University Press, 209. 51 Siehe Levinas, Emmanuel (1984). Transcendance et intelligibilité (suivi d’un entretien). Genève: Labor et Fides, 12-14. 52 Siehe Karpinski, Eva C. (2017). Can Multilingualism Be a Radical Force in Contemporary Canadian Theatre? Exploring the Option of Non-Translation. Theatre Research in Canada 38, no. 2 (Fall), 153-68, hier 164. 53 Siehe Ahmed, Sara (2000). Strange Encounters: Embodied Others in Post-Coloniality (London and New York: Routledge), 133, sowie Han, Byung-Chul (2016). Die Austrei‐ bung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute (Frankfurt a.M.: Fischer), 40. nisse „nie […] wirklich mit ihr [der Dosensammlerin] darüber sprechen“ 47 könnte, setzt sich der Roman für eine Herangehensweise an Mehrsprachigkeit, Übersetzung und kulturübergreifende Begegnungen ein, die Nichtwissen und Undurchdringlichkeit (im Sinne von Opazität) der Assimilation des Fremden und seiner Sprache(n) vorzieht. Kulturelle und sprachliche Unterschiede sperren sich dem Zugang, anstatt eine scheinbare Transparenz und Zugang durch Über‐ setzung zu erfahren. Dabei beschönigt der Roman nicht die Herausforderungen, die mit einer solchen Haltung einhergehen. Entsprechend wird der Dialog durch eine spätere Szene ergänzt, die zeigt, wie die Protagonistin ausgegrenzt wird, weil sie die gemeinsame Sprache Kims und der Dosensammlerin nicht versteht. 48 In dieser Verbindung von Sprache und Macht verzichtet die Figur auf eine Übersetzung des Gesagten, obwohl sich das Lachen der vietnamesischen Gesprächspartnerinnen auf sie bezieht. Ebenso enthält der Roman auf Rezept‐ ionsebene den Leserinnen und Lesern eine Übersetzung von „Không sao đâu“ vor. 49 Diese Herangehensweise steht metonymisch für die Weigerung, eine ‚cultural translation‘ in dem Sinne vorzunehmen, dass sprachliche Übersetzung im (de)kolonialen Kontext zu einem Akt der ‚erasure‘, des Ausradierens und der Auslöschung, führen kann. 50 Der Roman regt stattdessen dazu an, im Sinne Emmanuel Levinas die mögliche Vereinnahmung des Anderen durch Wissen zu vermeiden 51 und sowohl Nicht-Übersetzung als auch Nicht-Wissen als legitime erkenntnistheoretische Haltungen zu betrachten. 52 Dies ist besonders für die geschilderte Situation am Strand von Bedeutung, da die reibungslose Kommuni‐ kation der hier privilegierten Protagonistin als Kommodifizierung sprachlicher und kultureller Unterschiede interpretiert werden könnte. 53 Entsprechend be‐ antwortet die erzählende Instanz die Frage der Protagonistin nach dem Sinn Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 219 <?page no="220"?> 54 Wenzel, Olivia (2020), 304. 55 Dembeck, Till (2017). Mehrsprachigkeit in der Figurenrede, 182. des (interkulturellen) Sprechens - „WARUM SPRECHEN WIR DANN IMMER WEITER? “ - an dieser Stelle mit Schweigen. 54 3. Yael Ronen und Ensemble: The Situation Während Wenzels Roman der Bedeutung fester Wendungen in verschiedenen Idiomen die Selbstverständlichkeit nimmt, um fluide Bedeutungs- und Identi‐ tätszuschreibungen zu erproben, stellt vor allem die erste Szene in The Situation die Interpretationsmacht von Bezeichnungen und Bedeutungszuschreibungen in der deutschen Sprache in den Vordergrund. Auf diese Weise eröffnet das Drama auch über seine Aufführungen hinaus durch Glosso- und Semiodiversität eine neue Perspektive auf die deutsche Sprache als Bühnensprache. So setzt die Inszenierung zum einen der dominanten Rolle des Deutschen auf den Bühnen der deutschen Stadt- und Staatstheater längere Dialoge und Monologe oder ganze Szenen auf Arabisch, Englisch und Hebräisch entgegen. Zum anderen beansprucht der mehrsprachige Text auf humorvolle Weise durch ein kreisför‐ miges Insistieren auf sprachlichen Abweichungen die Deutungshoheit über festgefügte deutsche Wendungen. Darüber hinaus dient wie in 1000 Serpentinen Angst auch in dem Drama von Ronen und Ensemble die Mehrsprachigkeit der Figurenrede „als Verfahren der Inszenierung sozialer und [inter]kultureller Differenzen und/ oder Verhandlungen“. 55 Zudem bietet sich der Schauplatz des Deutschkurses dazu an, im Rahmen der expliziten Reflexion über Kommunika‐ tions- und Verstehensstrategien und -probleme performative Identitätskonzepte zu erproben. So wechseln die Figuren nicht nur innerhalb des Deutschkurses Sprachen, um sich zu positionieren, sondern sie berichten auch in der Figurenrede von den Möglichkeiten, die Kopplung eines Idioms an national, politisch, ethnisch und religiös definierte Identität zu durchbrechen. Zum Beispiel schildert Amir, ein Palästinenser, der sowohl Arabisch als auch Hebräisch spricht, den sozialen und politischen Druck, der ihn zeit seines Lebens dazu zwingt, sich für eine der beiden Sprachen zu entscheiden. Ebenso markiert bei der Lehrerfigur Stefan die Sprache einerseits nationale Identität und Zugehörigkeit. Andererseits erlaubt hier der durch Mehrsprachigkeit ermöglichte Wechsel in ein anderes Idiom eine fluide performative Identitätszuschreibung. Von daher erscheint es plausibel, dass die Figur, die zunächst im Klassenzimmer ausschließlich grammatikalisch korrektes Standarddeutsch gelten lässt, sich in einer späteren Szene auf Russisch 220 Ulrike Garde <?page no="221"?> 56 Der englische Text dient in der Textvorlage lediglich als lingua franca für die Theater‐ macher: innen. Der russische Text nach den eckigen Klammern wird auf der Bühne gesprochen und übertitelt. 57 Wilmer, Stephen Elliot (2021). Yael Ronen: Devising Dramaturgy for an Interwoven World. In: Fischer-Lichte, Erika/ Weiler, Christel/ Jost, Torsten (Hrsg.) Dramaturgies of Interweaving: Engaging Audiences in an Entangled World. Abingdon: Routledge, 2021, 148-68, hier 186. als ehemaliger Migrant aus Kasachstan und „Meisterwerk der Integration“ zu erkennen gibt: My real name is not Stefan. [Russisch] It’s Sergej. No, I am just the masterpiece of integration. Мое настоящее имя не Стефан. Это Сергей. Нет, я просто шедевр интеграции. 56 Zuvor übernimmt Stefan jedoch die Rolle der kommentierenden Instanz, die ohne Ausnahme jeden noch so kleinen Regelverstoß der Deutschlernenden korrigiert. Ronen stellt ihm die Figur der intelligenten und schlagfertigen Kursteilnehmerin Noa, die vor kurzem aus Israel nach Berlin gekommen ist, gegenüber. Zwischen diesen beiden Protagonisten arrangiert die Autorin einen spielerischen Wettstreit um Interpretationsmacht, der die Spielfigur des ago‐ nalen Wettbewerbs als das Ringen um die adäquate Formulierung aus linguisti‐ scher sowie aus interkultureller, von individuellem und kollektivem Gedächtnis geprägter Sicht zugrunde liegt. Dadurch, dass Noa innerhalb eines längeren Dialogs dreimal zu einer grammatikalisch falschen Äußerung zurückkehrt, und Stefan sie jedes Mal aufs Neue korrigiert, verschiebt sich die Bedeutung mit jeder kreisförmigen Rückkehr zum ‚falschen‘ Ausdruck durch den dazwischen liegenden Wortwechsel. In diesem Austausch ist die eindimensional auf gram‐ matikalische Korrektheit fokussierende Lehrerfigur wichtig. Wie Stephen E. Wilmer gezeigt hat, “[b]y establishing Stefan as a gormless teacher […] who asks naive questions of his students as part of the process of explaining grammatical constructions, [Ronen] sets up a comic device”. 57 Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass Stefans sprachliches Repertoire auch durch eine Poetik der eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt ist, die der Fremdsprachenerwerb vordergründig rechtfertigt. Durch den schnellen Wortwechsel wirken Stefans zahlreiche Kommentare wie die sprachliche Be‐ gleitung eines Simultanübersetzers, ohne dessen Feingefühl für angemessenes Timing und dezenten Auftritt zu teilen. Unter diesen Voraussetzungen findet eine Reihe von Wortwechseln statt, in denen auf humorvolle Weise mit Tabus gebrochen wird. Die Wortspiele umfassen dabei sowohl Inferenzen durch Ähnlichkeiten innerhalb des Deutschen wie zum Beispiel, als Noa der Stadt Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 221 <?page no="222"?> 58 Ronen, Yael & Ensemble (2018), 11. 59 Ronen, Yael & Ensemble (2018), 11. 60 Kilchmann analysiert Mehrsprachigkeit mit Verweis auf Šklovskij als als ein Mittel für „die Befreiung der Dinge vom Automatismus“ Šklovskij, Viktor (1984). Theorie der Prosa [1925]. Hg. u. übersetzt v. Gisela Drohla. Frankfurt a.M.: Fischer, 14, zitiert in Kilchmann, Esther (2012). Poetik des fremden Wortes. Techniken und Topoi heterolin‐ gualer Gegenwartsliteratur. Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 2, 109-129, hier 113. 61 Siehe Brechts Definition von Verfremdung in Brecht, Bertolt (1993). Über experimen‐ telles Theater. In: Hecht, Werner/ Knopf, Jan/ Mittenzwei, Werner (Hrsg.) Schriften 2, Teil 1. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (Berlin,Weimar/ Frank‐ furt a.M: Aufbau-Verlag; Suhrkamp, 540-557, hier 554. Jerusalem eine „Geisterkrankheit“ attestiert, die durch die „Geschichte und Krieg und Blut“ hervorgerufen wurde, als auch interlinguale Interferenzen. 58 Das spielerische Umkreisen einer festen Wendung beginnt damit, dass Stefan in der ersten Lektion Noa fragt, warum sie trotz der Shoah von Jerusalem nach Berlin gezogen ist, und sie darauf antwortet „Ich bin über es“. 59 Durch die Variation des idiomatischen Ausdruck „Ich bin darüber hinweg“ wird dieser vom Automatismus befreit. 60 Durch die Abweichung von der Norm wird hier ein ‚fremder Blick‘ auf die vermeintlich ‚eigene‘ Sprache ihres Gesprächspartners geworfen, die zugleich eine der dominierenden Sprachen auf der Bühne des öffentlich geförderten Maxim Gorki Theaters in Berlin ist. Die daraus resul‐ tierende neue Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit des deutschsprachigen Publikums auf die räumliche Metapher, die der festen Wendung zugrunde liegt. Während die Vorstellung des ‚Darüber-Hinwegseins‘ in der ‚korrekten‘ phraseologischen Wortverbindung den Sprecher oder die Sprecherin an einem Punkt verortet, an dem der Sprecher den Gegenstand hinter sich gelassen, d. h. aus dem Blickfeld verloren hat, evoziert die Variation „über es“ das Bild des ‚Darüberstehens‘ bzw. eines losgelösten ‚Darüber-Schwebens‘. Es wird zwar auf eine gewisse emotionale Entkoppelung der Sprecher: in vom Gegenstand hindeutet, jedoch bleibt dabei der Gegenstand im aktuellen Blickfeld. Indem der figurativen Wendung „das Selbstverständliche, Bekannte“ 61 genommen wird, gelingt im wahrsten Sinne des Wortes eine Neu-Perspektivierung auf ihre ursprüngliche räumliche Bedeutung. Anders als die idiomatische Wendung schließt die verfremdete Formulierung jeglichen Hinweis darauf aus, dass die traumatischen Erfahrungen hinter der Person liegen und damit abgeschlossen sind. In dem spielerischen Wettbewerb korrigiert Stefan sogleich Noas Fassung des idiomatischen Ausdrucks, indem er in seiner Replik die korrigierte Fassung „Du bist darüber hinweg“ vorschlägt und diese mit einer entsprechenden Geste über den Kopf nach hinten unterstreicht. Da der gesamte Figurentext des 222 Ulrike Garde <?page no="223"?> 62 Ronen & Ensemble (2018), 13. 63 Siehe Brecht, Bertolt (1993). Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspiel‐ kunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt. In: Hecht, Werner/ Knopf, Jan/ Mit‐ tenzwei, Werner (Hrsg.) Schriften 2, Teil 2, 641-47. 64 Ronen & Ensemble (2018), 14. 65 Ronen & Ensemble (2018), 15. 66 Ronen & Ensemble (2018), 15. Lehrers in diesem Dialog auf die Form fokussiert und inhaltliche Aspekte fast vollständig ignoriert, beinhalten seine Repliken ausschließlich Korrekturvor‐ schläge, während Noa in ihren Ausführungen das Gesprächsthema weiterent‐ wickelt. Stefans zweiter Korrekturvorschlag „Ich bin darüber hinweg“ 62 überführt die vorausgegangene Verbesserung in die erste Person Singular. Auf diese Weise wird der Satz mehrdeutig, da unklar ist, ob seine Funktion weiterhin der Herstellung einer ‚korrekten‘ Ausdrucksweise dient, oder ob er in Umkehrung von Bertolt Brechts „Übungen für Schauspieler“ 63 Stefans Rolle derart verwan‐ delt, dass er sich vorübergehend mit Noa identifiziert, als er die erste Person Singular benutzt. Dieser kurzfristige Perspektiv- und Rollenwechsel würde Stefan auch temporär die Urteilskraft über das Fortwirken der traumatischen Ereignisse auf Noas individuelles und Familiengedächtnis verleihen. Beide Interpretationsmöglichkeiten bleiben in der Schwebe. Bevor der Text das nächste Mal kreisförmig zu dem automatisierten ‚kor‐ rekten‘ Ausdruck zurückkehrt, widerlegt Noa ihr eigene Behauptung, eine gewisse Distanz zum Trauma zu haben, indem sie auf Englisch zahlreiche Situationen anführt, die sie an „die Holocaust“ erinnern, wobei das Publikum angesichts einer Reihung, die zunehmend allgemeiner wird und am Ende „flea markets in general“, „when I wear a pyjama“ und „naturally when I watch an orgy“ einschließt, zögernd lacht. 64 Diese sowie andere grotesk komische Bemer‐ kungen zum Thema führen die durch ein Adverb verstärkte Wiederholung von Noas Aussage („Ich bin total uber es. [sic]“) ad absurdum. 65 Stefan ‚verbessert‘ sie wie beim ersten Mal in der zweiten Person Singular. Dem nachfolgenden Satz, „Meine Mutter ist nicht uber es. Sie hat den Holocaust…ganz persönlich genommen. [sic]“ 66 , folgt jedoch keine idiomatische ‚Richtigstellung‘. Obwohl Noa durch die dreifache Wiederholung auf ihrer Version der Me‐ tapher besteht, ist dies quantitativ zwar zu gering, um die neue Wendung endgültig für den allgemeineren Gebrauch zu festigen. Dennoch führt das Um‐ kreisen möglicher figurativer Ausdrucksweisen zur Verfremdung der ursprüng‐ lichen Wendung und zum Verlust ihrer alleinigen Gültigkeit. Im Gegensatz zu 1000 Serpentinen Angst, wo das spielerische Ausprobieren von Bezeichnungen Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 223 <?page no="224"?> 67 Irina Szodruch, Interview mit Stephen E. Wilmer, Berlin, 23. Februar 2018, In: Wilmer, Stephen E. (2021), 179. 68 Siehe hierzu auch Bharucha, Rustom (2014). Hauntings of the Intercultural. Enigmas and Lessons on the Border of Failure. In: Fischer-Lichte, Erika/ Jost, Torsten/ Jain, Saskya Iris (Hrsg.) The Politics of Interweaving Performance Cultures: Beyond Postcolonialism, London, New York: Routledge, 184. 69 Siehe hierzu auch Boenisch, Peter M. (2014). What Happened to Our Nation of Culture? Staging the Theatre of the Other Germany. In: Holdsworth, Nadine (Hrsg.) Theatre and National Identity: Re-Imagining Conceptions of Nation. New York: Routledge, 145-60 sowie Garde, Ulrike (2021). Negotiating unfamiliar languages and accents in contem‐ porary theatre. In: Garde, Ulrike/ Severn, John (Hrsg.) Theatre and internationalization: perspectives from Australia, Germany, and beyond. London: Routledge, 109-27, hier 116-17. in eine passende Formulierung mündet, beharrt The Situation auf dem Bruch von schablonenhaften Formulierungen und den damit verbundenen Haltungen. Die performative Suche nach dem adäquaten Ausdruck im Rahmen des Sprach‐ unterrichts dient vor allem dazu, das Unaussprechliche anklingen zu lassen beziehungsweise durch grotesken Humor anzudeuten. Wie die Dramaturgin Irina Szodruch in einem Interview aussagte, „[h]umor always helps within the group [of actors] to digest a heavy subject that we are talking about. When we are dealing with things with humor, we are already able to go much further than we originally thought.“ 67 Zwar wird der Wettstreit, ob die grammatikalisch korrekte oder die poetisch adäquate die ‚bessere‘ Bezeichnung ist, durch Humor entlastet oder abgemildert, doch bleibt trotz Stefans wiederholter Korrekturversuche durch Noas Beharren in der performativen Aushandlung der Deutungs- und Bezeichnungshoheit die poetisch verfremdete Formulierung und damit ihre Sichtweise auf die Shoah bestehen. Zum einen wird damit subversiv das traditionelle Rollenver‐ ständnis der Lehrer-Schüler-Beziehung infrage gestellt. Statt dem Lehrer wird der ‚Nicht-Muttersprachlerin‘ die Autorität verliehen, die deutsche Sprache nach ihren Ausdrucksbedürfnissen zu formen. Damit destabilisieren das Stück und seine Inszenierung auf der inhaltlichen und Figurenebene koloniale Verhal‐ tensmuster und paternalistisch geprägte Haltungen gegenüber Migrantinnen und Migranten. 68 In Kombination mit den nachfolgenden glossodiversen Szenen ist Noas ‚Sieg‘ im agonalen Spiel auch von großer kulturpolitischer Bedeu‐ tung sowohl, was die historische fundierte Tendenz der Bühnenlandschaft der deutschen Stadt- und Staatstheater betrifft, sich national und ‚monolingual‘ auszurichten, 69 als auch, weil die Inszenierung 2016 auf den Mühlheimer Thea‐ tertagen, dem Forum deutschsprachiger Gegenwartsdramatik gezeigt wurde. In einer Stellungnahme betonte das Jurymitglied Tobias Becker entsprechend die Relevanz des Stückes, „das die Situation im Deutschland des Jahres 2016 so 224 Ulrike Garde <?page no="225"?> 70 Becker, Tobias (2016). The Situation von Yael Ronen, Maxim Gorki Theater, Berlin. Mühlheimer Theatertage 2016. Abrufbar unter: https: / / www1.muelheim-ruhr.de/ kuns t-kultur/ theater/ stuecke/ the_situation/ 3757 (Stand: 24.02.2022) 71 Becker, Tobias (2016). Julia Prager weist in Zusammenhang mit Ronen & Ensembles Common Ground auf die Herausforderungen von „exkludierender Fremdsprachigkeit und/ oder Überforderung“ durch gesprochene und durch Übertitel übersetzte Textfrag‐ mente hin. Prager, Julia (2020). Theater der Anderssprachigkeit. Kooperative und prozessuale Verfahren der szenischen Sprechtexterzeugung bei Common Ground (Yael Ronen und Ensemble). In: Nissen-Rizvani, Karin/ Schäfer, Martin.J. (Hrsg.) Together‐ Text. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater. Berlin: Theater der Zeit, 122-41, hier 125. 72 Ronen & Ensemble (2018), 82. 73 Ronen & Ensemble (2018), 82. Als das Gorki Theater aufgrund des Krieges im Oktober 2023 die geplante Vorstellung von „The Situation“ absagt, hält die Regisseurin trotz gekonnt verdichtet[e]“. 70 Darüber hinaus sprach der Kritiker und Theaterhisto‐ riker auch den Effekt der Glossodiversität auf die Kommunikation an: „Der Effekt: Alle sind ein wenig lost in translation, alle ringen um Verständigung, die Figuren auf der Bühne, aber auch die Zuschauer im Saal.“ 71 Dieses Zitat weist wie die Analyse von Ronens und Wenzels Texten darauf hin, dass Glossodiversität wie ein Vergrößerungsglas wirkt, das Verständigungs- und Verstehensprobleme hervorhebt, die grundsätzlich jedem sprachlichen Austausch zugrunde liegen. In diesem Zusammenhang machen vor allem das Verfremden vermeintlich ‚eigener‘ Wendungen sowie das Erproben alternativer Formulierungen Sprache generell zu etwas Erfahrbarem, das sich in seiner Fremdheit entzieht. Gleichzeitig eröffnet das kreisförmige Spiel mit glosso- und semiodiversen Wendungen Freiräume für neue Interpretationsweisen. In der hier untersuchten Literatur schließen diese Spielräume nicht nur die Zeichen und die Phraseo‐ logie, sondern auch die der Fiktion eigenen Möglichkeitsräume ein, die neben der sprachlichen Kreativität auch alternative Figurenentwicklungen und Hand‐ lungsoptionen umfassen. Entsprechend schließt nicht nur Wenzels Roman mit einem offenen, optimistischen Ende, sondern auch Noa, die sich auf Deutsch keine „Möglichkeiten“ in der Lektion über den Konjunktiv vorstellen konnte, schlägt in einem letzten, mit kurzen Sprachwechseln durchzogenen Monolog vor, sich trotz der unlösbaren Probleme das ‚Unglaubliche‘ vorzustellen: „It sounds stupid, impossible, inconceivable, unimaginable. Unglaublich. But weir‐ dest things have happened in this world. Who would have thought […]? “ 72 Nachdem Noa eine Reihe miggesellschaftlicher, politischer, religiöser und indi‐ vidueller, figurenbezogener Konflikte aufgezählt hat, die unlösbar schienen oder scheinen, zieht sie den optimistischen Schluss „The fact that you don‘t believe something can happen doesn’t mean it’s not possible. So there is still hope for us.“ 73 In einem narrativ vermittelten Theater der Vorstellungskraft werden Die Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen bei Olivia Wenzel und Yael Ronen 225 <?page no="226"?> der „Gräuel“ und des „endlosen Gewaltkreislaufs“ daran fest: „Und [wir] können nur hoffen, dass aus diesem dunklen Moment ein Keim für eine neue Vision der Hoffnung erwächst.“ www.gorki.de/ de/ vorstellungsabsage-the-situation (Stand: 29.10.2023). 74 Siehe Iser, Wolfgang (1976) Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. Mün‐ chen: W. Fink. sowie Rancière, Jacques (2007). The Emancipated Spectator. ArtForum International 45: 7, 270-81. die Zuschauer mehrsprachig dazu eingeladen, Noas Hoffnung individuell zu konkretisieren, 74 sodass auch dieser Text und seine Inszenierung dezidiert mehr‐ stimmig enden. Anders als das zuvor analysierte formbestimmte Verschieben von Bedeutung im Kreis bleibt an dieser Stelle die Interpretation bewusst offen. Auf diese Weise öffnet sich die Kreisfigur, die in den bisher untersuchten mehrsprachigen Erprobungen auf Konnotationen beruhte, zum freien Spiel der Assoziationen, in der die Glossodiversität nur eine Form der Mehrstimmigkeit ist. 226 Ulrike Garde <?page no="227"?> 1 Modick, Klaus (1989). Am Parktor. In: Modick, Klaus: Privatvorstellung. Sieben Liebes‐ geschichten nebst einem Essay Über das Glück. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 19-31. 2 Goetz, Rainald (1998). Rave. Erzählung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 3 Goetz, Rainald (2004). 1989. Material 1-3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 4 Stuckrad-Barre, Benjamin von (1998): Soloalbum. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache Rolf Parr Abstract: Eine bisher erstaunlich wenig beachtete, aber sehr verbreitete Form der Polyglossie bilden Applikationen aus englischsprachigen Poptexten, die in Texte mit Deutsch als Basissprache eingebunden sind. Man findet solche Texte bei Klaus Modick in Erzählungen wie „Am Parktor“ 1 und auch in den nachfolgenden Romanen; bei Rainald Goetz in „Rave“, 2 in „Festung“ 3 und in den späten 1990er Jahre in Texten der ‚neuen deutschen Popliteratur‘ wie etwa in Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“. 4 Der Beitrag fragt zum einen nach der Art der Einbettung solcher Applikationen (von syntaktisch nahtloser Integration über die ‚freischwebende Erwähnung‘ bis hin zur ‚harten Fügung‘), zum anderen aber auch nach den Funktionen, die solche Applikationen übernehmen können. Keywords: Applikation, Polyglossie, Sprachwechsel, Rezeptionssteuerung, Montage, Weglassprobe, Popliteratur und -musik 1. Ausgangsbeobachtung und Fragestellung Im Handbuch „Literatur und Mehrsprachigkeit“ hat Till Dembeck darauf hin‐ gewiesen, dass anderssprachige Zitate „in der literarischen Auseinandersetzung mit“ Poplyrics „seit den 1970er Jahren“ eine große Rolle spielen. Das verwundert insofern nicht, als diese Literatur auch generell „durch ein hohes Maß an <?page no="228"?> 5 Dembeck, Till (2017). 3. Zitat und Anderssprachigkeit. In: Dembeck Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Franke At‐ tempto, 193-219: 205. 6 Link, Jürgen/ Link-Heer, Ursula (1980). Literatursoziologisches Propädeutikum. Mün‐ chen: Fin, bes. die „Lektion 5: Elementare Bestimmungen der literarischen Rezeption“, 165-175. 7 Schumacher, Eckhard (2011): „Be Here Now“. - Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs. In: Wirth, Uwe (Hrsg.) Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin: Kadmos, 213-234. 8 Tillmann, Markus (2013). Populäre Musik und Pop-Literatur. Zur Intermedialität lite‐ rarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Transcript, 8. 9 Dembeck (2017: 205). 10 Modick (1989). 11 Modick, Klaus (1991). Weg war weg. Romanverschnitt. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. 12 Goetz (2004). Zitathaftigkeit“ und die Verwendung verschiedenster Techniken der Montage gekennzeichnet ist. 5 Diesem Befund möchte ich im Folgenden etwas genauer nachgehen, wobei ich in Anlehnung an Überlegungen von Jürgen Link und Ursula Link-Heer die in anderen als den ursprünglichen Kontexten verwendeten Zitate als Applikationen bezeichne, 6 hier solche aus englischsprachigen Poplyrics. Der‐ artige Zitat-Ready-Mades - Eckhard Schumacher spricht von „zitathafte[m] Aufpfropfen“ 7 und Markus Tillmann davon, dass tonale Spuren der populären Musik „als Medien der Textkonstitution selbst fungieren“ 8 - werden in um‐ fangreichere kunstliterarische Texte mit Deutsch als Basissprache auf zwar ganz verschiedene Weise eingebunden, aber doch stets so, dass diese Applika‐ tionen dem literarischen „Erzählen einen dichten […] Konnotationsteppich unterlegen“, 9 an den Leserinnen und Leser anknüpfen können und mit denen - von der Textproduktion her gedacht - auf ein Zielpublikum zugegangen werden kann. Dass es vor allem englischsprachige Zitate und Zitatbruchstücke sind, die Eingang in die hier untersuchte deutschsprachige ‚Popliteratur‘ seit den frühen 1980er Jahren gefunden haben, überrascht kaum, ist das Englische doch die Primärsprache der international erfolgreichen Mainstream-Popmusik schlechthin. Man findet solche mit Applikationen aus englischsprachigen Poplyrics ar‐ beitenden Texte schon recht früh bei Klaus Modick in Erzählungen wie „Am Parktor“ 10 und dann auch in den nachfolgenden Romanen wie beispielsweise „Weg war weg“ mit dem auf den Applikationsmechanismus verweisenden Untertitel „Romanverschnitt“; 11 bei Rainald Goetz in „1989. Material 1-3“ 12 sowie in seinen Theaterstücken aus den 1990er Jahren mit Techno-Bezügen und schließlich ab Mitte der 1990er Jahre in der sogenannten ‚neuen deutschen 228 Rolf Parr <?page no="229"?> 13 Stuckrad-Barre (1998). 14 Vgl. dazu Parr, Rolf (2004). Literatur als literarisches (Medien-)Leben. Biografisches Erzählen in der neuen deutschen ‚Pop‘-Literatur. In: Kammler, Clemens/ Pflugmacher, Torsten (Hrsg.) Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen - Analysen - Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron, 183-200; Ächtler, Norman (2018). Soundscape Soloalbum - Akustische Aspekte einer intermedialen Narratologie am Beispiel von Stuckrad-Barres Roman und seiner Verfilmung. In: Gansel, Carsten/ Meyer-Sickendiek, Burkhard (Hrsg.) Stile der Popliteratur. München: edition text + kritik, 219-251, hier 239-247. 15 Goetz (1998). 16 Maas, Marcel (2010). Play. Repeat. Ein Prosa-Set. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlags‐ anstalt. 17 Meinecke, Thomas (2001). Hellblau. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, bes. 20-22. 18 Nieswandt, Hans (2002). plus minus acht. DJ Tage DJ Nächte. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 19 Ein jüngeres Beispiel findet sich in Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ (München: Pen‐ guin 2021, S. 132f.), in dem Applikationen aus Songs von „Queen“ zur bekräftigenden Verdoppelung des in Gesprächen Gesagten genutzt werden. 20 Vgl. Dembeck (2017: 205). Popliteratur‘, etwa in Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Soloalbum“ 13 mit Applikationen aus Oasis-Songs 14 und in Rainald Goetzʼ Erzählung „Rave“ 15 mit einzelnen englischsprachigen Applikationen in den Zwischenüberschriften, aber auch im eigentlichen Text, sowie schließlich in der neuesten Techno-Lite‐ ratur, die ihr literarisches Erzählen analog zur Tätigkeit von DJs und daher im Rückgriff auf die englische Techno-Terminologie organisiert, so etwa im Falle von Marcel Maasʼ „Play. Repeat. Ein Prosa-Set“, 16 in dem zudem die meist englischen Namen von Bands und Markenartikeln appliziert werden. Die Reihe ließe sich fortsetzen mit Thomas Meineckes Roman „Hellblau“, 17 in dem englischsprachige Versatzstücke aus Büchern, Zeitschriftenartikeln, Interviews, Fernsehsendungen und auch Songs verwendet werden, mit Hans Nieswandts „plus minus acht. DJ Tage DJ Nächte“, 18 der in der Regel englischsprachige Band‐ namen aufruft und die ebenfalls englischsprachigen Termini der DJ-Sprache, sowie etlichen anderen Texten. 19 Bei der Applikation von Poplyrics in literarischen Texten haben wir es also mit einer verbreiteten, bisher aber erstaunlich wenig beachteten Form von Polyglossie zu tun. Dieses Phänomen soll im Folgenden in zwei Schritten etwas genauer in den Blick genommen werden, indem erstens der Mechanismus der Applikation näher erläutert wird und zweitens danach gefragt wird, welche Relevanz denn gerade die Auswahl anderssprachiger Applikationen, also der Sprachwechsel, in der deutschsprachigen Popliteratur hat 20 und welche (ästhe‐ tischen) Effekte damit zugleich erzielt werden. Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache 229 <?page no="230"?> 21 Modick (1989: 19). 22 Vgl. Modick, Klaus (1995). Ein Weißes Album. In: Butkus, Günther (Hrsg.) Die Beatles und ich. 33 Autoren, Künstler und Musiker über ihr persönliches Verhältnis zu John, Paul, George & Ringo. Mit einem Vorwort von Thomas Mense sowie Abbildungen skurriler Beatles-Memorabilia. Bielefeld: Pendragon, 115-122. 2. Der Fokus: Applikationen Doch beginnen wir mit einem ersten Beispiel, nämlich der schon angeführten kleinen Erzählung „Am Parktor“ von Klaus Modick, einer Geschichte über die erste Liebe, über den Wunsch nach Unabhängigkeit von den Eltern, über den Traum von der Zweisamkeit, der jedoch mit einem harten Aufprall in der Realität endet. Auf gerade einmal zwölf Druckseiten werden darin über 80 Applikationen (respektive Zitatbruchstücke) mit einer Länge von drei Worten bis hin zu etwa zwei Zeilen aus englischsprachigen Popsongs der Beatles, Rolling Stones und vieler anderer Gruppen der späten 1950er bis frühen 1970er Jahre eingebaut. Durchaus repräsentativ ist die folgende Passage: Er streift das grüne T-Shirt über, von dem sie einmal gesagt hat, er sähe darin aus wie Paul McCartney auf dem White-Album-Foto, obwohl er doch John Lennon viel besser findet. Egal jetzt, will I wait a lonely lifetime, if you want me too I will. Dies T-Shirt hab ich angehabt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, von hinten habe ich dich da stehen gesehen, I saw her standing there. Drei oder vier Reihen vor mir, und du hast deine schmalen Hüften im Rhythmus der Musik bewegt, dein Hintern in den sehr engen Jeans. Über deine Schultern tanzten deine Haare, blond und lang, und die Gruppe spielte Runaway, my little runaway, run run run run runaway. Auf einmal hast du dich umgedreht. […] Und du hast mich angelächelt, daß ich geschmolzen bin, like ice in the sun I melt away und zugleich erstarrt. Would you believe in a love at first sight? Yes I’m certain that it happens all the time. 21 Von Bedeutung sind diese Applikationen bei Modick - aber nicht nur bei ihm - in zweierlei Hinsicht. Erstens dienen sie der Rezeptionssteuerung, anders ge‐ sagt, dem ‚auf eine bestimmte Zielgruppe von Rezipient: innen hin Zuschreiben‘. In dieser Perspektive kann man die einmontierten Songtexte als abrufbare und dabei zugleich aktualisierbare Elemente des kulturellen Gedächtnisses verstehen. Zweitens erweitern sie den Umfang und damit die Semantik des eigentlichen deutschsprachigen Textes um ein Mehrfaches seiner Länge. Denn wer (zumindest von den heute zwischen 65 und 85 Jahre alten Leser: innen Modicks) kennt nicht „She Loves You“ oder „Sweet Little Sixteen“? 22 Jedes noch so kleine Zitat aus so bekannten Popsongs wie diesen lässt nicht nur den ganzen Songtext und die dazugehörige Melodie, sondern darüber hinaus 230 Rolf Parr <?page no="231"?> 23 Modick (1989: 19). auch eine komplexe und nicht nur musikalische Jugendkultur plus der damit verknüpften eigenen Erinnerungen und Erfahrungen als Bedeutungshorizont mitschwingen. Es reicht also in der Regel aus, kleinere Bruchstücke aufzurufen, um ein komplexes Szenario mit allen seinen Strukturelementen und Inhalten zu konnotieren, so dass selbst kleinste Bruchstücke ein Maximum an Semantik, ästhetischen und ideologischen Elementen transportieren können. Aber - das wird allzu schnell vergessen - der Prozess der Applikation blendet Elemente und Strukturen auch immer aktiv aus, nämlich alles, was im neuen Kontext nicht aufgeht und irritieren müsste. Der Applikationsprozess demontiert also in pragmatischer Hinsicht die Ganzheit einer Textur in ihre sozial rezipierbaren Bestandteile, eröffnet aber denjenigen, die diese kennen, auch deren komplette und vielfach komplexe Semantik mit den dazugehörigen Konnotationen, und zwar bis hin zum Lebens‐ gefühl ganzer Generationen. Man kann das als den ‚Brühwürfel-Effekt‘ von Applikationen bezeichnen: Wenn eine rund zwanzig Seiten lange Erzählung mehr als 80 Popsongs aufruft, dann hat man es bei ca. zwei Seiten Text pro Song mit einem Konnotationspotenzial von mehr als 150 Seiten Umfang zu tun. Das funktioniert aber nur, wenn man diese Konnotationsangebote auch versteht. Wer die Songs nicht oder nicht mehr kennt, wird an der Erzählung weniger ästhetischen und intellektuellen Spaß haben und über das Spiel mit den Applikationen hinweglesen. Wie sehr sich das ästhetische Vergnügen mindert, wenn die Applikationen völlig fehlen, lässt sich ganz einfach testen, indem man die anderssprachigen Songschnipsel einmal probeweise weglässt, was bei Modick recht leicht zu machen ist, da sie - obwohl grafisch abgesetzt - in die Syntax des Deutschen bestens integriert sind. Heraus kommt dabei dann eine eher langweilige und höchst konventionelle Erzählung. Hier noch einmal die Eingangspassage, diesmal jedoch ohne die Applikationen: Er streift das grüne T-Shirt über […]. Dies T-Shirt hab ich angehabt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, von hinten habe ich dich da stehen gesehen. […] Drei oder vier Reihen vor mir, und du hast deine schmalen Hüften im Rhythmus der Musik bewegt, dein Hintern in den sehr engen Jeans. Über deine Schultern tanzten deine Haare, blond und lang, und die Gruppe spielte […]. Auf einmal hast du dich umgedreht. […] Und du hast mich angelächelt, daß ich geschmolzen bin […]. 23 Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache 231 <?page no="232"?> 24 Vgl. zu Funktionen des Englischen in der deutschen Gegenwartslyrik auch die Über‐ legungen von Gunkel, Katrin (2020): Poesie und Poetik translingualer Vielfalt. Zum Englischen in der deutschen Gegenwartslyrik. Wien: Praesens. 25 Vgl. Kilchmann, Esther (2017). Alles Dada oder: Mehrsprachigkeit ist Zirkulation der Zeichen! In: Dembeck, Till/ Uhrmacher, Anne (Hrsg.) Das literarische Leben der Mehrsprachigkeit. Methodische Erkundungen. Heidelberg: Winter, 43-63, hier 44. 26 Maas (2010). Die Weglassprobe macht deutlich, wie konstitutiv die englischsprachigen Ap‐ plikationen für Modicks Text sind. 24 Zugleich spielt bei all dem auch eine spielerisch-experimentelle ästhetische Freude an den anderssprachigen Appli‐ kationen als einer Form von Sprachwitz bzw. Sprachspiel eine Rolle. 25 Deutlich wird aber auch, dass mit den Applikationen aus den Popsongs ein bestimmtes Publikum (der heute vielleicht schon 65bis 85-Jährigen) angesteuert werden kann. Ersetzte man die Applikationen aus den im Jahr 2021 doch schon recht betagten Songs durch solche aus den aktuellen Charts, dann würde auf ein ganz anderes Publikum abgezielt. Aussehen würde das dann vielleicht so wie bei Marcel Maas in „Play. Repeat. Ein Prosa-Set“. 26 Dort sind an die Stelle der Applikationen aus den Songs nämlich die meist in eckigen Klammern in den Text eingefügten Fachbegriffe der Techno-Szene und DJ-Sprache getreten. In den literarischen Text implementiert fungieren sie gleichsam als Handlungsanwei‐ sungen an die Rezipientinnen und Rezipienten, sich den Akt des Lesens zugleich in den medialen Settings einer durchravten Nacht vorzustellen. Hintereinander aufgelistet, liest sich das dann so: „[Play. Repeat.]“, [„Play. Tuner.]“, [Play. Skip]“, [Play. Repeat. Loud]“, „[Play. Stop.]“, „[Play. Repeat. Speed up.]“, „[Play. Repeat. Skip through. Split Screens.]“, „[Play. Repeat. Forward 1: 1]“, „[Play. Repeat. Can’t Skip.]“, „[Play. Repeat. Loop the following.]“, „[Follow the looping]“, „[Play. Repeat. Skip through channels.]“, „[Play. Repeat. Pause. Almost]“, „[Play. Repeat. Slow down.]“ Zudem wird der Text durch diese Anweisungen in geradezu musikalischem Sinne punktiert, gegliedert und es werden - was den Rhythmus angeht - synkopenartige Akzente gesetzt. Gleich die ersten Worte des Textes sind: [Play. Repeat] Fade in. Wir tanzen als Blut Plasma Bildschirm. […] 232 Rolf Parr <?page no="233"?> 27 Maas (2010: 9 f.). 28 Mazenauer (2010 [o.S.]). 29 Maas (2010: 84 f.). Fade out. Fade in. Es klingen Herz Muskel Schwund. Fade out. Fade in. Sinuskurven beschreiben unseren Schritt. […] Unsere Augen und Ohren bilden das riesige Google, in dem wir uns fortbewegen. Fade. Fade. Fade out. 27 Auf diese spezielle Weise erzählt wird von Carlos, Marlene, Lilly und dem nur gelegentlich aufscheinenden Ich-Erzähler, die allesamt auf dem Sprung sind, ihre ‚Jugend‘ in einer von Rave und Alkohol bestimmten Partynacht hinter sich zu lassen, und deren Wohn- und Jugend-Gemeinschaft am Ende auseinanderfällt bzw. -läuft. Letztlich aber nehmen bei Maas „Ratlosigkeit, Verlorenheit und Absturz überhand“, 28 wobei es diesmal die applizierten Anglizismen aus den sozialen Medien sind, mit denen auf die spezifische Leser: innengruppe der Millennials, also der Generation Y, abgezielt wird: Wir sind nur Fluktuationen auf Mondbasen und Bestellformularen und Internetaukti‐ onen und bei Youtube und Youporn und Yousuck und in unseren Abituren auf Sperr‐ müllbergen und Raves New Raves Newest Raves, in Nostalgien von gerade Passiertem Pariertem, und Vintageklamotten überall, obwohl keiner weiß, was überhaupt, an Raststätten, Flughäfen und Bahnhöfen, wir sind Simulationen, in Sommerschlüssen und in jedem Forum, und cherrygirl89 postet und sadboy91 postet und killfreak95 postet prostet uns zu, und wir sind nach dem Millennium eine ferne Erinnerung […]. 29 Deutlich wird auch hier noch einmal, dass Applikationen von Pop-, Techno- und Medienmaterial eng an die sie jeweils tragenden Publika gebunden sind und ihre Halbwertszeiten mit mit derjenigen der sie jeweils tragenden Generation Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache 233 <?page no="234"?> 30 Albrecht, Jörg (2008). Nach dem Rough Cut kommt der Soft Cut! Universal Sounds of Ruhrgebiet. In: Springer, Johannes/ Steinbrink, Christel/ Werthschulte, Christian (Hrsg.) Echt! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet. Duisburg: Salon Alter Hammer, 69-91: 78. zusammenfällt (von Revivals und Remakes einmal abgesehen). Jörg Albrecht hat genau dies in „Universal Sounds of Ruhrgebiet“ reflektiert: [post recorded: ] Immer wieder Geschichten hören und hören wollen von den Jahr‐ zehnten, die auch im Rough Cut meiner Jugend nicht vorkommen können: 1. Januar 1970, 1. Januar 1980, selbst 1. Januar 1990 wird schwierig, wenn es darum geht, das Ruhrgebiet unter dem Ruhrgebiet zu sehen, zu hören, zum Beispiel die Stimmen beim Konzert in den Pausen, die dann wieder unterbrochen werden, wenn gerade ein Song zuende ist, solche Stimmen, die dann wieder unterbrochen werden durch einen neuen Song […]. […] die ganze Jugend nur noch im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte zu verbringen und erst im Rückblick auf genau diese Jugend zu verstehen, daß all das [die erste eigene Platte aus Vinyl, das erste eigene Second-Hand-T-Shirt, die erst eigene Hornbrille] doch mehr als ein Rückblick, die eigene Stadt doch mehr als nur diese kleine Stadt ist, and now? 30 Die bisher vorgestellten Beispiele bieten nun genug Anschauungsmaterial dazu, herauszuarbeiten, welche Funktionen gerade die Selektion anderssprachiger Zitate in den Texten der neueren deutschen Popliteratur hat bzw. welche Effekte damit erzielt werden. 3. Warum anderssprachiges Zitatmaterial? Eine erste Funktion bzw. ein erster Effekt besteht im Falle Modicks darin, die Generation Pop-Musik qua Sprachwechsel, der zugleich sozialer Kodewechsel ist, in Opposition zur Generation ihrer Eltern zu stellen, die im Englischen wahr‐ scheinlich nicht so gewandt sind, es vielleicht überhaupt nicht verstehen, so dass für das die Erzählung und mit ihr die Applikationen konkultural rezipierende Lesepublikum der Jugendlichen, aus deren Perspektive ja erzählt wird, eine doppelte kulturelle Fremdheit erzielt wird: kein Englisch und keine Kenntnis des mit der Popmusik verknüpften Lebensgefühls. Unterstrichen wird dies dadurch, dass es auch einen Vorrat an Applikationen der elterlichen Ermahnungsfloskeln gibt, der - diesmal in deutscher Sprache realisiert - dem ‚Konnotationsteppich‘ aus Popsongs inhaltlich und sprachlich diametral entgegensteht. Anders als die syntaktische Integration der englischsprachigen Popmusik-Applikationen sind diese für die Protagonist: innen diskulturalen elterlichen Merksprüche im Text nahezu durchgängig in Klammern gesetzt und stellen - als Montageform 234 Rolf Parr <?page no="235"?> 31 Modick (1989: 19-24). 32 Vgl. zu dessen Roman „Soloalbum“ Ächtler (2018: 239-247). betrachtet - eher harte Fügungen dar. Dazu gehören Floskeln und sprachliche Automatismen wie: 31 (zu unserer Zeit hätte man sich für Flicken geschämt) wie [bei] Paul McCartney auf dem White-Album- Foto (Wäsche wechseln, nichts ist wichtiger als frische Unterwäsche, Junge) love is all you need, it’s easy (im Haushalt hat jeder seine Aufgabe); (und zum Friseur musst du auch ganz dringend) do what you like, do what you like, do what you like (um Punkt halb sieben wird gegessen) time is on my side (komm mir bloß nicht mit ʼnem Kind nach Haus / laß dir bloß kein Kind anhängen) and though she’s not really ill, thereʼs a little yellow pill Tabelle 1: Elterliche Floskeln und Kommentare dazu in Form von Applikationen Auch im Falle von Marcel Maas dient die englischsprachige Terminologie der Abgrenzung der In-Group der Techno-Community nach außen. Somit ist es auch hier der Sprachwechsel, der Distinktionen bzw. Oppositionen herzustellen erlaubt. Das sind nur zwei von vielen weiteren denkbaren und in weiteren literarischen Texten auch bereits realisierten und bis hin zu subversiven Diskursen reichenden ‚Gegenpositionen‘, denen gemeinsam ist, dass sie mit Sprachwechseln arbeiten. Eine zweite Funktion der englischsprachigen Elemente sowohl bei Modick und Maas als auch bei Stuckrad-Barre 32 besteht im Erzielen synästhetischer Effekte. Die gleichsam ‚angespielten‘ Songs möchte man beim Lesen förmlich mitsingen, zumindest mitsummen, so dass der Sprachwechsel auch der multi‐ modalen Akkumulation von Kodes verschiedener Medien dient. Kurz: Interme‐ dialität geht hier Hand in Hand mit Mehrsprachigkeit. Besonders deutlich wird das bei Modick an Stellen wie derjenigen zum berühmten ‚ersten Mal‘. Die Textstelle selbst - eigentlich ziemlich trivial und jugendfrei - lautet: Unsere Sachen lagen auf dem Fußboden, alles durcheinander, dein türkisfarbener Pullover über meinen Jeans, mein T-Shirt unter deinem Slip, meine Hände auf deiner Brust, deine Zunge in meinem Mund, deine Beine um meinen Rücken […]. Unser Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache 235 <?page no="236"?> 33 Modick (1989: 25). 34 The Troggs (1966). Wild Thing. Fontana. 35 Modick (1989: 21). 36 Modick (1989: 22). 37 Modick (1989: 24). 38 Modick (1989: 26 f.). Schweiß fließt ineinander, und ich zerfließe in dir, wild thing, you make everything movinʼ […]. 33 Dass die Applikation aus „Wild Thing“, bekannt geworden durch die Cover‐ version der „Troggs“, 34 ein synästhetisches Rezeptions-Angebot macht, zeigt insbesondere der zum ‚Ineinanderfließen‘ geradezu kongeniale, langgezogene E-Gitarrenton zu Beginn des Songs. An anderen Stellen ist es „ein Paukenschlag von Ginger Baker“, der der elterlichen Aufforderung zum Rasenmähen entge‐ gengestellt wird, gefolgt von der Applikation „do what you like, do what you like, do what you like“; 35 und als sich die beiden Liebenden nach einem Rockkon‐ zert das erste Mal treffen, heißt es: „Was für ein herrlicher Schlussakkord“. 36 Als dann der Plan gefasst wird, nach London abzuhauen und eine Nacht zusammen im Hotel zu verbringen, wird das kommentiert mit „wie in Filmen, wie auf Platten“, wiederum unmittelbar gefolgt von einer Applikation: „Let’s spend the night together, now I need you more than ever“. 37 Und nicht zuletzt wird der energischen Aufforderung der Mutter, sich doch jetzt auf das Abitur zu konzentrieren und die Beziehung zur Freundin aufzugeben, ein knappes „immer die gleiche Platte“ entgegengestellt, wiederum verknüpft mit einer Applikation: „Hey, you’ve got to hide your love away“. 38 4. Fazit Appliziert werden kann jede (Sub-)Struktur eines Textes (Text hier verstanden im weitesten Sinne), insbesondere aber kommen dafür in Frage: (a) stofflich-in‐ haltliche Aspekte, wie bei den meisten Song-Applikationen in Modicks Erzäh‐ lung; (b) ästhetische Strukturen, z. B. eine bestimmte Strophen- oder Reimform, eine lautliche Struktur oder ein charakteristischer Rhythmus (das ist bei Marcel Maas der Fall); (c) ideologische Aspekte (inhaltlicher und ästhetischer Art), mit deren Applikation die Perspektive, Anschauung oder ideologische Position eines Textes übernommen wird (auch das ist vielfach der Fall bei Modick); (d) Mischformen aus diesen dreien, die den eigentlichen Normalfall darstellen. Weiter lässt sich aus den vorgestellten Überlegungen bereits ein erstes Auswahlkriterium für Applikationen ableiten: Je besser sich ein ‚ganzer Text‘ in separat rezipierbare Bruchstücke zerlegen lässt, umso eher eignet er sich zur Ap‐ 236 Rolf Parr <?page no="237"?> plikation und umso eher wird tatsächlich auf diesen Text zurückgegriffen. Das wiederum ist für Popsongs in besonders deutlicher Weise gegeben, insbesondere für englischsprachige, da die vergleichsweise einfache Syntax des Englischen ein Herausschneiden und Wieder-Einfügen an anderem Ort und in eine andere Sprache besonders einfach macht. Funktional betrachtet dienen Applikation von Poplyrics schließlich dazu, auf dem Weg über sprachliche Mehrstimmigkeit auch eine Mehrstimmigkeit diskursiver und sozialer Positionen herzustellen. Applikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache 237 <?page no="239"?> 1 Wirksam geworden ist die Theorie über die im Sprechakt vollzogene Sprachhandlung durch das 1969 veröffentlichte Buch Speech acts von Austins Schüler John R. Searle. Vgl. Linke, Angelika/ Nussbaumer, Markus/ Portmann, Paul. R. (1996). Studienbuch Linguistik. 3. Tübingen: Max Niemayer Verlag, 182-183. Nach Searle bestehe „der Grund für die Konzentration auf die Untersuchung von Sprechakten […] einfach darin, dass zu jeder sprachlichen Kommunikation sprachliche Akte gehören. Die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation ist nicht, wie allgemein angenommen wurde, das Symbol, das Wort oder der Satz, […] sondern die Produktion oder Hervorbringung des Symbols oder Wortes oder Satzes im Vollzug des Sprechaktes.“ Vgl.: Searle, John R. (1971). The Philosophy of Language. Oxford: Oxford University Press, 30. Das schicksalhaft Einmalige der Sprache. Strategien der Ich- und Weltkonstruktion in der Literatur Anita Czeglédy Abstract: Der linguistic turn in den Kulturwissenschaften hat die Sprachab‐ hängigkeit der Denk- und Erkenntnisprozesse wieder vor Augen geführt. Im Zuge eines pragmatic turns verlegte man darauffolgend den Akzent auf den Sprachgebrauch, auf die im Sprechakt vollzogene Sprachhandlung. Identität wird demzufolge aufgefasst als ein sprachlich-medial erzeugtes Konstrukt, das vom Subjekt erst durch den und in dem Sprechakt verwirklicht wird. Durch Betonung des Handlungscharakters der Sprache und des Primats der Performanz 1 wird der Begriff Sein-in-der-Sprache konstruiert: Gespräche und Texte sind demnach Orte der Wirklichkeits- und Identitätskonstruktion. Sprache ist das zentrale Medium dieser Konstruktion, weil sie die Herausbildung eines individuellen und sozialen Selbst(Bewusstseins) ermöglicht. In Anlehnung an das medial-konstruk‐ tivistische Identitätskonzept von Marijana Kresic werden die interdisziplinär umsetzbaren Erkenntnisse des sprach- und erkenntniskonstruktivistischen An‐ satzes in der Literaturwissenschaft und neue Interpretationsansätze zu Texten der mehrsprachigen Gegenwartsliteratur eingeführt. Keywords: Transkulturalität, Mehrsprachigkeit, Identitätskonstruktion, Sprachidentität, Sein-in-der-Sprache <?page no="240"?> 2 Humboldt meinte, dass menschliche Erkenntnis, Sprache und Denken eine Einheit bilden und dass „die Sprache das bildende Organ des Gedanken[s]“ ist. In: Humboldt, Wilhelm von (1903-1936). Gesammelte Schriften. Berlin: Königlichen Preußische Akademie der Wissenschaften. 17 Bde. Nachdruck Berlin 1968. Band-5, 374. 3 Kresic, Marijana (2006). Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlichme‐ dialen Konstruktion des Selbst. München: Iudicium. 4 Es geht hier um die von einem konkreten Sprecher in einem konkreten Sprechakt hervorgebrachte, nur diesem Sprecher eigene, den jeweiligen Kommunikationspart‐ nern und der Sprechsituation angepasste, von diesem erforderte oder ermöglichte Sprachvariante. Einleitung Es besteht kein Zweifel, dass Identitätsbildung und Identitätsdarstellung im We‐ sentlichen semiotisch erfasst werden können. Identität wird anhand und mittels unzähliger, explizit und implizit wirkender Zeichen, in einem Geflecht von mannigfaltigen Diskursen konstituiert und präsentiert. Die Meinung von Wil‐ helm von Humboldt, dass das Verständnis des Menschen beim Verständnis der Sprache anfangen muss 2 , wird auch von der Forschung der Jahrtausendwende bestätigt. Die Notwendigkeit von einem linguistic turn in den Kulturwissen‐ schaften wie auch in den Philologien ist heute weitgehend anerkannt worden. Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, wie Wirklichkeitskonstruktion und Identitätskonstruktion im Wesentlichen in der Sprache und durch das Medium Sprache ausgeführt werden und wie der Mensch seine ‚artspezifische‘ Existenz in der gemeinsamen Sprachhandlung, im Gespräch mit einem Gegenüber erleben kann. Bei der Aufdeckung der Zusammenhänge des Sprachgebrauchs und der Ich-Konstitution können Strategien individueller und kollektiver Identi‐ tätsbildung in multilingualen und multikulturellen Gemeinschaften sichtbar gemacht werden, wobei neben der Auslegung verschiedener Formen von Sprachwechsel und Sprachmischung die Relevanz der sprachschöpferischen Produktion hervorgehoben wird. Das Fundament zu den hier folgenden Überlegungen bildet ein interdiszi‐ plinär erarbeitetes, sprachkonstruktivistisch basiertes Identitätskonzept, das Modell der multiplen Sprachidentität von Marijana Kresic. 3 Diese Theorie weist mehrsprachige Identitäten als „Normalfall“ aus und zeigt das identitätskonsti‐ tutive Moment der Verwendung verschiedener Sprachen und Sprachvarietäten. Zentral gestellt wird die sogenannte „Sprachidentität“, die Identität des Spre‐ chers, die im jeweiligen Sprechakt im Medium der Sprache und durch die Sprache jeweils neu hervorgebracht wird. Es geht hier um „Einsprachigkeit“ in dem Sinne von Eigen-Sprachlichkeit. 4 Die so hervorgebrachten Individual‐ sprachen sind situativ bedingte, neu gestaltete Varietäten, wobei es freilich 240 Anita Czeglédy <?page no="241"?> 5 Rathje, Stephanie (2014). Multikollektivität. Schlüsselbegriff der modernen Kulturwis‐ senschaften. In: Wolting, Stephan (Hrsg.). Kultur und Kollektiv. Festschrift für Klaus P. Hansen. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag, 39-59. 6 Celan, Paul (1986). Gesammelte Werke in fünf Bänden. Allemann, Beda/ Reichert, Stefan/ Bücher, Rolf (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 175. auch um das Zusammenspiel unterschiedlicher Sprachen, Sprachvarianten oder Sprachstile im Redeakt handeln kann. Diese Art von individueller „Mehrspra‐ chigkeit“, eigentlich ein Ergebnis von der sogenannten innersprachlichen oder fremdsprachlichen Multilingualität des Individuums, ist die Basis der multiplen Identität, die sich in den jeweiligen Sprechsituationen flexibel gestalten kann und die Mehrfachverortung des Individuums in zahlreichen Kollektiven ermög‐ licht. 5 Im medial-konstruktivistischen Identitätskonzept von Marijana Kresic wird der Akzent von der Sprachskepsis auf die Sprachproduktion verlegt und die Frage nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Sprachbesitz und Kommuni‐ kation entschärft. Sprache und Denken bedingen sich gegenseitig, Sprache als bewusst Erlebtes entsteht in der Interaktion zwischen Menschen, im Rahmen der jeweils aktuellen Kommunikation, und ist demzufolge kein bereits Existie‐ rendes, Vorgegebenes, sondern immer etwas Werdendes und demzufolge etwas Einmaliges. Die Sprache ist kein Werk (Ergon), sondern Tätigkeit (Energeia), eine schöpferische Tätigkeit, wie es bereits Wilhelm von Humboldt festgestellt hat. Deswegen kann man nicht einfach Opfer oder Gefangener der Sprache sein. In Marijana Kresics sprachkonstruktivistischem Identitätskonzept wird das Finden oder Erfinden der eigenen Sprache zentral gestellt und als Handlungs‐ potential dem Verzicht oder Verlustgefühl entgegengesetzt. Poetische Texte zeichnen sich in diesem Kontext durch ihren kreativen Umgang mit sprach‐ lichen Formen besonders aus. Ihre von „sprachlicher Polyphonie gesättigte Einsprachigkeit“ ergibt Dichtung, die Paul Celan „das schicksalhaft Einmalige der Sprache“ nennt, als er seine Zweifel über Zweisprachigkeit in der Dichtung äußert. 6 1. Achillesferse: Identität Der Begriff ‚Identität‘ erlebt eine fortdauernde Konjunktur. Identität ist keine stabile, zeitlich konstante Entität. Sie entsteht im sozialen Umgang mit an‐ deren, ist eine ununterbrochen fortgeführte Arbeit an sich, ein lebenslanges Projekt, ein Prozess, dessen Ergebnis immer nur „ein Entwurf “ ist, „in dem Vorerfahrungen, plurale Interaktionsbeteiligungen und Zukunftsoptionen in Das schicksalhaft Einmalige der Sprache 241 <?page no="242"?> 7 Krappmann, Lothar (2006). Identität. In: Ammon, Ulrich et al. (Hrsg.). Soziolingu‐ istik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 3.1). Berlin/ New York: de Gruyter. Bd.-1, 405-412, hier 406. 8 Mit gutem Recht stellt Lothar Krappmann die Frage, ob dies eigentlich möglich ist, und versucht mit Begriffen wie „balancierende Identität“, „Identitätsdiffusion“ oder „Patchwork-Identität“ die Antworten der modernen Menschen auf die neuen Erwartungen zu erfassen. Vgl. ebd. 9 Die dekonstruktivistischen Ansätze streiten dem Menschen sogar die „souveräne Autorschaft“ in seinem Leben − aufgefasst als Text − ab. Emmanuel Levinas findet, dass man nur noch eine Rolle darstellt in einem Drama, das man nicht verfasst hat. Vgl.: Lévinas, Emmanuel (1991). Zwischen uns. München: Hanser, 36 f. In der Systemtheorie von Niklas Luhman ist der Mensch nur noch ein „system- und situationspezifischer Addressat sozialer Kommunikation“. Vgl.: Kneer, Georg/ Nasehhi, Armin (Hrsg.) (2000). Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. München: Fink, 165. einen Interaktionssinn stiftenden Zusammenhang gestellt werden.“ 7. Identität wird vornehmlich als eine Konstruktion angesehen, die nur dann tragfähig ist, wenn sie von anderen Menschen anerkannt wird und die soziale Koope‐ ration, das wechselseitige Aufeinander-Eingehen, ermöglicht. Identität wird heute durch die Beteiligung des Menschen an mannigfaltigen Interaktionen in verschiedenen Situationen und Rollen, in differenten Medien und durch die Herausforderungen widersprüchlicher Handlungsziele und Erfahrungen der Person in Frage gestellt. Die Erarbeitung und Präsentation der Einheit, Kontinuität und Selbigkeit der Person in ihrer besonderen, nur für sie charak‐ teristischen Prägung, beziehungsweise die Anerkennung deren durch andere, werden stets auf die Probe gestellt. 8 Das „gefährdete, vom Zerfall bedrohte Ich“ der Jahrhundertwende wird zum „ausgelöschten Subjekt“ in der Postmoderne, um die Jahrtausendwende galt sie nur noch als „Fiktion“, als sprachlich-diskursiv hervorgebrachtes Konstrukt. 9 Auch bei einer weniger radikalen Sicht der Identitätsbildung steht fest: Plu‐ ralität und Vielfalt, Dynamik und Flexibilität sind zentrale und auch notwendige Merkmale der Identitätsstruktur, damit das Subjekt allen Wandlungen des Handlungs- Sprach- und Beziehungsumfeldes ausgesetzt, in einer Vielzahl von Situationen und Medien, zu den beiden Hauptmodi der Identitätskonstruktion, das heißt zum Dialog und Selbstnarration, fähig wird und bleibt. Marijana Kresic versucht mit ihrem medial-konstruktivistischen Identitätskonzept, mit dem Begriff Sein-in-der-Sprache, ein Konstrukt zu entwerfen, das bei all den widersprüchlichen und diffusen Voraussetzungen der Identitätsbildung die Kontinuität, die Einheit und die Selbigkeit der Person, das heißt, die so ver‐ standene Identität, sichern kann. Das Sein-in-der-Sprache, das in der Interak‐ tion zwischen Menschen, als Produkt aufeinander bezogenen Handelns und 242 Anita Czeglédy <?page no="243"?> 10 Kresic meint: „Mit der Muttersprache erwirbt das Kind nicht bloß ein Zeichensystem plus Grammatik, sondern ein höchst sensibles Instrument der Kopplung kognitiver, semiotischer und sozialer Handlungen. […] Mit der Sprache entstehen die Unterschei‐ dungen (und die Beziehungen zwischen den Unterscheidungen), die uns Beobach‐ tungen und Beschreibungen erlauben. Mit der Sprache entsteht der Beobachter, mit ihm entstehen Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Ich. Das System der Sprache bildet das überindividuell gehandhabte System von Unterscheidungen, das Verhaltenskoordina‐ tion erlaubt - und daraus hervorgeht.“ In: Kresic (2006: 39). Die Folgerungen ihrer Arbeit stimmen mit Martin Bubers Feststellung, dass „das Geheimnis der Sprachwerdung und das der Menschwerdung eins sind“, überein. In: Buber, Martin (1962). Das Wort, das gesprochen wird. In: ders. Werke. Band I: Schriften zur Philosophie. München: Kösel, 449. 11 Unter „Konzepten“ versteht man kognitive Strukturen, die „das Individuum aufgrund sprachlicher, sensorischer und motorischer Informationen ausbildet.“ In: Jackendoff, Ray S. (1983). Semantics and Cognition. Cambridge: MIT Press, 17. 12 Vgl. Maturana, Humberto/ Valera, Francisco J. (1987). Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. München: Goldmann, sowie Matu‐ rana, Humberto R. (1982). Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklich‐ keit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie (= Wissenschaftstheorie, Sprechens erlebt wird, lässt die Unabgeschlossenheit, Prozesshaftigkeit und Flexibilität von Identität, beziehungsweise deren Pluralität, Heterogenität und Mehrschichtigkeit zu, ohne aber dabei die innere Kohärenz der Person in Frage zu stellen. Damit wird das Verdikt vom Tod oder Zerfall des Subjekts aufgehoben und ihm ein Sein-in-der-Sprache gewährt. 2. Das medial-konstruktivistische Identitätskonzept von Marijana Kresic Von Marijana Kresic wird Sprache als „Rahmenmedium für die menschliche Lebenspraxis in Form von sprachlichem Handeln, für menschliche Erkenntnis und Wirklichkeitskonstruktion und für die Stiftung sozialer und personaler Identitäten“ aufgefasst 10 . Das sprachliche Zeichen ist die grundlegende mensch‐ liche Erkenntniseinheit, weil unsere Erkenntnis, unser Denken und unser Wissen über die Welt vornehmlich in Sprache gefasst erscheinen können. Bei der Konstruktion von Wirklichkeit spielt die Kommunikation eine grundlegende Rolle, da jegliches Wissen interindividuell im Rahmen von Beziehungen und Diskursen erzeugt wird. Die sprachlichen Zeichen verweisen jedoch nicht auf die Dinge selbst, sondern auf mentale Konzepte von diesen, und erschaffen dadurch die Wirklichkeit erst, wie sie in der Erfahrung des Individuums erscheint. 11 Menschen existieren und operieren in der Sprache, in der Sprache konstituiert sich die menschliche Erkenntnisfähigkeit und auch die Sprache selbst. 12 In diesem Kontext wird Sprache als selbstreferentielles, autopoietisches Das schicksalhaft Einmalige der Sprache 243 <?page no="244"?> Wissenschaft und Philosophie 19). Braunschweig/ Wiesbaden: Vieweg und Sohn, 32. „Der Mensch ist fähig zu erkennen. Diese Fähigkeit setzt allerdings seine biologische Integrität (Ganzheit, Unversehrtheit) voraus. Der Mensch kann außerdem erkennen, daß er erkennt. Erkennen (Kognition) als basale psychologische und somit biologische Funktion steuert seine Handhabung der Welt, und Wissen gibt seinen Handlungen Sicherheit. Objektives Wissen scheint möglich, und die Welt erscheint dadurch planvoll und vorhersagbar. Und doch ist Wissen als Erfahrung etwas Persönliches und Privates, das nicht übertragen werden kann. Das, was man für übertragbar hält, nämlich objektives Wissen, muß immer durch den Hörer geschaffen werden: Der Hörer versteht nur dann, und objektives Wissen erscheint nur dann übertragbar, wenn der Hörer zu verstehen (vor)bereit(et) ist. Kognition als biologische Funktion besteht darin, daß sich die Antwort auf die Frage Was ist Kognition? aus dem Verständnis des Erkennens bzw. des Erkennenden aufgrund der Fähigkeit des letzteren zu erkennen ergeben muß.“ 13 Ágel, Vilmos (1995). Konstruktion oder Rekonstruktion? Überlegungen zum Ge‐ genstand einer radikal konstruktivitischen Linguistik und Grammatik. In: ders./ Brdar-Szabó, Rita (Hrsg.). Grammatik und deutsche Grammatiken. Budapester Gram‐ matiktagung 1993. Tübingen: Niemeyer, 3-22. 14 Kresic (2006: 39). Vgl. auch Gergen, Kenneth J. (2002). Konstruierte Wirklichkeiten. Eine Hinführung zum sozialen Konstruktivismus. Stuttgart: Kohlhammer. 15 Inwiefern diese Identität der ‚wahren‘ Identität der Person entspricht, ist eigentlich sekundär, der Umgang seiner Umwelt mit ihr wird dadurch bestimmt, was im Laufe des Sprechens ausverhandelt wird. Vgl. Kresic (2006: 37). 16 Klein, Wolfgang/ Schlieben-Lange, Brigitte (1996). Einleitung [zum Themenheft] Sprache und Subjektivität II. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 102/ 1996, 1. System verstanden. 13 Gespräche und Texte werden von Kresic als Orte sozialer Wirklichkeitskonstruktion angesehen. 14 Sprechen ist nicht das Ausdrücken von bereits vorhandenen Entitäten, sondern eine Form menschlichen Handelns, dialogisch, eingebettet in Sprache, in Diskurse, in Beziehungen - ein individu‐ eller, zugleich aber auch sozialer, kollektiver Akt. Das menschliche Selbst wird in der Sprache nicht ausgedrückt, sondern im und durch das Sprechen erst erschaffen. 15 Damit kommt der ‚Performanz ‘, der konkreten Realisierung des Sprachgebrauchs, eine primäre Rolle bei der Identitätskonstitution zu. Sie ist der aktuelle und empirisch jeweils zugängliche Ort, an dem Wirklichkeiten und Identitäten konstruiert werden. So wäre der ausgezeichnete Ort der Konstitution des Subjekts das Gespräch, in dem durch wechselseitige Perspektivierungen, Zuschreibungen und Aushandlungs‐ prozesse über diese Perspektiven und Zuschreibungen die - allerdings immer zu revidierende - Identität der beteiligten Subjekte erst entwickelt wird. 16 244 Anita Czeglédy <?page no="245"?> 17 Der Begriff Sprechakt und die damit verbundene Theorie verbreitete sich in der Sprach‐ wissenschaft durch das 1969 veröffentlichte Buch „Speech acts“ von Austins Schüler John R. Searle. Vgl. Linke, Angelika/ Nussbaumer, Markus/ Portmann, Paul. R. (1996) Studienbuch Linguistik. 3. Tübingen: Max Niemayer, 182-183. Nach Searle besteht „der Grund für die Konzentration auf die Untersuchung von Sprechakten […] einfach darin, dass zu jeder sprachlichen Kommunikation sprachliche Akte gehören. Die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation ist nicht, wie allgemein angenommen wurde, das Symbol, das Wort oder der Satz, […], sondern die Produktion oder Hervorbringung des Symbols oder Wortes oder Satzes im Vollzug des Sprechaktes.“ In: Searle, John R. (1971). The Philosophy of Language. Oxford: Oxford University Press, 30. 18 Sowohl der Sprecher als auch der Hörer konstruieren systemintern einen Sinn, aus‐ gehend von ihrer Wissensbasis und ihrem Repertoire; diese Konstruktionen werden dann im Austausch ausbalanciert, und so der endgültige, auf Konsens basierte Sinn konstituiert. 19 Bühler, Karl (1982). Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934]. Stutt‐ gart/ New York: Fischer, 24. Die Sprache eines Individuums wird im jeweils konkreten Sprechakt 17 , in der Sprache und durch die Sprache mittels schöpferischer Tätigkeit des In‐ dividuums hervorgebracht. Durch die Hervorbringung der Sprache, die man Sprachkonstruktion nennt, wird „seine“ Wirklichkeit, „sein” Ich, „seine“ Iden‐ tität konstruiert. Das letztere nennt Marijana Kresic „Sprachidentität“ oder „Sprecheridentität“, deren Genese sie mithilfe eines erweiterten Zeichenmodells aufzeigt. Marijana Kresic schafft ein neues Modell für die Konstruktion von Identität durch eine Ergänzung von Bühlers allgemein bekannten „Organonmodell“, das die Konstitution von sprachlichen Zeichen modelliert. Bei Bühler funktio‐ nieren als referenzielle Bezugspunkte des Zeichens neben den Dingen der Welt auch der Sprecher und der Hörer, die beide an der Sinnkonstruktion aktiv teilnehmen. 18 Ihre Relation drückt das Axiom „einer-dem anderen-über die Dinge“ aus. 19 Im Mittelpunkt des Modells stehen die drei Relationen des Zeichens zum Sprechenden, Hörenden und Mitgeteilten. Das sprachliche Zeichen ist durch seine Darstellungsfunktion mit den Gegenständen und Sachverhalten der Welt verbunden, während es die Ausdrucksseite mit dem Sprecher und die Appellfunktion mit dem Hörer verbindet. „Die Innerlichkeit“ des Sprechenden, seine emotionalen Befindlichkeiten, seine affektiven und weltanschaulichen Einstellungen zu den besprochenen Dingen, zur Wirklichkeit, zum Gesprächspartner und zur Redesituation selbst - mit einem Wort, „seine Subjektivität“ gehen im Laufe der Sinnkonstruktion des Begriffs in dessen Bedeutung mit ein, wie auch diese die - sowohl personale, als auch soziale - Identität des Sprechers beeinflusst. Auf der anderen Seite kann der Hörer seine Subjektivität und Identität auch beim Verstehen nicht Das schicksalhaft Einmalige der Sprache 245 <?page no="246"?> ausschließen, deswegen wird sein Verständnis, also die von ihm unternommene Bedeutungskonstruktion auf ähnliche Weise von diesen subjektiven, individuell angelegten Faktoren mitbestimmt. So spielen sowohl Sprecher als auch Hörer eine aktive Rolle bei der Konstruktion von ‚Sprache‘ und zugleich von ‚Wirk‐ lichkeit‘, wobei dieser Konstruktionsvorgang als ein unendlicher - zumal sich nie abschließender - zirkulärer Prozess anzusehen ist. Sprache, Wirklichkeit und Identität müssen fortwährend neu konstituiert, gleichsam immer neu ausverhandelt werden. Abb. 1: Vier-Felder-Schema des sprachlichen Zeichens Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass in diesem Modell ein Konstrukt von ‚Sprache‘ entsteht, das die jeweilige Existenzweise des Sprechers, des Hörers und der Dinge und Gegenstände der Welt sowie das Verhältnis von diesen zueinander erfasst und ihnen insgesamt eine Gestalt verleiht. Wenn „einer - dem anderen - über die Dinge“ spricht, spricht er gleichzeitig auch immer „über sich“, das heißt, im Laufe des Sprechens wird sein Ich - und damit auch seine Identität - durch die Sprache und in der Sprache hervorgebracht. Die sprachgestaltende Funktion der Wirklichkeitskonstitution bildet damit eine Metadimension, die man „Sprecheridentität“ (und Höreridentität) nennt. Ein wesentlicher Vorteil 246 Anita Czeglédy <?page no="247"?> 20 Kresic (2006: 195). 21 Selbst in neuesten systemtheoretischen Überlegungen wird das Ich letztendlich doch „gerettet“, indem man dem Zerfall der Identität in polykontextural organisierten Adressen mit einem Verweis auf die Zusammenhalt stiftende Kraft des Kommunikati‐ onsmediums ‚Sprache‘ entgegenzusteuern versucht. Das integrative Medium ‚Sprache‘ schafft eine Gemeinschaft, die gesellschaftliche und individuelle Kohärenz sichern kann: „Ungeachtet ihrer […] gesellschaftlichen Rolle als kontextgebundene Adresse in funktionalen Teilsystemen ist die Person zuallererst einmal eine integrierte Person und Einheit durch ihr Seininder- Sprache.“ In: Bickes, Hans/ Schimmel, Dagmar (Hrsg.) (2000). Sprache und Kommunikation in der Luhmannschen Systemtheorie - eine kognitiv-linguistische Perspektive. In: Wissenschaftliches Jahrbuch der Philo‐ sophischen Fakultät, Universität Thessaloniki 7: 1997-2000, 178. Die Einsichten der kognitiven Psychologie und der Erkenntnisforschung werden resümiert, wie folgt: „Letztlich halten im Körper verwurzelte psychische und kommunikative Prozesse in ihrer Vermittlung durch das Medium Sprache (dessen Formenschatz sie nachhaltig prägen) die Gesellschaft (also Komplexe von Kommunikationen) und Individuen (also einzelne Bewusstseine) zusammen, und die Sprache sichert durch ihren körperlich und sozial geprägten Charakter dem Individuum beim Eintritt in soziale Systeme durch den Spracherwerb eine in der Regel stabile Integrität als Person.” In: Bickes, Hans/ Schimmel, Dagmar (2000: 157). 22 „Und wenn man auf das Nebeneinander und praktische Miteinander der verschiedenen Soziolekte und oft Dialekte im Rahmen jeder Einzelsprache achtet, kommt man zum Schluss, dass im Grunde genommen schon im Inneren jedes einzelnen Teilhabers an einer unserer heutigen Kultursprachen eine gewisse Mehrsprachigkeit vorhanden ist […].“ In: Glinz, Hans (2002). Das Wort in der inhaltbezogenen Grammatik. In: eines solchen Modells besteht in der Berücksichtigung des Umstands, dass die Sprecheridentität „das Polysystem der Sprache in seiner übergreifenden Hetero‐ genität umfasst und sich darauf bezieht, dass durch das Sprechen verschiedener Varietäten unterschiedliche […] Identitäten konstruiert“ 20 werden. (Sprach)identität ist demnach ein vielfältiges, variables Konstrukt, ein Bündel interaktiv hervorgebrachter und wahrgenommener Zuschreibungen, eigentlich ein Endprodukt der Ausbalancierung individueller Neigungen und sozialer Er‐ wartungen, ein Kompromiss zwischen dem unverwechselbar Individuellen und dem sozial Akzeptablen. Das ‚Sein-in-der-Sprache ‘ kann als Voraussetzung für das Entstehen tragfähiger Selbstkonstrukte angesehen werden. Seine Kohärenz liegt in den ideal gegebenen Strukturen des Sprachsystems, in den jeweils realisierten Normen der Sprechergemeinschaft 21 , deren Einzigartigkeit aber in den individuell-kreativen Verwirklichungen dieser Normen (oder eben den Abweichungen von diesen). Die Multiplizität und Flexibilität dieses Konstrukts basiert auf einer innersprachlichen und fremdsprachlichen „Mehrsprachigkeit“ des Individuums, d. h. auf seinen Kompetenzen in verschiedenen sprachli‐ chen Varietäten, die in unterschiedlichen medialen Realisationen verwirklicht werden können. 22 In den unterschiedlichen Gesprächstypen, Textsorten und Das schicksalhaft Einmalige der Sprache 247 <?page no="248"?> Cruse, Alan D. et al. (Hrsg.). Lexikologie/ Lexocology. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 21.1). Berlin/ New York: de Gruyter, 129-138, hier 137. 23 Coseriu, Eugenio (1976). Das romanische Verbalsystem. Tübingen: G. Narr, 17-35. 24 Vgl.: Czeglédy, Anita (2019). „Sein-in-der-Sprache“. Poetische Identitätskonstruktionen im multikulturellen mitteleuropäischen Raum. Wien: Praesens, mit Fallbeispielen zu Peter Handke, Teresia Mora und Márton Kalász. 25 Medizinisch-biologische Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass sich die Gefühle, die bei der Rezeption von fiktiven Texten entstehen, von den durch die Begeg‐ medialen Praktiken, an denen ein Individuum in der Welt teilhat, wird sein ganzes Repertoire an sprachlichen (Teil-)Identitäten konstituiert. Wie Individualität durch Individualsprache konstituiert wird, kann auch leicht eingesehen werden. Die Sprache einer Person ist immer als ein Poly‐ system zu betrachten, das als komplexes, offenes und dynamisches System ein ganzes Bündel von funktional bestimmten Varietäten, wie zum Beispiel Dialekte, Soziolekte oder Sprachstile, umfasst. Der Sprecher verfügt damit über für ihn spezifische, multiple Normensets, die dann von ihm in der sozialen Interaktion, in den jeweiligen Sprechakten auf individuelle Art und Weise, idiosynkratisch realisiert werden. Im Sprechakt manifestiert sich die Einzigar‐ tigkeit und Einmaligkeit des denkenden und sprechenden Subjekts. Eugen Coseriu betrachtet deswegen die Sprache und das Sprechen aus der Sicht des Subjekts immer als Ergebnis seiner schöpferischen Tätigkeit, als Erfindung des Früher-nicht-existierenden. 23 Bei der Konstruktion der Sprecheridentität, im konkreten Sprechen, wird immer auch dieser kreativ-schöpferische Moment ins Spiel gebracht und neue sprachliche Muster produziert, die die idiosynkratische Konstruktion des Selbst ermöglichen. Diesen Prozess treibt der Wunsch nach Einmaligkeit und Expressivität voran. Das ist auch die Motivation literarischen Schreibens. Unter den sozio-medialen Plattformen der Identitätskonstruktion nimmt das Schreiben, als Ort der Reflexion und Selbstreflexion, eine beson‐ dere Stellung ein. Literarische Texte sind Orte der Existenz, Schreiben ist ein Sein-in-der-Sprache. 24 3. Ausblick Diese Einsichten eröffnen einen neuen Zugang zu mehrsprachigen literarischen Texten, der jeglichen individuellen Variationen des Sprachgebrauchs gerecht werden kann und literarische Texte als Orte der Wirklichkeitskonstruktion ins Zentrum rückt. Die Sprachwelten der Autoren sind eigentlich Welten, die sie mit ihren Lesern gemeinsam für sich erschaffen und in denen es sich leben lässt. 25 Die von Till Dembeck beschriebene ästhetische Kategorie der 248 Anita Czeglédy <?page no="249"?> nung mit der realen Welt hervorgerufenen Emotionen im Wesentlichen nicht un‐ terscheiden. Die Emotionen, die Assoziationen und die körperlichen Reaktionen ver‐ laufen auf den gleichen Wegen und mit ähnlicher Intensität. Demnach dürfte auch das Sein-in-der-Sprache-der-Poesie dem „realen“ Sein-in-der-Sprache gleichgesetzt werden. 26 Individualsprachliche Realisationen des Multisystems Sprache werden von der Lingu‐ istik seit langem untersucht. Häufig fokussieren diese Arbeiten den Sprachgebrauch von Autoren und Dichtern, wobei „der Lexikograph des Autoren- oder gar des Dichterwörterbuches zuerst ein Textinterpret“ sein soll. Vgl.: Umbach, Horst (1986). Individualsprache und Gemeinsprache. Bemerkungen zum Goethe-Wörterbuch. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 14: 1986, 161-174. hier 162. Ein Beispiel: Schirmer, Andreas (2007). Peter Handke Wörterbuch. Prolegomena. Wien: Praesens. 27 Vgl.: Welsch, Wolfgang (2017). Transkulturalität. Realität - Geschichte - Aufgabe. Wien: new academic press. 28 Vgl. zum Beispiel das Gedicht von dem dreisprachig sozialisierten Claus Klotz: Mein Deutschtum. Abrufbar unter: Claus Klotz: Mein Deutschtum (udpi.hu) (Stand: 20.04.2023). 29 Der Linguist Eugen Coseriu hebt auch das Kollektiv-Soziale der Sprache hervor. Es kann nämlich keine Sprache geben, die nicht mit einem Anderen gesprochen wird. Vgl.: Coseriu, Eugenio (1979). System, Norm und ‚Rede‘. In: ders.: Sprache: Strukturen und Funktionen. XII Aufsätze zur allgemeinen und romanischen Sprachwissenschaft. Tübingen: Narr, 45-60, hier 55. „Poetik der sprachlichen Fülle“ wird durch den Weg der linguistisch erfassten „Individualsprachen“ 26 in den Bereich des Sozialen überführt, ganz im Sinne des Transkulturalitätskonzepts von Wolfgang Welsch, der kulturelle Differenz als eine mögliche Quelle von kollektiver Kohärenz auszumachen strebt. 27 Seiner These nach bedeutet die Herausbildung kultureller Identitäten eigentlich die In‐ tegration von Identitätskonstituenten unterschiedlicher kultureller Herkunft. 28 Transkulturalität manifestiert sich nicht nur auf der Ebene der Kulturen und Lebensformen, sondern dringt bis in die Identitätsstrukturen der Individuen hinein. Von dieser Art transkultureller Übergangsfähigkeit leitet er dann die ganz besondere Beschaffenheit und Einzigartigkeit des Menschen, seine ‚Iden‐ tität‘ und so etwas wie Autonomie und Souveränität des Individuums ab. Welschs Konzept der Transkulturalität zielt auf ein integratives Modell, in dem die Vielheit unterschiedlicher Lebensformen von transkulturellem Zuschnitt als Ausgangspunkt gilt. Die neue Art von Vielheit ist durch hohe Individua‐ lisierungsgrade und Differenzenmannigfaltigkeit gekennzeichnet, ermöglicht jedoch durch das mannigfaltige Verbindungspotential der integrierten kultu‐ rellen Komponenten die mehrfache Gruppenzugehörigkeit der Menschen. 29 Das multikollektive Potential des Individuums und die dadurch erzeugten, mitein‐ ander dicht verwobenen sozialen Vernetzungen erschaffen eine Kohäsion in der Gesellschaft, die fremdheitsorientierten oder separatistischen Bestrebungen Das schicksalhaft Einmalige der Sprache 249 <?page no="250"?> 30 Krappmann (2006: 408). 31 Sloterdijk, Peter (1988). Zur Welt kommen - zur Sprache kommen. Frankfurter Vorle‐ sungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 32 Sloterdijk (1988: 86). 33 Sloterdijk (1988: 165 f). standhalten kann. Literarische Texte von mehrsprachigen Autoren und die in diesen hervorgebrachten transkulturell geprägten Sprachwelten und Identi‐ täten funktionieren als beispielhafte Modelle der Integration von Differenzen, denn Mit einer Identität, die über spielerische, imaginäre und poetische Kompetenzen verfügt, ist die Person möglicherweise eher in der Lage, unüberschaubare oder ambivalente Handlungsbedingungen für die Entfaltung ihrer Subjektivität zu nutzen, als mit einer Identität, die sich zwanghaft an der Strukturierung von Inkonsistenzen und Widersprüchen aufreibt. 30 Literarische Texte der Mehrsprachigkeit aller Art, die als sprachlich erzeugte Konstrukte des Selbst und der Welt anzusehen sind, sind zukunftsweisend, weil die Erfassung und Erfahrung der Existenz durch die Sprache und in der Sprache es den Menschen ermöglichen, sich in der Welt, wie sie auch immer ist, heimisch zu machen. Peter Sloterdijk spricht in seinen Frankfurter Vorlesungen mit dem Titel Zur Welt kommen - zur Sprache kommen über die „Poetik der Entbindung“. 31 Sloterdijk zufolge kann die poetische Sprache eine „vorgeburtliche makellose Freiheit von Ideen und Vorstellungen jeglicher Art“ vergegenwärtigen. 32 Aus den tradierten Sprachgewalten auszubrechen und dem Subjekt zu einer Neugeburt, zu einem neuen Dasein zu verhelfen, vermag nur die poetische Sprache: „[…] die Spur ins Freie läuft mitten durch die Sprache selbst. […] wer poetisch sprechen lernt, bringt Atemfreiheit vom Anfang her auch in die Sprache mit, die wir mit unserem Einrücken in die historische Rede der Gewaltweitergaben erlernen.“ 33 Das poetische Wort wirkt befreiend, eröffnet neue Räume für die Welterfahrung. Es hilft gleichzeitig auch eine neue Wirklichkeit, neue Konstruktionen vom Ich hervortreten zu lassen: Zur-Welt-Kommen ist eigentlich ein Zur-Sprache-Kommen, und umgekehrt, die beiden Prozesse bedingen sich gegenseitig - eine Geburt in der Sprache und durch die Sprache. 250 Anita Czeglédy <?page no="251"?> Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit Ester Saletta Abstract: Der vorliegende Beitrag versucht Albert Drachs „unkonventio‐ nellen” Mehrsprachigkeitsbegriff aus der Perspektive der vergleichenden Sprachwissenschaft zu untersuchen. Dabei geht es aber nicht um eine Zweisprachigkeit, sondern um eine literarische und rechtswissenschaftliche Sprachkoexistenz. In diesem Sinne versteht man, wie das Motiv der Mehrspra‐ chigkeit bei Drachs Kunst in einer polyvalenten Dimension sich kristallisiert wobei der Begriff Zweisprachigkeit auch eine immanente Sprachpolyvalenz, d. h. jene der Sprachkoexistenz des juridischen bzw. literarischen Kanons in sich automatisch inkludiert. Albert Drachs Protokolle Das grosse Protokoll gegen Zwetschkenbaum (1964), Z. Z. das ist die Zwischenzeit. Ein Protokoll (1968), Untersuchung an Mädel (1991), Kleine Protokolle und das Gogglebuch (1993) zeigen dies stilistisch und inhaltlich besonders deutlich. Untersucht wird die schematisch sachliche Schreibart in Drachs Protokollen sowie darüber hinaus deren panoptischer sozialer Blick und deren Fokus auf genderbezogene Beschreibungen. Keywords: Gerechtigkeit, Justiz, Intertextualität, Sprachpluralismus 1. Es ist nicht so leicht, in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur neue Sujets zu finden, die über eine eigene, spezifische und so besondere Schreibart verfügen, die das Interesse und eine neugierige Aufmerksamkeit des Publikums beim Lesen aktivieren. Einer, dessen Werk all das anbieten kann, ist der österreichische Jurist und gleichzeitig auch Romancier, Dramatiker und Essayist jüdischer Abstammung Albert Drach (geboren in Wien 1902, gestorben in Mödling bei Wien 1995). Als Sohn des Mathematiklehrers Wilhelm Drach und <?page no="252"?> dessen zweiter Frau Jenny Pater wächst Albert Drach in der Donaumetropole auf, wo er bereits mit zwölf Jahren seine ersten Gedichte publiziert. Als der Vater im Jahr 1917 den Marienhof in Mödling kauft, übersiedelt die ganze Drach-Fa‐ milie dorthin, während Albert in Wien bleibt und nach dem Gymnasium Jura an der Universität Wien studiert. Nach dem Anschluss Österreichs und dem Berufsverbot für jüdische Anwälte (1938) verlässt Drach seine Heimat (vgl. Schobel, Eva (2002). Albert Drach. Ein wütender Weiser, Salzburg: Residenz Verlag, 180 f.) und flieht über Jugoslawien und Italien nach Frankreich. Er wird in verschiedenen Sammellagern interniert und schließlich in das Auslieferungs‐ lager Rives Altes deportiert. Von dort entkommt er den Nazis mit Hilfe von Dokumenten seiner Halbschwester. Das Kürzel „I.K.G“ auf seinem Heimatschein wurde von der „Israelitischen Kultusgemeinde“ zu „Im katholischen Glauben“ uminterpretiert. Bis zum Ende des Krieges versteckt er sich in Valdeblore, einem Bergdorf in den französischen Meeralpen. 1946/ 47 kehrt er nach Öster‐ reich zurück und arbeitet an seinem autobiographischen Emigrationsbericht Unsentimentale Reise (1966). Drach findet keine Publikationsmöglichkeit für das bereits im Exil entstandene und 1939 vollendete Große Protokoll gegen Zwetschkenbaum und er findet auch keine Aufnahme in den österreichischen Schriftstellerverband. Er muss wieder - wie vor der Emigration - seinem Beruf als Anwalt nachgehen. 1954 heiratet Drach seine langjährige Geliebte Gerty Rauch, mit der er im „Drach-Hof “ in Mödling lebt. Im Jahr 1964 erscheint endlich Das Große Protokoll gegen Zwetschkenbaum im Langen-Müller Verlag. Das war ein so großer Erfolg, dass der Verlag eine Werkausgabe des erst mit 62 Jahren entdeckten Schriftstellers vorbereitete. Der unverhoffte Erfolg hat einen ungeheuren Produktionsschub zur Folge. Es entstehen die Romanprotokolle Z. Z das ist die Zwischenzeit (1968) und Untersuchung an Mädeln (1971), die Drach innerhalb eines Jahres zu Papier bringt. 1965 erscheint Die kleinen Protokolle, die freundlich rezipiert und besprochen werden. Trotz der Veröffentlichung der Dramenbände Das Kasperlspiel vom Meister Siebentot und weitere Verkleidungen (1965) und Das Aneinandervorbeispiel (1966) ist Drach kein Erfolg als Dramatiker beschert. Der 1966 veröffentlichte autobiographische Roman Unsentimentale Reise ist kaum wahrgenommen worden und Drach wird von Kritikern - wie auch bei den zuvor erschienenen Romanen - auf seinen altmodischen Kanzleistil reduziert. Erst 1988 im Alter von 86 Jahren wird Drach durch die Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis wiederentdeckt, nachdem er ab den 1970er Jahren, in denen er u. a. den Essay über den Marquis de Sade, basierend auf dessen Originalen und jenen seiner Kontaktpersonen, veröffentlicht hatte, als 252 Ester Saletta <?page no="253"?> 1 Die letzten Publikationen von Drachs Texten gehen zurück zum Jahr 2002 bzw. 2018, als der Zsolnay Verlag Drachs Werkausgabe (2002) und den Band „O Catilina“/ Kudrun mit einigen Prosatexten aus Drachs letzter Schriftphase veröffentlichte. 2 Schobel, Eva (2002). Albert Drach. Ein wütender Weiser. Salzburg: Residenz Verlag, 87. 3 Schobel (2002: 226). 4 Schobel (2002: 45). 5 Vgl. Die historische Rekonstruktion des „Falls Albert Drach“ wird meisterhaft dank der Einleitung des Germanisten Luigi Reitani für die italienische Übersetzung von Drachs Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum durchgeführt. 6 Schobel (2002: 485). berühmter Schriftsteller anerkannt. Seit einigen Jahren 1 ist nichts mehr von ihm über den Buchhandel erhältlich, obwohl seine bekanntesten Werke in der für Drach typischen Verwendung der indirekten Rede sowie in einem nüchternen bis ironisch distanzierten und innovativen Protokollstil abgefasst sind. 2 Aber weder die Problematik des Exils 3 noch Drachs Sprachskepsis wurden von der zeitgenössischen Kritik erkannt. Drachs Literatursprache, sein Protokollstil, wird darin als skurriler Kanzleistil miß‐ verstanden und verharmlost. Für Drach handelt es sich um einen Anschlag auf seine Integrität als Person und Schriftsteller, auf sein kraft eigener Kreativität nach Unsterblichkeit verlangendes Wesen. 4 Aus diesem Kontext entsteht der noch heute aktuelle Begriff „der Fall Albert Drach“ 5 , der in einer literarischen, verlagsgeschichtlichen und germanistischen Perspektive als ein Skandal ersten Ranges zu verstehen ist. Der italienische Germanist Luigi Reitani betont, dass der Name von Albert Drach Ende der 1970er Jahre völlig in Vergessenheit geraten war. Erst später in den 1980er Jahre, dank André Fischers Dissertation über den Autor, wurde die Aufmerksamkeit wieder auf ihn geweckt insbesondere, weil er […] die Wut [spürt], die mit jedem Wort deutlicher in Drachs Stimme vibriert, und sie überträgt sich auf ihn. Wut über etwas, das Heimito von Doderer Apperzep‐ tionsverweigerung genannt hätte. Apperzeptionsverweigerung seitens des Literatur‐ betriebs, der einen Schriftsteller dieser Produktivität und Qualität nicht entsprechend wahrnimmt. 6 Es folgte ein langer Artikel am 11. August 1987 in der „Süddeutschen Zeitung“, wo man die dunklen und nicht immer sehr transparenten Mechanismen der Ver‐ lagspolitik kritisierte. Ab diesem Moment kümmert sich der Autor und Kritiker Michael Krüger, Vorsitzender des Hanser Verlags, um den „Fall Albert Drach“. 1988 entscheidet der Verlag, den autobiographischen Roman Unsentimentale Reise neu zu publizieren, der sofort auch auf Französisch erscheint. Drachs Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 253 <?page no="254"?> 7 Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin (11). Schreiben durch Umschreiben. Abrufbar unter: ht tp: / / www.albert-drach.at/ leben-werk/ wissenschaftliche-texte/ wendelin-schmidt-deng ler/ (Stand: 10.08.2015). inhaltlich und sprachlich viel zu komplizierte und kryptischeTexte gewinnen bis zu seinem Tod keine so große Verlags- und Publikumsaufmerksamkeit, sodass sich die These, dass profilierte und anspruchsvoll schreibende Schriftsteller erst dann die ihrem Werk gebührende Anerkennung bekommen, wenn sie tot sind, völlig bewahrheitet. Die Schuld dafür ist nicht nur selbstgefälligen Verlegern zuzuschreiben, sondern auch den Verantwortlichen bei Feuilletons und den Germanistik-Vertretern an den Universitäten. Gemeinsam mit den italienischen Germanisten Claudio Magris, Luigi Reitani sowie dem österreichischen Germa‐ nisten Franz Haas, ist der Name Wolfgang Preisendanz, der Drachs Werk als „die grausame Zufallskomödie der Welt“ gelobt hat, die einzige Ausnahme in der Rezeption von Drachs Werken. In seinen Augen ist Drach tatsächlich ein raffinierter Zeitzeuge, dessen präzise und sehr besondere, literarisch ästhetische Valenz von Form und Sprache geschichtliche Episoden aus der Zeit der Ersten österreichischen Republik und dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter die Lupe setzt. Beide Kritikergruppen haben Drach immer mit einer bestimmten Antipathie betrachtet auf Grund seiner ironischen, sarkastischen, makabren und unhöflich blasphemischen Haltung (vgl. Drachs Behauptung „Gott schläft“ als Nietzsches Variante des Zitates „Gott ist tot“), die auch jene seiner literarischen Figuren widerspiegelt. Drachs Stil - schreibt Schmidt-Dengler - mag irritieren, vor allem die Liebhaber des Direkten. Er mutet an wie ein Ritual; der zeremonienhafte Gestus indes triumphiert über die Rohheit des Direkten und will einer Wahrheit dienen, die jenseits der Kolportage und der Chronik liegt. Erzählen heißt, einen Sinn stiften. Erzählen wäre angesichts dieser Ereignisse eine Verharmlosung. Drach erzählt trotzdem, aber auf bewußt irritierende Weise. 7 Bekannt ist die monoton grausame Dummheit sowie auch die Opposition von kunstvoller, stilisierter und fingiert umständlicher Sprache, die zusammen mit der Banalität ausführlich berichteter Details des Faktischen ein immer wieder sehr passives und in sich widerholendes steriles Erzählklima produziert. Bei dieser so unproduktiven narrativen Struktur der fiktiven Geschichtsdarstellung entsteht nur eine radikale Absurdität, Sinnlosigkeit und Leerheit des Sagens, die die Dimension des Alltagslebens in eine metaphorische Todesstille verwandelt. Grund dafür ist meistens die für Drachs Sprachkunst so charakteristische Darstellungsmodalität des Protokollstils, des alles Symbolische, Metaphorische und Imaginative ausschließenden Faktenberichts. Es ist allemal eine gleichsam anästhesierte Optik, die selbst Paroxysmen des Unrechts, Unheils und Schre‐ 254 Ester Saletta <?page no="255"?> 8 Vgl. Fuchs, Gerhard (1995). Männer, Mütter, Mädel. Die Funktionalisierung des Weib‐ lichen bei Albert Drach. In: Fuchs, Gerhard/ Höfler, Günther A. (Hrsg.) Albert Drach. Graz: Droschl, 79-121. ckens mit extremer Sachlichkeit, Emotionslosigkeit und Distanziertheit zur literarischen Sprache bringt. Die ausschließliche Außenperspektive und Refle‐ xionslosigkeit des Protokollstils mobilisiert im Leserpublikum Gegenansichten und Gegenmotive, die sich als transparente Verkürzung, Verfremdung, Entstel‐ lung übler Sachverhalte und traumatischer Erfahrungen auch autobiographi‐ scher Natur erweist. Die sprachliche Kluft zwischen dem Eigentlichen und seinem Niederschlag zwingt den Leser unausweichlich zur Wahrnehmung der Ausgegrenztheit der Sprache selbst. In diesem Sinne löst sich Drachs artifizielle und absichtlich literarisch montierte, protokollartige Schreibweise durch eine bestimmte Besessenheit auf Details, durch Parodie und Selbstironie, die an die sterile, traditionell bürokratische Kanzleiredeart von Behörden erinnert, auf. Das gleiche gilt auch für Drachs Vorliebe, moralisch gravierende, böse, empö‐ rende Dinge zu bagatellisieren, zu banalisieren oder in eine komische Perspek‐ tive zu rücken. Deutlich erscheint hier der Doppelaspekt des Komischen und des Skandalösen, der auch eine gewisse tragisch-dramatische Nuancierung in sich trägt. Paradoxerweise erhebt dieser bei Drach Anspruch auf einen positiven Sinn der Negativität. Deswegen muss man Drachs Zynismus als notwendiges, fast homöopathisches Mittel gegen die Absurdität der individuellen sowie auch der kollektiven Vernunft verstehen. Drach betrachtet den ironischen Zynismus als eine kurative, humorvolle, rationale Sprachprovokation, um die irrationale Ver‐ nunft der Kontingenz zu denunzieren und gleichzeitig auch zu korrigieren. Das Paradox von Drachs Komik liegt in der Unfähigkeit, Sprachkomik einzusetzen, er bringt den Leser zum Weinen anstatt zum Lachen. Komisch ist auch Drachs „unsentimentale“ Reise durch die Urgeschichte deutscher Gemütsbewegungen, die die imaginäre Geschichte des Goggelbuchs beschreibt. Von Mittelmeersehn‐ sucht und Heimatverbundenheit ist die Rede, von Antisemitismus und dem vielbeschworenen „Faustischen“, das im Unterschied zu Goethe oder Thomas Mann nicht zur Tragödie wird. Alles bleibt nur eine komische Schelmenroman‐ geschichte, in der eine lächerliche Figur namens Gottgetreu Goggel Protagonist ist. Man kann folglich von einer konfliktbeladenen, widersprüchlichen, irritie‐ renden, pathosfreien Trauerarbeit sprechen, die Drachs Leben und Kunst seit immer begleitet und prägt. Der Menschenfeind und insbesondere Frauenfeind 8 Albert Drach, der eine chaotische, unstrukturierte und unaufgelöste Dimension des Schriftsteller- und Juristenseins in sich trägt, ist die Verkörperung einer kritisch exzentrischen Existenz an der Grenze zwischen dem Versuch innerer Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 255 <?page no="256"?> 9 Schobel (2002: 129). 10 Schobel (2002: 189 f.). 11 Vgl. Lenhart, Elmar. Albert Drachs Life-Writing (2011). In: Foltinek, Herbert/ Höller, Hans/ Rössner, Michael (Hrsg.) Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. XLII, 339-362. 12 Drach, Albert. Eigenhändige Einführung. Nebst einer Widmung für Werner Riemer‐ schmid. Typoskript S. I-III, S. II. zit. nach Schobel (2002: 105). Harmonisierung des Ich und dessen immer extrem latenter Ambiguität des unvollkommenen Nicht-Seins. 9 Hier versucht er fast bis zum Ende seiner Tage, sich des physischen und psychi‐ schen Überlebenskampfes zu vergewissern, immer noch auf der Suche nach einer Lebensberechtigung und einer Identität, die ihm von den zu ‚Herrenmenschen‘ mutierten Verfolgern abgesprochen worden war. Schreiben hat für Drach immer schon Überleben geheißen. […] Wann, wie und wo immer Drach auf seine Verfolgung zu sprechen kommt, niemals hat er es für möglich oder anstrebenswert gehalten, die infame Gefährdung von Leib und Leben, den ebenso barbarisch brutal wie penibel bürokratisch in Angriff genommenen Zerstörungsversuch jeder dem Menschen sonst als selbstverständlich zugestandenen Existenzgrundlage zu ‚bewältigen‘. 10 In Drachs juristisch literarisierter Weltvision gibt es kein Subjekt, sondern nur einen dunklen, dubiosen und vor allem durch und durch banalen Menschen, der keine Selbstkenntnis hat, weil er täglich unter dem Joch der kafkaesken Lebens‐ kräfte leidet. Er ist unfähig die Motive und die Regeln der Existenz zu verstehen, sodass er sie nur passiv, fast mechanisch akzeptieren kann, als ob er von ihnen gelähmt würde und wie von einer Medusa versteinert bliebe. Drach hat also seinen Protokollstil sowohl als sprachlich-genuine Äußerung seines Wesens als auch als Erkenntnismittel aufgefasst, mit dem sich die Wahrheit hinter der Wirklichkeit begreifen lässt. Unter dem Begriff ‚Wahrheitssuche ‘ versteckt sich in Drachs Sprachkunst eine tiefere Suche, d. h. eine stilistisch-formale Suche, die die Normen der klassischen Gattungen zu erfüllen bzw. zu bearbeiten versucht. Lyrik, Epik und Dramatik müssen in Drachs literarischer Vision theoretisch streng getrennt bleiben, aber praktisch hat der Autor dann gerade durch die Schöpfung des Protokollstils paradoxerweise an eine Erzähldimension gedacht, in der die Koexistenz von unterschiedlichen Formen des Schreibens und des Darstellens die Regel ist. 11 Die epische Breite habe ich mich bemüht durch epische Kürze zu ersetzen. Damit alles Lyrische und Dramatische ausgeschaltet werde, hielt ich es für angebracht, auf Farbenführung und Dialog zu verzichten. Im Interesse der Objektivität ist von mir die protokollarische Darstellung gewählt worden. 12 256 Ester Saletta <?page no="257"?> 13 Schobel (2002: 140). 14 Vgl. Schobel, Eva (1995). Albert Drach - Ein lebenslanger Versuch zu überleben. In: Fuchs, Gerhard/ Höfler, Günther A. (Hrsg.) Albert Drach. Graz: Droschl, 329-347. 2. Handelnde Protagonisten erscheinen in einer artifiziellen, sehr klassischen Kulturtradition, die aus Drachs Herkunft, nämlich aus seinem Judentum und Deutschtum, stammt. Solch konstruierte Sprache produziert stereotypisierte Figuren, die sowohl an den Kasperl als auch an den ewigen Juden erinnern. Der Kasperl, eine leb- und wesenlose Strohpuppe, wird kraft der Blut- und Wortspenden seiner Umgebung zum alles beherrschenden Ungeheuer. Jeden Satz, der gesprochen wird, spricht er nach, jede Phrase, die gedroschen wird, drischt er doppelt und dreifach zurück. Er ist einfach nur eine direkte Projektion des allgemeinen Denkens und deswegen ist er ein artifizielles Massenprodukt, das gerade von der Masse seine Macht erhält, weil sich in ihm die allgemein diffuse Dummheit zur besonders zielgerichteten Bosheit verdichtet. Das beste Beispiel dafür in Drachs Kunst ist zweifellos Hitler, Deutschlands Führer, den Drach durch die Lektüre von Mein Kampf kennengelernt hat. Denkt er an Hitler, so erscheint ihm dieser nicht als Büttel der Bourgeoisie, als Konsequenz des Kapitalismus, sondern als inkarnierte Gemeinheit, die er in seiner Darstellung greifbar machen will. Er sucht einen Namen für seine konzipierte Figur. Dieser Name, schreibt er in Z. Z., mußte über die Gestalt hinausragen, sie aufheben und in ihrer Hohlheit ausweisen‘. Ein Kasperl namens Siebentot also. Ein Wurstel aus dem Inventar des Wiener Volkstheaters, der traditionellerweise allerdings die Funktion hatte, mittels dem Mutterwitz und volkstümlichem Humor, dem Schwarzweißschema der naiven Fabel folgend, den Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Drach kehrt dieses Prinzip um: Sein Kasperl […] wird […] das Böse, auf das das aDumme, wenn man es unbeherrscht grassieren läßt, hinausläuft. 13 Immer wieder wird kritisch diskutiert, ob die Darstellung Hitlers als Kasperl nicht wahrscheinlich eine Verharmlosung impliziert. In diesem Sinne haben Konrad Paul Liessmann und Kurt Neumann hervorgehoben, dass das satirisch nestroyanische Prozedere und das Verfahren der Imitation Mittel sind, den Schrecken des Faschismus künstlerisch darzustellen bzw. dass das Prinzip der strategischen Sprachwiederholung genau auf den Moment abzielt, in dem die Sprache sich in eine brutale physische Gewalt verwandelt. 14 Die Brutalität von Drachs Schreiben basiert auf der skandalösen, respektlosen, unmoralischen Komik, die nicht nur eine direkte, deutliche Verbundenheit mit der skurrilen Sexualität der Geschlechter in sich zeigt, sondern auch mit der dummen Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 257 <?page no="258"?> Banalität des zynischen Alltags, in dem es nichts zu erklären, zu bewältigen oder zu versöhnen gibt. Den durchschnittlichen Kasperl-Typ identifiziert man am besten nicht nur mit dem Täter, sondern auch mit dem Opfer par excellence, d. h. mit dem Juden, der in Drachs Texten immer auch als Schelm beschrieben ist. Exemplarisch ist hier Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum (1964), dessen theatralische Handlung an eine fast unbesorgte und trotzdem dramatische Vision der sozialen Vielschichtigkeit der österreichischen Gesellschaft in jener Zeit an der Grenze zwischen Monarchie und Republik erinnert. Der Roman ist in einem ländlichen Gebiet in Österreich Ende des Ersten Weltkriegs und während der ersten Nachkriegszeit angesiedelt. Er erzählt in Form eines Gerichtsproto‐ kolls die Geschichte des 24-jährigen galizischen Talmudschülers Schmul Leib Zwetschkenbaum. Dieser wird unter einem Zwetschkenbaum sitzend verhaftet unter der Anklage, von diesem Zwetschken gestohlen zu haben. Vom Gerichts‐ arzt wird er in die Irrenanstalt eingewiesen. Dort wird er von einem Mitinsassen schwer verletzt. In der Krankenstation wird er Zeuge einer Vergewaltigung und flieht mit dem Fluch die Anstalt solle verbrennen, die in diesem Moment Feuer fängt. Auf der Flucht gelangt er wieder zu dem Bauernhof mit dem Zwetsch‐ kenbaum. Der Bauer, der seinen leeren Stall in versicherungsbetrügerischer Absicht niederbrennt, liefert Zwetschkenbaum als angeblichen Brandstifter der Polizei aus. Bei der Einnahme vor Gericht bricht Zwetschkenbaum zusammen und wird ins Spital eingeliefert. Hier macht er die Bekanntschaft der beiden Kleinkriminellen Stengel und Himbeer. Der Gerichtsarzt hält ihn für unfähig, die beiden Brandstiftungen begangen zu haben, das Verfahren wird eingestellt. Zwetschkenbaum wird wieder ins Irrenhaus überstellt. Hier erfährt er eine Vorzugsbehandlung mit Einzelzimmer und guter, sogar koscherer Verpflegung. Eine angebliche Erbschaft nach seinem Bruder Salomon ermöglicht es ihm, bei jüdischen Kleinhändlern als Kostgänger unterzukommen. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Verwalter des Erbes erfriert er in Wien beinahe und wird von seinen Bekannten Stengel und Himbeer gerettet. Diese wollen sich sein Erbe aneignen und richten ihm ein Kleidergeschäft ein, das dazu dient, ihr Diebesgut zu verkaufen. Als Zwetschkenbaum wegen Hehlerei wiederum verhaftet wird, lüftet sich das Geheimnis um die angebliche Erbschaft: Das Geld stammt von all den Personen, die an Zwetschkenbaum schuldig geworden waren und es wurde von Dr. Schimaschek, einem Rechtsanwalt, der mit Zwetschkenbaum im Irrenhaus interniert war, eingesammelt. Der mit der Untersuchung gegen Zwetschkenbaum betraute Richter, Baron Dr. Xaver Bampanello von Klader‐ itsch, ordnet die Abfassung eines umfassenden Protokolls an, das dem Leser vorliegende große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. In dieser realistischen und ausführlichen Beschreibung wird eine latente und sehr verbreitete antisemiti‐ 258 Ester Saletta <?page no="259"?> 15 Zit. nach Settele, Matthias (1992). Der Protokollstil des Albert Drach. Recht, Gerechtig‐ keit, Sprache, Literatur. 1343. Reihe I Deutsche Sprache und Literatur. Frankfurt am Main: Peter Lang, 11. 16 Luigi Reitani hebt hervor, dass Drachs Darstellung der chassidischen Ostjuden auch auf einer Sammlung von Nebeninformationen, die Drach dank des Rabbi von Mödling Albert Schweiger bekommt, basiert. Vgl. Reitani, Luigi (2006). Postfazione. Nel segno di Caino. In: Drach, Albert (2006). Il verbale. Udine: Forum, 226. sche Stimmung entlarvt, die nicht direkt von den Protagonisten erzählt wird, sondern indirekt durch die Hinweise auf eine protokollarische Darstellungsmo‐ dalität, in der die Taten in den eingereichten Prozess-Akten zu finden sind. Es gibt also einen anonymen, unpersönlichen Ich-Erzähler, der alles akribisch verbalisiert, sodass die Erzählperspektive völlig umgekehrt erscheint. Statt eines naiven Subjekts, das wie ein Schelm die Welt abenteuerlich entdeckt, gibt es eine ungreifbare Justizmaschine, die das Leben der Menschen in Besitz nimmt. Die Menschen werden dann so stark manipuliert, dass sie davon überzeugt sind, dass jene der Justizmaschine die einzige, indiskutable, gesetzliche Sprache der ewigen Wahrheit sein kann. Das Resultat ist, dass die Justizmaschine fast wie eine göttliche Figur vor den Augen der durchschnittlichen Menschen erscheint und auch, dass die ganze Welt höchst bürokratisiert ist, genau wie Drachs Lebenswahrheit. Wie könnte dies auch anders sein, wenn man bedenkt, dass Drach Sohn seiner österreichischen Heimat und ihrer Wiener k. u. k-Bürokratie ist. Typisch österreichisch […] ist Drachs […] sarkastische Beobachterstellung gegenüber der stupiden Umgebung. […] „Grantigkeit“ - auf Identifizierung mit dem Objekt des Tadels zurückzuführende Übellaune - ist eine recht österreichische Attitüde. 15 Wien ist ein zentrales Schlüsselwort in Drachs Erzähl- und Identitätskunst, das auch das Bild des Ostjuden Zwetschkenbaum beinhaltet, das wiederum auf dem Klischee der jüdischen Kaufleute der Leopoldstadt in den 1930er Jahren basiert. 16 Zweifellos ist diese Erzählfigur völlig stereotypisiert, entsprechend dem Format der Nachkriegszeit, wobei der Ostjude meistens nur durch seine Sprache, das Jid‐ disch, identifiziert wird. Drachs sprachliche Charakterisierung des Ostjuden ist eine absichtliche Deformation des sprachlichen Klischees, um drei Erzähleffekte zu erzielen. Erstens eine besonders tiefe, fast dramatisch groteske Stimmung, in der der Ostjude noch mehr als sonst als armer Kerl erscheint, zweitens eine verstärkte Inszenierung der ideologischen und rassistischen Tendenz in der Gesellschaft, die den Ostjuden auf ein soziales Nichts reduziert, und drittens eine individual-kollektive nicht modifizierbare Schicksalsidentität, die den Ostjuden zwingt, sein seelisch verarmtes Leben sprachlos, ohne Rebellionshandlungen zu Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 259 <?page no="260"?> 17 Höfler, Günther A. (1995). „Wenn einer ein Jud ist, ist die Schuld genug“. Aspekte des jüdischen im Werk Drachs. In: Fuchs/ Höfler (1995: 194-199). 18 Drach, Albert (2003). Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. München: dtv, 261. 19 Drach (2003: 265). 20 Drach (2003: 241 f.). akzeptieren. Sprachlos ist hier nicht wörtlich zu verstehen, da der Ostjude doch eine Sprache spricht, aber sein Jiddisch ist so deformiert, dass es unverständlich geworden ist, ebenso unverständlich wie die protokollarische Sprache der juristischen Bürokratie. 17 Wenig hilfreich ist ein Traum Zwetschkenbaums, in dem die Sprache nicht mehr die Sprache des Justizprotokolls ist, sondern ein innerer Monolog, der bis zum Ursprung seiner Identität durch eine Reihe von unbeantworteten Fragen verinnerlicht ist, sodass sich das ganze jüdische Volk in ihm widerspiegelt. In diesem Sinne seien die Gedanken des Schmul Leib Zwetschkenbaum gegangen, als der Wagen in die Bahnstation des Ortes einfuhr, in dem Meier Druckmann wohnhaft war. Warum er zu Druckmann überhaupt noch gefahren sei? Um Aufklärung zu erhalten. Was für Aufklärung wohl? Habe er durch die empfangenen Mitteilungen noch nicht genug Aufklärung gehabt? Vielleicht auch, um Ruth zu sehen. Auch hatte er alles wissen wollen, alles bis auf den Grund. Habe er nicht zu Hause ein Weib zurückgelassen, das von ihm schwanger und zudem von Krankheit bettlägrig war und das er nun der Schande aussetze, die er für sich vermeiden wolle, der er offenbar durch Flucht auszuweichen beabsichtigte? 18 Und noch weiter: Hiermit befand sich Zwetschkenbaum an der Pflanze, um die er sich drehen sollte, so oft sich die Welt mit ihm drehte, und von der er nicht loskonnte. Er habe gedacht, sie hätten ihnen (wohl den Juden) Namen gegeben, daß man mit den Fingern auf sie zeige, und hätte sie mit dem Fuß in die Welt hinausgestoßen und müßten es tragen im Gesicht, im Körper, in der gebeugten Haltung, in der Sprache, in allem, was ein besoffener Beamtenlümmel ihnen habe als Namen um den Hals gehängt wie dem Hund seine Marke, und müßten es tragen eingebrannt in die Haut, in vom Pogrom zerbrochenen Gliedern, vom Ghetto verbogenen Rücken und im Herzen, das so zucke wie bei einem Tier, das man habe gefangen und halte in der Hand fest. 19 Aus diesem letzten Zitat versteht man, dass das thematische Zentrum des Protokolls die Judenfrage in der Moderne ist. 20 Was die sprachliche Eigenschaft des Protokolls betrifft ist es die inhaltliche Widersprüchlichkeit zwischen der Identität der rein jüdischen Herkunft Zwetschkenbaums, der nie Kompromisse eingegangen und seine jüdische Natur immer stolz gezeigt hat, und jener 260 Ester Saletta <?page no="261"?> 21 Drach (2002: 218). der assimilierten Juden, die hingegen ihr Jüdischsein aufgegeben haben, um unter dem Joch des Geldes, des Wohlstands und der Eigeninteressen zu leben, sodass sie seelisch völlig verarmt sind. Die Geschichte Zwetschkenbaums, die von Verfolgung und Gewalt, Leid und Resignation geprägt ist, ist symbolisch auch die Geschichte des Identitätskampfes eines ganzen Volkes, das, anstatt seine Identität gegenüber einer säkularisierten, amerikanisch orientierten, as‐ similierten Zivilisation zu verleugnen, Opfer des Leidens und der tödlichen Ausbeutung bleiben will. Deutlich wird dies auch an Hermine Bismuts Mo‐ ralerziehung. Diese wird durch Zwetschkenbaums Erziehungsprinzipien, die auch das Erlernen der gotischen und lateinischen Schrift, das moderne und unmoralische Tanzen sowie das Haareschneiden und das Wechseln des Namens inkludieren, indoktriniert. Nach und nach gab er Gewohnheiten auf, die ihm ebensosehr Tradition bedeuteten wie die Bearbeitung seiner Bart- und Haupthaare. Er nahm dafür die westlichen Errungenschaften an, über die er nicht nachdachte. Seinen Müßiggang vertauschte er mit der für ihn gewinnlosen Unterstützung eines ihm fremden Geschäftsmannes im Kundenbetrug, wobei er allerdings an der bösen Absicht des anderen wahrscheinlich nicht teilnahm, zumal er vom Wert der Waren nichts verstand. Neben dem Talmud, welchen er in Freizeit wieder zu lesen begann, versenkte er sich in die Werke Goethes und Schillers und fand alles bezaubernd, was er las. Hermines Dienste als Lehrerin ließ er weiter über sich ergehen; von ihren Liebesbezeugungen, die er doch wohl schon als alleinigen Grund ihrer Lehrfreudigkeit erkennen mußte, machte er wie bisher keinen Gebrauch. So mußte man annehmen, daß er sich wie ein Schlafwandler verhalte, dem die von ihm ausgeübten Handlungen und Unterlassungen nicht vollends zum Bewußtsein gelangen, oder aber, daß schon sein alter Charakter nichts taugte und er darauf noch einen künstlichen neuen aufgepfropft trug, so daß er sich fallweise bald des einen, bald des anderen bediente, ohne die Widersprüche störend zu empfinden, die sich aus dem mangelnden Einklang der beiden zwingend ergaben. 21 Auch in diesem Fall hat Drach Joseph Roths negativer Beurteilung der jüdischen Assimilation im Sinne einer radikalen, seelischen Identitätsentwurzelung zuge‐ stimmt. Der einzige Unterschied ist die Tatsache, dass Drachs Zwetschkenbaum eine innere Resilienz zeigt, die Roths Hiob nicht hat, und die er mit chassidischer Resignation und geduldiger, religiöser Belastbarkeit und Toleranz auf sich nimmt, als ob sie Teil seines von Gott stammenden Schicksals wäre. Vehement hat sich Drach gegen jene Rezeption der sechziger Jahre verwahrt, die seinen Helden gerne mit Hiob des Alten Testaments, mit dem ewigen wandernden Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 261 <?page no="262"?> 22 Schobel (2002: 240). 23 Schobel (2002: 241). Juden Ahasver oder auch mit Hašeks bravem Soldaten Schwejk in Verbindung bringt. Hiob komme nicht in Betracht, weil der mit seinem Gott ob des erlittenen Unrechts hadert, während Zwetschkenbaum versucht, sein Leiden freudig zu ertragen. Ahasver sei keine verwandte Gestalt, weil es dem Chassiden Zwetschkenbaum nie eingefallen wäre, seinem Gott die Rast zu verweigern. Schwejk schließlich sei ein selbständig gewordener Sancho Pansa, der auch aus noch so irrationalem Verhalten Vorteile ziehe, zum Beispiel den, nicht am Krieg teilnehmen zu müssen. 22 Er versucht tatsächlich fast immer die negative Alltagsrealität durch eine träumerische Lebensvision zu ersetzen, die ihm die Chance gibt, einige Oasen der Zufriedenheit illusorisch zu erwägen. Diese sind aber nur vorläufige Glücks‐ momente, die sofort verschwinden alsbald als Zwetschkenbaum sich vor dem Baum, der seinen Namen trägt, befindet. Hier ist Zwetschkenbaum prinzipiell ein seelisch total nackter, unbewaffneter und schwacher Mensch ohne spezifisch jüdische Merkmale. Seine Existenz ist von allem Anfang an eine erfolglose, weil absolute Moral, wenn sie verwirklicht werden könnte, die absolute Negation ist. Da er ein Chasside ist, glaubt er, daß sein Dasein zur Freude gereicht, die er auch in seinem unendlichen Leiden zu finden glaubt. So versucht er, es allen Menschen recht zu machen, um den Bösen zu entrinnen. 23 Und als solche ist er das personifizierte Opfer einer alternativen Justiz, die mit der Gerechtigkeit der absoluten neutralen menschlichen Frömmigkeit zu tun hat. Diese innere Neutralität des Menschen Zwetschkenbaum spiegelt sich auch in einer neuen Protokollsprache, die nicht mehr so manisch auf der Suche nach dem juridischen Detail des Erzählens ist, sondern meistens nur nach der Empathie der Seele und dem geduldig akzeptierten, unerlässlichen Lebensalltag. In diesem „unerlässlichen Lebensalltag“ muss Zwetschkenbaum auch die unangenehme Präsenz des Bruders Salomon inkludieren, der in einer adeligen polnischen Familie aufgewachsen und erzogen worden ist, und der jetzt in Gestalt des Grafen Josef von Grzezinsky mit einer anti-jüdischen nahezu nationalsozialistischen Haltung lebt. Ich fragte Herrn Grzezinsky, was er gerade gegen die Juden habe. Er meinte, nichts gegen sie zu haben. Aber hier handle es sich nicht darum, ob der Arzt das Meer‐ schweinchen hasse, an dem er Vivisektion betreibe, sondern nur, ob dieses sich zur Probe im Heilverfahren eigne. Seit geraumer Zeit, mit geringfügigen Unterbre‐ 262 Ester Saletta <?page no="263"?> 24 Schobel (2002: 269). 25 Schobel (2002: 269). chungen schon seit der Arche Noahs, sei das Vorhandensein, die Reinerhaltung und abgesonderte Aufzucht von Juden durch deren besondere Eignung zum schwarzen Mann für die Völker gerechtfertigt gewesen. Alte Vorurteile, das sind Reste altüber‐ kommener, zum Teil schon ihrer Gründe beraubter Ab- und Zuneigungen, spielten hier ebenso eine Rolle wie die ewige Fremdheit der weit über die natürliche Lebens‐ dauer von Völkern künstlich erhaltenen Gattung, die im Gefährdungsfalle nirgends wirkliche und auf die Dauer verläßliche Freunde antreffe. 24 Vor diesem ganz objektiven, manchmal auch ziemlich fürchterlichen, brutalen und angstvollen Argumentieren des Grafen Grzenziskys, antwortet der Ich-Er‐ zähler in einer monologischen Form folgenderweise: Nun gelte es diesmal, da alle andere Moral bereits überschwemmt und vermorscht sei, die einzige Widerstandsfähige zu heben und zu retten, dazu bedürfe es der Lenkung des schleusenlos gewordenen Stroms in ein festes Bett. Einmal das raffende vom schaffenden Kapital geschieden, würde sich die Menge mit der Zerreißung des Juden begnügen, den christlichen Nutzen aber unberührt lassen. Unternehmer und Arbeiter schlössen sich dann zusammen, die einen zwecks Beibehaltung und Erweiterung des Kapitals und die andern zu dessen Verteidigung und zum Angriff gegen das anderer Staatskörper: erstere hätten sohin den Kern des Begriffs Kapital gerettet, dessen häßliche, nur mehr im Namen enthaltene Haut letzteren zum Opfer gegeben würde. 25 Die so renovierte und völlig verinnerlichte Form des bürokratischen Protokolls‐ tils betont Drachs Technik der Distanz, in der die Wertung der Judenfrage als Denken in Schuldkategorien bereits selbst dem Schulddiskurs entspricht. Drachs erzählerische Haltung weist ironisch permanent auf ihr eigenes Tun hin, nämlich auf ihr Hantieren mit Schuldverhältnissen, und implizit auch darauf, dass sie sich damit eine metaphysische Kompetenz anmaßt, was die Erstellung eines Schuldbuches gegen einen ‚individual-kollektiven‘ Menschen wie eben Schmul Zwetschkenbaum eigentlich ist. Er ist tatsächlich eigentumsgefährdend und schizophren, ichsüchtig, nervös überreizt und phobisch, paranoid, idiotisch sowie kriminell und weist sittliches Irresein auf, das sofort an das jüdische Klischee denken lässt. Die Protokollform ist also das ideale Medium zur Verbrei‐ tung einer solchen Auffassung vom Menschen. Sie leistet durch scheinkausale Konstruktionen eine bestimmte Überzeugungsarbeit in Hinsicht dessen, was geglaubt werden soll, und referiert auf additive Weise Eigenschaften, die das Gesamtbild des Protagonisten suggeriert. Der Jude bleibt in sich prinzipiell nomadisch und folglich auch schuldig einer tradierten, falschen und unspezifi‐ Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 263 <?page no="264"?> 26 Vgl. Settele, Matthias (1995). Nach den Gesetzen geschlachtet. Recht und Gerechtigkeit bei Albert Drach. In: Fuchs/ Höfler (1995: 17). 27 Drach, Albert (1972). Stimmen nach Natur und zu Protokoll. Hörspiel. In: Drach, Albert. Gottes Tod ein Unfall. Dramen und Gedichte. Hamburg: Classen, 202. 28 Drach (2003: 268). 29 Vgl. Weininger, Otto (1920). Geschlecht und Charakter. Kapitel XIII. Wien: Wilhelm Braumüller Universitätsverlagsbuchhandlung, Gesellschaft M.B.H., 390-441. schen Unschuld, da beide Eigenschaften, seit jeher als Teil der jüdischen Natur innerhalb der Sündenbockmythologie definiert wurden. 26 Wenn einer ein Jud ist, ist die Schuld genug. Da braucht er nicht mehr, um sich den Tod zu verdienen. 27 Und noch weiter: […] nämlich den häßlichen Juden, den dicken Juden, der Geld hat, mit der Begründung, daß er es denen aus dem Volk entzogen habe, die es nicht besitzen, den dünnen Juden, dessen Hinterlist schon eine Anwartschaft auf Geld sei, und der es jenen aus dem Volk entziehen wolle, die es noch besitzen. 28 3. Die sprachliche Direktheit der Protokollform geht nicht nur in Richtung einer radikal innerlichen und sozialen Vernichtung der jüdischen Ich-Wir-Identität, sondern auch einer Entwertung der weiblichen Dimension, die Drach in bester österreichischer Tradition der Moderne, insbesondere mit Otto Weiningers Konzept des Judentums als Weib-Sein, in Verbindung bringt. 29 Und das, weil Drachs protokollarische Untersuchungen sich in drei Richtungen bewegen, gegen sich selbst, gegen das soziale und politische Umfeld und schließlich auch gegen die Frauen. Bei letzterem wird der weibliche Körper zum Untersu‐ chungsgegenstand, der als Objekt des Begehrens den ästhetischen Normen des männlichen Blicks zu genügen hat. Der Untersuchungsrichter Baldur Mausgrub aber sagte sich, daß am Anfang Gott den Menschen und sein Weib geschaffen hatte, also nicht den Mann und sein Weib. Es war etwas an der neuen Gattung, das tierisch blieb, und nur durch den Menschen und Mann und dessen Geselligkeit aus dem Tierischen erhoben werden konnte. Sie war auch bloß, wenn auch sinnbildlich, aus seiner Rippe gebildet, also nur ein Stück von einem Menschen. Sie hieß auch gegenüber dem Manne in den romanischen Sprachen das Weib, er aber der Mensch. Daß sie in diesen Breitengraden auch menschlich sein sollte, wird durch das sächliche Geschlecht nicht bestätigt. Sie bleibt höchstens das 264 Ester Saletta <?page no="265"?> 30 Drach, Albert (1991). Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll. München: Hanser, 178f. 31 Drach (1991: 96). 32 Vgl. Bronfen, Elisabeth (1995). Weiblichkeit und Repräsentation - aus der Perspektive von Ästhetik, Semiotik und Psychoanalyse. In: Bußmann, Hadumod/ Hof, Renate (Hrsg.). Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart: Kröner, 429f. Mensch, er - der Mensch. Aber ihre Beine waren unbedingt anziehend, und sie wußte es auch. 30 Immer wieder werden potentielle Sexualpartnerinnen nach dem Grad ihrer Attraktivität taxiert, der Grad der erotischen Faszination hängt vom Ergebnis einer Ab- und Einschätzung ab, die bei negativem Ausgang in die Abschätzig‐ keit mündet. Das sexuelle Begehren fungiert in Drachs Protokollen als eine omnipräsente und omnipotente Beschreibungs- und Existenzkategorie für die Protagonisten der Geschichte. Die Fixiertheit auf die weibliche Sexualität sieht Drach als Bereicherung im Leben, das bei Drach immer leer, monoton und langweilig konzipiert ist. Die Frage, ob Sexus allein das Leben rechtfertige, konnte sich auch immer wieder einem stellen, der sonst nichts hatte, dem seine Hantierung, sein Alltag zuwider waren und den familiale Verpflichtungen weder mit Genugtuung noch mit Interesse speisten. 31 Die effektive positive Wirkung der Sexualität im Rahmen von Drachs mensch‐ lichem Erzählalltag lässt all ihre Kraft nur spüren, wenn die Frau ihre erotische Stärke zeigt, d. h. wenn sie vom Mann als das schönste Objekt der Begierde gesehen wird. Wenn aber der Mann sie nicht als sexuell und insbesondere erotisch befriedigendes Wesen anerkennt, ist auch die männliche sexuelle Fähigkeit beim Sexualverkehr negativ beeinflusst. Das bedeutet, dass die Schuld eines unbefriedigenden Sexualverkehrs die Frau trägt, nicht der Mann, dessen Akt in seinem Tun deswegen begrenzt bleibt. Dieses Nicht-Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit lässt noch an einen weiteren Aspekt der Funktiona‐ lisierung des Weiblichen denken, wie er sich im Schönheitskult und in seiner Kehrseite, dem Hässlichkeitswahnsinn, manifestiert: an die Hoffnung, durch den Blick auf den idealen weiblichen Körper den eigenen Mangel auffüllen zu können. Die Frau wird also in einer Lacan-Perspektive beschrieben, „als Inhaberin eines in Bezug auf die Männlichkeit mangelhaften, supplementären Körpers“ imaginiert, gleichzeitig verspricht der weibliche Körper aber, „ein Gefühl der Unversehrtheit […], fungiert die Frau als Symptom für den Mann, als konstruktives Objekt seiner Phantasie. 32 Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 265 <?page no="266"?> 33 Bronfen (1995: 430). 34 Drach, Albert (1968). „Z. Z.” das ist die Zwischenzeit. Hamburg: Claassen, 280. So kann für die Duplizität dieses Signifikanten gesagt werden: Die Repräsentation der Frau als Differenz, Mangel, Verlust wirkt beunruhigend und bedrohlich, während die Repräsentation der Frau als Objekt der Befriedigung oder als entstelltes Selbstporträt des Mannes, als Kristallisationspunkt seiner Phantasien beruhigend und bestätigend erlebt wird. 33 Aus dieser Funktionalisierung und gleichzeitig auch Instrumentalisierung der Frau dem Mann gegenüber resultiert eine konstruierte Sprachstruktur des Er‐ zählens Drachs, d. h. als objektivierte Form einer geschlechterstereotypisierten Kategorie oder besser gesagt einer idealisierten Imagination, die die Ortlosigkeit des Gender-Signifikats die ästhetische Valenz des apollinischen bzw. dionysi‐ schen Begehrens symbolisiert. Man versteht also wie die Rolle der Frau ihre negative und positive Eigenschaft auf den Mann ausübt, sodass der Mann gezwungen ist, die Frau immer unter seinem Joch zu halten, wenn er seine männliche Dominanz nicht verlieren will. Die Bewahrung der männlichen Dominanz stimmt bei Drach mit der Fähigkeit des Mannes seine Identität als selbstbewusstes Individuum zu entwickeln überein. Der männliche Identitäts‐ aufbauprozess impliziert notwendigerweise die männliche Distanzierung zur Frau, also letztlich den Entschluss von ihr „wegzugehen“, wobei das Weggehen nicht immer in einem wörtlichen Sinn zu verstehen ist, sondern in einem rein metaphorischen. Beispiele dafür sind die Szenen aus dem Großen Protokoll, als der Sohn nicht von der Mutter umarmt oder geküsst werden will, „als wäre er durch diesen in seiner Männlichkeit verletzt.“ 34 Interessant ist hier die assoziative, thematische Korrespondenz zwischen Drachs Frauenbild und dem Frauenbild der österreichischen Jahrhundertwende, insbesondere in Schnitzlers Texten. In beiden Fällen ist das Frauenporträt fast immer nur das Bild des naiven, kindischen aber sexuell erotischen „süßen Mädels“, das ein doppeltes sexuelles Potential in sich trägt. Sie ist gleichzeitig „femme fragile“ und „femme fatale“ und als solche ist sie aus männlicher Imaginationsperspektive ein vergleichsweise harmloser Typus von natürlicher Sinnlichkeit mit praktischer Veranlagung. Anderseits ist die männliche Charakterisierung die eines Leutnant Gustls, wie Elmar Lehnart bei der Textanalyse des Prozesses von Stella und Esmeralda aus dem Roman Untersuchung an Mädeln. Ein Kriminalprotokoll gegenüber Joseph Thugut auch betont. Die beiden jungen Autostopperinnen Esmeralda und Stella werden während einer regennassen Nacht in einem Waldstück von dem Fahrer des Wagens, Joseph Thugut, der die beiden mitgenommen hat, vergewaltigt. Stella und Esmeralda sollen ihn daraufhin ermordet haben, doch die Leiche 266 Ester Saletta <?page no="267"?> 35 Lenhart, Elmar (2016). Albert Drach und das 20. Jahrhundert. Der Diskurs um Macht, Raum und Biopolitik. Wien: Böhlau, 195. 36 Vgl. Schobel (2002: 202-252) bleibt unauffindbar. Der Indizienprozess gräbt im Vorleben der Angeklagten nach Motiven und der Tat ähnlichen Handlungen. Beide sind durch Herkunft, Kindheit und mangelhafte Ausbildung an den unteren Rand der Gesellschaft geraten - nicht zuletzt deshalb, weil sie Frauen sind. Der Textabschnitt ruft Erinnerungen an Schnitzlers Leutnant Gustl wach, insofern dass ein unbedeutend erscheinender Vorfall in einer in einem inneren Monolog wiedergegebenen Gedankenspirale immer drastischere Ausmaße an Schuld und Scham produziert. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Es geht nicht um den Gesichtsverlust vor den anderen, sondern das Eingeständnis einer Schwäche vor sich selbst. Im Gegensatz zu Gustl kann Mausgrub seinem eigenen Urteil nicht entkommen. Während Gustl in dem Moment vor sich selbst gerettet ist, da der nichtsatisfaktionsfähige Herausforderer stirbt, ist Maugrubs Gegner er selbst und seine Schwäche untilgbar. 35 4. Es kann festgestellt werden, dass Drachs Hauptfiguren in ihren jeweiligen Räumen eingeschlossen sind oder ihre Bewegungen einen Kreis beschreiben, aus dem sie ausbrechen wollen, aber nicht können. Ihre Umgebung zwingt ihnen Spielregeln auf, sodass die Aufteilung meistens extrem bipolar bleibt, mächtige und ohnmächtige Figuren. Der Protokollstill mit seiner Sprachstruktur markiert diese Diskrepanz noch mehr, denn Drachs Protokollstil schreibt die Figuren in einer Rückschau in zweifachem Sinne ein. Einerseits interpretiert das Protokoll vergangene Ereignisse schematisch, auf eine bestimmte Argumen‐ tation hin ausgerichtet, andererseits wird damit auch die Zukunft der Figur präfiguriert, als eine vom Schicksal geleitete Entwicklung, die dem logischen Schema der Analyse der Vergangenheit folgt. Der Text resultiert folglich in eine überzeitliche Betrachtung des Subjekts aus der Sicht der Institution des Rechts, das nur daran interessiert ist, zu erfahren, wo, in welchen räumlichen Verhältnissen und in welchen Abhängigkeiten, sich das Subjekt befindet, um die Zwänge aufzudecken, denen diese Figur unterworfen ist. Das Protokoll entfernt sich zu diesem Zweck vom Objekt der Betrachtung, indem es nur ein Minimum an Empathie zeigt, und meistens nur eine zynische Machtsprache verwendet, die konstante persönliche Schuldgefühle aktiviert 36 , wie eben auch in Drachs Selbstporträt Unsentimentale Reise zu lesen ist. Geschildert werden Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 267 <?page no="268"?> 37 Drach, Albert (1990). Unsentimentale Reise. Ein Bericht. München: dtv, 73. aus der Ich-Perspektive die prekären Lebensumstände des österreichischen Juden Peter Kucku (bzw. Pierre Coucou) im französischen Exil, der ein leicht dechiffrierbares Alter Ego des Autors ist. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der letzte fast die Hälfte des gesamten Umfangs einnimmt und eine für den episodischen Schelmenroman typische Fülle an Personal und Handlungs‐ sequenzen umfasst, weshalb hier der Inhalt nur sehr gerafft wiedergegeben werden kann. Der erste Teil dreht sich um die Deportation und die Internierung, aus dem Coucou zusammen mit anderen Inhaftierten durch eine glückliche Fügung wieder entlassen wird. Ohnehin versucht Coucou mit allen Mitteln, den Nazis zu entkommen. Zu diesem Zweck lässt sich Coucou durch eine Schummelei von der französischen Regierung ein Attest ausstellen, dass er kein Jude sei, indem er das Kürzel I.K.G. (für Israelische Kultusgemeinde) auf seinem Heimatschein durch eine Notlüge zur Formel „Im Katholischen Glauben“ uminterpretiert. Der zweite Teil spielt mehrheitlich in Nizza, wo sich Coucou nach seiner Entlassung aus dem Lager eine gesicherte Existenz verschaffen will und dabei mit verschiedenen Leuten in Kontakt tritt, um an Geld, Unterkunft und Essen zu kommen. Er fühlt sich einigermaßen in Sicherheit, da Nizza von den Italienern besetzt ist, doch dauert es nicht lange und die Gestapo reißt die Stadt an sich, weshalb Coucou wieder fliehen muss. Der dritte Teil ist dem Aufenthalt in diesem Ort gewidmet, den Coucou mit merkwürdigen Bekanntschaften verbringt, aber auch in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sowie permanenten Geldsorgen. Meine Mutter habe ich nicht sterben sehen. Ich habe sie bloß ermordet. Ich habe sie zurückgelassen unter Hitlerschurken und -banden in dem Land, das einmal meine Heimat war, für dessen Volk ich nurmehr die tiefste Verachtung aufbringe, wie jetzt in diesem Augenblick für mich selbst, der auch ich diesem Volk angehöre, wenn ich auch außerdem ein Jude bin. Ich habe ihre Schreie nicht gehört, als sie starb. Ich wollte auch ihre mütterlichen Worte nicht hören, als sie noch lebte. 37 Die seelische Entfernung, die aus verschiedenen Erinnerungsbildern der Ver‐ gangenheit der Hauptfiguren stammt, spiegelt die entfremdete Räumlichkeit des narrativen Handelns, die den Figuren keinen Bewegungsspielraum schenkt. Die Situationen sind fast immer bekannt, manchmal alltägliche und grauener‐ regende, die immer wieder nahelegen, dass sich das freie Subjekt aufgelöst hat und sich in klaustrophobischer Enge wiederfindet, in Zwängen, die nicht nur das Verhalten steuern, sondern den Körper einsperren. Es ist definitiv eine Situation, die an Kafkas Erzähldynamik erinnert, wie Elmar Lenhart meisterhaft erklärt. 268 Ester Saletta <?page no="269"?> 38 Lenhart (2016: 149). Zwetschkenbaum steht nämlich unter keinem mir ersichtlichen Bann wie die Figuren Kafkas, seine Weigerung vor den Repräsentanten des Gesetzes ist durchzogen von seinen Versuchen, mit diesen zu kommunizieren, und wo er es kann, nimmt er die Gelegenheit zur Flucht wahr. Das Gesetz bei Drach ist ein von außen auf das Subjekt einwirkendes und deshalb anders gewichtet als Kafkas Türhütergesetz. Während Kafka keinen Zweifel an der Paradoxie lässt, die den Raum des Gesetzes umgibt, sind Drachs Figuren von dieser Paradoxie befreit. Das Gesetz steht auf einer Stufe mit Zwetschkenbaum selbst, und dessen Fluchtversuche sowie die erfolgreichen Manipulationen seiner Mithäftlinge evozieren weniger den Gedanken an ein Paradox als an der prinzipiellen Ungerechtigkeit des Rechts. Bei Drach schimmert die Hoffnung auf ein gerechtes Gesetz, auf ein Außen, welches Agamben in seiner Theorie nicht vorsieht durch das Narrativ durch. 38 Der Hinweis auf Agamben ist hier fast automatisch, wenn auch noch ziemlich indirekt und weist insbesondere auf die Metapher der Schwelle hin, nämlich auf jene Situation, in der man einen Raum weder betreten noch wirklich verlassen wird. Kurz: Es geht um die tiefe Unentschiedenheit der möglichen Verwirklichung einer bestimmten Selbsteinordnung des Ichs im Lebenskontext rund um ihn. Die Schwelle als Ort der Seele mehr noch als geographischer Ort in sich bezeichnet die Diskrepanz zwischen Privatem und Öffentlichem. 5. Die hier bis jetzt erwähnte Sprache der Sexualität und der Erotik sowie auch der Selbstbiographie bei Drachs Romanen konstituiert nur ein Teil von Drachs thematischen Erzählvarianten, die sich durch eine bestimmte, unpersönliche Eigenschaft der Amtssprache sowie durch einen höheren Abstraktionsgrad, der die Einbettung der Fachwörter in ein wissenschaftliches Begriffssystem erlaubt, definieren lassen. Die zahlreichen Dialektausdrücke und die vielen Wörter und Phrasen aus der Umgangssprache bilden einen scharfen Kontrast zum rechtssprachlichen Wortmaterial des Protokollführers. Direkte Reden der Romanfiguren, direkte Zitate aus Dokumenten kommen in Drachs Romanen äußerst selten vor und sind fast nie gekennzeichnet. Die Sprache der Figuren, deren Reden, Diskussionen, Verhöre machen trotzdem einen großen Teil der Romangeschichten aus. Fast alle Äußerungen werden jedoch indirekt wieder‐ gegeben: Entweder in der indirekten Rede des Konjunktivs, der oft über weite Teile durchgehalten wird oder zusammenfassend, paraphrasierend durch den Erzähler. Neben diesen Dialogen sind die Schlussplädoyers als große - referierte Albert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit 269 <?page no="270"?> 39 Vgl. Settele (1992: 33). - monologische Formen angelegt. Sie bringen eine Gesamtdarstellung des Falles aus verschiedenen Perspektiven, sind voll von Konjunktiven. Es sind große forensische Reden, die ganz im Sinn der Gerichtsrhetorik anklagen und verteidigen, sich auf den sprechenden Menschen stützen, dessen Worte interpretieren, polemisieren und vor allem versuchen, mögliche Einwände der Gegenpartei vorwegzunehmen. All diese Sprachelemente zusammen mit dem Nominalstil gelten als Hauptkennzeichen aber auch als Hauptangriffspunkt der juridischen Amtssprache von Drachs Texten. Die logische Konsequenz ist die Präsenz von einem bestimmten und diffusen Einsparen von Nebensätzen, die die Textverständlichkeit stark reduzieren, besonders dann, wenn sich die nominalen Gruppen häufen, die Satzglieder zu lang sind und sich komplizierte Phrasen daraus entwickeln. Da der Jurist die Informationsmenge auf rechtlich relevante Tatbestände begrenzen muss, will er von einer erzählerischen Darstellung der Mandanten und Zeugen wegkommen. Der Nominalstil ermöglicht nun das Einsetzen des Fachwortes und gibt präziser Auskunft über die juristische Bewertung von Umständen. So wird das knapp ausgedrückt, was für die Verwaltung wichtig ist: die Funktion der Person, das Ergebnis, der Tatbestand. 39 270 Ester Saletta <?page no="271"?> Autorinnen und Autoren Dr. habil. Anita Czeglédy: Habilitierte Dozentin am Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur der Károli Gáspár Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte: Interkulturalität und Mehrsprachigkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Literatur und Gedächtnis, Strategien individueller und kollektiver Identitätsbildung in multilingualen und multikul‐ turellen Gemeinschaften mit besonderer Rücksicht auf das kreative Potential von Mehrsprachigkeit und Peripherie. Publikation: Czeglédy Anita (2019). „Sein-in-der-Sprache“. Poetische Identitätskonstruktionen im multikulturellen mitteleuropäischen Raum. Wien: Praesens. Prof. Dr. Till Dembeck: Till Dembeck ist nach seiner Promotion 2007 an der Universität Siegen und nach Tätigkeiten in Mainz und Riga seit 2017 Associate Professor für deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Université du Luxembourg. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Lyrik, Geschichte der Linguistik, Mehrsprachigkeitsphi‐ lologie, Kultur- und Literaturtheorie, Medien der Literatur. Herausgeber des Handbuchs Literatur und Mehrsprachigkeit (Tübingen 2017, mit Rolf Parr). Dr. Ulrike Garde leitet das Sprachenzentrum der Bauhaus-Universität Weimar und ist Honorary Associate Professor an der Macquarie University, Sydney. Ihre Forschungsinteressen liegen in der interkulturellen Germanistik, insbesondere in den Bereichen Theater, Literatur und Film. Ihr aktuelles Projekt befasst sich mit „Mehrsprachigkeit auf der deutschen Bühne“, u. a. als Teil des DAAD/ Universities Australia geförderten Projekts mit der Universität Leipzig zur Internationalisierung des Theaters. Zuletzt erschienen ist „Multilingualism on the Berlin stage: the influence of language choice, linguistic access and opacity on cultural diversity and access in contemporary theatre“ (Contemporary Theatre Review 2022, 32.1). Weitere Publikationen umfassen u. a. Theatre and Internationalization: Perspectives from Australia, Germany and Beyond (hrsg. mit J.R. Severn), Theatre of Real People: Diverse Encounters at Berlin's Hebbel am Ufer and Beyond (mit M. Mumford) und Brecht & Co.: German-speaking playwrights on the Australian Stage. Dr. Rainer Guldin war Dozent für deutsche Sprache und Kultur an der Università della Svizzera Italiana in Lugano (Schweiz). Er promovierte an der <?page no="272"?> Universität Zürich zum Werk Hubert Fichtes und ist Editor-in-Chief der on-line Zeitschrift Flusser Studies (http: / / www.flusserstudies.net/ ). guldin.rainer@blue win.ch / https: / / rainer-guldin.ch/ rainer-guldin/ Dr. Katrin Gunkel ist freie Literaturwissenschaftlerin und Redakteurin. Sie studierte Germanistik und Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Jahr 2020 promovierte sie dort zum Thema „Poesie und Poetik translingualer Vielfalt“ (Praesens Verlag). Zu ihren Forschungsinteressen zählen literarische Mehrsprachigkeit, Übersetzung und komparatistische Literaturforschung. Dr. Áine McMurtry ist nach ihrer Promotion 2009 an der Universität Ox‐ ford und nach Tätigkeiten in St Andrews und Durham seit 2012 am King’s College London, wo sie im Department of Languages, Literatures and Cul‐ tures lehrt. Forschungsschwerpunkte: Literarische Mehrsprachigkeit, Experi‐ mentelles Schreiben, Lyrik, Kultur- und Literaturtheorie. Prof. Dr. Rolf Parr lehrt Germanistik (Literatur- und Medienwissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen. - Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Medien- und Kulturgeschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts, literarische Gruppie‐ rungen, Diskurstheorie, Literatur/ Medien-Beziehungen, Mehrsprachigkeit. - Publikationen u. a.: (Hg. zus. mit T. Dembeck): Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen 2017. Dr. Ramona Pellegrino ist derzeit Forschungsstipendiatin für ein Projekt zum Israelkorpus an der Universität Genua, wo sie auch Dozentin für Übersetzer und Dolmetscher sowie Mitarbeiterin für deutschsprachige Literatur ist. Sie ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des interuniversitären Forschungszen‐ trums POLYPHONIE und ist zuständig für die Redaktion der wissenschaftlichen Online-Zeitschrift www.polyphonie.at Ihre Forschungsschwerpunkte sind transkulturelle Literatur, literarische Mehrsprachigkeit, Selbstübersetzung und Biographieforschung. Ass.-Prof. Dr. Brigitte Rath: Assistenzprofessorin am Institut für Verglei‐ chende Literaturwissenschaft der Universität Innsbruck, co-organisiert seit 2017 das Kolloquium Mehrsprachigkeit und forscht unter anderem zu nicht-ein‐ sprachiger Literatur, Pseudoübersetzungen und Erasure Poetry. Publikationen: „Exceedingly Non-Monolingual: Associating with Uljana Wolf and Christian Hawkey's sonne from ort“, SubStance 50/ 1 (2021), 76-94. Mag.a. Dr.phil. Ester Saletta: Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Bergamo, Doktorat an der Universität Wien. Lektorin für Italienisch (Sprachenzentrum Universität Wien), Forschungstätigkeiten an europäischen 272 Autorinnen und Autoren <?page no="273"?> und amerikanischen Institutionen. 2018/ 2019 Post-Doc Stipendiatin im Istituto Italiano di Studi Germanici (Rom). Derzeit Mitarbeiterin der Rechtswissen‐ schaftlichen Fakultät der Universität Bergamo, DAF-Lehrerin, Sprachexpertin für Deutsch an der Wirtschaftskammer Bergamo. Zahlreiche Publikationen zu Gender in PostGender Studies, Wiener Moderne, Exilliteratur (insbesondere das Holocaust-Motiv), Hermann Broch, Friedrich Hebbel sowie österreichische Frauenliteratur der Gegenwart. Dr. Barbara Siller ist Senior Lecturer am Department of German / School of Languages, Literatures and Cultures, University College Cork. Zu ihren Forschungsinteressen zählen literarische Mehrsprachigkeit, literarische Topo‐ graphien, Generationenromane und Erinnerung sowie Identitätsnarrative. Sie ist Herausgeberin des Bandes Das Un: gehörte, un: gehörig Un: erhörte im mehr‐ kulturellen Schreiben. The un: heard, unsee: mly un: heard-of writing more cultures. Corker Poetikgespräche mit Dragica Rajčić Holzner, Kurt Lanthaler and José F. A. Oliver. Thelem Verlag, 2023. Dr. Sandra Vlasta ist Assistenzprofessorin an der Universität Genua/ Italien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind literarische Mehrsprachigkeit, Reiseberichte sowie Literatur und Migration. Sie ist Mitherausgeberin des Webportals www.p olyphonie.at und Autorin der Publikationen: Contemporary Migration Literature in German and English: A Comparative Study. Brill/ Rodopi, 2016, und Literarische (Mehr)Sprachreflexionen. Praesens, 2020 (hg. mit Barbara Siller) Autorinnen und Autoren 273 <?page no="275"?> Personen- und Sachregister 1000 Serpentinen Angst-205, 207, 211 ff., 217, 220, 223 Adelung, Johann Christoph-189 affordance-8 agency-8 Ahmed, Sara-219 Aichinger, Ilse-139, 141, 146, 153 akustisch-161, 164 Akzent-186, 195, 201-204, 232 \„aliens\“-161, 163-168, 171, 174-177 Alt-Okzitanisch-162 Amtssprache-269 f. Anderssprachigkeit-85 ff., 90, 93, 97, 100, 106 ff. antisemitisch-259 Applikation-227-237 Arabisch-203, 210, 220 Aronin, Larissa-186 f. Arslan, Gizem-166, 175 f. Assimilation-219, 261 Assoziation-135, 137, 142, 145 ff., 149, 157, 205 f., 212, 226 Ausgrenzung-164 f., 175, 177, 179 Automatismus-205, 209-212, 222 f., 235 Bakhtin, Mikhail M.-15, 22, 109 f., 114 f., 117, 123 Barrett Browning, Elizabeth-139 Bauer, Matthias-134, 144 f. Baumann, Zygmunt-165 Bernstein, Charles-140-143 Beyer, Marcel-15, 112 f., 115 Bilingualismusforschung-31 Biondi, Franco-49, 57-60, 63 Blumenberg, Hans-184 f. borderscapes-16 Brecht, Bertolt-222 f. Brinkmann, Rolf-Dieter-144 Bulgarisch-194 Campe, Johann Heinrich-87, 90 f., 93, 95, 97, 100 Canetti, Elias-194 f., 199 Code-Mixing-74, 80, 192 Code-Switching-11, 14, 16, 21, 24 f., 27 ff., 31 ff., 35 ff., 41, 71, 74-77, 80 f., 109, 124 f., 130, 173, 192, 219, 234 cofiguration-188 Coseriu, Eugenio-23 Cotten, Ann-33 f., 36, 41 Crowley, Patrick-8 Damjanova, Zwetelina-49, 61 ff. Dänisch-162 Deckard, Sharae-178 ff. Dekonstruktion-197 Dembeck, Till-7, 9 f., 13 ff., 149, 206, 209, 212, 220, 227 ff., 232 Deutsch-85, 87-90, 92-101, 104-107, 163, 171 f., 180, 188 f., 191, 193-198, 208, 210, 213, 215 f., 220, 224 f., 227 f., 231, 234, 271 deutschsprachig-162, 170, 174, 180, 206, 222, 224, 228 ff. Deutschtum-257 Dialekt-113, 127, 130, 197 f., 208, 216 Dialektliteratur-22 f. DICHTionary-147, 150 Differenz-196, 201, 249 Diskrepanz-267, 269 Doppelbödigkeit-183, 186, 197-200 <?page no="276"?> Doppelwörter-88, 94, 98, 100-105, 107 f. Drach, Albert-251-261, 263-270 Durchlässigkeit-183, 186, 201 f. Eco, Umberto-192 Einsprachigkeit-85-88, 91, 96, 104 ff., 108, 164 Einsprachigkeitsparadigma/ monolinguales Paradigma-13, 15, 82, 85, 87 Einzigartigkeit-247 ff. Elias Canetti-194 f. Englisch-99, 163, 172 f., 208, 210, 213-216, 220 f., 223, 228, 232, 234, 237 englischsprachig-164 f., 169 ff., 175, 178, 180, 227-230, 232, 234 f., 237 Entautomatisierung-9, 11 Erinnerungsarbeit-161, 164, 166, 175, 178 Erpenbeck, Jenny-229 Exil-26, 28, 31, 166 experimentell-161 f., 166, 177 ff., 181 falsche freunde-133 f., 136, 147, 152, 161, 163, 167, 176 Fichte, Johann Gottlieb-87, 93 ff., 101, 103, 106 Figurengedicht-30 Flucht-161, 164, 166, 177 f. Fluidität-188, 196 Flusser, Vilém-190 f., 272 Formen-8-14, 16-19 Forster, Georg-67, 72 f., 80 Forster, Johann Reinhold-72 f. Fortschreibung 109, 117, 119 f., 122 f., 125- 128 Fortsetzung-109, 117-122, 125 f., 128-131 Französisch-87, 89 f., 93, 95, 99, 162, 194 Fremdwörter-90, 93, 97, 100 Gattung-133, 135, 142 f., 146, 152, 158 Gattungsgrenzen-16 Gedicht-37-40 Gegenwartsliteratur-205, 222 Gegenwartslyrik-161 f., 232 Geisterwort-146 Genette, Gérard-22 Gerechtigkeit-259, 264 Gerichtsprotokoll-258 Gerichtsrhetorik-270 germanisch-162 Gesicht 169, 183 f., 186, 188-193, 198 f., 201 Glissant, Édouard-218 Glossodiversität-205-210, 212 f., 216 ff., 220, 225 f. Goethe, Johann Caspar-72 f. Goethe, Johann Wolfgang von-67, 72, 75 ff., 80 f., 148 f. Goetz, Rainald-227 ff. Graf, Daniel-134 f. Gramling, David-9, 11, 86, 206, 212 Grenze-169, 175, 179, 187, 189, 202, 206, 212 Grenzpolitik-16, 161, 165, 169, 173 Griechisch-194 Grimm, Jacob-94, 105, 188 ff. harte Fügung-227, 235 Hawkey, Christian-134 f., 139 Hebräisch-210, 220 Herder, Johann Gottfried-190 f. Humboldt, Wilhelm von-37, 190 ff., 218 Humor-15, 85, 87-90, 97-100, 104-108 Hybridität-183, 186, 197, 200 Identität 154-157, 163, 168, 176, 256, 260 f., 264, 266 Identitätsbildung-240, 242 Identitätskonstruktion-239 f., 242, 248 Identitätskonzept-240, 242 Identitätskonzept, medial-konstruktivistisches-239, 241, 243 Identitätskonzept, 276 Personen- und Sachregister <?page no="277"?> sprachkonstruktivistisches-241 Ideologien der Einsprachigkeit-11 Individualsprachen-240, 249 Intermedialität-18 Italienisch-193 f. Jakobson, Roman-21 ff., 149, 157 Jandl, Ernst-38-41, 149 f., 152 Japanisch-195 Jiddisch-259 Johnson, Mark-185, 189 Jordan, Shirley-8 Juden, assimilierte-261 Judenfrage-260, 263 Judentum-257 Jurist-251, 270 Justizmaschine-259 kafkaesk-256 Kanzleistil-252 f. Kilchmann, Esther-9 ff., 222, 232 Kippfigur-136 ff. Knepper, Wendy-178 ff. Komik-255, 257 Kontaktsprachen-27 Körper-165 f., 168 f., 174 ff., 183, 185-192, 194 f., 198 ff., 202 ff. kreativ-7-10, 13, 19 kreisförmig-206, 210 ff., 217, 220 f., 223, 225 f. Kristeva, Julia-22, 76 kritische Mehrsprachigkeit-163 Lacan, Jacques-139 Lakoff, George-185, 189 Langhoff, Shermin-210 Lanthaler, Kurt-109-112, 114-123, 126- 130, 132 Latino-Literatur-25 Latour, Bruno-152 Lesemöglichkeiten-109, 124 Levinas, Emmanuel-219 Levine, Caroline-8, 11 ff. Lewald, Fanny-67, 81 f. Literaturlinguistik-21 ff. Maas, Marcel-229, 232 f., 235 f. makkaronische Dichtung-30, 35 Mann, Thomas-151 Maugham, W. Somerset-150 mehrsprachig/ Mehrsprachigkeit-17, 134- 139, 158, 161 f., 171 ff., 176, 178 ff., 183 f., 186 f., 192 f., 195 f., 198, 200, 202-206, 209, 211 f., 219 f., 222, 227 f., 232, 235, 241, 247, 250, 271 f. Mehrsprachigkeit, kritische-11 Mehrsprachigkeit, latente-15, 27, 67, 70, 72, 74, 79-82 Mehrsprachigkeit, manifeste-15, 26, 28 f., 70 f., 74 f., 80 ff., 208 f. Mehrsprachigkeitsbegriff-251 Mehrsprachigkeitsphilologie-13 f., 68 Mehrstimmigkeit-237 Meinecke, Thomas-229 meine schönste lengevitch 133 f., 140 ff., 162 Melodie-190 f., 202 Metapher-14, 17, 170, 183-192, 194-204, 206, 222 f. Migrant-168, 170, 173 f., 176, 221, 224 Migrationsliteratur-30 Milton, John-78 Modick, Klaus-227 f., 230 ff., 234 ff. Monolog-260, 267 Montage-178, 228, 234 Moritz, Karl Philipp-67, 75, 77 ff., 82 Moure, Erín-152 Müller, Herta-144, 183, 186 f., 189 f., 196- 200, 202 ff. multilingual-11, 68, 86, 118, 131, 148, 178, 240 Multilingualität-241 Mündlichkeit-110, 112, 115, 121, 130 Personen- und Sachregister 277 <?page no="278"?> Musik-208 Muttersprache-87, 91, 96, 104, 107, 146, 162 f., 167, 180, 195 f., 199 Nation-189, 192 Nicht-Verstehen-13, 209, 218 Nieswandt, Hans-229 Nominalstil-270 Oberflächenübersetzung-39 Ordnung-12 Organonmodell-245 Ostjude-259 Otoo, Sharon Dodua-207 Oulipo-165 f., 175 Özdamar, Emine Sevgi-195 f., 201 Paradoxie-269 Parodie-255 Paroxysmen-254 Parr, Rolf-9 f., 18, 206, 209, 228 f. Patrut, Iulia-Karin-134, 144 f. Paul, Hermann-105 Paul, Jean-85-108 Pazarkaya, Yüksel-49, 59 f., 62 f. Perec, Georges-165, 167 Performanz-239, 244 performativ-205, 207, 212, 217, 220, 224 Perloff, Marjorie-167 Philip, M. NourbeSe-166 Pidginsprache-35 Poesie-21 f., 27, 30, 38, 40, 198 Poetik-205 ff., 209, 211 f., 221 f., 232 Poetik der Beziehung-133, 135, 152, 158 Politis, Vasilis-187 politisch-12 f., 15 f., 109 f., 114, 116, 127, 130 f. Polnisch-208 Polyglossie-227, 229 Popliteratur-227 ff., 234 Poplyrics-227 ff., 237 Popmusik-227 f., 230 ff., 234, 237 Porter, Cole-150 f. Portugiesisch-191, 194 postmigrantisch-172, 179, 205 f., 210 f. postmonolingual-9, 11, 82, 87, 163, 172, 179, 186 Potential-8, 11, 13 f., 19 Pound, Ezra-141 Preminger, Otto-153 f. Prosagedicht-133, 144, 151, 153 f., 158, 166 ff., 171, 177 f. Protokolle-251 Protokollstil-253, 256, 259, 267 Proust, Marcel-184 Raum-183, 185-192, 198, 200, 202 ff., 222 Redesituation-245 Regeln-7 f., 10, 13, 19 Reisebericht (Gattung)-67-83, 273 Resignation, chassidische-261 Rezeption-109, 123, 230 Rilke, Rainer Maria-139 Romancier-251 Ronen, Yael-205, 207, 209 f., 220-223, 225 Rumänisch-197 ff. Russisch-194, 210, 220 f. Sakai, Naoki-188 Schelmenromangeschichte-255 Schleiermacher, Friedrich-106 f. Schmeling, Manfred-26 Schmitz-Emans, Monika-9, 26, 30, 91, 93, 100, 105 f. Schreibpraxis-161 ff., 167, 180 Schwitters, Kurt-145 Sein-in-der-Sprache-18, 239, 242 f., 247 ff., 271 Seita, Sophie-158 Selbstironie-255 Selbstübersetzung-14, 43-64, 272 Semiodiversität-205 ff., 209 f., 220, 225 Šklovskij, Viktor-9, 222 278 Personen- und Sachregister <?page no="279"?> slawisch-162 Slowenisch-162 Soziolekt-201 Spanisch-194 Spiel-7 f., 10, 12, 16 f. Spielregeln, neue-7 f. Spracherwerb-8 Sprachgebrauch-239 f., 244, 248 f. Sprachgrenzen-163, 176 Sprachhandlung-239 f. Sprachhierarchien-13 Sprachidentität-18, 240, 245 Sprachigkeit-109, 111-117, 127, 129 f. Sprachigkeit, intensivierte-15, 109, 113, 115 f., 124, 127, 129 f. Sprachkoexistenz-19 Sprachkoexistenz, rechtswissenschaftliche-251 Sprachkomik-255 Sprachkonstruktion-245 Sprachkontakt-10, 14, 17 f., 24, 31 sprachliche Zeichen-243, 245 Sprachlichkeit-113 f., 122 Sprachmischung 11, 21, 24, 26-29, 35 f., 38 Sprachpolyvalenz-19, 251 Sprachproduktion-241 Sprachreinigung-85, 90 ff., 97, 104 Sprachskepsis-253 Sprachspiel-7, 40, 62, 232 Sprachtransfer-21, 24, 28 f., 31, 35 ff., 40 f. Sprachvarietäten-10, 13, 18, 240, 247 f. Sprachvermischung-195 Sprachvielfalt-85 ff., 89 ff., 98, 100, 106 f. Sprachwechsel-11, 14, 21, 24, 26-29, 31- 34, 38, 234 f. Sprachwiederholung-257 Sprachwitz-232 Sprechakt-239 f., 245, 248 Sprecheridentität-245 f., 248 Sprechsituation-240 f. Stimme-161 ff., 165, 167, 176-179 Stockhammer, Robert-9, 15, 113 ff. Stuckrad-Barre, Benjamin von-227, 229, 235 subsisters-133, 135, 152 f., 155 ff. Sündenbockmythologie-264 Tawada, Yoko 10 f., 14, 17, 43, 49-56, 62 ff., 135, 149, 180, 183, 186 ff., 193, 195, 197, 201-204 The Situation-205, 207, 209, 211, 220, 224 f. Tierney, Gene-153, 155 f. transatlantisch-161 f., 166, 169, 174 Transformation-8, 16, 19, 194 Transkulturalität-249 translingual-162 f., 177, 183, 185, 232 Türkisch-194, 196, 201 Überschichtung-183, 185 f., 195, 201 Übersetzen-166 f., 196 ÜbersetzerInnen-219 Übersetzung-14, 16, 109 ff., 116-123, 125- 131, 161-164, 166 f., 180, 206, 212 f., 219 umkreisen-209, 212 ff., 217, 222 f. Ungarisch-196 Unordnung-12 Varietäten, regionale-112, 118, 121, 127, 130 Verfremdung-9, 11, 15 Verstehen-206, 212 f., 218, 220, 225 Vertlib, Vladimir-43 f., 49, 55 ff., 62 f. Vertreibung-161, 164, 177 f. Verwandlung-194, 199 f., 204 Vielstimmigkeit-15, 18, 109, 112, 115 f., 118, 122 ff., 127, 129 f. Vietnamesisch-208, 213 f., 219 Vossler, Karl-189 Weglassprobe-232 Wenzel, Olivia-205-220, 225 Wien-251, 258 f., 264, 267 Personen- und Sachregister 279 <?page no="280"?> Wirklichkeitskonstitution-246 Wirklichkeitskonstruktion-240, 243 f., 248 Wittgenstein, Ludwig-7 f. Witz-85, 87, 96, 98-102, 104, 106 ff. Wolf, Uljana-10, 12, 16, 133-159, 161-181 Wolke, Christian Heinrich-90, 105 Wortspiel-171 Wurzellosigkeit-193 Yildiz, Yasemin-9, 11, 17, 163, 186, 196 Zangrando, Stefano-109, 111, 125-132 Zeugenschaft-161, 164, 178 Zitat-167, 171, 173, 175, 227 f., 230, 234 Zufallskomödie-254 Zugehörigkeit-205, 207 f., 210 f., 216, 220 Zunge-183, 186, 188, 193-196, 201 f. Zwetschkenbaum-251, 253, 258-263, 269 Zynismus-255 280 Personen- und Sachregister <?page no="281"?> Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg), Rolf Parr (Duisburg-Essen) Bisher sind erschienen: Band 1 Marion Acker / Anne Fleig / Matthias Lüthjohann (Hrsg.) Affektivität und Mehrsprachigkeit Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2019, 286 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8657-1 Band 2 Andreas Leben / Alenka Koron (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext 2019, 317 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8676-2 Band 3 Marko Pajević (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und das Politische Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur 2020, 320 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8712-7 Band 4 Marion Acker Schreiben im Widerspruch Nicht-/ Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa 2022, 337 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8776-9 Band 5 Áine McMurtry / Barbara Siller / Sandra Vlasta Mehrsprachigkeit in der Literatur Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 2023, 278 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8783-7 In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist das Interesse an Fragen der Mehrsprachigkeit in jüngerer Zeit international gestiegen. Das schließt an einen Trend an, der in der sprachwissenschaftlichen Forschung schon länger zu beobachten ist. Die Grenzen der ehemaligen Nationalphilologien werden unter Stichworten wie Hybridität, Inter- und Transkulturalität zunehmend geöffnet. Zu konstatieren ist dabei auch eine gesteigerte methodische und theoretische Eigenständigkeit philologischer oder kulturphilologischer Ansätze, die sich durch eine besondere Aufmerksamkeit für das Zusammenwirken von unterschiedlichen Formen sprachlicher Varianz in konkreten Texten auszeichnen. Dem damit sich konstituierenden Feld einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung bietet die Reihe einen Publikationsort. Dies geschieht auch mit dem Ziel, die vielfältige Forschung auf diesem Gebiet an einem Ort sichtbar zu machen und so den weiteren wissenschaftlichen Austausch zu fördern. - Ihrem Gegenstand entsprechend umfasst die Reihe die Einzelphilologien, das gesamte Spektrum der Kulturwissenschaften und punktuell auch die Sprachwissenschaften. <?page no="282"?> ISBN 978-3-7720-8783-7 www.narr.de Der Band versammelt 12 Beiträge, die verschiedene Aspekte literarischer Mehrsprachigkeit in den Fokus rücken. So wird das Potenzial mehrsprachiger Texte zur Erneuerung literarischer Formen analysiert. Literarische Übersetzungsstrategien sowie Momente der Intertextualität und Intermedialität bilden einen weiteren Schwerpunkt. Schließlich beleuchten die Beiträge Sprachbilder und Komposita, die aus anderen Sprachen übertragen oder neu gebildet werden. Gemeinsam ist all diesen Schreibverfahren, dass sie sprachliche Automatismen hinterfragen - dadurch eröffnen sich kritische Perspektiven auf sprachliche Formen und Inhalte sowie auf die Materialität von Sprache. Konventionelle Sprachregeln werden kritisch untersucht, neu gedacht, überschritten oder auf den Kopf gestellt und das auf eine spielerische Weise - mehrsprachige Texte erweitern somit das Set der Spielregeln. Die Beiträge untersuchen diese Schreibpraktiken bei Albert Drach, Johann Wolfgang von Goethe, Kurt Lanthaler, Klaus Modick, Karl Philipp Moritz, Herta Müller, Jean Paul, Yael Ronen, Yoko Tawada, Vladimir Vertlib, Olivia Wenzel, Uljana Wolf und Stefano Zangrando.