Heiliger Krieg
Antike Texte – moderne Kontexte
1125
2024
978-3-7720-5787-8
978-3-7720-8787-5
A. Francke Verlag
Manuel Vogel
10.24053/9783772057878
Der Band versammelt Beiträge zum Thema des "Heiligen Krieges" u.a. im Deuteronomium, bei Sacharja, im 1. Makkabäerbuch, in der Kriegsrolle von Qumran und in der Johannesoffenbarung, ergänzt durch einen Abriss zu Kriegskonzeptionen bei Griechen und Römern. Moderne komparative Kontexte kommen mit dem spiritual warfare im westafrikanischen Christentum zur Sprache, aber auch in der "Geistlichen Anleitung" der Attentäter vom 11. September 2001 sowie in Begründungen des bewaffneten Kampfes in der Roten Armee Fraktion (RAF). Deutlich wird zumal in den antiken jüdischen und christlichen Texten, dass entweder religiöse Deutungen erst in der historischen Retrospektive greifen oder dass das Medium des Textes in liturgischer Inszenierung und apokalyptischer Imagination den realen Krieg substituiert. Umgekehrt kann aber auch äußerste Gewalt in ihren extremsten Momenten als liturgische Handlung und spirituelle Übung aufgefasst und so überhaupt erst durchführbar werden (Anschläge von 9/11). Oder aber eine radikale Minderheit sieht sich an der Epochenschwelle eines weltweiten Befreiungskampfes in unbedingter historischer Verantwortung (RAF). Die Beiträge des Bandes sind je für sich und in der Zusammenschau vielfältig anschlussfähig an religions-, sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8787-5 www.narr.de T A N Z T A N Z T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER Der Band versammelt Beiträge zum Thema des „Heiligen Krieges“ u. a. im Deuteronomium, bei Sacharja, im 1. Makkabäerbuch, in der Kriegsrolle von Qumran und in der Johanneso enbarung, ergänzt durch einen Abriss zu Kriegskonzeptionen bei Griechen und Römern. Moderne komparative Kontexte kommen mit dem spiritual warfare im westafrikanischen Christentum zur Sprache, aber auch in der „Geistlichen Anleitung“ der A entäter vom 11. September 2001 sowie in Begründungen des bewa neten Kampfes in der Roten Armee Fraktion (RAF). Deutlich wird zumal in den antiken jüdischen und christlichen Texten, dass entweder religiöse Deutungen erst in der historischen Retrospektive greifen oder dass das Medium des Textes in liturgischer Inszenierung und apokalyptischer Imagination den realen Krieg substituiert. Umgekehrt kann aber auch äußerste Gewalt in ihren extremsten Momenten als liturgische Handlung und spirituelle Übung aufgefasst und so überhaupt erst durchführbar werden (Anschläge von 9/ 11). Oder aber eine radikale Minderheit sieht sich an der Epochenschwelle eines weltweiten Befreiungskampfes in unbedingter historischer Verantwortung (RAF). Die Beiträge des Bandes sind je für sich und in der Zusammenschau vielfältig anschlussfähig an religions-, sozial- und kulturwissenscha liche Diskurse. Manuel Vogel (Hrsg.) Heiliger Krieg Manuel Vogel (Hrsg.) Heiliger Krieg Antike Texte - moderne Kontexte <?page no="1"?> Heiliger Krieg <?page no="2"?> T A N Z TTEEXXTTEE UUNNDD AARRBBEEIITTEENN ZZUUMM NNEEUUTTEESSTTAAMMEENNTTLLIICCHHEENN ZZEEIITTAALLTTEERR 68 herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel <?page no="3"?> Manuel Vogel (Hrsg.) Heiliger Krieg Antike Texte - moderne Kontexte <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057873 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8787-5 (Print) ISBN 978-3-7720-5787-3 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0223-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Teil I 25 53 81 97 115 139 Teil II 183 201 211 313 Inhalt Einleitung Antike Texte Raik Heckl Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Kunz-Lübcke Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit. Zur Dramatisierung des Krieges in Sacharjah 9-14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Leo Noethlichs Der „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg. Zur Kriegskonzeption bei Juden, Römern und Griechen in der vorchristlichen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Tilly Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Simone Paganini Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Vogel Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne Kontexte Werner Kahl Spirituelle Kampfführung. Die Vertreibung böser Geister im westafrikanischen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September. Übersetzt von Albrecht Fuess, Moez Khalfaoui und Tilman Seidensticker . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Vogel Wege in die Radikalität. Biografische Zugänge zu RAF und Bewegung 2. Juni Autoren dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 1 Johannes Woyke (Hg.), Eifer Gottes - Eifern für Gott. Radikalismus und Fanatismus in der biblischen Tradition und ihrer Auslegungsgeschichte (BThSt 181), Göttingen 2020. 2 Andreas Kunz-Lübcke (Hg.), Dissidenten, Außenseiter und Querulanten. Literarische und historische Gestalten in religiösen Kontexten außerhalb des Normativen (VWGTh 65), Leipzig 2021. Vorwort Dieser Band geht zurück auf die erste Tagung einer vierteiligen Tagungsreihe zum Thema „religiöser Radikalismus“. Die Reihe wurde veranstaltet von einer Projektgruppe in gemeinsamer Verantwortung der Fachgruppen Altes Testa‐ ment (Prof. Dr. Raik Heckl, Leipzig; Prof. Dr. Andreas Kunz-Lübcke, Hermanns‐ burg) und Neues Testament (Prof. Dr. Manuel Vogel, Jena; Prof. Dr. Johannes Woyke, Flensburg) der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh). Die vier Tagungen fanden von 2017 bis 2020 in der Ev. Familien- und Bildungsstätte Ebernburg (Bad Münster am Stein/ Ebernburg) statt. Behandelt wurden die Themenkreise „Heiliger Krieg“, „Eifer“, „Kritische Diskurse zu Radikalismus und Gewalt“ und „Dissidenten und Außenseiter“. Die Bände der zweiten 1 und vierten 2 Tagung liegen bereits vor, der Band der ersten Tagung wird hiermit vorgelegt. Zu danken ist der WGTh für die Aufnahme der Tagungsreihe in ihr Programm und für die großzügige Förderung der Tagung. Zu danken ist sodann den Mitherausgebern der TANZ für die Zustimmung zur Aufnahme des Bandes in die Reihe und dem Lektor Herrn Stefan Selbmann für seine Sorgfalt und schier unendliche Geduld. Manuel Vogel Jena, im September 2024 <?page no="9"?> Einleitung Manuel Vogel Der Terminus „Heiliger Krieg“ kommt in den biblisch-jüdischen Quellentexten, die in den Beiträgen dieses Bandes untersucht werden, nicht vor. Er ist nur im klassischen Griechisch belegt, und das recht undeutlich. Beschreibungssprach‐ lich ist es aber üblich, hilfreich und angemessen, im Sinne des heuristischen Zugriffs das Schnittfeld von Krieg und Religion kultur- und zeitübergreifend so zu bezeichnen: Gefragt wird nach religiösen Motivationen und Begründungen von Krieg und nach kriegerischen Ausprägungen religiöser oder religiös konno‐ tierter kultureller Sinnsysteme. Die Beiträge des vorliegenden Bandes bewegen sich in seinem ersten Teil („antike Texte“) im Bereich der altvorderorientalischen und hellenistisch-römischen Antike. Im zweiten Teil („moderne Kontexte“) geht es um das westafrikanische Christentum, um gewalttätigen Islamismus und um den als „Krieg“ aufgefassten bewaffneten Kampf der RAF und verwandter Gruppen. Die Zweiteilung ist zunächst wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich begründet: Wo begegnen Motive des „Heiligen Krieges“ aus Texten der israeli‐ tisch-jüdischen Tradition in modernen Rezeptionskontexten wieder? Aber auch abseits traditionsgeschichtlicher Brückenschläge kann der Einblick in völlig anders geartete Begründungszusammenhänge für Konzeptualisierungen des eigenen Handelns als „Krieg“ dazu anregen, neue Fragen an die alten Texte zu stellen, oder aber dazu, den historischen Kontext des eigenen Rezeptionsstand‐ punktes auszuleuchten und besser zu verstehen. Am Beginn des Bandes steht der Beitrag Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? von R AIK H E C K L . Heckl setzt sich kritisch mit der von Jan Assmann in die Diskussion gebrachten Unterscheidung von „primärer“ und „sekundärer Religion“ auseinander. Primäre Religion sei, so Assmann, tolerant und vermit‐ telnd, sekundäre Religion (in Gestalt von Judentum, Christentum und Islam) neige dagegen zu Intoleranz, Gewalt und Krieg. Mit dem Motiv des „Banns“ im Deuteronomium, der im Rahmen der „Landnahme“ an den eroberten Städten und Gebieten zu vollstrecken ist - man würde heute von Genozid sprechen - untersucht Heckl Texte, die zunächst geeignet erscheinen, Assmanns These zu stützen, geht es hier doch um religiös begründete äußerste Gewalt in <?page no="10"?> einem von der Gottheit befohlenen Krieg. Aufschlussreich sind nun aber die von Heckl aufgeführten Parallelen aus der Mescha-Stele, v. a. das Motiv der totalen Ausrottung der besiegten Bevölkerung. Der Vergleich zeigt: Das Motiv ist weder kennzeichnend „monotheistisch“, noch überhaupt einlinig „religiös“. Zwar spielt „Religion“ in den Texten des Deuteronomiums und der Mescha-Stele eine tragende Rolle, aber nicht anders, als dies in allen anderen Lebensbereichen der altvorderorientalischen Kulturen auch der Fall war, eine Beobachtung, die Heckl forschungsgeschichtlich einordnet in die Kritik an v. Rads These vom „Heiligen Krieg“ in Israel. Anstelle eines „theologischen“ legt der von Heckl angestellte Vergleich einen politischen Deutungskontext nahe, der außerdem (in Abgrenzung zu Assmanns „positivistischer“ Lektüre der Texte) literarisch-rhetorische Aspekte berücksichtigt: Der an der Bevölkerung der eroberten Gebiete vollstreckte „Bann“ artikuliert literarisch den jeweiligen Besitzanspruch auf diese Gebiete, wobei die Ausrottung der Bevölkerung die Fiktion eines entvölkerten Landes erzeugen soll, die, wie durch Signale im Text selbst, aber auch durch den archäologischen Befund nahegelegt wird, keinesfalls den geschichtlichen Tatsachen entsprach. Die Beobachtungen Heckls an den antiken Texten lassen sich, über seinen Beitrag hinausweisend, auch auf die gegenwartsbezogenen Aspekte der Religionskritik Assmanns übertragen. Zu fragen ist, ob Assmann einseitig den religiösen Glauben für die Genese von Gewalt und Intoleranz verantwortlich macht, unter Ausblendung der jeweiligen politischen Kontexte. Zu fragen ist: Wo ist Religion ursächlich für Gewalt und Intoleranz, und wo ist sie ein Epiphänomen ganz anderer Kräfte, die etwa unter dem Stichwort Kolonialismus und Imperialismus zu verhandeln wären. Der Monotheismus ist ein wohlfeiles Objekt der Kritik, doch unversehens weben seine Kritiker am ideologischen Schleier und tun das Ihre, die tatsächlichen Machtverhältnisse unsichtbar zu machen. Die Gegenprobe zur „Toleranz“ der „primären“ Religion bestünde darin zu fragen, ob multireligiöse und multikul‐ turelle Toleranz notwendig war für das Entstehen und Funktionieren antiker Imperien. Auch die von A N D R E A S K U N Z -L ÜB C K E in seinem Beitrag Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit. Zur Dramatisierung des Krieges in Sacharjah 9-14 untersuchten Texte aus dem Sachariabuch, dem äthiopischen Henochbuch und dem ägypti‐ schen Töpferorakel erschließen sich keinesfalls in Absehung vom politischen Hintergrund ihres perserzeitlichen und hellenistischen Entstehungszeitraums. Zwar ist der Gott Israels als militärischer Akteur bei Sacharja und in äthHen ständig präsent, doch ist sein Handeln sozusagen erkennbar sprunghaft und legt als solches eine Spur zu sehr unterschiedlichen politischen Situationen, die sich in den Texten niederschlagen. Greifbar sind im ersten Teil des Sacha-riabuches 10 <?page no="11"?> perserzeitliche Hoffnungen auf eine zuverlässig stabile politisch-militärische Großwetterlage. Diese Hoffnungen weichen im zweiten Teil des Buches jedoch zunehmend den realen Bedrohungen, die aus dem Expansionsstreben der Diadochenreiche resultierten. Die Vergleichstexte aus dem Töpferorakel sind erhellend in historischer Hinsicht, weil sie eine anti-hellenistische Perspektive erkennen lassen, die auch in DtSacharja und äthHen prägend ist, aber auch in literarischer Hinsicht: Das motivische Inventar, das bei DtSacharja mutmaßlich auf unterschiedliche literarische Schichten verteilt ist, findet sich vollständig auch in dieser paganen Schrift. Der zweite Teil des Sacharjabuches bewegt sich also, obwohl üblicherweise ein kompliziertes Textwachstum angenommen wird, doch innerhalb eines kohärenten Motivzusammenhangs. Da im Übrigen die Textgenese allem Anschein nach im Zuge immer neuer politischer Szenarien erfolgte, arbeitet die redaktionsgeschichtliche Rekonstruktion notwendig in enger Fühlung mit den Befunden der politischen Ereignisgeschichte. Schon aus methodischen Gründen verbietet sich also eine isoliert „religiöse“ Betrachtungs‐ weise. Und schließlich: Die Texte sind als religiöse Texte nachholend, initiieren nicht, reagieren nur auf erlebte Geschichte. Obwohl der Krieg in DtSacharja dominiert, ist dieser zweite Teil des Buches keine Programmschrift für einen „Heiligen Krieg“. Mit dem Beitrag Der ,Heilige‘ und der ,Gerechte‘ Krieg. Zur Kriegskonzeption bei Juden, Römern und Griechen in der vorchristlichen Antike von K A R L L E O N O E THLI C H S kommt als weiterer Quellenbereich die griechisch-römische Antike hinzu. Als Folgebeitrag zu demjenigen von Andreas Kunz-Lübcke passt er insofern, als wir ja bereits hier auf den Hellenismus gestoßen sind, freilich nicht als Kulturbringer, sondern auf der militärischen Bühne der Epigonen des Alexanderreiches. In den griechischen Texten begegnet nun auch der Terminus „Heiliger Krieg“ (πόλεμοϛ ἱερόϛ), in der ältesten Quelle (Aristophanes) freilich bereits in der Verfremdung der Komödie, mit unklarer Referenz auf ein offenbar vorausgesetztes älteres Konzept. Ging es bei Heckl und Kunz-Lübcke um die Freilegung politischer Bezüge von vordergründig rein religiösen Begründungs‐ zusammenhängen des Krieges, so ist Noethlichs umgekehrt damit befasst, den zutiefst „religiösen“ Charakter griechischer, v. a. aber altrömischer und reichsrömischer Politik des Krieges vorzuführen. Namentlich für das republi‐ kanische Rom gilt: „Wir haben es hier mit einem durch und durch religiös geprägten Kriegszeremoniell zu tun, das quasi jede Phase eines Kriegszuges in rituelle Formen verpackte.“ Wie ernst man von römischer Seite den religiösen Aspekt nahm, wird an der jedenfalls in älteren Quellen bezeugten Praxis der evocatio deutlich: Die Gottheit der von Rom militärisch Besiegten wurde feierlich aus ihrem Tempel „herausgerufen“, verbunden mit dem Angebot, nach 11 <?page no="12"?> Rom überzusiedeln und dort einen neuen Tempel zu erhalten. Dem römischen Selbstanspruch nach musste ein Krieg indes nicht nur pium sein, was von der sorgfältig zu beachtenden kultisch-rituellen Vorschriftsmäßigkeit abhing, son‐ dern vielmehr auch iustum. Da ein „gerechter“ Krieg immer „auf ein vorheriges Unrecht“ reagierte, „konnte es - theoretisch - in Rom demnach keine reinen Eroberungskriege geben“. Dass die Geschichte des Römischen Reiches anders aussah, ist bekannt. Wie Rom an seinem Anspruch, ausschließlich gerechte Kriege zu führen, festhalten konnte, wäre eine interessante Anschlussfrage. Hier ginge es dann nicht um Religion oder Politik, sondern um Ideologie, um die beanspruchte Deutungshoheit, was „gerecht“ ist. Noethlichs resümiert: „Der ,gerechte‘ Krieg bleibt also immer eine Frage der subjektiven Deutung und der entsprechenden Propaganda, und so ist es bis heute geblieben! “ Mit dem Beitrag Der ,Heilige Krieg‘ im ersten Buch der Makkabäer von M I C HA E L T IL L Y befinden wir uns wieder im biblisch-jüdischen Traditionsbereich. Das 1. Makkabäerbuch reflektiert die Begegnung von Judentum und Hellenismus als Geschichte eines Konflikts, in dem es von jüdischer Seite um die Wahrung religiöser, kultureller, ethnischer und politischer Identität und Eigenständigkeit geht, ein Konflikt, der wesentlich auch ein innerjüdischer Richtungsstreit zwischen assimilationsfreundlichen und konservativen Gruppen der judäischen Gesellschaft war. Einmal mehr bilden all diese Bereiche ein komplexes Gefüge. Das gilt es zu beachten, wenn 1Makk den makkabäischen Aufstand gegen die Fremdherrschaft der Seleukiden als Religionskrieg darstellt und diesen als lu‐ penreinen „Heiligen Krieg“ nach dem Muster biblischer Landnahmetraditionen stilisiert. Tilly zeigt anhand der Kriegsberichte des 1Makk, dass diese „keine his‐ torischen Ereignisse ab[bilden], sondern (…) (unbeschadet aller Bezugnahmen seines Verfassers auf ihm bekannte Quellen und Realien) grundsätzlich einem literarischen Schema [folgen]. Tatsächlich schöpft der antike Autor bei seiner literarischen Darstellung der Vorgänge als ,alttestamentlicher Religionskrieg‘ durchweg aus dem reichen Fundus der biblischen Erzähltradition, die er immer wieder mit frei konzipierten Reden, Ansprachen und Gebeten als Darstellungs- und Interpretationsmittel, zeitgenössischem Kolorit und diffusem Fachwissen hinsichtlich zeitgenössischer militärischer Realien und diplomatischer Konven‐ tionen anreichert, um seiner fiktionalen Erzählung einerseits Plausibilität und Realitätsnähe zu verleihen und um ihre Protagonisten andererseits den beispiel‐ haften Heroen der Geschichte Israels anzugleichen.“ Auch in 1Makk haben wir es also in erster Linie mit Literatur zu tun. Auch in 1Makk geht es um Geschichtsdeutung, um archaisierende Verklärung von Geschichte. Sie diente, was den Sachverhalt nochmals komplexer erscheinen lässt, im konkreten Fall der gegenwartsbezogenen Herrschaftslegitimation. 1Makk ist ein Stück Hofge‐ 12 <?page no="13"?> schichtsschreibung der Hasmonäerdynastie, die sich zur Zeit der Abfassung des Buches in der hellenistischen Staatenwelt politisch längst mühelos zu bewegen wusste und den konservativen Mythos eines Krieges für den „Bund der Väter“ gerade in einer Zeit pflegte, in der man sich kulturell und politisch auf den Hellenismus längst eingestellt hatte. Pointiert gesagt: Der „Heilige Krieg“ gegen den Hellenismus ist der Gründungsmythos eines Herrscherhauses, das mit dem Hellenismus kaum mehr Berührungsängste hatte. Der Beitrag Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) von S IM O N E P A G ANINI ergänzt das Tableau der einschlägigen Quellentexte um eine überaus wichtige Schrift. Die Kriegs‐ rolle von Qumran ist nun nämlich im Unterschied zu sämtlichen anderen Texten allem Anschein nach eine regelrechte Programmschrift für einen „Heiligen Krieg“. Es werden Schlachtaufstellungen geschildert, begleitende Gebete und lit‐ urgische Handlungen ausformuliert und vorgeschrieben, ergänzt durch genaue Anweisungen über die Zusammenstellung der einzelnen Truppenteile. Dieser Ersteindruck täuscht aber. Sobald man den Text näher in Augenschein nimmt, zeigen sich Ungereimtheiten: Das für den Endkampf zwischen Licht und Fins‐ ternis vorgesehene Heer ist überaltert, die Kämpfenden bleiben eigentümlich passiv und der menschliche Part in diesem Krieg, dessen siegreicher Ausgang für die Söhne des Lichts sich der Mitwirkung von Engeln und himmlischen Heeren verdankt, besteht im Wesentlichen in der Rezitation liturgischer Texte durch die beteiligten Priester. Das wirft die Frage auf, mit welcher Textgattung wir es hier überhaupt zu tun haben: Handelt es sich um eine Anleitung für einen realen Krieg? Liegt eine apokalyptische Schrift vor? Oder ist 1QM einer liturgischen Textgattung zuzuordnen? Je nach Gattungszuschreibung ist die Textpragmatik sehr unterschiedlich zu beschreiben. Zugespitzt gesagt: Handelt es sich um die Imagination eines bevorstehenden realen Krieges als Liturgie oder umgekehrt um die Imagination gottesdienstlich vorgetragener liturgischer Texte als Krieg? Im einen Fall würden reale Kämpfer in einem (erwarteten oder aktiv vorbereiteten) realen Krieg gewissermaßen religiös agitiert: Ihr Kämpfen und Töten ist eigentlich ein Gottesdienst. Im anderen Fall würde das völlig gewaltlose und unmilitärische Handeln von Priestern und deren Gottesdienstgemeinde dramatisiert als imaginierte Kampfhandlung. Im zweiten Fall käme 1QM in die Nähe der berühmten „geistlichen Waffenrüstung“ aus Eph 6,11-17 zu stehen: lauter fromme Übungen, nicht weniger und nicht mehr. Gilt bei einer liturgischen Lektüre von 1QM, dass „Krieg“ hier zur Metapher wird, freilich als Platzhalter für einen erwarteten realen Machtwechsel, den aber nur Gott selbst herbeiführen kann und wird, so gilt dies auch für die 13 <?page no="14"?> Johannesoffenbarung. Der Beitrag Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung von M AN U E L V O G E L hebt an mit dem wortstatistischen Befund, dass die ntl. Belege für πόλεμος, πολεμέω und νικάω sich weit überwiegend in der ApkJoh finden. „Krieg“ ist in der Apk also beileibe kein Randthema, obwohl die Kämpfenden an keiner Stelle zu den Waffen greifen. Es gibt aber auch kein schiedlich-friedliches Nebeneinander von Bildspender und ansonsten unbehelligtem Bildempfänger. Das zeigt bereits Apg 5,5: Der hier nahmhaft gemacht Sieg des Lammes „besteht darin, dass das Lamm mit seinem Blut Menschen aus allen Völkern zu Gottes Eigentum erworben und sie für Gott zu einer priesterlichen βασιλεία gemacht hat, die künftig auf Erden wie Könige herrschen werden (βασιλεύσουσιν). Warum ist das ein ,Sieg‘ im militärischen Sinne und gegen wen? Antwort: Es ist ein militärisch relevanter Sieg gegen den römischen Kaiser und sein weltweites Imperium. Denn das Sühneblut ist das Mittel, um aus Menschen aus allen Völkern ein Großreich zu bilden und damit das imperiale Programm Roms zu unterlaufen. Parallel zur ständig expandierenden römischen βασιλεία entsteht auf römischem Territorium eine subversive βασιλεία, die zwar nicht militärisch erobert, die aber dennoch insofern real militärisch relevant und tatsächlich ein Sieg ist, als die militärische Macht Roms sich in dem Maße als wirkungslos erweist, wie auf reichsrömischem Boden Gemeinden von Jesusgläubigen ent‐ stehen, die etwas tun, was aus römischer Sicht als bedrohlich wahrgenommen wurde, nämlich auf der Grundlage des Bekenntnisses zum dem Gott Israels dem Kaiser die gottgleiche Verehrung zu verweigern.“ Ausführlich untersucht Vogel sodann weitere Abschnitte. In 11,3-13 sind es die die „zwei Zeugen“, gegen die „das Tier“ „Krieg führt“ und sie zunächst „besiegt“, indem es sie tötet, doch Gott erweckt sie vom Tode auf, woraufhin die Menschen das tun, was der Kaiser am allermeisten fürchtet, nämlich „den Gott des Himmels ehren“ - und nicht ihn. Die zwei Zeugen gewinnen den Krieg, indem sie ihn zunächst verlieren. In Apk 12,7-17 verschiebt sich das Bildfeld vom Kultischen ins Juridische. Der Sieg in einem „Krieg im Himmel“ wird von den Gläubigen errungen, die sich „vor Gericht“ auf das Blut Jesu berufen und damit den Sturz des Verklägers aus dem Himmel auslösen. Auch hier verbleibt die Kriegsmetaphorik nicht im bloß Imaginären, denn der Verkläger bekämpft nun die Gläubigen auf Erden durch die Repressionen des satanischen Imperiums. Auch in 12,18-13,10 kämpft das Tier gegen die Gläubigen, die seinen weltweiten Herrschaftsanspruch durch ihre Nichtteilnahme am Kaiserkult infrage stellen. Die Verfolgung der Gläubigen dient der Schließung „jener empfindlichen reichspolitischen Lücke in Gestalt jener Minderheit, die dem Tier die Anbetung verweigert“. Doch wird „[d]ie Androhung des Todes (…) vom Mittel, die Verehrung des Kaisers gewaltsam durchzusetzen, zum Erweis seiner Wirkungslosigkeit und zur Probe 14 <?page no="15"?> auf die Unbeugsamkeit der Gläubigen, die mit jedem Martyrium gewissermaßen verewigt wird. Mit jedem scheinbaren ,Sieg‘ über die Heiligen fährt das Tier eine Niederlage ein, mit jedem Martyrium wird die Sicherheitslücke im System seiner angemaßten Weltherrschaft größer.“ In der Zusammenschau der Texte treten das kultische und das juridische Leitmotiv hervor. Es geht um (verweigerte) Anbetung und um die Berufung auf das Blut Jesu vor Gericht. Auf beiden Feldern fügen die Gläubigen dem Imperium reale Verluste zu. Denn das Blut Jesu begründet ein Loyalitätsverhältnis zum messianischen Wegebereiter der Gottesherrschaft, und die strenge Alternative der Anbetung Gottes oder des Kaisers bildet den Kern des Konflikts zwischen Rom und der frühen Jesusbewe‐ gung. Beides ist in der Bildersprache der Apk ein metaphorischer, in gewisser Weise aber eben auch sehr realer „Krieg“. Die drei Beiträge des zweiten Teils des Bandes erschließen komparative mo‐ derne Kontexte zu den Beiträgen des ersten Teils. Der erste Beitrag Spirituelle Kampfführung: Die Vertreibung böser Geister im westafrikanischen Christentum von W E R N E R K AHL schlägt einen Bogen vom dämonologischen Weltbild des antiken Judentums (u. a. in 1QM) und der frühen Jesusbewegung (u. a. in ApkJoh) zum Ahnenkult und Geisterglauben moderner afrikanischer Gesell‐ schaften. Das Christentum geht mit den darin sich niederschlagenden Wirk‐ lichkeitsannahmen gewissermaßen eine natürliche Verbindung ein, und dies in einem Zugriff auf neutestamentliche Texte, dem man die Textgemäßheit nicht rundheraus absprechen kann. Zwar lässt der exegetische Blick wichtige Verschiebungen zwischen Text und Applikation zu Tage treten, etwa im von Kahl erbrachten Nachweis der Inkongruenz zwischen der fromm-defensiven „geistlichen Waffenrüstung“ in Eph 6,11-17 und ihrer Verwendung zur realen Tötung persönlicher Feinde mit den Mitteln eines christlichen Spiritismus. Doch grosso modo darf sich die „spirituelle Kampfführung“ afrikanischer neo-pen‐ tekostaler communities auf ihre Nähe zur Welt und den Texten des Neuen Testaments durchaus berufen. Man muss ja nur 1Kor 5,4f hinzunehmen, um festzustellen, dass die magisch-rituell vollzogene reale Tötung oder zumindest schwere Schädigung eines Menschen im breiten Spektrum frühchristlicher Handlungsmöglichkeiten einen Platz hat, u. zw. keinen abseitigen, denn wir befinden uns hier inmitten der echten Paulusbriefe und somit der paulinischen „Theologie“. Viel interessanter ist eine andere Verschiebung, auf die Kahl mit dem Vergleich zwischen „Befreiungstheologie“ und exorzistischer „delive‐ rance-Theologie“ aufmerksam macht, ging es doch der Befreiungstheologie, wie wir sie aus lateinamerikanischen Anwendungskontexten kannten, um den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, dem neo-pentekostalen spiritual warfare dagegen um Erfolg und persönliches Wohlergehen im Kampf 15 <?page no="16"?> gegen echte oder vermeintliche Angriffe und Feindseligkeit im sozialen Nah‐ feld. Charismatische Mega-Churches erbringen hier im Kontext kapitalistischer Konkurrenzgesellschaften eine gefragte Dienstleitung, die sie sich dementspre‐ chend auch gut bezahlen lassen. Es ist so gesehen nicht verwunderlich, jedoch einer Bemerkung wert, dass US-amerikanisches welfare-gospel und spirituelle Kampfführung für’s eigene Fortkommen Hand in Hand gehen. Dass die Akteure subjektiv ehrlich und mit Überzeugung handeln, wird schlaglichtartig deutlich, wo ihre verbalen Schaukämpfe mit den Dämonen (mehr unfreiwillig als frei‐ willig) dann doch ins Gesellschaftliche ausgreifen, weil es sich vom Persönlichen nicht mehr wie gewohnt separieren lässt: Die Bannung des covid-19-Dämons durch den Bischof einer ghanaischen Pfingstkirche setzte sich der Gefahr ihrer evidenten Wirkungslosigkeit aus. In größerer Bescheidenheit, erzwungen durch die ersten ghanaischen Corona-Toten, stellte er in späteren Äußerungen die Bannung des Dämons Gott anheim und bat um die Stärkung des Immunsys‐ tems der Menschen. Für solche charismatische Rollenbegrenzung gibt es an einer entlegenen neutestamentlichen Stelle eine religionsgeschichtlich direkt vergleichbare Parallele: Im Judasbrief geht es um die Debatte, ob es statthaft ist, Dämonen zu verfluchen. Der Verfasser hält das für häretisch und vertritt die Position, dass ein solcher Akt nur Gott selbst zusteht: Selbst der Erzengel Michael war nicht so kühn wie die im Judasbrief bekämpften Charismatiker ( Jud 9). Mit dem zweiten Beitrag des zweiten Hauptteils liegt der Wiederabdruck eines bereits in 2004 an anderer Stelle veröffentlichen Textes vor, der gleichwohl im Tableau der Texte und Themen dieses Bandes keinesfalls fehlen durfte. Es handelt sich um [d]ie ,Geistliche Anleitung‘ der Attentäter des 11. September. Dieser Text gehört in dasselbe Schnittfeld von „Krieg“ und „Liturgie“, in das auch die Kriegsrolle von Qumran einzuordnen ist. Der eingehende formge‐ schichtliche und textpragmatische Vergleich dieser beiden Texte dürfte sich als sehr lohnend erweisen, trotz und gerade wegen des erheblichen historischen Abstands. Dieser Vergleich wird im vorliegenden Band nicht geleistet, wohl aber soll die Wiederveröffentlichung der „Geistlichen Anleitung“ hierzu anregen. Deutlich ist jedenfalls, dass die zu 1QM angestellte Überlegung, ob es sich bei dieser Schrift um die Imagination eines bevorstehenden realen Krieges als Liturgie handelt oder um die Imagination gottesdienstlich vorgetragener liturgischer Texte als Krieg, für die „Geistliche Anleitung“ in ersterem Sinne zu beantworten ist und damit entgegengesetzt zu 1QM: Während in der Kriegsrolle liturgisches Handeln militärisch aufgeladen wird, sodass betende Priester sich in der Rolle von Gotteskämpfern in einem unsichtbaren Krieg sehen dürfen, erhält in der „Geistlichen Anleitung“ umgekehrt der als „Krieg“ [ǧihād] aufgefasste 16 <?page no="17"?> Angriff nicht nur einen durch und durch religiösen Charakter, sondern auch eine strenge liturgische Form. Soll sich in 1QM der Liturg als Kämpfer fühlen, so hier der Kämpfer als Liturg, wenn er einer heiligen Choreographie folgt und eine Art Stufengebet spricht von den ersten Vorbereitungen am Tage des Angriffs bis zum Einschlag des Flugzeugs in die Türme. Diese Junktur von Religion und Gewalt, für die realsymbolisch der 11. September 2001 steht, hat in den untersuchten Texten aus der biblisch-jüdisch-christlichen Tradition keine Entsprechung, und sie ist geeignet, Religion völlig zu diskreditieren, vergleichbar etwa dem Fürbittgebet des amerikanischen Militärpfarrers William Downy für die Besatzung des Fernbombers Enola Gay vor ihrem Start in Richtung Hiroshima 5. August 1945, das man heute wohl nur mit einer ähnlichen Bestürzung lesen kann. Wer diesen Vergleich ablehnt, möge sich fragen, warum im Krieg so leichthin als erlaubt gilt, was ansonsten verabscheut wird. Die Grenze zwischen dem ohne weiteres Statthaften und dem Verabscheuungswür‐ digen wird sprachlich scharf gezogen in der Unterscheidung von „Krieg“ und „Terrorismus“. Wo beides aufeinandertrifft, gilt es, „Krieg gegen den Terror“ (war on terror) zu führen, so das politische Schlagwort der Bush-Regierung nach den Anschlägen vom 11. September (mit eigenem Wikipedia-Eintrag). Hier geht es um Moral, um Definitionsmacht und um sprachliche Strategien der Legitimie‐ rung und Delegitimierung des Tötens. „Terrorismus“ ist eine delegitimierende Fremdzuschreibung. Die Parole des war on terror benennt einen heterogenen Antagonismus: Man führt Krieg gegen einen Feind, dem man abspricht, ein Kriegsgegner zu sein. Hier geht es nicht religiös um den heiligen, sondern politisch um den gerechten Krieg. Wenn wir hierzu nach Vergleichsgrößen im antiken Feld suchen, stoßen wir auf das republikanisch-reichsrömische ius ad bellum, auf das Recht, Krieg zu definieren und (im doppelten Wortsinn) Krieg(e) zu erklären. Der den Band abschließende dritte Beitrag des zweiten Hauptteils Wege in die Radikalität. Biografische Zugänge zu RAF und Bewegung 2. Juni von M AN U E L V O G E L ist befasst mit einer Innenansicht zu den im Aufsatztitel genannten Gruppen, die in der Form einer einleitend systematisch kommentierten Quel‐ lensammlung von Originaltexten die Motivation damals Beteiligter zu Illegalität und bewaffnetem Kampf offenlegen soll. Ihr unversöhnlicher Antagonismus gegen „den Staat“ bzw. „das System“ war genährt von einem ausgeprägten Ge‐ rechtigkeitsempfinden im Blick auf die staatliche Mitwirkung der postfaschis‐ tischen BRD an globaler Unterdrückung und Gewalt im historischen Kontext des Vietnamkrieges, andererseits auch von dem Bewusstsein, Teil einer globalen Befreiungsbewegung zu sein, an deren Ende die unterdrückten Völker das Joch der Herrschenden abwerfen würden. Die intensive Feindschaft zwischen 17 <?page no="18"?> den Akteurinnen und Akteuren des bewaffneten Kampfes und dem BRD-Staat lässt sich sprachlich aufweisen anhand der bereits namhaft gemachten Unter‐ scheidung von „Krieg“ und „Terrorismus“. Hier zeigt sich am deutlichsten die Unvereinbarkeit der Perspektiven auf die Nachkriegsgeschichte der BRD. Die Regierung konnte den Anspruch der Gegenseite „Kämpfer“ in einem „Krieg“ zu sein keinesfalls gelten lassen ohne die Rechtmäßigkeit des bewaffneten Kampfes zumindest im Grundsatz anzuerkennen und damit auch das eigene Unrecht, gegen das dieser Kampf gerichtet war. Konsequenterweise wurde von staatlicher Seite der Terrorismus-Begriff, den die Beteiligten selbst gar nicht verwendeten (bzw. nur für das, was sie selbst ablehnten), massenmedial ins Monströse gesteigert bis hin zur massiven Desinformation über die angeb‐ liche terroristische Bedrohung ganzer Stadtbevölkerungen. Für den Antrag des Verteidigers der Stammheimer RAF-Gefangenen, diese freizusprechen und in Kriegsgefangenschaft zu überführen, hatten die Bundesanwälte nur Gelächter übrig. Zugleich konnte regierungsseitig aber auch von der „Verpolizeilichung des Krieges“ die Rede sein. Die berühmte Formulierung des BKA-Chefs Horst Herold trug dem Umstand Rechnung, dass in einer Zeit, in der Krieg sich längst nicht mehr auf die klassische Form der militärischen Auseinandersetzung zwischen regulären Armeen souveräner Staaten beschränkte, der Begriff des Krieges phänomnologisch neu zu bestimmen und völkerrechtlich neu zu ver‐ handeln war. Herolds Diktum betraf indes nur die operative Seite, die nach (der Legitimierung) einer Aufrüstung der Polizei verlangte. Die Anklage hat die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes nie anders denn als Kriminelle behandelt. Die Anerkennung einer politischen Dimension ihres Handelns durfte niemals auch nur in die Nähe des Diskutablen gelangen. In diesem letzten Beitrag geht es abermals nicht um den heiligen, wohl aber um den gerechten Krieg. Die RAF war für den Staat nicht zuletzt deshalb ein Ärgernis, weil sie auf eigene Weise das nationalstaatlich monopolisierte ius ad bellum in Frage stellte und es für ein globales revolutionäres Subjekt in Anspruch nahm, das sich machtvoll zu formieren schien und als dessen Teil sie sich sah. So gesehen gibt es dann doch Vergleichspunkte zu den antiken Texten dieses Bandes, nämlich (a) zum reichsrömischen Anspruch, stets nur „gerechte“ Kriege zu führen, sodann (b) zum frühchristlichen Marytrium und schließlich (c) zu den geschichtstheoretischen Aspekten antik-jüdischer und frühchristlicher Imaginationen eines „Heiligen Krieges“. (a) Die kaiserzeitliche Expansion des römischen Imperiums, das unter Kaiser Trajan (98-117 n. Chr.) seine größte Ausdehnung erreichte, verdankte sich einer Reihe von Eroberungskriegen, die es nach der alten römischen Rechts‐ auffassung, derzufolge ein „gerechter“ Krieg stets auf ein zugefügtes Unrecht 18 <?page no="19"?> reagierte, eigentlich gar nicht geben durfte. Schon der Philosoph Karneades äußerte bei Gelegenheit der berühmten Philosophengesandtschaft des Jahres 155 v. Chr. den Gedanken, die Römer müssten, wollten sie gerecht sein, die von ihnen eroberten Gebiete zurückgeben und zu einem Leben in Bescheidenheit zurückkehren. Das an selber Stelle formulierte Gegenargument lautet, es sei für die Beherrschten nützlich, beherrscht zu werden, und deshalb sei es auch gerecht, vgl. Cicero, De re publica III,12(21).24(36). So liest man es bis heute, etwa bei Herfried Münkler, der zu bedenken geben will, Imperien seien jedenfalls nicht nur schlecht. Mit diesem Argument konnte auch Rom seine Eroberungs‐ kriege rechtfertigen, und wer die Segensgabe der pax Romana ablehnte, bekam römische Härte zu spüren. Zeige dich, Römer, bewusst der Pflicht, die Völker zu lenken / hierin beweise dein Können! -, das Friedensgesetz zu diktieren / die Unterworfnen zu schonen, doch Trotzige niederzuringen! So hat Vergil die Rolle Roms in augusteischer Zeit bündig formuliert (Aeneis 6,851-853). Wer sich gegen Rom erhob, führte keinen „Krieg“ (bellum), sondern beging den Frevel eines „Aufstandes“ (seditio). Dann nahm Rom sein ius ad bellum in Anspruch, die seditio der Unterworfenen mit Gewalt zu beenden. Hier geht es um eben jene sorgsame sprachliche Unterscheidung, die mutatis mutandis in der modernen Disjunktion von „Krieg“ und „Terrorismus“ wiederkehrt. (b) Die Hungerstreiks der Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes waren in der Situation des völligen Ausgeliefertseins an die Staats‐ macht eine letzte, paradoxe Möglichkeit der Selbstbehauptung, des selbstbe‐ stimmten Handelns und (darauf kommt es hier an) des Widerstands. Die Gefan‐ genen zeigten sich (in Aufnahme des Titels der Monographie von Jan-Hendrik Schulz, Frankfurt 2019) „unbeugsam hinter Gittern“ (Auf Teil 2.6 des vorlie‐ genden Beitrages sei an dieser Stelle eigens verwiesen). Das bewusste Inkauf‐ nehmen der Möglichkeit des eigenen Todes war - im übertragenen Sinn und doch völlig real - eine Waffe, die die Gefangenen gegen den übermächtigen Staat richteten. Dabei geht es gar nicht um Fragen des Erfolges - Teilerfolge wurden erzielt, bei vielen Hungerstreiks wurde den damit verbundenen Forderungen aber auch nicht entsprochen -, sondern um den Gestus der Unbedingtheit des antagonistischen Standpunktes gegen das System. Die Weigerung zu essen war eine letzte Verweigerung des Gehorsams und des Funktionierens im repressiven Apparat der Gefängnishaft. Versteht man die frühchristlichen Martyrien als Akte des Widerstands gegen die im Kaiserkult ritualisierte Gehorsamsforde‐ rung des römischen Imperiums, ergeben sich Parallelen. Auf beiden Feldern geht es um die Zuspitzung des Widerstands im Einsatz des eigenen Lebens, der Lebenswillen und Todesbereitschaft paradox und sozusagen ergebnisoffen verbindet. Die Devise „Das Projektil sind wir“ (um einen weiteren Buchtitel 19 <?page no="20"?> aufzurufen, nun von Karl-Heinz Dellwo, Hamburg 2007) ist keineswegs ein verdecktes Plädoyer für die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes, sondern (in Anbetracht seiner rückwirkend zu konstatierenden - jedenfalls unmittelbaren - Wirkungslosigkeit) seine programmatische Ersetzung durch die jetzt erst recht festzuhaltende und durchzuhaltende Radikalität des eigenen Daseinsentwurfs im „vollen Lebenseinsatz“. Die Metaphorik dieser Devise hat im paulinischen Satz vom „Hingeben“ des „eigenen Leibes“ als „lebendiges Opfer“ (Röm 12,1), verbunden mit der Aufforderung sich den „Strukturen dieses Äons nicht an‐ zupassen“ (Röm 12,2), eine ferne und doch sehr nahe Entsprechung. Dabei dürfte das in Röm 12,1 aufgerufene Bild sogar eine klar antimartyrologische Stoßrichtung haben: Man soll eben nicht sterben, sondern leben, aber man soll in derselben Radikalität leben wollen, wie der Märtyrer sein Leben aufs Spiel setzt. Das Martyrium wird also ersetzt, zugleich wird aber daran Maß genommen. Das Oxymoron „lebendiges Opfer“ (denn ein Opfertier ist nur als getötetes ein Opfer) bezeichnet diese Verschränkung von Todes- und Lebens‐ bereitschaft, in der eines das andere interpretiert. Ein solcher Daseinsentwurf ist gegenüber seiner totalen Verzweckung „resistent“ (wörtlich: „widerständig“) und für jeden totalitären Verfügungsanspruch eine gefährliche Infragestellung. Die frühchristlichen Martyrien und die Hungerstreiks der Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes haben im Widerstand gegen einen totalen Verfügungsanspruch einen gemeinsamen Index und lassen in der Figur des radikalen Lebenseinsatzes eine eng verwandte Daseinsauffassung erkennen. An dieser Stelle ist nochmals auf die von Raik Heckl im ersten Beitrag dieses Bandes diskutierte Monotheismus-These Jan Assmanns zurückzukommen. Wenn Ass‐ mann nämlich notiert, „dass es bei dem Problem ‚Monotheismus und Gewalt‘ ebenso um das Erleiden wie um das Ausüben von Gewalt geht“ (Die Mosaische Unterscheidung, 35), dann ist dies nichts anderes als eine Denunziation des Mar‐ tyriums als spiegelverkehrtes Selbstmordattentat mit dem gemeinsamen Nenner gewaltbereiter Intoleranz. Der Märtyrer ist aber nicht intolerant, sondern hat etwas, womit es ihm ernst ist. Da aber die total gewordene Warengesellschaft keine Überzeugungen mehr vorsieht, sondern nur noch Wohlgefühl, werden auf einem hohen kulturwissenschaftlichen Niveau Überzeugungen als Intoleranz verächtlich gemacht. Möglicherweise ist das die entscheidende Frage an die Bewohner der modernen Warenwelt, in der auch noch die Empörung über dies und das zum emotionalen Dressing gut gemachter Unterhaltung degeneriert: Ob es überhaupt noch etwas von Belang gibt, wovon wir sagen können, dass wir es wirklich ernst meinen. (c) Die im antiken Judentum einschließlich der frühen Jesusbewegung weithin prägende apokalyptische Geschichtsauffassung sah im römischen Reich 20 <?page no="21"?> das letzte der vier danielischen Großreiche, die wie Raubtiere unter den Völkern wüteten. Nach dem Ende dieses letzten Reiches würde mit dem „Reich des Menschensohnes“ ein immerwährendes Reich der Gerechtigkeit erstehen. In der Johannesoffenbarung wird dem Untergang Roms („Babylons“) in einer dramatischen visionären Schau ein ganzes Kapitel gewidmet (Apk 18). Das Epochenbewusstsein der Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes, an der Schwelle einer neuen Zeit zu stehen (ohne welches man die Stimmung dieser Jahre gar nicht versteht), hat in der apokalyptischen Erwartung, alle ungerechte Herrschaft werde ein baldiges Ende haben, eine entfernte Parallele, nicht zuletzt im Blick auf ihre politische Brisanz im historischen Kontext der frühen römischen Kaiserzeit. „Wir erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ (2Petr 3,13). 21 <?page no="23"?> Teil I Antike Texte <?page no="25"?> 1 Vgl. zur Problematik und Kritik Graf, Religion und Gewalt, 20ff. 2 Siehe dazu Schnocks, Rezeption. 3 Beispiele sind Ausschreitungen gegen heidnische Kulte, nachdem das Christentum zur Staatsreligion geworden war (vgl. dazu die Quellentexte bei Gehrke/ Schneider, Ge‐ schichte, 398 ff), aber auch die Anwendung von Gewalt bei der Christianisierung West- und Mitteleuropas (vgl. dazu z. B. Schäferdiek, Sachsen, 552 f) sowie des Ostseeraums (vgl. dazu Miethke, Heidenkrieg). 4 Vgl. dazu Schmitt, Der „Heilige Krieg“, 204ff. 5 Der Spiegel hat im Heft 52/ 2006 Assmanns Thesen breit unter dem Titel „Gott kam aus Ägypten“ diskutiert. Thomas Assheuer hat die Thesen von Assmann und Sloterdijk Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? Raik Heckl Unsere Gesellschaft und Kultur sehen sich im 21. Jh. einer von traditionellen re‐ ligiösen Positionen herrührenden Gefahr ausgesetzt. Religiös motivierte Gewalt gefährdet das Zusammenleben im modernen freiheitlichen Staat, und staatliche Reaktionen oder Präventivmaßnahmen schränken verfassungsmäßige Rechte ein. Aufgrund des vor allem (aber nicht ausschließlich) islamistischen Terro‐ rismus, der sich mit konservativen islamischen Positionen legitimiert, legt sich scheinbar ein direkter Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt und insbesondere zwischen monotheistischer Religion und angewendeter oder propagierter Gewalt nahe. 1 Eine wichtige Rolle spielen in der Diskussion auch Passagen mit Gewaltdarstellungen in der Hebräischen Bibel. Diese biblischen Texte vor allem aus dem Bereich der Landnahmeüberlieferungen haben bereits eine tragische Wirkung entfaltet. Sie dienten in Auseinandersetzungen mit dem Hellenismus im 2. Jh. v. Chr. als Programmtexte 2 und spielten eine wichtige Rolle in der Spätantike in der Auseinandersetzung des Christentums mit den heidnischen Religionen. 3 Und auch in den kriegerischen Auseinandersetzungen der Zeit der Kreuzzüge sowie in der frühen Neuzeit hat man sich zur Rechtfer‐ tigung von Gewaltanwendung auf betreffende Textabschnitte bezogen. 4 In der theologischen Diskussion spielten in den zurückliegenden Jahren die Namen Jan Assmann und Peter Sloterdijk eine besondere Rolle. Populäre kritische Äußerungen in der Gegenwart gehen in eine ähnliche Richtung. 5 <?page no="26"?> unter dem Titel „Religionen und Gewalt. Frieden, Salam, Schalom“ in der ZEIT (4/ 2015) aufgegriffen. 6 In seiner Monographie „Moses der Ägypter“ (Assmann, Moses), formulierte Assmann sein Konzept zu Ägypten in der Gedächtnisgeschichte aus. Vgl. Assmann, Gedächtnis, 210ff. 7 Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, 11. 8 Assmann, Moses, 17. Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler J. Assmann hatte schon vor seinen kritischen Thesen einen großen Einfluss auf theologische und bibelwissen‐ schaftliche Diskurse. Mit seiner Kritik am Monotheismus führte er Thesen seiner ersten populären Monographie „Das kulturelle Gedächtnis“ weiter. 6 Ausgangspunkt seiner Kritik war die Unterscheidung monotheistischer und traditioneller Religion und Religiosität: Judentum, Christentum und Islam sind nach seiner Definition sekundäre Religionen, die sich religiöser Spekulation und der Auseinandersetzung mit traditioneller Religiosität sowie ihrer Ablehnung verdanken. Letztere bezeichnet er als primäre Religionen, bei denen es sich in der Regel um polytheistische Systeme handelt, die in einem Evolutionsprozess entstanden sind: „Primäre Religionen sind über Jahrhunderte und Jahrtausende historisch gewachsen im Rahmen einer Kultur, Gesellschaft und meist auch Sprache, mit der sie unablöslich verbunden sind.“ 7 Assmann meinte, dass mit der sekundären Religion und der Entscheidung für eine Gottheit und für ihre Verehrung die Unterscheidung von wahr und unwahr in den Bereich der Religion eingetragen worden sei. „Die Unterscheidung, um die es in diesem Buch geht, ist die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr in der Religion, die spezifischeren Unterscheidungen zugrunde liegt wie die zwischen Juden und gojim, Christen und Heiden, Muslimen und Ungläubigen.“ 8 Während primäre Religionen kulturelle Übersetzungsarbeit leisten und zwi‐ schen verschiedenen Nationen und Kulturen vermitteln können, führt die sekundäre Religion zu immer stärkerer Ausgrenzung von anderen Religionen, Konfessionen und Untergruppen bis hin zur Definition von Häresien. Von hier ist der Weg zur Anwendung von religiös motivierter Gewalt nicht weit. Die konstruktive Funktion des Polytheismus beschrieb Assmann so: „Die antiken Polytheismen gehören zu solchen Techniken der Übersetzung. Sie gehören in den Entstehungsprozeß der ‚Alten Welt‘ als einer zusammenhängenden Ökumene politisch vernetzter Staaten. Die polytheistischen Religionen überwanden den Ethnozentrismus der Stammesreligionen, indem sie verschiedene Götter nach 26 Raik Heckl <?page no="27"?> 9 Assmann, Moses, 19. 10 Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, 35. 11 Sloterdijk, Im Schatten des Sinai, 49f. Name, Gestalt und Funktion oder ‚Ressort‘ unterschieden. Die Namen sind natürlich von Kultur zu Kultur verschieden, weil die Sprachen verschieden sind. Auch die Gestalten der Gottheit und die Riten ihrer Verehrung können sehr verschieden sein. Hinsichtlich ihrer Funktion dagegen bestehen große Ähnlichkeiten, besonders wenn es sich um kosmische Gottheiten handelt; und die meisten Gottheiten hatten kosmische Aspekte und Funktionen. Der Sonnengott der einen Religion ließ sich leicht dem Sonnengott der anderen Religion gleichsetzen, und so weiter. Aufgrund dieser funktionalen Äquivalenz ließen sich Götternamen verschiedener Religionen übersetzen.“ 9 Einen destruktiven Charakter und die Ursache von religiös motivierter Gewalt sah er im Monotheismus: „Wenn man sich klarmacht, daß die dem Monotheismus innewohnende, sich aus der Mosaischen Unterscheidung mit Notwendigkeit ergebende Intoleranz zunächst einmal in passiver bzw. martyrologischer Form in Erscheinung tritt, d. h. als Weige‐ rung, eine als falsch erkannte Religionsform zu akzeptieren und lieber zu sterben, als in diesem Punkt nachzugeben, dann zeigt sich, dass es bei dem Problem ‚Monotheismus und Gewalt‘ ebenso um das Erleiden wie um das Ausüben von Gewalt geht. Ebenso steht es mit dem Hass.“ 10 P. Sloterdijk setzt im Rahmen seiner Kritik der modernen Gesellschaft bei einem Grundkonzept der Gemeinschaftsbildung in monotheistischen religiösen Gruppierungen an. In dieser Hinsicht am bekanntesten ist sein Buch „Im Schatten des Sinai“. Darin formuliert er die Überzeugung, dass die Entscheidung für eine bestimmte Gottheit in den monotheistischen Religionen das Prinzip einer totalen Mitgliedschaft hervorbringt. „Die drei theogenen Kollektive [ Judentum, Christentum und Islam, R.H.] teilen miteinander den in der sinaitischen Verschärfung zuerst prägnant ausgeformten Zugriff auf das Leben ihrer Angehörigen im Modus der totalen Mitgliedschaft - ob dieser nun hebräisch qana heißt oder griechisch zélos oder arabisch djihad. Dies verrät sich nicht zuletzt in ihrer gemeinsamen tiefen Nervosität angesichts der Gefahr von Apostasie.“ 11 „Wer sich für Methoden zur Erzeugung von totaler Mitgliedschaft im frühen 21. Jahrhundert interessiert, braucht sich nur zu informieren über das Treiben von Taliban-Schulen in Afghanistan und von wahabitischen Ausbildungszentren in Saudi-Arabien, deren Abgänger vor allem in den Ländern Afrikas und Asiens als Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 27 <?page no="28"?> 12 Sloterdijk, Im Schatten des Sinai, 51. 13 Diesen Aspekt betont in besonderer Weise auch Flaig, Heiliger Krieg, 276-281, nach dem der Monotheismus von den biblischen Landnahmeüberlieferungen bis zu den Darstellungen der Makkabäerbüchern mit einer Sakralisierung des Krieges Gewalt generiert. Die Thesenbildung Flaigs ist durch eine unkritische Rezeption von Assmanns Sicht des Monotheismus beeinflusst. Vgl. Schmitt, Heiliger Krieg, 30. 14 Erstmals Assmann, Monotheismus, 252. 15 Vgl. Assmann, Exodus, 111 f. Den „Monotheismus der Treue“ auf Grundlage des Exodus stellt er den „Monotheismus der Wahrheit“ gegenüber, der universalistisch und polemisch sei. Letzteren führt er auf den Einfluss des Zoroastrismus zurück. Glaubenskämpfer auffällig werden. Dass ähnliches in manchen Hinterhof-Moscheen Europas geschieht, lässt sich nicht mit Stillschweigen übergehen. Der Interessent sollte sich allerdings auch kundig machen über die protestantischen Sekten-Univer‐ sitäten in den USA, über Seminare der Pius-Brüder in der Schweiz, über Engelwerke und marianische Inbrunst-Vereine in Bayern sowie über die Geschäfte einer Unzahl totalitärer Kleinreligionen in aller Welt, die bei all ihren Verschiedenheiten das eine gemeinsam haben, dass sie, scheinbar altmodisch, nach dem ‚ganzen Dasein‘ ihrer Mitglieder greifen.“ 12 Was die Kritik Assmanns und Sloterdijks verbindet, ist der Verweis auf die religiösen Grundlagentexte vor allem der Hebräischen Bibel. Beide sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dargestellter und religiös motivierter Gewalt als Teil ihrer Wirkungsgeschichte. 13 J. Assmann war in dieser Hinsicht relativ moderat. Auch ist er später von seinen kritischen Thesen ein Stück weit abgerückt, indem er von einem „Monotheismus der Treue“ 14 sprach und damit die besondere Gottesbeziehung Israels hervorhob. 15 Meiner Ansicht nach unterscheidet sich der Gebrauch der religiösen Texte in der verhängnisvollen Wirkungsgeschichte bspw. im Mittelalter oder auch in der Antike kaum von der Sicht der Texte in den kritischen Stellungnahmen der beiden Forscher. Nicht nur die Verfasser der Makkabäerbücher haben die biblischen Texte auch in ihrer Darstellung von Krieg und Gewalt als verbindlich angesehen, nicht nur die Vertreter eines religiösen islamischen Fundamenta‐ lismus halten die Texte des Koran insgesamt für verbindliche Äußerungen für die heutige Zeit, sondern auch Assmann und Sloterdijk scheinen von der Verbindlichkeit der Texte bis in die Einzelheiten hinein für die jeweilige Religi‐ onsgemeinschaft als gegebenen Fakt auszugehen. Das entspricht in gewissen Sinne der kirchlichen Sicht der Bibel als kanonische Textgrundlage, wiewohl die Frage der Kanonizität und die Definition dessen natürlich umstritten sind. Doch sind sich Judentum und Christentum (abgesehen von bestimmten Rand‐ positionen) immer darüber im Klaren gewesen, dass die biblischen Inhalte nie 28 Raik Heckl <?page no="29"?> 16 Graf, Religion und Gewalt, 22, hält als Mechanismus fest, dass Glaubensgewalt (auch in polytheistischen Kontexten) propagiert wird von „einer Hermeneutik der radikalen Gleichzeitigkeit [her], die den Unterschied von einst und jetzt zu überspringen und Unmittelbarkeit zum geoffenbarten Ursprung des eigenen Glaubens zu imaginieren erlaubt“. Vgl. weiter meinen Beitrag Heckl, Glaubenszeugnis. 17 Vgl. Heckl, Das Alte Testament, 443-449. 18 Vgl. ebd., 442f. ohne Vermittlung auf spätere Situationen zu beziehen sind. Das Judentum hat daher die Halacha entwickelt. Das Christentum hat Bekenntnisse formuliert und ihre Anwendung an eine ethische Interpretation der biblischen Texte geheftet. Die ganze Frage nach dem Gewaltpotential religiöser Grundlagentexte lässt sich nicht losgelöst von der Frage nach deren Charakter beantworten. Die Texte der Hebräischen Bibel oder des Neuen Testament können natürlich keine direkte Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen herstellen. 16 Die alttestamentli‐ chen Texte sind Traditionsliteratur, an der über Generationen gearbeitet worden ist. Ihre literarische Geschichte ist ein Faktum, auch wenn die Rekonstruktion der atl. Redaktionsgeschichte seit mehr als 200 Jahren nicht zu einem Konsens geführt hat. Auf festem Boden steht man, wenn man erkennt, dass die biblischen Texte in ihren Vorstufen bzw. im Verlauf ihrer literarischen Geschichte nicht nur im Sinne autonomer oder kanonischer Literatur der Rezeption, sondern der Vermittlung von theologischen Konzepten dienten. Sie tragen abhängig von der verwendeten Textsorte einen intentionalen Charakter. Die literarische Geschichte der Texte hängt mit einer Aktualisierung bzw. mit einer Veränderung der Absichten zusammen. Zu einer allgemeinen Geltung der biblischen Texte ist es dagegen erst später gekommen. 17 Dieser Situation entspricht es, wenn man sie jeweils als Diskursfragmente versteht. Als Teil antiker Diskurse sollten sie bestimmte religiöse Positionen befördern und bei der Ausbildung einer religiösen Identität der intendierten Adressaten mitwirken. 18 Ausgehend von diesem zugespitzten historisch-kritischen Zugang zu den Texten, soll die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt in den biblischen Texten erneut angerissen werden. Nur auf diesem Wege lässt sich klären, ob der Aufruf zu Gewalt sowie die Darstellung von Krieg und Gewalt eine Grundlage in der Religiosität hat. 1 Heiliger Krieg im Alten Israel Der Begriff des Heiligen Krieges im Alten Israel ist untrennbar mit Gerhard von Rad verbunden. 19 1951 hat er die These aufgestellt, dass es sich beim Heiligen Krieg um eine grundlegende Institution des Alten Israels gehandelt Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 29 <?page no="30"?> 19 Hier können nur einige Stichpunkte zur Genese und Kritik der These gegeben werden. Als Überblick über die Forschung siehe Schmitt, Der „Heilige Krieg“, 1-50. Die moderne Rede vom Heiligen Krieg reflektiert Graf, Sakralisierung. 20 Hierzu v. Rad, Der Heilige Krieg, 14 und Wellhausen, Geschichte, 24. 21 Vgl. Wellhausen, Geschichte, 20. 22 Vgl. Wellhausen, Geschichte, 27. 23 Wellhausen, Geschichte, 23. 24 Vgl. Wellhausen, Geschichte, 25. 25 Siehe die Darstellung Schwally, Kriegsaltertümer. 26 Vgl. Schwally, Kriegsaltertümer, 57 27 Siehe v. Rad, Der Heilige Krieg, 5. habe, deren Ursprung am Anfang der Geschichte des Stammesvolkes gelegen hätte. Sie sei lebendig geblieben bis in die Zeit der Staatlichkeit und habe sich später allmählich verloren. V. Rad hat sich bei seiner Darstellung auf eine ältere These von Julius Wellhausen gestützt. Er schließt sich an dessen Worte an: „Das Kriegslager, die Wiege der Nation, war auch das älteste Heiligtum. Da war Israel, und da war Jahwe.“ 20 Man muss sich klarmachen, dass für Wellhausen und die ältere Forschung „Religion“ und „Volksleben“, wie man es damals bezeichnete, 21 eine untrennbare Einheit bildeten, die sich institutionell als eine Art Theokratie darstellen. Und daher war auch der Krieg eine religiöse Angelegenheit. 22 Der Ursprung der nationalen Identität des alten Israels lag nach Wellhausen im Krieg: „Die vornehmste Äußerung des Lebens der Nation war damals und auf Jahrhunderte hinaus der Krieg.“ 23 Und trotz der anderen Verortung war auch Wellhausen der Ansicht, dass der Bann, wonach der Gegner schlussendlich vollständig als eine Art Opfer für Jhwh vernichtet werde, ein Hauptcharakteristikum der alttestamentlichen Kriegsvorstellung sei. 24 Die Zeit zwischen Wellhausen und v. Rad war davon geprägt, dass man die kultischen Aspekte, die zum Krieg entsprechend hinzugehören, zu bestimmen suchte. 25 Man wies bspw. auf die Nähe zur Vorstellung des Nasiräats hin. Wenn der Krieg eine heilige Angelegenheit ist, wie das auch in Naturvölkern der Fall sei, so seien auch Krieger geweihte Personen, weswegen bestimmte Vorschriften für diese notwendig wurden. 26 So erklärte man u. a. bestimmte Texte im Josuabuch und die Kriegsgesetze des Deuteronomiums. V. Rad hat diese älteren Überlegungen weitergeführt und auf der Grundlage der form- und gattungskritischen Überlegungen von Hermann Gunkel die Konventionen des Heiligen Krieges als kultischer Begehung zu rekonstruieren versucht. 27 Dies führte ihn zurück in die vorstaatliche Zeit. Der Heilige Krieg wurde von ihm daher als eine Institution der Amphiktyonie angesehen: Die Aufbietung des Volkes führt zur Versammlung des Heerbanns, dem oft in einem Gottesentscheid zugesprochen wird, dass die Feinde in die Hand des 30 Raik Heckl <?page no="31"?> 28 V. Rad, Der Heilige Krieg, 13. 29 Fohrer, Geschichte, 109. 30 Vgl. Stolz, Kriege, 203: „Die entsprechenden Sprachformen entwerfen Bilder des Jah‐ wekrieges, die aus einer Vergangenheit stammten. Züge vergangener Jahwe-Kriegser‐ fahrung werden kombiniert zu einer Jahwekrieg-Theorie. Ganz scharf ausgedrückt: Der Mangel an gegenwärtiger Erfahrung wird kompensiert durch eine die Vergangenheit summierende Theorie.“ Volkes gegeben seien bzw. gegeben werden. Hierzu gehören der Aufruf, sich nicht zu fürchten, die Eröffnung des Krieges mit einem Kriegsgeschrei und die Darstellung des Eingreifens der Gottheit mit dem Gottesschrecken. Höhepunkt und zugleich Zielpunkt ist der Vollzug des Banns, bei dem die gesamte Beute an Jahwe übereignet wird: „Abschluss bildete der Bann, die Übereignung der Beute an Jahwe. Wie beim ganzen heiligen Krieg, so handelte es sich auch hier um eine kultische Angelegenheit: die Menschen und Tiere werden getötet, Gold, Silber usw. gingen als ׁשֶדֹק in den Schatz Jahwes ein ( Jos. 6,18f).“ 28 Entscheidende Kritik kam von Georg Fohrer: „Wie alles und jedes im Leben war die Kriegführung von religiösen Vorstellungen umwoben und von religiösen Riten begleitet. Doch dadurch wird sie ebensowenig zu einem ‚heiligen‘ Krieg und zu einer sakralen Institution wie Geburt, Entwöhnung, Hochzeit, Tod oder Schafschur, die mit religiösen Vorstellungen, Riten und Formeln umgeben waren. Ein ‚heiliger‘ Krieg als sakrale Institution der alten Zeit ist lediglich das Ergebnis einer durch religiöse Feindschaft gegen das Fremde bedingten späten Systematisierung des praktischen religiösen Verhaltens einer frühen Kulturstufe.“ 29 Fohrer, der die Darstellungen als Rückprojektionen ansah, kann als Grundlage einer Neuorientierung gelten. Dass man nicht Elemente aus Erzählungen über Kriege extrahieren, zusammenziehen und dann daraus eine israelitische jüdi‐ sche Institution konstruieren kann, setzt sich nun allmählich durch. Das Konzept v. Rads kam aber erst zusammen mit Martin Noths Amphykti‐ oniethese unter Druck, weil man die biblischen Texte nicht mehr als Zeugnisse der Frühzeit begreifen konnte. Dies war der Ansatz von Fritz Stolz, der alter‐ nativ davon ausging, dass besonders in den dtr. Texten eine Vorstellung von Jhwh-Kriegen entwickelt werde. 30 Manfred Weippert führte letztlich die Kritik von Fohrer weiter und wies traditionsgeschichtlich darauf, dass altorientalisch die Kriege immer die Kriege von Göttern gewesen seien. Deshalb sei es mög‐ lich von Jahwes Kriegen zu sprechen, doch sei das eben kein Kriterium des Monotheismus, sondern eine dem altorientalischen Kontext entsprechende Be‐ Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 31 <?page no="32"?> 31 Vgl. Weippert, Heiliger Krieg, 91 f. Die These wurde für den Alten Orient breit ausformuliert von Kang, Devine War, 12-110. 32 Vgl. Otto, Krieg, 97f. 33 Otto denkt vor allem an den Themenbereich des Auszugs aus Ägypten. Vgl. Otto, Krieg, 104. 34 Groß, Keine „Heiligen Kriege“, 111, und Gaß, Gewalt, 112, gehen davon aus, dass die Darstellung der gewaltsamen Landnahme die unter den Assyrern erlittenen Erfah‐ rungen reflektiert. 35 Otto, Krieg und Frieden, 105. 36 Vgl. Otto, Krieg und Frieden, 105. 37 Otto, Krieg und Frieden, 106. schreibung, 31 womit Weippert ein Stück weit wieder zu den Thesen Wellhausens und der älteren Forschung zurückgelenkt hat. Neue Akzente wurden von Eckart Otto gesetzt, indem er die biblische Vorstel‐ lung vom Jahwe-Krieg vor allem in den Kriegsgesetzen in die spätvorexilische Zeit datierte. 32 Die neuassyrischen Praktiken bei der Kriegsführung werden seiner Ansicht nach gerade nicht positiv rezipiert, sondern kritisch hinterfragt und in den biblischen Texten des Deuteronomiums und der spätvorexilischen Literatur korrigiert. 33 Erst die exilische Literatur habe das Konzept der kriegeri‐ schen Eroberung des Landes als Konzept von Gotteskriegen mit der Eroberung des Landes und der vollständigen Vernichtung der Vorbevölkerung entwickelt. 34 „Die deuteronomistische Banntheorie in Dtn 7,1f. ist am Bann als Schibboleth der Gottesbeziehung orientiert, so dass er als Symbol des Gottesgehorsams fungieren kann.“ 35 Otto sieht es als Konzeption einer Zeit an, in der es überhaupt keine Kriege Israels mehr geben konnte. 36 Dtn 7 ist für ihn das Paradigma für das Verständnis dieser Konzeption. Denn da das Banngebot offensichtlich in der Realität nicht realisiert worden ist, diente es dazu, die spätere Geschichte Israels zu konterka‐ rieren. Die Frage nach der Intention der Texte wird so stärker gestellt. Ottos Lösungsvorschlag ist, dass weder die Kriege noch die Rede von der ursprüngli‐ chen Landesbevölkerung als Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit zu begreifen sind. „Die ‚Landesbewohner‘, die längst eine Fiktion sind, stehen für die eigene zu über‐ windende Geschichte vor dem Exil, mit der es keine Kompromisse geben darf. Die ‚Landesbewohner‘ sind also eine rein fiktiv-symbolische Größe, die nicht fremd ist, sondern an der man selbst Anteil hatte - insofern es die Vorbewohner des eigenen Landes sind.“ 37 32 Raik Heckl <?page no="33"?> 38 Schmitt, Der „Heilige Krieg“, 209. 39 Für den antiken Kontext siehe Zimmermann, Gewalt, 39ff. 40 Als Überblick siehe Jacobs, Grausame Hinrichtungen. 41 Vgl. Fuchs, Assyrer, 79ff. Rüdiger Schmitt sucht in seiner Monographie für den Bereich des Pentateuchs eine Synthese aus den Konzepten. Er geht von einer Sakralisierung des Krieges in den Texten des Deuteronomiums und der deuteronomistischen Geschichts‐ bücher als rhetorisches Mittel aus. Sie diene vor allem der Gesetzesparänese. Wie man das Gebot zum Vollzug des Bannes realisiere, zeige, wie gehorsam man Jhwh gegenüber sei. Gleichzeitig sei der Bann als Teil einer kontrapräsen‐ tischen Geschichtskonstruktion anzusehen, womit er die These von Eckart Otto aufnimmt. „Die Sakralisierung des Krieges dient damit in der deuteronomistischen Tradition primär der Gesetzesparänese und der Konzeptualisierung von Situationen eines Status confessionis mit dem gesetzesgemäßen Vollzug des Banns als Meßlatte des Gesetzesgehorsams, ist aber zugleich kontrapräsentische Geschichtskonstruktion, die die eigene, exilisch-nachexilische Gegenwart durch den Rückbezug auf die glorreiche Vergangenheit zu transzendieren sucht und ebenso den Besitzanspruch auf das Verheißungsland mit der Mytho-Historie der gewaltsamen Landnahme begründet.“ 38 2 Der Vollzug des Bannes im Kontext des Alten Israels Um die unterschiedliche Funktion von biblischen Darstellungen von Krieg und Gewalt zu verstehen, ist ihre traditionsgeschichtliche Verortung in dem jewei‐ ligen Kontext erforderlich. Die Anwendung von Gewalt bspw. bei öffentlichen Hinrichtungen oder auch das Zurschaustellen von Leichen und Leichenteilen bis zur frühen Neuzeit gehört zur vormodernen Propaganda. 39 So suchte man abzuschrecken und Ordnung und Sicherheit zu dokumentieren. Dies dürfte in den verschiedenen antiken Kontexten entsprechend der Fall gewesen sein. 40 Zu vermeiden sind daher anachronistische Urteile aufgrund der Beurteilung von Gewalt in der Moderne und im liberalen westlichen Kontext. Aufschlussreich für das Alte Israel sind die Verhältnisse im Kontext des neuassyrischen Reiches. Andreas Fuchs hat die Frage gestellt, wieso die Assyrer in der Antike als besonders grausam galten. 41 De facto scheint sich ihr Umgang mit im Krieg unterlegenen Städten und Völkern und mit Aufständen nicht von dem zu unterscheiden, was nach ihnen von den Persern, den hellenistischen Reichen oder den Römern praktiziert wurde. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass sie die verübte Gewalt besonders detailliert dokumentiert haben. Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 33 <?page no="34"?> 42 Vgl. Fuchs, Assyrer, 76 f und Zimmermann, Gewalt, 42. 43 Fuchs, Assyrer, 115. 44 Seit der Studie von Manfred Weippert aus dem Jahr 1972 (vgl. Weippert, „Heiliger Krieg“, 91) wird die Inschrift als außerbiblischer Bezugstext für die biblischen Banntexte angeführt. 45 Die Übersetzung folgt Donner/ Röllig, Inschriften, 168 f. Eine eigene Korrektur ist bei Z.8f. vermerkt. Fuchs’ Schlussfolgerung ist, dass die Darstellung von Gewalt den Assyrern der Abschreckung, aber auch der Dokumentation ihrer Macht diente. 42 Sie stellten die Fähigkeit des Staates, die Ordnung aufrecht zu erhalten, heraus. Sie dienten u. a. als Aushängeschild gegenüber Vasallen oder potentiellen Verbündeten, denen am Schutz durch das assyrische Reich gelegen war und zugleich der Vorbeugung von Aufständen der Vasallen oder Bevölkerungsgruppen gegen die assyrische Herrschaft: „Im Ergebnis hat sich die aus unserem heutigen Empfinden getroffene Feststellung, die Assyrer seien grausam gewesen, als durchaus zutreffend erwiesen. Aber wir haben gute Gründe anzunehmen, dass uns die assyrischen Könige und deren Untertanen in diesem Punkt vehement widersprochen hätten. Sie würden dabei wohl auf die Legi‐ timität ihres Handelns und auf die Notwendigkeit hingewiesen haben, die königliche Macht zum Wohle der Welt durchsetzen zu müssen.“ 43 Die Darstellung von Gewalt beschränkt sich aber nicht auf assyrische Quellen. Wir besitzen mit der Bauinschrift des moabitischen Königs Mescha einen außerbiblischen Bezugstext für die biblischen Abschnitte, in denen vom Bann gesprochen wird. Die Inschrift dokumentiert massive Gewalt an den besiegten Israeliten im Anschluss an die kriegerische Auseinandersetzung, ist also in höchstem Maße für die Auslegung der biblischen Texte relevant. 44 Denn auch dort wird von einem Vollzug des Banns an den Feinden berichtet. „1 Ich (bin) Mēša‘, Sohn des KMŠ[ JT], König von Moab, der 2 Dibonite. Mein Vater war König über Moab dreißig Jahre, und ich wurde König 3 nach meinem Vater. Und ich machte dieses Höhen(heiligtum) für Kamoš in Qeriḥō als Zeichen 4 der Rettung, denn er errettete mich vor allen Angreifern (? ) und ließ mich triumphieren über alle meine Gegner.“ 45 Die Inschrift scheint die gleichen kriegerischen Ereignisse im Blick zu haben, die auch in 2Kön 3 erwähnt werden. Die Unterschiede in der Darstellung geben selbst kaum Einblick, wie sich die kriegerischen Auseinandersetzungen zugetragen haben. Sowohl 2Kön 3 als auch der Text der Mescha-Stele sind perspektivisch formuliert und bieten so einer bestimmten Leserschaft eine ein‐ 34 Raik Heckl <?page no="35"?> 46 Kunz-Lübcke, Auf dem Stein, 21, meint zwar, dass die Meschastele eher als Primärquelle in Frage komme als 2Kön 3. Das mag aufgrund des zeitlichen Abstandes des Bibeltextes von den Ereignissen der Fall sein, doch zeichnen beide Texte sich durch eine ähnlich eingeschränkte Perspektive aus. 47 Ich folge hier Hoftizer/ Jongeling, Dictionary, 1114, die בוש lesen. geschränkte Sicht. 46 Im Bibeltext wird aus judäischer Perspektive ein siegreich verlaufender aber abgebrochener Kriegszug Israels und seiner Alliierten gegen Moab, das als ein abgefallener Vasall gilt, dargestellt. In dem moabitischen Text „feiert“ man die Befreiung von einer jahrzehntelangen Fremdherrschaft. Die Inschrift behandelt neben verschiedenen Bauprojekten die außenpoliti‐ sche Situation Moabs. Dabei kommt eine längere Geschichte in den Blick. „Omri 5 war König von Israel, und er bedrängte Moab lange Zeit, denn Kamoš zürnte seinem Lande. 6 Und es folgte ihm sein Sohn. Und er sprach: Ich will Moab bedrängen. In meinen Tagen sprach er [so], 7 aber ich triumphierte über ihn und sein Haus. Und Israel ist für immer zu Grunde gegangen. Und es hatte sich Omri des ganzen 8 Gebietes von Mahdeba bemächtigt und er wohnte darin während seiner Tage und der Hälfte der Tage seiner Söhne, vierzig Jahre. Aber 9 Kamoš kehrte zurück 47 während meiner Tage. Und ich baute Ba‘al-Me‘on (wieder auf) und errichtete die Zisterne darin. Und ich baute 10 Kirjathon (wieder auf).“ Theologisch relevant ist, dass die vorangehenden militärischen Niederlagen und die Zeiten der Fremdherrschaft mit dem Zorn der Nationalgottheit Kamosch erklärt werden. Des Weiteren wird die Wende zum Heil als Errettung durch denselben Gott und als Umkehr der Gottheit zu seinem Volk beschrieben. Reli‐ gionsgeschichtlich von Bedeutung ist, dass dies in der Inschrift im Gegenüber des Gottes Moabs und des Gottes Israels geschieht. Die Inschrift setzt voraus, dass über eine Generation hinweg das Nordreich Israel unter den Omriden sein Herrschaftsgebiet auf das moabitischen Territo‐ rium ausgedehnt und die Moabiter in die Vasallität gezwungen hatte. Die Wende zum Heil im Zuge militärischer Erfolge gegen Israel wird als dauerhaft be‐ schrieben. Es ist auffällig, dass die Niederlage des Nordreiches als endgültig zu gelten scheint: לארשיו דבא דבא םלע „und Israel ist wirklich für immer zugrunde gegangen“. Es geht dabei um jene Gebiete auf dem transjordanischen Gebirgs‐ plateau, die zuvor über längere Zeit im Besitz Israels waren und durch die mi‐ litärischen Aktionen Meschas in den Besitz Moabs übergegangen sind. Die in Diban aufgerichtete Inschrift setzt bei den Adressaten geographische Kennt‐ nisse voraus. Und entsprechend betreffen die summarischen Aussagen über Is‐ rael dessen ostjordanische Gebiete. Die Feststellung, dass dies für immer der Fall sei, ist affirmativ. Der Erfolg wird rhetorisch überhöht, um die dauerhafte Be‐ Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 35 <?page no="36"?> 48 Kang, Devine War, 82, scheint die Darstellung als realistische Beschreibung der Geschehnisse zu begreifen: „Thus the slaughter of the Israelites was to be regarded as an offering of Mesha’s devotion to his divine warrior, Chemosh. In this respect, it is probably understood that the concept of ban means a faithful devotion to Mesha’s own god, Chemosh, rather than the extermination of the Israelites.“ deutung Meschas aufgrund seiner Territorialerwerbungen zu betonen. Dennoch scheint die Eroberung des Gebietes mit einer vollständigen Vernichtung des Gegners in dem betreffenden Territorium einherzugehen. „Und die Leute von Gad wohnten seit jeher im Lande von Ataroth und der König von 10 Israel hatte Ataroth für sich gebaut. 11 Ich griff die Stadt an und nahm sie ein. Und ich tötete alles Volk, 12 [und] die Stadt gehörte Kamoš und Moab. Und ich brachte von dort den Altar ihres DWD und ich 13 schleppte ihn vor Kamoš in Qerejoth. Und ich ließ dort wohnen die Leute von Saron und die Leute 14 von MḤRT. Und Kamos sprach zu mir: Geh, nimm Nebo (im Kampf) gegen Israel! Da 15 zog ich bei Nacht los und kämpfte gegen es von Tagesanbruch bis Mittag. Und ich 16 nahm es ein und tötete alles: 7000 Männer, Klienten, Frauen, [Klientinnen 17 und Sklavinnen, denn ich hatte es ‘Aštar-Kamoš (durch Bann) geweiht ( יכ רתשעל שמכ התמרחה ) Und ich nahm von dort die [Gerät]e(? ) 18 Jahves und schleppte sie vor Kamos.“ Die Ermordung der Bevölkerung wird mit םרח, das eine Art Opferung bzw. Weihung bezeichnet, ausgedrückt. Dieselbe Phrase findet sich u. a. in Dtn 7,2 und 20,17 sowie in den dtr Geschichtsbüchern (z. B. Jos 6,17f.21; 7,1; 11,20; Ri. 1,17; 1Sam 15,18). An allen diesen Stellen zielt der Gebrauch des Verbs םרח bzw. das Nomen םרח „Bann“ auf eine vollständige Vernichtung eines Gegners aus. Ausnahmen werden ausdrücklich als solche kenntlich gemacht und z.T. be‐ gründet. In Dtn 2,34 und 3,7 wird bspw. das Beutegut, offenbar bewegliches Gut, und das Vieh von der Vernichtung ausgenommen. Mit der Vernichtung der Bevölkerung und der Rede vom Bann geht ein historischer Wechsel im Landbesitz in dem betreffenden Gebiet einher. Es handelt sich um den Wechsel von der Unheilszur Heilszeit, dem in Z. 7 die Aussage, dass Israel für immer zu Grunde gegangen sei, entspricht. Die Inschrift behauptet nicht nur einen Wechsel der Herrschaft und Kultur, sondern einen vollständigen Austausch der Bevölkerung. 48 Allerdings gibt es für einen solchen radikalen Umbruch für das 9. Jh. im jordanischen Bergland keine archäologischen Anhaltspunkte. Aber auch der Text selbst lässt erkennen, dass die Rede vom Bann vor allem in die Ideologie der Beschreibung der kriegerischen Ereignisse gehört, die Realität aber offensichtlich anders ausgesehen haben muss. 36 Raik Heckl <?page no="37"?> „Ich habe Qeriḥō gebaut, die Mauer der Parks und die Mauer 22 der Akropolis. Und ich habe seine Tore gebaut und ich habe seine Türme gebaut. Und ich 23 habe den Königspalast errichtet und machte die Umfassungsmauern des Becken[s für die Que]llen inmitten 24 der Stadt. Aber eine Zisterne gab es nicht inmitten der Stadt, in Qeriḥō, sondern ich sprach zu allem Volk: Macht 25 euch jeder eine Zisterne in seinem Hause! Und ich habe die Gruben hauen lassen für Qeriḥō durch Gefangene 26 Israels.“ In den Z. 22-26 werden bei der Aufzählung der Baumaßnahmen ausdrücklich Gefangene Israels erwähnt, wobei es sich um Kriegsgefangene gehandelt haben dürfte. In diesem Fall bedeutet das, dass selbst die Soldaten nicht unter den vollständigen Vollzug des Bannes gefallen sind. Ebenso aufschlussreich ist die Erwähnung der Menschen von Gad, die in Ataroth angeblich schon immer gewohnt haben. „Und die Leute von Gad wohnten seit jeher im Lande von Ataroth und der König von 10 Israel hatte Ataroth für sich gebaut. 11 Ich griff die Stadt an und nahm sie ein. Und ich tötete alles Volk, 12 [und] die Stadt gehörte Kamoš und Moab. Und ich brachte von dort den Altar ihres DWD und ich 13 schleppte ihn vor Kamoš in Qerejoth. Und ich ließ dort wohnen die Leute von Saron und die Leute 14 von MḤRT. Der Abschnitt behauptet, dass die von außen gekommenen Israeliten Ataroth errichtet und bevölkert hätten, definiert aber die Gaditer als indigene Bevölke‐ rung. In den biblischen Texten sind sie dagegen selbstverständlicher Bestandteil und Stamm Israels, und die Angehörigen des Stammes werden auch in der betreffenden Gegend lokalisiert (vgl. Dtn 3,12.16). Es scheint, dass man hier flexibel mit den Zuordnungen der Bevölkerungen umgehen konnte, was gegen den Vollzug des Bannes spricht. Übertragen auf den Bann bedeutet das, dass dieser zu der ideologischen Konzeption der Präsentation der kriegerischen Ereignisse gehört. Angesichts des fehlenden archäologischen Befundes legt es sich nahe, dass die Vorbevölkerung nicht wie behauptet vernichtet worden ist, was Kriegsopfer und entsprechende Gräuel nicht ausschließt. Weshalb aber behauptet man, man habe die gesamte israelitische Bevölkerung getötet? Im Kontext der Inschrift dürfte intendiert sein, dass man mit der Behauptung der vollständigen Vernichtung Israels einen möglichen Anspruch auf das Territorium bestreitet. Das Monument dokumentiert so einen vollständigen Neuanfang, was kohärent mit der enthaltenen Geschichtskonzeption verbunden ist, die eine Heilswende sieht. In Bezug auf die Vorbevölkerung wird an eine der Unheilszeit vorausgehende Zeit angeknüpft. Die Darstellung einer vollständigen Vernichtung und der Gebrauch der Bannterminologie ist somit Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 37 <?page no="38"?> 49 Gegen Groß, Keine „Heiligen Kriege“, 116, der die Rede von der Vernichtungsweihe in Moab als Faktum ansieht und daher annimmt, „dass auch Israeliten sie gelegentlich tatsächlich durchgeführt haben“. 50 Relevant für die Fragestellung ist auch die Darstellung der Landnahme nach dem Josua‐ buch. Anders als bei Num 21 / / Dtn 2 f. haben wir dort keine parallelen Überlieferungen. vor allem rhetorisches Mittel, 49 um die Behauptung aus Z. 7 zu unterstreichen, dass Israel für immer zugrunde gegangen ist. Sie dokumentiert, dass Israel seine Ansprüche auf die Territorien im moabitischen Teil des Ostjordanlandes verloren hat oder um eine biblische Formulierung zu gebrauchen, dass es keinen Teil (mehr) an dem Gebiet hat. Ist in diesem Kontext von einer Sakralisierung des Krieges zu sprechen? Meiner Ansicht nach spielen die Religion und der Kult eine untergeordnete Rolle. Die Gottheit und die Religion stehen weniger in einer Beziehung zum Krieg, der natürlich nicht säkular gedacht ist, als vielmehr in Bezug auf die Geschichtskonzeption, in der eine Unheilszeit von einer Heilszeit unterschieden wird. So wird über das Thema der Legitimität der Besitzansprüche ein kultu‐ reller Neuanfang des eroberten Territoriums postuliert. Für die Interpretation der biblischen Texte ist die Tatsache, dass wir im direkten Kontext des Alten Israels auf vergleichbare Konzepte treffen - und zwar Jahrhunderte vor Abfassung der biblischen Texte -, von großer Bedeutung. Offenkundig ist nicht nur die Konzeption und die Rede vom Vollzug des Bannes älter als die theologischen Konzeptionen und auch älter als der biblische Monotheismus, sondern auch die scheinbar typischen dtr Konzeptionen von Zorn und Erbarmen der Gottheit, was Unheil und eine nachfolgende Heilswende nach sich zieht. 3 Der Bann in der dtr Geschichtskonstruktion (Dtn 2 f.) In den biblischen Landnahmeüberlieferungen erlangen wir Einblick in die Genese einer solchen Argumentation. Wir besitzen in Num 21,21ff. und Dtn 2,24ff. inhaltlich parallele, aber sich sachlich unterscheidende Darstellungen der Eroberung des Ostjordanlandes. 50 Gegenüber einer vorübergehenden Sicht in der Forschung, wonach das Numeribuch die Darstellung in Dtn 2 f. generell 38 Raik Heckl <?page no="39"?> 51 So van Seters, Conquest, 195; ders., Once Again, 119; Rose, 5. Mose, 393. 52 Siehe Otto, Deuteronomium 1-11, 449. Allerdings vertritt Otto in Anschluss an Achen‐ bach, Vollendung, 366 f, die Sicht, dass der Fortgang der Erzählung mit Og von Baschan eine „deuteronomistische Neuschöpfung“ (ebd., 452) sei, die dann nachexilisch in Num 21 eingetragen wurde. Achenbach, Vollendung, 366, führt als Argument die wortwört‐ liche Entsprechung von Num 21,33-35 und Dtn 3,1ff an. Warum der Pentateuchredaktor nicht auch Num 21,21ff bei seiner Angleichung an Dtn 2,24ff angepasst hat, bleibt so ebenso unerklärt, wie das Fehlen der Bannthematik in Num 21,33-35. Plausibler ist es, dass der Verfasser von Dtn 2 f einen stilistisch einheitlichen Text geschaffen hat, bei dem er sich an dem aus Num 21,33-35 übernommenen Abschnitt orientiert hat. Vgl. Heckl, Moses Vermächtnis, 420 f. Vgl. auch die gegen van Seters gerichtete Schlussfolgerung von Bartlett, Conquest, 351, der allerdings nicht auf die Diskussion des Ursprungs von Dtn 3,1ff eingeht: „Deuteronomy removes the inconsistencies and clarifies the point left obscure in Numbers.“ 53 Siehe dazu die Gegenüberstellung der beiden Texte Heckl, Moses Vermächtnis, 417-423. rezipiere, 51 muss man festhalten, dass Dtn 2 f. auf der vordtr Überlieferung in Num 21 beruht. 52 Auch wenn die Frage nach der literarischen Abhängigkeit zwischen Num 21,21ff und Dtn 2 f nicht in allen Einzelheiten im Konsens beantwortet wird, so ist doch soviel klar, dass im Numeribuch und im Deuteronomium zwei denselben Sachverhalt behandelnde Texte mit einer unterschiedlichen literarischen Inten‐ tion existieren: In Num 21,21-25.33-35 fehlt gegenüber Dtn 2 f die Bannthematik und mit ihr die vollständige Vernichtung der Vorbevölkerung. Außerdem be‐ ginnt die Sihon-Episode mit einer Gottesrede (Dtn 2,24f), in der paradigmatisch die Landnahme eröffnet wird. Diese steht im Einklang mit Dtn 1-3 insgesamt, aber im Konflikt mit der Aussendung von Botschaftern mit der Bitte, das Land durchziehen zu dürfen, was ausgeglichen wird durch die Rede von den ירבד םולש (Dtn 2,26), die im Sinne des Kriegsgesetztes (Dtn 20,10f) als Ultimatum aufzu‐ fassen sind und eine Verstockungsnotiz (Dtn 2,30), die die Ablehnung des Ulti‐ matums auf ein Eingreifen Jhwhs zurückführt. 53 Das Gegenüber von Num 21 und Dtn 2 f lässt allein schon aufgrund des unterschiedlichen Umfangs erkennen, dass das Deuteronomium eine ältere Vorlage aus der Pentateuchüberlieferung ausformuliert hat. Dabei wurde aus der kriegerischen Auseinandersetzung ein Eroberungszug gemacht, was dem Konzept von Dtn 1-3 entspricht. Die Bannthematik wird eingefügt, was auf einer Linie mit den Kriegsgesetzen in Dtn 20, die den Vollzug des Bannes an der Vorbevölkerung vorschreiben (Dtn 20,16f), und der Eröffnung der Landnahme‐ erzählung mit der Zusage des Landes (Dtn 1,7) liegt. Begrenzte kriegerische Auseinandersetzungen und daraus resultierende Landgewinne werden ausfor‐ muliert und zum Auftakt einer planvollen Landnahme gemacht. Die weitere literarische Querbeziehung zu Num 21,21ff in Ri 11 bestätigt dies. Mit Bartlett 54 Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 39 <?page no="40"?> 54 Vgl. Bartlett, Conquest, 348. 55 Vgl. van Seters, Conquest, 191, und dazu Otto, Deuteronomium 1-11, 450f. 56 Vgl. van Seters, Once Again. 57 Die Erwähnung Kemoschs ist insofern auffällig, als jener eigentlich der Hauptgott der benachbarten Moabiter ist. Es könnte sein, dass dem Verfasser hier ein Anachronismus unterlaufen ist. Zur Diskussion vgl. Groß, Richter, 591f. 58 Schmitt, Der „Heilige Krieg“, 72. 59 Ebd. und gegen van Seters ist es wahrscheinlicher, dass Ri 11 Num 21 rezipiert hat. 55 Van Seters vergleicht vor allem Einzelformulierungen, vernachlässigt aber die kommunikative Funktion der Verweise auf die Vergangenheit in Ri 11,16ff. 56 Doch von Jeftahs Boten wird nicht nur auf die Vergangenheit verwiesen, sondern den Rezipienten aufgrund der Übereinstimmung seiner Worte mit Num 20 f die Richtigkeit seiner Argumentation signalisiert, was die Berechtigung der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Ammonitern dokumentieren soll. Es handelt sich um literarische Bezugnahmen, die umgekehrt nicht plausibel gemacht werden können. Offensichtlich hat man bei der Formulierung von Dtn 2,19.37 auf Ri 11 Rücksicht genommen, indem die Behauptung Jeftahs gegenüber den Ammonitern noch einmal explizit unterstrichen wird. Die Landnahmevorstellung in Ri 11 ist wie in Num 21,21ff begrenzt. Sie wird mit den Nationalgottheiten verbunden, deren Landgabe in Ri 11,23f unterschieden wird. Es mag sein, dass das in Ri 11 polemisch den Gott Kamosch gegenüber Jhwh als schwach erscheinen lassen sollte, 57 wird aber de facto die vorexilischen Verhältnisse treffen, wie sie ja auch in der Meschastele bestätigt werden. Ri 11 bestätigt den begrenzt kriegerischen Charakter der Darstellung von Num 21. Der Blick auf die Vergangenheit in Num 21,21ff und ihre Rezeption in Ri 11 wurde in Dtn 2,19.37 aus jahwistischer Perspektive revidiert, indem nun eine Landgabe Jhwhs zu Gunsten der Nachbarn (vgl. auch Dtn 2,5.9) behauptet wird. Die literarische Situation und das Verhältnis der Texte zueinander, die im Ein‐ zelnen aufgrund unterschiedlicher redaktionsgeschichtlicher Hypothesen in der Forschung abweichen mag, zeigt, dass die Bannthematik Teil der dtr Geschichts‐ konzeption von Dtn 1-3 ist, was durch die Konzeption von Israels Beziehung zur Vorbevölkerung in Dtn 7 und von den Kriegsgesetzen bestätigt wird. Das ist der Grund, warum bspw. Rüdiger Schmitt von einer „kontrafaktische[n] Fiktion“ 58 spricht, die „aus der Situation des Exils heraus […] dazu [dient], den Exilierten eine hoffnungsvolle Perspektive auf die Zukunft zu eröffnen“. 59 Doch die Informationen über die vollständige Vernichtung der Vorbevölkerung hat man aus den Notizen über das Schlagen Sihons mit der Schärfe des Schwerts (Num 21,24) bzw. der Tötung des Kriegsvolkes von Og Num 21,35 herausgelesen. 60 Erst daran wurde in Dtn 2 f jeweils die Bannterminologie geheftet. Ausgehend 40 Raik Heckl <?page no="41"?> 60 Vgl. Stolz, Kriege, 17, der darauf verweist, dass „[d]er Num-Überlieferungsstoff […] konsequent mit Vorstellungen und Wendungen der Kriegsthematik bearbeitet [ist], wie sie aus den älteren deuteronomischen Passagen bekannt sind“. „Durch Begründung und paränetische Kommentierung sind diese Stoffe in die deuteronomische Gedankenwelt eingegliedert worden; sie sind jetzt in besonderer Weise auf Jahwes kriegerische Wirksamkeit und die daraus abgeleitete militärische Aktivität Israels bezogen.“ (ebd., 28). 61 Zu den Fragen nach dem Umfang des davidisch-salomonischen Reiches und zur Kritik der älteren Sicht aufgrund der Ergebnisse der Archäologie siehe Huber, Großreich. 62 Das dtr Konzept ordnet sich insofern in eine Entwicklung ein, die mit der Auseinan‐ dersetzung des Deuteronomiums mit der neuassyrischen Politik beginnt. Siehe dazu zuerst Otto, Treueid, 45ff. von den Beobachtungen an der Meschastele kann man davon ausgehen, dass die Bannthematik nicht primär mit der theologischen Spezifik des Deuterono‐ mismus, die die Alleinverehrung Jhwhs betont, verbunden ist. Die Nähe der Geschichtsdarstellung der Meschastele zum dtr Geschichtskonzept lässt eher vermuten, dass der Bann eine vergleichbare Funktion wie dort hat. In Dtn 2 f ist die Einnahme des Landes zentrales Thema. Der Krieg gegen Sihon und Og eröffnet das umfangreichere Szenario der Landnahme. Die Kriegserzählungen werden jeweils mit einer Landzuweisung abgeschlossen. Die Erzählungen als Moserede stehen vor der Geschichte Israels in seinem Land und dokumentieren so paradigmatisch für die Zukunft die Legitimität des Landbesitzes ein für alle Mal. Der Bannvollzug unterstreicht dies und dokumentiert so einen radikalen Neuanfang Israels in dem beanspruchten Gebiet. Diese Ansprüche vom Anfang der eigenen Geschichte kontrastieren die Realität der Abfassungszeit in der exilischen bzw. frühnachexilischen Zeit, in der weder die Gebiete östlich des Jordans noch das Land westlich des Jordans sich im Besitz der Israeliten be‐ finden. Mit dieser Sicht will man angesichts der aggressiven aber erfolgreichen Politik der Großreiche der Assyrer, Babylonier und Perser die israelitische bzw. judäische Identität stärken, indem die Bedeutung der eigenen Geschichte betont wird. Auch wird so der Anspruch auf die einst besessenen Territorien aufrechterhalten. Die Behauptungen, dass man einst ein Großreich, das in der Grenzziehung von Ägypten bis zum Euphrat reichte, besessen hat (1Kön 5,4f), 61 und dass dessen Umfang schon mit den Landverheißungen vorgegeben war (vgl. Gen 15,18; Dtn 1,7), stellten die eigene Geschichte dem Anspruch der Imperien auf ihr Herrschaftsgebiet an die Seite. Dies ist eine Reaktion auch auf den Kulturdruck durch die Großreiche. 62 Hierzu gehört auch das Konzept einer kriegerischen Landnahme. In Griechenland hat das Heraklit (550-460 v. Chr.) mit dem Wort, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, beschrieben. Diese Aussage ist natürlich zunächst Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 41 <?page no="42"?> 63 Man mache sich bewusst, dass Herodot seinen Historien das Programm voranstellt, den Gründen für die Perserkriege auf den Grund gehen zu wollen. 64 Vgl. zum Grundkonzept von Dtn 1-3 Heckl, Moses Vermächtnis, 441ff. 65 Vgl. Otto, Krieg und Frieden, 105f. erschreckend. Sie bezieht sich darauf, dass die Welt von Gegensätzen dominiert wird. Doch ist die Wortwahl des griechischen Philosophen auch gespeist von der Geschichtsreflexion und den Erfahrungen des ersten Jahrtausends v. Chr. 63 Die Kriege haben massive Veränderungen nach sich gezogen, und deswegen geht man ihnen auch in der eigenen Geschichte nach. Doch wird dabei nicht einfach konstruiert, sondern man zieht die Informationen aus älteren erzählerischen Texten teilweise mythischen Ursprungs heraus. Für die Einordnung der Bannthematik in Dtn 2 f ist relevant, dass der Text den Beginn der Landnahme entsprechend der dtr Grundkonzeption mit einer Zeit des Unheils und der Niederlage verbindet. Wie in der Meschastele wird die Unheilszeit mit der Abwesenheit der Gottheit, die Landgabe mit ihrer Zuwendung begründet. 64 4 Das Motiv der Vernichtung der Völker des Landes in Dtn 7 und 20 und seine Funktion Die Bannkonzeption kommt allerdings im Deuteronomium neben der Ge‐ schichtsdarstellung Dtn 2 f und dem Kriegsgesetz in Dtn 20 auch in der Paränese in Dtn 7 vor. Nach Eckart Otto handelt es sich dabei um einen Ausgangstext der Darstellung der Vernichtung der Vorbevölkerung in der dtr Literatur. 65 Seiner Ansicht nach reagiert man hier im Gegenüber und in der Auseinandersetzung mit der neuassyrischen Politik und Staatsideologie. Der wichtigste Unterschied zwischen Dtn 7,1f, Dtn 2 f, aber auch der Inschrift der Meschastele, sowie den Kriegsdarstellungen des Josuabuches besteht darin, dass die Ereignisse in Dtn 7,1f nicht im Rückblick dargestellt werden, sondern aus der Perspektive des Mose auf die Zeit nach der Landnahme vorausgeschaut wird. Dtn 7 ist entspre‐ chend die erste Forderung nach dem Hauptgebot, Jhwh zu lieben (Dtn 6,5). Mose fordert das Volk auf, nach der Überquerung des Jordans die Bevölkerung bzw. die Völker des Landes zu vernichten. So schrecklich die Wirkungsgeschichte dieses Textes gewesen ist und so grausam die Formulierungen in Dtn 7,1f aus unserer Perspektive sind - hier ist Assmann und Sloterdijk unumwunden Recht zu geben -, so gibt es ähnlich wie in der Inschrift der Meschastele Hinweise darauf, dass es sich auch hier bei der Bannformulierung um Rhetorik handelt und dass auch die Aufforderung zur Vernichtung (7,2: םתיכהו) nicht auf ein reales Geschehen abzielt: Kann man das Verbot, einen Bund mit den Kanaanitern ab‐ 42 Raik Heckl <?page no="43"?> 66 Das setzt das Richterbuch voraus, aber im Josuabuch werden auch Rahab und ihre Familie ( Jos 6,21.24) sowie die Gibeoniten ( Jos 9) verschont, die als Holzhauer und Wasserschöpfer in Dtn 29 bereits als Bundespartner im Blick sind. Vgl. dazu Siquans, Ge‐ waltüberwindung, 87. Agnethe Siquans ist der Ansicht, dass die Vernichtungsaussagen „innerhalb des Deuteronomiums selbst relativiert und zurückgenommen [werden]“. Doch erklärt der Zusammenhang von Dtn 7,1f; Dtn 29,10 und Jos 9 so nicht die radikalen Aussagen in Dtn 7,1f. Meiner Ansicht nach kommen die Relativierungen dadurch zustande, dass neben bzw. in den rezipierten Kriegsüberlieferungen auch Traditionen existierten, die dem Konzept des radikalen Neuanfangs widersprachen. Diese mussten integriert werden. Auch wenn den Autoren und den Lesern klar war (vgl. nur Ez 16,3), dass Israel in und aus Kanaan entstanden ist, so wird doch auf der Grundlage der Kriegsüberlieferungen ein radikaler Neuanfang postuliert, und die Gegenbeispiele werden zu Ausnahmen erklärt. Letztlich ist das eine hermeneutische Strategie, die jener entspricht, die schon in der Meschastele bei der Integration der Gaditer vorliegt. 67 Das betont Schmitt, Der „Heilige Krieg, 72. zuschließen noch als Pendant zur Aufforderung zur Vernichtung verstehen, so ist das Verbot, sich mit den Kanaanäern zu verschwägern, unverständlich, wenn der Bann als tatsächliches Geschehen einer vollständigen Vernichtung im Blick sein sollte. Die Vernichtung wird befohlen, um damit ähnlich wie bei der Me‐ schastele die unvermischte Eigenständigkeit der eigenen Kultur herauszu‐ stellen. Eine andere Frage ist, ob man Dtn 7 als Programm einer kontrafaktischen Geschichtskonstruktion ansehen sollte. Da der Text aus der Perspektive des Mose auf die Zukunft gerichtet ist, der Text aber aus viel späterer Zeit stammt, muss die spätere Geschichte im Blick sein. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Stellen - auch schon im Josuabuch -, die davon ausgehen, dass das Banngebot nicht vollständig vollzogen worden ist, und die von einer Vermischung Israels mit Kanaan ausgehen. 66 Doch andererseits blickt Dtn 7 auf die Geschichte Israels und Judas als nur teilweise tragische, sondern auch als erfolgreiche Geschichte zurück, auf eine Geschichte in der israelitische und jüdische Könige die Region zu dominieren suchten, was ihnen zeitweilig durchaus gelang, auch wenn zwischen dem späten 8. Jh. und dem frühen 6. Jh. v. Chr. die Niederlagen und Katastrophen und ihre Folgen bestimmend waren. Die Situation des 8. und 7. Jh.s wird aus der Perspektive des Mose als Ergebnis und Aufgabe der Landnahme formuliert. Gerade die Landnahmeerzählungen in Dtn 2 f und im Josuabuch, die die Bann-Thematik rezipiert und ausformuliert haben, sind entsprechend nicht einfach nur kontrafaktische Konstruktionen, 67 sondern Ätiologien für die spätere Situation und die spätere Geschichte. Sie sollen eine nationale Identität Israels bzw. Judas begründen und angesichts der Herausforderung der Existenz im Kontext der Großreiche (Sichwort: Assimilation) sichern. Dtn 7 dürfte, wenn Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 43 <?page no="44"?> 68 Jaspers, Ursprung, 14. es älter ist als die Darstellung in Dtn 2 f, einerseits das Programm für diese relecture der Geschichtsdarstellungen und der Landnahme geboten haben. Faktisch handelt es sich sowohl bei Dtn 2 f als auch bei Dtn 7 sowie bei den entsprechenden Texten des Josuabuches um Texte, die die Legitimität Israels über sein Gebiet unterstreichen und so die Identität der Adressaten bestärken sollen. Was wir vor uns haben, ist der Versuch, Geschichte auf der Grundlage von mythischen und sagenhaften Überlieferungen zu schreiben und die Ursprünge der eigenen Geschichte, aber auch der eigenen Ansprüche abzustecken. 5 Die Rede vom Bann als Mittel zur Relativierung von Gewaltdarstellungen Wir haben an Dtn 7 festgestellt, dass die Rede vom Bann zur Rhetorik der Land‐ nahme gehört und wohl wie bei der Meschastele den Neuanfang Israels in seinem Land dokumentieren soll. Beim Vergleich der geschichtlichen Erzäh‐ lungen Num 21 und Dtn 2 f konnte man feststellen, dass die dtr Darstellung nicht nur kontrafaktische Geschichtskonstruktion ist, sondern dass sie sich speist aus älteren Erzählungen, in denen die kriegerische Einnahme des Ostjordanlandes dargestellt wurde. Die Suche nach den nationalen Ursprüngen geht einher mit einer kritischen Interpretation des Mythos. Das Interesse an der Geschichte und der Reflexion des Mythos ist etwas, das die Entstehung des Judentums und der Hebräischen Bibel mit Griechenland verbindet. Karl Jaspers hat beides mit einer in derselben Epoche erwachenden kritischen Weltsicht in China, Indien und Persien verbunden und von der Zeit vom 800-200 v. Chr. als „Achsenzeit“ ge‐ sprochen. 68 In Dtn 2 f und Dtn 7 treffen wir so auf die Weiterentwicklung einer bereits im 9. Jh. in Moab inschriftlich anzutreffenden Geschichtssicht. Man will nicht mehr nur die Ursprünge eines kulturellen Neuanfangs für die Zukunft festschreiben, wie dies in der Meschasstele geschieht, sondern man sucht die Anfänge zu rekonstruieren und die Situation der Abfassungszeit mit diesen An‐ fängen zu erklären. Doch gerade mit diesem hermeneutischen Anliegen kann man in den Konflikt mit theologischen Prämissen geraten, die im Widerspruch zur Darstellung von Gewalt stehen. Das fünfte Gebot des Dekalogs „Du sollst nicht töten“ als Programmformulierung widersetzt sich auch dann der Darstel‐ lung der Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, wenn man aufgrund der sonstigen Verwendung des Verbs חצר feststellt, dass „der Dekalog […] nicht jedes Töten [verbietet]“ 69 , weil חצר „nie für das Töten von Feinden im Krieg, nie bei 44 Raik Heckl <?page no="45"?> 69 Köckert, Verbot, 34. 70 Ebd. 71 Damit stehen die biblischen Texte im Einklang mit der altorientalischen Kultur, wo das Tötungsverbot in der Darstellung von Fällen greifbar ist. Vgl. Pfeifer, Tötung, 48. 72 Siehe dazu den Artikel von Schnocks, God Commands. 73 Vgl. Schnocks, God Commands, 122-124. 74 Schnocks, God Commands, 103 f. zieht zu Recht den nachexilischen Ursprung von Gen 22 in Zweifel und vergleicht den Text religionsgeschichtlich mit 2Kön 3,27. 75 Das berücksichtigt bspw. das in das Deuteronomium integrierte generelle Verbot zu töten, bezieht sich aber auch auf die dem Deuteronomismus vorgegebenen Kriegsge‐ setze, die von Gott selbst aufgrund der Landnahmekonzeption eingeschränkt werden: „Erst jetzt werden Gewalt und Vernichtung des Gotteskrieges als Krieg gegen die Lan‐ desbewohner akzentuiert und die vorgegebenen Kriegsgesetze insofern eingeklammert, daß sie nur für entferntere Städte, nicht aber für das Kernland Israel gelten sollen.“ (Otto, Krieg und Frieden, 105). Selbsttötungen und nie mit Gott als Subjekt gebraucht“ 70 werde. Die Generali‐ sierung als Gebot wird von einer Fülle von Vorschriften flankiert, die den Tot‐ schlag und den Mord bestrafen und den unschuldigen Tod zu verhindern suchen. Auch die Kriegsgesetze des Deuteronomiums (Dtn 20) unabhängig von den auf die Mosezeit bezogenen Aufforderungen zur Vernichtung der Vorbevölkerung zielen darauf ab, Blutvergießen zu vermeiden oder zu begrenzen. 71 Die Rede von der Bannung, die die Bevölkerung einer Stadt, eines Landes quasi als eines Opfers für die Gottheit einschließt, wie dies schon in der Meschastele dargestellt wird, widerspricht dem ebenso wie andere scheinbar religiös motivierte Tötungen. 72 Johannes Schnocks hat vermutet, dass dies mit der Vielfalt der theologischen Positionen in der Hebräischen Bibel zu‐ sammenhängt. Gleichwohl dominiere die Betonung des Tötungsverbotes, wie es bspw. in Gen 9 ausgedrückt wird. 73 Die Diversität der theologischen Dar‐ stellung der Hebräischen Bibel rührt unter anderem von der Verarbeitung von Informationen aus dem Bereich des Mythos oder der Legende her. 74 Die Rezeption des Extrems lässt sich so erklären. In Bezug auf Dtn 2 f und auch die Darstellung des Josuabuches ist aber eine Darstellung als Opfer offensichtlich nicht ursprünglich oder alt, sondern wurde von den dtr Autoren an ältere Überlieferungen als Interpretament angeheftet. Meiner Ansicht nach geschieht hier eine Inanspruchnahme der Gottheit für das, was gerade auch aus theologischer Perspektive inakzeptabel ist. 75 Die Festschreibung eines reinen Anfangs, der keine anderen Völker im eigenen Territorium zulässt, steht in einem ethischen Widerspruch zu Grundprämissen der Religion Israels. Um diesen abzumildern, spricht man vom Opfer, das als Ausnahme ganz am Anfang der Geschichte notwendig gewesen ist. Die Rede vom Bann als Opfer für die Gottheit dient somit dazu, das eigentlich Inakzeptable im Ausnahmefall als Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 45 <?page no="46"?> 76 Die Eingangs erwähnte Darstellung der Gewalt durch die Assyrer ist in diesem Punkt ein gutes Vergleichsobjekt, denn entsprechende göttliche Aufforderungen zur Gewalt gibt es in Assyrien nicht: „Die Götter legitimierten die Handlungen des Herrschers, doch entschied über die Methoden allein er. Nirgendwo verlautet etwas von einem direkten Befehl der Götter, jemanden zu pfählen oder zu häuten. Und nirgendwo finden wir, dass die Götter ein Todesurteil aufgehoben hätten: Strafe und Gnade gehen allein vom König aus, die Götter schmälern seine Fähigkeit zu töten nicht.“ (Fuchs, Assyrer, 81). 77 Gegen Groß, Keine „Heiligen Kriege“, 123, der meint, die Deuteronomisten hätten „erstmals die Idee aufgebracht […], dass Israel um der eigenen an Kultusreinheit gebundenen Existenz willen […] ganze Völker […] ausrotten sollte und ausgerottet hat.“ Doch in Dtn 2 f fehlt die religiöse Begründung im Kontext der Kämpfe ebenso wie bei den grundsätzlichen Aufforderungen zum Beginn der Landnahme (Dtn 1,7f; 2,24f). 78 Meiner Ansicht nach deutet sich hier ein argumentativer Zusammenhang mit der Bitte um ein göttliches Strafgericht in Feind- und Fluchpsalmen an. Wie Hossfeld, Strafgericht, 132 aufgezeigt hat, formulieren diese immer aus der Perspektive der Notlage und richten sich an Gott. 79 Diesen Aspekt hat Flaig, „Heiliger Krieg“, 302, nicht im Blick, wenn er schlussfolgert: „Wenn sich Kriege sakralisieren, steht letztlich die politische Autonomie kollektiven menschlichen Handelns auf dem Spiel.“ Flaig geht ohne historische Exegese vom Wortlaut der Texte und von ihrer Wirkungsgeschichte aus und ignoriert, dass es sich bei den dtr Texten um perspektivische Texte handelt, die in der Exilszeit mit großem zeitlichen Abstand von den Ereignissen die Anfänge der Geschichte Israels darstellen. akzeptabel erscheinen zu lassen. 76 Dass diese Interpretation korrekt ist, zeigt sich bspw. dort, wo man zusätzlich begründet, dass es sich um eine Strafe für jene Völker handelt (Dtn 18,12) oder dass dies dazu dient, die verübten Gräuel für Israels Zukunft auszuschließen (Dtn 20,16-18). Offensichtlich dienen die religiösen Begründungen der Rechtfertigung und sind nachträglich angeheftet. Die sekundäre religiöse Motivation von Gewalt dient dazu, ihre Anwendung akzeptabel zu machen. 77 Dass man gegenüber Num 21,23 eine Verstockung Sihons durch Gott in die ältere Überlieferung eingebaut hat, die die Herrschaft Israels über Sihons Gebiet begründet (Dtn 2,30b), entlastet Israel, indem Gott hier ebenso belastet wird, wie dies bei anderen Verstockungsaussagen (vgl. in der Exodusgeschichte vor allem Ex 14) der Fall ist. 78 Die Texte geben eine theologische Begründung, weil die Theologie der Argumentation eigentlich widerspricht. 79 Man könnte sagen, dass wir hier auf antike Beispiele einer Instrumentalisierung der Religion treffen. Freilich dient sie der Interpretation von sperrigen Überlieferungen und damit der Harmonisierung. Ausgehend von dieser Interpretation wird man auch kritisch mit entsprechenden Versuchen aus dem Bereich des aktuellen Fundamentalismus umgehen können, die sich diese Mechanismen bzw. die entsprechenden religiösen Texte aus Koran oder Bibel zunutze machen wollen, um nicht entschuldbare Gewalt oder auch Hass und Ressentiments zu legitimieren. 46 Raik Heckl <?page no="47"?> 80 Vgl. bspw. die Verweise auf die ältere Dichtung in Num 21,14.30. 6 Schlussbemerkungen Kann man also von einer Sakralisierung des Krieges oder gar der Gewalt im Alten Testament sprechen? Klar ist geworden, dass nicht eine nichtreligiöse Sicht des Krieges zu dem Konzept weiterentwickelt worden ist. Tatsächlich gibt es in der Hebräischen Bibel, aber auch in Zeugnissen des Alten Orients unterschiedlichste Sichtweisen des Krieges, doch sind auch diese immer mit religiösen Konzepten verbunden. Es bestätigen sich damit jene Überlegungen, die schon u. a. von Georg Fohrer und Manfred Weippert angestellt wurden. Der Krieg gehört zur Lebensumwelt des Alten Israels und der intendierten Adressaten der Texte. Und als solcher war er Teil und hatte er Anteil am religiösen Koordinatensystem. Zwar legt das Fehlen eines göttlichen Eingreifens in Num 21,21ff gegenüber Dtn 2,24ff scheinbar nahe, dass eine nachträgliche Sakralisierung erfolgt, doch war die göttliche Beteiligung sicher auch vorher schon präsupponiert. 80 Des Weiteren kommt es in Dtn 7; 20 etc. nicht zu einer religiösen Interpretation einer anderen Vorstellung des Krieges. Die scheinbare Sakralisierung gehört zur Konstruktion der nationalen Anfänge und zur Darstellung der Landnahme als grundlegende Landgabe Jhwhs. Die für die These des Heiligen Krieges (v. Rad) oder der Sakralisierung des Krieges (Stolz; Schmitt) herangezogenen Texte aus den geschichtlichen Überlie‐ ferungen und aus dem Deuteronomium gehören in den Bereich der Geschichts‐ reflexion. Die in den Texten ohne Zweifel enthaltene Grausamkeit und die schreckliche Wirkungsgeschichte der Texte, die zum Teil bis in die Gegenwart reicht, lässt sich auch nicht mit der These ausräumen oder neutralisieren, dass es sich bei den biblischen Texten um eine kontrafaktische Geschichtskonstruktion handelt. Die Information über die Gewaltausübung selbst wurde aus älteren Texten herausgelesen und grundsätzlich für notwendig erachtet für die Darstel‐ lung des geschichtlichen Beginns eines Volkes oder Territoriums. Die antike Sicht von Grausamkeit und Gewalt und auch die Anwendung von Gewalt bis hin zu Massakern an der Bevölkerung von Städten und Ländern unterscheidet sich von unserer Sicht, die von der Aufarbeitung zweier Weltkriege und den gegen‐ wärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt ist. Wie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren in der alten Welt Darstellungen und Berichte von Grausamkeit in kriegerischen Auseinandersetzungen Teil der politischen Ideologie und Propaganda. Sie dienten der Abschreckung, dokumentierten aber gleichzeitig Stärke. Die intendierten Adressaten der Mescha-Stele wie die antiken Rezipienten des Deuteronomiums und des Josuabuches hätten die Darstellungen wahrscheinlich als legitime oder für ihre Zeit zumindest übliche Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? 47 <?page no="48"?> 81 Vgl. dazu Siquans, Gewaltüberwindung. 82 Vgl. Kunz, Ablehnung des Krieges, 229 ff.; Otto, Krieg und Frieden, 77-86.107-151. Ausdrucksformen kriegerischer Auseinandersetzungen angesehen. Wenn in der Antike der Gebrauch der Bannterminologie zur Ideologie des Krieges und zur Dokumentation kriegerischer und nationaler Erfolge gehörte, wenn die Präsentation von Gewalt, die Rede von der Vernichtung ganzer Völker oder auch die Aufforderung dazu in der dtr Geschichtstheologie dazu diente, die Legitimität von späteren Ansprüchen zu begründen und die Bedeutung der eigenen Geschichte hervorzuheben, bietet dieses Wissen einen Schlüssel zum heutigen Umgang mit den problematischen Passagen. Denn die eigentliche re‐ ligiöse Intention der Texte ist in ihrem Kern von ihnen nicht betroffen und weiter vermittelbar. Das primäre Anliegen der Texte der Hebräischen Bibel war es, eine enge Form der Gottesbeziehung zwischen dem einzelnen Angehörigen des Volkes und dem Gott Israels zu vermitteln und so das Gottesvolk erst entstehen zu lassen. Die biblischen Texte sind Zeugnis vom Anfang der jüdischen und christlichen Gottesbeziehung, und als solche sind sie theologisch grundlegend und maßgeblich. Die problematischen Akzente, die aus dem zeitlichen Kontext der Texte herrühren, können als zeitbezogene Aspekte benannt und als solche aus der christlichen bzw. religiösen Verkündigung herausgehalten werden. Die Bedeu‐ tung der wissenschaftlichen Exegese angesichts eines unkritischen Umgangs mit den Texten ist somit deutlich. Zur historischen Kritik gehört, dass auch die problematischen Geschichtskonstruktionen mit ihrer Darstellung von Ge‐ walt, wie wir sie in Dtn 2 f und an anderen Stellen der Bibel sehen, biblisch keineswegs das einzige oder letzte Wort sind. Wir treffen auf eine Vielzahl von Texten, in denen Gewalt eingeschränkt oder überwunden wird 81 und militärische Gewalt und das daraus resultierende Elend vollständig abgelehnt werden. 82 Das Alte Israel und seinen altorientalischen Kontext allein von den Darstellungen der Grausamkeiten her verstehen zu wollen, wäre also auch falsch. Da aber die Einschränkung von Gewalt und die Vorstellung, dass Gewalt begründet sein muss, in allen altorientalischen Kulturen Allgemeingut sind, besitzt die Verwendung der Terminologie des Bannes für Jahwe (wie für Kemosch) außerdem wahrscheinlich eine zusätzliche, aber auch problematische Vermittlungsfunktion. Wenn man bei der Darstellung eines eigentlich mit nichts zu rechtfertigenden Massakers - es hat, wie wir wissen, auch in der Antike solche gegeben - auf die Sprache des Kultes zurückgreift, indem man von einer Bannweihung spricht, und den göttlichen Willen dazu betont, dann will man damit die völlige Vernichtung offenbar rechtfertigen. Man vermag so, die 48 Raik Heckl <?page no="49"?> Grausamkeit als eine Ausnahme von dem normalen Umgang mit Gewalt in der Gesellschaft zu erklären. Es handelt sich um eine Rechtfertigung von Gewalt, die sich der Religion aus legitimatorischen Motiven bedient. Die Darstellung von Gewalt wird so mit Hilfe eines unterstellten Gotteswillens in das soziale Koordinatensystem integriert. 7 Literatur Achenbach, Reinhard: Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch (BZAR 3), Wiesbaden 2003. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt am Main 1998. Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München 2010. Assmann, Jan: Monotheismus der Treue. 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Kontrastiert wird diese mit dem angekündigten Friedenskönig in Sach 9,9, der über kein militärisches Potenzial verfügt. In Sach 11,5 ist von einem König die Rede, den JHWH als Strafmittel gegen sein eigenes Volk benutzt. Ob hier, wie in Sach 9,5, eine konkrete Gestalt gemeint ist, lässt sich nicht feststellen. Wenn in Sach 14,9.16.17 insgesamt dreimal betont wird, dass nunmehr JHWH die Königsherrschaft antritt, ist das Fehlen eines weltlichen Königs in der Endzeit zum Ausdruck gebracht. Die finale Gewalt, mit der JHWH gegen sein eigenes Volk und gegen die Völkerwelt vorgeht, zielt gerade nicht auf die Etablierung eines politischen Herrschaftssystems ab. Damit unterscheidet sich die kriegerische Theologie in Sachen 9-14 fundamental von den Konzeptionen der beiden (nach der hier vertretenen Auffassung etwa zeitgleichen) Makkabäerbücher, Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit Zur Dramatisierung des Krieges in Sacharjah 9-14 Andreas Kunz-Lübcke Die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, beschäftigen sich mit der Idee bzw. den Konzeptionen des sog. „Heiligen Krieges“. Auf den ersten Blick mag es verwundern, warum das Sacharjabuch mit dem vorliegenden Beitrag in diesen Zusammenhang gerückt wird. Schließlich bleiben Texte aus Sach eher ungenannt, wenn von einer „Verknüpfung von Krieg und Heiligkeit“ 1 die Rede ist. Zudem kommt in weiten Teilen des Buches das Phänomen Krieg gar nicht vor. Schränkt man die Sache allerdings auf den zweiten Teil des Buches, den sog. Deuterosacharja (DtSach; Sach 9-14) ein, ändert sich der Befund jedoch völlig. Krieg ist hier nicht nur allgegenwärtig, Krieg ist hier vielmehr ein Phänomen, dessen Dramatik und Intensität im Verlauf der Lektüre immer weiter gesteigert wird. 2 Zudem erscheint das Heilige im letzten Kapitel als ein <?page no="54"?> deren Ziel einerseits darin besteht, die Herrschaft der Hasmonäer zu legitimieren und andererseits herauszustellen, dass sich der Sieg nicht dem Eingreifen numinoser Mächte (vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 57), sondern dem frommen und zugleich militanten Agieren der Protagonisten verdankt; vgl. Schnocks, Testament, 120-122. 3 Boda, Zechariah, 781, spricht in diesem Zusammenhang von einer „expansion of holiness“, die sich über Jerusalem und Juda erstrecken werde. Kurios wirkt das am Ende des Buches begegnende Motiv der „Heiligkeit der Pferdeschellen“ im Tempel (Sach 14,20). Ist damit gesagt, dass das noch in V. 15 begegnende Pferd als Inbegriff für alles Militärische (vgl. Reddit, Depictions, 378) nunmehr einer pazifizierenden Heiligung unterzogen worden ist? 4 Der Umstand, dass das levitische Kultpersonal in Sach 9-14 keine Erwähnung findet, ließe sich auch damit erklären, dass dieses eben als selbstverständlich vorausgesetzt ist. Allerdings lässt sich die Sache auch so deuten, dass das Schweigen über die Leviten ebenso wie das über die Davididen deren eschatologische Entbehrlichkeit zum Ausdruck bringt; vgl. Reddit, Sacharja, 157. 5 In einem anderen Zusammenhang bringt Hobbs, Language, 118-128, den Begriff des Dramas für Sach 9-14 ins Spiel. Unter Verweis auf das von Victor Turner konzipierte „social drama“, das die Dynamik sektiererischer Abgrenzungen einer Gruppe vom Mainstream umschreibt, versteht er das Drama im Ganzen als eine Strategie, mit der die gemachte Erfahrung einer ohnmächtigen Gesellschaft gegen ihre übermächtigen Feinde verarbeitet wird. 6 Mit Blick auf die in Sach 14 begegnenden Elemente des sog. Heiligen Krieges verweist Reddit, Sacharja, 154, auf die Motive „durch JHWH ausgelöste Panik unter den Feinden“, „Sieg über die Feinde“ und „die gegenseitige Selbstvernichtung der Feinde“. post-bellum-Phänomen. Nach dem letzten Krieg, der sich verheerend gegen Jerusalem richten wird, erfährt die Stadt eine Intensivierung ihrer Heiligkeit, die selbst Kochutensilien und Pferdegeschirr 3 umfasst, und die die Präsenz des klassischen Kultpersonals unnötig werden lässt. 4 Mit der Dramatisierung des Krieges in Sach 9-14 ist eine fortwährende, sich im Prozess der Lektüre in jedem neuen Abschnitt steigernde Intensität des Krieges gemeint. Der Krieg entwickelt eine Dramatik, mit der er auf die finale Heiligkeit und Befriedung Jerusalems und seines Umlands hinausläuft. 5 Zudem begegnen einige der Elemente, die der Konzeption des sog. Heiligen Krieges entsprechen, ebenfalls am Schluss des letzten Kapitels. 6 Allein in der Art und Weise der Bewertung des Krieges können die Unterscheide zwischen Sach 1-8 und Sach 9-14 kaum größer sein. Wie die beiden Buchteile überhaupt zueinander gefunden haben, ist alles andere als sicher. Auf der thematischen bzw. der Ebene der gebrauchten Motive und Argumente bestehen zwischen beiden Teilen nicht zu übersehende Differenzen. Insbesondere in der Reiter-Vision, in der JHWH seine Boten in alle vier Himmelsrichtungen aussendet und die mit dem Rapport zurückkommen, dass eine globale Befriedung der Welt zu verzeichnen ist, ist eine Situation 54 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="55"?> 7 In diesem Zusammenhang ist immer wieder auf die mehrfach begegnende Vorstellung von einer 70 Jahre andauernden Strafe JHWHs verwiesen worden. Erklären lässt diese sich nicht mit der Zeitspanne zwischen der größten der insgesamt drei Deportationen der Jerusalemer Oberschicht im Jahre 587 und der Gewährung einer Rückkehrerlaubnis durch die persischen Autoritäten im Jahr 538 v. Chr. Auch wenn immer wieder auf die in der Babylonischen Chronik Asarhaddons erwähnten 70 Jahre des Zornes Marduks verwiesen wird (vgl. etwa Albani, Monotheismus, 178 f.), ist dieser Verweis wenig hilfreich. Die Pointe der Zahl 70 besteht gerade darin, dass diese sich durch eine Umkehrung der Keilschriftzeichen in die Zahl 11 und mithin zu einer Verkürzung der Strafzeit umdeuten lässt; vgl. Halvorson-Taylor, Exile, 154-158. Setzt man den Beginn der in Sach 1,12 erwähnten 70 Jahre mit der Deportation im Jahr 587 v. Chr. an, würde das Ende dieser Zeitspanne in die Zeit während des Tempelneubaus (520-515 v. Chr.) fallen, vgl. Withley, Term, 61-72. suggeriert, in der nach einer Phase militärischer und politischer Umwälzungen ein Zustand der Beruhigung eingekehrt ist (Sach 1,8-12): Ich schaute in dieser Nacht und siehe, da war ein Mann, reitend auf einem roten Pferd, der stand zwischen den Myrten in den Tiefen (? ), hinter ihm waren rote, hellrote und weiße Pferde. Und ich sprach: „Wer sind diese, mein Herr? “ Der Engel, der mit mir redete, sprach: „Ich werde dir zeigen, wer diese sind.“ Der Mann, der zwischen den Myrten stand, sprach: „Das sind die, die JHWH gesandt hat, die Erde zu durchziehen ( ךלהתהל ץראב )“. Sie antworteten dem Engel, der zwischen den Myrten stand und spra‐ chen: „Wir haben die Erde durchzogen und siehe, die Welt ist gesetzt und ruhig“(לכ ץראה בשי תקשו ). In den folgenden Versen (Sach 1,12-14) richtet der Engel an JHWH die Frage, wie lange ( דע יתמ ) er noch seinen Zorn gegen die Stadt Jerusalem richten werde. Auf den ersten Blick ergibt sich eine gewisse Dissonanz zwischen der allge‐ meinen Befriedung der Welt, die ja JHWHs Eingreifen zu verdanken ist, und der nach wie vor desolaten Situation Jerusalems. Allerdings scheint hier der Fokus allein auf der nach wie vor bestehenden Funktionslosigkeit des Tempels und weniger auf der allgemeinen politischen und sozialen Situation der Stadt zu liegen. 7 Zwischen der universalen Befriedung der Welt, von der der Verfasser offen‐ sichtlich ausgeht, und dem noch nicht abgeschlossenen strafenden Handeln JHWHs gegenüber Jerusalem besteht demnach kein Widerspruch. Die Ereig‐ nisse um den Beginn der persischen Herrschaft herum haben sich so nachhaltig auf die Vorstellung des Verfassers von dem nun anbrechenden Zeitalter gelegt, dass er von einer universalen Befriedung der Welt sprechen kann. Mit dem Gebrauch der beiden Partizipien תבשי תטקשו scheint eine Erwar‐ tungshaltung gegenüber dem (mittlerweile schon etwas zurückliegenden) Machtbeginn des Perserreiches ausgedrückt zu sein, die sich dann unter dem Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 55 <?page no="56"?> 8 Von einzelnen Auslegern ist die Ruhe allerdings in einem negativen Sinn gedeutet worden, dass diese nämlich ein fehlendes Eingreifen JHWHs in das Weltgeschehen impliziere; vgl. die Übersicht bei Rokay, Nachtgesichte, 41 f. Nach dieser - wenig überzeugenden - Deutung würde JHWH von seinen Sendboten mitgeteilt bekommen, dass er seine Zurückhaltung beim Lenken der weltpolitischen Ereignisse aufgeben solle. Wahrscheinlicher ist eine Deutung, nach der der Verfasser der Stelle entweder das Ende einer Krise, möglicherweise die Revolte des Magiers Gautama (vgl. Keel, Geschichte, 1012 f.) oder aber die Stabilität des Perserreiches, die keinen Anlass für Erwartungen von politischen Veränderungen gegeben hat, in den Blick genommen hat. 9 Damit legt sich der Tempel als rahmendes Element um die Gesamtkomposition von Sach. In beiden Stellen ist er mit dem Makel einer gegenwärtig noch bestehenden Un‐ vollkommenheit behaftet. In Sach 1,16 zeigt sich diese in dem erst begonnen, aber eben noch nicht abgeschlossenen Projekt des Wiederaufbaus. Demgegenüber sieht Sach 14,20 den Jerusalemer Tempel als ein bestehendes und funktionierendes Gebäude, dessen abschließende Heiligung (Sach 1,16: אל היהי / Sach 14,20: היהי) allerdings noch aussteht. 10 An dieser Stelle können nur vereinzelte Meilensteine der Modellierung der literarischen Wachstumsprozesse in DtSach benannt werden. Rudolph, Sacharja 9-12, 161 f, hat einen ersten Hauptteil Sach 9,1-11,3 ausmachen wollen, der in sich selbst in die Abschnitte 9,1-10; 9,10-17 und 10,3-11,3 (mit 10,1f als Zwischenstück) zerfällt. Auf dieses folge das nächste größere Stück 11,4-13,9, dem eine „einheitliche Gedankenführung“ (a. a. O., 161) zugrunde liegt. Von diesen beiden größeren Abschnitten in DtSach setze sich das 14. Kap. noch einmal inhaltlich deutlich ab, sodass von einem eigentlichen Deuterosacharja nur für Sach 9,1-10,3 gesprochen werden könne, auf diesen folgen dann Tritosacharaja und Tetartosacharja. Anders fällt die Rekonstruktion der Genese von Sach 9-14 bei Reddit, Connectors, 207-221 aus. Zunächst sei zum Ausdruck einer davidisch-messianischen Erwartung Sach 9,1-17 an die Kap. 1-8 angefügt worden. Mit Sach 10,1.3b-12 liege ein weiterer und noch späterer Zusatz vor, der sich die Stichwort Pax Persica für die nächsten zwei Jahrhunderte bewahrheiten sollte. 8 Zudem liegen der Tempel und der Tempelkult in einem besonderen Interesse des ersten Teils des Buches. Das Thema Tempel wird im zweiten Teil erst ganz am Schluss wieder aufgenommen, hier allerdings im Kontext und in der Folge einer kriegerischen Zerstörungswelle, die Jerusalem heimsuchen wird. 9 Ein Blick in den zweiten Teil des Buches hinein zeigt, dass der Krieg hier ein gewichtiges Thema darstellt, wenn nicht sogar der rote Faden ist, der sich durch die Gesamtkomposition der Kapitel 9-14 zieht. Allerdings kann ein Thema kaum unterschiedlicher und gegensätzlicher behandelt werden, als dies in den einzelnen Abschnitten des zweiten Buchteils geschieht. 1 Redaktionelles oder eschatologisches Chaos? Die literarische Genese der fünf Einzelkapitel ist alles andere als geklärt. Mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass der zweite Teil des Buches auf eine Vielzahl von redaktionellen Prozessen und Eingriffen zurückblickt. 10 Der 56 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="57"?> Wiedererrichtung des vereinten Israels und Judas auf die Fahnen geschrieben habe. In einem weiteren Wachstumsschritt sei mit Sach 13,1-6.9; 14,1-5.13f sowie 14,6-8.10f der finale Kampf um Jerusalem thematisiert worden. Schließlich seien als letzte größere Einheiten Sach 11,4-16; 12,10-13,1 und 14,2-6 hinzugekommen. Bei den verbleibenden kürzeren Einheiten Sach 10,2a-3; 11,1-3.17; 13,2-6; 13,7-9 handele es sich um redaktio‐ nelle Brücken. Während Reddit das Gericht an den Hirten in Sach 11,4-16 als eine der jüngsten größeren Einheiten in DtSach betrachtet, soll die sog. Sammlung von Hirtenworten (Sach 9,1aα; 10,1-3a; 11,1-5.7.8b.9-17; 12,1a; 13,2-9) in dem von Wöhrle, Abschluss, 69-138, vorgelegten Modell den ältesten Kern der Sammlung bilden, der dann in einem komplexen und vielschichtigen Prozess zur jetzigen Gestalt gewachsen sei; vgl. die Übersicht a.-a.-O., 138. 11 Bei dem in Sach 9,1-7 umrissenen Territorium handelt es sich um das als Coelesyrien bezeichnete Gebiet zwischen Damaskus und Teilen der Levante einschließlich Samarias und Judäas, das in den sechs Syrischen Kriegen zum Streitpunkt zwischen den beiden rivalisierenden Großmächten der Ptolemäer und der Seleukiden wurde. Vgl. etwa die folgende signifikante Zusammenfassung: „Although the Ptolomies maintained control of the region for a century, the warrior kings of the Ptolemaic and Seleucid dynasties never ceased to battle and jockey for dominion over Coele-Syria. As a result, inhabitants of Coele-Syria, including the Judeans, suffered through no fewer than six ‘Syrian wars’ waged on their land by the Ptolemies and Seleucids between the years 274 and 168 BCE. By contrast with the two centuries of Persian rule that preceded it, the Hellenistic era was a time of almost ceaseless violence for Judeans“, so Portier-Young, Apocalypse, 55. Dass der insbesondere auf dem Boden Judäas ausgetragene Konflikt „apokalyptische“ Dimensionen angenommen hat, wird im Danielbuch durch einen endzeitlichen Kampf zwischen dem König des Nordens (Seleukiden) und dem König des Südens (Ptolemäer) zum Ausdruck gebracht. Zur allgemeinen Verunsicherung dürfte auch beigetragen haben, dass die jüdische Oberschicht in Parteigänger der Ptolemäer und der Seleukiden aufgespalten war; vgl. Greifenhagen, Egypt, 252f. 12 „Man hat den Eindruck, als sei da über Syrien und Phönikien plötzlich ein Sturm her‐ eingebrochen, der zwar im ganzen die Verhältnisse grundstürzend ändert, aber doch im einzelnen wenig Schaden anrichtet.“ (Elliger, Zeugnis, 79). Mit seinem im Jahr 1950 veröffentlichten Beitrag hat Karl Elliger maßgeblich die Weichen für die derzeit weit‐ gehend akzeptierte Datierung des Abschnitts Sach 9,1-8 gestellt. Die Mehrheit der Aus‐ leger ist ihm darin gefolgt, dass die hier beschriebenen Ereignisse auf den Feldzug Alexanders des Großen im Jahr 332 v. Chr. referieren. Um seine Datierung zu rechtfer‐ tigen, muss Elliger allerdings massiv in den Textbestand eingreifen. So eliminiert er, um ein Beispiel zu geben, die Stadt Sidon aus V. 2. Tatsächlich hat von den Städten Phöni‐ ziens allein Tyrus Widerstand gegen Alexander geleistet (und ist in seiner Geschichte erstmalig eingenommen worden), während Sidon den Eroberer mit offenen Toren emp‐ Befund ist zunächst nicht weiter verwunderlich. Die Leserschaft wird in Sach 9,1-7 zunächst mit einer Situation konfrontiert, in der sich eine kriegerische Maschinerie ausgehend vom Norden nach Süden bewegt, wobei von diesem Prozess insbesondere die Phönizierstädte Tyros und Sidon sowie Gaza und Aschkelon weiter im Süden betroffen sind. 11 Inmitten dieser kriegerischen Verwerfungen sichert JHWH zu, sich schützend vor sein Haus zu lagern und künftig jeden weiteren Aggressor abzuwehren. 12 Dabei dürfte es sich um einen Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 57 <?page no="58"?> fangen hat. Fraglich bleibt, wie zuverlässig eine Datierung sein kann, die auf einer un‐ nötigen Textänderung basiert. Zudem wirken die in Sach 9,1-8 genannten Ereignisse eher statisch als dynamisch. So konstatiert der Text, im Gegensatz zu Elligers Behaup‐ tung, nach der in Gaza noch ein König existiere, der aber bald verschwinden werde, mit der Formulierung דבאו ךלמ הזעמ , dass ein oder der König längst oder unlängst aus der Stadt verschwunden ist. Elliger, Zeugnis, 111-113, sieht hier einen persischen Vasallen am Werk, der den Königstitel irgendwie habe führen können. Elligers Datierung hat zudem ein weiteres Problem gegen sich. Sach 9,8 notiert, dass JHWH sich gegen jeden רבעמ בשמו bzw. שגנ schützend vor sein Haus legen wird. Elliger tut sich schwer damit, die Identität dieses von ihm selbst als „Zwingherr“ (Elliger, Zeugnis, 84) bezeichneten Figur zu skizzieren. Er selbst hält fest, dass die gesamte Perserzeit für Juda alles andere als kriegerisch war: „Damals wurde Syrien und Palästina Rüstplatz und Operationsbasis der persischen Heere, gelegentlich auch Kampfplatz, wenn den Ägyptern ein Gegenstoß gelang.“ (Elliger, Zeugnis, 105). Anders gesagt, bis in die Zeit der Syrischen Kriege hinein gab es keine nennenswerten militärischen Operationen gegen Juda bzw. Jerusalem. Wenn an anderer Stelle gesagt wird: „Der Zwingherr ist offensichtlich ein politischer Herr, und zwar ein fremder, der es überfällt“ (Elliger, Zeugnis, 84), wüsste man nur zu gerne, wer hier unter dem Eindruck des Alexanderzuges gemeint sein soll. Der dreifache Partizipialstil legt nahe, dass hinter dem „Hin- und Herziehenden“ bzw. dem „Be‐ dränger“ die Erfahrung einer langanhaltenden kriegerischen und negativ besetzten Ereignisreihung steht, der JHWH nunmehr ein Ende setzt. Saur, Gegenwart, 83, ver‐ weist auf die Dissonanz zwischen dem vermeintlichen Bezug von Sach 9,1-8 auf den Alexanderfeldzug und den Aussagen des Abschnitts selbst. Da in V. 8 das künftige Aus‐ bleiben von feindlichen Kriegsherren angekündigt wird, spreche der Text gerade keine „besondere Hochschätzung“ (ebd.) gegenüber Alexander aus. 13 In diesem Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme des Motivs der einkeh‐ renden Ruhe im Norden. Die Reitervision in Sach 1,7-17 und die Wagenvision in Sach 6,1-8 rahmen den Visionszyklus des Protosacharjabuches. Die Wagenvision endet mit der Ankündigung, dass der Geist JHWHs sich nach Norden wenden und sich dort nie‐ derlassen ( םיאצויה לא ץרא ןופצ וחינה תא יחור ץראב ןופצ ) werde. Offen muss dabei bleiben, ob der Geist JHWHs hier als Medium und Instrument eines Strafhandels (vgl. etwa Stead, Intertextuality, 219) oder - im positiven Sinne - zur Befriedung des Nordens (vgl. etwa Rudolph, Haggai, 124.) agiert. Während hier mit der Befriedung des Nordens Ba‐ bylonien gemeint ist, taucht das Motiv in Sach 9,1-3 in einer veränderten Konstellation wieder auf. Hier wird eine Liste von geographischen Begriffen angeführt, die sich al‐ lesamt unter dem Stichwort Norden subsumieren lassen. Für diese wird gesagt, dass sie jetzt in die Ruhe JHWHs (ותחנמ) einbezogen werden. Die Anspielung ergibt sich aus dem Stichwortgebrauch ותחנמ / וחינה in Sach 6,9 und 9,1. Allerdings ist hier nicht mehr Babylonien in den Blick genommen, sondern ein relativ präzise umschriebenes Gebiet, das sowohl Damaskus als auch Phönizien umfasst.- der wenigen Bezüge handeln, in denen im zweiten Teil des Buches auf den ersten direkt zurückgegriffen wird. 13 Immerhin hat JHWH in diesem zugesichert, das offen wohnende, d. h. wohl ohne Mauern auskommende Jerusalem mit einer Art firewall zu beschützen: 58 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="59"?> Offen wird Jerusalem wohnen (בשת) wegen der Menge der Menschen und Tiere in seiner Mitte. Ich werde sein für sie, Spruch JHWHs, eine Mauer aus Feuer ringsum. Und zur Herrlichkeit werde ich in seiner Mitte (Sach 2,8f). Ich lagere mich vor mein Haus zur Wache gegen jeden Hin- und Herziehenden (רבעמ בשמו) und nicht mehr zieht gegen sie künftig ein Bedränger (שגנ), denn jetzt sehe ich mit meinen Augen (Sach 9,8). Während Sach 2,7-9 von einer offenen daliegenden Stadt Jerusalem ausgeht, sieht Sach 9,8 die Stadt von potenziellen Angriffen bedroht, vor denen JHWH seine Stadt nunmehr dauerhaft schützen wird. In dem sich anschließenden Text initiiert JHWH eine universale Befriedung der Welt und eine damit verbundene Wegnahme der Waffen von seinem Volk. Freue Dich, Tochter Zion, juble Tochter Jerusalem, denn siehe, dein König kommt zu dir. Gerecht und einer, dem geholfen wird, arm ist er und ein Reiter auf einem Esel, dem Füllen einer Eselin. Denn ich rotte aus den Streitwagen aus Ephraim und das Schlachtross aus Jerusalem. Zerbrechen wird der Kriegsbogen. Er spricht Schalom zu den Völkern, und seine Herrschaft reicht vom Meer zum Meer und vom Fluss bis zu den Enden der Erde. (Sach 9,9f.) In V. 9 f reitet der kommende König auf einem Esel ein, zudem attestiert der masoretische Text dem König eine fehlende militärische Potenz. Darüber hinaus wird angekündigt, dass JHWH selbst die Waffen aus Ephraim und Juda entfernen wird, wobei ungesagt bleibt, ob es sich um das Militärpotenzial seines eigenen Volkes oder das der dieses bedrohenden Fremdmächte gehört. Der zum Zion kommende König ist durch folgende Attribute ausgezeichnet: Der hebräische Text bezeichnet diesen zunächst als קידצ עשונו אוה . Das Nif. Par‐ tizip unterstellt dem König Passivität und Hilfsbedürftigkeit gegenüber JHWH. Dieser Aussage korrespondiert die anschließende Bezeichnung des Königs als arm (ינע) und als Eselreiter. Da JHWH in V. 10 die Vernichtung von Schlachtross, Streitwagen und Kriegsbogen ankündigt, gewinnt der arme König auf dem Esel eine gänzlich unmilitärische Konnotation. Er benötigt die rettende Hilfe JHWHs, er verfügt über kein militärisches Potential, und die Bewahrung des Volkes im Krieg geht allein von JHWH aus. Mit dieser Konzeption des eselreitenden Königs wird nicht nur ein Gegenbild zum Typos des siegreichen hellenischen Basileus, der bevorzugt als siegreicher Krieger auf dem Pferd dargestellt wird, sondern auch gegenüber der ptolemäi‐ schen Staats- und Königsideologie geschaffen. So erscheint etwa Ptolemäus IV. auf dem Raphiadekret als Reiter in makedonischer Rüstung, der in Anwesenheit eines ägyptischen Götterkollegiums seinen Feind (Antiochus V.) niederreitet. Im Unterschied zu dieser Vorstellung rettet der König nicht das Volk, er wird viel‐ Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 59 <?page no="60"?> 14 Vgl. die Abbildung bei Hoffmann/ Minas-Nerpel/ Pfeiffer, Stele, 28. Mit dieser Darstel‐ lung wird deutlich, dass die Ptolemäer Aspekte der hellenistischen Königsideologie übernommen haben, nach der der König die Legitimität seiner Herrschaft durch militärische Erfolge unter Beweis stellen musste; vgl. Wiemer, Siegen, 311f. 15 Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die in Sach 9,13 genannten Griechen mit der Per‐ serzeit in Verbindung zu bringen. So hat etwa Curtis argumentiert, die Griechen stehen hier für militärische Kontingente im Dienst der Perser. Demgegenüber widersprüchlich ist die Vermutung Curtis’, den Hintergrund der Erweckung der Zionssöhne ( ךינב ןויצ ) gegen die Söhne Griechenlands könne ein Konflikt zwischen persischen Truppen und den Griechen bilden; vgl. Curtis, Mas’ot, 198 f. Abgesehen davon, dass diese Überle‐ gungen mehr als spekulativ sind, bleibt das in Dan 8,21; 10,19; 11,2 genannte Javan, hinter dem die Repräsentanten des Seleukidischen Reiches stehen, als verlässlichster Hinweis zur Identifizierung der „Söhne Javans/ Griechenlands“ bestehen. Allerdings ließe sich die Konstruktion auch auf eine prohellenistische Gruppe innerhalb des Ju‐ dentums beziehen. Die zweifache Anrede an „deine Söhne, Zion“ ( ךינב ןויצ ) und „deine Söhne, Griechenland“ ( ךינב ןוי ) wirkt überladen. Zudem wird mit dem unmittelbar fol‐ genden Wort (ךיתמשו) wieder Zion angeredet. Grammatikalisch möglich und inhaltlich sinnvoll wäre, das Suffix in ךינב ןוי ebenfalls auf Zion zu beziehen. Damit wäre gesagt, dass JHWH die (wahren) Söhne Zions gegen dessen „Griechen-Söhne“ zum Kampf in‐ itiiert; vgl. Kunz, Ablehnung, 266f. mehr mit diesem zusammen gerettet, er verkörpert nicht Macht und Stärke, als ינע repräsentiert er das gewöhnliche Volk. 14 Sach 9,1-10 entwirft ein Szenario, in dem ein von kriegerischen Umwälzungen betroffener geographischer Bereich zwischen Damaskus, Phönizien und den Städten der Philister befriedet und entmilitarisiert wird. Dieser bildet das geographische Zentrum einer Welt, die sich vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf erstreckt und in der die einzige Aufgabe des kommenden Königs darin besteht, den universalen Schalom zu verkünden. Die Vorstellung vom Krieg, wie sie in dem Abschnitt 9,1-10 begegnet, stellt sich im folgenden Abschnitt 9,11-17 gänzlich anders dar. Von Entwaffnung und Demilitarisierung ist hier nicht mehr die Rede. JHWH selbst ist es, der sich seine Getreuen auf einer bildhaften Ebene als Pfeil und Bogen zurechtlegt bzw. zum Schwert eines Helden umfunktioniert und diese gegen eine als Griechen bezeichnete feindliche Macht zum Einsatz bringt. 15 Der Kampf gestaltet sich dramatisch. Als gefährlichste der von den Gegnern eingesetzten Waffen werden Schleudersteine benannt, vor denen JHWH seine Getreuen beschützen muss, wobei diese sich noch während des Kampfes anschicken, ein eschatologisches Mahl einzunehmen. Während Sach 9,1-10 von einem von JHWH initiierten Verschwinden des Krieges ausgeht, kehrt dieser in Sach 9,11-17 unter einem eschatologischen Vorzeichen zurück. Die Getreuen JHWHs sind direkt in den Krieg involviert. Allerdings geschieht dies eher passiv, da die Getreuen von JHWH von den 60 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="61"?> 16 Syntaktisch läge es nahe, dass das Subjekt zu ולכאו ושבכו (Sach 9,15) an das Objektsuffix von םהילע anschließt, wobei dann die Getreuen JHWHs die Schleudersteine „fressen und zermalmen“ würden. Inhaltlich sinnvoller wäre es zunächst, die Schleudersteine als Subjekt anzunehmen, allerdings wäre dann der nochmalige Subjektwechsel in der zweiten Vershälfte durch nichts signalisiert. Unabhängig von diesem kaum zu lösenden Problem ist dennoch deutlich, dass die gefährlichste Waffe der Feinde die Schleuder‐ steine sind, vor denen JHWH seine Getreuen beschirmen muss (ןגיו). Damit ist neben der Erwähnung der Griechen in Sach 9,13 ein weiterer Hinweis zur Datierung des Textes gegeben. Zu den Innovationen der hellenischen bzw. hellenistischen Militärtechnik ge‐ hört die Entwicklung sog. Torsionsgeschütze, die sehr wirkungsvoll bei der Belagerung von Städten eingesetzt wurden; vgl. hierzu Brice, Artillerie, 19 f. Dazu passt, dass JHWH in Sach 9,12 seine Getreuen auffordert, zur Festung (ןורצבל) zurückzukehren. Offen‐ sichtlich wird der endzeitliche Kampf um eine befestigte Stadt geführt. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Einnahme von Tyros durch Alexander einerseits durch die aufwendige Aufschüttung eines Damms, andererseits durch die Zerstörung der Stadtmauern durch Katapultgeschosse möglich wurde. Ober, Revolu‐ tion, 69, spricht in diesem Zusammenhang von einem „epic siege“. Es ist gut vorstellbar, dass das Aufkommen dieser neuen Militärtechnik im Vorderen Orient zu Bewunderung und Besorgnis zugleich geführt hat. 17 Als Kontrahenten des eschatologischen Kampfes werden in Sach 9,13 die Söhne Zions ( ךינב ןויצ ) und die Söhne Griechenlands bzw. Javans ( ךינב ןוי ) ausgemacht. Der letztge‐ nannte Ausdruck ist des Öfteren als metrischer Überschuss oder als Schreibfehler be‐ anstandet worden; vgl. etwa Hanson, Zechariah, 45. Allerdings wird so ein gewichtiger Anhaltspunkt für die Datierung des Textes vorschnell und grundlos emendiert. In sti‐ listischer Perspektive ist der Passus nicht zu beanstanden. Zudem ist es mehr als un‐ wahrscheinlich, dass Griechenland/ Jawan hier in der Konsequenz eines Schreibfehlers in den Text hineingeraten ist. 18 Vgl. Bonfiglio, Archer Imagery, 513 ff. Folgen der Kampfhandlungen geschützt werden. Auch wenn der Text an dieser Stelle etwas unergründlich bleibt, so wird doch deutlich, dass die in der klassischen und hellenistischen Zeit eingeführte Schleudermaschine hier als Inbegriff einer zerstörerischen Waffenwirkung steht. 16 JHWH begegnet in diesem Abschnitt als eine dichotome Gestalt, d. h. in einer sowohl kämpferischen als auch schützenden Funktion, die aus einer himmlischen Sphäre zugunsten seiner Getreuen das kriegerische Geschehen dominiert. Die Konfrontation selbst wird mit Fernwaffen ausgetragen. Während JHWH seinen Pfeil gegen die Feinde verschießt (Sach 9,13f.), benutzen diese Schleudersteine als Waffen, vor denen JHWH seine Getreuen beschützen muss. 17 Das hier gebrauchte Motiv des Bogenschützen dürfte auf das im Alten Orient und in der Perserzeit weit verbreitete Motiv des königlichen Bogenschützen zurückgehen. 18 Gegenüber dieser noch etwas moderateren Haltung zum Krieg nimmt der Abschnitt Sach 10,3b-12 eine weitere Intensivierung vor. 19 Während im ersten Abschnitt Ross und Wagen als Instrumente des Krieges von JHWH selbst aus Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 61 <?page no="62"?> 19 Im Vergleich mit Sach 9,1-10 intensiviert Sach 10,3b-12 nicht nur den Krieg, vielmehr nimmt der Abschnitt noch eine Ausweitung der „imaginären Landkarte von Sach 9,1-8“ (Reddit, Sacharja, 75) vor. V. 10 notiert, dass die Zahl der von JHWH Zurückgeführten so groß sein werde, dass diese die Territorien Gileads und des Libanon bevölkern werden. Aufgrund der Erwähnung Assurs und Gileads in Jer 59,19 vermutet Tigchelaar, Observations, 262, dass hier eine Anspielung auf besagten Text vorliege. Allerdings kann diese literarische Bezugnahme die Einbindung des Libanon in die eschatologische Geographie nicht erklären. Möglicherweise geht diese Vorstellung auf eine ao. Königs‐ tradition zurück. Ebenso wie in Sach 10,10, wo JHWH seine Getreuen aus Ägypten und Assur nach Gilead und in den Libanon führt, um diese dort sicher wohnen zu lassen, notiert der babylonische König Nebukadnezar, dass er seine Untertanen im Libanon „wie auf einer Aue“ lagern lässt und jeglichen Störenfried von ihnen fernhält (TUAT I, 4, 405). der Welt geschafft werden, tauchen diese in Sach 10,4-17 wieder auf. Zudem ist in Sach 9,8 von einem שגנ die Rede, der künftig nicht mehr gegen die Getreuen JHWHs agieren kann, eben weil Stadt und Volk jetzt unter der Protektion JHWHs stehen. Umso überraschender ist es, wenn die Getreuen JHWHs selbst als שגונ (Sach 10,4) erscheinen und aus seinem Volk ein Kriegsbogen (תשק המחלמ) hervorgeht, der in Sach 9,10 ja noch zerbrochen worden ist, und die Getreuen nunmehr als Schlachtross ( סוסכ ודוה המחלמב ; Sach 10,3b) im Kampf gegen die Feinde auftreten, wohingegen in Sach 9,10 das Verschwinden des‐ selben eben noch als Vorzeichen des kommenden Friedens angekündigt worden ist. Dabei greift Sach 10,11 mit Jes 10,24ff. auf eine ältere prophetische Vorlage zurück. Der Text kündigt einen Schlag Assurs gegen Zion an, allerdings wird JHWH rettend in das Geschehen zugunsten seines Volkes eingreifen. Die Stich‐ wortassoziation ergibt sich aus den Ausdrücken רושא , םירצמ , םי , הכנ und רבע. Offensichtlich sieht sich der Verfasser mit Ereignissen konfrontiert, die er im Jesajatext als angekündigt und in seiner Gegenwart als nunmehr eingetreten betrachtet. Im Unterschied zur Vorlage, in der JHWHs Handeln gegen Assur mit seinem Agieren gegen Ägypten in der Vergangenheit verglichen wird, ist hier von einem gemeinsamen Untergang beider Großmächte die Rede. Das folgende 11. Kapitel thematisiert den Krieg zwar nicht direkt, spielt aber mit der enigmatischen Erwähnung von drei Hirten, die von JHWH eliminiert werden, auf Gewaltakte an, die sich gegen politische oder kultische Funktions‐ träger richten, wobei alle Versuche, diese zu identifizieren, gescheitert sind. Mit Blick auf die sonstige Hirtenmetaphorik in der Hebräischen Bibel wird man auch hier ein Strafwort gegen die versagenden politischen Eliten vermuten dürfen. In Kapitel zwölf ist der Krieg zurück. Während im vorherigen Kontext von einem mehr oder weniger konkretisierten Feind die Rede ist, ziehen nunmehr die Völker zum Kampf gegen Jerusalem heran. Allerdings zeichnet sich hier 62 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="63"?> 20 In Kap. 12 greift JHWH noch rechtzeitig zur Bewahrung der Stadt ein, in Kap. 14 geschieht dies erst nach deren Plünderung und Zerstörung; vgl. hierzu Reventlow, Propheten, 149. 21 Sach 13,3 notiert, dass Vater und Mutter gemeinsam gegen den prophezeienden Sohn vorgehen werden. Dabei erinnert die Formulierung והיבא ומאו an Dtn 21,19: Hier sind es ebenfalls Vater und Mutter ( ויבא ומאו ), die öffentlich auf eine Bestrafung ihres unge‐ horsamen Sohnes hinwirken. Dabei handelt es sich in Sach 13,3-6 nicht um eine Be‐ strafung wegen einer besonders ekstatisch daherkommenden Form der Prophetie; gegen Rudolph, Sacharja, 228. Der Ausdruck ואבנהב („wegen seines Prophezeiens“) stellt sicher, dass hier von Prophetie allgemein die Rede ist. 22 Als Kennzeichen der beginnenden Zeit ohne Prophetie wird neben der durch prophe‐ tische Aktivitäten ausgelöste Beschämung festgestellt, dass niemand mehr einen „haa‐ rigen Mantel“ ( תרדא רעש ) tragen werde. Damit spielt Sach 13,4 auf den Mantel (תרדא) Eliahs bzw. Elisas an, der in den betreffenden Erzählungen zum Inbegriff der prophe‐ tischen Sukzession avanciert ist; vgl. 1Kön 19,13.19; 2Kön 2,8.13.14. In Sach 13,5 äußert der (nunmehr einsichtige und ehemalige) Prophet, dass er kein solcher mehr sei ( אל איבנ יכנא) und dass er ab jetzt als Landwirt arbeiten werde. Die Formel יכנא איבנ אל erinnert auffällig an Am 7,14, zudem wird hier festgestellt, dass der Prophet wider Willen sich selbst als Landwirt versteht. 23 Während in Sach 13,7 angekündigt wird, dass nur ein Drittel (תישלשהו) des Volkes das Gericht überleben wird, kündigt Ez 5,2.12 an, dass JHWH auch das letzte Drittel (תישלשהו) vernichten wird; zur literarischen Abhängigkeit der Sacharjastelle von Ez 5,2.12 vgl. die Übersicht bei Reddit, Zechariah, 324-332. schon eine Entwicklung ab, die dann im Kapitel 14 noch erheblich an Dramatik gewinnen wird. 20 Es handelt sich dabei um eine Dissonanz zwischen Jerusalem und dem übrigen Land bzw. seinen Bewohnern. Hier heißt es, dass JHWH die Angehörigen Judas zuerst beschützen wird, um den Stolz Jerusalems nicht zu groß werden zu lassen (Sach 12,7). Wie genau man sich den Angriff der Feinde vorstellen muss und wie das helfende Eingreifen JHWHs sich darstellt, wird an dieser Stelle nicht konkretisiert. Das folgende 13. Kapitel eröffnet zwei thematische Felder. Völlig unvorbe‐ reitet und im Kontext der sonstigen Äußerungen im Zwölfprophetenbuch spektakulär ist hier vom Ende der Prophetie die Rede. Ein jeder, der sich noch als Prophet gebärde, werde gedemütigt und körperlich gezüchtigt werden. 21 Daran schließt sich ein Rückgriff auf zwei Leitgestalten der prophetischen Literatur an. 22 Anschließend wird im sogenannten Schwertlied die Waffe aufgefordert, den aus Sach 11 bekannten Hirten nochmals zu schlagen; zudem wird in einer direkten Anspielung auf das Ezechielbuch angekündigt, dass JHWH seine Getreuen in einer kriegerischen Aktion um zwei Drittel reduzieren wird. 23 In Kapitel 14 wird der eschatologische Krieg dann umfänglich thematisiert. Wieder führt JWHW die Heere der Völker gegen Jerusalem heran. Das übliche Szenario Vergewaltigung, Brandschatzung, Tötung und Deportationen wird Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 63 <?page no="64"?> 24 Sach 14,8.10f konstatiert, dass das eschatologische Jerusalem zur Quelle des „lebendigen Wassers“ und damit zum Mittelpunkt einer Kultivierung des Landes wird; zudem erfährt das Gebiet außerhalb Jerusalems eine tektonische Absenkung auf das Niveau der Jordansenke, wodurch die buchstäbliche Erhabenheit Jerusalems unterstrichen wird. Der Bezug auf Ez 47 ist offensichtlich. Auch hier mutiert der Tempel zur Wasserquelle, die das Umland befruchtet. entfaltet. Nunmehr endet die Heranführung der Völker in ihrer Vernichtung. Während in den Kapiteln 9; 10 und 12 noch davon die Rede war, dass JHWH sich schützend vor seine Getreuen stellen wird, erscheint er nunmehr selbst als Krieger, der mit seinen Füßen auf dem Ölberg steht und der die Vernichtung, konkret die Verwesung, der Feinde initiiert. In diesem Zusammenhang erfolgt eine geologisch-eschatologische Umgestaltung des Landes. In einer gewaltigen tektonischen Umwandlung wird das Land um Jerusalem herum abgesenkt. Der Tempel selbst wird zur Quelle, dessen Wasser das gesamte Land in ein fruchtbares Paradies verwandelt. 24 Nachdem angekündigt worden ist, dass das Fleisch der gegen Jerusalem heranziehenden Völker verwesen wird, bricht ein allgemeines Durcheinander aus, in dem jeder gegen jeden wütet und schließlich Juda auch gegen Jerusalem kämpfen wird: An jenem Tag wird es sein, dass die Verwirrung JHWHs unter ihnen groß sein wird. Ein jeder wird die Hand seines Nächsten packen und seine Hand gegen seinen Nächsten heben. Auch Juda wird gegen Jerusalem kämpfen. (Sach 14,13.14a). Bemerkenswert ist hier, dass der Bruch zwischen Juda und Jerusalem während des Kampfgeschehens vollzogen wird. Juda mischt sich nunmehr unter die Völkerwelt und nimmt am Kampf gegen Jerusalem teil und wird somit auch Ziel des vernichtenden Handelns JHWHs. Das Kapitel schließt damit, dass der geläuterte Tempel wiederum das Ziel der Völker ist. Allerdings geschieht dies 64 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="65"?> 25 Allerdings bleibt unklar, ob sich die Völker vollständig in die Kultgemeinde JHWHs integrieren müssen. In Sach 14,16 wird festgehalten, dass der Rest aus den Völkern jährlich nach Jerusalem kommen wird, um dort JHWH anlässlich des Laubhüttenfestes anzubeten. Es ist fraglich, ob es sich dabei schon um eine „kultische Integration des Völkerrests“ (Gärtner, Jerusalem, 353) handelt. Möglich wäre auch eine Deutung, nach der die Völker zwar die Omnipräsenz und die Omnipotenz des Gottes Israels aner‐ kennen müssen, wobei sich diese Erkenntnis in der jährlichen Wallfahrt in die Tat um‐ setzt, ohne damit Teil der endzeitlichen Kultgemeinde mit allen damit verbundenen Pflichten zu werden. Vergleichbar wäre diese Vorstellung mit der des Jonabuches, nach der die Repräsentanten der Völker (die Seeleute und die Niniviten) die Einzigkeit und Allmacht des Gottes Israels anerkennen, allerdings ohne sich dabei einer vollständigen Konversion zum Judentum zu unterziehen, vgl. Kunz-Lübcke, Jonah, 71 f. In Sach 14,16-19 ist dann vom Geschlecht Ägyptens ( תחפשמ םירצמ ) die Rede, das sich der all‐ jährlichen Wallfahrt nach Jerusalem verweigert. Vf. hat an anderer Stelle argumentiert, es handele sich hierbei um die jüdische Diaspora in Ägypten, die sich mit der Errichtung eigener Kultstädten in Leontopolis und in Elephantine in Distanz zum Jerusalemer Tempel gebracht hat; vgl. Kunz, Zions, 37-38. Möglich ist allerdings auch, dass sich hier eine generell negative Wahrnehmung Ägyptens abzeichnet; vgl. Hagedorn, Diaspora, 330 f, sowie Reddit, Connectors, 218, der eine Polemik sowohl gegen Ägypten als auch gegen dort lebende Judäer für möglich hält. 26 Mit den beiden Wendungen וסשנו םיתבה und םישנהו הנלגשת wird deutlich auf Jes 13,16 rückverwiesen ( וסשי םהיתב םהישנו הנגלשת ). Dabei scheint der Vf. von Sach 14 zwei Pro‐ bleme ignoriert zu haben. Jes 13 ist ein Gerichtswort gegen Babel. Wie konnte dieses hier so ohne weiteres auf Jerusalem übertragen werden? Nach der Zerstörung und teil‐ weisen Entvölkerung Jerusalems wird dieses in V. 16 ff schlagartig zum Zentrum der Welt und der Völkerwallfahrt. Von einer Restitution der Stadt ist allerdings nirgendwo in diesem Kapitel die Rede. nunmehr in einer friedlichen und geordneten Wallfahrt der Völker anlässlich des jährlichen Laubhüttenfestes. 25 Zum Konzept der Dramatisierung des Krieges in DtSach gehört auch die Wiederaufnahme von Motiven in Sach 14, die bereits in Sach 12 begegneten, die aber nunmehr intensiviert und verschärft dargestellt werden. Während in Sach 12,3 die Völker in Eigeninitiative zusammenkommen, um gegen Jerusalem zu ziehen, ist es in Sach 14,2 JHWH, der die Völkerwelt versammelt und zum Kampf gegen die Stadt heranführt. In Sach 12,7-8 ist bereits eine leichte Dissonanz zwischen Jerusalem und Juda angeklungen. Dennoch stehen beide im Fokus des Handelns JHWHs. In Sach 14,14 ist das dann völlig anders: Hier ist es Juda, das sich zusammen mit den Völkern am Kampf gegen Jerusalem beteiligt. Die Konsequenzen des letzten Kampfes für Jerusalem fallen in Kap. 14 wesentlich dramatischer aus. Während in Kap. 12 die Stadt im Wesentlichen unversehrt aus dem Kampf hervorgeht, erfährt sie in Kap. 14 eine dramatische Umgestaltung. 26 Es ist nunmehr die Stadt selbst, die zum steten Wasserquell des Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 65 <?page no="66"?> 27 Vgl. auch Wöhrle, Abschluss, 86, der von einem „eher völkerfeindlich ausgerichteten Textkomplex Sach 9-14“ spricht. 28 S.o. 29 Die Fülle der Literatur, die sich ausschließlich dem Phänomen der Schriftreflexion und -zitation in Sach 9-14 widmet, ist bemerkenswert. So hat etwa Bernhard Stade in seiner Funktion als erster Herausgeber der ZAW die ersten beiden Jahrgänge des Blattes mit einer umfangreichen Debatte der in DtSach vorliegenden Schriftzitate versehen; vgl. B. Stade, Deuterozacharja, 1-96, und ders., Deuterzacharja (Fortsetzung), 151-172; 275-309. Einen weiteren Meilenstein stellte die (für lange Zeit nur als Mikrofiche zugängliche) Studie von Rex A. Mason, Use, aus dem Jahr 1973 dar. Der Einfluss der Studie zeigt sich schon darin, dass neben der Buchpublikation derselben mehr als dreißig Jahre später im selben Band eine Reihe von Einzeluntersuchungen zur schriftgelehrten Verwendung älterer Texte der Hebräischen Bibel in DtSach publiziert worden sind, die das Werk des Altmeisters würdigen und fortführen; vgl. Body, Bringing. Umlandes wird und die zum Zeichen ihrer Erhabenheit über den Rest des Landes erhoben wird (Sach 14,8-11). Insbesondere in der Darstellung der Völkerwallfahrt zum Zion zeigt sich, wie weit sich DtSach von den Kapiteln 1-8 entfernt hat. Der erste Teil des Buches endet damit, dass die Repräsentanten der Völker sich jeweils einen Judäer aussuchen werden, mit dem sie friedlich und ohne Zwang zum Zion ziehen werden (Sach 8,22f). Demgegenüber heißt es in Sach 14,14-19, dass der Rest der Volker, der die endzeitliche Schlacht überlebt hat, gezwungenermaßen einmal jährlich nach Jerusalem kommen wird, um so der Strafe des Entzugs von Regen zu entgehen. 27 Mit dieser Zusammenfassung der fünf Kapitel des zweiten Teils des Sacha‐ rjabuches sollte deutlich geworden sein, dass dieser sich dem Thema Krieg und Gewalt flächendeckend und kontinuierlich, aber auch in einer facettenreichen bis widersprüchlichen Form annähert. Es ist schon vor diesem Hintergrund ver‐ ständlich, dass die Auslegungsgeschichte der Kapitel 9-14 eine große Fülle von redaktionskritischen Entwürfen aufweist, in denen die Genese des Abschnitts als ein kleinteiliger und in seiner Vielzahl kaum zu überschauender Vorgang beschrieben worden ist. 28 Allerdings hat ein Modell, nach dem die Gesamtkomposition aus ursprüng‐ lich voneinander unabhängigen Textfragmenten besteht, die dann in einem mehrstufigen Prozess zum jetzt bekannten Buchganzen zusammengefügt worden sind, einige Schwierigkeiten in sich. So kann auf der Basis einer redak‐ tionskritisch orientierten Entstehungshypothese nicht geklärt werden, warum der zweite Teil des Buches sowohl auf der Ebene einschlägiger Schlüsselwörter als auch auf der Motivebene zahlreiche Verschränkungen und Bezüge aufweist, 29 66 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="67"?> 30 Zwischen den einzelnen Abschnitten Sach 9,1-10; 9,11-17 und 10,3-11 bestehen folgende signifikante Stichwortverbindungen: טיטכ תוצוח / טיטב תוצח in Sach 9,3 und 10,5; הכהו םיב in Sach 9,4 und 10,11; שגנ / שגונ in Sach 9,8 und 10,4; תשק המחלמ in Sach 9,10 und 10,4. 31 Die Gleichzeitigkeit von Widersprüchen bzw. Spannungen und verbindenden Motiven, Themen und Stichwörtern lässt sich immer noch am besten mit dem von Steck, Ab‐ schluss, 30-60, vorgeschlagenen Fortschreibungsmodell erklären. Demnach sei DtSach entsprechend der vorliegenden Anordnung der Einzelabschnitte Sach 9,1-10,2 (mit 9,1-10 als älterem Kern); 10,3-11,3; 11,4-13,9; 14,1-19 nach und nach und mit dem Stilmittel des steten Rückverweisens auf die vorherigen und somit älteren Abschnitte gewachsen. 32 Der Esel unterstreicht nicht die königliche Würde seines Reiters, wie dies gelegentlich behauptet worden ist, dafür wäre etwa das Nomen דרפ zu erwarten gewesen; vgl. die ausführliche Diskussion von Way, Donkey, 105 ff. Uehlinger, 707, argumentiert, dass der eselreitende Messias in Sach 9,9 als Gegenkonzeption zu einer Vorstellungswelt zu sehen ist, nach der der kommende von Gott erwählte Erlöser als Pferdereiter erscheint. Allerdings wird damit dem innertextlichen Referenzsystem von Sach 9,1-10 zu wenig Beachtung geschenkt. Der ךלמ auf dem Esel in Sach 9,9 steht in einer Kontrastfunktion zu den von JHWH eliminierten Schlachtross und Streitwagen in Sach 9,9 und zu dem (gescheiterten) aus Gaza verschwundenen ךלמ in Sach 9,5. die zumindest die Idee einer Vielzahl von Verfasserschaften in Frage stellen könnte. 30 An dieser Stelle von einem planvollen Ganzen zu sprechen, wie ich es hiermit vorschlagen möchte, ist natürlich ebenfalls nicht frei von Schwierigkeiten. 31 Der Krieg ist nicht das einzige Thema innerhalb der Komposition, auch wenn er sich als thematischer roter Faden durch diese hindurch zieht. Allerdings lassen sich andere Themen durchaus als diesem Hauptthema subordiniert betrachten. So sind das ständige Auf und Ab der Verstoßung und Erwählung Israels, der Exilierung und der Rückführung sowie die Vernichtung und Bewahrung Jeru‐ salems Themen, die an das Hauptthema Krieg notwendigerweise angebunden sind. Zu den Schwierigkeiten, mit denen die Komposition ihre Leser konfrontiert, gehören einige Details, von denen zwei sehr prominent im Neuen Testament wiederkehren, deren genauer Hintergrund allerdings unklar bleibt. Bekanntermaßen lässt Matthäus Jesus ein Reiterkunststück vollbringen, indem er diesen auf zwei Eseln reitend in Jerusalem einziehen lässt (Mt 21,7). Allerdings versteht der hebräische Text den auf einem Esel daherkommenden König doch völlig anders. Da JHWH selbst die Pferde und die Kriegswaffen entfernt, dürfte der Esel hier als ein antimilitaristisches Konzept zu verstehen sein, der bewusst ein Gegenbild zu dem im Hellenismus sehr populären Image des siegreichen und rettenden Königs auf dem Schlachtross darstellt. 32 Merkwürdig ist nur, dass der Friedenskönig im folgenden Kontext der Komposition überhaupt keine Rolle mehr spielt. Eine weitere, nicht zu lösende Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 67 <?page no="68"?> Schwierigkeit besteht darin, dass in den Kapiteln 11 und 12 enigmatisch auf Personen angespielt wird, deren Identität im Dunkeln bleibt. So ist einerseits von drei Hirten die Rede, die ihre Aufgabe, das Volk zu weiden, grundlegend verweigern und die dementsprechend von JHWH innerhalb eines halben Jahres (s.-u.) eliminiert werden. Ob sich hinter den genannten Hirten historische Gestalten bzw. Ereignisse verbergen, bleibt trotz aller Bemühungen der Forschung unklar. Vollkommen unergründlich bleibt in diesem Zusammenhang das Motiv der 30 Silberlinge, die in der neutestamentlichen Deutung wieder auftauchen, allerdings ohne dass daraus Rückschlüsse auf die ursprüngliche Intention der Motivverwendung gezogen werden können. Ebenso rätselhaft ist das Auftreten des Durchbohrten in Kapitel 12. Um ein wenig Licht in den geistigen Hintergrund der Komposition zu bringen, ist auf zwei Texte zu verweisen, die gewisse Parallelen zu den letzten fünf Kapiteln des Sacharjabuches aufweisen. 2 Sach 9-14 im Spiegel jüdischer und spätägyptischer Endzeitspekulationen 2.1 Die Hirtenvision in äthHen Es handelt sich dabei um die sogenannte Hirtenvision im äthiopischen Henoch‐ buch und das in griechischer Sprache vorliegende ägyptische Töpferorakel. Dass in einer prophetischen Schrift, die erwiesenermaßen eine ganze Reihe von Anspielungen auf ältere, insbesondere prophetische Texte der Hebräischen Bibel aufweist, metaphorisch von Hirten die Rede ist, ist zunächst nicht über‐ raschend. Ebenso wenig überraschend ist, dass das Motiv gebraucht wird, um das Versagen der politischen Eliten und ein anschließendes Strafhandeln Gottes darzustellen. Bemerkenswert ist allerdings, dass das Vergehen der Hirten gegenüber der Herde von JHWH offensichtlich initiiert wird und deren Treiben von diesem teilnahmslos zur Kenntnis genommen wird: So spricht JHWH, mein Gott: Weide die Schlachtschafe! Ihre Käufer schlachten sie, ohne belangt zu werden; und nachdem sie sie verkauft haben, sagen sie: „Gepriesen sei JHWH, ich bin reich geworden“. Und die Hirten hatten kein Mitleid mit ihnen. (…) Ich ( JHWH) sprach: Ich will euch nicht (mehr) weiden. Was tot ist, soll sterben, was versprengt ist, soll versprengt bleiben und die, die übrig geblieben sind, sollen verzehren (ein jeder) das Fleisch seines Nächsten. (…) Denn siehe, ich ( JHWH) lasse einen Hirten im Lande aufstehen, der sich der Versprengten nicht annehmen wird, um das Junge kümmert er sich nicht, was zerbrochen ist, heilt er nicht, das Versteifte versorgt er nicht, aber das Fleisch des Fetten verzehrt er und ihre Klauen zerreißt er. 68 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="69"?> 33 JHWH agiert somit ähnlich wie Gott in äthHen 89. Die eingesetzten Hirten erweisen sich als ein wirksames Mittel zur Bestrafung des Volkes. Da erstere ihren Auftrag in egoistischer Manie übererfüllen, trifft sie ebenfalls die Strafe JHWHs. Berner, Jahre, 200, sieht in der Aufgabe der Hirten, einerseits die Schafe zu weiden und andererseits diese zu dezimieren, eine „Spannung“ vorliegen. Allerdings löst diese sich auf, wenn die von Gott bestimmte Funktion der Hirten in den Blick genommen wird. Die Hirten sind das Strafinstrument Gottes gegen sein Volk, die ihrerseits am Ende für ihr Handeln gegen dieses bestraft werden. 34 Übersetzung nach Uhlig, Henochbuch, 693-695. Wehe dem nichtsnutzigen Hirten, der die Herde verlässt. Schwert gegen seinen Arm, gegen sein rechtes Auge! Sein rechtes Auge verdorre, sein rechtes Auge verlösche. (Sach 11,4.5.9.16.17) Die Hirten treten in einer ambivalenten Funktion auf. Einerseits sind sie die politische Elite, die sich skrupellos am Volk bereichert und dieses zur eigenen Gewinnoptimierung dezimiert. Auch wenn dies als ein Vergehen zu verstehen ist, so stellt sich dieses zugleich als ein von JHWH initiiertes Strafhandeln an seinem Volk dar. Es ist eben diese Verschränkung vom Versagen der Hirten in ihrer Führungs‐ rolle und ihre gleichzeitige Benutzung als Strafinstrumente Gottes, die auch in der sogenannten Hirtenvision im äthiopischen Henochbuch begegnet. Auch hier setzt JHWH Hirten ein, die er mit der Obhut über sein Volk beauftragt. Den Hirten wird ausdrücklich zugestanden, einen Teil der Schafe zu schlachten. Allerdings können diese in ihrer Gier nicht innehalten und verzehren weitaus mehr Schafe, als Ihnen ursprünglich zugestanden worden sind. Sowohl in Sach 11 als auch in äthHen 89,59ff begegnet die Vorstellung, dass JHWH/ Gott Hirten einsetzt, um durch deren drakonisches Vorgehen das Volk zu bestrafen, wobei durch deren Gier das Volk malträtiert und dezimiert wird. 33 In Sach 11,4f fordert JHWH auf, die Herde zu weiden. Wer hier angesprochen ist, erklärt sich mit dem folgenden Vers: Die von JHWH eingesetzten Hirten bereichern sich, indem sie die in ihre Obhut gegebene Herde selbst verzehren. Ebenso setzt Gott in äthHen 89 Hirten mit dem Auftrag ein, die Schafe zu weiden und eine bestimmte Anzahl von diesen umzubringen. „Er rief 70 Hirten und verstieß jene Schafe, dass sie Sie weideten. (…) Ich schaute, bis dass jene Hirten zu ihrer Zeit weideten, und sie begannen zu töten und mehr zu vernichten, als ihnen befohlen worden war, und sie überließen jene Schafe der Hand der Löwen. (…) Und jeder von ihnen tötete und brachte mehr um, als es ihnen bestimmt war. Und ich fing an zu weinen und zu klagen über jene Schafe (äthHen 89,59*.65.69). 34 Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 69 <?page no="70"?> 35 In äthHen 89,66 agieren die Raubtiere in einer den Hirten adäquaten Funktion: Sie bestrafen und dezimieren das Volk. Eine Gleichstellung von Raubtieren und Hirten be‐ gegnet in Sach 11 unmittelbar vor dem eigentlichen Hirtenkapitel Sach 11,4-17. Dabei bilden die Aufforderungen an Bäume, Hirten und Löwen, eine Klage anzustimmen, in Sach 11,1-3 und der Weheruf über den Hirten in Sach 11,17 eine Rahmung des Ab‐ schnitts; gegen Rudolph, Sacharja, 195. Bemerkenswert ist, dass infolge der parallel gestalteten Formulierungen לוק תללי םיערה und לוק תגאש םיריפכ in Sach 11,3 eine Gleich‐ setzung von Hirten und Löwen vorliegt. 36 Vgl. Dörfel, Engel, 217 f. 37 Damit wird bewusst auf Ez 37,16f, angespielt, wo das Zusammenfügen der beiden Hölzer mit der Beschriftung „Juda“ und „Ephraim“ bzw. „Joseph“ die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung beider Völker zum Ausdruck bringt; vgl. André, לקמ, 1130. Während der in Sach 11,16 genannte Hirte seine Herde nicht nur vernachlässigt, sondern zudem noch deren Fleisch verschlingt, sind es in äthHen 89,66 Löwen und Tiger, die einen Teil der Herde vertilgen. 35 In beiden Texten begegnet zudem das Motiv der drei Hirten bzw. Schafe, die für eine bestimmte Zeit mit der Herrschaft betraut werden. In äthHen 89,72 ist die Rede vom Auftritt von drei Schafen, die während oder nach einer zwölfstündigen Weidezeit der Hirten die Ruinen ( Jerusalems) wieder aufzurichten versuchen. Dass diese Drei nicht als Hirten bezeichnet werden, liegt in der wohlwollenden Haltung des Verfassers gegenüber diesen begründet, um sie somit von den durchweg negativ konnotierten Hirten abzugrenzen. In Sach 11,8 ist von drei Hirten die Rede, die von JHWH für einen Monat eingesetzt und anschließend von ihm eliminiert werden. Die 70 Hirten in äthHen 89 werden meist als die von Gott inaugurierten Völkerengel identifiziert, die zunächst als Strafmittel gegen Israel agieren müssen 36 und die wegen ihres Fehlverhaltens am Ende ebenfalls bestraft werden. Demgegenüber sind die Hirten in Sach 11 als Repräsentanten der Führer Israels in seiner Geschichte zu sehen, die - ebenso wie die Hirten in äthHen - als Strafmittel eingesetzt werden, ihre Aufgabe jedoch zu ihrem eigenen Vorteil übererfüllen und somit die finale Strafe über sich ergehen lassen müssen. Die Hirten verzehren das Fleisch ihrer Schafe, wobei sich Gott gegenüber deren Schicksal bzw. Hilfeschrei ungerührt zeigt. Beide Texte thematisieren die zerbrochene Bruderschaft zwischen Juda und Israel. Beide Völker werden durch Stäbe repräsentiert, die von JHWH zerbro‐ chen werden. In Sach 11,7 werden die beiden תולקמ zunächst zum Weiden der Schafe benutzt, um dann in V. 10 und V. 14 nacheinander zerbrochen zu werden, „um die Bruderschaft (הוחאה) zwischen Juda und Israel aufzuheben“. 37 Die Vor‐ stellung von der Teilung der beiden Reiche als Ausdruck des Strafhandelns Gottes begegnet ebenfalls in äthHen 89,51-58. Nachdem in 89,49f noch positiv 70 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="71"?> 38 Vgl. Berner, Jahre, 198 zur Vorstellung von der Zeit der geteilten Reiche, die durchweg geprägt ist von Abfall und Strafe in äthHen 89,51-58. 39 Niditch, Blood, 629 ff, hat das Blutmotiv in Sach 9 einer detaillierten Analyse unter‐ zogen. Zunächst verweist sie auf den ambivalenten Charakter des Motivs in Sach 9,7.11. In V. 7 entfernt JHWH das Blut aus dem Mund seiner bisherigen Feinde, um diese somit zur Aufnahme in seine Gemeinde einem reinigenden Ritual zu unterziehen. Demge‐ genüber begegne das Blutmotiv in V. 11 „more than allowed“ (641), da dieses hier als Mittel zur Befreiung und Erlösung der Getreuen JHWHs fungiere. In Sach 9,15 begegne das Motiv, allerdings mit einem textkritischen Kunstgriff, erneut. Anstelle der schwie‐ rigen Lesart des MT ( ותשו ומה ) gibt sie einer LXX-Version den Vorzug und liest to aima autōn, wodurch sich die hebräische Variante ותשו םמד ומכ ויי ergeben würde. Mit Blick auf das im Anschluss erwähnte „Vollsein der Altarecken“ hat dieser Vorschlag einiges für sich. Thematisiert wäre somit ein „post-battle banqueting imagery“ (644), in dem entweder die Getreuen Gottes oder dieser selbst sich dem Verzehr des Fleisches und Blutes der Feinde hingeben bzw. hingibt. 40 Übersetzung nach Uhlig, Henochbuch, 615. von der Zeit Salomos berichtet worden ist, fallen hier die Schafe wieder ab, lassen sich durch Warnungen nicht beeindrucken und werden wiederum durch Dezi‐ mierung und durch das Verlassen des Tempels von Gott bestraft. 38 Zwischen DtSach und dem äthiopischen Henochbuch besteht noch eine weitere Parallele, die zudem unmittelbar mit dem Thema Krieg verbunden ist. In Sach 9,15 ist davon die Rede, dass JHWH inmitten des endzeitlichen Kampfes seine Getreuen beschützt, und diese sich inmitten des Kampfgeschehens essend und trinkend dem eschatologischen Mahl zuwenden. Der Gedanke taucht in Sach 10,7 noch einmal auf. Hier sind es die von JHWH eingesetzten Krieger, die sich dem Kampf im Weinrausch hingeben. Der Gedanke, dass das endzeitliche Mahl und der letzte Kampf zusammenfallen können, begegnet ebenfalls im äthiopischen Henochbuch. Hier ist davon die Rede, dass sich die Getreuen zusammen mit einer individuellen Messiasgestalt dem endzeitlichen Mahl zu‐ wenden, unmittelbar nachdem sich Gottes Schwert am Blut der Feinde berauscht hat. 39 Ebenso wie in Sach 9,11-17, wo JHWH während des eschatologischen Kampfes über seinen Getreuen erscheint, agiert Gott in äthHen 62,14 über seinen Getreuen, die sich noch während des Kampfes dem eschatologischen Mahl zuwenden. Und der Herr der Geister wird über Ihnen wohnen, und sie werden mit jenem Men‐ schensohn speisen und sich (zur Ruhe) niederlegen und sich erheben von Ewigkeit zu Ewigkeit (äthHen 62,14). 40 Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 71 <?page no="72"?> 41 Das Orakel des Töpfers ist eine in drei unterschiedlichen Textvarianten vorliegende Sammlung antigriechischer Orakelsprüche aus dem 4.-2. Jh. v. Chr. (die genaue Datie‐ rung ist umstritten); vgl. Zauzich, Töpferorakel, 621-623. 42 Gemeinsam ist beiden Texten, dass die Herrschaft der als allmächtig empfundenen Griechen durch eine göttliche Intervention beendet wird. In Sach 9,13-15 vernichtet JHWH die Griechen, nachdem der friedliche Heilskönig in Sach 9,9f erschienen ist. Im Orakel des Töpfers wird Alexandria, die Stadt der Griechen, vernichtet, und die Herr‐ schaft des von Re und Isis eingesetzten Heilskönigs beginnt. Koenen, Prophezeiungen, 181, sieht diese Heilsperspektive unter einem endzeitlichen Vorzeichen: „Die Ägypter, deren Wünsche in dem Töpferorakel Ausdruck finden, können nicht mehr hoffen, aus eigener Kraft die Fremden zu vertreiben und flüchten in die Eschatologie.“ 43 Sach 10,11 spricht von einer gleichzeitigen Vernichtung des „Stolzes Assurs“ (Seleu‐ kiden) und des „Stecken Ägyptens“ (Ptolemäer). Die Vernichtung der beiden Groß‐ mächte geht einher mit der in V. 10a angekündigten Rückkehr der Exilierten aus den geographischen Bereichen Ägyptens und (des vormaligen) Assyriens. In einer vergleichbaren Situation sieht das Töpferorakel das Land Ägypten, das einerseits von den feindlichen Griechen dominiert wird und das andererseits aus dem Süden, aus Äthiopien, angegriffen werden wird (P2,17). P2,17-19 notiert zudem, dass ein aus Syrien kommender gewalttätiger Herrscher das Land heimsuchen wird, vgl. hierzu Koenen, Apologie, 169f. 2.2 Sach 9-14 und das ägyptische Töpferorakel Ein zweiter Text, der einen Einblick in den geistigen Hintergrund der Komposi‐ tion von DtSach geben kann, ist das ägyptische Töpferorakel. Bei diesem handelt es sich um eine apokalyptische Schrift, die einem ägyptisch-griechischen Milieu entsprungen ist. 41 Als Tenor des Orakels ist eine antigriechische bzw. antihellenistische Grund‐ stimmung auszumachen. Die Griechen bzw. ihre als Gürtelträger bezeichneten Repräsentanten stürzen das Land ins Chaos, werden aber letztlich scheitern und zugrunde gehen. 42 Bis dahin allerdings versinkt das Land im Chaos, in dem jeder gegen jeden, selbst Ehepartner gegeneinander, gewaltsam vorgehen. Das Land befindet sich in einer Art Sandwichposition, da es wahlweise von einem König aus Syrien bzw. aus Äthiopien angegriffen wird. 43 Zudem wird ein Konflikt zwischen der Stadt und dem Land beschrieben. Dabei handelt es sich um Alexandria, das als Zentrum der griechischen Kultur gesehen wird und das wegen seines kulturellen Verfalls seinem Untergang entgegensehen muss, am Ende aber glanzvoll wiederauferstehen wird. Die Zeit der Trübsal findet ein Ende, da ein großartiger und endzeitlicher Heilskönig erscheinen und das Land zu neuem Glanz und Ruhm führen wird. Natürlich wäre es verfehlt, hier von einer Art Abhängigkeitsverhältnis oder auch von einer Beeinflussung zu sprechen. Dennoch gleichen sich die Vorstel‐ lungshorizonte in einer gewissen Hinsicht. Als ausgemachte Feinde gelten 72 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="73"?> 44 Sach 14 konstatiert eine zweifache hydrologische und tektonische Umgestaltung Jeru‐ salems. Nach Sach 14,8 wird die Stadt zum Quell lebendigen Wassers ( םימ םייח ), das sich unabhängig von den klimatischen Bedingungen im Sommer und im Winter in Richtung Totes Meer und Mittelmeer ergießen wird. Zudem erfährt das Land um Jerusalem herum eine Absenkung auf das Niveau des Toten Meeres (Sach 14,10), wobei für dieses Zu‐ kunftsbild die ausführlichere Vision in Ez 47,1-12 die Vorlage geliefert hat. 45 Zum Fortleben des Begriffes Assur in hellenistisch und römischer Zeit vgl. Kessler, Assyria, 115. Dabei kann sich der Begriff in der genannten Zeit sowohl auf das Territorium der ehemaligen assyrischen Zentralmacht oder auf dessen Nachfolgereiche wie das der Perser und der Seleukiden beziehen; vgl. Herod., Hist., 3,155 und Esr 6,22. 46 S. Anm. 30. 47 Vgl. P 4,10. Der Text ist allerdings schwer beschädigt. die Griechen bzw. ihre Repräsentanten. Diese müssen in einem endzeitlichen Kampf vernichtet werden. Die finalen Umwälzungen betreffen nicht nur die politische Ebene. Ebenso erfahren das Klima bzw. die Geographie dramatische Umwälzungen. Während im ägyptischen Orakel der Nil, der gegenwärtig dem Land seine Gaben entzieht, in der Endzeit wieder zum Ursprung der Prosperität des Landes wird, ist es bei DtSach Jerusalem bzw. der Tempel, der zum Quell eines stetig fließenden Wassers wird, das das Land umgestaltet und prosperieren lässt. 44 Beide Texte haben einen endzeitlichen Krieg vor Augen, der gleichermaßen zum Vorzeichen und zur Vorbedingung für die anbrechende Heilszeit gerät. Die Feinde sind offensichtlich im Inneren wie im Äußeren zu finden. Für das ägyptische Orakel ist dies die militärische Bedrohung durch die Syrer und eine feindliche Macht, die mit Äthiopien identifiziert wird; im biblischen Text handelt sich dabei um die klassischen Feindmächte Assur und Ägypten, hinter denen sich die Reiche der Seleukiden und Ptolemäer verbergen. 45 Für beide Texte gilt als ausgemacht, dass sich die Ankündigungen des bevorstehenden Chaos in den klassischen Schriften selbst finden. Für Sacharja 9-14 hat sich mehrfach nachweisen lassen, dass ältere Texte aus der prophetischen Literatur herange‐ zogen werden, um die kriegerischen Ereignisse der Gegenwart zu deuten. 46 Der ägyptische Text wiederum enthält einen direkten Hinweis auf ein älteres Orakel, sodass auch hier eine Kontinuität im Bereich der Zukunftsdeutung festgestellt werden kann. Zudem ist in beiden Texten vom Ende der Prophetie die Rede. In Sach 13,2-6 wird unter Anspielung auf ältere prophetische Gestalten angekündigt, dass eine Zukunftsdeutung künftig geächtet und bestraft werden soll. Im ägyptischen Orakel ist der Text zwar stark gestört, erkennbar ist aber noch, dass ein Prophet ab jetzt nur noch als Privatmann agieren kann. 47 Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 73 <?page no="74"?> 48 Vgl. Raschi, Komm. z. St. Diese Deutung hat die Schwierigkeit gegen sich, dass Subjekt und Verb verschiedene Genera aufweisen würden. BHS schlägt im Gefolge von LXX vor, den Plural ורבעו zu lesen und die beiden Nomina in םיב םירצמ zu korrigieren. Damit wäre das Objekt von V. 10, das Volk Israel, hier zum Subjekt gewandelt, dieses würde somit in einem zweiten Exodus durch das „Meer Ägyptens“ ziehen. 49 Vgl. P 2,14: μετελευσεται δε ποσι [προς θα]λασσααν [εν τ]ω μηνι<ει>ν; Ergänzungen und Korrekturen nach Koenen, Prophezeihungen, 202. LXX liest den betreffenden Passus in Sach 10,11: και διελευσονται εν θαλασσα στενη. Vgl. auch die ähnlich lautende Variante in P 3,27-30. 50 Vgl. Koenen, Apologie, 156. 51 Vgl. etwa Foster, Fresh Look, 750f. Sach 10,11 notiert, dass ein „Er“ durch das Meer der Bedrängnis / Enge heranbzw. hindurchzieht ( רבעו םיב הרצ ). Meist wurde JHWH als Subjekt der Aussage ausgemacht. Allerdings wirkt die Vorstellung, dass JHWH durch das Meer her‐ anzieht, befremdlich. Demgegenüber hat schon Raschi vorgeschlagen, das Nomen הרצ als Subjekt anzunehmen. 48 Auch wenn sich die textlichen Schwie‐ rigkeiten kaum lösen lassen, bleibt dennoch bemerkenswert, dass sich im Töp‐ ferorakel und in Sach 10,11 (LXX) sehr ähnliche Formulierungen feststellen lassen. Hier heißt es, das er (der König) im Zorn zu Fuß zum Meer ziehen wird. 49 Gemeint ist wohl Ptolemaios VIII. Euergetes II. und sein Feldzug gegen die Seleukiden mit anschließender Rückeroberung Alexandrias im Jahr 130 v. Chr. 50 Als Gegner wird hier der syrische König Demetrios II. ausgemacht, zudem erfolgt ein Angriff aus Äthiopien. Während also im Töpferorakel sich der end‐ zeitliche Kampf zwischen den Ptolemäern und Seleukiden abspielt, richten sich in DtSach beide Großmächte unter den Bezeichnung Assur und Ägypten gegen die Erwählten JHWHs und müssen ihre Niederlage hinnehmen. Nicht zuletzt ist in beiden Texten von einem Töpfer die Rede, der jeweils in einer recht enigmatischen Form begegnet. Im Töpferorakel erscheint dieser als Medium seiner eigenen, von seiner Umwelt zunächst missverstandenen Bot‐ schaft. Das zweifache Auftauchen eines רצוי in Sach 11,13 ist in textkritischer Sicht bereits vom Targum und in dessen Gefolge bis in die neuzeitliche Ausle‐ gung zugunsten des mit dem Tempel bzw. des Tempelschatzes assoziierten רצוא beanstandet worden. Allerdings haben sich immer wieder Stimmen für die Kor‐ rektheit des masoretischen Textes erhoben. 51 Eine weitere Motivparallele bezieht sich auf das endzeitliche Auftauchen von Pferden im Tempel. In der pro-heliopolitanischen Rezension des Töpferorakels wird notiert, dass der Tempel in den Wirren der anbrechenden Endzeit „ein Tummelplatz der Pferde und (voller) Ungesetzlichkeiten“ sein werde (P4,88). Gemeint ist wohl die Entweihung des Tempels durch feindliche Söldner oder Soldaten. 52 In Sach 14,20f begegnet das Motiv „Pferde und Ausländer im Tempel“ 74 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="75"?> 52 Vgl. Koenen, Apologie, 185, vermutet entweder griechische Soldaten oder in deren Dienst stehende jüdische Söldner als Ziel der Polemik. Für die zweite Möglichkeit spräche, dass im unmittelbaren Kontext zu einem Angriff gegen Juden aufgerufen wird. 53 Vgl. etwa Boda, Zechariah, 770: „Shocking here is the reference to an item associated with the horse, a ritually unclean animal according to Lev. 11: 1-8.“ Ebenso gehören für Deissler, Zwölfpropheten, 313 „die von den Propheten zumeist negative beurteilten Pferde“, die nunmehr im Tempeldienst Verwendung finden, zu den „bizarren Bildern“ des Kapitels. ebenfalls, allerdings in einer entgegengesetzten Konstellation. Hier heißt es, dass die „Schellen der Pferde“ im Heiligtum heilig sein werden; zudem werde sich im Tempel kein Kanaanäer mehr befinden. Die Präsenz von Pferden im endzeitlichen Tempel ist mit zum Teil drastischen Formulierungen kommentiert worden. 53 So recht erklären lässt sich diese Vorstellung nicht. Dennoch verweist diese wiederum auf eine zwischen DtSach und dem Töpferorakel bestehende Gemeinsamkeit. Während im ägyptischen Text die Präsenz von Pferden und Fremden im Tempel als Ärgernis und Zeichen für das bevorstehende Ende gewertet wird, bleiben in Sach 14,20f die „Kanaanäer“ dem Tempel dauerhaft fern, während die Präsenz der Pferde das Ende der Unterscheidung von heilig und profan markiert. Die folgende Übersicht fasst die Motivanalogien zwischen dem Töpferorakel und DtSach zusammen. Sach 9-14 Töpferorakel Griechen als Feindmacht (9,13) Ankündigung der Vernichtung der Grie‐ chen (P3,32) „Erfüllung der Schrift“ eschatologische Umdeutung des Prophe‐ zeiung des Lamms (Koenen, 189) Töpfer (? ; 11,13) Töpfer als Protagonist Polemik gegen Hellenisten und Ober‐ schicht (11,16) Gottlose bzw. Griechen als „Landesver‐ räter“ Sandwichposition zwischen den Mächten (10,11) Intervention der Syrer und des Nubiers Harsiesis Aufhebung der sozialen Ordnung und Gewalt jeder gegen jeden (11,6) - Krieg und Mord unter Brüdern und Ehe‐ leuten (P2,10ff.) Chaos ausgelöst durch das Kommen von Königen aus Syrien und Äthiopien (P3,27ff) Klimatische und hydrologische Restitu‐ tion des Landes (14,6-8) Klimatische und hydrologische Restitu‐ tion des Landes (P2,43ff) Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit 75 <?page no="76"?> 54 Vgl. Beyerle, Authority, 169. Ende der Prophetie (13,2-6) Prophet wird Privatmann (P4,10) Konkurrenz zwischen Jerusalem und Juda (12,7-9) Untergang Alexandrias als Stadt der Gür‐ telträger/ Griechen Ambivalenz des Königs • König als Retter bzw. Verkünder des Schalom (9,9f) • König als zerstörerisches Werkzeug JWHHs (11,6) Ambivalenz des Königs • verhasster König aus Syrien (P3,30) - Heilskönig der 55 Jahre (P2,38f) רבעו םיב הרצ LXX: και διελευσονται εν θαλασσα στενη „Und er zieht durch das Meer der Be‐ drängnis / Enge“ μετελευσεται δε ποσι [προς θα]λασσααν [εν τ]ω μηνι<ει>ν -Er (der König) wird im Zorn zu Fuß zum Meer ziehen (P2,14) Assur und Ägypten als "verschlüsselte" Anspielung auf Seleukiden und Ptole‐ mäer (10,11) Gürtelträger als Vertreter des Helle‐ nismus Seleukiden und Ptolemäer als Antago‐ nisten Dunkelheit, Kälte und Frost am Tag des Gerichts, danach Rückkehr zur Norma‐ lität (14,6f) - Blasswerden der Sonne (P3,16) in der Chaoszeit, Wiederherstellung des ge‐ wohnten kalendarischen Ablaufs in der Heilszeit (P3,72-76) Inbesitznahme JHWHs von Jerusalem (14,3f) Rückkehr des Gottes Hephaistos (Ptah, Stadtgott von Memphis in seine Stadt und Vernichtung der Typhonier: P2,10f) Versiegen des Nils (Sach 10,11) Versiegen des Nils (P3,13) Allein schon die Tatsache, dass die verbindenden Elemente zwischen DtSach und dem Töpferorakel sich auf die verschiedenen bekannten Versionen des ägyptischen Textes beziehen, spricht dagegen, dass hier eine Abhängigkeit in irgendeiner Form vorliegt. Zudem bestehen zwischen beiden Texten gravie‐ rende Unterschiede. Im ägyptischen Text ist es ein menschlicher König, der vom Sonnengott eingesetzt wird, die Fremden vertreibt und die Ordnung wie‐ derherstellt. Ein menschlicher König tritt auch in Sach 9,9f auf. Allerdings gerät dieser im Verlauf der Lektüre in Vergessenheit und JHWH tritt als allmächtiger Kämpfer den endzeitlichen Kampf an. Dennoch ist der gemeinsame geistige Rahmen beider Texte nicht zu übersehen. Mit dem Danielbuch verbindet das Töpferorakel eine grundlegend anti-hellenistische Einstellung. 54 Dieser Vorstel‐ 76 Andreas Kunz-Lübcke <?page no="77"?> 55 Vgl. Kunz, Ablehnung, 239 ff., 320 ff., 365ff. lung korrespondieren in DtSach sowohl die Ankündigung des Anti-Königs auf dem Esel und JHWHs endzeitlicher Kampf gegen die Griechen bzw. deren jüdischen Parteigängern. 3 Das Heilige und der Krieg Der hier untersuchte Abschnitt des Sacharjabuches Sach 9-14 hat den Krieg zu seinem Leitthema erhoben. Im Verlauf der Lektüre wird der Krieg einer fortwährenden Intensivierung und Dramatisierung unterzogen. Dabei werden einerseits militärische und politische Entwicklungen mit älteren Aussagen der Prophetie abgeglichen. Neben dieser mantischen und schriftgelehrten Gegen‐ wartsdeutung spiegelt der Abschnitt eine durchweg pessimistische Grundstim‐ mung wider, die infolge der durch die Hellenisierung ausgelösten Entwicklung ihre Hoffnung auf eine durch JHWH inszenierte kriegerische Befriedung der Welt setzt, wobei in diesem Zusammenhang klassische Elemente des Heiligen Krieges wieder in Erinnerung gerufen werden. Vf. hat an anderer Stelle für eine Abfassungszeit von DtSach zwischen dem 5. Syrischen Krieg im Jahr 200-198 v. Chr. und dem Beginn des Aufstands der Makkabäer votiert. 55 Die hier diskutierte Nähe von DtSach zur Hirtenvision im äthHen und zum spätägyptischen Töpferorakel erweist sich dabei als hilfreich, das bei der Abfassung des Textes bestehende mentale und intellektuelle Klima zu erhellen. Der Prozess der literarischen Fortschreibung der Textsammlung steht unter dem Einfluss militärischer Konfrontationen durch die Großmächte und die als bedrohlich empfundene Hellenisierung, von Prozessen also, deren Zuspitzung und Dramatisierung am Ende zum letzten Krieg und zu einer umfassenden Heiligkeit Jerusalems führen werden. 4 Literaturverzeichnis Albani, Matthias: Deuterojesajas Monotheismus und der babylonische Religionskonflikt unter Nabonid, in: M. Oeming / K. Schmidt (Hg.), Der eine Gott und die Götter. Poly‐ theismus und Monotheismus im antiken Israel,-Zürich 2003, 171-201. André, Gunnel: Art. לקמ, ThWAT IV, 1129-1131. Berner, Christoph: Jahre, Jahrwochen und Jubiläen. 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Versucht man die aktuelle Diskussion in etwa zu überblicken, zeigen sich einerseits fundamentale Unterschiede in der Bewertung von Kriegen, von der Antike über die arabische Expansion, die Kreuzzüge, die Türkengefahr, die Befreiungskriege, über den Zweiten Weltkrieg, die modernen Balkankriege, den Irakkrieg, die kriegerischen Aktivitäten in Syrien, wobei einige Kriege des Nahen Ostens im Namen des Dschihad geführt werden, bis zum jüngsten Einfall Putins in die Ukraine, wobei sogar der Begriff „Krieg“ offiziell verboten wurde. Andererseits werden aber auch gewisse Strukturen sichtbar, die sich zum Vergleich eignen und Aufschlüsse und Einsichten zum „Heiligen“ sowie „gerechten“ Krieg als einem universellen Phänomen geben. Beide Begriffe sollen im Folgenden versuchsweise für die vorchristliche griechisch-römische Antike etwas präziser gefasst werden. Gehen wir vom ‚normalen‘, von der modernen wissenschaftlichen Diskussion unbelasteten Verständnis eines „Heiligen Krieges“ aus, so handelt es sich entweder um einen Konflikt aufgrund einer „heiligen Sache“, wie auch immer hier „heilig“ zu definieren ist, oder der Gott bzw. die Götter führen den Krieg selbst und „heiligen“ ihn somit. 1 <?page no="82"?> 2 Jos 3,5; 7,13; Jes 13,3; Jer 22,7; 51,27f.; Joel 4,9. Eine neuere Übersicht über die unterschiedliche Beurteilung des Krieges in der hebräischen Bibel bietet Oeming, Krieg und Frieden. 3 Vgl. dazu Waschke, Die Vorstellung vom Krieg nach Dtn 20. 4 Vgl. auch Dtn 7,2; 13,16; 1Sam 15,3; Jes 34,2; Jer 50,26; 51,3; eine Banndrohung gegen Israel bei Jer 25,9. 5 Vgl. auch Dtn 2,34; 3,6; Jos 2,10; 8,26; 10,28; Ri 21,11. Zum Bann, dessen Realität schwer einzuschätzen ist, vgl. Oeming, Krieg und Frieden, 237 f. Er verweist auf die Hoffnung der Bibel selbst, den Bann zu überwinden: Sach 14,11. Beides trifft auf die israelitische Frühzeit im Lichte der biblisch-jüdischen Texte zu, mit denen ich beginnen möchte. Die folgende kurze Skizzierung dient dabei nur als Vergleichsfolie zum römisch-griechischen Befund. Zwar kommt der Begriff „Heiliger Krieg“ (milchāmā qadosch / המחלמ דק שׁ ) exakt so nirgends in der jüdischen Bibel vor, aber mehrere Stellen charakteri‐ sieren den Krieg als eine heilige Sache, als qadosch ( דק שׁ ), 2 und der Kriegsherr ist immer Jahwe selbst, der die Regeln diktiert. Dazu ein Beispiel aus Deutero‐ nomium 20,10-18, einem Teil des sog. „Kriegsgesetzes“ 3 : Im Konfliktfall soll bei einer Stadtbelagerung immer zuerst eine friedliche Lösung gesucht werden. Schlägt diese fehl, will die Stadt lieber kämpfen und gerät in die Gewalt der Israeliten, „dann magst du alles Männliche in ihr mit der Schärfe des Schwertes erschlagen. Die Frauen und Kinder jedoch, das Vieh und alles, was sich in der Stadt findet, alles in ihr Erbeutete sollst du an dich nehmen … und genießen … Nur aus den Städten der Völker, welche Jahwe, dein Gott, dir als Erbbesitz geben will, sollst du keine Seele am Leben lassen, denn an ihnen musst du den Bann (םרח) unbedingt vollstrecken, damit sie euch nicht lehren, all ihre Greuel nachzumachen, die sie ihren Göttern zuliebe verübten und ihr euch so gegen Jahwe, euern Gott, versündigt.“ Haben wir es hier mit einem angekündigten Bann 4 zu tun, so ist Josua 6,20f ein Beispiel für einen vollzogenen Bann: 5 Nach dem Zusammenfall der Mauern von Jericho heißt es: „…und sie nahmen die Stadt ein. Sie vollzogen den Bann an allem, was in der Stadt war, an Mann und Weib, jung und alt, bis zu Ochs und Schaf und Esel, mit der Schärfe des Schwertes.“ Kann somit „töten“ heilig und gerecht sein? Für das bibliche Israel offenbar in der Tat, es kommt nur auf die Rolle Jahwes an. Das Tötungsverbot des sog. 5. Gebotes des Dekalogs ist zu differenzieren: Tötungen, die im Namen Jachwes geschehen, sind nicht nur erlaubt, sondern geboten. 82 Karl Leo Noethlichs <?page no="83"?> 6 Von hebr. ger (רג), griechisch etwa ‚Metöken‘. 7 Deutsche Übersetzungen z. B. bei Gressmann, Altorientalische Texte zum Alten Testa‐ ment, 440-442; Galling, Textbuch zur Geschichte Israels, Nr.-21, S.-51-53. 8 Isidor, Etym.18,1,6f. 9 So z.-B. Livius 8,22,8; 9,45,6; 42,25,1; Plinius, n.h. 22,5. 10 Fetiales ist eine etymologisch nicht ganz geklärte Form, die wohl auf das Indogermani‐ sche fetis > dhetis zurückgehen könnte und etwa „Satzung, Vertrag“ bedeutet. Zu den Fetialen vgl. bes. J. Rüpke, Domi militae, 97-124, auf den ich mich hier besonders stütze. Die Inschrift der Stele des Mescha, des Königs von Moab (um 840 v. Chr.) zeigt, dass das Bann-Ritual keine israelitische Besonderheit war. Die einschlägige Passage lautet: „…Da sprach der Gott Kamosch zu mir: ‚Auf, nimm Nebo von Israel weg‘. Da brach ich bei Nacht auf und bekämpfte es von Tagesanbruch an bis Mittag. Und ich nahm es ein und tötete alles: 7000 Männer nebst ,Beisassen‘ 6 , Frauen und Beisassen und Konkubinen, denn ich hatte sie Aschtar-Kamosch geweiht …“. 7 Nun ist der „Bann“ eine äußerst „radikale“, wenn nicht die radikalste Form der Kriegführung, wobei hier, je nach Standpunkt, die positiven wie negativen As‐ pekte von „Radikalität“ exemplarisch zutage treten und damit das „Grundthema“ dieser Tagung in den Blick nehmen. Wie verbreitet war diese Kriegsform in der vorchristlichen griechisch-römi‐ schen Antike? Beginnen möchte ich mit den Verhältnissen im republikanischen Rom: Wir haben es hier mit einem durch und durch religiös geprägten Kriegs‐ zeremoniell zu tun, das quasi jede Phase eines Kriegszuges in rituelle Formen verpackte. Dabei sollen die Unterschiede, die sich im Laufe des 5. bis 1. Jh.s v. Chr. entwickelten, durch eine Art „Durchschnitt“ kompensiert werden. Es geht im Folgenden also um einen „Idealtypus“ des römisch-republikanischen Krieges in seinen wichtigsten Stationen, was durch die breit gestreute Quellenlage vom 2. Jh. v.-Chr. bis zum 6. Jh. n.-Chr. bedingt ist. Ausgangspunkt eines bellum war die Korrektur eines „Unrechts“. Hier geht es also nicht um unorganisierten und spontanen tumultus oder um seditio oder (griechisch) um στάσιϛ bzw. διάστασιϛ, die sich jeder Regelung entziehen. 8 Daher steht am Anfang jedes ordnungsgemäß erklärten römischen Krieges eine rerum repetitio auf der Grundlage eines Senatsbeschlusses, eine Forderung also, die das erlittene Unrecht heilen sollte, entweder durch Geld oder durch Auslieferung der verantwortlichen Person(en). 9 Den zeremoniellen Akt übernahmen die Fetialen 10 , die man auch als Gremium der Kriegsverhinderung bezeichnet hat, und die zunächst im kleinräumigen Mittelitalien ihre Funktion ausübten. Neben Kriegsvorbereitung und Kriegser‐ klärung waren Vertrags- und Friedensschlüsse ihre Hauptaufgaben. Wenn auch Der „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg 83 <?page no="84"?> 11 vgl. Rüpke, Domi militae, 111. 12 Nonius 850L. 13 Ebd. 14 Plinius, n.h. 22,5. 15 Dionysius 2,72,8; Liv. 1,22,5. 16 Livius 1,32,9; so auch Servius, Aen.9,52. 17 Die Rückforderungsformel: Livius 1,32,6-14; das Zitat a.O. 1,32,6. 18 So z.-B. Livius 9,8,6; 39,36,12. 19 Rep. 3,23,14 = Augustinus, civ.Dei 22,6. 20 Rep. 3,23,35 = Isidor, Etym.18,1,2f. die antike Etymologie irrig einen sprachlichen Zusammenhang von Fetiales mit foedus / fides annimmt, zeigt sich doch der enge gedankliche und faktische Zusammenhang. 11 Fetiale waren keine römische Erfindung, sondern eine gemeinitalische In‐ stitution. Ab Ende des 2. punischen Krieges werden sie eine echte römische 20-köpfige 12 Priesterschaft des Jupiter Feretrius (des Blitzeschleuderers). Für die formelle Kriegsvorbereitung loste man aus dem Gremium vier Fetiale, oratores genannt 13 , mit einem pater patratus an der Spitze, aus. Letzterer erhielt seine besondere Legitimation als Sprecher des römischen Volkes durch die Berührung mit bestimmten Pflanzen (sagmina, verbenae) 14 inklusive Wurzel und Erde vom Kapitol, die von einem Mitglied der Gesandtschaft, genannt verbenarius, beschafft wurden. Für die Rückforderung, die repetitio, war eine 30-tägige 15 , laut Livius aber auch eine 33-tägige 16 Frist vorgesehen, innerhalb der die Forderung durch die Fetialen dreimal, d.-h. alle 10 bzw. 11 Tage, wiederholt wurde. Die bei Livius überlieferte Formel arbeitet mit rechtlichen und religiösen Kategorien: Nach Anrufung Jupiters und des betreffenden Volkes, an das der pater patratus seine Forderung stellt, heißt es: „…audiat fas (das göttliche Recht also wird angerufen! ). Ego sum publicus nuntius populi Romani: iuste pieque legatus venio…“ 17 Davon leitet sich ein bellum iustum et pium ab, wie es in den Quellen gelegentlich heißt. 18 Der Inhalt der Forderungen bezieht sich laut Servius (Aen. 9,52) auf gestohlene Tiere, auf schuldige Personen oder auf Unrecht, das den Bundes‐ genossen angetan wurde, kurz auf Kriegsgründe pro fide aut pro salute, wie es bei Cicero 19 zur Charakterisierung eines bellum iustum heißt, also um der Vertragstreue und des eigenen Wohlergehens willen, oder, wie Cicero es an anderer Stelle ausdrückt, 20 um der Rache oder der Rückforderung entzogenen Eigentums oder des Zurückschlagens der Feinde willen, wobei größter Wert auf die Ankündigung und Erklärung eines Krieges als bellum iustum gelegt wird: 84 Karl Leo Noethlichs <?page no="85"?> nullum bellum iustum habetur nisi denuntiatum, nisi (in)dictum, nisi de repetitis rebus. Bleibt die Forderung erfolglos und wird die Wartezeit durch Feststellung der Nichterfüllung, der testatio, ausgeschöpft, kommt es zur Diskussion im Senat. Die früheste Szenerie bei Livius spielt zur Zeit des Ancus Martius: Der König will die Meinung des ersten der Senatoren wissen und erhält zur Antwort, dass die Forderungen puro pioque duello durchzusetzen seien. Darauf erfolgte die Kriegserklärung, die indictio, durch den Wortführer der Fetialen, den pater patratus, deren Wortlaut nach Livius (1,32,13) bis zu seiner Zeit unverändert geblieben sei. Es wird feierlich wiederholt, dass dem römischen Volk Unrecht widerfahren und deshalb der Krieg beschlossen sei. Im Urteil der römischen Quellen ab dem 3. Jh. v. Chr. war, wie gesagt, die Kriegserklärung durch Fetiale das Kennzeichen eines bellum iustum. Das scheint, nach griechischen Quellen, auch schon unter König Tullus Hostilius im Konflikt mit Alba Longa der Fall gewesen zu sein. Nach der Schilderung Diodors (8,25f.) wollte der König auf jeden Fall einen πόλεμοϛ δίκαιοϛ führen und erklärte deshalb, nach Ablehnung römischer Forderungen, womit er den Forderungen Albas zuvorkam, der Stadt innerhalb von 30 Tagen den Krieg. Es scheint sich also schon hier um Fetiale zu handeln, wenngleich die Gesandten bei Diodor schlicht πρεσβεῖϛ oder πρεσβευταί heißen. Ähnlich liest man bei Varro (L.L. 5,86): „…nam per hos (sc. fetiales) fiebat, ut iustum conciperetur bellum“, und der Grammatiker Nonius (850L) spricht in diesem Zusammenhang von einem pium bellum. Nach augusteischen und späteren Quellen soll die Kriegseröffnung durch den Speerwurf eines Fetialen über die Grenze ins feindliche Territorium erfolgt sein. Angesichts der Ausbreitung des Imperiums suchte man laut Servius (Aen. 9,52) mutmaßlich seit den Pyrrhuskriegen Anfang des 3. Jh.s nach einer geographischen Alternative, um die immer größer werdenden Entfernungen zur feindlichen Grenze zu verkürzen. Man erfand angeblich damals schon eine stellvertretende Zeremonie an der columna bellica vor dem Tempel der Bellona am Zirkus Flaminius auf dem Marsfeld in Rom. Ein gefangener Soldat des Pyrrhus musste, so heißt es, ein dortiges Grundstück kaufen, das zum Feindesland erklärt wurde, und wo sich die Speerzeremonie durchführen ließ. Seitdem galt der Speerwurf als Beginn des Krieges. Die früheste Quelle für diesen Akt ist Diodor an der o. g. Stelle (8,26), die allerdings mittelbar erst durch Johannes Tzetzes aus dem 12. Jh. (Hist. 5,555-60) überliefert ist. Im Rückgriff auf diese wohl bereits bekannte Kulthandlung eröffnete Octavian im Jahre 32 v. Chr. den Krieg gegen Kleopatra. Der Krieg Der „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg 85 <?page no="86"?> 21 Als noch schlimmer galt in Rom der Bürgerkrieg unter Verwandten (cognati) wie im Falle von Caesar und Pompeius, wo sich Schwiegervater und Schwiegersohn gegenüber standen: Isidor, Etym18,1,4. 22 Augustus, Res Gest. 7; Cass.Dio 50,4,5. 23 Rüpke, Domi militiae, 106 f, der die Stelle bei Diodor 8,26 offenbar nicht kennt, geht ebenfalls von einer Erfindung Octavians aus, lässt aber immerhin den Speerwurf an sich gelten, der durch den Feldherrn geschieht, aufgrund von Varro bei Servius, Aen. 9,52. Die hier vorgeschlagene These eines schon vorhandenen Speerritus, der nach Diodor schon auf die alten Latiner zurückgeht und erst von Octavian mit den Fetialen verbunden wird, wäre demnach durchaus möglich. Die Stelle bei Diodor lautet in Übersetzung etwa so: „Das Ursprungsvolk der Römer, die Latiner, begannen niemals einen Krieg ohne formelle Ankündigung gegen ein Volk, sondern warfen zuerst einen Speer in das Land des Kriegsgegners als Zeichen, das den Beginn der Feindseligkeiten anzeigte. Dann begannen sie den Krieg gegen das Volk. Das sagt Diodor, das sagt jeder, der die latinische Geschichte beschreibt.“ 24 Zur Neubewertung der Quellen zum Begriff „pomerium“ vgl. jetzt Emmelius, Das Pomerium. 25 Paulus/ Festus 92L. 26 A.a.O. 92,10L. sollte kein „Bürgerkrieg“, kein bellum civile gegen Antonius sein, was in Rom als schlimmste Form eines Krieges galt. 21 Octavian könnte derjenige gewesen sein, der den Speerwurf mit den Fetialen verknüpfte---er gehörte selbst dem Fetialenkollegium an. 22 Den ganzen Vorgang aber pauschal als Erfindung Octavians in Frage zu stellen, was man oft in der Forschung liest, 23 verbietet wohl die Nachricht Diodors, trotz ihrer späten Überlieferung. Da die Forderungen der Fetialen immer auf ein vorhergehendes Unrecht reagierten, konnte es - theoretisch - in Rom demnach keine reinen Eroberungs‐ kriege geben. Was dann im Rahmen der Kriegsvorbereitungen folgt, sind Maßnahmen, die sich alle zunächst nur im befriedeten Bereich der Stadt Rom, d. h. innerhalb der hl. Stadtgrenze, des Pomerium 24 abspielen, und zudem kalendermäßig in die Kriegssaison fallen, die von der Feier des Tubilustrium am 23. März bis zum Armilustrium am 19. Oktober dauert: Zunächst vollzieht der Feldherr, meist einer der amtierenden Konsuln, einen dilectus, die Aushebung der kriegspflich‐ tigen Männer, innerhalb von 30 Tagen, den sog. iusti dies. 25 Man spürt auch hier wieder die Bedeutung des iustus, jetzt für die Kriegsvorbereitung. Während dessen wird auf dem römischen Burgberg, dem Janiculus, eine Fahne (vexillum) gehisst. 26 Dann kümmert sich der Oberkommandierende um die Vorzeichen, die sog. procuratio prodigiorum, und ihre Deutung. Eine Vogelschau durch die Auguren und eine Eingeweideschau durch Haruspices wird durchgeführt und gegebenenfalls so oft wiederholt, bis das Ergebnis stimmt. 86 Karl Leo Noethlichs <?page no="87"?> 27 Paulus/ Festus 176L. 28 Liv. 27,25,7-10; 36,36,1-7; ein konkretes Beispiel: Liv. 5,19,6: Wiedererrichtung und Weihung des Tempels der Mater Matuta. 29 Da diese Nachricht nur bei Servius (Aen.8,3; 7,603) überliefert ist, erscheint sie proble‐ matisch. 30 Gellius 4,6,2. 31 Scullard, Römische Feste, 133f.138.375. 32 Liv.1,19,2-4; Varro, Ling.Lat. 5,165; Velleius 2,38,3; Oros. 6,22,1f. 33 Augustus, Res Gest.13; Sueton, Aug. 22. 34 Varro 7,37; Liv. 41,10,5. 35 Gaius 2,101; Gellius 15,27,3; vgl. Paulus/ Festus 251L. 36 Z. B. Bellona Victrix; Venus Victrix. Vor der Schlacht bei Pharsalos wählte Caesar als Parole die „siegbringende Aphrodite“, während Pompeius auf den „unbesiegbaren Herakles“ setzte: Appian, bell. civ. 2,76 (319). Bei Vegetius 3,5,4f. wird der tägliche Wechsel betont. Der Feldherr verspricht bei dieser Gelegenheit große Opfer, meist Tempel‐ bauten, für den Fall des Sieges, die nuncupatio voti. 27 Hier ist wichtig, dass eventuelle Versprechen aus früherer Zeit inzwischen erfüllt sind. 28 Im Tempel des Mars werden durch den Feldherrn die heiligen Schilde sowie die Marslanze „bewegt“ unter dem Ausruf: Mars vigila. 29 Genaue Vorschriften hingegen gab es für Sühneopfer, wenn die Schilde sich von selbst bewegten. 30 Am 1. und 9. März allerdings werden sie durch das Gremium der „Salier“ bewusst bewegt, d. h. konkret um das Pomerium in Prozessionsform herum getragen, unabhängig von einem bevorstehenden Krieg: ancilia movent bzw. arma ancilia moventur heißt der entsprechende Eintrag in den römischen Kalendern. 31 Dann öffnet man das Tor des Janus-Quirinus-Tempels als Zeichen, dass sich Rom im Kriegszustand befindet. 32 Er soll nach Romulus’ Tod am Ende des 1. punischen Krieges unter Konsul Manlius i. J. 235 v. Chr. zum zweiten Mal geschlossen worden sein, und dann erst wieder, und gleich dreimal, unter Octavian bzw. Augustus in den Jahren 29, 25 und zwischen 8 und 1 v. Chr. 33 Nach Durchschreiten des Janustores wird das Heer entsühnt (lustratio exer‐ citus), und der Feldherr wechselt beim Überschreiten des Pomeriums seine Kleidung: Statt der Toga trägt er jetzt das paludamentum bzw. sagum oder sagulum. Nach einigen Quellen wechseln auch die den Feldherrn begleitenden Liktoren ihre Kleidung in ein Kriegsgewand und blasen auf ihren Trompeten. 34 Auf dem Feldzug selbst gibt es immer wieder Opfer. Vor einer Schlacht können die Soldaten ihr Testament machen, testamentum in procinctu genannt, d. h. also in voller Kampfesrüstung. 35 Unmittelbar vor einer Schlacht gibt es wieder ein auspicium und ein sac‐ rificium. Dann wird durch den Oberkommandierenden das Losungswort ver‐ kündet, das z.T. religiösen Inhalt haben konnte 36 , sodann das Gelübde, die Der „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg 87 <?page no="88"?> 37 Liv. 10,36,11: hier geht es konkret um den Tempel des Jupiter Stator. 38 Rüpke, Domi Militiae, 159. 39 Liv. 8,9,6-8. 40 Sueton, Calig. 27,2 und Cass. Dio 59,8,3 sind Beispiele aus der Zeit des Caligula. 41 Rüpke, Domi Militiae 159. 42 Liv. 8,6,9-13; 8,9,1-12; 10,28,6-18. 43 Macrob.3,9,10-12. 44 Vgl. hierzu den Beitrag von Raik Heckl in diesem Band. nuncupatio voti, für den siegreichen Ausgang mit lauter Stimme nochmals gesprochen. 37 Bei schlechtem Schlachtenverlauf hatte der Feldherr die Möglich‐ keit einer „Selbstweihung“, einer devotio. Er weihte sich den unterirdischen Göttern, den Di Manes und der Tellus mit verhülltem Haupt (capitis velato) und mit hochgeschürzter und auf dem Rücken wohl als Wulst zusammengebun‐ dener Toga, genannt cinctus Gabinus, weil man in frühen Zeiten noch keine Rüstungen hatte, erläutert Servius (Aen. 7,612). Seine Erklärung allerdings, der Brauch sei durch einen plötzlich ausgebrochenen Krieg bei einer Kultfeier im campanischen Gabii entstanden, klingt nicht sehr glaubwürdig. Der sich Weihende stand auf einem Speer, die rechte Hand ans Kinn geführt, beides Gesten der Entwaffnung. 38 Dann sprach er die Verwünschungsformel, die der Pontifex Maximus ihm vorsprach. 39 Dessen Anwesenheit auf dem Feldzug war in der Frühzeit also immer geboten. Unter Augustus, als der Kaiser selbst diese Funktion des Oberpriesters übernommen hatte, kehrte sich die Zielrichtung insofern um, als jetzt jemand zum Wohl des Kaisers ein Devotionsversprechen abgeben konnte, und dies dann auch vom römischen Kaiser notfalls mit Gewalt eingelöst wurde. 40 Anschließend sprang der Geweihte aufs Pferd und stürzte sich ‚waffenlos‘ in die feindliche Schlachtreihe in der Hoffnung, dass sein Tod den Sieg bringen werde. Bei Livius 8,9,9 heißt es zwar: armatus in equum insiluit, ich folge hier aber Rüpke, der m. E. zu Recht meint, dass nur unbewaffnet „der Selbstopferung Eindeutigkeit verliehen werden kann“. 41 Statt des Feldherrn war es auch jemand anderem möglich, sich zu opfern. Die bekanntesten Devotionen sind die der beiden Decier, die Livius im 8. und 10. Buch schildert. 42 Augustinus tadelt an diesem Vorgehen den bombastischen Aufwand, der hier getrieben wurde, im Gegensatz zum unspektakulären Opfer‐ willen der christlichen Märtyrer (Civ. Dei 5,18). Eine devotio kennt Rom auch bei ganzen Städten als Folge der anschließend zu besprechenden evocatio. Der Feldherr weihte die Menschen, die Stadt selbst und die umliegenden Felder der Tellus und dem Jupiter, wobei sich der Feldherr nach unten zur Tellus neigte und die Erde berührte, und bei der Anrufung Jupiters die Hände zum Himmel erhob. 43 Dies bedeutete aber nicht, im Gegensatz etwa zum (wohl literarisch-fiktiven) 44 israelitischen Ritual, die notwendige Vernichtung 88 Karl Leo Noethlichs <?page no="89"?> 45 „…tunc quisquis votum hoc faxit ubiubi faxit recte factum esto ovibus atris tribus“ (Macrob. 3,9,11). 46 Liv. 5,22,4-7; Plinius, n.h. 28,18; Paulus/ Festus 268, 27-33L; Serv.Aen.2,351; Macrob. 3,9,1-9. 47 Appian, Mithrad. 45. 48 Liv. per. 16, Serv. Aen. 3,67; 10,519. 49 Eine eindrucksvolle und ausführliche Schilderung des Triumphzuges des Titus nach der Eroberung Jerusalems findet sich bei Josephus, bell. 7,123-158. 50 Paulus/ Festus 202,14-204,19L. der Bevölkerung. Den Römern war es möglich, durch das Opfer von drei schwarzen Schafen das Gelübde zu erfüllen, wie es in der Devotionsformel heißt, 45 so dass sich durch ein solches Substitutionsopfer für den Feldherrn große Spielräume eröffneten, was mit den Gefangenen zu geschehen habe. Ein weiterer Kultakt ist die schon genannte evocatio, bei der die Gottheit des Gegners gegen das Versprechen eines neuen Tempels in Rom „herausgerufen“ wurde. 46 Die entsprechende Formel findet sich bei Macrobius 3,9,7f mit dem Kernsatz: „…ad me meosque veniatis, nostraque vobis loca, templa, sacra, urbs acceptior probatiorque sit…“. Dem Feind fehlte danach somit der göttliche Beistand. Es versteht sich, dass eine evocatio ihren Stellenwert nur in einem polytheistischen System haben konnte. Der Vorgang der deditio, also der Unterwerfung von Feinden unter römische Oberhoheit, die Schaffung eines dediticius also, hat mit dem Kriegskonzept als solchem nichts zu tun und kann deshalb hier übergangen werden. Während die Niederlage nicht kultisch begleitet wurde, - als Ursache für Rückschläge galten immer eigene, vor allem zeremonielle Versäumnisse -, verbrannte man nach einem Sieg die feindlichen Waffen. 47 Die Kriegsgefan‐ genen wurden anfangs als Totenopfer an den Gräbern herausragender Kämpfer dargebracht; später soll aber diese rituelle Tötung, mutmaßlich im Jahr 264 v. Chr., durch Gladiatorenkämpfe, bestritten von captivi, abgelöst worden sein. 48 Eine Hinrichtung ganzer Bevölkerungsgruppen oder Einwohner einer Stadt ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht wie beim (freilich wohl fiktionalen) israelitischen „Bann“ kennt Rom nicht. Zwischen den Kriegsgründen und den Tötungen nach Kriegsende bestand grundsätzlich kein Zusammenhang. Die Krönung eines Kriegszuges war in Rom der Triumph, 49 bei dem der Triumphator als Verkörperung Jupiters im Triumphalgewand auf einem Wagen über die „Heilige Straße“ zum Kapitol hinauffuhr, um dort im Tempel des Jupiter Capitolinus ein großes Opfer darzubringen und ihm die wichtigsten Beutestücke zu weihen, insbesondere gegebenenfalls die spolia opima, d.-h. die Waffenrüstung des gegnerischen Führers, sofern der eigene Feldherr sie selbst erobert hatte. 50 Der „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg 89 <?page no="90"?> 51 Val. Max. 2,8,1; bellum iustum: Liv. 38,47,5. 52 Serv. Aen. 4,543. 53 Brodersen, Heiliger Krieg, 7f. Ein Triumph musste vom Senat genehmigt werden. Es waren dazu, so behauptet z. B. Valerius Maximus, 5000 erschlagene Feinde in einem bellum iustum nötig. 51 Reichte das nicht, gab es die Möglichkeit, auf eigene Kosten einen Triumph auf dem Albaner Berg zu feiern, oder eine ovatio, einen minor triumphus 52 zu veranstalten, der im Gegensatz zum feierlichen Triumph mit vier weißen Pferden, unter Beteiligung des Senats und mit einem Stieropfer, nur mit einem Pferd oder zu Fuß unter Beteiligung der plebs und der Ritter mit einem Schafsopfer - daher der Name -, durchgeführt wurde. Am 19. Oktober, dem Fest Armilustrium, wurde das Heer entsühnt vom Um‐ gang mit Blut und von allen Befleckungen, die Schlachten so mit sich bringen. Das Ritual zeigt, dass „Krieg“ nie die Normalität war, sondern die beteiligten Menschen in einen Ausnahmezustand versetzte, der eigenen Gesetzen folgte. Die Kriegssaison war damit beendet. Die Schließung des Janustempels bedeutete die Rückkehr zur Normalität. Wir haben es also im vorchristlichen Rom mit einem bellum iustum et pium, nie mit einem sakralisierten „Heiligen Krieg“ zu tun, wohl aber, theoretisch, mit einem kultisch-zeremoniell bis ins Kleinste geregelten Vorgang. Wenden wir uns nun den Verhältnissen im antiken Griechenland zu, die wesentlich einfacher sind: Zunächst einmal verdanken wir den Griechen den Begriff (wenn auch nicht die inhaltliche Bedeutung) des πόλεμοϛ ἱερόϛ, des „Heiligen Krieges“. Er kommt, soweit wir wissen, erstmals bei Aristophanes 53 in seiner Komödie „Die Vögel“ vor (554 ff), die an den Dionysien des Jahres 414 v. Chr. aufgeführt wurde: Der athenische Bürger Pisthetairos rät seinem Landsmann Euelpides, eine große befestigte Stadt zwischen Himmel und Erde zu errichten und so den Zugang der Götter zur Erde zu kontrollieren und insbesondere Zeus auszuschalten. Wenn der nicht bereit ist, auf diese Herrschaft zu verzichten, soll Euelpides dem Zeus den „Heiligen Krieg“ erklären und in Zukunft keinem Gott mehr gestatten, den Weg durch die neue Festung zur Erde zu nehmen, um dort Liebesabenteuer mit irdischen Frauen zu erleben.… Hier bedeutet „Heiliger Krieg“ also einen Krieg ‚gegen‘ Zeus. Es scheint offensichtlich, dass der Begriff an sich längst bekannt war, wenn sich die Komödie bereits darüber lustig macht. Aber wir kennen m.W. konkret keine früheren Zeugnisse. 90 Karl Leo Noethlichs <?page no="91"?> 54 Vgl. auch z.-B. Aristot. pol. 1304a; Philochoros FGrHist. 328, F. 34. 55 Brodersen, Heiliger Krieg, 8 mit Anm. 32. Der Begriff erscheint in einer gegenteiligen und wohl ursprünglichen Bedeu‐ tung etwa anderthalb Jahrzehnte später bei Thukydides (1,112,5), wo er auf die verschiedenen Kriege um das Heiligtum von Delphi angewandt wird. 54 Ausgangspunkt war um 600 v. Chr. eine Anfrage der Umliegerstaaten, der Amphyktionie, an das Delphische Orakel wegen der permanenten Überfälle der Städte Krisa und Kranalida auf das Heiligtum. Die Pythia antwortete, man solle diese Städte bei Tag und Nacht bekämpfen und die Bewohner zu Sklaven machen, das Land verwüsten und dem pythischen Apoll, der Artemis, der Leto und der Athena Pronoia weihen, damit es unbebaut bleibe und von niemandem mehr genutzt werde. Quelle ist Aischines, der den Spruch der delphischen Seherin in seiner Rede „Gegen Ktesiphon“ (33,108) vom Jahre 330 v. Chr. zitiert. Im Jahre 339 war Aischines athenischer Gesandter in Delphi anlässig des sog. „vierten heiligen Krieges“, den Philipp II. von Makedonien für die Amphiktyonie führte, und der von Aischines dabei propagandistisch unterstützt wurde. Aischines konnte also auf Quellen vor Ort zurückgreifen. Der Spruch der Pythia war offenbar weithin bekannt und scheint der Grund zu sein, warum die Bezeichnung πόλεμοϛ ἱερόϛ sich für diese Kriege „mehr oder weniger“ durchsetzte. Denn wie auch immer man in der Geschichtswissenschaft diese Kriege zählt (drei oder vier), spielt dabei keine Rolle. Wohl allerdings, dass in fast allen Quellen bis zum 2. Jh. n. Chr. diese Kriege als „sogenannte“ Heilige Kriege bezeichnet werden, versehen also fast immer mit den Partizipien καλούμενοϛ oder κληθείϛ oder ὀνομασθείϛ. 55 Erst bei Plutarch in der Periklesvita (21,1) heißt es, dass Perikles vielen Machtbestrebungen der Lakedämonier entgegen getreten sei, besonders denen „im heiligen Krieg“ (μάλιστα τοῖϛ περὶ τὸν ἱερὸν πραχθεῖσι πόλεμον) vom Jahre 448, wo die Athener das Heiligtum von Delphi den Phokern zurückgaben, das diese vorher durch Sparta an die Lokrer verloren hatten. Es zeigt sich an dieser vagen Ausdrucksweise bis in die Kaiserzeit, dass es in Griechenland damals kein Konzept eines „Heiligen Krieges“ gab, wohl allerdings eine Vorstellung vom πόλεμοϛ δίκαιοϛ. Eine gewisse Systematik zu diesem Thema findet sich bei Polybios (36,9), der folgende Gründe anführt, die einen Krieg verwerflich und zu einem ungerechten machen: ἀσέβεια bzw. ἀσέβημα, also ein Frevel, ein Verbrechen gegen Götter, Eltern oder Tote; Der „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg 91 <?page no="92"?> 56 Bounas, Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik, bes. 461-530. 57 Flaig, „Heiliger Krieg“, 275. παρασπόνδημα, ein Verrat, ein Bruch schriftlicher und beschworener Ver‐ träge; ἀδίκημα, eine Übertretung bzw. Missachtung allgemeiner ethischer Gesetze. In einer neueren Dissertation über die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr. 56 listet der Verfasser folgende Kriterien auf, an denen im damaligen Athen ein Krieg auf seine Berechtigung hin bemessen wurde: νόμιμον, δίκαιον, συμφέρον, δυνατόν und καλόν. Das bedeutet im Einzelnen: νόμιμον bezieht sich auf das formell gültige, schriftlich fixierte Recht, auf Friedens- und Bündnisverträge. δίκαιον betrifft das sozialethisch akzeptierte Gerechte im Allgemeinen. Bei‐ spiel sind Rückeroberung verlorenen Territoriums, Kriege für die eigene Freiheit oder für die aller Hellenen, lateinisch pro salute, sowie Krieg als Hilfeleistung für befreundete Poleis, römisch pro fide. συμφέρον bedeutet den Nutzen für die Polis und ist das meistgebrauchte Ar‐ gument zur Kriegsrechtfertigung. Im berühmten „Melierdialog“ des Thukydides (5,90) werfen die Bewohner der Insel Melos den Athenern vor, das δίκαιον, das Gerechte, durch das συμφέρον bzw. χρήσιμον, das Nützliche ersetzt zu haben, wobei doch an sich beide Kriterien in einem πόλεμοϛ δίκαιοϛ verwirklicht sein sollten. δυνατόν zielt auf die Durchführbarkeit und die Erfolgsaussichten eines Krieges. Schließlich meint das καλόν den Ruhm und die Ehre des Krieges, die es ermöglicht, sich mit den Leistungen der Vorfahren zu messen. Während die Römer es im Konfliktfall immer nur mit sich, den Römern, und eventuell den Bundesgenossen einerseits und „feindlichen“ Gegnern anderer‐ seits zu tun hatten, gibt es bei den Athenern und überhaupt bei den Griechen eine doppelte Front, einmal gegen andere Griechen, zum anderen gegen Barbaren wie Perser. Inhaltlich unterscheiden sich aber die Kriterien für einen „gerechten Krieg“ im Grunde nicht, werden nur mit unterschiedlicher Gewichtung in beiden Fällen angewandt. Unterschiede gibt es im Zeremoniell: So hat es im Griechischen nie eine Devozierung des Feindes gegeben. Die seltenen Selbstopfer, die fast nur im Mythos und nach einem vorherigen Orakelspruch stattfanden, geschahen ohne das geringste Zeremoniell, 57 da die Wirksamkeit nie in den Händen der Men‐ schen, sondern nur, unbeeinflussbar, bei den Göttern lag, weshalb man in der Regel darauf verzichtete. Daher gab es bei allen Griechen auch keine wirkliche 92 Karl Leo Noethlichs <?page no="93"?> 58 z.B. Thukyd. 5,54,2; 5,55,3; Xenophon, Lak. Pol. 13,2-5 über die Durchführung des Grenzopfers. 59 Cic.rep. 3,7,11 = Lact.epit. 50(55),8. Sakralisierung des Krieges. Anders in Rom, wo das gesamte Kriegsgesschehen in einem festen sakralen Rahmen stattfand, wobei dieser Rahmen allerdings weitgehend manipulierbar war und somit der Götterwille zurückgedrängt, wenn nicht ausgeschaltet werden konnte. Zudem spielten sich die zentralen Kriegskulte in Rom innerhalb des Pome‐ riums ab. Hier zeigt sich ein im Grunde nie überwundener Stadtkult mit engem geographischem Rahmen. Wenn auch der Innenbereich des Pomeriums ein befriedeter war, in dem keine Waffen getragen werden durften, fanden wichtige Kriegsvorbereitungen aber geographisch auf dem unmittelbar anschließenden Marsfeld statt. Den größeren räumlichen Rahmen bieten hier die Griechen. Eine heilige Stadtgrenze gab es nicht, allerdings eine rituelle Landesgrenze. Vor allem für Sparta kennen wir besondere Opfer beim Überschreiten dieser Grenze, die sog. διαβατήρια. 58 Ähnliche geographische Differenzierungen finden sich auch bei den Juden: Man denke nur an die unterschiedliche „Heiligkeit“ von ‚Erez Israel‘ und der „Unreinheit fremden Landes“, oder an die detaillierten räumlichen Vorschriften zum Geltungsbereich des ‚Sabbatjahres‘ im Mischnatraktat Schebiit (VI 1 u. IX-2)! Im Ergebnis ähnelt sich der „gerechte“ Krieg bei den Griechen und Römern sehr hinsichtlich der „formalen“ Kriterien. Wenn wir diese Kriterien inhaltlich genauer betrachten, stellen wir deren Beliebigkeit fest, was der philosophischen Grundhaltung eines Karneades im 2. Jh. v. Chr. entspricht, der im Stande war, als Mitglied der sog. „Philosophengesandtschaft“ in Rom 155 v. Chr. in öffentlichen Reden jede Form von Gerechtigkeit zu relativieren, und zwar nicht, weil er Gerechtigkeit als solche prinzipiell bezweifelte, sondern weil er feststellte, dass die Menschen darüber nichts Fundiertes wissen. 59 Damit wäre das δίκαιον kein unumstößliches und eindeutiges Kriterium zur Bestimmung eines „gerechten Krieges“. Beim νόμιμον, also bei Bündnisverträgen, könnte es am ehesten noch eine Art „Objektivität“ geben, wenngleich hier Interpretationskunst viel Verwirrung stiften kann. Das συμφέρον, der Nutzen für die Polis, das δυνατόν, die Durchführbarkeit und das καλόν, die Ehre des Krieges, sind zweifellos subjektive Gesichtspunkte für einen „gerechten Krieg“. Einen „Heiligen Krieg“ im Sinne der israelitisch-jüdischen Vorstellung gab es weder bei Griechen noch Römern. Der „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg 93 <?page no="94"?> Ich fasse zusammen: „Heiliger Krieg“ und „gerechter Krieg“ sind nicht dasselbe und können, zumindest für die vorchristliche Zeit, wie folgt definiert werden: Der „Heilige Krieg“ entzieht sich der Entscheidungsgewalt des Men‐ schen und ist daher als göttlich legitimiert immer gerecht für denjenigen, der ihn ausführt. Sein Ziel ist die Durchsetzung und Bewahrung einer religiösen Idee innerhalb eines bestimmten geographischen Umfeldes. Der Mensch, der Feldherr, das Heer, die Bevölkerung sind nur ausführende Organe und haben die Anweisungen der Gottheit zu befolgen, oder sie erleiden Strafe. Eine andere Frage ist allerdings, wie und wo sich der göttliche Wille äußert und wer als Überbringer desselben fungiert, aber das ist ein anderes, ein neues Thema. Der „gerechte Krieg“ liegt ganz in der Verantwortung und Entscheidungsge‐ walt der entsprechenden Gesellschaften bzw. einzelner Menschen. Religiöse Einflüsse können akzeptiert oder vernachlässigt werden oder sind manipu‐ lierbar. Bei der Durchführung ist man, je nach Tradition, an gewisse Zeremonien gebunden. Man gewinnt aus den Quellen zwar den Eindruck, dass ein Grundverständnis von „Gerechtigkeit“ doch etwas allgemein Menschliches ist, die Begründung eines konkreten „gerechten Krieges“ aber stellt sich hauptsächlich subjektiv dar. Ein Beispiel wäre Polybios für die Frage der Kriegsschuld im sog. Zweiten Punischen Krieg zwischen Römern und Karthagern (3,30). Polybios kann als griechischer Beobachter diese Frage nur mit einer „wenn, … dann“- Formel be‐ antworten: Wenn man die Zerstörung Sagunts als Kriterium heranzieht, waren die Karthager im Unrecht; wenn man aber die Wegnahme Sardiniens und die Tributerhöhung ins Auge fasst, haben die Karthager den sog. „Hannibalischen Krieg“ mit Fug und „Recht“ geführt. Der „gerechte“ Krieg bleibt also immer eine Frage der subjektiven Deutung und der entsprechenden Propaganda, und so ist es bis heute geblieben! 1 Literaturverzichnis Albert, Sigrid: Bellum Iustum. Die Theorie des ,Gerechten Krieges‘ und ihre praktische Bedeutung für die auswärtigen Auseinandersetzungen Roms in republikanischer Zeit, Kallmünz 1980. Barnes, Jonathan: Cicéron et la guerre juste, BSFP 80/ 1986, 37-80. Bellamy, Alex J.: Just Wars. From Cicero to Iraq, Abingdon 2006. Botermann, Helga: Gallia pacata---perpetua pax. Die Eroberung Galliens und der „gerechte Krieg“, in: J. Spielvogel (Hg.), Res publica reperta (FS J. 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Makkabäerbuch, 292; Brutti, War in 1 Maccabees, 108-110; Bernhardt, Die Jüdische Revolution, 22. 4 Bar-Kochva, Judas Maccabaeus, 153. Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer Michael Tilly 1 Das Problem der Historizität Der ausführliche dritte Teil des ersten Buches der Makkabäer (1Makk 3,1 - 9,22) 1 handelt hauptsächlich von den militärischen Erfolgen des Judas Makkabaios gegen die Syrer und andere feindliche Nachbarvölker und von der Reinigung des Tempels und der Restitution des traditionellen Kultes in Jerusalem. 2 In seiner ausführlichen Monographie zur Krise unter Antiochos IV. schreibt der israelische Historiker Bezalel Bar-Kochva den in 1Makk 3,1 - 9,22 dargestellten Kampfhandlungen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den ,tatsächlichen‘ Vorgängen und Verhältnissen zu: „Replete with detailed information, these accounts provide a living and colorful picture of the course of events, in which there is complete accord between the military movements and the terrain, and they include information whose reliability can be confirmed by the knowledge at our disposal from external sources about the tactical composition, the command, the armaments and the operational methods of the Seleucid forces.“ 3 An diese Einschätzung schließt sich das Urteil an: „Some accounts of the battles (…) may be counted among the better military historiography of the period.“ 4 Ebenso heißt es in der Studie: „In summing up it may be said that an analysis of the battles reveals the satisfactory level of accurancy of I Maccabees as a whole and of the accounts of the battles in particular.“ 5 Dies wiederum könne nur daran <?page no="98"?> 5 Bar-Kochva, Judas Maccabaeus, 168. 6 Bar-Kochva, Judas Maccabaeus, 156. 7 Bar-Kochva, Judas Maccabaeus, 158. 8 Bernhardt, Revolution, 297. Vgl. Fischer, Seleukiden und Makkabäer, 60. 9 Vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 115-117. 10 Zur Stilisierung der Erzählung in Anlehnung an die biblische Davidtradition vgl. v. Dobbeler, Die Bücher 1/ 2 Makkabäer, 44f. 11 Grainger, Wars, 14f. liegen, dass der hasmonäische Hofhistoriker als „eye-witness“ 6 selbst zugegen und wohl auch aktiv am Kampfgeschehen beteiligt war: „It is difficult to believe that the author would have been capable (…) of providing such a detailed and accurate report of so complicated a battle, unless he had himself been present during the action.“ 7 In dem vorliegenden Beitrag zur Vorstellung vom ,Heiligen Krieg‘ im antiken Judentum soll diese Deutung des ersten Makkabäerbuches als historischer Bericht mittels eines ausführlichen Durchgangs durch die insgesamt neun literarischen Darstellungen militärischer Auseinandersetzungen in 1Makk 3 - 9 einer eingehenden Überprüfung unterzogen und zugleich danach gefragt werden, wie die zahlreichen expliziten und impliziten Bezugnahmen dieser jüdischen Schrift auf ältere Texte und Traditionen zu interpretieren sind. 2 Die Feldzüge des Judas Makkabaios 2.1 Die Siege des Judas über Apollonios und Seron bei Baithoron In 1Makk 3,10-26 werden die beiden ersten militärischen Auseinanderset‐ zungen zwischen den aufständischen Judäern und den Syrern retrospektiv aufgebauscht 8 und als erfolgreicher Verteidigungskrieg dargestellt, der in der Erzählung dadurch legitimiert wird, dass sich das Handeln des Judas vor allem aus den biblischen Traditionen vom gerechten ,heiligen Krieg‘ speist. 9 Die von dem syrischen Heerführer Apollonios rekrutierten Söldnertruppen (1Makk 3,10) entsprechen spiegelbildlich den freiwillig und allein für ,Gotteslohn‘ kämpfenden Aufständischen in 1Makk 3,2. Indem Judas in der Schlacht das Schwert des Apollonios erbeutet, um fortan stets selbst damit zu kämpfen, handelt er wie David, der nach seinem Sieg über Goliath dessen Schwert in Besitz nahm (1Sam 17,54). 10 Der Botenbericht in 1Makk 3,13 motiviert eine innere Rede Serons, des ἄρχων („Befehlshabers“) des syrischen Heeres. 11 Die Nennung seines Ranges soll offenbar die hohe Bedeutung des Provinzaufstandes unterstreichen. 12 Der 98 Michael Tilly <?page no="99"?> 12 So Mittag, Antiochos IV. Epiphanes, 269. 13 Vgl. Grainger, Wars, 15f. 14 Vgl. Mendels, Why Did Paul Go West? , 297f. 15 Vgl. M. Tilly, 1 Makkabäer, 124-127; J. Chr. Bernhardt, Revolution, 303. Aufmarsch der Feinde Israels (1Makk 3,15-16) weist diese explizit als ἀσεβεῖς („Gottlose“) aus, deren gewaltige Menge der geringen Truppenstärke des Judas übermächtig gegenübersteht. Ort des erzählten Geschehens ist die von Salomo als Festung ausgebaute Stadt Baithoron an der Straße von der Küstenebene nach Jerusalem, deren Oberstadt durch eine abschüssige Steige mit ihrer Unterstadt verbunden ist. 13 Eine ähnliche narrative Verknüpfung von Kampfbericht und topographischen Angaben begegnet auch in Jos 10,10f. Die Frage der erschöpften Kämpfer im Kriegslager des Judas im Angesicht der gegnerischen Übermacht (1Makk 3,17) bereitet die Mutrede ihres Anführers vor (1Makk 3,18-22). Deren Kern besteht in der Aussage, vor dem Gott Israels sei es kein Unterschied, „durch Viele oder durch Wenige zu retten“ (σῴζειν ἐν πολλοῖς ἢ ἐν ὀλίγοις, 1Makk 3,18). Dies wiederum erscheint als deutliches Echo von 1Sam 14,6. Implizit scheint Judas hierdurch mit Sauls Sohn Jonathan gleichgesetzt. 1Makk 3,19f (vgl. Spr 21,31) will sodann zeigen, dass Gott sich bei seiner rettenden Intervention der Gerechten Israels bedient; ihre Stärke und ihre heldenhafte Verteidigung gegen die übermächtigen Feinde Israels (1Makk 3,21) entsprechen seinem Heilswillen. In 1Makk 3,23-24 wird wieder betont nüchtern und in geraffter Form vom eigentlichen Kampfgeschehen berichtet: Nach dem überraschenden Angriff der Judäer fliehen die Söldner des Seron in die hellenisierten Städte in der südlichen Küstenebene. Erkennbar ist die Anlehnung der kurzen Erzählung an Josuas siegreiche Schlacht gegen die Amoriterkönige ( Jos 10,1-14). Der Abschnitt endet in 1Makk 3,25-26 mit einem Summarium der ruhmreichen Heldentaten des Judas, das die Bewertung des Geschehens durch den Erzähler eindrücklich zur Sprache bringt. 14 2.2 Die Versammlung der Aufständischen in Massepha Die ausführliche Schilderung der Versammlung der Aufständischen in Mas‐ sepha (Mizpa) in 1Makk 3,46-60 dient zum einen der Verdeutlichung der gottgewollten Bestimmung des Judas zum Retter seines Volkes und zum Voll‐ strecker der gerechten Strafe über die Feinde Israels und zum anderen zur Bestätigung seiner Autorität als frommer, kluger und tapferer Anführer. 15 In der frei gestalteten Szene spiegelt sich durchweg (archaisierendes und fiktives) deuteronomisches Kriegsrecht wider. Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer 99 <?page no="100"?> 16 Vgl. 1QM X 7f. Der Erzählerkommentar in 1Makk 3,46b hebt zunächst die besondere Be‐ deutung Massephas als traditioneller Versammlungs- und Gebetsort Israels hervor. Er bietet damit einen Verständnisrahmen für das folgende Geschehen. In der als Grenzfestung angelegten Ortschaft im Norden Jerusalems (vgl. 1Kön 15,22) hatten gemäß der biblischen Überlieferung bereits während der Richterzeit wiederholt Versammlungen des Volkes stattgefunden. So wurden in Massepha von den versammelten Israeliten drastische Strafmaßnahmen gegen Sünder innerhalb des Stämmebundes beschlossen (Ri 20,1.3; 21,1.5.8). Begleitet von kollektiven Selbstminderungsriten wurde hier später auf Befehl Samuels gemeinschaftlich um Vergebung begangener Sünden gebetet (1Sam 7,5-9; vgl. 10,17-25). Die in 1Makk 3,47 folgende Aufzählung der von den versammelten Aufständischen um Judas in vergleichbarer Weise vollzogenen Selbstminderungs- und Trauerriten angesichts der Bedrohung des gesamten Volkes dient ebenfalls der bestätigenden Verankerung des Geschehens in der biblischen Tradition (vgl. Ri 20; 1Sam 7,6). Aufgrund der schlechten Textüber‐ lieferung ist die Deutung des in 1Makk 3,48 vollzogenen und mit paganen divinatorischen Praktiken kontrastierten „Aufrollens des Buches des Gesetzes“ unsicher. Möglicherweise wird hier auf Dtn 20,2-4 angespielt, wo im Kontext einer ,Kriegsansprache‘ die priesterliche Ermunterung der Kämpfer vor der Schlacht bzw. eine öffentliche Verlesung der Tora als Symbol der Gegenwart Gottes beschrieben wird. Die in 1Makk 3,49 der Volksversammlung präsentierten „Priestergewänder“, „Erstlingsgaben“, „Zehntenabgaben“ und (auszuweihenden) „Nasiräer“ haben miteinander gemeinsam, dass die Erfüllung der mit ihnen verbundenen Gebote ohne den gemäß der Tora vollzogenen Tempelkult unmöglich ist. Die in 1Makk 3,50 als Gebet der bei Massepha versammelten Judäer ausgewiesene rhetorische Frage, was angesichts der Entweihung des Tempels mit diesen Objekten und Personen zu tun sei, zeigt die zwingende Notwendigkeit auf, diesen unhaltbaren Zustand zu beseitigen, um den Willen Gottes zu erfüllen. Dem Gebet der Judäer folgen Trompetenstöße (1Makk 3,54), welche die Anrufung Gottes unterstützen und seine Hilfe im Kampf bewirken sollen (vgl. Num 10,9f; Ri 3,27; 6,34f; 7,18-22; 1Sam 13,3). 16 Die in 1Makk 3,55-57 beschriebenen Kampfvorbereitungen des Judas unter‐ streichen seine positive Charakterisierung als frommer Streiter für sein Volk. Die von ihm befohlene Musterung, das Einsetzen von Anführern (ἡγουμένους) und seine Truppeneinteilung (1Makk 3,55) entsprechen Ex 18,21.25 und Dtn 1,15. 17 Die begründeten Freistellungen vom Kriegsdienst in 1Makk 3,56 wie‐ 100 Michael Tilly <?page no="101"?> 17 Vgl. 1QS II 19 ff.; 1QM VIII 6; CD XIII 1 f, sowie Grainger, Wars, 17-19. 18 Vgl. M. Tilly, 1 Makkabäer, 129-131; Bernhardt, Revolution, 303. 19 Vgl. Grainger, Wars, 19-21. derum entsprechen Dtn 20,5-8. Die Ermunterungsrede des Anführers der Auf‐ ständischen in 1Makk 3,58-60 ähnelt in performativer und inhaltlicher Hinsicht ebenfalls Dtn 20,2-4 (vgl. 1Makk 3,48) sowie der Mutrede des Jahasiel ben Secharja vor der Schlacht gegen die Ammoniter und Moabiter (2Chr 20,15-17). In 1Makk 3,59 wird erneut die todesmutige Opferbereitschaft der Kämpfer für Volk und Heiligtum, allen voran Judas’, betont. In 1Makk 3,60 schließlich erfährt der Leser, dass der Ausgang des nun folgenden Kampfgeschehens, welches nun erstmalig nicht von den Syrern, sondern von den Aufständischen selbst initiiert wird, explizit dem Willen des gerechten Gottes Israels entspricht. 2.3 Der Sieg über Gorgias bei Ammaus Auch der Kampf der Aufständischen gegen die überlegene Streitmacht des Gorgias bietet dem Erzähler in 1Makk 4,1-25 Gelegenheit, Judas mit den Heldengestalten der biblischen Geschichte zu identifizieren. 18 Dem Strategos von Idumäa und der Truppe des Königs stehen Judas und das Heer der Judäer gegenüber. Durchweg kontrastiert die Erzählung die siegessichere syrische Streitmacht und die vermeintlich schwächeren Judäer (vgl. 1Makk 3,18f sowie Ex 14,3-9). So werden erstere in idealisierter Weise als erfahrene und ausgezeichnet bewaffnete Kämpfer beschrieben, die zahlenmäßig überlegen sind, ortskundige Führer bei sich haben, in geordneter Formation aufmarschieren und zunächst meinen, bei ihrer nächtlichen Offensive das Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben, während die nur mangelhaft ausgerüsteten Männer des Judas vor ihrer gewaltigen Übermacht fliehen. 19 Diese Überlegenheit und Siegessicherheit zeigen die innere Rede des Gorgias in 1Makk 4,5b einerseits und der Erzählerkommentar in 1Makk 4,7b andererseits. Indes erscheinen die Judäer unbeschadet ihrer vermeintlichen Unterlegenheit sowohl durch ihre Charakterisierung als δυνατοί („Tapfere“) in 1Makk 4,3 - der Begriff beschreibt in der LXX häufig die heldenhaften Streiter während der Frühzeit Israels ( Jos 6,2; 8,3; 10,7 u.ö.) - als auch durch ihren ebenso tapferen wie klugen Plan, das feindliche Heerlager überraschend anzugreifen, in einem positiven Licht. Die Zeitangabe ἅμα ἡμέρᾳ („bei Anbruch des Tages“) in 1Makk 4,6 kann hierbei als eine Allusion an Ex 14,24 betrachtet werden. Auf Ex 14 verweist auch die Rede des Judas in 1Makk 4,8-11, in der er seinen Männern Mut zuspricht, indem er auf die Bewahrung des Volkes Israel und die Vernichtung seiner übermächtigen Gegner während des Schilfmeerdurchzugs Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer 101 <?page no="102"?> 20 Vgl. Ex 19,4f; Dtn 20,3f; 2Chr 20,15. 21 Vgl. Ps 106(LXX 105),1; 107(LXX 106),1; 118(LXX 117),1-4; 136(LXX 135),1; Jer 33(LXX 40),11; 1Chr 16,41; 2Chr 20,21. verweist (Ex 14,1-31). Sowohl der Gebetsappell des Judas an ein ebensolches Vertrauen auf die Bundestreue Gottes 20 als auch seine Zusicherung der Rettung im Angesicht aller Völker ringsum (vgl. Ex 14,13f) sind in deutlicher Anlehnung an Jos 4,23f formuliert. Es ist bemerkenswert, dass dem Erzähler die Einfügung des Redestücks an dieser Stelle wichtiger zu sein scheint als die Plausibilität der öffentlichen Ansprache der versammelten Streitmacht vor einem Überra‐ schungsangriff. Die knappe und nüchterne Schilderung des eigentlichen Kampfgeschehens (1Makk 4,12-15) ist bereits durch die einleitenden Wendungen ἦραν τοὺς ὀφθαλμοὺς αὐτῶν und εἶδον als eine Bestätigung des Gottvertrauens und der Erhörungsgewissheit des Judas ausgewiesen. Die Trompetenstöße der Leute des Judas sind hier wahrscheinlich nicht als ein Angriffssignal zu verstehen, sondern stellen eine Allusion auf Num 10,9 dar, wo von Priestertrompeten die Rede ist, die der Anrufung Gottes zum Beistand im Krieg dienen (vgl. Jos 6,4.16.20). Einer kurzen Siegesnotiz folgt die Schilderung der Verfolgung der syrischen Streitmacht durch die Judäer. Die dabei genannte Zahl der erschlagenen Feinde entspricht exakt der anfänglichen Truppenstärke des Judas (1Makk 4,6), was ebenfalls den göttlichen Beistand zum Ausdruck bringt. Die zweite Judasrede in 1Makk 4,16-18 enthält den Aufruf, sich noch nicht der Siegesbeute zu bemächtigen, sondern abzuwarten, bis der Feind vollends geschlagen ist. Der kurze Abschnitt, dessen Funktion in der Betonung des frommen, besonnenen und vorausschauenden Charakters des Makkabäers besteht, scheint auf Jos 6,18f anzuspielen. Bestätigt wird die Warnung des Judas durch das plötzliche Erscheinen eines bislang verborgenen syrischen Truppenteils, der jedoch ebenfalls die Flucht ergreift, als er die Übermacht der Aufständischen erkennt. Der Hinweis auf das Erschrecken dieser versprengten Reste der einstmals überlegenen syrischen Streitmacht korrespondiert spiegel‐ bildlich mit der - angesichts des göttlichen Beistandes eigentlich unnötigen - anfänglichen Furcht der Judäer (vgl. 1Makk 4,8). Die Inventur der Siegesbeute durch Judas in 1Makk 4,23 kann als Anspielung an Jos 7,24 betrachtet werden. Das Gotteslob der Judäer bei ihrer Rückkehr nach Jerusalem (1Makk 4,24f), das ihrer Gebetsbitte bzw. Erhörungsgewissheit (1Makk 4,10f) entspricht, zitiert einen formelhaften Aufruf zum dankbaren Lobpreis Gottes 21 und unterstreicht so die eigentliche Bedeutung ihres Sieges als seine Rettungstat. Der Wortlaut des abschließenden Erzählerkommentars 102 Michael Tilly <?page no="103"?> 22 Vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 132 f; Bernhardt, Revolution, 310. 23 Vgl. 1QM XI 1f. 24 Vgl. Grainger, Wars, 23f. (καὶ ἐγενήθη σωτηρία μεγάλη) stellt Judas implizit in eine Reihe mit Samson (Ri 15,18) und Jonathan (1Sam 14,45). 2.4 Judas Makkabaios besiegt Lysias bei Beitsura Der Niederlage des Gorgias bei Ammaus folgt in 1Makk 4,26-35 ein weiterer Feldzug, den Lysias nun persönlich anführt. Die schlechten Nachrichten für den Generalstatthalter des Westens motivieren in 1Makk 4,26-29 die nachfol‐ genden Ereignisse. Ebenso wie in 1Makk 4,1 kontrastiert der Erzähler dabei die „weltliche“ Überlegenheit der Syrer und den „himmlischen“ Beistand der Aufständischen (vgl. 1Chr 19,16-19). 22 Das in 1Makk 4,30-33 vorgetragene Gebet des Judas bietet dem Erzähler von neuem Gelegenheit, den Anführer der Aufständischen mit Heroen der Geschichte Israels gleichzusetzen, seine militärischen Erfolge als gerechte Vollstreckung des Willens Gottes zu charakterisieren und die Rettung Israels unlösbar mit der Hasmonäerdynastie zu verknüpfen. Dabei nimmt er explizit Bezug auf die Heldentaten Davids (1Sam 17,40-54) 23 und Jonathans (1Sam 14,1-16). Die beiden Schlüsselbegriffe des Abschnitts „(Gott) lieben“ in der Gebetsbitte und „(Gottes) Name“ im abschließenden Lobversprechen (1Makk 4,33) begegnen gemeinsam auch in Ex 20,6f und Dtn 5,10f; die Allusion soll hier wohl den besonderen Toragehorsam der Rebellen anzeigen. Auch die kurze Beschreibung des eigentlichen Schlachtverlaufs und die Schilderung des Rückzugs des syrischen Generals nach Antiocheia in 1Makk 4,34-35 betonen die Entsprechung zwischen der unbedingten Glaubenstreue der Rebellen und ihrem militärischen Erfolg. 24 Die Verluste der aufständischen Judäer bleiben dabei unerwähnt. Die abschließende Bemerkung über einen von Lysias beabsichtigten erneuten Angriff erhält die Spannung aufrecht und signalisiert dem Leser, dass auch die nun folgende Wiederinbesitznahme des Jerusalemer Tempels noch nicht den endgültigen Sieg über die Feinde Israels bedeutet. 2.5 Feldzüge gegen die Idumäer, Ammoniter und Baianiter In 1Makk 5,1-8 wird von einer Reihe gewaltsamer Auseinandersetzungen mit den nichtjüdischen Bewohnern des Umlandes berichtet. Der Erzähler model‐ liert auch hier die Gestalt des Judas nach dem Vorbild der Glaubenshelden Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer 103 <?page no="104"?> 25 Vgl. Berthelot, Judas Maccabeus’ Wars Against Judaea’s Neighbours in 1 Maccabees 5; Tilly, 1 Makkabäer, 141 f; Bernhardt, Revolution, 313. 26 Vgl. Mendels, Why Did Paul Go West? , 118 f; Bernhardt, Revolution, 44. 27 Vgl. Grainger, Wars, 31-35; Bernhardt, Judas und seine Brüder, 231 f. 28 Vgl. Eckhardt, Ethnos und Herrschaft, 80 mit Anm. 201. in der Geschichte Israels. Dabei bereiten die Verse 1 und 2 die folgenden Kampfhandlungen mit drastischen Worten (ἆραι, θανατοῦν, ἐξαίρειν) narrativ vor und bewerten sie zugleich als notwendige Reaktion auf die Feindschaft der nichtjüdischen Völker im Land gegen das „Haus Jakobs“ (vgl. 1Makk 1,28). 25 Ein Orts- und Perspektivenwechsel in 1Makk 5,3 lenkt den Blick auf die Ak‐ tionen des Judas außerhalb der Grenzen Judäas. Wie David (vgl. 2Sam 8,13f) greift er die Idumäer und Ammoniter an. Die gewollt archaisierende, mit dem γένος Ιακωβ („Geschlecht Jakobs“) in 1Makk 5,2 korrespondierende Bezeich‐ nung der Edomiter als υἱοὺς Ησαυ („Söhne Esaus“) dient der Verankerung der Demütigung der Erzfeinde Israels durch Judas in der biblischen Tradition. Der an ihnen vollstreckte „Bann“ (1Makk 5,5) bzw. ihre „Vernichtungsweihe“ gemäß fiktivem deuteronomischem Kriegsrecht (םרח, vgl. Dtn 7,2-5; 20,16-18) 26 besteht im literarischen Kontext der Landnahmetraditionen (vgl. Jos 6-11) und der Am‐ moniterkriege (1Sam 15,3-8) in der - vom Gott Israels gebotenen - Ausrottung der fremdreligiösen Kriegsgegner. Das „Verbrennen der Türme“ scheint wie‐ derum Ri 9,49 entlehnt. Die Erwähnung von boshaften Nachstellungen durch die (ansonsten unbekannten) Baianiter verknüpft das Geschehen schließlich mit Ps 69(LXX 68),23, wo der Beter Gott mit ähnlichen Worten um Bestrafung seiner übermächtigen Feinde bittet. Auch die von Judas bekämpften Ammoniter im Ostjordanland (ihre hebrai‐ sierende Bezeichnung als υἱοὺς Αμμων („Söhne Ammons“) in V. 6-8 entspricht ebenfalls biblischer Diktion) gelten traditionell als „Erzfeinde“ Israels (vgl. 2Sam 10,6-14). Judasʼ Eroberung der im Grenzgebiet zu ihrem Territorium gelegenen Levitenstadt Jazer entspricht der Einnahme des Ortes durch Mose (vgl. Num 21,32). Mit der überleitenden Notiz von der Rückkehr des siegreichen Anführers der Aufständischen nach Judäa endet der Abschnitt. 2.6 Feldzüge der Makkabäerbrüder nach Gilead und Galiläa Nacheinander kommen in 1Makk 5,21-54 eine Reihe erfolgreicher Rettungsex‐ peditionen des Judas und seiner Brüder in den Norden und Osten des Landes zur Darstellung. 27 Auch diese Aktionen sind an die biblische Tradition angelehnt 28 und folgen mehrheitlich einem stereotypen Schema, das nacheinander 1.) vom provozierten Angriff, 2.) vom raschen Sieg ohne eigene Verluste, 3.) von der 104 Michael Tilly <?page no="105"?> 29 Vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 148-152; Bernhardt, Revolution, 322. Verfolgung der Feinde, 4.) von reicher Kriegsbeute und 5.) von der Rettung der bedrängten Glaubensgenossen erzählt. 29 Eingeleitet von einer summarischen Notiz über die erfolgreichen Vorstöße Simons nach Galiläa schildert 1Makk 5,21-23 die Verfolgung der Aggressoren bis in die Küstenebene und die Rückführung der judäischen Diaspora, welche ihrer‐ seits als gegenwärtige Erfüllung der alten prophetischen Heilsverheißungen der erhofften Wiederherstellung des territorialen Idealzustands für Israel entspricht (vgl. Jer 31[LXX 38],7f). Erheblich ausführlicher als der Bericht über die Erfolge Simons sind die mit 1Makk 5,24 einsetzenden Ausführungen über die Siege des Judas und seines Bruders Jonathan. Die Rede von ihrem dreitägigen Marsch in die Wüste entspricht wieder biblischer Diktion (vgl. Ex 3,18; 5,3; 8,23; Num 33,8). Topogra‐ phische Details wie die Aufzählung der ostjordanischen Zufluchtsorte sollen die Glaubwürdigkeit und Realitätsnähe des Erzählten unterstreichen. Die in 1Makk 5,29 wiedergegebene Entscheidung des Judas, bereits während der Nacht anzumarschieren, ist, ebenso wie der Entschluss, seine Krieger in drei Gruppen aufzuteilen und den Feind aus dem Hinterhalt anzugreifen (1Makk 5,33), dem Vorgehen biblischer Heroen (Ri 7,16-22 [Gideon]; 1Sam 11,11 [Saul]) nachgebildet. Das „unzählbare“ feindliche Kriegsvolk in 1Makk 5,30 scheint Ri 7,12 entlehnt. Die Interjektion ἰδού („siehe! “; hebr. הנה) unterstreicht dabei die feindliche Übermacht. Die Verse 31 und 33 stellen dagegen Klagegebet und Trompetensignal der Judäer als Ausdruck ihrer festen Hoffnung auf den Bei‐ stand Gottes dar. Indem der von den beiden Sätzen eingerahmte Vers 32 den Kampfaufruf des Judas enthält, wird der Gott Israels implizit als die eigentliche Machtinstanz hinter ihm und allen seinen Erfolgen bezeichnet. Die kurze Schil‐ derung seines Sieges über die Belagerer, deren Furcht allein mit dem Anblick des Makkabäers begründet wird, dient der Bestätigung dieser zentralen Aussage. Die in 1Makk 5,35-36 erzählte Rettung der Judäer in den Siedlungen Gileads und die Vernichtung ihrer Gegner deuten eine Handlungszäsur an. Die folgende Schilderung des Kampfes gegen die syrischen Truppen in einem Bachtal zwi‐ schen Raphon und Karnain zeigt dem Leser, dass Judas die Seleukiden nun auch außerhalb des judäischen Mutterlandes zu besiegen vermag. Die von Judas ausgesandten Spione berichten ihm vom Ausmaß der Bedrohung durch die Völker ringsum; unmittelbar an ihren Bericht schließt sich in kontrastierender Weise die Aussage an, dass Judas seinen Feinden furchtlos entgegenzieht (1Makk 5,38f). Die Reden des Timotheos und des Judas (1Makk 5,40.42), in denen die beiden ihre Strategien zum Ausdruck bringen, scheinen 1Sam 14,7-11 Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer 105 <?page no="106"?> 30 Vgl. Bernhardt, Revolution, 44. 31 Vgl. Num 20,14-19; 21,21-25 sowie Ex 10,13. 32 Vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 163-167; Bernhardt, Revolution, 322f. 33 Vgl. Arenhoevel, Die Theokratie nach dem 1. und 2. Makkabäerbuch, 86 f; Grainger, Wars, 40f. nachgebildet. In 1Makk 5,43 erweist sich der Plan des Judas als der glücklichere. Die Flucht der im Bachtal vernichtend geschlagenen Gegner zum Tempelbezirk in Karnain bereitet die in 1Makk 5,44 beschriebene Zerstörung dieser paganen Kultstätte und die Tötung der Feinde Israels (vgl. Ri 9,46-49) als konsequente Erfüllung des Vernichtungsgebots von Dtn 7,5 narrativ vor. Mit dieser Maß‐ nahme, in welcher der gewaltsam verwirklichte, exklusive Monotheismus der Protagonisten zum Ausdruck gelangt, gehen die Aktionen der Rebellen nun über das ursprüngliche Ziel ihrer Erhebung hinaus. Die Heimführung der Diasporajudäer durch Judas (1Makk 5,45) entspricht in überbietender Weise der Rettungsaktion seines Bruders Simon (vgl. 1Makk 5,23), verflicht die Heldentaten des Makkabäers mit denen Sauls (1Sam 11,1-11) 30 und leitet über zu der folgenden Episode von der Feindseligkeit der Bewohner Ephrons und dem Angriff der Aufständischen, in welcher sowohl die unbedingte Erfüllung des Kriegsgesetzes von Dtn 20,10-15 durch Judas als auch die enge Verbindung zwischen ihm und Moses 31 narrativ vergegenständlicht werden. 2.7 Der Kampf gegen das Heer des Lysias in Jerusalem und bei Baitsura 1Makk 6,18-54 handelt von den weiteren Auseinandersetzungen der Aufstän‐ dischen mit den Syrern und ihren judäischen Anhängern. 32 Die durch deren Übermacht hervorgerufene Krisensituation stellt den bedrohlichen Hintergrund dar, von dem sich das im nachfolgenden Abschnitt dargestellte rettende Ein‐ greifen Gottes leuchtend abhebt. Die Mobilmachung durch den syrischen König gibt dem Erzähler in 1Makk 6,28-30 erneut Gelegenheit, die Übermacht der feindlichen Truppen zu beschreiben. Diese hyperbolischen Truppenstärken (vgl. Jdt 7,2) kontrastieren die militärische Überlegenheit der angreifenden Syrer mit dem Heldenmut der in der Festung eingeschlossenen und sich tapfer verteidigenden Judäer. 33 Der Kontrast zwischen der syrischen Übermacht und dem Todesmut der Auf‐ ständischen wird vom Erzähler auch in der Beschreibung ihrer Vorbereitungen zur offenen Feldschlacht signalisiert. Die sachlich kaum nachvollziehbare aktive Beteiligung des unmündigen βασιλεύς Antiochos V. Eupator am Kampfge‐ schehen (1Makk 6,33) bereitet, ebenso wie die extensive Beschreibung der schweren Panzerung, Bewaffnung und schützenden Begleitung der syrischen 106 Michael Tilly <?page no="107"?> 34 Vgl. Rahlfs, Die Kriegselefanten im 1. Makkabäerbuche. 35 Vgl. dagegen Bar-Kochva, Judas Maccabaeus, 154: „There is no doubt that his statement faithfully reflects the armament of parts of the Royal Guard, the elite unit of the Seleucid army.“ 36 Zur Diskussion um die Deutung des Selbstopfers Eleazars als Martyrium vgl. van Henten, Das jüdische Selbstverständnis in den ältesten Martyrien, 129. 37 Vgl. Grainger, Wars, 41. Kampfelefanten und ihrer Besatzung, 34 deren περικεφαλαῖαι χαλκαῖ („bronzene Helme“: 1Makk 6,35) den Leser wohl an Goliath erinnern sollen (1Sam 17,5), 35 die nachfolgend eingeschobene Erzählung vom Todesmut des Makkabäerbruders Eleazaros Avaran narrativ vor. Eine Digression in 1Makk 6,43-46 fokussiert das martyriumsähnliche 36 Selb‐ stopfer des als Heroen stilisierten Eleazaros Avaran, eines jüngeren Bruders des Judas. Sein Versuch, sein Volk unter Einsatz des eigenen Lebens (zur Vorstellung des Selbstopfers vgl. Ri 16,27-30) zu retten, indem er das vermeintliche Reittier des seleukidischen Königs angreift, um diesen zu töten, realisiert das von seinem Vater Mattathias in seiner Abschiedsrede geforderte und die Autorität der Hasmonäerdynastie begründende, bedingungslose Eintreten für den „Bund unserer Väter“ (1Makk 2,50). Mit 1Makk 6,47 wendet sich der Erzähler wieder dem Gesamtgeschehen zu. Die erste militärische Niederlage der Rebellen und ihr erzwungener Rückzug nach Jerusalem werden dabei beschönigend als „Zurückweichen“ dargestellt (ἐξέκλιναν). Auch die Kapitulation der belagerten Judäer in der Festung Baitsura wird in 1Makk 6,49 in euphemistischer Weise als „Hinausgehen“ bezeichnet (ἐξῆλθον) und damit begründet, dass das Land ein „Sabbatjahr“ hatte. Dem Leser soll hierdurch die gewissenhafte Observanz der Toragebote durch die Aufständischen selbst während dieser Notzeit vor Augen geführt werden. Der in 1Makk 6,51-54 dargestellte Angriff der Syrer auf den Tempelberg geschieht unter Aufbietung sämtlicher Belagerungsmaschinen, deren Aufzäh‐ lung in 1Makk 6,51 die besondere Tapferkeit der Verteidiger unterstreicht. 37 Der Erzählerkommentar in 1Makk 6,53 betont, dass auch die Niederlage der Judäer untrennbar mit ihrer selbstlosen Fürsorge für die bedrohte judäische Diaspora, mit ihrer konsequenten Frömmigkeit und mit ihrem unbedingten Gottvertrauen verbunden ist. Die Vorstellung, dass die Belagerer die judäischen Rebellen hätten unbehelligt ziehen lassen (1Makk 6,54), dient wiederum der narrativen Einbettung der Bezugnahme auf die abschlussartige biblische Formulierung, ein jeder von ihnen sei εἰς τὸν τόπον αὐτοῦ („in seine Heimat“) zurückgekehrt (vgl. Jos 24,28; 1Sam 10,25). Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer 107 <?page no="108"?> 38 Vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 177-181; Bernhardt, Revolution, 335f. 39 Vgl. Grainger, Wars, 47. 2.8 Die Niederlage des Nikanor bei Baithoron 1Makk 7,26-50 schildert die zweite syrische Strafexpedition gegen die judäi‐ schen Aufständischen. 38 Der von Demetrios I. Soter mit der Befriedung Ju‐ däas beauftragte Feldherr Nikanor wird gleich zu Beginn des Abschnitts als schlimmer Feind des Gottesvolkes charakterisiert. Die Vorbereitungen zur militärischen Begegnung zwischen ihm und Judas in 1Makk 7,39-42 sind, ebenso wie die folgende Schilderung der eigentlichen Schlacht, durchzogen von Anspielungen auf die biblische Erzählung von der missglückten Belagerung Jerusalems durch den Assyrerkönig Sanherib (2Kön 18,17-19,37; vgl. Jes 36,1 - 37,38). Die Beschreibung des Kriegslagers des Judas in der Siedlung Adasa bildet den Erzählhintergrund für das in 1Makk 7,41f folgende Bittgebet des Anführers der Rebellen. Die Bezugnahme des Gebets auf 2Kön 19,35 (vgl. Jes 37,36), wo von einem Rettungswunder die Rede ist, durch das Jerusalem sogleich vor der Eroberung durch Sanherib bewahrt wird (vgl. 2Makk 15,22-24), soll den Gott Israels dazu bewegen, seinen bedrängten Getreuen in gleicher Weise zu Hilfe zu kommen, indem er erneut seinen mächtigen ἄγγελος (bzw. seinen bevollmächtigten Glaubenshelden Judas) schickt, um ihnen beizustehen. Das krasse Missverhältnis der Truppenstärke des Makkabäers („dreitausend“) und der Anzahl der kampfbereiten Männer im Lager Sanheribs („hundertfün‐ fundachtzigtausend“) unterstreicht die Notwendigkeit einer solchen göttlichen Bewahrung Israels vor seinen übermächtigen Feinden. Die an Gott gerichtete Bitte um Sieg und Vergeltung in 1Makk 7,42 spielt erkennbar auf 2Kön 19,6f an. Dem eigentlichen Kampfgeschehen widmet der Erzähler in 1Makk 7,43-46 wieder nur wenige nüchterne Worte; dabei wird die Geschehensfolge (Nikanor als erster Gefallener, rasche Niederlage seines Heers, Flucht und Verfolgung der Angreifer) als Entsprechung der vorangehenden Gebetsbitten gestaltet. 39 Die ausführliche Darstellung des vergeblichen Versuchs der Syrer, auf ihrer Flucht in die Küstenebene den Männern des Judas zu entkommen, welche ihrerseits die dortige Bevölkerung durch Signale auf das Eintreffen der Feinde aufmerksam machen, weist Berührungspunkte mit der älteren biblischen Überlieferung auf (vgl. Jos 10,10; 1Sam 14,31) und mündet in eine formelhafte Feststellung des Vollzugs ihrer Vernichtung in der Diktion der deuteronomistischen Vorstellung vom gerechten Jhwh-Krieg (vgl. Jos 10,30; 11,8). In epilogartiger Weise berichten die letzten Verse des Kapitels von der Erbeutung der syrischen Vorräte und von der öffentlichen Ausstellung der abgeschlagenen rechten Hand und des Kopfes Nikanors, was zum einen der ent‐ 108 Michael Tilly <?page no="109"?> 40 Vgl. Bernhardt, Revolution, 336. 41 Vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 193-195; Bernhardt, Revolution, 337. 42 Vgl. 1Makk 3,54; 4,13.40; 5,31.33. 43 Vgl. Grainger, Wars, 48f. ehrenden Behandlung Goliaths durch den siegreichen David entspricht (1Sam 17,51-54 [vgl. Jdt 13,7-10; 14,1.11]) 40 und zum anderen - formal verdeutlicht durch die Kongruenz von ἐξέτεινεν („er streckte aus“) und ἐξέτειναν („sie stellten aus“) in 1Makk 7,47 - die spiegelrechtliche Bestrafung seiner beabsichtigten und ausgeführten Aktionen gegen Gottesvolk und Tempel (1Makk 7,35) versinnbild‐ licht. Die abschließende Synekdoche καὶ ἡσύχασεν ἡ γῆ („das Land hatte Ruhe“) konstatiert - ebenfalls in biblischer Diktion - den gottgewollten Sieg Israels. 2.9 Der Tod des Judas im Kampf gegen Bakchides Ausgangspunkt der Darstellung der letzten Konfrontation des Judas mit seinen Feinden in 1Makk 9,1-22 ist die Faktizität seines Todes in der Schlacht bei Elasa, welche einer sinnstiftenden Deutung bedurfte. Eine Unheilsbotschaft an den Seleukidenherrscher motiviert dessen Entscheidung, erneut eine Straf‐ expedition in die rebellische Provinz zu entsenden. Die Notiz, dass die Syrer mit zweiundzwanzigtausend Mann in der ehemaligen Gibeoniterstadt Bereth eintreffen, akzentuiert erneut ihre militärische Übermacht. 41 Erst in 1Makk 9,5 wendet sich der Blick des Erzählers den aufständischen Judäern zu. Sowohl ihre Unterlegenheit als auch die Unmöglichkeit eines Überraschungsangriffs, vor allem aber ihr mangelndes Gottvertrauen (1Makk 9,6), erklären die drohende Niederlage und lassen zugleich die unerschütterliche Zuversicht ihres Anführers umso heller leuchten. Die detaillierte Beschreibung der seleukidischen Streitmacht in 1Makk 9,11-13 hebt sich von der Gottergeben‐ heit des Judas vor seinem letzten Kampf ab. Der Beginn des Kampfgeschehens wird durch das Stoßen beider Heerlager in ihre Signaltrompeten angezeigt, welches auf Seiten der Aufständischen stets mit der Anrufung des göttlichen Beistands im gerechten „heiligen Krieg“ konnotiert ist. 42 Die hyperbolische Schilderung der Schlacht in 1Makk 9,13 dient als beeindruckende Kulisse für den ehrenvollen Tod des Helden und erinnert zugleich an 2Sam 22,8. Dem anfänglichen Kampferfolg der Rebellen folgt ihre Niederlage (vgl. 1Sam 31,3), die allerdings zunächst als ein für beide Seiten gleichermaßen verlustrei‐ ches Aufeinandertreffen beschrieben wird (1Makk 9,17), bevor der - erneut mit dem mangelnden Gottvertrauen seiner Anhänger kontrastierte - Heldentod des Judas in seinem letzten Kampf (vgl. 1Sam 31,4) die endgültige Niederlage der Aufständischen besiegelt (1Makk 9,18). 43 Der Erwähnung der Bergung Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer 109 <?page no="110"?> 44 Vgl. Ri 6,12; 1Sam 2,10; 2Chr 28,7. 45 Vgl. Ri 3,9; 2Kön 13,5. 46 Vgl.1Kön 11,41; 14,29; 2Kön 10,34. 47 Vgl. Mendels, Why Did Paul Go West? , 67. 48 Vgl. Dtn 20,10-18. 49 Vgl. Tomes, Heroism in 1 and 2 Maccabees. 50 Vgl. Signori, Dying for the Faith, Killing for the Faith. und Bestattung des Judas folgt eine formelhaft eingeführte Totenklage seiner Anhänger, welche die Trauer des Volkes zusammenfasst. Der Parallelismus membrorum in 1Makk 9,21 lehnt sich deutlich an die Klage Davids über Saul und Jonathan an (2Sam 1,19.25-27), was Judas als gleichermaßen verehrungswür‐ digen Helden erscheinen lässt. Die beiden hierbei gebrauchten Prädikationen δυνατός („Tapferer“) 44 und σῴζων τὸν Ισραηλ („Retter Israels“) 45 verleihen dieser positiven Beurteilung deutlichen Ausdruck. Auch der formelhafte ab‐ schließende Metakommentar in 1Makk 9,22 ist der Sprache der biblischen Geschichtswerke nachgebildet, 46 wobei der Erzähler den Nachruhm des Judas abermals steigert, indem er abschließend anführt, dass eigentlich noch viel mehr Positives über seinen heldenhaften Protagonisten zu berichten wäre. 47 3 Traditionsbindung und Autorisierung In 1Makk 3,1 - 9,22 wird der judäische Widerstand gegen die Religionsverfol‐ gung durch die Syrer als ein mutiger und heldenhafter Religionskrieg mit dem Ziel der Überwindung und Vernichtung aller gottlosen Feinde im Land dargestellt. Dieser „heilige Krieg“ bedeutet für den antiken Erzähler sogar die Tötung der gesamten männlichen Bevölkerung jeder von den Aufständischen eroberten Stadt, ihre Plünderung und Zerstörung (1Makk 5,28.35.51). 48 Auf der Erzählebene verwirklicht dieses religiös motivierte Töten für den „Bund unserer Väter“ (διαθήκη πατέρων ἡμῶν) als die einzig wahre Religion die zentrale Botschaft der Abschiedsrede des sterbenden Mattathias, nämlich die unbedingte Notwendigkeit eines bedingungslosen Abwehrkampfes im Namen Gottes und im Vertrauen auf seine Hilfe (1Makk 2,68). Der hasmonäerfreundliche Autor der propagandistischen „Heldenge‐ schichte“ 49 will in seiner Darstellung insbesondere der militärischen Ereignisse zeigen, wie es den Makkabäerbrüdern mit Gottes Hilfe gelungen ist, eine antihellenistische Sammelbewegung zu organisieren und mit ihrer Hilfe die gewaltsamen kulturellen und religiösen Modernisierungstendenzen innerhalb Judäas dauerhaft abzuwehren. 50 Dabei soll der Eindruck erweckt werden, dass 110 Michael Tilly <?page no="111"?> 51 So Bernhardt, Revolution, 47. 52 Vgl. Tilly, 1 Makkabäer, 44. 53 Vgl. van der Kooij, The Claim of Maccabean Leadership and the Use of Scripture. 54 Vgl. Lange / Weigold, Biblical Quotations and Allusions in Second Temple Jewish Literature, 239-241. das erzählte Geschehen dem tatsächlichen Geschichtsverlauf entspricht. In dieser Form hat die Geschichte jedoch wohl niemals stattgefunden. Entgegen der eingangs zitierten modernen Deutungen bilden gerade die Kriegsberichte im ersten Buch der Makkabäer keine historischen Ereignisse ab, sondern folgen (unbeschadet aller Bezugnahmen seines Verfassers auf ihm bekannte Quellen und Realien) grundsätzlich einem literarischen Schema. Tatsächlich schöpft der antike Autor bei seiner literarischen Darstellung der Vorgänge als „alttestamentlicher Religionskrieg“ 51 durchweg aus dem reichen Fundus der biblischen Erzähltradition, die er immer wieder mit frei konzipierten Reden, Ansprachen und Gebeten als Darstellungs- und Interpretationsmittel, zeitgenössischem Kolorit und diffusem Fachwissen hinsichtlich zeitgenössi‐ scher militärischer Realien und diplomatischer Konventionen anreichert, um seiner fiktionalen Erzählung einerseits Plausibilität und Realitätsnähe zu ver‐ leihen und um ihre Protagonisten andererseits den beispielhaften Heroen der Geschichte Israels anzugleichen. 52 Wie aus einem literarischen Steinbruch bricht der Verfasser des ersten Mak‐ kabäerbuches Inhalte und Motive aus den älteren biblischen Schriften heraus und legt sie seiner eigenen Geschichtserzählung zugrunde. Durchweg werden dabei die ihm zugänglichen Erinnerungen an die gescheiterte „Religionsverfol‐ gung“ in Judäa in auswählender Weise aufgenommen, in Entsprechung seiner übergreifenden Erzählabsicht verändert und mit prägnanten Stilmitteln wie z. B. der wiederholten Kontrastierung der feindlichen Übermacht und dem eigenen Gottvertrauen ausgestaltet. 53 Dieser besonderen Deutung nicht nur der Tora und der Prophetenschriften, sondern auch der historischen Bücher ( Jos, Ri, 1/ 2 Sam, 1/ 2 Kön und 1/ 2 Chr) 54 als Vorbild und als Deutungsschlüssel des erzählten Geschehens in 1Makk 3,1 - 9,22 entsprechen insgesamt drei wesentliche Charakteristika des ersten Buchs der Makkabäer: 1. Die nach biblischen Vorbildern literarisch gestaltete Darstellung der mak‐ kabäischen Erhebung als Wiederherstellung eines (als ursprünglich betrach‐ teten) Idealzustands Israels, 2. die Identifikation des Wesens und des Handelns der Makkabäerbrüder mit biblischen Heldengestalten, 3. der Aufbau der fortlaufenden Erzählabschnitte gemäß der schematischen Abfolge einer gravierenden Gefährdung des Gottesvolkes und des Heiligtums, Der „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer 111 <?page no="112"?> 55 Vgl. M. Tilly, 1 Makkabäer, 57. einer Rettung aus dieser Gefährdung durch die - ebenso gerechten wie op‐ ferbereiten und heldenhaften - Makkabäerbrüder sowie durch den Beistand Gottes, einer Befreiung des judäischen Volkes von allen inneren und äußeren Feinden und schließlich einer dem „Heiligen Krieg“ folgenden umfassenden Friedenszeit. 55 4 Literatur Arenhoevel, Diego: Die Theokratie nach dem 1. und 2. Makkabäerbuch (WSAMA.T 3), Mainz 1967. Bar-Kochva, Bezalel: Judas Maccabaeus. 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Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) Simone Paganini Die ersten beiden Buchstaben der verhältnismäßig gut erhaltenen Schriftrolle aus der ersten qumranischen Höhle sind ein hebräisches ל und ein מ. Danach ist die erste Spalte des Manuskripts beschädigt und weist einen langgezogenen Riss auf, der von der ersten bis zur zehnten Linie reicht. Die Lücke, die dadurch in der ersten Zeile entsteht, bietet Platz für acht bis zehn Buchstaben, die seit der editio princeps von Eleazar Sukenik 1 im Einklang mit 1QS und CD dazu ver‐ wendet wird, die Worte ליכשמ und כרס zu bilden, die den Hauptadressaten des Textes - den Maskil - und die Gattung des Textes - eine Regel - identifizieren. Der Inhalt der Handschrift beginnt dann mit dem ersten vollständig lesbaren Wort המחלמה („der Krieg“). Unmittelbar danach wird der erste Angriff zwischen den beiden Kontrahenten - die „Söhne des Lichts“ und die „Söhne der Finsternis“ - genannt, weswegen der ursprüngliche „Taufname“ der Rolle „The War of the Sons of Light against the Sons of Darkness“ lautete. Diese lange deskriptive Bezeichnung, die Sukenik bereits 1948 vorschlug, wird heute häufig mit „War Scroll“ abgekürzt oder mit der Chiffre 1QM bzw. nach der offiziellen Zählung der Handschriften aus der ersten Höhle mit 1Q33 bezeichnet. 2 Der Name „Kriegsrolle“ hat sich bis heute gehalten, obwohl bereits Mitte der 1950er Jahre die Position vertreten wurde, dass der Krieg nicht das einzige Thema und auch keineswegs das Hauptthema der Rolle ist. Unter Verwendung des diachronen Ansatzes, der allgemein die ersten Jahrzehnte der Qumran-Forschung stark ge‐ <?page no="116"?> 3 Eine detaillierte Studie zu den Quellen und der Komposition der Rolle lieferte Philip R. Davies, 1QM. The War Scroll from Qumran. P. von der Osten-Sacken, Gott und Belial, vertritt gar die Meinung, dass der eschatologische Kriegsdualismus in 1QM die früheste erhaltene Form des sectarian Dualismus darstellt. 4 Diese sind mittlerweile in der neuesten Forschung beinahe hinfällig geworden. Todd Scacewater, The Literary Unity of 1QM, 225-248, 246 fasst die Ergebnisse seiner langen und präzisen Untersuchung folgendermaßen zusammen: „This reading does not negate a compositional history, but only suggests that the extant form of 1QM, as it was organisated by its author(s) and perhaps redactor(s), presents a unified account of the war.“ Die letzte sehr ausführliche Monographie zu 1QM - Brian Schultz, Conquering the World, von 2009 - klammert sogar mit Absicht die diachrone Frage aus und kann die Rolle in ihrer synchronen Fassung problemlos und mit sehr guten Argumenten erklären. prägt hat, wurden im Text der Rolle verschiedene Entwicklungsstufen heraus‐ gearbeitet, die unterschiedliche Schattierungen und inhaltliche Besonderheiten hervorheben. 3 In diesem Aufsatz wird es natürlich um die Gattung von 1QM gehen, und die Überlegungen zur diachronen Entstehung des Textes werden kaum eine Rolle spielen. 4 Über Autorschaft und Sitz im Leben lässt sich anhand der literarischen Form des Werkes kaum etwas sagen. Es soll schließlich auch nicht versucht werden, 1QM im Kontext des qumranischen Textkorpus oder gar im 116 Simone Paganini <?page no="117"?> 5 Aufgrund der gegenwärtigen Diskussion über den Zusammenhang zwischen Höhlen, Rollen, Qumran-Siedlung und deren möglichen essenischen Bewohnern ist die These einer unmittelbaren Autorschaft von 1QM innerhalb der qumranischen Gemeinde - und die Schlussfolgerungen, die eine solche These automatisch nach sich zieht - obsolet. Die Annahme, Qumran sei das Zentrum der Schriftrollenherstellung gewesen, ist seit Beginn der Ausgrabungen in den 1950er Jahren immer wieder von Archäologen in Frage gestellt worden, und es gibt bisher auch keine archäologischen Anhaltspunkte dafür, genauso wenig wie für die Annahme, dass die Essener die Bewohner Qumrans gewesen sind. Daher wird eine Verbindung zwischen den Essenern und der Qumran-Siedlung immer häufiger als unhaltbar dargestellt, was aber nicht bedeutet, dass die Existenz des Essenismus innerhalb des Judentums verneint werden muss. Sehr wahrscheinlich waren die Essener eine jüdische Gruppierung, die ähnlich wie die Sadduzäer, Zeloten oder Herodianer leider keine exklusiv mit ihnen in Verbindung zu bringenden materi‐ ellen Spuren hinterlassen haben. Die drei berühmten Tintenfässer, die in der Siedlung gefunden wurden, bezeugen zusammen mit Graffiti und Ostraka, dass die Einwohner von Qumran, oder besser: dass einige Einwohner von Qumran, schriftkundig waren, nicht aber, dass sie die Schriftrollen aus den 11 Höhlen verfasst haben. Die Herrschafts‐ periode von Herodes dem Großen brachte Judäa und besonders der Region um das Tote Meer einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Während der Zeit des Zweiten Tempels war die Region um das Tote Meer ein Sammelpunkt für Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Milieus. Mitglieder der jüdischen Aristokratie entdeckten ebenso das angenehm milde Winterklima wie auch wohlhabende Priesterfamilien, die sich am Toten Meer niederließen, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen, der Landwirtschaft nachzugehen etc. Qumran dürfte ursprünglich als Landgut einer solchen Priesterfamilie errichtet worden sein. Mit der Zeit veranlassten der gesellschaftliche Wandel und der gewaltsame Kampf um das Hohepriesteramt immer mehr Priester dazu, den traditionellen Tempeldienst hinter sich zu lassen und in die Wüste zu ziehen. Manche von ihnen - wie etwa Johannes der Täufer - lebten als Asketen in der Wüste, andere bildeten Interessengemeinschaften. In Qumran, aber auch in der Nähe von Jericho, fanden sich solche Priestergruppen zusammen. Die meisten waren stark reaktionär ausgerichtet, vertraten eine strikte Observanz der religiösen Gesetze und verurteilten die Nachlässigkeit des offiziellen Priestertums scharf. Getrennt vom Tempel und dem traditionellen Opferkult erhielt das Leben in absoluter ritueller Reinheit für sie enorme Bedeutung. Diese abtrünnigen Priester betrieben in Qumran Landwirtschaft und fanden in der Produktion von rituell reinen Keramikgefäßen eine zusätzliche und lukrative Einnahmequelle. Die Schriftrollen vom Toten Meer sind nicht in Qumran produziert worden - sie stammen eher aus Bibliotheken aus Jerusalem und Jericho. Sie sind daher nicht die Schriftsammlung einer einzigen sektiererischen Gruppe, sie zeigen vielmehr einen Querschnitt der jüdischen Gesellschaft ihrer Zeit. Siehe dazu auch S. und C. Paganini, Qumran, 160-166. Zielführender ist dennoch die Unterscheidung zwischen sectarian und non sectarian Manuskripten. Aber auch in diesem Zusammenhang ist die Kriteriologie nicht endgültig allgemein anerkannt. Zusammenhang mit einer mehr oder weniger konkreten Qumran-Gemeinschaft zu interpretieren. 5 1QM ist eine außerordentlich wichtige Schrift, will man die Ursprünge der Vorstellung eines sakralen Krieges im jüdischen Kontext analysieren. Die Frage Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 117 <?page no="118"?> 6 Jean Carmignac, Les citations de l’Ancien Testament, hat relativ früh eine vollständige Auflistung der biblischen Zitate und Anspielungen vorgelegt. Neben zahlreichen kleinen Passagen gibt es signifikante Berührungen vor allem mit Dan 11,40-12,3 gleich in der ersten Spalte, mit dem Buch Numeri im Zusammenhang mit der Darstellung der kämpfenden Stämme und mit Gen 10 in Zusammenhang mit den eroberten Nationen. Außerdem dienen Dtn 20,2-4 und Num 10,9 als Basis für einige Ermutigungssprüche vor dem Kampf in 1QM 10,1-6. 7 Die Idee eines „Endkrieges“, in dem himmlische und irdische Kräfte involviert sind, kommt natürlich im Neuen Testament in der Offenbarung vor; vgl. hierzu den Beitrag von Manuel Vogel in diesem Band. Es gibt aber auch in diesem Fall keinen einzigen Beweis für eine direkte literarische Abhängigkeit oder gar intertextuelle Übernahme von irgendeinem Text zwischen beiden Werken. 8 Zur Verwendung der Wurzel הדע in den sogenannten sectarian writings vgl. die sehr guten, erschöpfenden und durchweg zustimmungsfähigen Ausführungen von Schultz, Conquering the World, 353-365. Schultz erkennt zutreffend eine priesterliche Kompo‐ nente, die allerdings nicht durchgehend gleich bleibt. So hat הדע in 1QS eine andere Bedeutungsschattierung als in den anderen Texten, in denen der Terminus vorkommt (insgesamt 141 Mal in den gesamten DSS - acht weitere Male kann man das Wort rekonstruieren). Die Schlussfolgerung ist relativ deutlich: Es gibt mehrere „Gemeinden“ aber nur einen jaḥad. nach der Bedeutung der kriegerischen Handlungen ist damit aber noch nicht befriedigend beantwortet. In der Folge soll versucht werden, einige Beobach‐ tungen anzuführen, um diese Problematik näher zu erläutern. Während biblische Anspielungen bzw. direkte Zitate aus dem Tanak in 1QM zu beobachten sind, 6 gibt es kaum literarische Kontakte mit anderen Schriften aus der Sammlung der Dead Sea Scrolls (DSS). Der solare Kalender und die Vorstellung, dass Engel das Leben der Menschen beeinflussen und zum Teil bestimmen, ist auch in anderen Texten weit verbreitet und keine Besonderheit der DSS. Die Organisation des Tempelgottesdienstes kommt sehr ähnlich auch in 11Q19 (Tempelrolle) vor, allerdings gibt es keine Evidenz für eine direkte literarische Abhängigkeit zwischen den beiden Texten. So bleibt neben der Organisation des Heeres Israels in Tausendschaften, Hundertschaften, Fünziger- und Zehnergruppen, die mit 1QSa (Gemeinderegel) gemeinsam ist, 7 lediglich die Auflistung von dualistischen Segens- und Fluchsprüchen (1QM 13,1-6 und 1QS 2,1-18) als gemeinsames Element zwischen 1QM und anderen Texten aus der judäischen Wüste. Dadurch dass sowohl die Schriften aus der Mals auch aus der S-Tradition zu den sectarian writings gehören, ist in diesem Zusammenhang wahrscheinlich kein Zufall. Doch obwohl die Bezeichnung jaḥad in 1QM immer wieder vorkommt, identifiziert sie nie eine besondere geschlossene Gemeinschaft wie in 1QS und in CD. 8 Schließlich stellen die Kriegsvorstellungen eine weitere Herausforderung dar: Sie sind nämlich innerhalb der DSS relativ selten. Von den mehr als 200 118 Simone Paganini <?page no="119"?> 9 Eine signifikante Anzahl von Belegen gibt es auch in 11QT (15x), 1QH (8x), 4QRP (6x) und 4Q402 [Sabbatopferlieder] (3x). Dazu B. Schultz, Art. םחל, lāḥam. 10 In Ex 15 wird JHWH selbst dreimal mit der Wurzel שדק in Verbindung gebracht, wobei er vor allem im Jesajabuch als „der Heilige Israels“ bezeichnet wird. Dreimal ist Gott in Jes 6 „heilig“ und dreimal wird in Ps 99 (3.5.9) JHWH auch in Verbindung mit שדק gebracht. Dazu Hugh G. M. Williamson, Isaiah and the holy one of Israel. Belegen für den terminus technicus המחלמ (Krieg) sind gut zwei Drittel in der Kriegsrolle oder in verwandten Texten 9 zu finden, sodass man sagen kann, dass in der Sammlung der DSS Kriegsvorstellungen lediglich eine untergeordnete Rolle spielen und nur im Zusammenhang mit der M-Literatur behandelt werden. Dennoch ist es nicht unerheblich, gerade die Vorstellungen von diesem Krieg zu analysieren, um ihren Stellenwert innerhalb der DSS für die damals lebenden Menschen beurteilen zu können. Zunächst geht es offensichtlich um einen Endzeitkrieg, der von Gott und seinem himmlischen Heer geführt wird. Es geht aber auch - aus Sicht der Menschen - um einen „heiligen Krieg“. Diese Sichtweise ist zweifelsohne nicht nur in der irdischen Welt zu finden. Aber was bedeutet „heilig“, wenn es um einen Krieg geht? Wie ist 1QM zu verstehen, wenn wirklich ein „heiliger Krieg“ dargestellt wird? Wie radikal sind die Gotteskämpfer, die in 1QM zum schrecklichsten aller Kriege aufgerufen werden? Und vor allem zu welchen Handlungen soll eine Schrift wie 1QM ihre Adressaten bewegen? In den folgenden Abschnitten wird als erstes die Bedeutung der Wurzel שדק (heilig) in Zusammenhang mit dem Krieg in der hebräischen Bibel diskutiert, woraufhin die gleiche Fragestellung innerhalb der qumranischen Kriegsrolle untersucht wird. Im dritten Abschnitt wird die Gattung von 1QM besprochen, da sie nicht unerheblich ist, will man die richtige Bedeutung der sich darin be‐ findlichen Aussagen zu verstehen. Im letzten Abschnitt wird die Rolle und die Relevanz der Vorstellung des Krieges Gottes, wie er in 1QM präsentiert wird, definiert, diskutiert und ausgewertet. 1 „Heilig“ (שדק) und „Krieg“ (המחלמ) in der hebräischen Bibel Die Sakralisierung von Gewalt und Krieg stellt ohne Zweifel ein Hauptthema innerhalb der theologischen Reflexion der hebräischen Bibel dar. Dennoch ist gerade die Bezeichnung „heilig“ im Zusammenhang mit dem realen bzw. literarischen Krieg extrem problematisch. Im Tanak werden viele Dinge als „heilig“ bezeichnet: Im Buch Levitikus wird eine ganze Gesetzgebung als „Heiligkeitsgesetz“ gekennzeichnet. JHWH ist heilig, 10 niemand ist so heilig wie er (1Sam 2,2), 11 dennoch soll auch das ganze Volk (Lev 11,44-45 und besonderes Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 119 <?page no="120"?> 11 Diese besondere Heiligkeit verlangt auch eine absolute Hingabe ( Jos 24,19). 12 Die Vorstellung, dass das Volk oder ein Teil davon heilig ist, ist natürlich nicht auf das Heiligkeitsgesetz beschränkt (Ex 19 ist z. B. ein paradigmatischer Text in diesem Zusammenhang). Das Volk ist nicht nur heilig, sondern es ist angehalten, sich zu heiligen ( Jos 3,5; 7,13; 1Sam 16,5). Dazu mit weiterführender Literatur Pancratius C. Beentjes, ‘Holy people’: The biblical evidence. 13 Die einzelnen Räume des Tempels und der Altar im Tempelbereich (Ex 29,36 bzw. Lev 8,10) sind ebenfalls heilig. Es wird sogar zwischen unterschiedlichen Stufen der Hei‐ ligkeit von den Außenbezirken bis zum Zentrum des Heiligtums, wo ursprünglich die Bundeslade deponiert war, differenziert. Dieser Ort wird als שדק םישדק (das Heilige der Heiligen bzw. das Allerheiligste) bezeichnet (Ex 26,33-34 und dann vermehrt in den Chronikbüchern). In 2Chr 8,11 ist auch der Königspalast Davids „heilig“, denn die Lade wurde ursprünglich dort beherbergt. 14 Insbesondere der höchste Priester ist heilig (Ex 28,3; 40,13; Lev 8,12) und trägt an seiner Kopfbedeckung eine Rosette mit einer Inschrift: שדק הוהיל (heilig für JHWH). Heilig sind schließlich auch die Leviten (2Chr 35,3). 15 Zu Ursprung, Einführung und Verwendung der Wendung „ Heiliger Krieg“ siehe im Detail Friedrich Wilhelm Graf, Sakralisierung von Kriegen. in Lev 19,2) bzw. die Gemeinde (Num 16,3) heilig sein. Dieser Grundsatz aus dem Heiligkeitsgesetz 12 wird in anderen Schriften der hebräischen Bibel erweitert, sodass vieles von dem, was mit Gott in Kontakt kommt oder zu seiner Einflusssphäre gehört, ebenfalls heilig ist. So sind zum Beispiel der Berg (zum ersten Mal in Ex 3,5), der Boden und allgemein die Orte, wo er erscheint (Ex 3,5 und Jos 5,1), heilig. Heilig sind dementsprechend dann auch das Heiligtum (Ex 28,29.35.43 u. a.) bzw. der Tempel (immer wieder ab 1Kön 8,8, insbesondere 8,10), 13 seine Stadt und auch besondere Menschen (2Kön 4,9). Daraus folgt wiederum, dass auch die Kultgeräte (Ex 30,29; Lev 8,11.30), die Schaubrote (1Sam 21,1-6), die Tempelgaben (u. a. 1Kön 7,51; 15,15), die Priester 14 (häufig ab Ex 28,41) sowie im übertragenen Sinn auch die Zeiten, die ihm gehören (Sabbat in Ex 21,14-15, Jobeljahr in Lev 25,10, Erntezeit in Dtn 22,9, Festtage im Allgemeinen in Neh 8,9-10), heilig sind. Interessanterweise und entgegen der allgemeinen Meinung wird die Wurzel שדק nur sehr selten in Zusammenhang mit Krieg, Kriegshandlungen, Kriegs‐ teilnehmern oder gar Kriegsgeräten verwendet. Die Wendung „Heiliger Krieg“ ist gar nicht biblisch. Dass diese Idee aber immer wieder mit den religiösen Institutionen des Alten Israels in Verbindung gebracht wird, hängt mit der ge‐ schichtstheologischen Rezeption von alttestamentlichen Texten vor allem im Zusammenhang mit den anti-napoleonischen Freiheitskriegen zusammen. 15 Dabei wird insbesondere auf die Kriege zur Eroberung des gelobten Landes im Pentateuch und im Buch Josua angespielt. Die wenigen Belege, in denen die Wurzeln „heilig“ und „Krieg“ in der Bibel in Verbindung stehen, sind nicht in den historischen, sondern in den prophetischen Büchern des Tanak zu finden. 16 120 Simone Paganini <?page no="121"?> 16 Richtungsweisend dazu der Aufsatz von Ulrich Berges, Heiligung des Krieges und Heiligung der Krieger. 17 Die Begrifflichkeit „Heiliger Krieg“ in Zusammenhang mit Israels Kampfhandlungen wurde ab den 1950er Jahren vor allem durch die Arbeiten von Gerhard von Rad entscheidend geprägt, vgl. v. a. Ders., Der Heilige Krieg im alten Israel. Wenn v. Rad allerdings meint, dass die wichtigste Kategorie bei einem „heiligen Krieg“ das Vertrauen auf die persönliche Hilfe einer Gottheit ist - im Fall des Volkes Israels eben von JHWH -, dann wären alle Kriege, die irgendwann im alten Orient geführt wurden, „heilige Kriege“ (vgl. hierzu auch den Beitrag von Raik Heckl im vorliegenden Band). Sakrale Züge wie die Vernichtungsweihe oder eine religiöse Begründung des Kampfes, sind selbstverständlich Ausdruck einer theologischen Dimension, sie kommen aber auch in völlig profanen Kontexten vor, ohne dass in den meisten Fällen in der altorientalischen Welt von einem „Heiligen Krieg“ die Rede sein muss; vgl. etwa Egon Flaig, ‚Heiliger Krieg‘, sowie Daniel Krochmalnik, Krieg und Frieden. 18 Jer 51,27-28 ist im Prinzip auch in dieser Richtung zu verstehen, dennoch wird das Objekt „Krieg“ hier nicht expliziert. 19 So zu Recht auch Berges, Heiligung, 51. 20 Siehe dazu mit weiterführender Literatur Berges, Heiligung, 53. 21 Für die weitere Forschung war die vorgenannte Arbeit von Gerhard von Rad, Heiliger Krieg, aus dem Jahr 1951 entscheidend. 22 Rudolf Smend, Jahwekrieg und Stämmebund. Die Änderung der Begrifflichkeit führte zunächst zu einer Entpolitisierung des Konzeptes des „Heiligen Krieges“ in Israel und erlaubte eine sachlichere Auseinandersetzung mit der Thematik, die bis heute andauert. Viermal kommt die Wurzel שדק in engem Zusammenhang mit Krieg vor: Es geht dabei aber nie um den „heiligen Krieg“, 17 sondern um die „Heiligung des Krieges“ ( Jer 6,4; Joel 4,9 und Mi 3,5 18 ) bzw. einmal ist auch die Rede von „geheiligten Kriegern“ ( Jes 13,3). Die Verbwurzel שדק im Intensivstamm hat allerdings nor‐ malerweise ganz andere Objekte: Opfertiere (Ex 29,27), Kultgeräte (Ex 29,36f), kultische Zeiten (Gen 2,3), Festversammlungen (2Kön 10,20), Fasten ( Joel 1,14). Ob der „geheiligte Krieg“ eine besondere und daher zu heiligende „Zeit“ dar‐ stellen könnte, stellt eine sehr interessante Möglichkeit dar. Diese These ist al‐ lerdings ziemlich problematisch, da der zeitliche Aspekt in einem Kriegszusam‐ menhang nie eine Rolle spielt. 19 Die drei Stellen, in denen von der „Heiligung“ des Krieges die Rede ist, haben außerdem einen klaren endzeitlichen Charakter. Die Endschlacht, wie sie zum Beispiel in der Vision aus dem Joelbuch dargestellt wird, dient dazu, die letzte Entscheidung herbeizuführen, nach der die feindli‐ chen Völker untergehen werden und Judäa den Sieg erringen wird. Damit wird auch das Heil für Jerusalem erreicht. 20 Vor allem die Kämpfe zur Eroberung des gelobten Landes wurden als „Heilige Kriege“ verstanden, 21 bevor Rudolf Smend sie zu „Kriegen JHWHs“ erklärte und dabei entscheidend half die Auslegungsperspektive zu ändern. 22 Auch spätere Arbeiten stellten unmissverständlich fest, dass weder in der hebräischen Bibel noch in ihrer altorientalischen Umwelt zwischen profanem und religiösem Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 121 <?page no="122"?> 23 Manfred Weippert, Heiliger Krieg in Israel und Assyrien, 490. 24 Dazu ausführlich in Flaig, Heiliger Krieg, 276-283 und Graf, Sakralisierung von Kriegen, 17-26. 25 So zum Beispiel die ansonsten sehr gute, präzise und ausdifferenzierte Studie von Flaig, Heiliger Krieg, 265-302. 26 Das klassische Beispiel diesbezüglich ist der Text der Mesha-Stele. Das Schicksal von Moab hängt nämlich davon ab, ob der Gott Kemosch mit Moab kämpft oder nicht. Siehe die gute Überblicksdarstellung von John Andrew Dearman, Historical Reconstruction and the Mesha Inscription, sowie den Beitrag von Raik Heckl in diesem Band. Krieg unterschieden wird. 23 Dennoch bleibt die (literarische) Tatsache erklä‐ rungsbedürftig, dass der Gott Israels in die Geschichte seines Volkes eingreift und es Kriege gewinnen bzw. verlieren lässt und er in der Folge selber als „Held“ („göttlicher Held“ in Jes 9,5 und 10,21; Ps 24,8) sowie als „Mann des Krieges“ („großer Held“ Dtn 10,17; Jer 32,18; Neh 9,32), „Befehlshaber der Heere“ (Ps 24,10) oder „Herr der Heerscharen“ (1Sam 1,3) mit Rüstung und Bogen (SapSal 18,15) erscheint. Aber auch diese beiden Problematiken sind nicht spezifisch israelitisch, sondern entsprechen den diffusen Vorstellungen der altorientalischen Umwelt Israels. 24 Im gesamten Tanak ist weder eine einheitliche Kriegsideologie noch eine präzise Idee von der Heiligkeit, die Kriegshandlungen rechtfertigen und legitimieren könnte, auszumachen. Der Kriegsdiskurs ist nicht nur spannungsreich, sondern polyphon. Der Versuch, eine Typologie darzustellen, führt zu einer Aporie und endet meistens in einer rein beschreibenden Perspektive, 25 die wenig ergiebig ist. Der Krieg ist in dem Zusammenhang vor allem eine theologische Kategorie, die dazu dient, die Rolle Gottes zu definieren. Für die hebräische Bibel ist nicht wichtig, wer den Krieg beginnt, führt oder letztendlich gewinnt, sondern wie die Stellung JHWHs zum Krieg aussieht. Und gerade auf dieser Ebene kann man sehr interessante Variationen beobachten. Wenn Gott auf der Seite seines Volkes Israels steht, ist es stets seiner Initiative zu verdanken, dass das Volk - oder ein Teil davon - aus der militärischen Bedrohung gerettet wird oder den Gegner bezwingen kann. Militärische Aktionen Israels führen hingegen unvermeidlich zu herben Niederlagen, wenn Gott nicht mit in den Krieg zieht. Diese beiden Aspekte sind Allgemeingut der altorientalischen Kriegsideologie. 26 Die Vorstellung, dass Gott aktiv gegen sein eigenes Volk mit Kriegsgewalt agieren kann, ist hingegen rein israelitisch. In der Tat kann JHWH sogar fremde Völker beauftragen, gegen Israel zu ziehen, um das Volk zu bestrafen. Schließlich wird in der vierten und letzten theologischen Dimension der Beziehung von Gott zum Krieg JHWH als derjenige angesehen, der gegen den Krieg selbst zu Felde zieht, indem er die gängigen Waffen zerbricht, zerstört oder gar umschmiedet. 122 Simone Paganini <?page no="123"?> 27 Zur Heiligkeit in den DSS allgemein siehe die ausführliche und in ihren Schlussfolge‐ rungen durchaus nachvollziehbare Studie von Lawrence H. Schiffman, Holiness and Sanctity in the Dead Sea Scrolls. 28 Gudrun Holtz, Art. שדק, qādaš. 29 So auch in 4QM a 16,3. 30 Die Engel werden als „Heilige im Himmel“ bezeichnet und residieren in der Wohnstätte der Heiligkeit Gottes (1QM 12,2). 31 Insbesondere in 1QM 9,7-9. 32 Brian Schultz, Art. םחל, lāḥam. Diese Deutungsmuster lassen sich allerdings weder diachron noch synchron in eine sinnvolle und stringente Chronologie bringen. Der Weg verlief nicht etwa geradlinig von der Befürwortung militärischer Gewalt zu deren Ableh‐ nung. Meistens geht es in diesen Texten um Geschichtsdeutung und um die Sicherung der Fortdauer der Identität eines häufig im Krieg unterlegenen Volkes. Trotz aller Differenzierungen steht eines dennoch fest: Die Tatsache, dass Gott, Engel und sonstige himmlische Wesen im Kontext einer religiösen, ja sogar liturgischen Handlung Krieg führen, reicht nicht aus, um aus diesem Kriegsgeschehen einen „Heiligen Krieg“ zu machen. Welcher theologische Wert dieses Krieges daraus folgt bzw. folgen wird, ist ebenfalls immer wieder neu zu bestimmen. 2 „Heilig“ und „Krieg“ in 1QM Die Kriegsrolle kann als weiterer Diskussionsbeitrag zum Kriegsdiskurs, der sich auf die hebräische Bibel bezieht, verstanden werden. 27 In 1QM kommt die Wurzel שדק 22 Mal als Nomen und 17 Mal als Adjektiv vor. 28 So wie im Tanak ist auch in 1QM vieles „heilig“. Zunächst ist der Schöpfer, der im eschatologi‐ schen Krieg Israel vor seinen Feinden rettet, selber heilig (1QM 10,9-16). Un‐ mittelbar danach wird das Volk als „Versammlung der Heiligen des Bundes“ definiert. Das Volk ist „heilig“, weil es erwählt wurde 29 und daher darf es auch die heiligen Engel 30 anschauen (1QM 10,10). Diese Heiligkeit befähigt schließlich auch zur Führung des Krieges (1QM 3,4). Im Bereich der Heiligkeit sind auch bestimmte Festzeiten auszumachen: die „festgesetzten Zeiten der Heiligkeit“ (1QM 10,15). Ferner sind auch die gerichtlichen Entscheidungen Gottes „heilig“ (1QM 17,2 und auch 1QM 11,15). Sowohl die Priester 31 als auch das Lager und der Tempel gehören ebenfalls zum Bereich der Heiligkeit. Obwohl in keinem anderen qumranischen Text so oft von einem konkreten Krieg die Rede ist wie in 1QM, 32 ist die Differenzierung zwischen einer militä‐ rischen Unternehmung und einem kultischen Geschehen nicht definitiv geklärt. Gott bleibt der Befehlshaber und das Kriegsheer wird von himmlischen Mächten Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 123 <?page no="124"?> 33 Die neueste ausführliche Untersuchung zu 1QM - Schultz, Conquering - erkennt zweifelsfrei die diachrone Entstehungsgeschichte der Rolle, die Auslegung geschieht dennoch weitgehend auf einer synchronen Ebene, sodass der Text als eine eigenständige und durchaus kohärente Komposition angesehen werden kann. Scacewater, Literary Unity, vertritt die gleiche Meinung. Er geht von einer einzigen in drei Phasen organi‐ sierten Kriegshandlung aus. 34 Scacewater, Literary Unity, 228 stellt eine präzise Synopse der Anspielungen bzw. der intertextuellen Bezüge zwischen Dan 11 und 1QM 1 vor. Dazu auch Schultz, Conquering, 91-98. unterstützt. Es bleibt aber weitgehend unklar, inwieweit der Konflikt auf dem Feld oder aus einer liturgischen Perspektive gemeint ist. Die beschriebenen Kriegshandlungen, die Segensgebete und die Darstellung der Organisation des Heeres sind alles andere als einheitlich, sodass eines der Hauptprobleme im Zusammenhang mit der Interpretation der Kriegsrolle die Frage nach ihrer literarischen Einheitlichkeit ist. 33 Die Eröffnungszeilen der ersten Kolumne weisen klar auf eine Übernahme bzw. Überarbeitung von Dan 11,40-12,3 hin. 34 Die wenigen noch vorhandenen Stämme Israels in Judäa (Levi, Juda und Benjamin) werden gegen das Heer des Dämons Belial kämpfen. Das Heer der „Söhne der Finsternis“ besteht demnach aus sechs fremden Völkern, die zusammen mit Abtrünnigen aus dem Volk Israel die Überbleibsel des Volkes - die „Söhne des Lichts“ - angreifen werden. Die Feinde werden als „Kittim“ bezeichnet und die Mitglieder des Volkes benennen den Ort des Endkampfes als „Wüste von Jerusalem“. Das Exil ist nicht mehr real, sondern wird geistig verstanden (1QM 1,1-4) und kann daher sogar ins gelobte Land übertragen werden. Die Schlacht entwickelt sich in einer Abfolge von sieben Kämpfen, wobei die sich im Krieg befindenen Parteien abwechselnd siegreich sind. Im siebten und entscheidenden Gefecht erringt Gott auf wunderbare Weise den Sieg für die „Söhne des Lichts“. Dieser Sieg, obwohl bereits erlangt, ist trotzdem noch nicht eingetroffen. So wird in 1QM 2-5 die Vorbereitung für den endgültigen Kampf beschrieben und die Regeln für die Verwendung von Trompeten, Bannern, Fahnen und Schilden erklärt. Die folgenden Kolumnen - von 1QM 6 bis 1QM 9 - beschäftigen sich mit der Zusammensetzung des Heeres - Infanterie und Reiterei - sowie mit der Musterung der Soldaten und der Rolle von Priestern und Leviten, bevor das lange Gebet des Hohenpriesters ausführlich wiedergegeben wird (1QM 9-12). In 1QM 12-14 werden die Segensgebete der Führer der Gemeinschaft sowie die Dankrituale nach dem Sieg vorgestellt. Die abschließenden Kolumnen (1QM 15-19) beschreiben wiederum den letzten Kampf und erteilen Anweisungen an die bereits in 1QM 7-9 genannten Priester, wie sie ihre Führungsaufgabe 124 Simone Paganini <?page no="125"?> 35 In diesem Zusammenhang spielen die Gebete aus 1QM 10-14 eine wesentliche Rolle. 36 Yadin, The Scroll of the War. 37 Carmignac, La Règle de la Guerre. 38 Ausführlich und mit weiteren Literaturhinweisen Duhaime, The War Texts. 39 Harrington, ‘Holy War’ texts, 177. 40 Zu den unterschiedlichen Deutungsmustern und Theorien siehe im Detail das vorge‐ nannte, immer noch präzise und richtungsweisende Werk von Davies, 1QM: The War Scroll from Qumran. 41 Dazu ausführlich in Duhaime, The War Scroll from Qumran and the Greco-Roman Tactical Treatise, und Gmirkin, The War Scroll and Roman Weaponry reconsidered. 42 Der erste, der diese Idee vertrat, war Yadin, The Scroll of the War. während der letzten Schlacht ausüben sollen. 35 Diese letzte Schlacht ist deutlich breiter angelegt als in 1QM 1: Gegner sind nun alle Völker. Obwohl der Krieg nicht direkt als „heilig“ bezeichnet wird, ist es offensicht‐ lich, dass Gott als Protagonist auftritt und dass himmlische Heere mitkämpfen. 1QM 4,12; 9,5 und 15,12 identifizieren außerdem den Krieg ganz offensichtlich als המחלמ לא : Krieg Gottes. Gott ist der mächtige Held des Krieges (1QM 12,9) und deswegen „gehört [der Krieg] ihm allein“ (mehrfach wiederholt in 1QM 11,1-4). Gerade die Intervention Gottes gibt Sicherheit, dass der Krieg auch ge‐ wonnen wird. Dabei ist er zunächst nicht derjenige, der den Krieg rechtfertigt, autorisiert oder gar durchführt, sondern derjenige, der als Garant für den Sieg eintritt. Die Diskussion, ob 1QM einen „Heiligen Krieg“ beschreibt oder nicht, kann nur in einem breiteren Kontext über das generelle Verständnis dieser Schriftrolle geführt werden. 3 Liturgische Abhandlung, Kriegshandbuch oder Apokalypse: Was ist 1QM? Die internationale Forschung hat sich seit den frühen Publikationen von Yigael Yadin 36 und Jean Carmignac 37 ausführlich mit der diachronen Entstehung des Textes und damit einhergehend auch mit der Gattung der Komposition beschäftigt 38 . „What is it? “ formulierte es Daniel J. Harrington 2006 prägnant in der Festschrift für Eugene Ulrich. 39 Diese Frage ist alles andere als banal, denn auf einer rein methodischen Ebene ist es unvermeidbar zu verstehen, zu welcher Gattung 1QM gezählt werden kann, um die Textaussage über den darin beschriebenen Krieg richtig zu erkennen und einzustufen. 40 Der Versuch 1QM als militärische Anleitung für einen realen Krieg zu interpretieren 41 wurde immer wieder unternommen. 42 Gleichzeitig würde eine derartige Position auch die immer wieder aufgegriffene Theorie bestätigen, dass die Qumran-Siedlung so etwas wie ein Militärlager gewesen sei. 43 In der Tat Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 125 <?page no="126"?> 43 Norman Golb, Qumran. 44 Die Forschergemeinschaft ist sich allerdings nicht einig, ob hellenistische oder gar römische Militärtechniken im Hintergrund der Ausführungen von 1QM eine Rolle spielen. Dazu Brian Schultz, Not Greeks but Romans. 45 Im Zusammenhang mit dieser These kann man selbstverständlich in der Kriegsrolle eine gewaltverherrlichende Schrift sehen. In der Tat ist eine solche Einstellung relativ problematisch. Die Spannung im Text geht ganz klar von der Vorstellung einer gedachten Gewalt und nicht so sehr von einer praktischen, konkreten Gewalt aus, denn 1QM ist „exceptionally unrealistic in its outline of the war“, so Alex P. Jassen, Violent Imaginaries and Practical Violence, 182. 46 Detaillierter in Joseph L. Angel, Otherworldly and eschatological priesthood, 196-202. 47 Siehe dazu Simone Paganini, Priester an der Macht. 48 Er „stärkt das Herz“ der Soldaten und gibt ihnen Mut (1QM 16,13-15; 10,2-3); er betet unmittelbar bevor der Kampf beginnt (15,4); er ist Fürbitter, um zu erreichen, dass JHWH an der Seite des Volkes kämpfen wird (18,5). 49 „(1) …Und die Häupter der Priester ordne man ein nach dem Priesterhaupt und seinem Stellvertreter, damit sie Dienst tun vor Gott. […] (2) Nach ihnen die Häupter der Leviten, um regelmäßig zu dienen […]. (3) Die Häupter der Stämme und Familien der Gemeinde nach ihnen, um regelmäßig an den Toren des Heiligtums zu stehen […(6)…] Alle diese soll man rangmäßig einordnen zum Termin des Jahres der Freilassung.“ beschäftigt sich 1QM mit sehr konkreten Fragen, die sowohl die Kriegsstrategie als auch die Zusammensetzung des Heeres betreffen. Die Regelungen über Trompeten, Banner, Waffen und Kriegshandlungen sind zweifelsohne eine wichtige Quelle für die israelitisch-jüdische Militärgeschichte aus dem 1. Jh. v. Chr. 44 Dennoch geben zumindest zwei Beobachtungen - einmal über die Führungsriege dieses Krieges und einmal über die Zusammenstellung des Heeres - Anlass zu einer differenzierteren Sicht. 45 Die Rolle des Priesters, dem grundsätzlich eine hohe Verantwortung im Kriegsfall zugesprochen wird, d. h. während der eschatologischen Kämpfe zwischen Gut und Böse, 46 lässt zunächst einige Fragen bezüglich der militärischen Fähigkeiten der Heerführer aufkommen. In 1QM geht es nämlich um die Beschreibung der eschatologischen Kämpfe der Söhne der Finsternis gegen die Söhne des Lichts und jeder Schritt dieser Kämpfe wird von Priestern begleitet. 47 Mehr als 30 Mal kommen Priester in 1QM vor. Manche ihrer Aufgaben sind im Einklang mit der biblischen Tradition: Sie sprechen Gebete und Segnungen aus und blasen in die Hörner. Sie stehen aber nie in einem direkten Zusammenhang mit Gewalt bzw. mit direkten kriegerischen Handlungen, sie führen lediglich die liturgischen Aktionen vor und nach den Gefechten durch. 48 Außerdem wird der Priester in 1QM 2,1-6 als derjenige präsentiert, der die kultischen, liturgischen Handlungen im Tempel während der neuen, nach dem Sieg gegen die Söhne der Finsternis eintretenden eschatologischen Zeit leiten wird. Diese erste Funktion gilt auch als Legitima‐ tionsinstanz für alle anderen Tätigkeiten, die er ausüben wird. 49 In 1QM sind 126 Simone Paganini <?page no="127"?> 50 Siehe z.-B. äthHen 10,11-16; 11QMelch; 1QM 17,6-8; 4Q402 1-4. 51 Eine weitere Frage, die in der Literatur in diesem Zusammenhang immer wieder aufgegriffen wird, hängt mit der realen Möglichkeit des Gebrauchs der Gebete und Rituale aus 1QM vor einem konkreten Krieg zusammen. Durhaime, The War Texts, 59-60, schließt zumindest die Möglichkeit nicht aus, dass die Gebete aus 1QM von Priestern, die kämpfenden Truppen nahe standen, als Vorbereitung zu einer konkreten Kampfhandlung gebraucht wurden. Weitzman, Warring against terror, 217 betont zu Recht, dass es unmöglich ist, diese Frage mit endgültiger Sicherheit zu klären. 52 North, ‚Kittim‘ War or ‚Sectaries‘ Liturgy? . 53 Holm-Nielsen, Hodayot, beschreibt 1QM als „a liturgical text … a sort of cultic Drama“. Für weitere Literaturhinweise vgl. die neueste Studie, die sich mit dieser Thematik beschäftigt: Falk, Prayer, Liturgy, and War. es die Priester, die kriegerische Handlungen einleiten und es sind Priester, die - obwohl sie nie direkt ins Kriegsgeschehen eingreifen - im Kampf eine viel wichtigere Rolle spielen als die Laien-Soldaten und die Heerführer. In diesem Sinne stehen sie ganz in der nachexilischen Tradition der eschatologischen, engelartigen Priestergestalten wie Michael und Melkisedek 50 und können nicht wirklich als reale Führergestalten angesehen werden. Aber auch die Zusammensetzung des Heeres lässt Zweifel über die reale Wirksamkeit der in 1QM vorgeschlagenen Kriegshandlungen aufkommen. In 1QM 6,3-7,7 wird nicht nur die Ausrüstung von Reiterei und Infanteristen beschrieben, sondern es werden auch Angaben über ihr Alter gemacht. Und plötzlich sieht man, dass die Truppen dieser Armee sehr alt sind. Unter den 6000 Reitern sollen sich zwei Abteilungen bilden. Die erste soll mit schnellen, im Maul weichen, ausdauernden, reifen, kampferprobten, Lärm und alle Arten von Kriegsschauplätzen gewöhnten Pferden gebildet werden und mit Männern, die zwischen 30 und 45 Jahre alt sind. Die Reiter der übrigen Streitmacht sollen noch älter sein (zwischen 40 und 50 Jahre). Die 28.000 Infanteristen sind ebenfalls zwischen 40 und 50 Jahre alt, wobei die Befehlshaber der Lager und die Amtsträger gut 10 Jahre älter sind, nämlich zwischen 50 und 60. 1QM sieht demnach eine sehr alte Armee vor, die von Priestern geleitet wird. Es ist kaum vorstellbar, dass eine derartige Truppe eine reale Chance gehabt haben könnte, gegen seleukidische oder gar römische Soldaten zu bestehen. 51 Eine weitere Theorie sieht in 1QM nichts Weiteres als eine kultische, litur‐ gische Abhandlung. Robert North 52 beschrieb bereits 1958 den ersten Teil der Rolle (1QM 1-9) als „sacristan’s manual for preparing paraphernalia“ und darauf aufbauend den zweiten Teil (1QM 10-19) als „priests’ ritual“. Er schrieb weiter von einer „allegorical-dramatic-liturgical“ Funktion der Schrift. Nach ihm haben zahlreiche Forscher diese Idee aufgegriffen und weiterentwickelt. 53 Diese These sieht vor allem einen engen Zusammenhang zwischen dem täglichen Gebet und Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 127 <?page no="128"?> 54 So überzeugend Flusser, The Magnificat, the Benedictus, and the War Scroll. 55 Falk, Prayer, 285. 56 Falk, Prayer, 293, kommentiert am Ende seiner präzisen Studie dennoch: „however, it [die These eines liturgischen Gebrauchs von 1QM] is highly suggestive.“ Er mag auf dieser Basis Recht behalten, aber „suggestive“ reicht nicht wirklich aus, um eine Argumentation zu begründen. 57 Vgl. Flusser, Apocalyptic elements in the War Scroll, und Duhaime, La Règle de la Guerre. 58 In der Tat würde die Behandlung dieses zweifelsohne sehr interessanten Themas die Grenze dieses Aufsatzes sprengen. Dazu Müller, Art. Apokalyptik. Die Schwierigkeit, sich mit dem Phänomen „Apokalyptik“ auseinanderzusetzen, wird nicht nur auf makrostruktureller Ebene diskutiert. Auch hinsichtlich der Rezeption des Buches Daniel in 1QM I gehen die Meinungen auseinander. John Collins sieht gerade in dieser abweichenden und fortschreibenden Rezeption ein „point of transition“ zwischen un‐ terschiedlichen apokalyptischen jüdischen Vorstellungen; vgl. Collins, The Mythology of Holy War. der eschatologischen Dimension, die in einem endzeitlichen Krieg gipfelt. In der Tat besteht fast die Hälfte der Kriegsrolle aus Gebetstexten bzw. Perikopen, die einen kultischen und liturgischen Hintergrund aufweisen. Die konkrete Durchführung der vorgestellten Liturgie und der kultischen Handlungen ist dennoch alles andere als klar definiert. Die meisten Segensgebete spiegeln eher eine unbestimmte Situation wider, die ebenso in vielen anderen Gebetstexten vorzufinden ist. 54 Dass Gebete und kultische Rituale im Zusammenhang mit martialischen Handlungen immer wieder vorkommen, ist selbstverständlich keine Besonderheit der israelitischen Religion, sondern vielmehr im antiken me‐ diterranen Raum sehr häufig belegt. 55 Dennoch sind auch die meisten Vertreter dieser Theorie der Meinung, dass gerade diese diffuse Argumentation keine ausreichende Begründung für den liturgischen Gebrauch von 1QM ist. 56 Liturgie und Rituale spielen in 1QM vor allem in der Vorbereitung zur Kampfhandlung eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang werden sie aber als Mittel zum Zweck eingesetzt und stellen nicht das Ziel dar. Die Auffassung von 1QM als apokalyptische Schrift hat immer wieder eine gewisse Anziehung ausgeübt. 57 Auch in diesem Fall - wenn man sich mit der Problematik der Definition und Bestimmung von Apokalyptik nicht auseinan‐ dersetzen will 58 - ist 1QM nur bedingt ein apokalyptischer Text. Es herrscht in der Forschung ein allgemeiner Konsens, dass apokalyptische Texte eine Ge‐ heimbotschaft für Auserwählte vermitteln sollen. Abgesehen vom Bewusstsein des endgültigen Sieges wird in 1QM aber sonst nichts offenbart. Es fehlen außerdem die beiden weiteren Hauptmerkmale der Apokalyptik: 1QM ist weder eine pseudepigraphische Schrift noch beinhaltet sie fiktive Prophezeiungen. Thematisch geht es schließlich in apokalyptischen Schriften um die Darstellung 128 Simone Paganini <?page no="129"?> 59 Davies, War of the Sons of Light, 966 ist diesbezüglich noch klarer in der Darstellung seiner Meinung: „the War Scroll (1QM) is clearly not an apocalypse: no heavenly revelation is claimed.“ 60 Duhaime, La Règle de la Guerre (1QM) et la construction de l’identité sectaire. 61 Der übliche Hinweis auf das Ende des Widerstandes in der jüdischen Festung von Masada am Toten Meer im ersten Krieg gegen die Römer 74 n. Chr. wird in diesem Zusammenhang gerne als Beleg angeführt, dass die Vorstellungen von 1QM nicht allzu weit von der Realität radikaler jüdischer Gruppierungen entfernt gewesen sein müssen. So z. B. Davies, Qumran and Apocalyptic, sowie Alexander, The Evil Empire. Leider wurde in Masada kein einziges Fragment von 1QM oder von einer inhaltlich ähnlichen Schrift gefunden. Die Vorstellung, Gott würde den Krieg gegen die Römer zugunsten der Juden entscheiden, ist in keiner der antiken Quellen zum jüdischen Krieg bekannt. 62 Schultz, The Kittim of Assyria. von geschichtlichen Ereignissen, die das bevorstehende Ende der Geschichte beschreiben und berechnen. In 1QM geht es aber weder darum, den genauen Termin der Endzeitereignisse zu errechnen, noch darum, die Vorzeichen einer neuen Ära zu erkennen. Der Kampf wird nicht im Himmel geführt, auch wenn letztlich in 1QM himmlische Gestalten den Kampf entscheiden, sondern auf der Erde vorbereitet, und irdische Truppen bzw. Akteure müssen auf verschiedenste Weisen mitwirken. Was nach dem Sieg beim Endzeitkrieg passiert, wird in 1QM nicht thematisiert. Es geht in der Kriegsrolle zweifelsohne um einen eschatologischen Endkampf - der am Ende der Zeit stattfinden soll -, aber nicht unbedingt um Apokalyptik. 59 Unzweifelhaft ist 1QM eine ideologische Schrift, die selbstverständlich eine identitätsstiftende Funktion für Autoren und Adressaten hatte. 60 Die Forschung ist sich darin weitgehend einig, ebenso wenn es darum geht, 1QM als sectarian writing zu definieren. Unabhängig davon, welche Gemeinschaft im Hintergrund der Rolle ausgemacht werden kann, dient 1QM dazu, wesentliche Weichen vor allem in Zusammenhang mit der Vorstellung des Endes der Zeit zu definieren. Der Endkrieg, in dem Gott das letzte Wort spricht, und der daher siegreich beendet wird, war ein nicht zu unterschätzender Aspekt innerhalb einer ge‐ wissen jüdischen Spiritualität. 61 Aber nicht nur die Endzeit, sondern auch die in 1QM vorkommenden Feinde spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn Gemeinschaft definiert sich nicht nur positiv durch die Nennung von gemeinsamen Eigenschaften, sondern häufig auch in Abgrenzung zu den „Außenstehenden“. Die bildhaften „Söhne der Finsternis“ werden in den ersten Zeilen der Rolle immer wieder konkret benannt und mit dem Sammelbegriff „Kittim“ bezeichnet. Problematisch ist jedoch die Tatsache, dass die Kittim mit der Spezifizierung „von Assur“ (1QM 1,6) näher bestimmt werden. 62 Das ist eine einmalige Formulierung, die das Verständnis des Begriffs eher verkompliziert als vereinfacht. Die Problematik der Identifikation der Kittim ist de facto Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 129 <?page no="130"?> 63 Eshel, The Kittim in the War Scroll, schlägt eine chronologische Entwicklung des Begriffes, der je nach Werk entweder die seleukidischen Herrscher oder die Römer meinen kann. 64 Viel detaillierter und mit zahlreichen Hinweisen zu weiterführender Literatur Schultz, Conquering, 127-158. 65 So zurecht Jassen, Violent Imaginaries, 203: „The War Scroll is a complex text that defiles simple classification.“ 66 Harrington, ,Holy Warʽ Texts, 181, kommentiert zutreffend: „These texts appear to be more theological treatises than military manuals.“ immer noch ohne eine befriedigende Lösung. Sehr wahrscheinlich wollten die Autoren von 1QM aber keine besondere Nation damit identifizieren. In den sectarian writings sind die Kittim häufig eine Chiffre für den letzten, endgültigen eschatologischen Feind. 63 In diesem Sinne ist es für 1QM nicht wirklich bedeu‐ tend, konkrete Gruppierungen den Kittim zuzuordnen, sondern den Begriff schlicht als die Summe der Feinde zu verstehen, gegen die die Gemeinde als Einheit kämpfen muss. 64 Diese ideologische Funktion von 1QM ist sehr wichtig, um die Schrift - und damit einhergehend die Werthaltung gegenüber dem Kriegsgeschehen - zu verstehen. 1QM ist dennoch vielschichtiger. 65 4 1QM: Krieg und Theologie Die Beteiligung Gottes und der Engel am Kriegsgeschehen ist ein wesentliches Element für das Verständnis der Position zum Krieg und der dazugehörenden Theologie von 1QM. Die Kriegsrolle beschreibt zweifellos Kriegshandlungen und kann als Quelle für die Militärgeschichte Judäas im 2./ 1. Jh. v. Chr. herangezogen werden. Möglicherweise ist sie auch eine eschatologische Schrift, da der beschriebene Krieg nur wenig mit einem normalen weltlichen Krieg zu tun hat. Im Zusam‐ menhang mit Liturgie und kultischen Handlungen kann die Rolle ebenfalls als identitätsstiftende Schrift verstanden werden. 1QM ist aber keine eindeutig apokalyptische Schrift, obwohl sie apokalyptische Elemente aufweist. Diese unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Elemente gestalten innerhalb der Rolle einen Diskurs, der schließlich auf eine klare theologische Absicht abzielt. 66 Dass eine kriegerische Kulisse ausgewählt wird, um Theologie zu vermitteln, ist in dieser Form etwas völlig Neues im Panorama der jüdischen Literatur der nachexilischen Zeit. Die Beschreibung der Waffen und der Kampfordnung, die Gebete und die Banner, die die unterschiedlichen Truppen tragen, sind allesamt fiktive Elemente, die ganz klar dazu dienen, die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Urheber und Teilnehmer des Kriegs zu lenken: Gott. Der Krieg 130 Simone Paganini <?page no="131"?> 67 Davies, Dualism and eschatology in 1QM, und noch detaillierter Davies, Dualism in the Qumran War Texts. 68 Die „Helden des Krieges“, der „Herr seiner Geister“, die „Heiligen“, das „Heer der Engel“ (1QM 12,8-9) und auch die „Ordnungen der Heiligen“ (1QM 15,13-14) nehmen an der Schlacht teil. 69 Die Wendung המחלמ הכל wird in 1QM 11,1-4 innerhalb eines Gebetes mehrfach wie‐ derholt. ist ein Werk seiner Hände (1QM 11,7). Dass er der „starke Gott im Krieg“ ist, kommt sogar auf den Kriegstrompeten als Inschrift vor (1QM 3,8). Die Gemeinde, die ausersehen ist, um am Kriegsgeschehen teilzunehmen, soll vor allem kultisch rein sein. Auch wenn sie die „Söhne des Lichts“ sind, dürfen sie nicht an der Schlacht teilnehmen, wenn sie sich in einer Situation der Unreinheit befinden (1QM 7,6). Diese Gemeinde führt vor allem liturgische Handlungen durch, kämpft nie direkt und bleibt grundsätzlich passiv. Der Krieg Gottes wird zwar nicht im Detail dargestellt, er ist dennoch ganz anders als der Krieg, den die Menschen führen würden. Nicht nur der Krieg an sich, sondern auch und vor allem der Sieg ist allein die Sache Gottes. Die Söhne des Lichts gewinnen nicht, weil sie die richtigen Waffen haben oder die kultisch angemessenen Gebete vor dem Kampf aussprechen, sondern einzig und allein, weil sie sich auf die Seite der richtigen Gottheit gestellt haben. Grundsätzlich wird der Krieg also gewonnen, weil Gott und seine Engel mitkämpfen und nicht weil die Soldaten oder Priester die richtigen liturgischen Handlungen durchführen bzw. die korrekte Ausrüstung tragen. Die zwei Parteien, die gegeneinander antreten, zeigen eine starke dualistische Position - gut gegen böse -, die allerdings nicht durch die ganze Schrift konse‐ quent beibehalten wird. 67 Der Krieg ist endgültig und schrecklich (1QM 1,12), aber er wird das Volk Gottes von allen verbliebenen bösartigen Elementen be‐ freien und es reinigen (1QM 17,2-3). Der Krieg beeinflusst auch die himmlische Sphäre, wenngleich die Erzengel und ihr Hauptkontrahent Belial nie direkt ge‐ geneinander als Gegner antreten. Es handelt sich dennoch nicht um irgendeinen normalen Krieg. In 1QM wird dieser Krieg dreimal ganz eindeutig als „Gottes‐ krieg“ definiert ( המחלמ לא in 1QM 4,12; 9,5 und 15,12). Nicht nur göttliche 68 und menschliche Wesen sind miteinander am Werk (1QM 1,10-11. 14-16), sondern der ganze Krieg gehört Gott 69 und er selber ist der „Held des Krieges“ (1QM 12,9). 5 Ausblick: Krieg und Emotionen In 1QM geht es fraglos um Krieg. Dieser Krieg wird allerdings nie als „heilig“ bezeichnet und die Tatsache, dass sowohl Gott als auch seine Engel daran Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 131 <?page no="132"?> 70 Die Meinung von Jassen, Violent Imaginaries, 203: „The War Scroll as a violent imaginary legitimates the violence of the eschatological war…“ ist meines Erachtens nur aus der Perspektive des möglichen ursprünglichen Adressatenkreises verständlich. Jassen geht davon aus, dass die Kriegsrolle sectarian writing für die von ihm angenom‐ mene Qumran-Gemeinschaft sehr wohl eine praktische Anwendung gehabt haben könnte. Es ist aber sehr problematisch diese Position unhinterfragt zu akzeptieren. Die angesprochene Gruppe der „Söhne des Lichts“ ist nicht bloß eine reale Gruppe, sondern viel eher eine Chiffre. Und der Kampf, den sie gewinnen werden, hat wenig mit einer realen gewalttätigen Auseinandersetzung in eschatologischen Zeiten zu tun. Es geht vielmehr um einen breiten Diskurs über die Rolle von Krieg und Gewalt in der gegenwärtigen Identitätsbildung der jeweiligen realen Leser der Rolle und nicht nur für die potentiellen ursprünglichen realen Adressaten. 71 Weitzman, Warring against Terror. Seine Beobachtungen sind sehr präzise und durchaus nachvollziehbar. teilnehmen, ist - parallel zur biblischen Tradition - noch lange kein Grund die Heiligkeit dieses Krieges anzunehmen. Ähnliches gilt für die Wertung, die die Schriftrolle über Gewalt und Gewaltanwendung vermittelt. Die Gewalt ist selten real, sondern viel häufiger nur eine imaginäre Vorstellung. 70 Dennoch bleibt sie eine entscheidende und letztendlich unverzichtbare Kategorie in der Dynamik der Kriegsrolle. Zudem weist der Krieg auch eine sehr deutliche eschatologische Dimension auf: Er ist nicht nur endgültig, sondern auch der schreckliste aller Kämpfe (1QM 1,12). In der Rolle geht es allerdings nicht in erster Linie um die Beschreibung von Kriegshandlungen. Eine sehr gute und zielführende Beobachtung zur Pragmatik von 1QM führt diesbezüglich Steven Weitzman ein: 1QM ist nicht nur eine Schrift, die sich mit Taktik beschäftigt, sondern die auch die emotionale Seite von möglichen konkreten Kämpfern und Kriegern berühren soll. Weitzman schließt daraus, dass die Mobilisierung dieser Emotionen dazu dienen könnte, im Fall eines realen Krieges zusätzliche Kräfte freizulegen, um einen viel stärkeren Feind anzugreifen. 71 1QM - wie jede paränetische und protreptische Schrift - hatte zweifelsohne die Funktion Emotionen zu wecken, um eine bestimmte Hand‐ lungsdisposition zu erzeugen. Jede Schrift - vor allem jede antike Schrift - dient selbstredend einem bestimmten Zweck, der sich am besten durch das Erwecken von Gefühlen erreichen lässt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch in 1QM dieses Hilfsmittel verwendet wird. Die Frage ist vielmehr, wohin diese Emotionen im Fall der Kriegsrolle führen sollen. Geht es wirklich lediglich um die Motivation für einen konkreten Krieg gegen schier unbezwingbare Feinde? Auf dieser Ebene stellt sich dann die Frage, worin der Sinn eines Krieges besteht, der auf eschatologischer Ebene von Anfang an gewonnen ist, während er, würde man ihn richtig ausfechten, nie gewonnen werden könnte. Das einzige, was wirklich aus der Kampfvorbereitung und aus den angedeuteten 132 Simone Paganini <?page no="133"?> 72 Falk, Prayer, 285-286, merkt zu Recht an, dass Gebete und Rituale im Kontext der literarischen Kriegsführung der Antike und insbesondere für das Judentum im Zusam‐ menhang der Makkabäerbücher keine Besonderheit ist. Es handelt sich aber stets um idealisierte Vorstellungen von Kämpfen und die darin vorkommenden Gebete würden dieses idealisierte Bild schlicht und einfach bestätigen und rechtfertigen. 73 Zurecht betont Harrington, Holy War, 182, dass wir auch nicht wissen können, inwieweit die Autoren des Danielbuches oder der Offenbarung des Johannes (vgl. hierzu den Beitrag von Manuel Vogel in diesem Band) erwarteten, dass ihre apokalyptischen Visionen in allen ihren Details erfüllt werden würden. Kampfhandlungen für einen konkreten Krieg übrig bleibt, sind in der Tat die Gebete der Priester. 72 Diese Gebete dienen allerdings nicht wirklich dazu, den realen Kriegern Mut zu machen, es geht vielmehr um die Kommentierung des Geschehens und die Deutung desselben. Die ganze Schrift zeigt auf beeindru‐ ckende Art und Weise, wie dem Schrecken der Notlage, der zum schrecklichsten aller Kriege führt, die Herrlichkeit Gottes gegenüber gestellt wird. Gerade deswegen ist der Krieg von Anfang an bereits gewonnen. Gott hat den Sieg errungen, denn er hat den Krieg selbst befohlen und ihn auch ausgeführt. Ob eine konkrete Notsituation den Anlass zur Verfassung der Kriegsrolle gegeben hat, ist nicht mehr rekonstruierbar. Die stark ritualisierte Beschreibung des Endkampfes könnte jedoch durchaus entstanden sein, um auf literarischer Ebene eine reale negative Situation aufzuarbeiten, um diese ertragen zu können. Wirkungsgeschichtlich ist es ebenfalls möglich, dass die Kriegsrolle als emoti‐ onsgeladenes Motivationsschreiben gebraucht wurde. Allerdings - unabhängig davon, welche Gemeinschaft als Autorin oder Adressatin der Kriegsrolle vor‐ stellbar ist -, ist es nicht möglich zu definieren, inwieweit und auf welche Weise die Autoren eine Erfüllung der eschatologischen Vorstellungen von 1QM erwarteten. 73 Deshalb scheinen die Kriegsvorstellungen von 1QM in ihrer Undifferenziertheit und in ihrer stark eschatologischen und fiktionalen Ausrichtung nicht gerade dafür gemacht, Kriegsgelüste zu wecken oder gar Heere von Soldaten zu einem Endkampf gegen reale Gegner zu führen. Die Menschen in 1QM sind vor allem eins: passiv. Die einzig wirklich vorhandene Strategie in 1QM sieht vor, dass die Soldaten Reinheitsvorschriften einhalten und kultische, liturgische und von Gebeten begleitete Rituale durchführen. 1QM führt eine Art apokalyptische kriegerische Spiritualität ein, die davon geprägt ist, dass Gott das Böse und die bösen Mächte mit ihren Helfern - den Söhnen der Finsternis - zerstören wird. Der Krieg braucht demzufolge nicht mehr von Menschen gekämpft zu werden. Die große theologische Leistung von 1QM besteht schließlich darin, dass die endgültige und bestimmende kriegerische Auseinandersetzung in die Hände Gottes gelegt wird. Die Intention ist somit nicht, irgendeinen „Heiligen Krieg“ auszurufen, diesen zu rechtfertigen Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) 133 <?page no="134"?> 74 So auch Harrington, Holy War, 182f: „And so I interpret the Qumran ‘holy war’ texts basically in a non violent way. […] that is as literary sublimations of present hostilities and frustration, as imaginative substitutes for armed violence in the present.“ 75 Was meines Erachtens für 1QM ziemlich deutlich ist, kann ebenfalls in anderen Werken aus der judäischen Wüste wahrgenommen werden. Es geht dabei nicht nur um das Erkennen von pazifistischen Bestrebungen innerhalb der „sectarian lifestyles“ (so u. a. Jassen, The Dead Sea Scrolls and Violence), sondern auch um das Aufspüren der unterschiedlichen Positionen, die in der judäischen Gesellschaft in den ersten beiden Jahrhunderten v.-Chr. - und in der Zeit danach - vorhanden waren. 76 Aähnlich auch - wenngleich von ganz anderen Prämissen ausgehend - ist die Position von Peters, The Sword in the Dead Sea Scrolls. Die „sectarian writings“ geben Rache, Gewalt, Krieg und Gericht in die Hände Gottes. Er ist derjenige, der autorisiert und letztendlich die Kontrolle über den Gebrauch des Schwertes hat. So ist die konkrete Verwendung von Gewalt nicht in der Wirkmacht der Menschen, sondern in der Macht Gottes. Eine ähnliche Position - wenngleich er nicht zwischen sectarian und non-sectarian Schriften unterscheidet - vertritt Justnes, Divine Violence and the Dead Sea Scrolls. Er erkennt, dass in der großen Mehrheit der DSS, wenn es um Gewalt geht, die Metaphorik fast ausschließlich göttliche Gewalt beinhaltet. Justnes definiert diese literarische Gewaltanwendung als „fictional violence“. Krieg ist daher eine literarische Gattung, die nicht einmal auf der Ebene der Identitätsbildung innerhalb einer besonderen Gemeinde von Nutzen ist. oder gar die Emotionen zu wecken, damit ein derartiger Krieg ausgefochten werden kann, sondern eine pazifistische Haltung zu vermitteln und zu verin‐ nerlichen, gerade weil derjenige, der kämpfen wird, allein Gott selbst ist. 74 Das Ziel von 1QM ist nicht der Krieg, sondern das Ende der Kriege, 75 also der Friede, oder, um die Worte der Kriegsrolle zu verwenden: „dann werden die Söhne der Gerechtigkeit leuchten bis an alle Enden der Welt und werden nicht aufhören zu leuchten bis an das Ende der festgesetzten Zeiten der Finsternis. Dann wird zur von Gott bestimmten Zeit seine große Erhabenheit leuchten für alle Zeit der Ewigkeit. Für Frieden und Segen, Ruhm und Freude und ein langes Leben für alle Söhne des Lichtes“ (1QM 1,8-9). Die Heiligkeit des Krieges, wenn man überhaupt „heilig“ und „Krieg“ sinnvoll miteinander verbinden kann, besteht darin, dass Gott die Menschen zu einem Leben in Frieden befähigt, indem er Kriege allein ausficht und gewinnt. 76 6 Literatur Alexander, Philip S.: The Evil Empire. The Qumran Eschatological War Circle and the Origins of Jewish Opposition to Rome, in: S. M. Paul u.-a. (Hg.), Emanuel. Studies in Hebrew Bible, Septuagint and Dead Sea Scrolls in Honor of Emanuel Tov (VTS 94), Leiden 2003, 17-31. 134 Simone Paganini <?page no="135"?> Angel, Joseph L.: Otherworldly and eschatological priesthood in the Dead Sea Scrolls (STDJ 86), Leiden 2010. Beentjes, Pancratius C.: ,Holy peopleʻ: The biblical evidence, in: M. Poorthuis / J. Schwartz (Hg.), A Holy People. Jewish and Christian Perspectives on Religious Communal Identity ( Jewish and Christian Perspectives Series 12), Leiden 2006, 3-15. Berges, Ulrich: Heiligung des Krieges und Heiligung der Krieger. 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Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung Manuel Vogel 1 Einführung 1.1 Zwei Vorbemerkungen Nach verbreiteter und zutreffender Auffassung, dies zuerst, ist die Johannesof‐ fenbarung (nachfolgend: Apk) eine Kampfschrift gegen den Kaiserkult und das römische Imperium. 1 Nirgendwo sonst im Neuen Testament ist dieser Gegensatz und Widerspruch deutlicher vernehmbar, und nirgendwo sonst schlägt er in der Einzelauslegung stärker zu Buche. Freilich verblasst dieser Gegensatz in der Forschung weithin zum bloßen „historischen Kontext“, der zwar gesehen, aber in seiner Bedeutung für den Duktus und die Sache der Apk tendenziell ausgeblendet wird zugunsten anderer, gewiss ihrerseits inter‐ essanter Forschungfragen und -perspektiven. Dann senkt sich der ideologische Schleier auf das letzte Buch der Bibel, das nunmehr mühelos auf vielerlei Weise <?page no="140"?> 2 Anders etwa Peterson, Vorlesungen, der den durchgängigen Rombezug der Sprach- und Bildwelt der Apk zum Kaiserkult zu Beginn seiner im Jahr 1934 gehaltenen Heidelberger Apokalypse-Vorträge deutlich herausgestellt hat. Mir scheinen Petersons Ausführungen ein anschauliches Beispiel dafür zu sein, dass das frühchristliche Denken insgesamt, d. h. weit über die Apk hinaus, überhaupt erst dann Stimme und Kontur erhält, wenn wir seiner antirömischen Bezüge ansichtig werden. Wenn Peterson, Vorlesungen, 11 etwa die „Präsenz und Leibhaftigkeit des Gottkaisers im Kaiserkult“ betont (im Original z.T. kursiv), ist die Nähe zum Inkarnationsmotiv mit Händen zu greifen. Das schlichte ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο (…) καὶ ἐθεασάμεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ (Joh 1,14) wird dann zur antirömischen Bekenntnisformel, und es darf an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass der jüdisch-römische Dauerkonflikt, der sich in der Jesusbewegung massiv zugespitzt hat, gerade in der Passionserzählung des Johannesevangeliums in besonderer Schärfe zur Darstellung kommt. In diesem Sinne ist das nachfolgend aus Berger, Theologiegeschichte, 619 Zitierte zu modifizieren, der zum theologischen Standort der Apk zutreffend feststellt: „Ihre einzigartige Gestalt verdankt sie (…) einem besonderen Umstand: Nur hier im frühen Christentum wird die Auseinandersetzung mit Rom, und zwar in Gestalt politischer Apokalyptik, gesucht. Aus diesem Grund zögere ich nicht, die ApkJoh das Dokument einer ersten christlichen Reform zu nennen (…). Gegenüber den Entwicklungstendenzen im Entstehungsbereich der vier Evangelien (…) teilt die ApkJoh keineswegs die romfreundlichen Ambitionen, die sich dann in allen vier Evangelien niederschlagen werden. Nur in ApkJoh wird das romfeindliche Potential der Apokalyptik des 1. Jh. n. Chr. (vgl. 4 Esra und ApkBarsyr) wirklich lebendig. Nur hier haben die Christen den Mut, sich zu dieser Seite ihrer Hoffnung zu bekennen.“ Vgl. auch Engels, Das Buch der Offenbarung, 10, dem das frühe Christentum insgesamt als „dem herrschenden System, den ,bestehenden Mächten‘, feindlich gesinnt“ gilt, und der die Apk in dieser Hinsicht für „das einfachste und klarste Buch des ganzen Neuen Testaments“ hält. historisch und philologisch traktiert werden kann, ohne selbst zu Wort zu kommen. 2 Hierin liegt, das als zweite Vorbemerkung, auch das Problem einer (in ihrem sachlichen Recht überhaupt nicht zu bestreitenden) traditionsgeschichtlichen Betrachtungsweise der Apk. Die Visionen des Buches sind in stetiger, enger Fühlung mit Texten des Alten Testaments gestaltet, von denen sie nicht nur ihre Sprache, sondern vielfach auch kleinere und größere Motiv- und Handlungs‐ zusammenhänge entlehnen. Die engen intertextuellen Beziehungen der Apk zu atl. Texten dürfen freilich den akuten Gegenwartsbezug der Schrift nicht verdecken zugunsten einer überzeitlichen, geschichtsenthobenen Schrifttheo‐ logie. Aus diesem Grund (und nur aus diesem Grund) bleiben vorliegend die 140 Manuel Vogel <?page no="141"?> 3 Vgl. auch die erhellenden methodologischen Ausführungen im Exkurs „Das Verhältnis der Christen zu Rom nach der Johannesapokalypse - zeitgeschichtliche versus tradi‐ tionsgeschichtliche Deutung“ bei Kalms, der Sturz des Gottesfeindes, 172-178. Ein Negativbeispiel für traditionsgeschichtliche Engführungen bietet Kraft, Offenbarung, 249 in seiner Auslegung zu Apk 19,13; s. u. Anm. 47. Dass gerade der traditionsge‐ schichtliche Vergleich die Eigenaussage der einzelnen Texte erheblich schärfen kann, ist unbenommen. Für den unter 3.4 untersuchten Passus Apk 19,11-21 sei hierzu Nicklas, Der Krieg und die Apokalypse, genannt. 4 Belege aus der Computerkonkordanz des INTF. 5 So aber Karrer, Johannesoffenbarung, 280: „[D]ie Siegespreise übersteigen alles, was antike Wettkämpfe erwarten lassen“. Semantisch ist νικάω offen für den Sieg „in battle, in the games, or in any contest“, so Liddell/ Scott/ Jones, 1176 s.v. νικάω. traditionsgeschichtlichen Bezüge der zu untersuchenden Texte weitestgehend unberücksichtigt. 3 1.2 Wortstatistischer Befund und erste Textbeobachtungen Wir beginnen mit einer wortstatistischen Beobachtung, die darauf hindeutet, dass das gewählte Thema der Apk kongenial ist, d. h. ihr nicht etwa eine Themenstellung aufzwingt, zu welcher die Schrift nichts austrägt und nichts sagen will. Die Beobachtung betrifft πόλεμος und πολεμέω sowie νικάω. Von igs. 18 Belegen von πόλεμος im NT finden sich neun in der Apk und von sieben Belegen für πολεμέω sechs in der Apk. Für νικάω gibt es im NT 28 Belege, davon 18 in der Apk. Im letzten Buch der Bibel geht es also, wie jedenfalls ein erster Blick in die Konkordanz nahelegt, ausgesprochen kriegerisch zu. 4 Vorausgesetzt wird, dass νικάω zum militärischen Wortfeld gehört und nicht zum agonalen o.ä. 5 Diese Annahme stützt sich auf Stellen wo die Lexeme πόλεμος bzw. πολεμέω und νικάω im selben Satzund/ oder Sachzusammenhang auftreten: (a) In 12,7 ist von einem „Krieg“ Michaels gegen den Drachen die Rede, doch „besiegt“ haben den Drachen nach 12,11 die Gläubigen. (b) In 13,2 heißt es vom Drachen: καὶ ἐδόθη αὐτῷ ποιῆσαι πόλεμον μετὰ τῶν ἁγίων καὶ νικῆσαι αὐτούς, und (c) in 17,14 wird von den zehn Königen, die ihre Macht von dem Tier haben, gesagt: οὗτοι μετὰ τοῦ ἀρνίου πολεμήσουσιν καὶ τὸ ἀρνίον νικήσει αὐτούς. Die letztgenannte Stelle ist wichtig auch deshalb, weil das kriegerische und siegreiche Lamm in der Gemeinschaft der Gläubigen auftritt. Dass es den Sieg davonträgt, rührt daher, dass es „Herr“ und „König der Könige“ ist, und dass es sich bei seinen Begleitern (οἱ μετ’ αὐτοῦ) um „Berufene und Auserwählte und Treue“ handelt. Die Gemeinschaft zwischen Christus und den Gläubigen spielt auch in einem der sog. Überwindersprüche eine Rolle, nämlich in 3,21: Ὁ Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 141 <?page no="142"?> 6 Die Überwindersprüche werden also in das militärische Wortfeld der Apk insgesamt eingeordnet und von daher erschlossen. Erst im Leseprozess der ganzen Apk wird dann das Gemeinte deutlich, nicht schon im Sachzusammenhang des jeweiligen Sendschreibens, das den zu erringenden „Sieg“ inhaltlich je anders füllen würde. νικῶν δώσω αὐτῷ καθίσαι μετ’ ἐμοῦ ἐν τῷ θρόνῳ μου, ὡς κἀγὼ ἐνίκησα καὶ ἐκάθισα μετὰ τοῦ πατρός μου ἐν τῷ θρόνῳ αὐτοῦ. Christus hat „gesiegt“ und sagt den Gläubigen, die „siegen wie er“, Teilhabe an seiner Macht zu. Christus und die Gläubigen sind also an einem nicht näher spezifizierten „Sieg“ beteiligt. Worin dieser besteht bzw. wie er zustande kommt, gegen wen er errungen wird und was der Beitrag bzw. Anteil Christi und der Gläubigen an diesem Sieg ist, wird an den genannten Stellen nicht gesagt, ebenso wenig in den übrigen Überwindersprüchen (2,7.11.17.26; 3,5.12.21 und dann nochmals 21,7). 6 Aber die Rolle der Gläubigen als „Sieger“ in einem „Krieg“ wird stark gewichtet, und im Prozess des Lesens bzw. Hörens der Sendschreiben entsteht die Frage, was hierzu Näheres in Erfahrung zu bringen ist. Eine erste Konkretion findet sich in 5,5.9f. In 5,5 ἐνίκησεν ὁ λέων ὁ ἐκ τῆς φυλῆς Ἰούδα wird der „Sieg“ des „Löwen aus dem Stamm Juda“ proklamiert und daraus seine Vollmacht zur Öffnung der Buchrolle abgeleitet. Mit dem unvermittelten Neueinsatz in v.6 tritt der „Löwe“ nun als das „Lamm wie geschlachtet“ auf, und dessen Würdigkeit die Buchrolle zu öffnen wird jetzt ausführlich begründet, womit auch der in 5,5 genannte „Sieg“ inhaltlich gefüllt wird: Er besteht darin, dass das Lamm mit seinem Blut Menschen aus allen Völkern zu Gottes Eigentum erworben und sie für Gott zu einer priesterlichen βασιλεία gemacht hat, die künftig auf Erden wie König herrschen werden (βασιλεύσουσιν). Warum ist das ein „Sieg“ im militärischen Sinne und gegen wen? Antwort: Es ist ein militärisch relevanter Sieg gegen den römischen Kaiser und sein weltweites Imperium. Denn das Sühneblut ist das Mittel, um aus Menschen aus allen Völkern ein Großreich zu bilden und damit das imperiale Programm Roms zu unterlaufen. Parallel zur ständig expandierenden römischen βασιλεία entsteht auf römischem Territorium eine subversive βασιλεία, die zwar nicht militärisch erobert, die aber dennoch insofern real militärisch relevant und tatsächlich ein Sieg ist, als die militärische Macht Roms sich in dem Maße als wirkungslos erweist, wie auf reichsrömischem Boden Gemeinden von Jesusgläubigen entstehen, die etwas tun, was aus römischer Sicht als bedrohlich wahrgenommen wurde, nämlich auf der Grundlage des Bekenntnisses zu dem Gott Israels dem Kaiser die gottgleiche Verehrung zu verweigern. Das Eigen‐ tumsvolk und Großreich Gottes ist mithin eine reale, soziologisch beschreibbare Größe. 142 Manuel Vogel <?page no="143"?> 7 Zum Tempus des Partizips Karrer, Johannesoffenbarung, 280: „Die Apk wählt in einer feinen Differenzierung nicht den Aorist des Verbs, sondern das Präsens. Der Sieg ist noch nicht errungen.“ 8 Dagegen Karrer, Johannesoffenbarung, 369 zu 3,21: „Menschen, die aus den Konflikten in der Welt siegreich hervorgehen“. Aber es geht nicht allgemein um Menschen in der Welt, sondern um das Christusbekenntnis im reichsrömischen Kontext. Von hier aus und in Ansehung der siegreichen „Kooperation“ Christi und der Gläubigen (s. o. zu 3,21 und 17,14) lässt sich m. E. auch das in den Überwin‐ dersprüchen Gemeinte klar und einfach benennen: Die Gläubigen werden in den Sendschreiben als „Siegende“ 7 angesprochen, weil und insofern sie sich dem Kaiserkult verweigern. 8 Sie besiegen damit den Kaiser quasi militärisch, weil Rom mit seinen Waffen gegen die Weigerung der Christusgemeinden, den Kaiserkult zu vollziehen, machtlos ist. 2 Erstes Zwischenfazit und weiterer Verlauf Die Wortstatistik zu πόλεμος, πολεμέω und νικάω verweist darauf, dass die Apk im ntl. Vergleich beim Thema „Krieg“ einen deutlichen Schwerpunkt hat. Christus und die Gläubigen sind beide am „Sieg“ in einem zunächst nicht näher bezeichneten Krieg beteiligt. Die Überwindersprüche sprechen lediglich ver‐ schiedene Heilsverheißungen aus, die „derjenige, der siegt“ (ὁ νικῶν) erlangen soll. In 3,21 wird dann deutlich, dass dieser Sieg von den Gläubigen zusammen mit Christus oder jedenfalls in gleicher oder ähnlicher Weise oder Hinsicht (ὁ νικῶν … ὡς κἀγὼ ἐνίκησα) errungen wird. In 5,5.9f wird sodann klar, dass der Sieg Christi darin besteht, durch sein Blut ein Volk für Gott erworben und ein Reich geschaffen zu haben, in dem Menschen aus allen Völkern leben. Der im Bildfeld von Krieg/ Sieg stets mitzudenkende Gegner ist der römische Kaiser, der sein Reich auf die gottgleiche Vereherung seiner Person in Gestalt des reichsweiten Kaiserkultes gründet. Die Rolle der Gläubigen als „Sieger“, die den Sieg zusammen mit Christus erringen, besteht dann darin, dass sie die Mitwirkung am Kaiserkult verweigern und statt desssen einzig den einen Gott verehren. Im Folgenden werden vier weitere Texte in Augenschein genommen, nun einzeln und ausführlicher, nämlich Apk 11,3-13; Apk 12,7-17; Apk 12,18-13,10 und Apk 19,11-21. Im weiteren Verlauf wird zu untersuchen sein, ob der ange‐ nommene frühchristlich-reichsrömische Antagonismus das Motiv von „Krieg“ und „Sieg“ in der Apk weiter zu erschließen vermag. Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 143 <?page no="144"?> 9 Texte aus der Apk in eigener Übersetzung unter Verwendung unterschiedlicher vorhandener Übersetzungen. 10 Ellul, Apokalypse, 72. 11 Karrer, Johannesoffenbarung, 107. 3 Weitere Texte: Apk 11,3-13; Apk 12,7-17; Apk 12,18-13,10; Apk 19,11-21 9 3.1 Apk 11,3-13 Im Gesamtaufriss der Apk besteht der Passus 10,1-11,13 aus zwei Zwischenstü‐ cken, dessen erstes (10,1-11) vom Verschlingen des Büchleins handelt, und dessen zweites (11,1-13) die Vermessung des Tempels und der heiligen Stadt (11,1-2) sowie das Wirken der zwei Zeugen (11,3-13) zum Gegenstand hat. 11,14 (ἡ οὐαὶ ἡ δευτέρα ἀπῆλθεν· ἰδοὺ ἡ οὐαὶ ἡ τρίτη ἔρχεται ταχύ) greift auf 9,12 (ἡ οὐαὶ ἡ μία ἀπῆλθεν· ἰδοὺ ἔρχεται ἔτι δύο οὐαὶ μετὰ ταῦτα) zurück und bindet damit die Zwischenstücke in den Makrotext ein. Außerdem schließt 11,15 (καὶ ὁ ἕβδομος ἄγγελος ἐσάλπισεν) an 9,13 (καὶ ὁ ἕκτος ἄγγελος ἐσάλπισεν) an und macht damit 10,1-11,13 als Teil (oder jedenfalls Unterbrechung) der Posaunenvision kenntlich. Das zweite Zwischenstück markiert etwa die Mitte des Gesamttextes der Apk und ist damit in dieser seiner Mittelposition auffällig. Jaques Ellul sieht in 11,3-13 „das Zentrum der Offenbarung“, 10 und Martin Karrer, der für die Apk eine rhetorische Disposition annimmt, identifiziert das unmittelbar anschließende Stück 11,15-18 als „Zielpunkt“ der probatio, bevor in 11,19 die bis 19,10 reichende refutatio des gegenerischen Standpunktes (Machtanspruch des Drachen bzw. Satans) einsetzt. Die „Zwischenstücke“ - neben 10,1-11,13 noch Kap 7 - bezeichnet Karrer als „,Digressionen‘, d. h. als der Sache wesentlich dienende Exkurse“. 11 Das heißt: Bevor die Proklamation des Herrschaftsantritts Gottes und seines Gesalbten in 11,15-18 erfolgen kann, bedarf es der (sachlich wesentlichen und wichtigen) Digression, in der es um die Vermessung der Stadt und ihre Preisgabe an die Heiden geht, und um das Wirken der zwei Zeugen. Der Handlungsverlauf soll augenscheinlich so gedacht werden, dass die Gottesherrschaft nicht anbrechen kann, bevor nicht die Stadt vermessen und von den Heiden besetzt wurde, und bevor nicht die zwei Zeugen ihren Auftrag ausgeführt haben. Eine Wendung erfährt deren Geschick durch das Tier, das „mit ihnen Krieg führen und sie besiegen und sie töten wird“ (ποιήσει μετ’ αὐτῶν πόλεμον καὶ νικήσει αὐτοὺς καὶ ἀποκτενεῖ αὐτούς, 11,7). Das Kriegsmotiv ist hier also an einer für die Apk insgesamt markanten Stelle 144 Manuel Vogel <?page no="145"?> vertreten. Bevor hierzu näheres gesagt werden kann, sind einige exegetische Detailprobleme des Abschnitts 11,1-13 zu erörtern. Das Stück besteht aus vier Szenen. Szene 1: Bußpredigt der zwei Zeugen (11,3-6), Szene 2: Krieg des Tieres gegen die zwei Zeugen, ihr Tod (11,7-10), Szene 3: Auferweckung und Entrückung (11,11-12); Szene 4: 11,13 Erdbeben, Umkehr der Menschen in der Stadt (11,13). - Szene 1 3 Καὶ δώσω τοῖς δυσὶν μάρτυσίν μου καὶ προφητεύσουσιν ἡμέρας χιλίας διακοσίας ἑξήκοντα περιβεβλημένοι σάκκους. -4 οὗτοί εἰσιν αἱ δύο ἐλαῖαι καὶ αἱ δύο λυχνίαι αἱ ἐνώπιον τοῦ κυρίου τῆς γῆς ἑστῶτες. 5 καὶ εἴ τις αὐτοὺς θέλει ἀδικῆσαι πῦρ ἐκπορεύεται ἐκ τοῦ στόματος αὐτῶν καὶ κατεσθίει τοὺς ἐχθροὺς αὐτῶν· καὶ εἴ τις θελήσῃ αὐτοὺς ἀδικῆσαι, οὕτως δεῖ αὐτὸν ἀποκτανθῆναι. 6 οὗτοι ἔχουσιν τὴν ἐξουσίαν κλεῖσαι τὸν οὐρανόν, ἵνα μὴ ὑετὸς βρέχῃ τὰς ἡμέρας τῆς προφητείας αὐτῶν, καὶ ἐξουσίαν ἔχουσιν ἐπὶ τῶν ὑδάτων στρέφειν αὐτὰ εἰς αἷμα καὶ πατάξαι τὴν γῆν ἐν πάσῃ πληγῇ ὁσάκις ἐὰν θελήσωσιν. 3 Und ich werde geben meinen zwei Zeugen [Macht] und sie werden prophe‐ tisch reden eintausendzweihundertsechzig Tage, bekleidet mit Säcken. 4 Diese sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchter, die vor dem Herrn der Erde stehen. 5 Und wenn ihnen jemand Unrecht tun will, geht Feuer aus ihrem Mund hervor und wird ihre Feinde verzehren. Und will ihnen jemand Unrecht tun, muss er so getötet werden. 6 Diese haben die Vollmacht den Himmel zu verschließen, damit kein Regen falle in den Tagen ihrer Prophetie, und sie haben Vollmacht über die Wasser, sie in Blut zu verwandeln und zu plagen die Erde mit jeglicher Plage, sooft sie wollen. - Szene 2 7 Καὶ ὅταν τελέσωσιν τὴν μαρτυρίαν αὐτῶν, τὸ θηρίον τὸ ἀναβαῖνον ἐκ τῆς ἀβύσσου ποιήσει μετ’ αὐτῶν πόλεμον καὶ νικήσει αὐτοὺς καὶ ἀποκτενεῖ αὐτούς. 8 καὶ τὸ πτῶμα αὐτῶν ἐπὶ τῆς πλατείας τῆς πόλεως τῆς μεγάλης, ἥτις καλεῖται πνευματικῶς Σόδομα καὶ Αἴγυπτος, ὅπου καὶ ὁ κύριος αὐτῶν ἐσταυρώθη. -9 καὶ βλέπουσιν ἐκ τῶν λαῶν καὶ φυλῶν καὶ γλωσσῶν καὶ ἐθνῶν τὸ πτῶμα αὐτῶν ἡμέρας τρεῖς καὶ ἥμισυ καὶ τὰ πτώματα αὐτῶν οὐκ ἀφίουσιν τεθῆναι εἰς μνῆμα. -10 καὶ οἱ κατοικοῦντες ἐπὶ τῆς γῆς χαίρουσιν ἐπ’ αὐτοῖς καὶ εὐφραίνονται καὶ δῶρα πέμψουσιν ἀλλήλοις, ὅτι 7 Und wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufkommt, mit ihnen Krieg führen und wird sie besiegen und wird sie töten. 8 Und ihr Leichnam wird auf der Straße der großen Stadt liegen, die [in] geistlich[er Deutung der Namen] Sodom und Ägypten genannt wird, wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde. 9 Und es sehen [Leute] aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen ihren Leichnam dreieinhalb Tage und lassen nicht zu, dass ihre Leichname in ein Grab gelegt werden. 10 Und die auf der Erde wohnen, freuen sich über sie und jubeln und schicken einander Geschenke, denn diese zwei Pro‐ Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 145 <?page no="146"?> 12 Nach der Geschichtsauffassung der Apk ist Rom das letzte Großreich vor dem Anbruch der Gottesherschaft. Deshalb kann hinter der baldigen bzw. zukünftigen der Preisgabe Jerusalems an die Heiden nur Rom samt den von Rom unterworfenen Völkern stehen. οὗτοι οἱ δύο προφῆται ἐβασάνισαν τοὺς κατοικοῦντας ἐπὶ τῆς γῆς. pheten haben die Bewohner der Erde ge‐ peinigt. - Szene 3 11 Καὶ μετὰ τὰς τρεῖς ἡμέρας καὶ ἥμισυ πνεῦμα ζωῆς ἐκ τοῦ θεοῦ εἰσῆλθεν ἐν αὐτοῖς, καὶ ἔστησαν ἐπὶ τοὺς πόδας αὐτῶν, καὶ φόβος μέγας ἐπέπεσεν ἐπὶ τοὺς θεωροῦντας αὐτούς. 12 καὶ ἤκουσαν φωνῆς μεγάλης ἐκ τοῦ οὐρανοῦ λεγούσης αὐτοῖς· ἀνάβατε ὧδε. καὶ ἀνέβησαν εἰς τὸν οὐρανὸν ἐν τῇ νεφέλῃ, καὶ ἐθεώρησαν αὐτοὺς οἱ ἐχθροὶ αὐτῶν. 11 Und nach dreieinhalb Tagen fuhr Geist des Lebens von Gott in sie hinein, und sie stellten sich auf ihre Füße, und große Furcht fiel auf die, die sie sahen. -12 Und sie hörten eine gewaltige Stimme aus dem Himmel, die zu ihnen sprach: Kommt hier herauf! Und sie stiegen in den Himmel hinauf in der Wolke, und es sahen sie ihre Feinde. - Szene 4 13 Καὶ ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ ἐγένετο σεισμὸς μέγας καὶ τὸ δέκατον τῆς πόλεως ἔπεσεν καὶ ἀπεκτάνθησαν ἐν τῷ σεισμῷ ὀνόματα ἀνθρώπων χιλιάδες ἑπτὰ καὶ οἱ λοιποὶ ἔμφοβοι ἐγένοντο καὶ ἔδωκαν δόξαν τῷ θεῷ τοῦ οὐρανοῦ. 13 Und in jener Stunde ereignete sich ein gewaltiges Erdbeben und der zehnte Teil der Stadt stürzte ein und getötet wurden durch das Erdbeben siebentausend Per‐ sonen und die Übrigen gerieten in Furcht und erwiesen dem Gott des Himmels Ehre. Wie ist die Verbindung von Szene 1 zu dem vorangehenden, traditionsge‐ schichtlich heterogenen Stück 11,1-2 über die Vermessung der Heiligen Stadt aufzufassen? Wohl so, dass hier die Bühne bereitet wird für das nachfolgende Geschehen. Denn so ist von vornherein deutlich, dass sich das Ganze in Jerusalem abspielt, und zwar in einer Situation, in der die „Heilige Stadt“ (11,2) in der Gewalt der Heiden (= Römer) 12 ist. Schon in Szene 1 ist damit klar, dass der Wirkort der zwei Zeugen Jerusalem ist, u. zw. das römisch besetzte Jerusalem. In den Szenen 2 und 4 wird das dann mit der zweifachen πόλις-Referenz (11,8.13) gesagt, wenn auch ohne Namensnennung. Mit Blick auf 11,15-18 heißt das: Das „Zwischenstück“ (oder die „Digression“) 11,1-13 ist für das Weitere insofern sachlich wichtig, als die in 11,15-18 erfolgende Proklamation der Gottesherr‐ schaft auf diese Weise einen Bezug zu Jerusalem erhält, u. zw. gerade angesichts der dortigen Aussagen über den universalen Charakter dieser Herrschaft (u. a. βασιλεία τοῦ κόσμου in 11,15). Umgekehrt enthalten die Jerusalem-Referenzen in 11,1-13 ihrerseits einen universalen Bezug: Die „Heiden“ zertreten die heilige 146 Manuel Vogel <?page no="147"?> 13 Zur Quellenfrage vgl. Charles, Revelation, Bd.-1, 270-273. 14 Zur Problematik einer christlichen Herleitung vgl. Vogel, Elia, Johannes und Jesus, 62 f Anm. 56. 15 So etwa Öhler, Elia, 281. Originell ist Primasius, Kommentar, 143, der die zwei Zeugen auf „die Kirche“ deutet, „die durch die zwei Testamente predigt und weissagt“. 16 Nicht minder originell ist Primasius, Kommentar, 144 auch hier: Die Zebedaiden stehen für das „öffentliche“ Bekenntnis in Form des Martyriums, nämlich Jakobus, und für das „verborgene“, nämlich Johannes (den Primasius mit dem Evangelisten identifiziert), der „insgeheim bei Jesus mit dem Martyrium gekrönt wird“, d. h. dem die verborgene Buße des Herzens, wie Primasius in Anlehnung an Cyprian sagt, wie ein Martyrium angerechnet wird. Primasius trägt hier dem Umstand Rechnung, dass im Neuen Testament von einem Martyrium des Zebedaiden Johannes nichts verlautet. 17 Zum Ganzen ausführlich Berger, Apokalypse, Bd.-2, 786-797. 18 Unter den älteren Kommentaren: Weiß, Das Neue Testament, Bd. 3, 469. Mose wird neben Elia genannt auch in Mk 9,4f. In den Seitenstücken steht freilich an der Seite Elias nahezu durchweg nicht Mose, sondern Henoch; vgl. hierzu Berger, Die Auferstehung des Propheten, 49-101 (dort das gesammelte Material). Stadt (11,2); Menschen „aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen“ sehen die Leichname der zwei Zeugen (11,9); die „Bewohner der Erde“ freuen sich, von den zwei Zeugen nicht mehr behelligt zu werden (11,10). Innerhalb der Apk ist der Rekurs auf die „zwei Zeugen“ trotz dieser Bezüge ein Fremdkörper. 13 Was den Verfasser bewogen hat, genau diese (jüdische! 14 ) Tradition (in welcher ihm konkret vorliegenden textuellen Gestalt auch immer) in die Darstellung aufzunehmen, bleibt unklar. Diskutiert wird ein symbolisches Verständnis auf die (Märtyrer der) jesusgläubige(n) Gemeinde allgemein, 15 ein historischer Bezug (Zebedaiden? 16 ) oder eine zukünftige Erwartung in Ausge‐ staltung der Erwartung des Elia rediturus. 17 Jedenfalls treten in 11,3f die zwei Zeugen als Umkehrpropheten auf (Sack‐ gewand als Kleidung des Bußpredigers). Wegen 11,6 liegt eine Elia- und eine Mosetypologie nahe (Elia: „den Himmel verschließen“, vgl. 1Reg 17,1; Mose: Wasser zu Blut machen, vgl. Ex 7,19ff) 18 . Da auch Mose nach Dtn 18,15 als Prophet galt und „ein Prophet wie Mose“ erwartet wurde, bot sich das Paar Mose und Elia zusätzlich an. Die Zeitangabe der 1260 Tage (11,3) entspricht dem apokalyptischen Zeitmaß der 42 Monate (= dreieinhalb Jahre) der Preisgabe der heiligen Stadt an die Heiden in 11,2. Beides soll augenscheinlich synchron vorgestellt werden: Die beiden Zeugen richten ihre Bußpredigt in der von Heiden (=Rom) beherrschten Stadt aus. Während dieser Zeit sind sie unantastbar für die, die ihnen „Unrecht tun“ wollen (ἀδικῆσαι): Sie werden sie mit „Feuer aus ihrem Mund“ (πῦρ ἐκ τοῦ στόματος) „verzehren“ (κατεσθίει), und „so“ (οὕτως) muss, wer ihnen Unrecht tun will, „getötet werden“ (δεῖ ἀποκτανθῆναι). Zwar kann ἀδικεῖω auch unspezifisch „schädigen“ bedeuten, näher liegt aber der Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 147 <?page no="148"?> primäre juridische Sinn, etwa in Form von Verleumdung etc. Dann ist das „Feuer aus dem Mund“ kein reales Feuerspucken, und das Töten der Feinde auch nicht ihre physische Vernichtung, sondern die völlige Zurückweisung des Unrechts und die gänzliche „Erledigung“ derer, die die Zeugen ins Unrecht setzen wollen. Mit 11,6 (Plagen von der Hand der zwei Zeugen) setzt sich die schon in 9,20f namhaft gemachte (hier wie dort freilich vergebliche) „pädagogische“ Absicht der Plagen fort: Zu den Plagen aus Apk 9 kommt in 11,3 gewissermaßen als Explikation ihrer Intention die Umkehrpredigt der Bußpropheten, die außerdem durch das „Feuer aus ihrem Mund“ ihre besondere Vollmacht unter Beweis stellen. Doch erst eine nochmalige Steigerung bringt den gewünschten Effekt: Erst die Auferweckung der zwei Zeugen in Szene 3 (11,11) samt dem ihre Auferweckung zeichenhaft begleitenden Erdbeben in Szene 4 (11,13) versetzt die Menschen in Furcht (11,11: φόβος μέγας ἐπέπεσεν ἐπὶ τοὺς θεωροῦντας αὐτούς; 11,13: ἔμφοβοι ἐγένοντο) und lässt sie der Bedeutung des Geschehens innewerden. Heißt es in 9,20f, dass „die übrigen der Menschen“ (οἱ λοιποὶ τῶν ἀνθρώπων), die die Plagen überlebt haben, „nicht umkehrten“, so verlautet in 11,13, dass „die Übrigen“ (οἱ λοιποί) in Furcht gerieten und „dem Gott des Him‐ mels Ehre erwiesen“, und dies in nicht geringer Zahl: Wenn die 7000 Opfer des Bebens, welches ein Zehntel der Stadt zerstört, einen Schluss auf die imaginierte Einwohnerzahl von insgesamt 70000 Einwohnern zulassen, dann geben 90 % von diesen Siebzigtausend und damit fast die ganze Stadt Gott die Ehre. Damit wird deutlich, wie sich der Passus 11,1-13 in den Handlungszusammenhang einfügt: Vor der Proklamation des Reiches Gottes in 11,15ff muss wenigstens eine gewisse Zahl an Menschen zu Gott umgekehrt sein, und dies geschieht an einem qualifizierten Ort, nämlich der heiligen Stadt Jerusalem. An dieser Stelle ist auf eine (von Apk 11 aus betrachtet) entlegene und gerade deshalb bemerkenswerte Parallele zu verweisen: Dieselbe Dramaturgie der Umkehr auf Seiten der Menschen als Bedingung für die Proklamation bzw. Verkündigung des Reiches Gottes findet sich auch in Mk 1,1ff, dem „Anfang des Evangeliums“: Die Bereitung des Weges „vor deinem Angesicht“ durch den Boten realisiert sich durch die im Plural formulierte (ἑτοιμάσατε, ποιεῖτε), sozusagen an eine Vielheit von Akteuren weitergegebene Aufforderung zur Wegbereitung. Dies geschieht durch den Umkehrruf dieses Boten in Gestalt der Bußtaufe des Johannes, auf die „das ganze judäische Land und die Bewohner Jerusalems“ positiv reagieren, indem sie ihre Sünden bekennen und sich taufen lassen. Daraufhin erfolgt nach Taufe und Versuchung Jesu sein Auftreten als Bote der nahegekommenen Gottesherrschaft. Das heißt: Die Umkehr Israels ist nach Mk 1,1ff der „Anfang“ vom „Evangelium“ der genahten „Gottesherrschaft“. Ebenso ist in Apk 11 die Hinwendung von neun Zehnteln der heiligen Stadt 148 Manuel Vogel <?page no="149"?> 19 Derselbe Zusammenhang erhellt auch die Abfolge von Kap. 11 und 12, wie Berger, Apokalypse, Bd.-2, 856 beobachtet hat; s.-u. Anm. 25. 20 So aber Peterson, Vorlesungen, 109: „Die Kreuzigung Christi durch die Juden in Jerusalem wird mit verhaltenem Pathos und eindrucksvollem Ernst in einem Nebensatz erwähnt. Die Juden werden als prophetenmörderisches Geschlecht betrachtet (…).“ Petersons Apokalypse-Interpretation, die wegen ihrer antirömischen Perspektive Be‐ achtung verdient, ist andererseits anfällig für antijüdische Stereotype. Sein Denken leidet anscheinend generell an der Verwendung von „Judentum“ und „Heidentum“ als negativen Vergleichsgrößen für das „Christentum“, so etwa in dem von ihm konstru‐ ierten Gegensatz von Monotheismus (jüdisch, heidnisch) und Trinität (christlich) in Peterson, Monotheismus, mit allerdings ernstem zeitgeschichtlichen Hintergrund in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt im Jahr 1935. Bemerkenswert ist die Rezeption von Apk 11 im mittelalterlichen ludus de antichristo aus der Zeit des Kaisers Friedrich Barbarossa (1122-1190). In der von Hasenkamp, Antichrist, gebotenen Fassung leistet „[n]ur der König der Deutschen (…) zunächst Widerstand und triumphiert über die Heere des Antichrists. Doch der Antichrist täuscht auch ihn. Nur die Synagoge widersteht. Ihre Propheten Elias und Henoch entlarven ihn und rufen die Synagoge zu ihrem Glauben zurück. Die Synagoge wird daraufhin vor den Antichristen gebracht und hingerichtet. Da bricht ein Gottesdonner herab und die Kirche kehrt zum wahren Glauben zurück“ (Mehring, Carl Schmitt, 275. Schmitt kannte das Stück in Hasenkamps Ausgabe und korrespondierte mit Hasenkamp darüber, so Mehring, Carl Schmitt, 647 Anm. 58). zu Gott das Vorspiel zum Schall der siebten Posaune und Proklamation der universalen Königsherrschaft Gottes durch den Engel. 19 Dass nun die „heilige Stadt“ (11,2) in 11,8 die „große Stadt“ heißen kann - sonst in Apk Bezeichnung für Babylon/ Rom - und darüber hinaus mit „Sodom“ und „Ägypten“ gleichgesetzt wird, markiert den Gipfel der heidnischen Profanierung Jerusalems als Schauplatz des „Krieges“ des „Tieres aus dem Abgrund“ gegen die zwei Zeugen, deren Leichname dort unbestattet liegen - an demselben Ort „wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde“ (ὅπου καὶ ὁ κύριος αὐτῶν ἐσταυρώθη). Dass die Kreuzigung eine römische Strafe war, war gängiges antikes Wissen, sodass die Szene zusammen mit der Referenz auf das „Tier“ einen doppelten Bezug zur Stadt Rom erhält: In geographischer Überblendung wird aus „Jerusalem“ die Stadt „Rom“, wird die „heilige“ zur „großen“ Stadt. Bemerkenswert ist, dass hier jedweder antijüdische Ton, der „die Juden“ für den Tod Jesu in Haftung nähme, fehlt. Jerusalem wird profaniert nicht durch einen etwaigen jüdischen Christusmord, 20 sondern durch das Kreuzigen des „Herrn der Zeugen/ Märtyrer“ durch die römische Besatzungsmacht. Undeutlich bleibt, ob die Akteure ἐκ τῶν λαῶν καὶ φυλῶν καὶ γλωσσῶν καὶ ἐθνῶν (11,9) Nichtjuden oder jüdische Pilger aus der Diaspora sind. Was in der Stadt geschieht, hat jedenfalls eine universale Dimension: Über den Tod der zwei Zeugen freuen sich nicht explizit (nur) die Stadtbewohner, sondern überhaupt Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 149 <?page no="150"?> 21 Eine enge Verbindung von Prophetenamt und Märtyrertum ist hier vorausgesetzt. Diese ist grundlegend für die atl.-jüdische Prophetenmord-Tradition; klassisch hierzu Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. οἱ κατοικοῦντες ἐπὶ τῆς γῆς (mit der bekannten Unschärfe, ob hier nur das heilige Land gemeint ist oder die ganze Erde), wie ja die zwei Zeugen auch τοὺς κατοικοῦντας ἐπὶ τῆς γῆς gepeinigt haben. Die in 11,13 genannten λοιποί sind dagegen die Stadtbewohner, die die Auferweckung der zwei Zeugen und das Erdbeben erleben. Die Konturen sind also insgesamt unscharf, aber Jerusalem und seine Bewohner spielen durch die mehrheitliche Hinkehr zu Gott eine entscheidende Rolle als Wegbereiter der Proklamation der Gottesherrschaft durch den Engel. Das Kriegsmotiv in Szene 2 (11,7) ist als Teil dieses Handlungszusammen‐ hangs zu interpretieren. Deutlich ist von vornherein, dass es nicht um einen realen Krieg mit Truppen und Waffen geht. „Kriegsgegner“ des Tieres sind vielmehr allein die zwei Zeugen, sei es als historische oder künftig erwartete Akteure oder als Symbolgestalten für (charismatisch-thaumaturgische? ) Mär‐ tyrer. „Krieg“ dürfte hier für die finale Machtprobe des „Tieres“ (Rom) mit dem „Gott des Himmels“ (11,13) stehen. Nach der Theologie der Apk heißt das: Diese Machtprobe entscheidet sich unter maßgeblicher Mitwirkung der Märtyrer und ihres in 11,8 genannten „Herrn“ Jesus als des Herrn der Märtyrer und Propheten. 21 Zunächst „siegt“ das Tier, indem es die zwei Zeugen tötet und die Menschen ἐκ τῶν λαῶν καὶ φυλῶν καὶ γλωσσῶν καὶ ἐθνῶν auf seiner Seite hat, die die zwei Zeugen äußerster Verachtung preisgeben, indem sie ihre Bestattung verhindern. Durch die Auferweckung der zwei Zeugen verkehrt sich aber dieser Sieg in die vernichtende Niederlage des Tieres, an der es wider Willen entscheidend selbst mitgewirkt hat, denn nur die getöteten Zeugen konnte Gott auferwecken, und erst ihre Auferweckung hat die Umkehr der Stadtbewohner bewirkt. Von dieser Warte erklärt sich auch, warum in 11,13 nicht wie in 9,20f ausdrücklich von „Umkehr“ (μετανοεῖν) der Stadtbewohner die Rede ist, sondern davon, dass sie „den Gott des Himmels ehren“, denn das heißt ja nichts anderes, als dass sie nun nicht mehr das Tier ehren, das die kultische Verehrung durch die Menschen fordert, sondern eben Gott als den rechtmäßigen Allherrscher. Damit ist die Niederlage des Tieres perfekt: Seine Anhänger wenden sich von ihm ab und erkennen in der Doxologie Gott als den wahren Herrscher an. Wichtig ist, dass dies in der von Rom geschändeten heiligen Stadt Jerusalem geschieht, die gerade inmitten der Katastrophe ihrer Profanierung zum Ort des Umschwungs vom Unheil zur Rettung wird. Der „Krieg“ als Drama der ultimativen Konfrontation zwischen Gott und Satan findet hier statt. Er wird von den zwei Zeugen zunächst verloren und gerade dadurch gewonnen. 150 Manuel Vogel <?page no="151"?> 22 Berger Apk, Bd 2, VI folgend, jedoch mit der Abweichung, dass Berger 12,15-18 zu einer einzigen Szene zusammenzieht: Szene 1: Großes Zeichen am Himmel. Schwangere Frau und Geburt (12,1-2); Szene 2: Anderes Zeichen im Himmel: Drache, Sternenfall, Bedrohung des Kindes durch den Drachen (12,3-4); Szene 3: Geburt und Entrückung des Kindes (12,5); Szene 4: Flucht der Frau in die Wüste (12,6); Szene 5: Krieg Michaels gegen den Drachen (12,7); Szene 6: Niederlage des Drachen, sein Sturz aus dem Himmel (12,8-9); Szene 7: Proklamation der Gottesherrschaft nach dem Sturz des Anklägers, Sieg der Zeugen, Jubel- und Weheruf (12,10-12); Szene 8: Verfolgung der Frau durch den Drachen. Ihre Bewahrung in der Wüste (12,13-14); Szene 9: Verfolgung der Frau durch die Schlange, ihre Bewahrung (12,15-16); Szene 10: Krieg der Schlange gegen die Nachkommenschaft der Frau (12,17). 3.2 Apk 12,1-17 Kap. 12 bildet ein zusammenhängendes Stück, das sich in zehn Szenen unter‐ gliedern lässt 22 . Für unser Thema konzentrieren wir uns auf die Szenenfolge ab v.7 und zählen diese bis v.17 als Szenen 1-6: Szene 1 7 Καὶ ἐγένετο πόλεμος ἐν τῷ οὐρανῷ, ὁ Μιχαὴλ καὶ οἱ ἄγγελοι αὐτοῦ τοῦ πολεμῆσαι μετὰ τοῦ δράκοντος. καὶ ὁ δράκων ἐπολέμησεν καὶ οἱ ἄγγελοι αὐτοῦ, 7 Und es fand ein Krieg statt im Himmel, und Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel. -- Szene 2 8 καὶ οὐκ ἴσχυσεν οὐδὲ τόπος εὑρέθη αὐτῶν ἔτι ἐν τῷ οὐρανῷ. 9 καὶ ἐβλήθη ὁ δράκων ὁ μέγας, ὁ ὄφις ὁ ἀρχαῖος, ὁ καλούμενος Διάβολος καὶ ὁ Σατανᾶς, ὁ πλανῶν τὴν οἰκουμένην ὅλην, ἐβλήθη εἰς τὴν γῆν, καὶ οἱ ἄγγελοι αὐτοῦ μετ’ αὐτοῦ ἐβλήθησαν. 8 und nicht war er stark [genug], noch fand sich mehr ein Platz für sie im Himmel. 9 Und geworfen wurde der große Drache, die alte Schlange, genannt „Teufel“ und „der Satan“, der die ganze Welt irreführt, geworfen wurde er auf die Erde und mit ihm geworfen wurden seine Engel. - Szene 3 10 καὶ ἤκουσα φωνὴν μεγάλην ἐν τῷ οὐρανῷ λέγουσαν· ἄρτι ἐγένετο ἡ σωτηρία καὶ ἡ δύναμις καὶ ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἡμῶν καὶ ἡ ἐξουσία τοῦ χριστοῦ αὐτοῦ, ὅτι ἐβλήθη ὁ κατήγωρ τῶν ἀδελφῶν ἡμῶν, ὁ κατηγορῶν αὐτοὺς ἐνώπιον τοῦ θεοῦ ἡμῶν ἡμέρας καὶ νυκτός. 10 Und ich hörte eine laute Stimme im Himmel, die sprach: Nun ist die Rettung und die Kraft und die Königsherrschaft unseres Gottes geworden, und die Vollmacht seines Gesalbten, denn [hinaus]geworfen wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie verklagt vor unserem Gott Tag und Nacht. Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 151 <?page no="152"?> 23 S.o. bei Anm. 11. 11 καὶ αὐτοὶ ἐνίκησαν αὐτὸν διὰ τὸ αἷμα τοῦ ἀρνίου καὶ διὰ τὸν λόγον τῆς μαρτυρίας αὐτῶν καὶ οὐκ ἠγάπησαν τὴν ψυχὴν αὐτῶν ἄχρι θανάτου. 12 διὰ τοῦτο εὐφραίνεσθε, [οἱ] οὐρανοὶ καὶ οἱ ἐν αὐτοῖς σκηνοῦντες. οὐαὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν, ὅτι κατέβη ὁ διάβολος πρὸς ὑμᾶς ἔχων θυμὸν μέγαν, εἰδὼς ὅτι ὀλίγον καιρὸν ἔχει. 11 Und sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes und durch das Wort ihres Zeug‐ nisses und nicht haben sie geliebt ihr Leben bis zum Tod. 12 Deshalb freut euch, ihr Himmel, und die in ihnen wohnen. Wehe [aber] der Erde und dem Meer, denn herabgestiegen ist der Teufel zu euch, und er hat großen Zorn, weil er weiß, dass er [nur noch] wenig Zeit hat. - Szene 4 13 Καὶ ὅτε εἶδεν ὁ δράκων ὅτι ἐβλήθη εἰς τὴν γῆν, ἐδίωξεν τὴν γυναῖκα ἥτις ἔτεκεν τὸν ἄρσενα. 14 καὶ ἐδόθησαν τῇ γυναικὶ αἱ δύο πτέρυγες τοῦ ἀετοῦ τοῦ μεγάλου, ἵνα πέτηται εἰς τὴν ἔρημον εἰς τὸν τόπον αὐτῆς, ὅπου τρέφεται ἐκεῖ καιρὸν καὶ καιροὺς καὶ ἥμισυ καιροῦ ἀπὸ προσώπου τοῦ ὄφεως. 13 Und als der Drache sah, dass er auf die Erde geworfen war, verfolgte er die Frau, die das Männliche geboren hatte. 14 Und gegeben wurden der Frau die zwei Flügel des großen Adlers, damit sie flöge in die Wüste an ihren Ort, an dem sie ernährt würde eine Zeit und [zwei] Zeiten und eine halbe Zeit, weg vom Angesicht der Schlange. - Szene 5 15 καὶ ἔβαλεν ὁ ὄφις ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ ὀπίσω τῆς γυναικὸς ὕδωρ ὡς ποταμόν, ἵνα αὐτὴν ποταμοφόρητον ποιήσῃ. 16 καὶ ἐβοήθησεν ἡ γῆ τῇ γυναικὶ καὶ ἤνοιξεν ἡ γῆ τὸ στόμα αὐτῆς καὶ κατέπιεν τὸν ποταμὸν ὃν ἔβαλεν ὁ δράκων ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ. 15 Und es spie die Schlange aus ihrem Mund hinter der Frau her Wasser wie ein Strom, damit sie fortgespült würde. -16 Und es kam die Erde der Frau zur Hilfe, und es öffnete die Erde ihren Schlund und verschlang den Strom, den der Drache aus seinem Mund gespien hatte. - Szene 6 17 καὶ ὠργίσθη ὁ δράκων ἐπὶ τῇ γυναικὶ καὶ ἀπῆλθεν ποιῆσαι πόλεμον μετὰ τῶν λοιπῶν τοῦ σπέρματος αὐτῆς τῶν τηρούντων τὰς ἐντολὰς τοῦ θεοῦ καὶ ἐχόντων τὴν μαρτυρίαν Ἰησοῦ. 17 Und es erzürnte der Drache über die Frau und ging weg um Krieg zu führen gegen ihre übrige Nachkommenschaft, die die Gebote Gottes bewahren und festhalten am Zeugnis Jesu. Die bereits erwähnte rhetorische Gesamtgliederung der Apk, hier namentlich die Einordnung der Kapitel 12-19 als refutatio, 23 ermöglicht eine plausible Sicht auf die Stellung von Kap. 12 im Ganzen der Apk: Was hier und in den 152 Manuel Vogel <?page no="153"?> 24 12,18 ist Überleitung zu Kap.-13 oder überhaupt zum Folgenden zu ziehen. 25 Berger, Apokalypse, Bd. 2, 856. Berger schlüsselt diese Analogie wie folgt auf: „Evan‐ gelien: Prophet Johannes der Täufer (Züge von Elia), Gegner in Israel - Bekehrung eines Teils von Israel - Martyrium des Täufers (Auferstehung von manchen erwartet: Mk 6,16) - der Messias wird geboren - Martyrium - er wird entrückt - er kommt wieder. Apk: Zwei prophetische Zeugen (Züge von Elia), Gegner in Israel - Bekehrung eines Teils von Israel - Martyrium und Auferstehung - der Messias wird geboren - er wird entrückt---er kommt wieder.“ anschließenden Kapiteln folgt, ist nicht ein völlig neues Geschehen, sondern das bisher Geschilderte wird aspekthaft nochmals aufgegriffen, nun als refutatio des in der probatio bereits Thematisierten: Widerlegt werden soll der Anspruch der gottfeindlichen Mächte auf die bereits proklamierte Gottesherrschaft. Nach 11,15-18 verlautet deshalb diese Proklamation in 12,10-12 (Szene 3) abermals durch eine Himmelsstimme, nun aber in Unterscheidung zwischen Himmel und Erde dergestalt, dass, was im Himmel bereits Wirklichkeit ist, auf der Erde geradezu aus seinem Gegenteil geschlossen werden muss bzw. kann: Die Depotenzierung des Teufels/ Satans im Himmel und sein Sturz wirken sich aus in der Eskalation desjenigen Machtkampfes, den er im Himmel bereits verloren hat und nun auf Erden für sich zu entscheiden hofft, freilich so, dass die Zeit für ihn eng wird, was seinen Zorn noch steigert. Kap. 12 ist an Kap. 11 angebunden durch 11,19, sofern hier der Blick in den geöffneten Himmel einhergeht mit Wetterphänomenen (Blitze, Donner, Hagel) und Erdbeben, d. h. hier wird überleitend und vorgreifend der Blick bereits auf die Erde gelenkt, die dann über 12,4 (Sterne fallen auf die Erde) mit 12,12 zum Hauptschauplatz wird. Innerhalb des Kapitels markiert 12,7 eine gewisse Zäsur, weil der Ort (Wüste / Himmel) und teilweise die Akteure (Frau / Michael, bei gleichzeitiger Wiederkehr des Drachen in 12,7.9.13) wechseln. Doch deutet sich bereits in 12,1 (Opponenten Frau / Drache) der Antagonsimus an, der in 12,7 als „Krieg im Himmel“ geschildert wird. Außerdem bilden die „Frau“ (12,1) und die „Nachkommen der Frau“ (12,17) eine inclusio um das gesamte Kapitel. 24 Für die Abfolge von Kap. 11 (zwei Zeugen) und 12 (messianisches Kind) verweist Berger auf eine „Analogie im Geschichtsbild der Evangelien“, nämlich auf eine „prophetisch und zugleich martyrologisch orientierte Tradition über den prophetischen Vorgänger des Messias und den Messias selbst“. 25 Die Textbeobachtungen im Einzelnen beginnen mit 12,7 (Szene 1): Die Formulierung „Krieg im Himmel“ (πόλεμος ἐν τῷ οὐρανῷ) ist durchaus kühn. Impliziert ist, dass in Gottes ureigenem Machtbereich die Machtverhältnisse zur Disposition stehen. Dass der Drache diesen Krieg gewinnen könnte, ist zumindest eine theoretische Möglichkeit. Gemildert wird diese Vorstellung zwar dadurch, dass dieser Krieg nicht von Gott selbst geführt wird, sondern sozusagen Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 153 <?page no="154"?> 26 Die von Bousset, Offenbarung, 340 beigebrachten Vergleichsstellen (2Makk 5,2f; JosBell 6,298; Sib 3,796-808) verfangen nicht, denn dort geht es um nephelomantische Prodi‐ gien, die aus (bewegten) Wolkenbildern gewonnen werden und auf ein kriegerisches Geschehen auf der Erde weisen; vgl. JosBell 6,298 „bewaffente Scharen durch die Wolken dahineilen“ (Übs. Clementz, Flavius Josephus. Der Jüdische Krieg, 462); Sib 3,805 „in der der Wolke werdet ihr sehen einen Kampf von Fußvolk und Reitern“ (Übs. hier und nachfolgend Merkel, Sibyllinen, 1107); zu Bildern am Himmel als Prodigium vgl. 2Makk 5,4: „Daher beteten alle, die Himmelserscheinung möge von guter Vorbedeutung sein“ (Übs. Habicht 2. Makkabäerbuch, 225). In Sib 3,807 („Dieses Ende des Krieges setzt Gott fest, der den Himmel bewohnt“) greift Gott vom Himmel her einen irdischen Krieg ein, nicht in einen himmlischen. Wenn Bousset an selber Stelle Apk 12,7 versteht im Sinne der „Vorstellung, dass der Drache hier mit Gewalt den Himmel zu stürmen versucht“ (mit „Parallelen in der persischen Mythologie“), dann verzeichnet er das Bild: Es wird nicht ein Angriff des Drachen auf den Himmel abgewehrt, sondern der Drache befindet sich bereits dort und muss dort auch besiegt werden. 27 Zum Vergleich mit Lk 10,18 und Joh 12,32 ausführlich Kalms, Der Sturz des Gottes‐ feindes, 207-273. eine Etage tiefer zwischen Michael und dem Drachen. Aber die Vorstellung, dass auch und gerade im Himmel die Machtstellung Gottes gegen Angriffe verteidigt werden muss, liegt nahe. 26 Dass Jesus hier wie auch in den folgenden Szenen keine bzw. keine aktive Rolle spielt, ist christologisch eine Bemerkung wert: In der Dramaturgie von Kap. 12 „hängt“ durchaus nicht alles „an Jesus“, es gibt im Heilsdrama auch andere (entscheidende! ) Akteure. Dies schmälert nicht die Bedeutung Jesu als „Lamm“ und seine Machtstellung als „Gesalbter“, im Gegenteil: Wer in der Hierarchie ganz oben steht, macht eben nicht alles selber. Die Rollenverteilung in Apk 12 ist aber gerade im Blick auf die Pragmatik differenziert wahrzunehmen und zu beschreiben. Es wird sich zeigen, dass die Verlagerung wesentlicher Teile des Heilsgeschehens auf eine untere Ebene eine textpragmatische Pointe hat. Szene 2 (12,8-9) akzentuiert nachträglich das Dramatische der in Szene 1 namhaft gemachten Situation: Wenn die Niederlage des Drachen mangels Kampfkraft (οὐκ ἴσχυσεν) zur Folge hat, dass sein bisheriger τόπος ἐν τῷ οὐρανῷ (v.8) ihm verloren geht, dann ist damit ja nichts anderes gesagt, als dass er einen solchen τόπος bisher innehatte. Der Drache nahm bisher einen Platz im Himmel ein, der ihm nur durch einen πόλεμος ἐν τῷ οὐρανῷ streitig zu machen war. Dass freilich Michael und seine Engel den Satan mitsamt seinen Engeln „besiegt“ haben, wird nicht ausdrücklich gesagt. Es verlautet nur, dass der Drache (Schlange / Teufel / Satan) zu schwach war, und dass er und seine Engel auf die Erde geworfen wurden. Einschlägig für den Motivkomplex „Satanssturz“ sind die Stellen Lk 10,17-20; Joh 12,31 27 ; Hebr 2,14 und AssMos 10,2: Mit Lk 10,17-20 hat Apk 12,8-10 154 Manuel Vogel <?page no="155"?> 28 Hierzu Berger, Kommentar, 380f. gemeinsam, dass kein Bezug zum Tod Jesu hergestellt wird. Vielmehr „sieht“ Jesus lediglich den Satanssturz und führt ihn nicht herbei, auch nicht durch seinen Tod. Anders ist in Lk 10 gegenüber Apk 12, dass der Aufenthalt Satans auf der Erde nicht thematisiert, geschweige denn (wie in Apk 12,12) problematisiert wird, doch rechnet auch Lk 10 mit der Präsenz der Dämonen (Apk 12: Engel Satans) auf der Erde, nur dass diese Präsenz nun beherrschbar ist durch Exorzismen. Die Jünger haben nach Lk 10,19 ihre exorzistische ἐξουσία von Jesus erhalten. Sie wird angewendet durch den Gebrauch seines Namens. Das ist augenscheinlich so vorzustellen, dass Jesus als in seiner Taufe permanent mit Geist Begabter Macht über die unreinen Geister (Dämonen) hat und diese Macht durch den Gebrauch seines Namens an berufene Vollmachtsträger delegieren kann (ein Zusammenhang zum Tod Jesu besteht hier tatsächlich nicht, auch nicht auf Umwegen). Dagegen wird der Satanssturz in Joh 12,31 ursächlich und exklusiv mit dem Tod Jesu verknüpft: νῦν ὁ ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου ἐκβληθήσεται ἔξω, mit Bezug auf das bevorstehende Erhöhtwerden Jesu ( Joh 12,32). Der räumliche Index (ἔξω) bleibt undeutlich, streng genommen geht es nicht um einen Sturz (oben - unten), sondern um Exklusion (innen - außen). Ein Bezug zum Sühnetod Jesu besteht freilich auch hier nicht, vielmehr ist der Tod Jesu das großartige Ende seines bis zum Schluss durchgehaltenen Gehorsams. Dafür, dass er vor der „Stunde“ seines nahen Endes nicht zurückschreckt, wird er (durch die im JohEv nur hier intradiegetisch vernommene Gottesstimme selbst! ) vom Vater „verherrlicht“ (12,28). Der ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου hat ausgespielt, weil es ihm erstens nicht gelungen ist, Jesus von diesem Weg abzubringen, und weil Jesu Tod zweitens eine eminente missionarische Wirkung zeitigt (12,24: „viel Frucht“; 12,32: „alle zu mir ziehen“), mithin dem widergöttlichen Weltherrscher seine Untertanen abspenstig macht. 28 Eine anders gelagerte satanologische Deutung des Todes Jesu findet sich in Hebr 2,14: Jesus hat durch seinen Tod „zunichte gemacht den, der Macht über den Tod hat, den Teufel“ (ἵνα διὰ τοῦ θανάτου καταργήσῃ τὸν τὸ κράτος ἔχοντα τοῦ θανάτου, τοῦτ’ ἔστιν τὸν διάβολον) und damit den Menschen die Furcht vor dem Tod genommen. Gemeint ist: Durch seinen Tod ist Jesus in das Totenreich, die Domäne des Teufels, eingedrungen und damit seinen Totalanspruch von innen her zerstört. Die Usurpation des Totenreiches und die Entmachtung des Teufels durch das Eingehen in die Sphäre der Sterblichen ist in Hebr 2 geradezu die Pointe der Inkarnation. Von Apk 12 sind wir damit freilich schon ziemlich weit weg, denn vom Eindringen in das Totenreich ist hier nicht die Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 155 <?page no="156"?> 29 Übs. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 76. 30 Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 76. 31 Berger, Apokalypse, 920. Rede. Dagegen führt AssMos 10,1-2 wieder näher an Apk 12,8-9 heran, u. zw. hinsichtlich der Rolle Michaels: 1 Und dann wird seine Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen und dann wird der Teufel nicht mehr sein und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein. 2 Dann werden die Hände des Engels gefüllt werden der an höchster Stelle steht, und sogleich wird er sie rächen an ihren Feinden. 29 Michael ist hier nicht namentlich genannt, jedoch handelt es sich bei dem „Engel, der an höchster Stelle steht“ mit hoher Wahrscheinlichkeit um eben diesen. 30 Gemeinsamer Hintergrund ist Dan 12,1. Dort tritt Michael als „großer (Engel-)Fürst“ auf und beschützt Israel. Dem entspricht seine Rolle als Rächer der Getreuen in AssMos 10,2. Wie in Apk 12 steht das Auftreten Michaels in AssMos 10,1-2 in engem sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Anbrechen der Gottesherrschaft (vgl. Apk 12,10) und mit dem Sturz bzw. dem Verschwinden des Teufels. Szene 3 (Apk 12,10-12) bildet formal eine Einheit dadurch, dass das von der „lauten Stimme im Himmel“ Gesagte sich bis zum Jubel- und Wehruf in v.12 erstreckt. „Apk 12,10-12 ist“, so Klaus Berger, „wohl der dichteste Abschnitt in der Apk. Das ist an der Vielzahl der aufgerufenen Akteure erkennbar: Gott, Christus, Ankläger (=Teufel), Brüder, Himmel, Erde. Zudem besteht der Text aus gründlichen Oppositionen: Rettung gegen Anklage, Sieg gegen Martyrium, Jubel gegen Wehe, die Angeredeten gegen den Zorn (die Wut) des Teufels.“ 31 Die besondere Dramatik dieser Szene besteht darin, dass Jubel- und Wehruf mit einer Stimme und in einem Atem laut werden, dass mithin der Grund zur Freude und zur Wehklage eng beieinander liegen und zeitgleich zwei Szenarien der endgültigen Rettung (σωτηρία in 12,10a) und der äußersten Gefahr imaginiert werden. In v.10b wird die Proklamation der Königsherrschaft Gottes und der Voll‐ macht seines Gesalbten ursächlich zurückgeführt auf den Hinauswurf des Anklägers. Damit verschiebt sich der Bildspender vom Militärischen (Szenen 1 und 2) hin zum Juridischen (Szene 3). Zugleich wird ein Ortswechsel vom Schlachtfeld zum Gerichtssaal vollzogen: Die eigentliche Schlacht wird nicht im Kampf zweier Heere geschlagen, sondern vor Gericht, jedoch so, dass nicht ein Prozess gewonnen, sondern die Architektur des Gerichtsverfahrens tiefgreifend 156 Manuel Vogel <?page no="157"?> 32 Holtz, Offenbarung, 94 schwächt dieses Moment ab, wenn er feststellt, dass die Gläubigen sich den durch Christus errungenen Sieg „zu eigen gemacht“ haben. Treffend dagegen Kraft, Offenbarung, 169: „Den Sieg Christi haben insbesondere die Märtyrer in der Nachfolge des Lammes bewirkt.“ Pointiert auch Lohmeyer, Offenbarung, 103: „Gottes Sieg ist der Sieg seiner Gläubigen; und er ist der Tod“. Tatsächlich ist es die Unbeugsamkeit der Märtyrer bis in den Tod, die die Macht des Imperiums bricht. verändert wird durch die Entfernung des Anklägers. Die Wortgleichheit von Satanssturz (v.9: ἐβλήθησαν) und Hinauswurf des Verklägers (v. 10: ἐβλήθη) sug‐ geriert, dass es sich um ein und denselben Vorgang handelt. Zur metaphorischen Verschiebung kommt damit die metaphorische Überblendung bzw. Verschrän‐ kung: Die Bildelemente „Krieg“ und „Gericht(sverfahren)“ interpretieren sich gegenseitig. Beide Aspekte wirken semantisch auch auf die Begriffe σωτηρία, δύναμις und βασιλεία in 12,10 ein: Militärisch kann σωτηρία verstanden werden als Rettung vor dem Feind, δύναμις als die Kraft zum militärischen Sieg und βασιλεία als unangefochtene Herrschaft des Königs nach dem Sieg über den Feind. Juridisch bedeutet σωτηρία die Bewahrung vor Schuldspruch und Verurteilung und βασιλεία die volle Rechtshoheit des Königs. Entscheidend ist nun, dass nach v.11 die mit αὐτοί unvermittelt einge‐ führten Gläubigen ausdrücklich diejenigen sind, die den Ankläger (= Dra‐ chen / Schlange / Teufel / Satan) „besiegt“ haben: αὐτοὶ ἐνίκησαν αὐτόν. Das heißt: Michael hat zwar gegen den Drachen gekämpft, besiegt haben ihn aber die Gläubigen. 32 Dazu passt, dass in Szene 2 nur verlautet, dass der Drache gegen Michael „nicht [zu siegen] vermochte“ (οὐκ ἴσχυσεν) und dass für ihn kein Ort/ Platz mehr im Himmel war. Im Sinne der metaphorischen Überblendung zwischen den Szenen 1 und 2 einerseits und Szene 3 andererseits ist der in v.8 genannte „Ort“, den der Drache nicht halten konnte, der in v.10b angedeutete Platz des Anklägers im himmlischen Gerichtssaal. Dieser Platzverweis war seine „militärische“ Niederlage. Oder aber der Hinauswurf aus dem Gerichtssaal und die Niederlage gegen Michael sind (bei Gefahr einer Überstrapazierung der Bildlogik) als zwei separate, jedoch in einem einzigen Handlungszusammen‐ hang stehende Vorgänge aufzufassen. Dann hätte der Drache/ Ankläger durch den Hinauswurf aus dem Gerichtssaal die entscheidende Schwächung erfahren und war daraufhin und deswegen den Heeren Michaels in der Schlacht nicht gewachsen. Gleichviel: Der entscheidende Wendepunkt des Geschehens ist der Sieg der Gläubigen, den sie „durch das Blut des Lammes und durch das Wort ihres Zeugnisses“ (διὰ τὸ αἷμα τοῦ ἀρνίου καὶ διὰ τὸν λόγον τῆς μαρτυρίας αὐτῶν) errungen haben, und zwar mit der Bereitschaft, das Festhalten am „Wort ihres Zeugnisses“ auch mit dem Leben zu bezahlen (v. 11b: „nicht haben sie geliebt ihr Leben bis zum Tod“). Versuchsweise kann dieser Sachzusammenhang Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 157 <?page no="158"?> 33 U. zw. bei Lebzeiten und von der Erde aus. Dass im Himmel vom Geschehen auf der Erde Notiz genommen wird, wird etwa in Mt 18,10f (den Kleinen Ärgernis geben) vorausgesetzt: „Ihre Engel in den Himmeln schauen allezeit das Angesicht meines Vaters, der in den Himmeln ist.“ 34 Berger, Apokalypse, Bd.-2, 923. detailliert vorgestellt werden, d. h. es kann gefragt werden, wie das, was hier konstatiert wird, konkret zu denken ist. Die Gläubigen hätten dann vor dem himmlischen Gerichtsforum sich auf das Sühneblut Jesu berufen 33 und damit die unerbittliche Gerechtigkeits-Logik des Anklägers unterlaufen durch die im Sühnetod Jesu wirksam werdende Barmherzigkeit. Der Ankläger musste er‐ kennen, dass sein Insistieren auf der strafenden Gerechtigkeit fortan chancenlos war gegenüber der göttlichen Barmherzigkeit. Das heißt: Nicht schon durch das Vergießen des Sühneblutes wird der Ankläger aus dem Felde geschlagen, sondern dadurch, dass die Gläubigen sich im je konkreten Fall vor Gericht auf dieses Blut berufen. Sollte dies das mit dem schlichten ἐνίκησαν in v.11 Gemeinte zutreffend paraphrasieren, wird den Gläubigen geradezu die Hauptrolle in der Überwindung des Widersachers zugeschrieben. Sie werden zugleich zu den entscheidenden Wegbereitern der Gottesherrschaft. Ihre Berufung auf das Sühneblut Jesu evoziert den Satanssturz und macht den Weg frei für die Proklamation der Gottesherrschaft. Wie schon im ersten Text 11,1-13(15-18) ist das Verhalten von Menschen „wegbereitend“ für die Gottesherrschaft. Das ist, wenn in 12,1-17 tatsächlich dasselbe nochmal erzählt wird, nur eben aus einem anderen Blickwinkel, geradezu zu erwarten. Nur geht es eben jetzt nicht um die sozusagen statistisch erfassbare subversive Umorientierung von der Kaiserverehrung zur Verehrung des einen Gottes, sondern - und das ist von er‐ heblichem Gewicht - um die Brechung und Überwindung einer Kultur der Schuld. Auch dafür steht das römische Imperium: für eine Kultur der Schuld. Und auch dafür steht die Gottesherrschaft: für ihre Überwindung. Theologisch bedeutet die gerichtswirksame Durchsetzung der göttlichen Barmherzigkeit gegen die verklagende Gerechtigkeit also nicht nur eine „Revolution im Gottesbild“ 34 und die Gläubigen sind entscheidend wichtige Akteure dieser Revolution, sondern hier liegt auch eine „kulturkritische“ Figur vor, deren Tiefe und Reichweite kaum zu ermessen ist und die bis in die Debatten um den paulinischen Gesetzesbegriff hineinreicht. Denn nach Apk 12 ist nicht Gott derjenige, der die Menschen verklagt, sondern der Satan, und der Satan wird in der Sicht der Apk repräsen‐ tiert durch römisches Militär, römisches Recht und römische Gerichtsbarkeit inklusive der Kapitalgerichtsbarkeit. Auch und vor allem hiergegen ist, so die Apk, das Sühneblut Jesu wirksam. 158 Manuel Vogel <?page no="159"?> Das heißt freilich auch, dass der Glaube an Jesu heilvolles Sterben sich nicht in einer genügsamen Selbstbezüglichkeit abspielt, sondern inmitten eines Antagonismus, der den Gläubigen auch höchst gefährlich werden kann. Theo‐ logisch ist das geradezu elektrisierend, weil hier der Gedanke des Sühnetodes Jesu mit der Kritik am römischen Repressionsapparat umittelbar kurzgeschlossen wird. Beides hat hat nun seine eigentliche Relevanz in seiner wechselseitigen Beziehung, die innerhalb des NT so deutlich nur in der Apk hergestellt wird. Das „Gefahrenpotenzial“ dieses Zusammenhangs wird in mythischer Sprache so vorgestellt, dass der im Himmel nun chancenlose Ankläger / Teufel sein Wirken nun auf die Erde verlegt und seinen Zorn an den Erdenbewohnern auslässt, namentlich an denen, die ihm im Himmel durch ihre Berufung auf Jesu Sühneblut das Handwerk gelegt haben. Szene 4 (12,13-14) knüpft einerseits an Szene 3 an durch Aufnahme des Motivs vom Sturz auf die Erde (v.13: „Und als der Drache sah, dass er auf die Erde geworfen war“) und lenkt andererseits auf Szene 1 zurück, sofern nun nicht mehr vom „Ankläger“ die Rede ist, sondern wieder vom „Drachen“, so zuletzt in 12,9. Schließlich liegt mit der erneuten Nennung der „Frau“ (12,13) eine Anknüpfung an 12,1-6 vor. Dem Bezug auf das weitere Geschick der Frau verdanken die Szenen 4 bis 6 ihre innere Kohärenz. 12,13 deutet bereits an, dass in 12,12 nicht unspezifisch alle Erdenbewohner gleichermaßen vom Zorn des Drachen / Anklägers bedroht sind, sondern die „Frau“, d. h. das Gottesvolk und zumal die Christusgläubigen. Vom messianischen Kind ist hier nicht die Rede, folgerichtig, denn es wurde ja bereits „entrückt zu Gott und zu seinem Thron“ (12,6). In v.14 geht es in Wiederaufnahme von v.6 um die Flucht der Frau in die Wüste, wo sie im apokalyptischen Zeitmaß von dreieinhalb Zeiten versorgt und vor der Schlange bewahrt wird. Szene 5 (12,15-16) ergänzt das „Ernährtwerden“ der Frau durch ihre Rettung vor den Wasserfluten der Schlange durch die zur Hilfe kommende Erde. Die Szenen 4 und 5 beschreiben mithin ein Geschehen der Bedrohung und Bewahrung. Die Erde als Ort der Bedrohung (12,12) ist zugleich Medium der Bewahrung: Die Erde, auf der sich der Teufel austobt, kommt der Frau rettend zur Hilfe (12,16). Das ist eine vertrauenerweckende Vorstellung, die ihrerseits etwas verrät über die Pragmatik des Textes, die in der folgenden Szene deutlich zutage tritt. Szene 6 (12,17) legt zusammen mit 12,1 einen Rahmen um das ganze Kapitel, das mit der Frau beginnt und endet. Der Antagonismus der beiden „Zeichen am Himmel“ in 12,1 (Frau) und 12,3 (Drache) wird bis ans Ende des Kapitels durchgehalten und abschließend akzentuiert durch den Rekurs auf einen „Krieg“ des Drachen gegen die „übrige Nachkommenschaft“ der Frau. Damit wird zugleich an Szene 1 angeknüpft, nämlich so, dass der „Krieg“ im Himmel, den Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 159 <?page no="160"?> 35 Apokalypse, Bd.-2, 943. 36 A.a.O. 37 A.a.O. In diese Richtung gehen auch die Überlegungen zur „Frage nach der Eigentüm‐ lichkeit der in Apk.Joh 12 vertretenen Theologie“ bei Busch, Der gefallene Drache, 194f. der Drache dort verloren hat, auf der Erde seine Fortsetzung findet. Er heißt nun auch wieder so wie in 12,3f und nicht ὄφις wie zwischenzeitlich in v. 9 und v. 15. Eigens zu verweisen ist auf die in 12,3 erwähnten sieben gekrönten Häupter und zehn Hörner des Drachen, womit das Bild durchsichtig wird für Herrschergestalten und -strukturen des römischen Imperiums. Im Blick auf den Handlungsverlauf der Szenen 1 bis 6 gilt, dass das, was als „Krieg“ ins Blickfeld getreten ist (Szene 1) und dann als himmlische Justizreform ansichtig wurde (Szene 3) nun wieder als Krieg kenntlich wird, u. zw. qua „Drache“ als Kriegsgegner der „übrigen Nachkommenschaft“ der Frau. Hierzu passt, dass der „Zorn“ des Anklägers/ Teufels über seinen Hinauswurf aus dem Gerichtssaal (12,12) im „Zürnen“ des Drachen gegen die Frau (12,17) wieder aufgenommen wird. Der Ankläger - modern gesprochen der „Staatanwalt“ - beginnt aus Zorn über seine Entmachtung einen „Krieg“ gegen die Nachkommen der Frau. Hierfür bedient er sich der Strukturen des römischen Staates. „[D]er frustrierte Staats‐ anwalt rächt sich für seine Missachtung, indem er sich hinter den römischen Staat klemmt und die Christen auf Erden verfolgt.“ 35 Der religiöse Sachverhalt der himmlischen Justizreform und der damit einhergehenden strukturellen Befreiung der Gläubigen von der anklagenden Gerechtigkeit und der politische Sachverhalt der Repression des Staates gegen die Christusgläubigen werden hier aufs Engste miteinander verwoben. Es handelt sich um den Hass des Teufels und des Staates gleichermaßen gegen ein Existenzverständnis, das den Kategorien von Anklage, Schuld und gerechter Strafe enthoben ist. Eben dieser „Zusammenhang zwischen Freiheit von der Anklage und Verfolgung“ findet sich auch in Röm 8,30-37, wie Klaus Berger beobachtet: „Weil Gott für die Christen ist, kann niemand mehr sie anklagen und belangen (8,33). Doch zugleich oder ,zum Ersatz‘ werden die Christen verfolgt und von Tag zu Tag in den Tod gegeben (8,35).“ 36 Und für Apk 12 gilt: „Verglichen mit den zahlreichen ähnlichen Texten (,Parallelen‘) aus Traditions- und Religionsgeschichte ist in Apk 12 das Motiv der Verfolgung ganz unverhältnismäßig breit entfaltet. Das hängt zweifellos zusammen mit der Situation der christlichen Adressaten.“ 37 In 12,11 zeichnen sich die Christusgläubigen dadurch aus, dass sie „durch das Blut des Lammes und durch das Wort ihres Zeugnisses“ siegreich waren und „ihr Leben nicht geliebt haben bis zum Tod“, und in 12,17 dadurch, dass sie „die Gebote Gottes bewahren und festhalten am Zeugnis Jesu“. 160 Manuel Vogel <?page no="161"?> Mit dem „Bewahren der Gebote Gottes“ stoßen wir auf einen Strang jüdischer Tora-Theologie, die von den Tiefen und Untiefen paulinischer Gesetzesaussagen (und dem Glanz und dem Elend ihrer Auslegungsgeschichte) völlig unberührt ist und den Blick freigibt auf eine Auffassung vom Mosegesetz, die nicht das Ge‐ ringste mit Heilsgewinn zu tun hat (und deshalb auch nicht in Widerspruch steht zu dem 12,10b in mythischer Sprache formulierten Paradigmenwechsel von der strafenden Gerechtigkeit zur Barmherzigkeit). Vielmehr hat das Bewahren der Gebote Bekenntnischarakter: Das Befolgen der Gesetze des Gottes Israels dokumentiert zeichenhaft die Zugehörigkeit zu diesem Gott und impliziert die Weigerung Rom als satanische Gegenmacht anzuerkennen. Das Gestalten des eigenen Lebens nach den Geboten Gottes ist gelebter Widerstand gegen die Gesetze des Kaisers. Das „Festhalten am Zeugnis Jesu“ in 12,17 nimmt „das Wort ihres Zeugnisses“ 12,11 auf und macht deutlich, dass es sich an beiden Stellen um denselben Personenkreis handelt. Dass das Festhalten am Zeugnis nur möglich ist für die, die „ihr Leben nicht geliebt haben bis zum Tod“, verweist auf die mit diesem Zeugnis verbundene, vom Drachen ausgehende Gefahr in Gestalt der Verfolgung durch den römischen Staat. Zugleich erhält das in 12,11 im Aorist konstatierte „Siegen“ einen gegenwärtigen und durativen Aspekt: Die Gläubigen besiegen den Drachen „je und je“ mit dem in 12,11.17 benannten Handeln, befinden sich freilich auch im permanenten Kriegszustand mit dem Drachen/ Rom, mit der entsprechenden realen Gefahr für Leib und Leben. Diese Gefahr wird mythisch überhöht als Fortsetzung eines Krieges, der im Himmel beginnt und auf Erden weitergekämpft wird, der aber durch die noch auf Erden lebenden Gläubigen im Himmel bereits gewonnen wurde und immer neu gewonnen wird durch die Berufung auf das Blut des Lammes und das todesmutige Zeugnis. „Krieg“ ist hier einerseits Bildspender, er ist aber real als himmlisches Geschehen und real auch in dem Maße, wie er für die Gläubigen, die in diesen Krieg involviert sind, tödlich enden kann. 3.3 Apk 12,18-13,10 Kapitel 13 zerfällt in zwei Teile: 13,1-10 (Der Drache und das erste Tier aus dem Meer) und 13,11-18 (das zweite Tier aus der Erde und sein Zusammenwirken mit dem ersten). Für unser Thema von Interesse ist die erste Hälfte mit dem Vorkommen von πολεμέω in 13,4, πόλεμος und νικάω in 13,7, sowie, in unmittelbarer semantischer Reichweite, αἰχμαλωσία (Kriegsgefangenschaft) und in mittelbarer (weil nicht eindeutig militärisch) μάχαιρα (Schwert) in 13,10. Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 161 <?page no="162"?> Wir orientieren uns wieder an der Berger’schen Szenengliederung (Szene 1: 12,18-13,2; Szene 2: 13,3-4; Szene 3: 13,4-6; Szene 4: 13,7-8; Szene 5: 13,9-10). Szene 1 18 Καὶ ἐστάθη ἐπὶ τὴν ἄμμον τῆς θαλάσσης. 1 Καὶ εἶδον ἐκ τῆς θαλάσσης θηρίον ἀναβαῖνον, ἔχον κέρατα δέκα καὶ κεφαλὰς ἑπτὰ καὶ ἐπὶ τῶν κεράτων αὐτοῦ δέκα διαδήματα καὶ ἐπὶ τὰς κεφαλὰς αὐτοῦ ὀνόμα [τα] βλασφημίας. 2 καὶ τὸ θηρίον ὃ εἶδον ἦν ὅμοιον παρδάλει καὶ οἱ πόδες αὐτοῦ ὡς ἄρκου καὶ τὸ στόμα αὐτοῦ ὡς στόμα λέοντος. καὶ ἔδωκεν αὐτῷ ὁ δράκων τὴν δύναμιν αὐτοῦ καὶ τὸν θρόνον αὐτοῦ καὶ ἐξουσίαν μεγάλην. 18 Und er trat an das Ufer des Meeres. -1 Und ich sah aus dem Meer ein Tier herauf‐ steigen, das zehn Hörner und sieben Häupter hatte und auf seinen Hörnen zehn Diademe und auf seinen Häuptern Namen der Läste‐ rung. -2 Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie (die) eines Bären und seine Mund wie der Mund eines Löwen. Und es gab ihm der Drache seine Kraft und seinen Thron und große Vollmacht. - Szene 2 3 καὶ μίαν ἐκ τῶν κεφαλῶν αὐτοῦ ὡς ἐσφαγμένην εἰς θάνατον, καὶ ἡ πληγὴ τοῦ θανάτου αὐτοῦ ἐθεραπεύθη. Καὶ ἐθαυμάσθη ὅλη ἡ γῆ ὀπίσω τοῦ θηρίου -4 καὶ προσεκύνησαν τῷ δράκοντι, ὅτι ἔδωκεν τὴν ἐξουσίαν τῷ θηρίῳ, καὶ προσεκύνησαν τῷ θηρίῳ λέγοντες· τίς ὅμοιος τῷ θηρίῳ καὶ τίς δύναται πολεμῆσαι μετ’ αὐτοῦ; 3 Und (ich sah) eines von seinen Häuptern war wie geschlachtet zum Tod, und seine Todeswunde wurde geheilt. Und die ganze Erde erstaunte (und lief) hinter dem Tier (her) 4 und sie fielen vor dem Drachen nieder, weil er seine Macht dem Tier gab, und sie fielen vor dem Tier nieder und sprachen: Wer ist dem Tier gleich und wer kann mit ihm Krieg führen? - Szene 3 5 Καὶ ἐδόθη αὐτῷ στόμα λαλοῦν μεγάλα καὶ βλασφημίας καὶ ἐδόθη αὐτῷ ἐξουσία ποιῆσαι μῆνας τεσσεράκοντα [καὶ] δύο. 6 καὶ ἤνοιξεν τὸ στόμα αὐτοῦ εἰς βλασφημίας πρὸς τὸν θεὸν βλασφημῆσαι τὸ ὄνομα αὐτοῦ καὶ τὴν σκηνὴν αὐτοῦ, τοὺς ἐν τῷ οὐρανῷ σκηνοῦντας. 5 Und es wurde ihm ein Maul gegeben, große (Worte) zu reden und Lästerungen und ihm wurde Vollmacht gegeben zu wirken zwei‐ undvierzig Monate. 6 Und es tat sein Maul auf zu Lästerungen gegen Gott, zu lästern seinen Namen und sein Zelt und die im Himmel wohnen. Szene 4 7 καὶ ἐδόθη αὐτῷ ποιῆσαι πόλεμον μετὰ τῶν ἁγίων καὶ νικῆσαι αὐτούς, καὶ ἐδόθη αὐτῷ ἐξουσία ἐπὶ πᾶσαν 7 Und es wurde ihm gegeben Krieg zu führen mit den Heiligen und sie zu besiegen, und gegeben wurde ihm Vollmacht über alle Stämme und Nationen und Sprachen und Völker. 162 Manuel Vogel <?page no="163"?> 38 Berger, Apokalypse, Bd.-2, 957. 39 Die Textvariante ἐστάθην (der u. a. die Züricher Übersetzung von 1931 folgt, in der Revision von 2007 korrigiert) ist „doch wahrscheinlich Korrektur nach dem folgenden εἶδον“ (Bousset, Die Offenbarung Johannis, 358 Anm. 1). Dann wäre es der Seher, der am Meeresufer steht und das Folgende von dort aus schaut. 40 Die genannten Texte und weitere bei Berger, Apokalypse, Bd.-2, 968-971. φυλὴν καὶ λαὸν καὶ γλῶσσαν καὶ ἔθνος. 8 καὶ προσκυνήσουσιν αὐτὸν πάντες οἱ κατοικοῦντες ἐπὶ τῆς γῆς, οὗ οὐ γέγραπται τὸ ὄνομα αὐτοῦ ἐν τῷ βιβλίῳ τῆς ζωῆς τοῦ ἀρνίου τοῦ ἐσφαγμένου ἀπὸ καταβολῆς κόσμου. 8 Und alle, die auf Erden wohnen, fielen vor ihm nieder, deren Name nicht geschrieben ist im Buch des Lebens, (dem Buch) des Lammes, das geschlachtet ist, seit Grundle‐ gung der Welt. - Szene 5 9 Εἴ τις ἔχει οὖς ἀκουσάτω. 10 εἴ τις εἰς αἰχμαλωσίαν, εἰς αἰχμαλωσίαν ὑπάγει· εἴ τις ἐν μαχαίρῃ ἀποκτανθῆναι αὐτὸν ἐν μαχαίρῃ ἀποκτανθῆναι. Ὧδέ ἐστιν ἡ ὑπομονὴ καὶ ἡ πίστις τῶν ἁγίων. 9 Wenn jemand ein Ohr hat, höre er. Wenn jemand für die Kriegsgefangenschaft (be‐ stimmt ist), geht er in Gefangenschaft. Wenn jemand (bestimmt ist), durch das Schwert zu sterben, wird er durch das Schwert sterben. Hier geht es um die Geduld und die Treue der Heiligen. Szene 1 ist von besonderem Gewicht, weil sie - vgl. bereits 12,3! - mittels der Verbindung des Ungeheuers aus dem Meer mit dem auf die römische Herrschaft weisenden vielköpfigen Tier die in der gesamten Apk vorausgesetzte Bosheit des römischen Staates in höchster mythischer Verdichtung zur Sprache bringt. Hier wie in Kapitel 13 insgesamt zeigt sich „ein unversöhnlicher Dualismus zwischen Gott, Christus und der Gemeinde auf der einen Seite und dem römischen Staat und Kaisertum sowie dem Teufel auf der Gegenseite“ 38 . Die Überleitung 12,18 καὶ ἐστάθη ἐπὶ τὴν ἄμμον τῆς θαλάσσης lässt den vom Himmel auf die Erde geworfenen Drachen an den Meeresstrand treten und das Tier, das dem Meer entsteigt, dort quasi in Empfang nehmen. 39 Möglicherweise soll dort auch der Ort vorgestellt werden, an dem, wie in Szene 2 (v.4) - dann: im Rückblick - notiert wird, der Drache dem Tier seine Vollmacht gegeben hat. Die Herkunft des ersten Tieres aus dem Meer ist zu verstehen auf dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Dan 7,3; 4Esra 13,3; syrBar 53,11; hebr. Eliabuch 4,8-10; gr. Daniel-Diegese 11,1-12 und anderen Texten 40 , wonach der neue/ endzeitliche/ letzte Herrscher aus dem Meer hervorkommt, sei es es der gerechte Messiaskönig oder aber in spiegelbildlicher Entgegensetzung der satanische Herrscher der Endzeit. Die suggestive Kraft des Bildes dürfte in seiner (im psychologischen Sinne) archetypischen Qualität liegen, die ihm im Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 163 <?page no="164"?> 41 Vgl. dazu abermals Vogel, Das letzte Buch der Bibel als Auftakt. Hinblick auf die endlose Weite und unauslotbare Tiefe wie auch die elementare, bedrohliche und zugleich faszinierende Urgewalt des Meeres zu eigen ist. In der Kosmologie der alten Schöpfungsmythen wird diese Qualität noch erheblich intensiviert durch die Vorstellung, dass das Meer nur der sichtbare Teil des Urmeeres ist, das die geschaffene Welt und damit den Lebensraum der Menschen von allen Seiten und von Ewigkeit her umgibt. Wenn nun der Herrscher der Endzeit aus dem Meer auf das Land kommt und unter den Menschen handelt und seine Wirkungen entfaltet, dann ist dies im antiken Horizont verstehbar als ein Ereignis, dessen Bedeutung im Guten wie im Bösen kaum zu übertreffen ist. Dass das Tier aus dem Meer mit dem Tier vom Land zusammenwirkt, lässt an das endzeitliche Auftreten der beiden Chaosmächte Leviatan (aus dem Meer) und Behemot (vom Land) nach syrBar 29,4 denken, dort jedoch nicht als satanische Akteure (vielmehr - freilich nicht unbedingt in Widerspruch dazu - dienen sie den Menschen der messianischen Zeit als Nahrung). Das Tier gleicht in der Anzahl der Häupter und Hörner dem Drachen (12,3), unterscheidet sich nur in der Anzahl der Kronen. Damit wird Rom eindeutig identifizierbar als Repräsentanz des Satans. Die Häupter stehen für römische Kaiser (so ausdrücklich Apk 17,12), die Hörner für ihre militärische Macht und die Lästernamen auf den Häuptern für die in den Kaisertitulaturen sich nieder‐ schlagende Anmaßung unbegrenzter imperialer Machtfülle. Nach v.2 ist das Tier ein schreckenerregendes Mischwesen, in Aufnahme der tiersymbolischen Abfolge der Weltreiche aus Dan 7. Dieser Bezug heißt aber zugleich auch: Rom steht für die Gewalt und den Schrecken der Weltreiche in Potenz, in letzter endzeitlicher Steigerung. 41 In Szene 2 wird bekanntlich die Nero-Legende verarbeitet, sei es, dass Nero seinen Selbstmordversuch schwerverwundet überlebt und sich im Osten mit den Parthern verbündet hat, von wo man ihn in Rom zurückerwartete (Nero rediturus), oder dass man glaubte, dass er tatsächlich gestorben und vom Tode auferstanden sei (Nero redivivus). Da die Deutung der Zahl des Tieres in Apk 13,18 auf Nero keinem Zweifel unterliegen dürfte, scheint die Figur dieses Kaisers für den Apokalyptiker irgendwie auch historisch eine Rolle zu spielen. Möglicherweise interessiert ihn die Nero-Legende aber v. a. strukturell im Sinne Roms als des satanischen Spiegelbildes der Herrschaft Gottes bzw. des Lammes. Die geheilte Todeswunde Neros (ἡ πληγὴ τοῦ θανάτου αὐτοῦ ἐθεραπεύθη) wäre dann interessant als diabolische Nachäffung der Todeswunde Christi (5,6: Das Lamm ist ὡς ἐσφαγμένον), zwar innerhalb der römischen Zeitgeschichte, jedoch unabhängig von konkreten historischen Szenarien. Dominierend ist das 164 Manuel Vogel <?page no="165"?> 42 So Holtz, Die Offenbarung des Johannes, 98. Vgl. freilich Berger, Apokalypse, Bd. 2, 982: „[D]er Ausdruck meint gewiss nicht eine Vollmacht von Gott, eher einen Freiraum. Und gewiss etwas anderes als Begabung im Sinne eines Charismas. Also ein freies Spielfeld, eine Möglichkeit zu agieren“. Evtl. ist gemeint: Das Tier bekommt die Gelegenheit, sich um Kopf und Kragen zu reden. Es müsste sie nicht dazu nutzen, tut es aber vorhersehbarerweise. Umgangssprachlich vergleichbar ist das nur vordergründig einladende, in Wahrheit aber warnende „Sprich dich nur aus! “. 43 Berger, Apokalypse, Bd.-2, 981f. Moment der Anbetung. Die „ganze Erde“ (ὅλη ἡ γῆ) gerät über das Tier in Erstaunen und fällt vor dem Drachen nieder, der dem Tier (d. i. Rom) seine Macht gegeben hat. Der Kaiserkult ist damit Satanskult, und wer sich diesem Kult verweigert, wird dies, wie im Vorgriff auf Szene 4 gesagt werden kann, mit dem Leben bezahlen. Die rhetorische Frage in v.4 „wer kann mit ihm [d. i. dem Tier] Krieg führen (πολεμῆσαι)“ hat vordergründig eine militärische Konnotation, etwa im Blick auf einen als unbesiegbar gefürchteten wiederkehrenden Nero, ist aber nach allem bisherigen aus der Perspektive einer informierten Lektüre der Apokalypse auf den Konflikt der Christusgläubigen mit Rom zu beziehen. Die Antwort lautet dann: Niemand kann gegen das Tier Krieg führen - bis auf die Gläubigen. Freilich ist dies kein militärischer Krieg, der dementsprechend von den Gläubigen auch nicht militärisch gewonnen wird. Szene 3 greift auf das Stichwort „Lästerung“ (βλασφημία) aus Szene 1 (13,1) zurück und gestaltet es aus zu einer Schilderung der „Lästerreden“ des Tieres (στόμα λαλοῦν […] βλασφημίας). Das Passiv ἐδόθη ist ein passivum divinum: Das Tier erhält seine ἐξουσία auch zum Lästern wider Gott von Gott, nämlich für das verfügte apokalyptische Zeitmaß von 42 Monaten. 42 Die Nennung der Lästerungen spezifisch gegen „Gott“, seinen „Namen“ („Kyrios“ als Herr der Geschichte? ), sein „Zelt“ (transzendenter Raum) und „die im Himmel wohnen“ (Engel) könnte religionsgeschichtlich ihre Referenz in einem rein innerlichen, ethisch an die Mehrheitskultur anschlussfähigen, geschichtslosen und unapo‐ kalyptischen Gottesbegriff eines aufgeklärten jüdischen Monotheismus haben, mithin einen Seitenblick werfen auf die in Apk 2,9; 3,9 angegriffenen Kreise, die „sagen sie seien Juden und sind es nicht“. 43 Dazu würde passen, dass diese Kreise in 2,9 der „Synagoge des Satans“ zugerechnet werden. Im Blick wäre dann in 13,6 nebenbei auch ein assimiliertes Diasporajudentum, das es fertig bringt, völlig konfliktfrei in und mit dem römischen Imperium zu (ko)existieren. Szene 4 berührt mit einem weiteren Beleg von πόλεμος und νικάω unser Thema direkt und explizit: Der von Gott eröffnete Handlungsspielraum (v.7: καὶ ἐδόθη αὐτῷ, wortgleich mit v.5), den das Tier letztlich zu seinem eigenen Verderben nutzen wird, erstreckt sich nun auch darauf, „Krieg zu führen mit den Heiligen und sie zu besiegen“ (ποιῆσαι πόλεμον μετὰ τῶν ἁγίων καὶ νικῆσαι Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 165 <?page no="166"?> 44 Textkritisch ist die Stelle problematisch (vgl. Karrer, Johannesoffenbarung, 63 f); vor‐ liegend wird der Text der 28. Auflage des Nestle-Aland vorausgesetzt. 45 Zutreffend Lichtenberger, Apokalypse, 188: „Die Heiligen, d. h. die Gemeinde, ist es ja, die dem Tier nicht huldigt. Sie ist es darum, die zum Ziel seiner Feindschaft und zum Opfer seines Sieges wird.“ αὐτούς). 44 Bemerkenswert ist die Umkehrung der in der rhetorischen Frage in v.4 angesprochenen Handlungsrichtung: Das als unbesiegbar geltende Tier, mit dem niemand einen Krieg anzufangen wagt, fängt nun selber einen Krieg an, sieht offenbar einen Handlungsbedarf, den ein als unbesiegbar Geltender eigentlich gar nicht haben müsste. Doch der Unbesiegbare ist es nicht in Gänze und damit nur zum Schein. Es gibt einen unbewältigten Rest in seinem auf weltweite Anbetung fußenden Reich, und das sind die Gläubigen. 45 Gegen sie muss er mobilmachen. In v.7b.8 wird die Anbetung des Tieres durch „alle, die auf Erden wohnen“ und seine Macht über jeden Stamm und jedes Volk namhaft gemacht gewissermaßen als politische Großwetterlage der Herrschaft des Tieres, die aber eben durch eine Minderheit bedroht wird, und zwar dadurch bedroht, dass sie dem Tier die gottgleiche Verehrung verweigert. Worin besteht aber nun der „Krieg“ des Tieres gegen die Heiligen und ihr „Sieg“ über sie? Sein Krieg ist die Verfolgung der Gläubigen und sein Sieg ihre Verfolgung bis zum Tod; vgl. schon die Formulierung in 11,7, hier von den beiden Zeugen: νικήσει αὐτοὺς καὶ ἀποκτενεῖ αὐτούς. Damit aber ist dieser „Sieg“ eines gerade nicht, nämlich das Schließen jener empfindlichen reichspolitischen Lücke in Gestalt jener Minderheit, die dem Tier die Anbetung verweigert. Das Tier kann sie besiegen, indem es sie tötet, womit es aber sein Ziel einer lückenlosen Anbetung gerade nicht erreicht, sondern im Gegenteil verfehlt, weil es durch die Verfolgung der Gläubigen bis zum Tod ihnen die Gelegenheit gibt, ihren Wider‐ stand gegen das Tier bis zum Tod durchzuhalten und mit dem Martyrium zu besiegeln. Die Androhung des Todes wird vom Mittel, die Verehrung des Kaisers gewaltsam durchzusetzen, zum Erweis seiner Wirkungslosigkeit und zur Probe auf die Unbeugsamkeit der Gläubigen, die mit jedem Martyrium gewissermaßen verewigt wird. Mit jedem scheinbaren „Sieg“ über die Heiligen fährt das Tier eine Niederlage ein, mit jedem Martyrium wird die Sicherheitslücke im System seiner angemaßten Weltherrschaft größer. Der in v.8b formulierte Sachverhalt, dass jeder, der nicht im Lebensbuch steht, das Tier anbeten wird, wäre mit „determinstisch“ oder „prädestinatianisch“ (mitsamt den bekannten logischen Folgeproblemen) nur sehr oberflächlich erfasst. Zunächst ist festzustellen, dass es nicht um die Gläubigen geht, die die Anbetung verweigern, sondern um die große Mehrheit derer, die vor dem Tier niederfallen. Die Heiligen sollen hier etwas verstehen, das nicht sie, 166 Manuel Vogel <?page no="167"?> 46 Vgl. auch Lichtenberger, Apokalypse 188, zu 13,7: „Im Klartext heißt das: Gegen Roms Übermacht hat die Gemeinde keine Chance.“ sondern die übrige Menschheit betrifft. Sodann geht es bei dem „Buch“ nicht um die Entscheidung zwischen ewigem Heil und ewiger Verdammnis, sondern um die bestehende und ständig wachsende Gemeinschaft derer, die in der Gefolgschaft des Lammes einen gewaltsamen Tod erleiden. Es geht hier um einen strukturellen Zusammenhang von „Welt“ und „Gewalt“, und insofern lässt sich ἀπὸ καταβολῆς κόσμου auch auf das Geschlachtetwerden des Lammes „von jeher“ beziehen. Zumal dann geht es nicht um Heil oder Verdammnis, sondern um die Lebensgemeinschaft der Gewaltopfer aller Zeiten mit dem Lamm. Das Buch ist dann kein Verzeichnis der zur Seligkeit Bestimmten, sondern ein Namensbuch der Märtyrer. Worum geht es im Zusammenhang von Apk 13? Es geht m. E. um die Formulierung eines Entschuldigungsgrundes für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die vom Tier in die Irre geführt werden. Der Grund lautet: „Sie konnten nicht anders“. Das hierbei im Bild (! ) des Lebensbuches anklingende deterministische bzw. prädestinatianische Moment lässt sich m. E. viel besser alltagssprachlich paraphrasieren als in einer logisch durchgebildeten Begriffs‐ sprache systematisieren. Gesagt ist dann: Den meisten „ist es nicht gegeben“ sich zu widersetzen; zum Märtyrer „muss man geboren sein“. Psychologisch wird es für die Adressierten damit möglich, die eigene Minderheitenposition durchzuhalten, ohne die Mehrheit zu verurteilen oder an ihr zu verzweifeln. Etwas verkürzt gesagt: Apk 13,8 ist ein Trostargument. Hinzu kommt in der durch das Aufmerksamkeitssignal εἴ τις ἔχει οὖς ἀκουσάτω innerhalb der gesamten Apk exponierten Szene 4 die Mahnung zu Geduld und Treue, im Verein mit einem weiteren Trostargument, das ebenfalls „deterministisch“ funktioniert: Früher oder später wird eintreten, wozu jemand bestimmt ist bzw. was jemandem bestimmt ist, und zwar in konsequenter Entsprechung zu seinen eigenen Taten; hier heißt es durchhalten (treu sein) und abwarten (sich in Geduld üben). In dieser Lesart geht es um die Versicherung eines intakten (wenngleich zeitverzögerten) Tun-Ergehens-Zusammenhangs. Dann sind die Herrscher im Blick, die Krieg führen und Kriegsgefangene machen und die ihre Macht nach innen mit dem Schwert ausüben. Diese sind es, denen es bestimmt ist, selber in Kriegsgefangenschaft zu geraten und selber durch das Schwert zu sterben. Tatsächlich bedarf es dieses Zuspruchs, denn die in Szene 3 geschilderte Situation gibt nach dem Augenschein wenig Anlass zur Hoffnung: Die Heiligen sind, wenn auch nur vordergründig, besiegt, und alle Welt betet das Tier an. 46 Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 167 <?page no="168"?> 3.4 Apk 19,11-21 Der Passus ist durch das dreifache καὶ εἶδον klar erkennbar als Abfolge von drei Szenen: Szene 1 schildert die Erscheinung des Reiters auf dem weißen Pferd (19,11-16), Szene 2 die Vogelmahlzeit (19,17-18) und Szene 3 den Krieg des Tieres und der Könige der Erde gegen den Reiter des weißen Pferdes (19,18-21). Szene 1 11 Καὶ εἶδον τὸν οὐρανὸν ἠνεῳγμένον, καὶ ἰδοὺ ἵππος λευκὸς καὶ ὁ καθήμενος ἐπ’ αὐτὸν [καλούμενος] πιστὸς καὶ ἀληθινός, καὶ ἐν δικαιοσύνῃ κρίνει καὶ πολεμεῖ. 12 οἱ δὲ ὀφθαλμοὶ αὐτοῦ [ὡς] φλὸξ πυρός, καὶ ἐπὶ τὴν κεφαλὴν αὐτοῦ διαδήματα πολλά, ἔχων ὄνομα γεγραμμένον ὃ οὐδεὶς οἶδεν εἰ μὴ αὐτός, -13 καὶ περιβεβλημένος ἱμάτιον βεβαμμένον αἵματι, καὶ κέκληται τὸ ὄνομα αὐτοῦ ὁ λόγος τοῦ θεοῦ. --14 Καὶ τὰ στρατεύματα [τὰ] ἐν τῷ οὐρανῷ ἠκολούθει αὐτῷ ἐφ’ ἵπποις λευκοῖς, ἐνδεδυμένοι βύσσινον λευκὸν καθαρόν. 15 καὶ ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ ἐκπορεύεται ῥομφαία ὀξεῖα, ἵνα ἐν αὐτῇ πατάξῃ τὰ ἔθνη, καὶ αὐτὸς ποιμανεῖ αὐτοὺς ἐν ῥάβδῳ σιδηρᾷ, καὶ αὐτὸς πατεῖ τὴν ληνὸν τοῦ οἴνου τοῦ θυμοῦ τῆς ὀργῆς τοῦ θεοῦ τοῦ παντοκράτορος, 16 καὶ ἔχει ἐπὶ τὸ ἱμάτιον καὶ ἐπὶ τὸν μηρὸν αὐτοῦ ὄνομα γεγραμμένον· Βασιλεὺς βασιλέων καὶ κύριος κυρίων. 11 Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit. -12 Und seine Augen sind wie eine Feu‐ erflamme, und auf seinem Haupt sind viele Kronen; und er trug einen Namen geschrieben, den niemand kannte als er selbst. 13 Und er war angetan mit einem Gewand, das in Blut getaucht war, und sein Name ist: Das Wort Gottes. --14 Und ihm folgten die Heere im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Seide. -15 Und aus seinem Munde ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage; und er wird sie regieren mit ei‐ sernem Stabe; und er tritt die Kelter, voll vom Wein des grimmigen Zornes Gottes, des Allmächtigen, 16 und trägt einen Namen geschrieben auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte: König aller Könige und Herr aller Herren. - Szene 2 17 Καὶ εἶδον ἕνα ἄγγελον ἑστῶτα ἐν τῷ ἡλίῳ καὶ ἔκραξεν [ἐν] φωνῇ μεγάλῃ λέγων πᾶσιν τοῖς ὀρνέοις τοῖς πετομένοις ἐν μεσουρανήματι· Δεῦτε συνάχθητε εἰς τὸ δεῖπνον τὸ μέγα τοῦ θεοῦ 18 ἵνα φάγητε σάρκας βασιλέων καὶ σάρκας χιλιάρχων καὶ σάρκας ἰσχυρῶν καὶ σάρκας ἵππων καὶ τῶν καθημένων ἐπ’ αὐτῶν καὶ σάρκας 17 Und ich sah einen Engel in der Sonne stehen, und er rief mit großer Stimme allen Vögeln zu, die hoch am Himmel fliegen: Kommt, versammelt euch zu dem großen Mahl Gottes, -18 dass ihr esst das Fleisch der Könige und der Hauptleute und das Fleisch der Starken und der Pferde und derer, die darauf sitzen, und das Fleisch aller Freien und Sklaven, der Kleinen und der Großen! 168 Manuel Vogel <?page no="169"?> 47 Kraft, Offenbarung, 249 liest die Stelle strikt von Jes 63,2f her und sieht in der martyrologischen Deutung ein Beispiel für „erbauliche Auslegungen, die dem Prediger natürlich nicht zu verwehren“ seien. Gleichwohl handele es sich um „Erfindungen der πάντων ἐλευθέρων τε καὶ δούλων καὶ μικρῶν καὶ μεγάλων. - Szene 3 19 Καὶ εἶδον τὸ θηρίον καὶ τοὺς βασιλεῖς τῆς γῆς καὶ τὰ στρατεύματα αὐτῶν συνηγμένα ποιῆσαι τὸν πόλεμον μετὰ τοῦ καθημένου ἐπὶ τοῦ ἵππου καὶ μετὰ τοῦ στρατεύματος αὐτοῦ. 20 καὶ ἐπιάσθη τὸ θηρίον καὶ μετ’ αὐτοῦ ὁ ψευδοπροφήτης ὁ ποιήσας τὰ σημεῖα ἐνώπιον αὐτοῦ, ἐν οἷς ἐπλάνησεν τοὺς λαβόντας τὸ χάραγμα τοῦ θηρίου καὶ τοὺς προσκυνοῦντας τῇ εἰκόνι αὐτοῦ· ζῶντες ἐβλήθησαν οἱ δύο εἰς τὴν λίμνην τοῦ πυρὸς τῆς καιομένης ἐν θείῳ. 21 καὶ οἱ λοιποὶ ἀπεκτάνθησαν ἐν τῇ ῥομφαίᾳ τοῦ καθημένου ἐπὶ τοῦ ἵππου τῇ ἐξελθούσῃ ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ, καὶ πάντα τὰ ὄρνεα ἐχορτάσθησαν ἐκ τῶν σαρκῶν αὐτῶν. 19 Und ich sah das Tier und die Könige auf Erden und ihre Heere versammelt, Krieg zu führen mit dem, der auf dem Pferd saß, und mit seinem Heer. 20 Und das Tier wurde ergriffen und mit ihm der falsche Prophet, der vor seinen Augen die Zeichen getan hatte, durch welche er die verführte, die das Zeichen des Tieres angenommen und das Bild des Tieres angebetet hatten. Lebendig wurden diese beiden in den feurigen Pfuhl ge‐ worfen, der mit Schwefel brannte. 21 Und die andern wurden erschlagen mit dem Schwert, das aus dem Munde dessen ging, der auf dem Pferd saß. Und alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch. In Szene 1 interessiert uns v. a. die „Tätigkeitsbeschreibung“ des Reiters auf dem weißen Pferd ἐν δικαιοσύνῃ κρίνει καὶ πολεμεῖ in v.11. Die präsentischen Formulierungen fügen sich insofern in den Textzusammenhang ein, als es in Szene 1 nicht um die Schilderung eines dramatischen Geschehens geht, eben auch nicht um dasjenige des Kriegführens, sondern um die Beschreibung einer Erscheinung, eines Bildes. Was gezeigt wird, sind die Eigenschaften dieses Reiters, der Christus ist. Die weiße Farbe des Pferdes steht für Gerechtigkeit, gepaart mit πιστὸς καὶ ἀληθινός als Eigenschaften des Reiters. Auch dies, dass er „in Gerechtigkeit richtet und Krieg führt“, charakterisiert ihn als gerecht, als Richter wie auch als Kriegsherr. Wir stoßen hier auf eine weitere Überblendung bzw. Verschmelzung des militärischen und juridischen Bildfeldes, wie sie bereits in 12,7-12 zu beobachten war (der „Sieg“ über den Drachen als Sieg über den Ankläger „vor Gericht“). Von Interesse für unser Thema ist sodann das in Blut getauchte Gewand in v.13. Geht es um das Blut von in der Schlacht Erschlagenen? Um das sühnewirkende Blut des Lammes? Um das Blut Jesu als des zu Unrecht Getöteten? Um das Blut der Märtyrer? Um das Blut aller Gewaltopfer? Die Antwort lautet: Es geht um all dieses! 47 Der Reiter auf dem Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 169 <?page no="170"?> Ausleger“ und nicht um „die Meinung des Textes“, die „durch die Vorlage Jes 63,2f bereits eindeutig festgelegt“ sei. Aber schon die Jesajastelle ist so eindeutig nicht, denn es wird dort nicht Blut von getöteten Feinden verspritzt, sondern Traubensaft. Dass der wider die Völker Zornige ein Keltertreter ist, nimmt dem Zorngericht seine blutige Wortwörtlichkeit. Die LXX konkretisiert zwar den „Saft“ (MT) der Trauben als „Blut“, akzentuiert aber gegenüber MT in v.1c das Ganze als Wortgeschehen: ἐγὼ διαλέγομαι δικαιοσύνην καὶ κρίσιν σωτηρίου. Damit rückt gerade die sprachlich drastischere LXX-Fassung („Blut“ statt „Saft“) näher an Apk 19,11 ἐν δικαιοσύνῃ κρίνει καὶ πολεμεῖ und 19,14.21 ῥομφαία ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ. Ebenfalls mit Berufung auf Jes 63,1-5 lehnt Lichtenberger, Apokalypse, 250 eine christologische Deutung des Blutes als des „Blutes des Lammes“ ab. Aber in der Apk überlagern und verschränken sich die Bilder. Es bilden sich gegenüber den atl. Referenztexte neue semantische Felder. 48 Zu Recht betont Nicklas, Der Krieg und die Apokalypse, 154 die Offenheit des Bildes gegenüber atl. Vergleichstexten, in denen es um das Blut derer geht, die der siegreiche Feldherr in der Schlacht erschlagen hat. 49 Stellen bei Berger, Apokalypse, Bd.-2, 1276f.1279. 50 Übs. Niebuhr, Sapientia Salomonis, 105. weißen Pferd steht für „Gerechtigkeit“, und seine herrscherliche Durchsetzung von Gerechtigkeit ist durchdrungen von, ja förmlich getränkt in jegliche Gewalt, die nicht etwa vom Reiter ausgeübt wird, sondern der durch Gerechtigkeit von ihm Abhilfe geschaffen werden muss. 48 Es ist diese Gerechtigkeit, die der Reiter, wie an seiner Kleidung kenntlich wird („Kleidung“ steht in der Antike immer für Kenntlichsein in der Sozialsphäre) sozusagen ganz und gar zu seiner Sache macht. Rom übt seine illegitime Macht aus durch kriegerische Eroberungen. Der Weg Roms durch den gesamten Mittelmeerraum, auf dem es Völker und Könige unter seine Herrschaft zwingt, ist eine einzige Blutspur. Deshalb muss auch der Reiter auf dem weißen Pferd „Krieg führen“ und „töten“. Aber der Krieg, den Christus führt, wird nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen, sondern vor Gericht. Bereits in 12,7-12 führt Michael Krieg gegen den Satan, aber „besiegt“ wird dieser durch die Gläubigen, die sich vor Gericht auf das Sühneblut Jesu berufen als eine Art neuer Prozessinstanz, die die Anklägerposition chancenlos und damit überflüssig macht und den Satan ausschaltet. Nach v.13b ist der Name des Reiters, dessen Gewand in Blut getaucht ist, ὁ λόγος τοῦ θεοῦ. Traditionsgeschichtlich einschlägig ist Sap 18,15; Eph 6,17 und Hebr 4,12. 49 In Sap 18,15 (ὁ παντοδύναμός σου λόγος ἀπ᾽ οὐρανῶν ἐκ θρόνων βασιλείων ἀπότομος πολεμιστὴς εἰς μέσον τῆς ὀλεθρίας ἥλατο γῆς ξίφος ὀξὺ τὴν ἀνυπόκριτον ἐπιταγήν σου φέρων, „[D]a sprang dein allesvermögendes Wort aus den Himmeln von den königlichen Thronen als harter Krieger mitten in das dem Verderben ausgesetzte Land, als scharfes Schwert den Befehl, der keine Heuchelei kennt, mit sich führend“ 50 ) ist das Wort Gottes ein Krieger und operiert mit dem Schwert oder wie ein Schwert. Im Kontext der Stelle 170 Manuel Vogel <?page no="171"?> 51 Zutreffend darüber hinaus Nicklas, Der Krieg und die Apokalypse, 155f: „Die Relecture des Exodusereignisses im Weisheitsbuch mit ihrer Vorstellung vom ,Wort Gottes‘, das in der Gestalt eines Krieges die Feinde niederstreckt, dürfte sicherlich einen Ausgangspunkt der Vorstellung eines am Ende der Zeit auftretenden kriegerischen Messias gebildet haben.“ geht es um die göttliche Strafe an den Ägyptern beim Exodus, d. h. um eine als real vorgestellte Gewaltausübung, die auf den λόγος Gottes zurückgeführt wird. Bereits hier scheint aber eine übertragene Lektüre des Exodusereignisses intendiert zu sein: Das gewaltförmige Geschehen des Exodus wird damit, dass der λόγος Gottes als maßgeblicher Akteur auftritt, insgesamt für eine allegorische Lektüre geöffnet. 51 Die gewaltgesättigte Erzählung wird zum Bild für etwas anderes, für ein worthaftes Gerichtshandeln. Unzweideutig liegt ein übertragenes Verständnis in Eph 6,17 vor (δέξασθε […] τὴν μάχαιραν τοῦ πνεύματος, ὅ ἐστιν ῥῆμα θεοῦ). Das „Wort“ (ῥῆμα) ist ein „Schwert“, jedoch keines der sichtbaren Welt, sondern der unsichtbaren. Die Verbindung von „Wort Gottes“, „Schwert“ und „Richten“ liegt in Hebr 4,12 vor (ὁ λόγος τοῦ θεοῦ […] τομώτερος ὑπὲρ πᾶσαν μάχαιραν δίστομον […] καὶ κριτικὸς ἐνθυμήσεων καὶ ἐννοιῶν καρδίας), hier mit Bezug auf die innersten Gedanken der Menschen. Damit ist der Blick bereits auf v.15 gerichtet: Aus dem Mund des Reiters kommt ein zweischneidiges Schwert, mit dem er die Völker „schlägt“. Auch hier ist ein worthaftes Geschehen im Blick, denn das Schwert charakterisiert wie in Hebr 4,12 das „Wort Gottes“, hier nun als dasjenige, was aus dem Mund des Reiters kommt. Damit wird das „Schlagen“ der Völker mit dem „Wort Gottes“ als eines „Schwertes“ zu einer Gerichtsmetapher. Ein entsprechendes Verständnis dürfte sich auch für die beiden anschließenden Motive (Weiden der Völker mit dem eisernen Stab und das Treten der Kelter des Zornweines Gottes) nahelegen, im Sinne der programmatischen Tätigkeitsbeschreibung des Reiters ἐν δικαιοσύνῃ κρίνει καὶ πολεμεῖ in v.11. Wichtig ist an dieser Stelle ein Seitenblick auf 2,16. Hier redet Christus zur Gemeinde von Pergamon, der er Lob für ihre Treue ausspricht, sie jedoch auch tadelt, weil sie die Lehren Bileams und der Nikolaiten duldet, und Umkehr von ihr fordert. Andernfalls gilt: ἔρχομαί σοι ταχὺ καὶ πολεμήσω μετ’ αὐτῶν ἐν τῇ ῥομφαίᾳ τοῦ στόματός μου. Bei dem genannten „Kriegführen mit dem Schwert meines Mundes“ geht es darum, dass Christus mit den in der Gemeinde geduldeten Irrlehren ins Gericht geht. Abermals ist das Kriegführen ein Richten. Szene 2 schildert drastisch die Vogelmahlzeit, in der Vögel das Fleisch von Menschen fressen. Die Gewaltsamkeit der Bildersprache des Apokalyptikers wird damit nochmals erheblich gesteigert. Hermeneutisch kommt es darauf an, hier nichts zu ermäßigen, zugleich aber dem metaphorischen Charakter Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 171 <?page no="172"?> 52 Vgl. auch Nicklas, Der Krieg und die Apokalypse, 160: Hier und anderswo in der Apk „werden Bilder verwendet, die davor warnen, den Text zu wörtlich umzusetzen, ja, die (…) bei zu eindeutiger, platter Visualisierung zu Aporien führen.“ 53 Berger, Apokalypse, Bd. 2, 1285. Anders Weiß, Das Neue Testament, Bd. 3, 516: Der Engel steht in der Sonne, „weil er von dort aus am besten den im Zenith fliegenden Vögeln (…) zurufen kann.“ Wieder anders Primasius, Kommentar, 237: Der Engel ist „die predigende Kirche“ und die Sonne markiert den Ort, „wo er schon strahlt und nicht aus Furcht weiter verborgen bleibt“. der Texte Rechnung zu tragen: Es geht um etwas, das so brutal ist, wie wenn Vögel Menschenfleisch fressen, aber es handelt sich doch in dieser Brutalität um ein Bild für etwas anders (Es handelt sich auch nicht einfach um Gewalt- und Rachephantasien, die nur deshalb im Raum der Imagination verbleiben, weil die Handlungsmöglichkeiten zu ihrer Umsetzung nicht gegeben sind. Hätte man den Apokalyptiker gefragt, ob er sich die Realisierung des Geschauten wünscht, hätte er vermutlich geantwortet: Wie soll das gehen? Die Sonne ist selbst für einen Engel zu heiß und Vögel folgen keiner förmlichen Einladung zum Essen und haben auch keine Tischmanieren 52 ). Das Drastische der Szene rührt in nicht geringem Maße auch daher, dass nicht nur die Mächtigen betroffen sind, sondern unterschiedslos alle („das Fleisch aller Freien und Sklaven, der Kleinen und der Großen“). Leitend für die vorliegende Interpretation ist die Eröffnung der Szene mit dem Engel, der in der Sonne steht, wobei die Sonne als Symbol für Gerechtigkeit verstanden wird. 53 Dies gibt einen Anhaltspunkt dafür, dass auch in dieser Szene der Gerichtskontext leitend ist. Dafür spricht auch, dass in Szene 3 wieder der Reiter auf dem weißen Pferd auftritt, aus Szene 1 bekannt als derjenige, der „in Gerechtigkeit richtet und Krieg führt“. Szene 2 wäre dann Bestandteil eines alle drei Szenen übergreifenden Gerichtsgeschehens, das hier ergänzt wird um das Motiv des totalen Ehrverlusts. Denn erfahrungs‐ gemäß passiert das, wozu die Vögel eingeladen werden, immer dann, wenn Tote nicht bestattet werden und deshalb zum Opfer von Aasfressern werden. Vorausgesetzt ist also das Bild, dass Menschen die Bestattung verweigert und ihnen damit auch noch der letzte Rest an Ehre genommen wird. Innerhalb der Apk ist 11,9 zu vergleichen (die beiden Zeugen liegen unbestattet auf den Straßen der Stadt), sowie Ez 39,4.17-20. Zwar wird in Apk 19,18 nicht explizit davon gesprochen, dass es sich bei den Genannten um Tote handelt, impliziert ist dies jedoch im Bild der Mahlzeit, da bei einer Mahlzeit nun einmal zubereitetes Fleisch gereicht wird und nicht lebende Wesen. Mit der Vorstellung, dass sich Aasvögel über unbestattete Leichname hermachen, erfährt der mit der verweigerten (oder mangels Fürsorge schlicht nicht erfolgten) Bestattung verbundene Gedanke des definitiven Ehrverlusts eine extreme Zuspitzung. Mit dem Engel, der in der Sonne stehend zur Vogelmahlzeit lädt, wird so verstanden 172 Manuel Vogel <?page no="173"?> 54 Bereits in den atl. Texten vom „Tag Jahwes“ verbinden sich die Motive eines göttlichen Strafhandelns durch Kriege oder Katastrophen und eines formellen Gerichtsprozesses, in dem von Israel oder den Völkern für ihre Taten Rechenschaft gefordert wird; vgl. etwa Jes 2,11.17 oder Joel 4,2.12 vgl. hierzu Beck, Art. Tag Jahwes. Zum „Tal Joschafat“ („Tal, in dem Jahwe richtet“)“ vgl. Rösel, Art. Joschafat (Tal). die in Szene 1 intonierte Gerichtsthematik dergestalt weiter entfaltet, dass dem römischen Imperium und allen, die von seiner Herrschaft profitieren und/ oder sich dieser Herrschaft unterstellen, das im kulturellen Kontext der griechisch-römischen Antike Schlimmstmögliche wiederfährt, nämlich dass sie (durch einen vernichtenden Schuldspruch vor Gericht) öffentlicher Schande preisgegeben und irreversibel ihrer Ehre beraubt werden. Das „große Mahl Gottes“ (τὸ δεῖπνον τὸ μέγα τοῦ θεοῦ, v.17) steht mithin für das Endgericht. Szene 3 beginnt mit der Sammlung der Könige der Erde durch das Tier zum Krieg gegen den Reiter auf dem weißen Pferd (v.19). Die Stelle ist zusammen mit 16,14 und 20,8 zu interpretieren. An allen drei Stellen geht es um den Krieg der durch das Tier versammelten Könige gegen Gott / Christus / die „geliebte Stadt“. In 16,14 wird nur die Sammlung zum Krieg notiert, und ebenso fehlt ein regelrechtes Kampfgeschehen auch in 19,19 und 20,8. Benannt wird lediglich das „Resultat“, dass nämlich das Tier und der falsche Prophet (19,20), sowie nach dem tausendjährigen Reich auch der Satan (20,10) in den Feuersee geworfen werden. Wichtig ist 16,14, weil bereits hier der Gerichtskontext anklingt und an dieser Stelle einmal mehr die Überblendung des militärischen Bildfeldes durch das juridische zu beobachten ist: Die drei unreinen Geister, die aus dem Mund des Drachen des Tieres und des falschen Propheten hervorkommen, ver‐ sammeln nämlich die Könige des Erdkreises „zum Krieg am großen Tag Gottes, des Allherrschers“ (εἰς τὸν πόλεμον τῆς ἡμέρας τῆς μεγάλης τοῦ θεοῦ τοῦ παντοκράτορος). Die ἡμέρα μεγάλη τοῦ θεοῦ ist aber in der eschatologischen Ausprägung der atl. Tradition vom „Tag Jahwes“ 54 nichts anderes als das Gericht am jüngsten Tag. Das heißt: Die von der satanischen Trias Drache, Tier und falscher Prophet verführten Völker werden in den Krieg geführt und landen vor Gericht. Dies stützt zusätzlich die hier vorgetragene Auffassung, dass τὸ δεῖπνον τὸ μέγα τοῦ θεοῦ in Szene 2 eine Gerichtsmetapher ist. Der „große Tag“ (16,14) und das „große Mahl“ (19,17) bezeichnen dieselbe Sache. Dafür spricht schließlich auch die enge Verbindung der Motive „Schwert aus dem Mund“ und „von Vögeln gefressenes Fleisch“ in 19,21: Die vom falschen Propheten Verführten werden „erschlagen“ vom „Schwert, das aus dem Munde dessen ging, der auf dem Pferd saß“, d. h. sie empfangen ein gänzlich „niederschmetterndes“ Urteil, und ihr „Fleisch“ wird beim „großen Mahl“ von „Vögeln gefressen“, d. h. sie erleiden das, was Menschen widerfährt, deren Leichname unbestattet bleiben Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 173 <?page no="174"?> und Opfer von Aasfressern werden: Sie verlieren auch noch den allerletzten Rest an Ehre. Von hier aus ist ein kurzer Seitenblick auf 13,8 zu werfen. Die zum Motiv des „Lebensbuches des geschlachteten Lammes“ vorgetragene Deutung als Entschuldigungsgrund für die weit überwiegende Mehrheit der Menschen, die den römischen Kaiser anbeten und mit ihm den Satan, ist nun in Beziehung zu setzen zum „Erschlagenwerden“ eben dieser Menschen durch das „Schwert des Mundes“ und das „Gefressenwerden“ ihres „Fleisches“ durch die „Vögel“. In der Zusammenschau geht es um Entschuldbarkeit einerseits und Verantwortung andererseits. Die Mehrheit der Menschen „konnte“ zwar „nicht anders“, als so zu handeln, wie sie gehandelt haben (hierfür steht auch der in 19,20 eigens betonte Sachverhalt der „Verführung“), dennoch war, was sie getan haben, nämlich den Satan anzubeten und nicht den einen Gott, ein schweres Unrecht gegen Gott selbst. Das Endgericht hat die Funktion, sie mit diesem Unrecht schonungslos zu konfrontieren. Es geht also nicht um Vernichtung im physischen oder ontischen Sinn, sondern schließlich und zuletzt um das schlechthin Unerträgliche einer im Gericht stattfindenden Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes. Hierzu ist (biblisch-thologisch z.T. weit ausholend) auf drei Stellen zu ver‐ weisen: (a) Nach Apk 6,16 ist diese Begegnung (nämlich den Blicken dessen, der auf dem Thorn sitzt, preisgegeben zu sein) so schrecklich, dass die Menschen (übrigens in ganz ähnlicher personeller Zusammensetzung wie in 19,18) lieber tot sein wollen („Berge, fallt auf uns“), als den Blicken Gottes ausgesetzt zu sein. (b) Nach Ez 16,63 richtet Gott seinen Bund für Israel auf, „ … damit du daran denkst und dich schämst und vor Schande deinen Mund nicht mehr aufzutun wagst, wenn ich dir alles vergeben werde, was du getan hast, spricht Gott der H E R R .“ Wichtig ist hieran, dass das Festhalten Gottes am Bund mit Israel und damit auch die „Vergebung“ einen Rechtsakt darstellt, und dass dieser un‐ geachtet seines für Israel günstigen Resultats für Israel maximal unangenehm, nämlich „beschämend“ ist, d. h. Ez 16,63 expliziert den auch für Apk 19,17f.21 angenommenen Zusammenhang von „Gericht“ und „Beschämung“, u. zw. auch und gerade für den Fall des Freispruchs bzw. für die Situation eines gefällten, aber aus Gnade vor Recht nicht vollstreckten Urteils. Der Zusammenhang von „Vergebung“ und „Beschämung“ würde es außerdem zulassen, die Deutung des Lebensbuchsmotivs von Apk 13,8 als Entschuldigungsgrund und die Auffassung der in 19,18.21 imaginierten Gewalt (unbestattete Leichname fallen Aasfressern zum Opfer; vom „Schwert aus dem Mund“ Erschlagene) als völlige Überführung und Beschämung im Gericht zusammenzudenken. (c) In Röm 12,20 ist das helfend zugewandte Festhalten an der Beziehung zum Feind ein „Sammeln von feurigen Kohlen“ auf dessen „Haupt“. Auch hier dürfte die Metapher des 174 Manuel Vogel <?page no="175"?> Feuers, die im drastischen Bild von den glühenden Kohlen auf dem Kopf eines Menschen Verwendung findet, für die Beschämung stehen, die dem Feind daraus entsteht, dass jemand, dem er schadet, ihm wohltut. In der Zusammenschau der genannten Stellen entsteht ein Wortfeld, für das formal eine gewaltsame Metaphorik und inhaltlich das Motiv der Beschämung charakteristisch ist. Die vorliegende Interpretation von Apk 19,11-21 unter dem Leitgedanken von Gericht/ Gerechtigkeit bewegt sich innerhalb dieses Wortfeldes. 4 Ergebnis Die Apk kennt einen im Verlauf des Buches mehrfach so genannten „Krieg“, der insofern ein sakrales Geschehen ist, als er von Christus und den Gläubigen geführt wird. Es handelt sich um einen Krieg gegen das römische Imperium und gegen den Satan, dem Rom seine Macht verdankt. In den Sendschreiben Apk 2 f werden die Gläubigen als „Sieger“ adressiert, ohne dass zunächst klar wäre, worin ihr Sieg besteht. Klar ist seit 3,21 aber, dass sie diesen Sieg zusammen mit Christus erringen. Wodurch Christus siegreich ist, wird in 5,9f deutlich: Sein gewaltsam vergossenes Blut wird zum Mittel, aus Menschen aus allen Völkern ein Königreich von Priestern zu bilden und damit das imperiale Programm des römischen Kaisers auf dessen eigenem Terrain zu unterlaufen. Wo immer sich christusgläubige Gemeinden bilden und zum Gottesdienst versammeln, entsteht Rom ein realer Gebietsverlust, gegen den seine militärische Stärke wirkungslos bleiben muss. Von hier aus ist das Siegesmotiv der Überwindersprüche so zu verstehen, dass die Gläubigen am Sieg Christi dadurch mitwirken, dass sie den Kaiserkult verweigern und stattdessen Gott anbeten. In Apk 11,3-13 gewinnt das Zusammenwirken von Christus und den Gläu‐ bigen beim Sieg gegen Rom erheblich an Kontur. Das Stück ist in der Dra‐ maturgie der Apk entscheidend wichtig, weil es vor der Proklamation der Gottesherrschaft in 11,15-18 ein Geschehen in Jerusalem aufruft, das offenbar als Bedingung dafür angesehen wird, dass die Gottesherrschaft anbrechen kann. Die zwei Zeugen wirken in der von Rom profanierten (weil römisch besetzten) heiligen Stadt Jerusalem als Bußprediger. Das Tier aus den Abgrund „führt Krieg“ gegen sie und „besiegt“ sie. Sie werden getötet (und zwar dort, „wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde“), und die in der Stadt lebenden Menschen verweigern ihnen das Begräbnis. Aber durch ihre Auferweckung und ein begleitendes Erdbeben geraten die Bewohner Jerusalems in Schrecken und „ehren den Gott des Himmels“. Damit hat das Tier, das Anbetung für (sich und) den römischen Kaiser verlangt, durch seinen scheinbaren Sieg sich selber eine Niederlage beigebracht, denn die Menschen, die sich eben noch über den Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 175 <?page no="176"?> Tod der zwei Zeugen freuten, geben nun dem einen Gott die Ehre und nicht mehr dem Kaiser. Die zwei Zeugen siegen ebenso wie Jesus dadurch, dass sie getötet wurden, Jesus unmittelbar durch sein vergossenes Blut und die Zeugen mittelbar, weil sie aus dem Tode auferweckt werden und ihre Bußpredigt dadurch schließlich doch Erfolg hat. Für die Abfolge „erfolgreiche Bußpredigt“ (11,11-13) und „Proklamation des Reiches Gottes“ (11,15-18) liegt in Mk 1,4f.14 („Bußpredigt des Täufers und Umkehr Jerusalems und Judäas“ - „Auftreten Jesu als Verkünder der nahen Gottesherrschaft“ eine erhellende Parallele vor. In Apk 12,1-17 ist erstmals eine Überblendung des militärischen durch den juridischen Bildspender zu beobachten. Damit wird unser Thema um einen wesentlichen Aspekt ergänzt. Das Geschehen verlagert sich vom Schlachtfeld in den Gerichtssaal, freilich so, dass sich beide Bildfelder gegenseitig interpre‐ tieren. Der Krieg im Himmel, den Michael gegen den Drachen führt, wird dadurch entschieden, dass die Gläubigen sich vor dem himmlischen Gericht auf das Blut Jesu berufen und auf diese Weise den Satan entmachten, nämlich dergestalt, dass sie gegenüber der strafenden Gerechtigkeit nach Recht und Gesetz der Barmherzigkeit Gottes und damit dem Reich Gottes zur Durchsetzung verhelfen. Insofern ist der Anbruch des Gottesreiches Ergebnis eines gewonnen Krieges als eines Krieges gegen den Satan und gegen das satanische Reich des römischen Kaisers. Der im Himmel von den Gläubigen zugunsten von Gottes Barmherzigkeit entschiedene Krieg geht freilich auf Erden weiter, nachdem der Satan auf die Erde gestürzt ist und dort gegen die Gläubigen wütet. Es handelt sich um einen realen Krieg nicht weil die Gläubigen zu den Waffen greifen würden, wohl aber deshalb, weil die Konfrontation mit dem römischen Staat als dem satanischen Akteur auf Erden für die Gläubigen tödlich ausgehen kann. Der in 5,8f konstatierte „Sieg“ des Lammes mittels seines „Blutes“ und der in 12,11 namhaft gemachte „Sieg“ der Gläubigen durch eben dieses „Blut“ ist dergestalt zusammenzudenken, dass das Blut Jesu die Rechtsgrundlage für jenes Reich der Barmherzigkeit schafft, die gerichtswirksame Berufung der Gläubigen auf dieses Blut aber seine effektive Durchsetzung zuwege bringt. Ein „Sieg“ des Gottesreiches ist dieses Zusammenwirken Christi und der Gläubigen auch insofern, als jeder Ort, an dem sich eine Gruppe von Christusverehrern versammelt, einen realen Landverlust auf dem Boden des auf reichsweite Kaiserverehrung fußenden Imperiums darstellt. In Apk 12,18-13,10 weist das vielköpfige Tier mit den Kronen auf seinen Häuptern unzweideutig auf Rom und seine Verbindung mit dem Drachen auf das Wesen des römischen Reiches als irdischer Repräsentant des Satans. Der „Krieg“, von dem auch in diesem Abschnitt die Rede ist, wird um Anbetung geführt bzw. entscheidet sich an der Frage der Anbetung. Die vor dem Tier niederfallen, 176 Manuel Vogel <?page no="177"?> halten es zugleich für unbesiegbar. Dass nun aber das Tier seinerseits einen Krieg anfängt, lässt erkennen, dass es sich bedroht fühlt bzw. seine Macht dadurch festigen will, dass es sie ausdehnt. Die Gläubigen, gegen die es Krieg führt, sind gleichsam ein Terrain, das es bisher noch nicht zu erobern vermochte. Der Abschnitt appelliert an das Durchhaltevermögen der Gläubigen, denn nach dem gegenwärtigen Augenschein hat der Satan und mit ihm der Kaiser in Rom noch immer Macht über die „Stämme, Nationen, Sprachen und Völker“, aus denen nach 5,9 das Lamm durch sein Blut bereits ein Reich für Gott gebildet hat. Dieses Reich existiert erst im Untergrund und im Verborgenen und harrt noch seiner sichtbaren Durchsetzung. In Apk 19,11-21 wird die Verschränkung des militärischen und juridischen Bildfeldes noch weiter vorangetrieben und erheblich intensiviert und dramati‐ siert. Der Reiter auf dem weißen Pferd „richtet“ (κρίνει) und „kämpft“ (πολεμεῖ) nicht nur in Personalunion, sondern vollführt sozusagen dieses in Tateinheit mit jenem, u. zw. mittels des „Schwertes aus seinem Mund“, mit welchem er „Gerechtigkeit“ herstellt. Sein Gewand ist in „Blut“ getaucht, womit ein umfassender Bezug hergestellt ist nicht nur zum Blut des Lammes, sondern ebenso zum Blut der Märtyrer und aller Gewaltopfer. Ihnen schafft der Reiter auf dem weißen Pferd durch das Schwert aus seinem Mund Gerechtigkeit. Vorliegend wird auch das äußerst gewaltsame Motiv der Vogelmahlzeit im Zwischenstück 19,17f als Gerichtsmetapher aufgefasst. Es geht um die äußerste Beschämung der Unrechttäter im Endgericht. Wenn nun in 19,19 das Tier die Könige der Erde zum „Krieg“ gegen den Reiter auf dem weißen Pferd versammelt, so ist bereits klar, dass die satanische Streitmacht nicht auf einen Kriegsgegner trifft, sondern auf ihren Richter. Das ist in Apk 16,14 bereits vorweggenommen: Das Tier versammelt die Völker zum Krieg „am großen Tag Gottes“, d.-h. dem Tag des Gerichts. Zusammenfassend sind zwei Aspekte hervorzuheben: Das juridische Motiv und die Frage der Anbetung. Der Krieg Christi und der Gläubigen gegen den Satan und Rom wird durch den Hinauswurf des Anklägers aus dem himmlischen Gerichtssaal errungen, und er wird durchgesetzt von Christus als Richter, der wider das satanische Imperium ein vernichtendes Urteil fällt. Auf dem Weg dorthin erringen die Gläubigen Teilsiege, wo immer sie dem Kaiser die kultische Verehrung verweigern. Sie bilden als durch das Blut des Lammes Freigekaufte ein Königreich aus Priestern, das dem römischen Reich reale Niederlagen beibringt, wo immer auf römischem Territorium jesusgläubige Gemeinden entstehen. Christus und die Gläubigen kämpfen ohne Waffen, d. h. in einem übertragenen Sinn. Real ist ihr Krieg jedoch insofern, als er von satanisch-römischer Seite mit realer Gewalt gegen die Gläubigen geführt wird, Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung 177 <?page no="178"?> und auch insofern, als die jesusgläubige Verweigerung des Kaiserkultes den römischen Machtanspruch real schwächt und bedroht. 5 Literatur Beck, Martin, Art. Tag Jawes, WiBiLex, https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 32 258/ . Berger, Klaus: Die Auferstehung des Propheten und die Erhöhung des Menschensohnes. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Deutung des Geschickes Jesu in früh‐ christlichen Texten (StUNT 13), Göttingen 1976. Berger, Klaus: Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2 1995. Berger, Klaus: Kommentar zum Neuen Testament, Güterloh 2011. Berger, Klaus: Die Apokalypse des Johannes. Kommentar, 2 Bde., Freiburg / Basel / Wien 2017. Bousset, Wilhelm: Die Offenbarung Johannis (KEK 16), Göttingen 6 1906. 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Sie sind anschlussfähig, nicht weil im Neuen Testament diesbezügliche interessante und unterhaltsame Konstellationen verhandelt würden, sondern weil sie zur Gestaltung des gegenwärtigen Lebens als relevant erachtet werden. Wie kann das sein? Hatte doch der wirkmächtige Neutestamentler Rudolf Bultmann vor 80 Jahren kategorisch deklariert: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ 1 Doch „man“ kann! In ihrem 2018 erschienenen Buch Powers, Principalities, and the Spirit 2 widerspricht die ghanaische Theologin Esther E. Acólatse - promoviert in Princeton und derzeit lehrend am Garrett Evangelical Theological Seminary - Bultmann. Dabei beruft sie sich auf den eminenten ghanaischen Alttestamentler Kwesi Dickson, den sie aus einem Beitrag von 1975 zitiert: „Africans are coming to terms with the new technological and other developments without sacrificing their traditional presuppositions. Africans are using modern agricultural implements and avail themselves of the facilities offered by modern medicine; nevertheless, the traditional religio-cultural world view persists, simply <?page no="184"?> 3 Acólatse, Powers, 198. 4 Die ZEIT, Jahrgang 2021, Ausgabe 41 (zur besseren Verständlichkeit leicht von mir bearbeitetes Zitat). because that and the scientific approach ask different questions and seek for different answers, and Africans see the two approaches as complementing each other.“ 3 Was Dickson vor gut einem halben Jahrhundert feststellte, gilt nach wie vor - nicht nur für Ghana, sondern für ganz Westafrika. Als Beispiel diene der folgende Hinweis in einer Ausgabe der Wochenzeitschrift DIE ZEIT in einem Dossierbeitrag von 2021 zu einer in Ghana wie auch sonst im anglophonen Westafrika verbreiteten Internetbetrugsstrategie, mit Hilfe derer vereinsamte und liebeshungrige Weiße in Europa oder den USA um ihr Angespartes gebracht werden: „In Bussen lassen sich Internet-Scammer über die Grenze nach Togo und weiter ins französischsprachige Benin fahren, wo die berühmtesten Voodoopriester Westafrikas residieren. Die Scammer haben ausgedruckte Profilbilder ihrer Klienten dabei, die sie auf den Schreinen niederlegen. Die Priester beschwören die Bilder, damit die weißen Männer mehr Geld zahlen. Kräuter werden zerrieben, Suppen gekocht, Tiere geopfert. Die Zeremonie zieht sich über Tage hin. Wenn die Scammer wieder in die Reisebusse steigen, lassen sie die Fotos ihrer Opfer auf den Altären zurück.“ 4 Die Klienten sollen also spirituell gebunden werden, um ihre Zahlungswilligkeit zu garantieren. Offenbar verstehen es Westafrikaner und Westafrikanerinnen, die sich in den Untiefen des World Wide Web bestens auskennen, ihre online-Ge‐ schäfte auf Innigste mit der traditionellen Geister- und Wunderwelt zu ver‐ binden. Tatsächlich wirkt in Ghana der in traditioneller Religiosität gründende Glauben an die Realität und Wirksamkeit von Geistwesen ungebrochen fort - nicht nur bei Anhängern der traditionellen Religion, sondern bei Muslimen und Christen aller Konfessionen. 2 Spirituelles und kommunalistisches Weltwissen in Westafrika Das in Westafrika verbreitete Wissen von Welt steht in einem fundamentalen Gegensatz zur in Europa verbreiteten Wirklichkeitswahrnehmung und -deu‐ tung. Selbstverständlich gibt es auch in Europa Menschen, die an böse Geister glauben. Analog ist auch für Westafrika davon auszugehen, dass es dort Men‐ schen gibt, für die der Glaube an böse Geister im alltäglichen Leben keine Rolle spielt. Was aber hier eher im Untergrund oder an den Rändern der Gesellschaft 184 Werner Kahl <?page no="185"?> insgesamt gesehen recht wenige Menschen bewegt, eine Subkultur darstellt und bei besonderer Intensität als Ausdruck von psychischer Erkrankung dia‐ gnostiziert und behandelt werden kann, ist in modernen westafrikanischen Gesellschaften auf allen Ebenen des Zusammenlebens und ständig anzutreffen: im privaten Umfeld genauso wie in geschäftlichen Unternehmungen, im sport‐ lichen wie im politischen Wettstreit, im tiefen Regenwald wie bei staatlichen Angelegenheiten in der Hauptstadt. Geschäftsleute, Politiker oder Privatleute konsultieren Spezialisten in Kirchen, in Moscheen oder an traditionellen Kult‐ stätten. Auf Plakaten preisen christliche Propheten, muslimische Malams und traditionelle Priester ihre spirituellen Dienste an. Die Angebote sind identisch. Sie versprechen die Lösung von Problemen, die vor allem folgende Themen betreffen: Krankheiten jeglicher Art, Visa-Beschaffung, unerfüllte Kinderwün‐ sche, Partnersuche, beruflicher Erfolg. Vorausgesetzt ist allseits das Wissen darum, dass körperliche, psychische, materielle, zwischenmenschliche oder soziale Probleme immer auch eine spirituelle Ursache haben können. Eine spirituell verursachte Not verlangt nach einer spirituellen Behandlung und dafür bedarf es der Involvierung von Spezialisten, von denen erwartet wird, dass sie es aufgrund von spirituellem Wissen und Geistbegabung vermögen, eine spirituelle Ursache zu diagnostizieren und sie, unter Aktualisierung einer wirkmächtigeren spirituellen Kraft, zu beseitigen. Die wichtigsten strukturellen Parameter des in Westafrika - bei aller ethnisch oder persönlich bedingten Divergenz im Einzelnen und auf der Oberfläche - allgemein vorausgesetzten Wirklichkeitsverständnisses seien benannt: Der Mensch lebt nicht, um sich etwa selbst zu verwirklichen; er weiß sich vielmehr in seinem Wirken auf größere Gemeinschaften bezogen und ihnen gegenüber verantwortlich, und zwar sowohl in synchroner als auch in diachroner Hinsicht. Somit versteht er sich im lateinischen Wortsinn als sub-iectus: er „ist“, weil er zu einer spirituell in die Vergangenheit verlängerten Großfamilie und Ethnie gehört. Verstorbene sind nicht einfach tot und ,wegʻ, sondern sie existieren spirituell weiter, und sie greifen ins sichtbare Leben sein. Ahnengeister achten auf die Lebensführung der Nachgeborenen; sie geben Weisung und strafen bei Tabubrüchen. Darüber hinaus gilt: Die gesamte sichtbare Welt wird in weitere numinos-spirituelle Wirkfelder lebensschädigender böser versus lebens‐ fördernder guter Geister eingebettet gedacht. Spirituelle Kampfführung 185 <?page no="186"?> 5 Vgl. insgesamt dazu meine Studie: Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikani‐ sche Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft (NSKE 2), Frankfurt a. M. 2007. Die Figur des Christus victor war durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch bis zur Reformationszeit vorherrschend. Das hat Gustaf Aulén in seinem klassischen Werk Christus Victor, London 1931(schwedisches Original 1930) herausgearbeitet. Schaubild: Weltwissen in West-Afrika Insbesondere unter dem Einfluss des pfingstlich-charismatisch gewendeten Christentums sind traditionelle Geister inklusive der Ahnen seit etwa zwei Ge‐ nerationen zunehmend dämonisiert worden. Jesus wird in der Bevölkerung vor allem als der starke Sieger - Christus victor - im Kampf gegen Dämonengeister konzeptualisiert, von dem gegenwärtig ganz konkret Rettung in allen möglichen Lebenslagen erwartet wird. 5 ,Befreiungstheologieʻ im gegenwärtigen westafri‐ kanischen Christentum ist im dortigen Sprachgebrauch deliverance-Theologie, d. h. lectura popular ist befasst mit der Austreibung bzw. Verscheuchung böser Geister, und zwar unter dem Interesse an Lebensgewinn. Aus dieser Perspektive wird die gesamte Bibel gelesen. Insbesondere das Neue Testament erscheint dabei als Spiegel der eigenen Lebenswelt. Kirchliche Austreibungs‐ veranstaltungen - nicht nur der Pfingstler, sondern auch der katholischen und protestantischen Großkirchen - muten mitunter an wie Re-Inszenierungen frühchristlich überlieferter Dämonenaustreibungen. Für den theologischen Fremdbeobachter sind dies gemeinhin irritierende Phänomene. Als Nordeuropäer hat er oder sie gelernt, dass ein erfolgreiches 186 Werner Kahl <?page no="187"?> 6 Opoku, Kofi Asare: West African Traditional Religion, Accra 1978, 91-100. 7 Opoku, West African Traditional Religion, 35-74. 8 Kwabena Asamoah-Gyadu, Spiritual Warfare in the African Context. Leben davon abhängt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Im All‐ gemeinen wird hier auf einen Glauben an die reale Wirkung unsichtbarer Geistmächte mit Unverständnis herabgeschaut. Im westlichen Selbstverständnis kommt ein Mythos der individuellen Selbstverwirklichung und technischen Weltbeherrschung, der die westliche Zivilisation seit der Aufklärungszeit ge‐ prägt hat, kräftig zum Tragen. Mir ist es an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem in Westafrika allgemein vorauszusetzenden Wissen von Welt weder um eine „Weltanschauung“ handelt, die man unter veränderten Lebensbedingungen ablegen könnte, noch um ein irrationales Phänomen vermeintlich ungebildeter Bauern und Fischer. Das beschriebene Wissen von Welt wird - wenn auch zu unterschiedlichen Graden - grundsätzlich von Menschen aller Schichten der ghanaischen Bevölkerung geteilt. Nach einem Sprichwort der Akan-Ethnie in Ghana „muss niemand einem Kind erklären, dass es Gott gibt“. Grund dafür ist, dass nach der traditionellen Anthropologie bzw. Kosmologie ein spiritueller Bestandteil des Menschen direkt von Gott kommt und zu Gott auch wieder zurückkehren wird, egal übrigens welcher Religionszugehörigkeit jemand ist. 6 Die Existenz Gottes, aber auch von anderen Geistwesen wie Ahnen, Buschgeistern, Flussgottheiten und so weiter gilt als Selbstverständlichkeit. 7 In Ghana, wie in Westafrika allgemein, gibt es nicht - wie in Europa bei allem Atheismus verbreitet - etwa eine unbestimmte Ahnung davon, dass „es hinter der sichtbaren und messbaren Welt noch etwas geben muss“, sondern ein differenziertes Wissen über die Geistwesen in der unsichtbaren Sphäre, die sich im Übrigen gelegentlich körperlich manifestieren. Innerhalb dieses Wissens von Welt können spirituelle Ursache und materielle Folge logisch miteinander verknüpft werden. Es liegt hier somit kein irrationales System, sondern eine ins Numinose verlängerte Kausalitätslogik vor, die der ghanaische Pentekosta‐ lismusexperte Kwabena Asamoah-Gyadu mit dem Begriff einer „mystischen Kausalität“ belegt hat. 8 Insbesondere im pfingstlich-charismatisch gewendeten Christentum der Ge‐ genwart sind traditionelle Geister inklusive der Ahnen zunehmend dämonisiert worden. Das sogenannte breaking of ancestoral curses spielt entsprechend im ghanaischen Pfingstchristentum eine prominente Rolle. Dabei wird versucht, Menschen vom Einfluss eines auf sie einwirkenden Ahnengeistes loszulösen. Von Jesus als dem starken Christus victor im Kampf gegen Dämonengeister kann ganz konkret Lebensrettung oder Lebenssteigerung in akuten Problem‐ Spirituelle Kampfführung 187 <?page no="188"?> 9 Kahl, Lebensretter, 272-319. lagen erwartet werden. Entsprechend wird Jesus in den südghanaischen Akan‐ sprachen wortwörtlich als Lebensretter (agyenkwa) verehrt und angerufen, 9 und zwar bereits in den dortigen Bibelübersetzungen als Wiedergabe von griechisch sōtēr. Voraussetzung einer solchen von Jesus erwarteten Lebensrettung oder Hilfe aber ist dessen Fähigkeit zur Überwindung des Satans und seiner Gehilfen. In populären Jesusliedern, die in ganz Westafrika bekannt sind, wird Christus als Sieger über den Satan besungen: Jesus is the winner man It is a fun to see a fun to see Satan lose. Jesus is the winner man, the winner man Jesus is the winner man, the winner man all the time. I am on the winning side, the winning side I am on the winning side, the winning side all the time. Jesus Power Super Power Jesus Power Super Power Jesus Power Super Power Jesus Power Super Power Jesus Power Super Power Satan Power, Powerless Power Satan Power, Powerless Power Satan Power, Powerless Power Satan Power, Powerless Power Diese Lieder werden mitunter äußerst dynamisch und unter körperlichem Einsatz in Gemeinden gesungen: Laut und aufspringend, wenn es um Jesus geht, leise und niedergebückt, wenn der Satan benannt wird. Durch ihre Assoziation mit Jesus wissen sich die Gläubigen ermächtigt und verlebendigt. Sie feiern Jesu - und somit ihren - Sieg über die lebensbedrohlichen Attacken des personifizierten spirituellen Widersachers. Vor gut zwanzig Jahren waren in Westafrika Comic-Strips, etwa auf Jahres‐ kalendern, populär, die den hier verhandelten antagonistischen Kampf bildlich 188 Werner Kahl <?page no="189"?> 10 Charles Agyin-Asare, It is miracle time, 140. 11 Matthew Addae-Mensah, Walking in the Power of God, 11. darstellten, und zwar vornehmlich mittels Darstellungen eines weißen, blond‐ haarigen Jesus und eines schwarzen, gehörnten Satans, die in einem Boxring gegeneinander antraten. Dabei besiegte Jesus den Gegner nicht nur, sondern er erschlug ihn als absoluten Widersacher. Das Bild eines agonistischen Kampfes war überführt worden in das eines antagonistischen Kampfes auf Leben und Tod. Als Belegtexte waren den Bildern die folgenden neutestamentlichen Verse hinzugefügt worden: Mt 21,9; Apk 7,12; Lk 10,19-20 und Mk 16,9-20. Diese Verse heben zum einen darauf ab, dass alle Macht und Wunderkraft bei Gott versammelt sind, und zum anderen, dass die Jünger von Jesus mit göttli‐ cher Wunderkraft ausgestattet worden sind, auf dass ihnen böse Geistwesen, Schlangen und Skorpione nichts anhaben können. 3 Spiritual warfare Jesu Aufforderung an seine Jünger, ebenfalls Dämonen beziehungsweise un‐ reine Geister auszutreiben, können Pfingstpastoren oder charismatisierte Pre‐ diger auf sich selbst beziehen. Sie wissen sich spirituell dazu ermächtigt, Dämonen zu vertreiben. In diesem Zusammenhang spielt die Feststellung Mk 9,29 in der textkritisch unsicheren Erweiterung eine prominente Rolle: „Diese Art (von Geistern) kann durch nichts ausfahren außer durch Gebet und Fasten.“ Entsprechend lesen sich die Berichte von Dämonenaustreibungen durch Pfingstpastoren zuweilen wie Re-Inszenierungen von Jesu Handlungen unter den Bedingungen der Moderne. Als sogenannte powerful men of God sehen sie sich in direkter Kontinuität zu den Wunder wirkenden Aposteln der Apostelgeschichte. So erweist sich für den neo-pfingstlichen Bischof Charles Agyin-Asare der Umstand, dass die Apostelgeschichte nicht mit „Amen“ endet, als Indikator dafür, dass die „Acts of the Holy Spirit have not ceased or did not die with the Apostles“. 10 Entsprechend kann ein anderer durch Wunderhei‐ lungen und Dämonenaustreibungen ausgewiesener ghanaischer Pfingstbischof, Matthew Addae-Mensah, mit Petrus und Paulus verglichen werden, und zwar im Geleitwort seines Buches Walking in The Power of God. Testimonies about Supernatural Encounters with God: „Hearing and reading what God is doing through him is like reading another volume of the Acts of the Apostles.“ 11 Bei den Dämonenaustreibungen, insbesondere wie sie auf großer Bühne in Mega-Churches inszeniert werden, geht es deutlich um einen spirituellen Machtkampf antagonistischer Geistkräfte. Im Zentrum des power-struggles steht Spirituelle Kampfführung 189 <?page no="190"?> 12 Jochen Seebode, „Aduro kum aduro“, 1998. 13 Vgl. hierzu Werner Kahl, Jesus als Wundertäter, 158-160. freilich nicht Christus, sondern der als powerful man-of-God verehrte Prediger. Sein Widersacher ist ein Dämon, Satan oder Ahnengeist, der Fluch einer Hexe, ein traditioneller Priester, eine Lokalgottheit. Sein Gehilfe, über den er jederzeit Verfügungsgewalt zu haben scheint, ist Christus beziehungsweise „the name of Jesus“. Passiv ist die Person, die der spirituelle Widersacher besetzt hat, durch die er wirkt und deren Leben - wie das anderer - er gefährdet. Die Zuschauer, oft Tausende von Menschen, die dem Geschehen gebannt über Großbildschirme folgen, werden zum Teil aktiv ins Geschehen involviert, indem sie aufgefor‐ dert werden, selbst laut ihre Stimmen gegen den spirituellen Widersacher zu erheben, beziehungsweise so zu agieren als ob sie ihn niedertrampelten oder ihn mit Macheten zerhackten. Über allem donnert die lautsprecherverstärkte, ohnehin gewaltige Stimme des Predigers. Die Lautstärke seiner Stimme steht vorgeblich in einem direkten Verhältnis zu dem Stärkegrad des in ihm und durch ihn wirkenden Geistes Gottes. Die laut heraus geschrieenen, martialisch und aggressiv anmutenden Befehle an den Widersacher auszufahren, entsprechen der Erwartungshaltung der Gottesdienstbesucher. Die Macht des Widersachers kann nur durch eine größere Macht überwunden werden, hier die größte Macht überhaupt, die göttliche, zu der der vermeintliche man of God zu jeder Zeit Zugang zu haben beansprucht. Hiermit wird eine Verfahrensweise der traditionellen Religion in christlicher Begrifflichkeit fortgeschrieben. Der Ethnologe Jochen Seebode hat dies für das Akanvolk der Ashanti im Süden Ghanas beschrieben und auf den folgenden Twi-sprachlichen Begriff gebracht: aduro kum aduro, d.-h. spirituelle Medizin tötet spirituelle Medizin. 12 Tatsächlich beanspruchen neo-pentekostale Akteure für sich eher die Funk‐ tion, die in der erzählenden Literatur des Neuen Testamentes Jesus Christus vorbehalten ist, als die Rolle, die den Jüngern Jesu zugedacht ist: In den Evangelien wird Jesus grundsätzlich als eigenständiger Träger numinoser Macht gezeichnet. 13 Anders die Apostel, die in Differenz zu dieser Funktion Jesu als Bittsteller beziehungsweise als Mittler numinoser Macht auf den jeweils zu ak‐ tualisierenden Beistand des erhöhten Christus angewiesen bleiben. Gleichzeitig nehmen diese westafrikanischen men of God die Funktion von traditionellen Priestern ein. Zu ihnen stehen sie in einem Konkurrenz- und gelegentlich in einem Abhängigkeitsverhältnis: Regelmäßig wird die ghanaische Christenheit durch Nachrichten erschüttert, die ans Licht bringen, dass der eine oder andere Prediger einer neo-pentekostalen Kirche einen mit spiritueller Macht ausgestat‐ teten Gegenstand (Juju) von einem traditionellen Priester erworben und etwa 190 Werner Kahl <?page no="191"?> 14 Andreas Heuser, Outlines of a Pentecostal Dominion Theology, 187-246. 15 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik IV. Die Lehre von der Versöhnung, 1. Teil, 237: „Er kommt als das Reich Gottes in Person.“ in das Fundament seiner Kirche eingebracht hat, mit dem Ziel der Steigerung seiner spirituellen Potenz. In den Mega-Churches konzentriert der Hauptpastor als Gründer, Bischof und Besitzer seiner Immobilie ohnehin eine erhebliche Machtfülle auf sich. Durch Inszenierungen von Dämonenaustreibungen auf großer Bühne, die durch professionelle Medientechnik flankiert werden, kommt es zu einer weiteren Steigung seiner Macht und Popularität. Der Baseler Ökumene- und Religionswissenschaftler Andreas Heuser hat in einer kürzlich erschienenen Publikation überzeugend vorgeschlagen, die Aktivitäten dieser Pastoren unter den Begriff einer Dominiumstheologie zu fassen. 14 Dieser Begriff legt sich auch deshalb nahe, weil er genau das Selbst‐ verständnis jener Akteure reflektiert. So sind in Ghana in den letzten Jahren eine ganze Reihe von neo-pentekostalen Kirchgebäuden auf den Namen Do‐ minion-Temple getauft beziehungsweise benannt worden. Erzbischof Nicholas Duncan-Williams - einer der Protagonisten der ghanaischen Pfingstszene - hat eine seit Jahrzehnten unter dem Namen Jericho Hour bekannte wöchentliche Veranstaltung bereits 2015 in Dominion Hour umbenannt. In diesem donnerstags vormittags stattfindenden Gottesdienst, frequentiert von Tausenden, geht es ausdrücklich um spiritual warfare als Voraussetzung eines erfolgreichen Lebens. Spiritual warfare ist mit Heuser sachgerecht als „spatial, territorial act“ zu verstehen. Es geht um die Ausweitung der göttlichen Herrschaftszone unter Zurückdrängung der Herrschaft des Satans. In dieser Hinsicht besteht eine Analogie zum Wirken Jesu, wie es in den synoptischen Evangelien dargestellt wird: Das Reich Gottes in und durch Jesus bricht punktuell in diese Welt ein, und zwar heilsam: In gewissem Sinn ist Jesus das Reich Gottes. 15 Um Jesus herum verbreitet es sich, wobei lebens- und heilschädigende Geistwesen - unreine Geister beziehungsweise Dämonen - vertrieben werden. Jesus reinigt von unreinen Geistern besetzte Territorien, seien es Körper, Räume oder Gegenden. Seine durch Ausstattung mit dem göttlichen Geist manifeste „Heiligkeit“ ist stärker, d.-h. ansteckender als die Unreinheit der antagonistischen Geistwesen. Dies wird anschaulich etwa in der Erzählung über Jesu Vertreibung unreiner Geister aus einem Mann in Gerasa und dann aus der Gegend (Mk 5,1-20), und dieser Sachverhalt wird prägnant mit dem Jesusspruch in Mt 12,28 / Lk 11,20 zum Ausdruck gebracht: „Wenn ich (egō) aber im Geist (Mt; beziehungsweise mit dem Finger Gottes: Lk) Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes auf euch gekommen.“ Im Kontext geht es um die im Anschluss an die Heilung einer dä‐ Spirituelle Kampfführung 191 <?page no="192"?> 16 Nicolas Duncan-Williams, Binding the Strong Man, 9. 17 Nicolas Duncan-Williams, Taking the Promises of God in Battle, 80. monisch verursachten Taubheit vorgebrachte Anschuldigung der Widersacher Jesu, er würde im Auftrag des Beelzebul agieren (Mt 12,22-30). Sowohl in neo-pentekostalen Kirchen als auch in charismatisierten Großkir‐ chen, die aus europäischen Missionsinitiativen des 19. Jahrhunderts hervorge‐ gangen sind, wie etwa die Presbyterian Church of Ghana - Partnerkirche einer Reihe von EKD-Gliedkirchen -, können bei entsprechenden Veranstaltungen explizit warfare prayers formuliert werden. Diese Gebete reflektieren ein Wissen von Welt, für das eine antagonistische Konstellation grundlegend ist: „The Bible makes it plain that a battle line has been drawn between two kingdoms or two realms of authority. One being the kingdom of God, which is the kingdom of light and righteousness, the other being the kingdom of the devil, which is the kingdom of darkness and wickedness. The human race is the subject of this great conflict and is not exempted. Since the fall of man in the garden of Eden, the battle has raged on and each power has sought to possess the control over the human race. This battle is more spiritual than physical but its impact is felt on every activity of the human race and the personal issues in our lives (Eph 6: 10-12).” 16 Gelegentlich wird den Gläubigen von ihrem Pastor ein warfare prayer vorfor‐ muliert, das sie sich im Alltag zu eigen machen mögen. Es folgt ein Beispiel von Duncan-Williams, das seinem Buch „Taking the Promises of God in Battle“ entnommen und explizit als warfare prayer markiert ist: 17 Warfare Prayer Father, in the name of Jesus, I superimpose your prophetic purposes concerning my life over and against all demonic and satanic activities. I bring down every manifestation, operation, manipulation, resistance, limitation, exploitation, set-back, disappointment, fear, unscriptural prayer and desire, every demonic and satanic demand and claim upon my life. Furthermore, I uproot and destroy any assignment of the enemy whatsoever to hinder your prophetic purposes for me in the name of Jesus. (…) I plead in the blood of Jesus against persons without bodies assigned to frustrate, hinder, and to disorganize me in any shape or form in the name of Jesus. I plead the blood of Jesus against them, 192 Werner Kahl <?page no="193"?> 18 Duncan-Williams, Binding, 34f. and by the blood I nullify, I overrule, I cancel, I revoke and reverse any death wish, and all of their decisions against me. By the blood of Jesus, I halt any accusing finger, I silence the voice of the accuser in the name of Jesus, the Son of the living God. Da der spirituelle Feind als stark und gewaltsam erfahren wird, erscheint es als nötig, ihn und seine Agenten unter Bezugnahme auf einen Stärkeren zu überwinden. Im Gebet rekurriert der Gläubige darum auf „the powerful name of Jesus“ bzw. deklariert „im Namen Jesu“ die Bindung des Widersachers. Dabei wird auf Jesu Bildwort von der Bindung des Starken, das variationsreich in Mt 12,29; Mk 3,27 und Lk 11,21-22 begegnet, abgehoben. Im synoptischen Zusammenhang wird Jesus mit dem Stärkeren identifiziert, der den starken Widersacher im Kampf besiegt. Der Gläubige weiß Jesus auf seiner Seite. Jesus lässt sich für die Sache des Bittstellers, d. h. für ein gelingendes Leben, gewinnen. Es liegt hier ein spiritueller Machtkampf vor, bei dem es um die Wiederherstel‐ lung oder Absicherung des gegenwärtigen Lebens versus Lebensbedrohung durch machtvolle Geistwesen geht. Der Gläubige befindet sich mitten im Zentrum dieses Machkampfes. So zutiefst involviert, performiert er typischer Weise das warfare prayer nicht etwa abständig, sondern kraftvoll und mit lauter, fordernder, den Widersacher bedrohender Stimme. Im folgenden Gebet - ebenfalls von Duncan-Williams - geht es insbesondere um das „Brechen“ von Flüchen: Prayer for Breaking the Curse Heavenly Father, in the name of Jesus, I repent and renounce every sin in my life. I renounce every spell, hex, demonic invocations and I revoke every satanic prophecy that is operating in my life. I also reverse every divination and enchantment working in my life, family, business and all that concerns me. In the name of Jesus I bind the strong man and all of his agents and I break every curse enforced against me. I break curses of destruction, sickness and premature death. I break curses of poverty, lack, debt and insufficiency. In the name of Jesus I exercise dominion and authority over the strong man operating under any curse in my life and I release my inheritance from the strong man. I declare that I am redeemed from the curse of the law by the blood of Jesus and I loose myself and those of my household from all curses and their effects in the name of Jesus Christ the son of the living God. Now I command the strong man and all his demons to leave me in Jesus’ name. Amen. 18 Spirituelle Kampfführung 193 <?page no="194"?> 19 Vgl. Werner Kahl, Oppositionelle Konstellationen im Kolosser- und Epheserbrief, 156. 20 Kahl, Konstellationen, 157. An dieser Stelle möchte ich auf das Motiv der Umkehrung von Todeswünschen bzw. Flüchen in solchen Gebeten aufmerksam machen. Dieses Motiv wird durch das Verb reverse angezeigt, z. B. im Satz: „I nullify, I overrule, I cancel, I revoke and reverse any death wish (…) against me.“ Insofern geht es hier nicht nur um die Ausschaltung von Todeswünschen, sondern um ihre Rücksendung an die Absender. Sie sollen vernichtet werden, mittels der Macht, die dem Blut Jesu innewohnt. Als Absender werden hier „persons without bodies” vorausgesetzt, d.-h. spirituelle Wesen. Der für Duncan-Williams - wie auch für andere neo-pentekostale Akteure - zentrale neutestamentliche Belegtext für spiritual warfare im Namen Jesu ist Eph 6,10-17: Die detaillierte Beschreibung der Umkleidung der Gläubigen mit einer göttlichen Waffenrüstung. Allerdings dient diese Rüstung nach den Ausführungen des Epheserbriefs ausschließlich der Verteidigung gegen An‐ griffe des spirituellen Feindes, etwa um „die brennenden Pfeile des Bösen“ zu „löschen“. Eigentliches Ziel dieser göttlichen Ausstattung ist das Standhalten des Gläubigen in Zeiten der Bedrängnis. Die vielfältige Rüstungsmetaphorik symbolisiert im Einzelnen die positiven Werte Wahrheit, Gerechtigkeit, Evan‐ gelium des Friedens, Glaube, Rettung und das Wort Gottes. Die Kriegsmetaphern werden hier also direkt aufgelöst in Glaubenswerte. 19 In den sich anschließenden Versen 18-20 werden die Gläubigen zudem dazu aufgefordert, füreinander und für den Absender des Briefs zu beten, und zwar insbesondere zugunsten der Ermöglichung einer freimütigen Evangeliumsverkündigung, die angesichts der Gefangenschaft des Absenders verhindert wird. 20 Anders die warfare prayers: In ihnen werden Glaubenswerte nicht aktuali‐ siert. Sie bleiben ganz auf der Ebene der Kriegsbegrifflichkeit, und sie zielen ab auf die Vernichtung des spirituellen Feindes. All dies dient dem Zweck der Erlangung eines individuell erfolgreichen Lebens des Betenden. Entsprechend aggressiv werden diese Gebete gemeinhin performiert - nicht zur bloßen Abwehr der Feindespfeile, also zur passiven Verteidigung, sondern zur Abwehr durch aktive Rücksendung mit dem Ziel der Tötung des Feindes, der in aktuellen Gebetskontexten wie etwa im Gottesdienst mit konkreten Menschen aus der Familie oder Nachbarschaft identifiziert werden kann. Die neutestamentliche Metaphorik bzw. Bildhälfte wird zur Sachbzw. Realhälfte mit der Konsequenz, dass als Feinde erachtete Menschen nicht nur spirituell ge‐ tötet werden sollen, sondern sie zuweilen auch unmittelbar physisch ermordet werden. Insofern sind diese Gebete potenziell lebensgefährliche Instrumente, 194 Werner Kahl <?page no="195"?> 21 Cephas Omenyo / Abamfo Atiemo, Claiming Religious Space, 55-68. die im Gegensatz zu den Werten des Evangeliums zu stehen kommen, wie sie etwa in Epheser 6 aufgerufen werden. Voraussetzung für diese aus neutes‐ tamentlicher Perspektive problematisch erscheinende Fortschreibung ist ein verbreiteter Mangel an Abstraktions- und Reflexionsfähigkeit in religiösen Belangen auf Seiten jener theologisch gemeinhin nicht ausgebildeten Prediger und ihrer Anhänger. Das Phänomen der spirituellen Tötung im Namen Jesu wird religionswissenschaftlich unter den Begriff des Neo-Prophetism gefasst. 21 Aufgrund von Migrationsbewegungen aus Westafrika nach Deutschland ist es auch hierzulande in einigen neo-pentekostalen Migrationsgemeinden mit westafrikanischer Mitgliedschaft und Leitung anzutreffen. Ich gebe ein Beispiel aus eigenem Erleben: Mit Studenten und Studentinnen, die an einem regelmäßig stattfindenden westafrikanisch-deutschen Bibelgespräch teilnahmen, besuchte ich in Hamburg vor einigen Jahren an einem Mittwochabend eine neo-pentekostale Migrations‐ gemeinde. Ihr Leiter und ihre Mitglieder stammten aus Westafrika, und zwar überwiegend aus Ghana. Als wir an dem Versammlungsraum der Gemeinde - er befand sich in einem Bürogebäude in einem Industriezentrum - ankamen, erfuhren wir, dass anstelle der gemeinsamen Bibellektüre ein Gottesdienst stattfinden würde, weil ein Prediger aus Ghana eingetroffen war. Die Predigt wurde in der ghanaischen Sprache Twi gehalten und ins Englische übersetzt. Der Prediger führte die Erfahrung von Fehlschlägen und Erfolglosigkeit im alltäglichen Leben in der neuen Heimat in Hamburg auf spirituelle Attacken aus der Heimat zurück, und er appellierte an die spirituelle Macht der Gläubigen, solche Probleme zu bewältigen. Die Predigt bezog sich auf Mt 18,18: „Wahrlich ich sage euch, was ihr auf Erden binden werdet, das wird im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, das wird im Himmel gelöst sein.“ Danach leitete der Prediger die etwa dreißig Gottesdienstbesucher zum Gebet an. Von allen Anwesenden wurde erwartet, laut um Jesu Intervention zu bitten, um sie vor spirituellen Pfeilen zu retten, die von Familienmitgliedern in Ghana abgeschossen worden wären, und diese Pfeile auf die Absender zurückzulenken, um sie zu töten. Die westafrikanischen Gottesdienstbesucher beteiligten sich alle für etwa 15 Minuten an solchen Gebeten. Laut rufend rannten sie in dem Raum hin und her und schlugen dabei mit den Armen in die Luft wie um ihre Feinde „im Namen Jesu“ niederzumachen. Danach erklärte der Gastprediger, die Teilnehmenden sollten sich auf Telefonanrufe aus der Heimat - schon in den nächsten Tagen - gefasst machen, in denen ihnen Mitteilung vom vorzeitigen Tod ihres Vaters, ihrer Mutter, eines Onkels oder einer Tante oder auch ihres Spirituelle Kampfführung 195 <?page no="196"?> Kindes gemacht würde. Damit war gemeint: Eine solche Person sei die Hexe, die das Unglück eines Verwandten in Deutschland verursacht hatte. Die Bezugnahme auf Mt 18,18 mag für westliche Exegeten und Exegetinnen, Theologinnen und Theologen nicht unmittelbar nachvollziehbar sein. Das Motiv der Bindung stellt den Anknüpfungspunkt für neo-pfingstliche Prediger dar. Es wird in einer Linie mit dem oben aufgerufenen Bildwort vom Binden des Starken verstanden. Vorausgesetzt ist, dass die Gläubigen Macht bekommen haben, mit „himmlischer“ Autorität spirituelle Feinde zu binden. Die Benutzung von Mt 18,18 als Beleg und Legitimation für spirituelle Gewalt gegen Menschen verdankt sich allerdings einer zweckentfremdenden Lektüre des Verses unter Absehung von seinem unmittelbaren Kontext, zumal es hier um Versöhnung geht. Tatsächlich scheint sich eine allgemeine Verschärfung abzuzeichnen von warfare prayers von neo-pentekostalen Predigern der vorigen Generation hin zu nachgewachsenen, neo-prophetischen Predigern der gegenwärtigen Genera‐ tion. Es wird nicht mehr differenziert zwischen feindlich gesinnten Geistwesen und konkreten Menschen. Diese Entwicklung ist bei Ersteren allerdings schon angelegt, wenn sie die Bedrohung von Hexen ausgehen sehen, also von Men‐ schen, in denen sich vermeintlich das Böse - bzw. der Binnenperspektive angemessener: ein personifizierter böser Geist - auf das Engste mit der Per‐ sönlichkeit verbunden hat. Dies führt in Westafrika nicht nur zu Versuchen einer spirituellen Tötung von Feinden, die angeblich mit dem Bösen im Bunde stehen, sondern gelegentlich zu physischen, und mitunter tödlich ausgehenden Attacken auf Menschen, die etwa der Hexerei bezichtigt werden. Warfare prayers können im westafrikanischen Christentum aber nicht nur in individualistischer, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht aktualisiert werden. Dies ist zuletzt vornehmlich angesichts der Covid-19-Pandemie zu beobachten gewesen. Auch in diesem Zusammenhang hat sich der neo-pen‐ tekostale Archbishop Duncan-Williams öffentlichkeitswirksam mit warfare prayers zu Wort gemeldet: „By divine authority, I command the spirit behind coronavirus be arrested in the name of Jesus. We attach it at its root. We reverse every sickness, every disease and every demonic infirmity. We command divine healing of all those afflicted by this virus in the name of Jesus. We cancel every veil, every conspiracy, every unseen personality meant to cripple nations with this virus, we command it to wither and die. You foul spirit, you are hereby denied access to cross the borders of Ghana and the nations of Africa by the power in Jesus’ name.“ 196 Werner Kahl <?page no="197"?> 22 Vgl. dazu die noch unveröffentlichte Dissertation von Abraham Boateng, Translation of Miracle Stories from the Judeo-Christian Scriptures into some Ghanaian Mother-Ton‐ gues. Dieses Gebet erging Mitte Februar 2020 in einem Gottesdienst der von Duncan-Williams gegründeten und geleiteten Mega-Church. Es wurde schnell medial verbreitet. Als einen Monat später die ersten bestätigten Covid-19 Infektionen in Ghana gemeldet und bald die ersten an oder mit Corona Verstorbenen registriert wurden, machte in den sozialen Medien schnell ein Witz seine Runden: „Some powerful men of God are looking forward to the time after the Corona pandemic. Then they can start healing people again.“ Die Corona-Pandemie hat in Ghana insgesamt etwa 1500 Tote gefordert, bei 170.000 Infizierten. Die Diskrepanz zwischen Gebetsanspruch und Wirklichkeit ist offensichtlich geworden und hat vielleicht zum ersten Mal in Ghana zu einer allgemeinen kritischen Diskussion von warfare prayers und der von einigen Predigern beanspruchten spirituellen Macht geführt. 22 Am 27. Juni 2021 reagierte Duncan-Williams in einer online-Predigt mit dem folgenden Gebet auf die damals neue Delta-Variante: „I pray that your immunity will be strengthened and protected. I insulate all your organs by the blood of Jesus against the Delta variant that is sweeping across Europe and I’m told it has come into Africa and into Ghana, we block it in the name of Jesus. We curse this Delta variant with the curse of Adonai. Let it be accursed and let this evil wind change course, let it change course from our dwellings and from our loved ones, friends and family, home and abroad. Change course. Be accursed with the original curse in the name of Yeshua.“ Dieses Gebet scheint gleichzeitig die Realität zu reflektieren, dass das mit einem Geist identifizierte und personifizierte Virus entgegen der Deklaration eines „Einreiseverbots“ im früheren Gebet in Ghana angekommen ist und auch dort Krankheit und Tod hervorruft. Im Vergleich zum früheren Gebet scheint das Letztere etwas zurückgenommen in seinen Ansprüchen und auch das Ich des Predigers tritt etwas zurück, indem er für das Gebetsanliegen indirekt an Gott appelliert, vgl. die Wendung: „let it be accursed…“. Hier tritt Duncan-Williams nicht mehr vollmächtig auf als jemand, der beansprucht, über die Wunderkraft Gottes gleichsam zu verfügen, vgl. den Beginn des früheren Gebets: „By divine authority, I command …“ mit dem Beginn des späteren: „I pray…“. Insofern macht er sich weniger angreifbar. Die Sorge um das Wohlergehen der Gebetshörer steht jetzt Vordergrund und es wird letztlich Gott anheimgestellt, nach seinem Gutdünken zu agieren. Spirituelle Kampfführung 197 <?page no="198"?> 23 Vgl. Derek Prince, They Shall Expel Demons; John Wimber / Kevin Springer, Power Evangelism. 24 Vgl. Cephas N. Omenyo, Pentecost Outside Pentecostalism, 232. 25 Christie Doe Tetteh hat in ihrer Broschüre „Powerful Scriptures for Warfare“ (Accra 2018) für ihre Gemeinde (Solid Rock Chapel International) eine umfangreiche Liste solcher proof-Texts zusammengestellt; vgl. auch Abraham Bediako, Maintaining Vic‐ tory. Bediakos Buch ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil er Vorsteher einer der ersten neo-pentekostalen Kirchen westafrikanischer Mitgliedschaft in Deutschland gegründet hat, und zwar in den 1980er Jahren in Hamburg: Christian Church Outreach Mission. Diese Kirche hat zahlreiche Tochtergemeinden in Deutschland und in Ghana. 26 Vgl. 2Kor 12,7. 4 Resümee Es ist gerade am letzten Beispiel deutlich geworden, dass es sich bei dem Phänomen des neo-Pentekostalismus in Westafrika um eine dynamisch sich wandelnde religiöse Bewegung handelt, deren Vertreter und Vertreterinnen es verstehen, flexibel und lernfähig auf neue Situationen zu reagieren. Warfare prayers sind keine Erfindung des Pentekostalismus in Westafrika, sondern stellen ein weltweites Phänomen dar, das durch Publikationen und Auftritte vor allem US-amerikanischer Pfingstler befördert wurde. 23 Die besonders starke, von allen Bevölkerungsschichten und Ethnien geteilte Attraktivität von warfare prayers in westafrikanischen Lebenswelten erklärt sich im Kontext der weiter‐ wirkenden afrikanisch-traditionellen Enzyklopädie, die mit der Realität von lebensschädigenden Geistwesen rechnet, die unter Rekurs auf eine dazu fähige Instanz zu vertreiben seien. 24 Im Rahmen dieses Wissens von Welt agieren christliche Prediger und Kirchenführer, indem sie für sich die Verfügungsge‐ walt über Jesu Wundermacht reklamieren, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die Macht antagonistischer Geistwesen übersteigt und Leben ermöglicht. Dabei knüpfen sie - in exegetisch oft problematisch erscheinender Weise - an vorgebliche proof-Texte aus fast allen neutestamentlichen Schriften an. 25 Auch wenn es sich hierbei im Einzelnen gemeinhin um exegetisch nicht haltbare Bi‐ beldeutungen und sozial, psychologisch und medizinisch oft unverantwortlich erscheinende Übertragungen handelt, so können sich westafrikanische Prediger und ihre Gemeindeglieder doch zu Recht darauf berufen, dass die neutesta‐ mentlichen Schriften durchgängig eine spirituelle Realität voraussetzen, die als solche große Nähen zu westafrikanischen Enzyklopädien aufweist. Allerdings sollten markante Differenzen nicht übersehen werden: Im Neuen Testament werden etwa satanische Wesen nicht durchgängig als absolute Antagonisten der göttlichen Sphäre erachtet, 26 und im Alten Testament erst recht nicht. Und: In westafrikanischen traditionellen Enzyklopädien entfällt ein Dualismus oder Antagonismus innerhalb der spirituellen Sphäre. Der absolute spirituelle 198 Werner Kahl <?page no="199"?> 27 Vgl. die exzellente Doktorarbeit des nachmaligen Generalsekretärs der Church of Pentecost Opoku Onyinah, Pentecostal Exorcism. Antagonismus, wie er prägnant im westafrikanischen Christentum begegnet, verdankt sich einer nachbiblischen Konstruktion, die sich bereits im antiken Christentum formiert hatte. Das Böse, das nach moderner Auffassung unabkömmlicher Teil der conditio humana ist, wird in Westafrika tendenziell personalisiert und externalisiert. In Westeuropa typische Fragen nach persönlicher Schuld und ihrer kritischen Aufarbeitung und also möglichen Personalitätsentwicklungen bleiben in diesem Kontext oft außen vor. Auch wenn in Westafrika aus diesem Grund Menschen vielleicht weniger häufig als Westeuropäer und Westeuropäerinnen von einem „schlechten Gewissen“ geplagt werden, so gibt es verbreitet Ängste vor Atta‐ cken antagonistischer Geistmächte, die es ebenfalls verhindern, dass Menschen frei werden. Die Corona-Pandemie hat Zweifel an der Effektivität von warfare prayers und an der Autorität von Predigern, die mit einem hohen spirituellen Machtan‐ spruch auftreten, aufkommen lassen. Es könnte sein, dass die spirituell nicht zu kontrollierende Dynamik des Infektionsgeschehens eine Nachjustierung, wenn nicht gar einen Umbruch in dem Wissen von Welt, wie es in Westafrika verbreitet ist, befördern wird. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn der Diskurs über antagonistische Mächte von theologisch geschulter Reflexion flankiert wird. Für eine solche Entwicklung sind die Weichen gestellt, denn immer mehr Repräsentanten und Repräsentantinnen von Pfingstkirchen durch‐ laufen in Westafrika oder in der westlichen Welt ein akademisches Studium in Theologie oder Religionswissenschaft. In ihren Abschlussarbeiten haben sie damit begonnen, Phänomene in ihren Kirchen kritisch zu reflektieren und ihre Ergebnisse in ihre Gemeinden und Netzwerke einzutragen. 27 5 Literatur Acólatse, Esther E.: Powers, Principalities, and the Spirit. Biblical Realism in Africa and the West, Grand Rapids 2018. Addae-Mensah, Matthew: Walking in The Power of God. Testimonies about Supernatural Encounters with God, Belleville 2000. Agyin-Asare, Charles: It is miracle time. Experiencing God’s Miracle Working Power, Vol. 2, Accra 1998. Asamoah-Gyadu, Kwabena: Spiritual Warfare in the African Context. Perspectives on a Global Phenomenon, in: Lausanne Global Analysis, January 2020, Vol. 9/ 1 (online). Spirituelle Kampfführung 199 <?page no="200"?> Aulén, Gustaf: Christus Victor. A Historical Study of the Three Main Types of the Idea of the Atonement, London 1931 (schwedisches Original 1930). Bath, Karl: Die Kirchliche Dogmatik IV. Die Lehre von der Versöhnung, 1. Teil, Zürich 1953. Bediako, Abraham: Maintaining Victory. The Weapons of our Warfare, Tulsa 1992. Boateng, Abraham: Translation of Miracle Stories from the Judeo-Christian Scriptures into some Ghanaian Mother-Tongues. Case Studies from Mark 9: 14-29, Luke 7: 11-17, 1Kings 18: 25-38 and their Hermeneutical Implications for the African/ Ghanaian Context, Univ. Diss. Frankfurt 2022. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung als Aufgabe, München 1985 (orig. 1941). Doe Tetteh, Christie: Powerful Scriptures for Warfare, Accra 2018. Duncan-Williams, Nicolas: Binding the Strong Man, o.-O. 1998. Duncan-Williams, Nicolas: Taking the Promises of God in Battle, Edqware 1997. Heuser, Andreas: Outlines of a Pentecostal Dominion Theology, in: L. Fontana / M. Luber (Hg.), Political Pentecostalism. Four Synoptic Surveys from Asia, Africa and Latin America (Weltkirche und Mission 17), Regensburg 2021, 187-246. Kahl, Werner: Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft (NSKE 2), Frankfurt 2007. Kahl, Werner: Jesus als Wundertäter, in: M. Hofheinz / N. Neumann (Hg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2022, 137-182. Kahl, Werner: Oppositionelle Konstellationen im Kolosser- und Epheserbrief, in: S. Alkier (Hg.), Antagonismen in neutestamentlichen Schriften. Studien zur Neuformulierung der „Gegnerfrage“ jenseits des Historismus (Beyond Historicism - New Testament Studies Today, Band-1), Leiden 2021, 115-161. Omenyo, Cephas / Atiemo, Abamfo: Claiming Religious Space. The Case of the Neo-Pro‐ phetism in Ghana, in: Ghana Bulletin of Theology 1/ 2006, 55-68. Omenyo, Cephas: Pentecost Outside Pentecostalism. A study of the Development of Charismatic Renewal in the Mainline Church in Ghana, Zoetermeer 2002. Onyinah, Opoku: Pentecostal Exorcism. Witchcraft and Demonology in Ghana ( Journal of Pentecostal Theology Supplement, Band-34), Dorchester 2012. Opoku, Kofi Asare: West African Traditional Religion, Accra 1978. Prince, Derek: They Shall Expel Demons. What You Need to Know About Demons - Your Invisible Enemies, Harpenden 1998. Seebode, Jochen: „Aduro kum aduro“. Ritual, Macht und Besessenheit in Asante (Südg‐ hana), (Spektrum 56), Münster 1998. Wimber, John / Springer, Kevin: Power Evangelism, California 1986. 200 Werner Kahl <?page no="201"?> * Wiederabdruck aus: Hans G. Kippenberg / Tilman Seidensticker (Hg.), Terror im Dienste Gottes. Die „Geistliche Anleitung der Attentäter vom 11. September 2001, Frankfurt/ New York 2004, 17-27. Dem Verlag und den Autoren sei hiermit für die Erlaubnis des Wiederabdrucks gedankt. 1 nīya „Intention“ ist terminus technicus des islamischen Rechts und Vorbedingung für eine gültige kultische Handlung. 2 Die beiden letzten Sätze stehen im Original über dem eigentlichen Text und sind durch einen Strich vom folgenden Text getrennt; sie scheinen eine Ergänzung zur Aufforderung zu sein, Sure 9 und 8 zu rezitieren. Die angeführte Überlieferung des Propheten stammt einer Angabe am Fuß der Seite zufolge aus dem Buch al-Muḫtār min al-aḏkār („Ausgewählte Gebete“) von an-Nawawī (gest. 1277). Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September* Übersetzt von Albrecht Fuess, Moez Khalfaoui und Tilman Seidensticker [Seite-1] Die letzte Nacht. 1. - Untereinander einen Treueeid zu sterben treffen und das Erneuern der Intention. *1 - Das überflüssige Körperhaar abrasieren und sich parfümieren. - Die große rituelle Waschung vornehmen. 2. Den Plan von allen Seiten gut kennen; damit rechnen, dass der Feind reagiert und Widerstand leistet. 3. Die Suren at-Tawba [= Nr. 9] und al-Anfāl [= Nr. 8] lesen und über ihre Bedeutung nachdenken und darüber, was Gott den Gläubigen an ewiger Gnade für die Märtyrer bereitet hat. Einer der Prophetengefährten sagte: „Der Prophet Gottes befahl uns, sie vor dem Kriegszug zu rezitieren. Daraufhin rezitierten wir sie, machten viel Beute und blieben unversehrt.“ 2 4. Besinne dich auf den unbedingten Gehorsam in dieser Nacht, denn du wirst mit entscheidenden Situationen konfrontiert sein, in denen es 100 % auf unbedingten Gehorsam ankommt. Bezähme dich, mache dich selbst verstehen, überzeuge dich und sporne dich dazu an. Gott - er ist erhaben - sagt: „Und gehorcht Gott und seinem Gesandten und streitet euch nicht, sonst gebt ihr Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September 201 <?page no="202"?> 3 iǧmā‘ „Konsens“ ist wieder terminus technicus des islamischen Rechts und bezeichnet dessen dritte Quelle nach Koran und Prophetentradition. 4 Prophetenüberlieferung, vgl. Arent Jan Wensinck u. a., Concordance et indices de la tradition musulmane, 7 Bände, Leiden 1936-1969, II 41b (im folgenden immer abgekürzt als „Wensinck“). damit auf und seid zur Untätigkeit verurteilt! Und seid geduldig! Gott ist mit denen, die geduldig sind.“ [Koran 8: 46] 5. In der Nacht aufbleiben und dringlich um Hilfe zum Sieg, Stärkung, klaren Triumph, Erleichterung des Vorhabens und unsere Unentdecktheit beten. 6. Viel rezitieren. Wisst, dass die beste Rezitation die des edlen Korans ist. Soweit ich weiß, gibt es dazu eine Übereinkunft 3 der religiösen Gelehrten. Dabei reicht uns aus, dass der Koran das Wort des Schöpfers des Himmels und der Erde ist, dem du begegnen wirst. Reinige dein Herz und säubere es von Makeln und vergiss oder ignoriere etwas, dessen Name Welt ist. Die Zeit des Spielens ist vorbei, es ist die wahre Verabredung gekommen. Wie viel Zeit unseres Lebens haben wir vergeudet! Warum erfüllen wir nicht in Zukunft jene Stunden mit gottgefälligen Taten und frommen Handlungen? 8. Sei heiter, denn zwischen dir und deiner Hochzeit liegen nur wenige Au‐ genblicke, mit denen das glückselige, gottgefällige Leben und die ewige Gnade mit den Propheten, den Rechtschaffenen, den Märtyrern und den Frommen beginnt. Welch gute Gefährten sind das! [Koran 4: 69] Wir bitten Gott um seine Huld. Sei optimistisch, denn der Prophet - Gott segne ihn und schenke ihm Heil - „liebte den Optimismus in allen seinen Angelegenheiten“. 9. Sodann richte dein Augenmerk darauf, wie du agierst, wenn du in eine schwierige Lage gerätst, wie du dort standhältst und immer wieder bestehst. Und wisse, „dass das, was dir zugestoßen ist, dich nicht verfehlen konnte, und das, was dich verfehlt hat, dir nicht zustoßen konnte“ 4 , und dass diese Prüfung von Gott - er ist erhaben und groß - stammt, um deinen Rang zu erhöhen und dir für deine Sünden Sühnung zukommen zu lassen. Darüber hinaus wisse, dass dies nur einige Augenblicke dauern wird und dann mit Gottes Erlaubnis schnell vergehen wird. Glückwunsch dem, der der großen Belohnung Gottes teilhaftig wird. Er, der Erhabene, spricht: „Oder meint ihr, ihr würdet ins Paradies eingehen, ohne dass Gott vorher diejenigen von euch, die um seinetwillen Krieg [ǧihād] geführt haben, in Erfahrung gebracht hat, und ohne dass er diejenigen in Erfahrung gebracht hat, die geduldig sind? “ [Koran 3: 142] 10. Dann denkt an das Wort Gottes, des Erhabenen: „Ihr habt euch ja den Tod gewünscht, noch ohne ihm begegnet zu sein. Nun habt ihr ihn leibhaftig zu Gesicht bekommen.“ [Koran 3: 143] Erinnert euch danach auch an das Wort: „Wie manche geringe Schar hat schon mit Gottes Erlaubnis über eine große 202 Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September <?page no="203"?> 5 Im Text steht tḏ, was vermutlich als taḏkira „Ticket“ aufzulösen ist. 6 Prophetenüberlieferung über das Schlachten, vgl. Wensinck I 430b. 7 Im Text steht nur der Buchstabe m, womit vermutlich das arabische Wort maṭār „Flughafen“ gemeint ist. gesiegt! “ [Koran 2: 249] und des Wortes: „Wenn Gott euch zum Sieg verhilft, gibt es niemanden, der über euch siegen könnte. Und wenn er euch im Stich lässt, wer könnte euch dann, nachdem er ausgefallen ist, zum Sieg verhelfen? Auf Gott sollen die Gläubigen vertrauen.“ [Koran 3: 160] 11. Du und deine Brüder, rezitiert Gebete und bedenkt ihre Bedeutung! (Die Gebete des Morgens und des Abends - die Gebete der Stadt - die Gebete des Ortes - die Gebete des Zusammentreffens mit dem Feind usw.) 12. Achte auf: dich - den Koffer - die Kleidung - das Messer - deine Ausrüstung - deinen Ausweis - (das F[lug]t[icket]) 5 - deinen Reisepass - alle deine Papiere. 13. Prüfe deine Waffe vor der Reise und noch einmal unmittelbar vor der Reise. „Jeder von euch muss sein Messer schärfen und seinem Schlachtopfer [schnell] Frieden geben.“ 6 14. Straffe deine Kleidung sehr gut. Denn dies ist die Vorgehensweise der rechtschaffenen Muslime aus der Frühzeit - Gott möge sein Wohlgefallen an ihnen haben. Diese strafften ihre Kleidung vor dem Kampf. Danach schnüre deine Schuhe gut und trage Socken, damit du im Schuh Halt hast und nicht herausrutschst. All diese Dinge sind Vorkehrungen, die uns befohlen wurden. „Wir haben unser Genüge an Gott. Welch ein trefflicher Sachwalter ist er! “ [Koran 3: 173] 15. Bete das Morgengebet in [der] Gruppe, denke über es nach und verrichte danach die Gebete. Verlasse deine Wohnung nur nach ritueller Waschung, denn die Engel bitten für dich um Verzeihung, solange du rituell rein bist, und beten für dich. Und rezitiere Gottes Wort „Meint ihr denn, wir hätten euch zum Zeitvertreib geschaffen? “ [Koran 23: 115] (Sure „Die Gläubigen“) [Seite-2] Danach folgt die zweite Etappe. Wenn das Taxi dich zum F[lughafen] 7 bringt, wiederhole oft Gottes Namen im Auto (mit dem Gebet der Fahrt - dem Gebet der Stadt - dem Gebet des Ortes - den weiteren Gebeten). Wenn du ankommst und den F[lughafen] siehst und aus dem Taxi steigst, so sprich das Gebet des Ortes. An jedem Ort, an den du kommst, sprich das Gebet des Ortes. Lächle und sei ruhig, denn Gott ist mit den Gläubigen, und die Engel beschützen dich, ohne dass du es merkst. Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September 203 <?page no="204"?> 8 Möglicherweise sind mit den „Türen“ die Metalldetektor-Portale auf den Flughäfen gemeint. Danach sprich das Gebet „Gott ist größer als alle seine Geschöpfe …“ und sage „O Gott, schütze uns vor ihnen so, wie es dir gefällt“, und sprich: „O Gott, […] uns vor ihren Lasterhaftigkeiten [? ], und wir suchen bei dir unsere Zuflucht vor ihrem Bösen“, - und sprich „O Gott, mache ,für uns vor ihnen einen Wall und hinter ihnen einen Wall und decke sie zu, so dass sie nicht sehen‘ [vgl. Koran 36: 9]“ und sprich: „Wir haben unser Genüge an Gott. Welch ein trefflicher Sachwalter ist er! “ [Koran 3: 173] Vergegenwärtige dir auch das Wort Gottes, des Erhabenen: „Eben zu ihnen sagte man: ,Die Leute haben eine Streitmacht gegen euch aufgeboten. Euch muss doch Angst werden vor ihnen! ‘ Aber das bestärkte sie noch in ihrem Glauben, und sie sagten: ,Wir haben unser Genüge an Gott. Welch ein trefflicher Sachwalter ist er! ‘“ [Koran 3: 173] Nachdem du das ausgesprochen hast, wirst du [besondere] Umstände vor‐ finden […], denn Gott hat seinen Knechten, die dieses Gebet aussprechen, folgendes versprochen: 1. die Rückkehr durch Gottes Gnade und Huld; 2. ihnen widerfährt nichts Böses; 3. das Erhalten der Gunst Gottes. Es sagte der Erhabene: „Und so kehrten sie durch Gottes Gnade und Huld heim, ohne dass man ihnen etwas Böses angetan hätte. Sie strebten nach dem Wohlgefallen Gottes. Und Gott ist voller Huld.“ [Koran 3: 174] Und ihre Ausrüstung, ihre Türen 8 und ihre Technologie, all dies kann nichts nützen und nichts schaden außer mit Gottes Erlaubnis. Die Gläubigen fürchten dieses nicht. Aber wer davor Furcht hat, sind die Freunde Satans, welche eigentlich Satan fürchten und zu seinen Jüngern wurden - Gott behüte uns davor! Furcht ist eine große Form der Verehrung, die man nur Gott - er ist gepriesen und erhaben - erweisen darf, und er ist der einzige, der darauf Anspruch hat. Es sagte der Erhabene als Erläuterung zu dem oben angeführten Koranvers: „Das ist der Satan. Er macht euch vor seinen Freunden Furcht! “ [Koran 3: 175] Diejenigen, die von der westlichen Zivilisation fasziniert sind, haben ihre Liebe zu ihr und ihre Verehrung [? ] für sie mit kaltem Wasser getrunken. Sie fürchteten ihre [eigene] schwache Ausrüstung: „Ihr sollt nun aber nicht vor ihnen Furcht haben, sondern vor mir, wenn ihr denn gläubig seid.“ [Koran 3: 175] Denn die Furcht ist eine große Form der Verehrung. Die Freunde Gottes und die Gläubigen erweisen sie nur Gott, dem Einzigen und Einzigartigen, der in seinen Händen alles hält. Seid daher völlig sicher, dass Gott die List der Ungläubigen 204 Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September <?page no="205"?> 9 Hier ist die Rede vom ersten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses „Es gibt keinen Gott außer Gott“. 10 Prophetenüberlieferung, zu finden im Ṣaḥīḥ des Muslim, Kapitel ṣalāt, Nr.-12. 11 Prophetenüberlieferung, vgl. Wensinck VI 30b. 12 In der arabischen Schrift dienen Punkte ober- oder unterhalb der Zeichen dazu, einzelne Buchstaben zu unterscheiden. Hier wird darauf hingewiesen, dass das Glaubensbe‐ kenntnis in der arabischen Schrift nur mit Buchstaben geschrieben wird, die ohne diese diakritischen Punkte auskommen. vereiteln wird, denn er, der erhaben ist, hat gesagt: „So war es, und Gott macht die List der Ungläubigen wirkungslos! “ [Koran 8: 18] Dann müsst ihr das Gebet […] rezitieren, das zu den größten Gebeten gehört. Insbesondere musst du es so machen, dass niemand bemerkt, dass du lā ilāha illā llāh 9 betest. Wenn du es tausendmal sagst, kann niemand unterscheiden, ob du schweigst oder das Glaubensbekenntnis rezitierst. Zu seinen großartigen Eigenschaften gehört es, dass der Prophet - Gott segne ihn und schenke ihm Heil - sprach: „Wer lā ilāha illā llāh […] aufsagt, kommt ins Paradies“, 10 oder wie er es gesagt haben soll. Der Prophet - Gott segne ihn und schenke ihm Heil - sagte in diesem Zusammenhang auch folgendes: „Wenn man die sieben Erden und sieben Himmel in eine Waagschale legen würde und lā ilāha illā llāh in die andere Waagschale, dann senkte sich die Waagschale zugunsten des lā ilāha illā llāh.“ 11 Und du kannst [mit offenem Mund] lächeln, während du es [das Glaubens‐ bekenntnis] aufsagst; dies geschieht durch die großartigen Eigenschaften dieser Worte. Der, der sich mit ihnen genauer beschäftigt, wird finden, dass seine Buchstaben [in der arabischen Schrift] unpunktiert sind. 12 Das ist das Zeichen ihrer vollkommenen Erhabenheit, weil die Wörter oder Buchstaben, die mit Punkten versehen sind, weniger wert sind als die anderen. Und es ist ausrei‐ chend, dass es das Wort der Einsheit [tawḥīd] Gottes ist, das hochzuhalten du gekommen bist, und unter dessen Banner du streitest, wie es auch der Prophet - Gott segne ihn und schenke ihm Heil -, seine unmittelbaren Gefährten und die, die im Wohltun mit ihnen (eines Sinnes) sind, vorbildlich taten [und tun werden] bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. [Seite-3] Darüber hinaus: Zeige keine Anzeichen der Verwirrung und nervlicher Anspan‐ nung, sondern sei froh, glücklich, heiter und zuversichtlich, weil du eine Tat ausführst, die Gott liebt und die er gutheißt. Danach wird der Tag kommen, den du mit Gottes Erlaubnis mit den schwarzäugigen Jungfrauen (al-ḥūr al-‘īn) im Paradies verbringen wirst. „Und lächle dem Tod ins Gesicht, junger Kämpfer, Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September 205 <?page no="206"?> 13 Im Text steht nur der Buchstabe ṭ. Damit ist hier vermutlich das arabische Wort ṭā’ira „Flugzeug“ gemeint. 14 Prophetenüberlieferung, vgl. Wensinck IV 465b 15 Im Text steht nur der Buchstabe q. Es ist aber unklar, was genau damit gemeint ist. 16 Diese Koranstelle steht im Zusammenhang mit dem Kampf der Israeliten gegen Goliath und die Philister. denn du gehst gleich ein in ewige Gärten! “ Wohin auch immer du gehst, oder was auch immer du tust, du musst die religiöse Rezitation [ḏikr] und das Gebet [du‘ā’] ausüben. Gott gewährt seinen gläubigen Dienern Schutz, Erleichterung, Unterstützung, Stärkung und Hilfe zum Sieg und noch anderes mehr. Die dritte Etappe. Wenn du an Bord des F[lugzeuges] 13 gehst: In dem Moment, in dem du es mit deinem Fuß betrittst, und noch bevor du richtig hineingehst, wiederhole die Gebete und führe dir vor Augen, dass dies ein Kriegszug auf dem Wege [Gottes] ist, so wie er [der Prophet] es sagte - Gott segne ihn und schenke ihm Heil -: „Das Ausziehen und Wiederkommen auf dem Wege Gottes ist besser als die diesseitige Welt und was in ihr ist.“ 14 So oder so ähnlich hat er es gesagt, Gottes Segen sei mit ihm. Wenn du deinen Fuß in das F[lugzeug] setzt und deinen Sitz einnimmst, dann sage die religiösen Rezitationen und wiederhole die bekannten Gebete, die wir schon früher erwähnt haben. Danach beschäftige dich damit, den Namen Gottes auszusprechen und immer wieder zu wiederholen. Es sagte der Erhabene: „Ihr Gläubigen! Wenn ihr mit einer Gruppe von Ungläubigen zusammentrefft, dann seid standhaft und gedenkt Gottes! Vielleicht wird es euch (dann) wohl ergehen.“ [Koran 8: 45] Wenn sich dann das F[lugzeug] ein wenig bewegt und Richtung aufnimmt auf [die Warteposition? ] 15 zu, dann sage das Gebet der Reise, weil du zu Gott dem Erhabenen reist. „Und fühle die Gnade dieser Reise“. Dann wirst du bemerken, wie es [das Flugzeug] innehält, und danach startet es. Dies ist der Augenblick der Begegnung der beiden Gruppen. Ihr müsst Gott anrufen, wie der Erhabene es in seinem Buch gelehrt hat: „Herr! Verleihe uns Geduld, stelle unsere Füße auf festen Boden und hilf uns gegen das Volk der Ungläubigen! “ [Koran 2: 250] 16 Und weiter heißt es in seinem erhabenen Wort: „Und sie sagten nichts anderes als: ,Herr! Vergib uns unsere Schuld und dass wir in unserer Angelegenheit nicht maßgehalten haben. Stelle unsere Füße auf festen Boden und hilf uns gegen das Volk der Ungläubigen‘.“ [Koran 3: 147] Und es sagte sein Prophet - Gott segne ihn und schenke ihm Heil -: „O Gott! Du Verkünder des Buches, Beweger der Wolken, Sieger über die Parteien, 206 Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September <?page no="207"?> 17 Gebet des Propheten, vgl. Wensinck I 341b. 18 Bei sunna „Brauch“ und wāǧib „verbindliche Vorschrift“ handelt es sich wieder um termini technici des islamischen Rechts. besiege sie und gib uns den Sieg über sie. O Gott, besiege sie und lass sie erbeben.“ 17 Bete für dich und alle deine Brüder um den Triumph, den Sieg und das Erreichen des Zieles. Und fürchte dich nicht. Und bitte Gott, dir das Märtyrertum zu verleihen, während du fest voranschreitest, nicht zurückweichst und dabei standhaft bist und auf die Belohnung deiner Taten zählst. Dann muss sich jeder einzelne von euch vorbereiten, seine Aufgabe in der Weise zu erfüllen, die Gott bei ihm gutheißt. Und jeder einzelne muss die Zähne zusammenbeißen, wie es unsere Vorfahren taten - Gott möge sich ihrer erbarmen - vor dem Zusammenstoß in einer Schlacht. Und beim Nahkampf muss man stark zuschlagen wie Helden, die nicht mehr in diese Welt zurückkehren wollen, und du musst laut ausrufen Allāhu akbar, weil das Ausrufen von Allāhu akbar in den Herzen der Ungläubigen Angst hervorruft. Und es sagte der Erhabene: „Haut ihnen auf den Nacken und schlagt zu auf jeden Finger von ihnen! “ [Koran 8: 12] Und wisst, dass sich die Paradiese für euch bereits mit ihrem schönsten Schmuck geschmückt haben und die Paradiesjungfrauen nach euch rufen: „Oh komm herbei, du Freund Gottes! “ Dabei tragen sie ihre schönste Kleidung. Und wenn Gott einem von euch die Gunst gewährt, jemanden zu opfern, soll er dieses [Opfer] Vater und Mutter widmen, weil sie dir gegenüber einen An‐ spruch haben. Streitet nicht untereinander, hört und seid absolut folgsam. Und wenn ihr opfert, dann plündert diejenigen aus, die ihr getötet habt, weil jenes einen Brauch [sunna] von den Bräuchen des Erwählten [Muḥammad] darstellt - Gott segne ihn und schenke ihm Heil; aber nur unter der Bedingung, dass ihr das Plündern nicht ausüben sollt, wenn ihr dafür etwas Wichtiges vernachlässigt, wie die Aufmerksamkeit gegenüber dem Feind, seiner Täuschung oder seinen Angriffen, denn dies wäre ein großer Schaden. Wenn alles gut läuft, [Seite-4] soll das Gelingen der Operation und das Wohlergehen der Gruppe Vorrang vor derlei Dingen haben. Dies [das Plündern] ist zwar ein Brauch [des Propheten, sunna], aber das unbedingt Verbindliche [wāǧib] soll [in einem solchen Fall] dem Brauch übergeordnet sein. 18 Nimm nicht um deiner selbst willen Rache, sondern mache deinen Schlag und alle anderen Angelegenheiten für Gott den Erhabenen. So wie es ‘Alī ibn Abī Ṭālib 19 machte - Gott sei zufrieden mit ihm. Als er einmal mit einem Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September 207 <?page no="208"?> 19 ‘Alī ibn Abī Ṭālib, der spätere vierte Kalif (656-661), Vetter und Schwiegersohn des Propheten. 20 Diese Episode soll sich während des sogenannten Grabenkriegs im Jahre 627 er‐ eignet haben, als sich die Muslime in Medina vor den angreifenden Mekkanem verschanzten. ‘Alī soll den Mekkaner ‘Amr ibn ‘Abdwudd nach heftigem Kampf getötet haben, siehe Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten. Aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Gernot Rotter, Stuttgart / Wien 1986: 169 f.; al-Wāqidī, Kitāb al-maġāzī, hg. von Marsden Jones, Band 2, London 1966: 470 f. Daneben scheint es aber eine weitere Fassung zu geben, die wörtlich die hier angegebene Version mit dem Spucken von ‘Amr ibn ‘Abdwudd, dem darauffolgenden Zögern ‘Alīs und der späteren Tötung überliefert. Auf diese beziehen sich vor allem schiitische Kommentatoren wie Ayatollah Khomeini, wenn sie diese Episode wiedergeben, siehe: „Speech 53 of Imam Khomeini“, in: www.i rib.ir/ worldservice/ imam/ speech/ 53.htm oder: Jihad (Struggle), in: www.islamic-city.c om/ islam/ jihad. htm. 21 Der Text hat hier nur den Buchstaben k, der hier möglicherweise für al-kābīna „Cockpit“ steht. Ungläubigen kämpfte, erhob sich dieser und bespuckte ‘Alī - Gott sei zufrieden mit ihm. Trotzdem hat ‘Alī sein Schwert [in die Scheide zurückgesteckt] und ihn nicht damit erschlagen. Erst etwas später hat ‘Alī ihn [diesen Ungläubigen] erschlagen. Und als der Kampf vorbei war, fragten ihn seine Gefährten, was es mit dieser Tat auf sich habe und warum er den Ungläubigen nicht gleich getötet habe, sondern ihn erst gelassen habe, um ihn dann später doch zu erschlagen. Daraufhin sagte ‘Alī - Gott sei zufrieden mit ihm: „Als er mich bespuckte, hatte ich Angst, ich würde ihn aus persönlichem Rachegelühl erschlagen. Deshalb zog ich mein Schwert zurück.“ So oder so ähnlich sagte er es. Als er sich aber die Intention [des Kampfes für Gott] noch einmal vergegenwärtigt hatte, kehrte er zurück, schlug den Ungläubigen und tötete ihn. Alles dies geschah in kurzer Zeit. 20 Man muss sich vor einer Tat innerlich darauf vorbereiten, damit alles, was man tut, nur für Gott ist. Danach wendet den Brauch [des Propheten] hinsichtlich der Gefangenahme an. Nehmt einige von ihnen gefangen und tötet sie, wie es der Erhabene gesagt hat: „Kein Prophet darf Gefangene haben, solange er nicht die Gegner überall im Land vollständig niedergekämpft hat. Ihr wollt die Glücksgüter des Diesseits, aber Gott will für euch das Jenseits. Er ist mächtig und weise.“ [Koran 8: 67] Wenn alles so gelaufen ist wie es soll, darf soll jeder von euch auf die Schulter seines Bruders für die gegenseitige Zuversicht klopfen. Und im F[lughafen] und im F[lugzeug] und im C[ockpit? ] 21 soll [jeder von euch] seinen Bruder daran erinnern, dass diese Mission für Gott, den Großartigen und Erhabenen, ist. Und jeder soll darauf achten, seine Brüder nicht zu verunsichern […], sondern ihnen einen guten Verlauf ankündigen, ihnen Zuversicht geben, sie erinnern und ermutigen. Schön wäre es, wenn man einige Verse des Korans lesen könnte, 208 Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September <?page no="209"?> 22 Diese Koranstelle spielt auf den Grabenkrieg im Jahre 627 an, als sich die Muslime in Medina vor den angreifenden Mekkanern verschanzten. wie etwa folgendes Wort des Erhabenen: „Diejenigen aber, die das diesseitige Leben um den Preis des Jenseits verkaufen, sollen um Gottes Willen kämpfen …“ [Koran 4: 74], und seine erhabene Rede: „Und du darfst ja nicht meinen, dass diejenigen, die um Gottes willen getötet worden sind, wirklich tot sind …“ [Koran 3: 169] und andere Verse mehr. Oder man zitiert für sie [die Brüder] [religiöse] Dichtung, wie auch die Muslime der Frühzeit laut rezitierten inmitten der Schlacht, um die Brüder zu beruhigen und in ihre Herzen Ruhe und Freude zu bringen. Und vergesst nicht, dass ihr ein wenig Beute machen müsst, und selbst wenn es nur eine Tasse oder ein Glas Wasser ist, das du mit deinen Brüdern trinkst, wenn das möglich ist. Wenn sich dann die wahre Verheißung nähert und die Stunde Null erreicht ist, zerreiße dein Gewand und lege deine Brust frei, um den Tod auf dem Wege Gottes willkommen zu heißen, und sei ständig Gottes eingedenk. Entweder schließt du mit dem Ritualgebet, wenn das möglich sein sollte, das du einige Sekunden vor dem Ziel beginnst, oder deine letzten Worte sollen [das islamische Glaubensbekenntnis] sein: „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist sein Prophet.“ Und wenn Gott will, folgt danach das Treffen im Höchsten Paradies mit der Erlaubnis Gottes. Wenn Du die Gruppen der Ungläubigen siehst, erinnere dich an die Gruppen, deren Zahl ungefähr 10000 Kämpfer betrug, und wie Gott seinen gläubigen Dienern den Sieg geschenkt hat. Und es sagte der Erhabene: „Und als die Gläubigen die Gruppen der Verbündeten sahen, sagten sie: ,Das ist das, was Gott und sein Gesandter uns versprochen haben. Gott und sein Gesandter sagen die Wahrheit.‘ Und es bestärkte sie nur noch in ihrem Glauben und ihrer Ergebenheit.“ [Koran 33: 22] 22 Und Gott segne unseren Propheten Muhammad. Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September 209 <?page no="211"?> * Für Lothar König (1954-2024) in ehrendem Gedenken, in Freundschaft, in Dankbarkeit. 1 Auf diese Texte wird nachfolgend mit den in eckige Klammern gesetzten Nummern ver‐ wiesen. Den Verlagen (Edition Nautilus, Christian-Links-Verlag) und den Autorinnen und Autoren sei für die erteilten Abdruckgenehmigungen herzlich gedankt. Nicht in allen Fällen konnten die Rechteinhaber ermittelt werden. Die Betreffenden werden gebeten, sich ggf. an den Verfasser dieses Beitrags zu wenden. Wege in die Radikalität * Biografische Zugänge zu RAF und Bewegung 2. Juni Manuel Vogel 1 Einführung Der bewaffnete Kampf der Roten Armee Fraktion (RAF) und, weniger im mas‐ senmedialen Fokus, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen, wurde von den damaligen Akteurinnen und Akteuren als Krieg aufgefasst, wobei der Sprachgebrauch der Texte zwischen „Kampf “ und „Krieg“ changiert. Der Titel der frühtesten Programmschrift der RAF Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla von 1971 bedient sich der Semantik des Krieges gleich zwiefach, in der Selbstbezeichnung als (Fraktion einer) „Armee“ und in der Organisation als „Guerilla“ (Untergrundkrieg). Die Schrift endet mit der Parole „Sieg im Volkskrieg“, eine Formulierung, die auch im Gründungstext der Bewegung 2. Juni (Text [74] in der folgenden Sammlung) 1 verwendet wird. Für den vorliegenden Beitrag wurde zunächst die Form der historischen Darstellung in Betracht gezogen, diese aber dann verworfen angesichts einer bereits reichlich vorhandenen Literatur (v. a. A U S T 2010), zu der nur noch ein weiterer historischer Abriss beizusteuern gewesen wäre. Was stattdessen nun vorliegt, ist eine Sammlung an autobiographischen Texten, Briefen, Interviews, Prozessprotokollen und politischen Kolumnen, die die Innenperspektive von da‐ mals Beteiligten zur Geltung bringen sollen. Leitend war bei der Textauswahl die Suche nach Stimmen, die aus der heutigen Rückschau noch genau beschreiben können, warum sie damals so gehandelt haben, wie sie gehandelt haben, warum <?page no="212"?> 2 Die Rede ist dabei, soweit ich sehe, von eigener „Verantwortung“ und „Schuld“, nicht aber von „Reue“, und zwar nicht deshalb, weil es im landläufigen Sinn „nichts zu bereuen“ gäbe, sondern weil Reue als Unterwerfung unter das System ausgelegt würde oder werden könnte, zu dem bis heute ein unversöhnlicher Gegensatz und Widerspruch besteht. 3 Den damaligen Akteurinnen und Akteuren, die für persönliche Gespräche zur Verfü‐ gung standen, dankt der Verfasser hiermit ausdrücklich. 4 Bezeichnend ist der von Fritz Rodewald (1939-2009) in definitorischer Absicht vorge‐ nommene historische Brückenschlag von der RAF zu 9/ 11 (hierzu auch K O C H 2001). Rodewald hatte 1972 einen Hinweis an die Polizei gegeben, dass in seiner Wohnung möglicherweise Personen der RAF untergekommen seien. Dieser Hinweis führte zur Festnahme von Ulrike Meinhof. In linken Kreisen haftete ihm deshalb bis ins Alter der Makel des Verräters an. In einem Zeitungsinterview der Süddeutschen Zeitung von 2006 hat er sich zu den Anschlägen vom 11. September 2001 geäußert: „Ich war schockiert, fühlte mich aber gleichzeitig wie befreit, auch wenn das seltsam klingen mag (…). Spätestens mit diesem Ereignis (…) musste doch jedem klar sein, was Terrorismus ist.“ (S C H L Ö T Z E R 2006). Aber diese Wesensdefinition von Terrorismus als massenhafte, unterschiedslose und zufällige Tötung von völlig unbeteiligten Zivilpersonen ist im Blick auf den bewaffneten Kampf der 70er Jahre schlechterdings unzutreffend und im Umkehrschluss ein weiteres Argument, im Blick auf den bewaffenten Kampf gerade nicht von Terrorismus zu sprechen. Solche Attentate lagen weit jenseits dessen, wozu die damals Beteiligten bereit waren (hierzu auch [95]), und sie waren durch die pro‐ grammatische Parteinahme „für das Volk“ [vgl. 109] auch kategorisch ausgeschlossen. sie das damals legitim fanden, und warum sie es auch heute noch legitim finden, dass sie es damals legitim fanden. Erst dann und nur dann können (und müssen freilich auch) selbstkritische Reflexionen zu eigener Verantwortung und eigenen Irrtümern folgen. Die Texte zeigen, dass diese Selbstkritik 2 - hierzu [44] [56] - auch und gerade bei denjenigen deutlich ausgeprägt ist, deren politische Grundüberzeugungen bis heute im Wesentlichen dieselben geblieben sind, und die die Jahre des bewaffneten Kampfes und der Haft als authentischen Teil ihrer eigenen Biographie verstehen und verteidigen. 3 Dieses Selbstverständnis äußert sich sprachlich u. a. darin, dass der in historischen Darstellungen völlig selbstverständlich verwendete Terrorismus-Begriff (hierzu M U S O L F F 1995) als Selbstzuschreibung in den hier ausgewählten Texten weitestgehend nicht vorkommt. Er wird vorliegend deshalb auch beschreibungssprachlich nicht verwendet. Quellensprachliche Ausnahmen bestätigen signifikant die Regel: Terrorismus ist dasjenige, was in den eigenen Reihen scharf kritisiert wird, so etwa die Entfühung der Lufthansa-Maschine Landshut als gegen die Bevölke‐ rung gerichtete und insofern verwerfliche Aktion [109]; vgl. auch [39] und [93]. Außerdem markiert der Terrorismus-Begriff im gesellschaftlichen Diskurs eine Tabuzone, innerhalb derer es keine Frage nach Gründen und keine irgendwie sachbezogene Auseinandersetzung geben darf, sondern nur die Bekämpfung und Vernichtung des Monströsen und radikal Bösen. 4 Diese Tabuzone soll vor‐ 212 Manuel Vogel <?page no="213"?> 5 Vgl. auch [35] und die Kritik von Viett [31] an Stefan Aust: „Du hast völlig recht mit Deinem Empfinden von Oberflächlichkeit. Aber dies ist Absicht und nicht fehlendes Wissen. Das ganze Buch hat die Tendenz der Entpolitisierung und Psychologisierung der Gruppe und liegt damit ganz auf Linie.“ Vgl. auch B A K K E R S C H U T 1987 [2]. 6 Ein Problem dieses Verfahrens besteht darin, dass die Positionen und Perspektiven der einzenen Texte überwiegend ohne Namensnennung in die Darstellung aufgenommen und individuelle Unterschiede damit nivelliert werden. Die Darstellung darf aber als adäquat gelten, wenn diejenigen, die in den Texten zu Wort kommen, sich jedenfalls im Großen und Ganzen richtig verstanden sähen bzw. gesehen hätten. Außerdem liegend aber gerade für den Diskurs erschlossen werden. Zu vermeiden ist dabei allerdings jedwede psychologisierende Dekonstruktion. Die Psychologisierung (wie auch die Reduktion auf das im Sinne des Strafrechts Kriminelle) blendet das originär Politische als den dominierenden motivationalen Faktor aus bzw. überschreitet es auf etwas „eigentlich“ Gemeintes und Intendiertes hin, so etwa S C HWI B B E 2013, die die Texte unter Verwendung des Alteritätsparadigmas als „Erzähungen vom Anderssein“ liest, so als sei der bewaffnete Kampf ein groß angelgtes Projekt individueller Selbstunterscheidung im Prozess der eigenen Identitätsfindung gewesen. Ebenso zieht W. Kraushaar in seinem Nachruf auf Inge Viett in der taz vom 20.5.22 (Datum der online-Ausgabe) eine psychologi‐ sierende Summe aus ihrem Leben: „Offenbar hat sie im bewaffneten Kampf nach einem Ausweg aus ihrer Sozialisation gesucht und sich immer tiefer in den Terrorismus verstrickt.“ (K R A U S HAA R 2022). Aber dieses Resümee wird der höchst reflektierten und differenziert urteilenden Autobiografie von Inge Viett, die in Teil 3 zusammen mit ihren Briefen aus der Haft schwerpunktmäßig und ausführlich herangezogen wird, keinesfalls gerecht. Auch bei W. Kraushaar soll die (im vorliegenden Fall überdies klischeehafte) Psychologisierung begründen, warum man meint, sich die sachliche Auseinandersetzung ersparen zu dürfen. 5 2 Einleitung: Systematisierende Textcollage Dieser Teil des vorliegenden Beitrages soll einige thematische Querschnitte durch das gesammelte Material vornehmen und zugleich in Form einer verdich‐ tenden Textcollage bereits einen ersten Eindruck hiervon vermitteln. Dafür bediene ich mich praktisch durchgängig wörtlicher Passagen aus den Texten, zumeist ohne diese - im Interesse der besseren Lesbarkeit - als Zitate zu kennzeichnen (und weitestgehend ohne eigene Kommentierung), jedoch stets mit Verweis auf den verwendeten Quellentext. Übernommene Formulierungen lassen sich so auch ohne explizite Zitation zweifelsfrei identifizieren. Nachfol‐ gend soll auf jeden Text mindestens einmal verwiesen werden, sodass zumindest aspekthaft die Erschließung des gesamten Materials gewährleistet ist. 6 Teil 2 ist Wege in die Radikalität 213 <?page no="214"?> kann durch das Nachschlagen der Bezugstexte jede Äußerung individuell personalisiert werden. für sich lesbar, d. h. ohne ständiges Blättern zu den angegebenen Bezugstexten, und er ist auch für eine nicht vertiefte Befassung mit diesem Beitrag ausrei‐ chend. Bei weitergehendem Interesse empfiehlt sich zusätzlich die Lektüre der Originaltexte. 2.1 Krieg und Frieden Bei Text [1] handelt es sich um einen längeren Passus aus den von J EẞB E R G E R / S C H U C HMAN N 2021in Auswahl publizierten Protokollen des RAF-Prozesses in der JVA Stuttgart-Stammheim (hierzu auch [108]). M.E. wird hier der Antagonismus zwischen den Akteurinnen und Akteuren des bewaffneten Kampfes auf der einen Seite und (so die Sprache der damals Beteiligten) „dem System“, hier vertreten durch die Bundesanwaltschaft der BRD, auf der anderen Seite in seltener Klarheit fassbar, u. zw. nicht nur auf der Diskursebene, auf der (a) seitens des Verteidigers von Ulrike Meinhof, Axel Azzola, für eine Behandlung der Angeklagten nach Kriegsrecht und somit für die Überführung in einen Kriegs‐ gefangenenstatus nach den Regeln der Vereinten Nationen plädiert wird, und (b) durch die Äußerungen von Ulrike Meinhof, die den von der Bundesanwaltschaft juristisch in Anspruch genommenen „Frieden(szustand)“ mit der aktuellen Weltlage konfrontiert, in der die BRD als Bündnispartnerin der USA global an zahlreichen Kriegshandlungen beteiligt ist, sondern auch und vor allem durch das im Protokoll notierte „Gelächter auf der Bank der Bundesanwaltschaft“ als Reaktion auf den Antrag der Verteidiung auf unverzügliche Überführung Angeklagten in Kriegsgefangenschaft, sowie durch den Umstand, dass die weltpolitisch fundierte Infragestellung des behaupteten „Friedens“ durch Ulrike Meinhof von den Bundesanwälten schlichtweg ignoriert wird. Der Antrag von Azolla wird „eine Minute, nachdem wir Stellung genommen haben“ (Meinhof) abgewiesen und das „rechtliche Gehör“ von Meinhof folglich als „Farce“ be‐ zeichnet. Deutlich wird hier nicht nur ein unüberbrückbarer juristischer Dissens - die rechtsgeschichtlichen Ausführungen von Azolla zu Kriegsrecht und Krie‐ gesgefangenenstatus werden von der Bundesanwaltschaft gemäß §140 StGB (Belohnung und Billigung von Straftaten) potenziell kriminalisiert -, sondern auch die tiefgreifende Infragestellung des politischen Systems BRD durch die Angeklagten und deren Verteidiger. Es liegt klar zutage, dass die Bundesanwälte sich auf die Ausführungen von Azolla („Inkorporation revolutionärer Postulate in herrschendes Recht“ [1]) und Meinhof nicht einlassen konnten, ohne eine (sei‐ 214 Manuel Vogel <?page no="215"?> 7 Herold äußerte in Die Welt vom 13. März 1975: „Ich sehe hier einen objektiv in Gang gesetzten Prozess, der eben weltweit ist und der gewissermaßen am Ende stehen hat eine gewisse Verpolizeilichung des Krieges. Während der große Krieg eben zunehmend an Substanz verliert … zwischen Nationen, weil diese ihre geschichtsbestimmende und geschichtsverwirklichende Kraft weitgehend verloren haben, tritt eben eine neue Form der Aggressionsentlastung ein, die nur international begriffen werden kann.“ (zitiert aus K O C H 2001). 8 Vgl. hierzu M Ü N K L E R 2004: „Das Zeitalter der zwischenstaatlichen Kriege geht offenbar zu Ende. Aber der Krieg ist keineswegs verschwunden, er hat nur seine Erscheinungs‐ form verändert. In den neuen Kriegen spielen nicht mehr die Staaten die Hauptrolle, sondern Warlords, Söldner und Terroristen. Die Gewalt richtet sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung; Hochhäuser werden zu Schlachtfeldern, Fernsehbilder zu Waffen.“ (Umschlagtext). Zur Kritik an Münklers These vgl. S C H L I C H T E 2011: Wenn Münkler in der Gegenwart eine von „Habgier“ geleitete „Barbarisierung“ dieser „neuen“ Kriege ausmacht, verdanke sich dies den Annahmen einer „idealisierenden Militärgeschichts‐ schreibung“, die die auch in „klassischen“ Kriegen immer schon vorhandenen Formen tens der BRD stets kategorisch bestrittene) politische Dimension des Prozesses anzuerkennen. Eigens hinzuweisen ist auf den Umstand, dass allerdings auch die staatliche Seite von Krieg sprechen konnte, so prominent in der Rede des BKA-Chefs Horst Herold von der „Verpolizeilichung des Krieges“ [1]. 7 Weitere Texte: [2] [31] [32] [69] [74]. Die Frage der Sprachregelung berührt unmittelbar die Gewaltfrage. Denn unstrittig ist ja gemäß einem breiten gesellschaftlichen Konsens, dass Töten im Krieg erlaubt ist. Das war auch zwischen den damals Beteiligten und den Organen des Staates unstrittig. Strittig war allerdings, ob sich die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes mit dem Staat im „Krieg“ befanden oder nicht. Für den Staat waren das einfach Verbrecher. Strittg war, wer das Recht hatte, „Krieg“ zu definieren und (im Sinne des Kriegsrechts wie auch im Sinne des Lexikons) zu „erklären“. Die RAF und verwandte Gruppen sahen sich als Akteurinnen und Akteure in einem weltweiten „Krieg“ gegen Unterdrückung und Ausbeutung und konnten sich dabei auf eben jene tiefgreifenden phänome‐ nologischen Veränderungen moderner Kriege berufen, die auch Horst Herold (s. Anm. 7) angesprochen hatte, nur eben mit genau entgegengesetzter Intention: Ging des den BRD-Organen um die Legitimierung von immer weitergehenden Befugnissen des Polizeiapparates, insistierten die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes auf der politischen Legitimität ihres Handelns nach den Maßgaben dessen, was im römischen Recht bellum iustum („gerechter Krieg“) genannt wurde. Sie konnten, um einen weiteren Begriff des römischen Rechts zu verwenden, geltend machen, dass das ius ad bellum („Recht zum Krieg“) längst nicht mehr allein von souveränen Staaten beansprucht wurde, deren reguläre Armeen nach definierten Regeln auf einander losgelassen werden. 8 Die Auffas‐ Wege in die Radikalität 215 <?page no="216"?> irrgulärer „bestialischer“ Gewalt ausblende und moralische Unterscheidungen treffe, die nährerer Überprüfung nicht standhalten. Eigentlich und zuletzt diene das Konzept der „neuen Kriege“ dem „Legitimierungsbedürfnis der staatlichen Apparate“. 9 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 42. 10 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 41: „Mir hat einmal ein älterer Mann gegenübergesessen, der auf mich eingeredet hat, wie gut er das findet. Der wusste natürlich nicht, mit wem er spricht. Und ich habe ihm aufmerksam zugehört.“ sung der RAF und verwandter Gruppen, Teil eines „Krieges“ zu sein, ist mithin eine besondere Ausprägung der Diskussion um das staatliche Gewaltmonopol. Es geht deshalb bei der Wahrnehmung und Würdigung des Phänomens RAF gar nicht um die Ablehnung oder Befürwortung von Gewalt, sondern darum, wem mit welchen Gründen das Recht zuerkannt wird, Regeln für zulässige Gewalt zu formulieren, diese als gültig zu setzen und ihre Übertretung zu sanktionieren. Dass „Gewalt keine Lösung“ ist, gilt jedenfalls nicht für den Staat. 2.2 Nicht gegen das Volk: Selbstpositionierungen des bewaffneten Kampfes im Ganzen der Gesellschaft Die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes haben sich sämtlich zunächst auf völlig legalen gesellschaftlichen Handlungsfeldern betätigt, etwa in der Randgruppenarbeit mit Obdachlosen und Heimzöglingen, in der Ge‐ fangenenhilfe oder in der Organisation von Kundgebungen und Demonstra‐ tionen. Der Gang in die Illegalität verdankte sich dem Gewahrwerden der völligen politischen Wirkungslosigkeit dieses Engagements. Aber auch dann noch verstanden sie sich als gesellschaftliche Avantgarde, die eine Freisetzung revolutionärer Kräfte auf breiter gesellschaftlicher Basis zu initiieren hoffte. Als Avantgarde stand sie vor der Aufgabe, sich den Massen durch Kontinuität und vermittelte Aktionen verständlich zu machen. Sie würde überflüssig werden, sobald die Aktionen vom Volk aufgegriffen würden [74]. Die RAF sollte in der Bevölkerung sein „wie ein Fisch im Wasser“ [103], mit der Bevölkerung als einer „natürlichen Verbündeten“ 9 [auch 45]. Irmgard Möller erinnert sich, wie nach Anschlägen der RAF auf US-Einrichtungen ein älterer Mann in der Straßenbahn (in Unkenntnis über die Identität seines Gegenübers) auf sie eingeredet hat, um ihr zu erklären, wie gut er diese Anschläge fand. 10 Regierungsseitig wurde die Gefahr breiter Sympathien für den bewaffneten Kampf gesehen und mit gezielter Desinformation bekämpft. Irmgard Möller hat in ihrem Prozess umfangreiche Beweisanträge hierzu gestellt [23]: Angebliche Pläne für Anschläge auf Kinderspielplätze, auf die Stuttgarter Innenstadt (hierzu Abb. 1 und 2), Trinkwasservergiftungen, Raketenangriffe auf vollbesetzte 216 Manuel Vogel <?page no="217"?> 11 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 43: „[D]ass so darauf gedrungen wurde, die Bevölkerung gegen uns zu mobilisieren, zeigt schon, dass sie nicht automatisch auf seiten des Staates stand, dann hätte man sich viel weniger Mühe geben müssen “ Fußballstadien, Angriffe auf Kernkraftwerke unter Einsatz chemischer und nuklearer Waffen und ähnliche Szenarien wurden der RAF mit gefälschten Drohschreiben etc. untergeschoben und massenmedial verbreitet. Der Staat war sich anscheinend keineswegs sicher, dass die Bevölkerung beim Kampf gegen die RAF automatisch auf seiner Seite stehen würde. 11 Die erhebliche Nervosität auf Seiten des Staates zeigt sich exemplarisch an der Unterwerfungserklärung, die der niedersächsische Wissenschaftsmi‐ nister von den in Niedersachsen beschäftigten Professoren verlangte. Von dem in einer Göttinger Studentenzeitung veröffentlichten „Buback-Nachruf “, der „klammheimliche Freude“ über die Tötung Bubacks bekundete (ansonsten aber RAF-kritisch war), mussten sie sich bei Androhung eines Disziplinarverfahrens ausdrücklich distanzieren und sich dazu bekennen, dass ihnen eine nicht nur „formal korrekte“ Treuepflicht gegenüber dem Staat auferlegt war. Abb. 1 Wege in die Radikalität 217 <?page no="218"?> 12 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 49 f. 178-181. 13 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 182f. Abb. 2 Die erwähnte staatliche Desinformation stand in eklatantem Widerspruch zu den Hoffnungen der damals Beteiligten auf eine Massenbasis für den eigenen Kampf, v. a. aber zu dem programmatischen Verdikt „Nicht gegen das Volk“ bzw. positiv „dem Volke dienen“ [74] [109]. Nicht nur Aktionen wie die bereits erwähnte Landshut-Entführung in 1977 (wie schon die Entführung einer Air-France-Maschine durch die Revolutionären Zellen in 1976) wurden an diesem Anspruch gemessen und intern teilweise scharf kritisiert [101] [109] [110], sondern man gab sich Rechenschaft auch über Einzelne, die bei bewaffneten Aktionen zu Tode gekommen waren, etwa die Personenschützer von Schleyer bei dessen Entführung oder der US-Soldat Edward Pimental. Wurde der Tod der Personenschützer mit Hinweis auf deren Berufsrisiko als mit den eigenen Zielen in Einklang stehend angesehen, galt die Erschießung Pimentals als inakzeptable, schiere Brutalität. 12 Irmgard Möller äußert sich kritisch auch zu den Attentaten auf Gerold von Braunmühl und Alfred Herrhausen, 13 Stefan Wisniewski ebenso 218 Manuel Vogel <?page no="219"?> 14 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 66. 15 Ein Anschlag auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe im August 1977, bei dem mutmaßlich ebenfalls für Inhalte nicht verantwortliche Personen (Sachbearbeiterinnen, Paketboten etc.) zu Schaden oder ums Leben gekommen wären, kam glücklicherweise nicht zur Ausführung. 16 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 52. 17 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 34. 18 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 41f. 19 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 150. zu Schleyer [102]. Eindeutig fällt Möllers Urteil zumal über den Anschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg von 1972 aus: „Wenn man Springer angreifen will, kann man das unmöglich in seinem Verlagshaus machen, in dem Menschen arbeiten, die für die Politik des Konzerns und auch für die Inhalte in den Blättern nicht verantwortlich sind.“ 14 Dass bei dem Anschlag auch Arbeiter verletzt wurden, 15 wog deshalb schwer, weil man ja namentlich auf die Unterstützung durch die Arbeiterklasse setzte, in der man das eigentliche revolutionäre Subjekt erblickte [99]. Die Verbindungslosigkeit der Intellektuellen zur Arbeiterschaft war stets ein Thema der internen Kritik: Es könne keinen bewaffneten Klas‐ senkampf an der Arbeiterklasse vorbei geben [75]. Aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sollten Orientierungen für das eigene Kriegführen gewonnen werden [74], und sogar die unbestreitbare gegenwärtige Apathie der Arbeiterklasse ließ sich als Ausdruck von Protest und Verweigerung verstehen. 16 Zugleich wurde sehr deutlich gesehen, dass es auch starke gesellschaftliche Gegenkräfte gab, die dem revolutionären Programm nicht günstig waren. Bereits seit 1969 (sozialliberale Regierung mit Willy Brandt als Bundeskanzler) machten sich starke Tanzenden zur gesellschaftlichen Integration der Studen‐ tenbewegung bemerkbar, die nach dem Mord an Rudi Dutschke „mehr und mehr zu schrumpfen und sich zu krümmen begann“ [65]. Die Alternative war, „vereinfacht gesagt, wollt ihr gegen die Zentren der Macht vorgehen oder lieber für einen Kinderladen kämpfen“ 17 . An die Stelle der Revolution trat schließlich der berühmte „lange Marsch durch die Institutionen“, wirkungsträchtig propa‐ giert etwa von Oskar Negt (1972). Damit war der „antistaatliche […] Konsens in der revolutionären Linken“ aufgekündigt und der bewaffnete Kampf wurde von der Linken fortan denunziert. 18 Die Amnestie-Kampagne der taz von 1978 (Viett: ein bigottes Hundeblatt, das für die wohlwollende, kritische Hinwendung zu den Machtzentren steht [43]) konnte das nur bestätigen. Diese mit den Gefangenen nicht abgesprochene Aktion wurde als feindselig empfunden, weil man darin „ein Versöhnungsangebot an den Staat“ erkannte, das die Freilassung der Gefangenen an die Bedingung des „Abschwören[s] auf Praxis und Geschichte des bewaffneten Kampfes“ knüpfte. 19 Spätere Analysen der Wege in die Radikalität 219 <?page no="220"?> 20 Vgl. hierzu Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 154. intellektuellen Linken werden den bewaffneten Kampf als Ausflucht entlaufener Bürgerkinder denunzieren, die sich vor den Anstrengungen des bürgerlichen Alltags scheuten [104]. Ein eigenes Thema ist der Vorwurf der Linken, die RAF habe die staatliche Repression auf den Plan gerufen und damit jede revolutionäre Politik unmöglich gemacht. 20 Was die Arbeiterklasse betrifft, so realisierte man, dass sie kein Interesse mehr daran hat, die ökonomische und politische Macht zu erobern, bzw. überhaupt als geschichtliches Subjekt zu handeln [41], ja, dass sie in Krisenzeiten in Deutschland immer eher für konservative bis repressive Lösungen zu mobili‐ sieren gewesen ist [50] und dass die faschistische Ideologie, der fortentwickelte Antikommunismus und die Sozialdemokratische Partei jedes revolutionäre Bedürfnis der Arbeiterklasse ausgelöscht habe [75]. Fritz Teufel, der sich ein Jahr Fabrikarbeit zugemutet hatte, um wenigstens eine Zeitlang so zu leben wie Arbeiter ihr ganzes Leben lang - Inge Viett zeichnet von ihm ein feines, würdigendes Charakterbild [78] -, musste bei Gesprächen in der Werkshalle mit anhören, wie Arbeitskollegen äußerten, man solle die RAF an die Wand stellen, kurzen Prozess machen, sie im Knast verhungern lassen. „Die meisten sind für faschistische Lösungen. Sie haben keine Ahnung, worum es uns geht, wollen es auch nicht wissen: Sie haben von nichts mehr eine Idee. Außer von der Kohle“ [78]. Aber auch gesamtgesellschaftlich bot sich zumindest im Rückblick ein er‐ nüchterndes Bild, dergestalt, dass keine tatsächliche Basis für eine revolutionäre Veränderung vorhanden war, keine relevanten Kräfte, die auf die Abschaffung der Warengesellschaft aus wären [34], übrigens auch nicht in den europäischen Kirchen [33]. Und war in den 70er Jahren des vorigen Jh.s „die Bevölkerung“ nicht diejenige, die die einem Hitler, einem Goebbels, einem Himmler zugejubelt hatte, die ungerührt der millionenfachen Verschleppung und Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger zugesehen hatte, eine Bevölkerung, der es dreißig Jahre nach diesen Verbrechen besser ging als jemals zuvor, deren Gedächtnis unter dem Wohlstand begraben wurde? [73]. In Westeuropa verschwenden wir uns an die Ignoranz der Satten, äußerte eine palästinänsische Kämpferin der Bewegung 2. Juni [80]. Selbst die friedlichen Massendemonstrationen späterer Jahre, etwa der Anti-Atom-Bewegung, waren doch nichts anderes als der der klarste Ausdruck von Ablehnung einer weitergehenden revolutionären Politik [86]. Freilich hing das revolutionäre Selbstverständnis der damals Beteiligten nicht mit Wohl und Wehe an der erhofften breiten gesellschaftlichen Unterstützung. Entscheidend waren vielmehr die Befreiungsbewegungen im Trikont, als deren Verbündete sich RAF und die Bewegung 2. Juni verstanden. 220 Manuel Vogel <?page no="221"?> 21 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 211. 2.3 Der bewaffnete Kampf im Horizont globaler Befreiungsbewegungen Die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes orientierten sich, wie Axel Azzola in seinem Plädoyer im Stammheim-Prozess ausführt, dorthin, „wo die Gewalt der Völker der Gewalt der imperialistischen Staaten schon entscheidende Niederlagen zufügen konnte, neuestens in Vietnam, Kambodscha und Laos, in Guinea-B., Mosambik, Sao Tome und Principe.“ [1] Ähnlich beschreibt Inge Viett die revolutionäre Stimmung dieser Jahre: „Jeder Steinwurf in die Glasfronten der Bankhäuser verbindet uns mit den Revolutionären in der ganzen Welt, mit dem Vietcong im Dschungel, mit dem ermordeten Che Guevara, mit den Tupamaros in Uruguay, mit den kämpfenden afrikanischen Revolutionären in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Namibia und Südafrika“ [67]. „Unsere Zuneigung und Solidarität zur ,Dritten Welt‘ war damals gewiss auch sehr romantisch, aber sie war gerecht, notwendig, beispielgebend und hoff‐ nungsvoll. Wir gaben den Befreiungsbewegungen jedes moralische Recht, die weißen Okkupanten und Kolonisatoren aus ihren Ländern zu werfen und deren einheimische Satrapen zum Teufel zu jagen“ [64]. Für die Bewegung 2. Juni galt programmatisch, dass ihr Kampf nicht national geführt und gewonnen werden kann. Konstitutiv war vielmehr die Zusammenarbeit mit allen sozialistischen Guerilla-Gruppen der Welt. Sie sah sich als Teil einer weltweiten sozialistischen Offensive, die Schulter an Schulter mit der IRA, den Weathermen, der Gauche Proletarienne, den Roten Brigaden und allen anderen Guerilla-Organisationen kämpft [74]. Irmgard Möller ist nach ihrer Haftentlassung auf deren Einladung hin zu den Tupamaros nach Uruquay gereist, der ersten Stadtguerllia überhaupt und für die RAF ein wichtiges Vorbild. Diese Reise und der herzliche Empfang bei den Tupamaros waren wichtig für sie, weil sie dadurch den engen Blick auf die tristen deutschen Verhältnisse überwinden und sich ihrer eigenen Herkunft aus einer internationalistischen Bewegung vergewissern konnte. Zugleich zeigten sich bei den Gesprächen und Begegnungen einmal mehr die tiefgreifenden Unterschiede im Vergleich mit Deutschland. Die Tupamaros waren tatsächlich eine Massenbewegung: „Dort standen Hunterttausende Tag und Nacht vor dem Knast und haben gefordert, dass alle Gefangenen rausmüssen, und sie haben gewartet, bis tatsächlich alle draußen waren.“ 21 Wege in die Radikalität 221 <?page no="222"?> 2.4 Postfaschismus, Imperialismus, Kapitalismus und Kolonialismus als politische Kontexte Das mit den vier Begriffen in der Überschrift dieses Abschnitts Bezeichnete lässt sich in der historischen Situation der BRD in den fünziger bis siebziger Jahren und im Erleben der Akteurinnen und Akteuren des bewaffneten Kampfes wohl unterscheiden, nicht aber trennen. Greifbar wird dies etwa an der auto‐ biographischen Skizze von Stefan Wisniewski [100]: Für den Jugendlichen, Sohn eines polnischen Zwangsarbeiters, gilt im idyllischen Schwarzwalddorf seiner Kindheit ein von der Mutter verordnetes strenges Stillschweigen über die Identität des inzwischen verstorbenen Vaters: Etliche angesehene Bürger des Dorfes sind ehemalige SS- und SA-Männer. Später macht er als Heimzögling eine Lehre und muss Aussprüche hören wie „Bei Hitler hätten wir mit euch kurzen Prozess gemacht“. Als junger Mann fährt er zur See und lernt das Elend der armen Länder kennen: In afrikanischen Häfen kommen ältere Männer an Bord und bieten im Tausch für Essensreste ihre Frauen an. Als Wisniewski sich zur antiautoritären Bewegung und zu sozialrevolutionären Theorien hinwendet, bilden eine noch keineswegs „entnazifizierte“ Nachkriegs-BRD, beginnender neuer Wohlstand und die Begegnung mit dem von den reichen Ländern verur‐ sachten Elend des globalen Südens den gemeinsamen Erfahrungshintergrund. Inge Viett wird bei einem Besuch in Buchenwald der Ungeheuerlichkeiten der Generation ansichtig, „die uns großgezogen hat, ohne jemals ihre Verbrechen einzugestehen, ohne jemals das Stadium ihrer Entmenschlichung überhaupt begreifen und aus ihm herauskommen zu wollen.“ [85]. Während einer Nord‐ afrika-Reise steigt sie in den Gassen über Bettler und Krüppelheere und findet vor Entsetzen den Weg nicht mehr, sieht dann vor den Toren der Stadt die Plantagen der europäischen und amerikanischen Konzerne mit ihren Parks und Villen. Europa erscheint ihr als gieriger Schlund, als Moloch, der nicht aufhören kann, andere Länder und Völker auszusaugen und sich ihre Kräfte einzuverleiben, um ihnen anschließend seine Ausdünstungen zu verkaufen [64] [29]. Karl-Heinz Dellwo konstatiert, dass seine Generation um die Abrechnung mit der alten Verbrechergesellschaft betrogen worden ist. „Wir stießen, wenn wir uns mit der Vergangenheit beschäftigten, immer auf maßlose Verbrechen, und es gab keine Abrechnung! Ich hatte mich immer geschämt, wenn ich im Ausland war, weil ich als Deutscher gesehen wurde.“ [105]. Er verweist an selber Stelle auch auf den erst in den 2000er Jahren bekannt gewordenen Umstand, dass Konrad Adenauer von der Identität und dem Aufenthaltsort Adolf Eichmanns Kenntnis besaß, dessen Auslieferung aber zu verhindern versuchte, um seinen Staatssekretär Globke, von dem zu befürchten war, dass Eichmann 222 Manuel Vogel <?page no="223"?> 22 F A L T I N 2006 berichtet, „dass die CIA seit März 1958 wusste, wo sich Adolf Eich‐ mann aufhielt, Jener SS-Scherge, der quasi der ,Manager der Judenvernichtung‘ war, der die ,Endlösung‘ organisierte und bis zuletzt aktiv mitarbeitete, sechs Millionen Juden im Holocaust zu vernichten. Schockierender, besonders für Deutschland, ist die Tatsache, daß der US-Geheimdienst diese Erkenntnisse nicht von irgendeinem seiner Spione hatte, sondern von keinem Geringeren als dem ersten Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer. Damit jedoch nicht genug. Deutschland wusste seit 1952, dass sich Eichmann nach Argentinien abgesetzt hatte und dort angeblich unter dem Decknamen ,Klement‘ lebte. Mit der Nachricht Adenauers beziehungsweise des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) über den Verbleib Adolf Eichmanns war zugleich die ,dringende Bitte‘ verbunden, ihn ,nicht festzunehmen, da das den innenpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland schaden könnte.‘ (…) Hinter dieser verklausulierten Formulierung versteckte sich die Tatsache, dass der ehemalige SS-Obersturmbannführer belastendes Material über Adenauers umstrittenen Staatssekretär Hans Globke ans Tageslicht bringen könnte, wenn man ihn festnahm. Globke hatte im Dritten Reich einen Kommentar zu den Nürnberger Rassengesetzen verfasst und teilweise sehr eng mit Eichmann zusammengearbeitet.“ Vgl. auch W I N K L E R 2011: Globke war „der sichtbare Beweis, dass in der jungen Bundesrepublik weiter die alten Kräfte regierten“). 23 Schlaglichtartig hierzu S P Ä T E R 2009: „Mit der Besetzung Prags begann am 15. März 1939 eine sechsjährige deutsche Terrorherrschaft über das ,Reichsprotektorat Böhmen und Mähren‘. Es wurde dem deutschen Herrschaftsbereich eingegliedert, von deut‐ schen Konzernen und Banken ausgeplündert, das Eigentum seiner 80.000 jüdischen Bürger an deutsche Banken, Konzerne, Gemeinden, Wohlfahrtsverbände und zehntau‐ sende ,Volksgenossen‘ verteilt. Erich Später schildert den Prozess der Entrechtung, Enteignung, Deportation und Ermordung der tschechischen Juden. Beispielhaft rekon‐ struiert er die Enteignung und Ermordung des jüdischen Ehepaares Waigner, dessen Prager Villa ein begehrtes Objekt der Begierde hoher Nazifunktionäre wurde. Den Zuschlag für die ,Judenvilla‘ erhielt schließlich der SS-Offizier Hanns Martin Schleyer. Die Geschichte der Villa Waigner und hier erstmals publizierte Dokumente über das Schicksal der jüdischen Besitzer sowie über die Nazikarriere der Bewohner ihrer arisierten Villa machen die Erkenntnis unausweichlich: Ohne Männer wie Hanns Martin Schleyer wäre weder der Vernichtungskrieg im Osten noch der Holocaust möglich gewesen.“ (Umschlagtext). über seine Nazi-Vergangenheit aussagen würde, nicht zu beschädigen. 22 In der Person Hans-Martin Schleyers, ab 1937 NSDAP-Mitglied, ab 1943 zuständig für die „Arisierung“ der tschechischen Wirtschaft und für die Beschaffung von Zwangsarbeitern, 23 seit 1970 CDU-Mitglied und seit 1977 Arbeitgeberprä‐ sident, verbanden sich Postfaschismus, Kapitalismus und die Geschichte der Nachkriegs-BRD auf eigene Weise. Kontinuitäten der deutschen Geschichte vor und nach 1945 zeigten sich allerorten: Im Personal der Gefängnisse [106] oder in Äußerungen eines Bundesanwalts über die s. E. wünschenswerte Behandlung der Gefangenen der RAF, die an die „Verbrechen der Ärzte im Nationalsozialismus“ nahtlos anschloss [107]. Inge Viett pflegt ihre „kleine, handliche 9-mm-Beretta mit Geschichte“, auf der der Partisanenkampf der Wege in die Radikalität 223 <?page no="224"?> 24 Das Aalener Programm der CDU von 1947 beginnt mit den Worten: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.“ jugoslawischen Widerstandsbewegung gegen die deutschen Faschisten seine Spuren hinterlassen hat, wie ein kostbares Erbstück [77]. Die Erfahrung der sozialen Kälte einer herzlosen Kriegsgeneration, die ihre beispiellosen Verbre‐ chen leugnete oder verdrängte, die unfähig war, etwas anderes als Besitzdenken und Anpassung zu lehren, wurde zum Ferment der Radikalisierung, ebenso die Abscheu vor einer verschlagenen Elite-Gesellschaft, die aus Eigennutz, Profit- und Machtgelüsten oder aus traditioneller Beschränktheit letztendlich immer nur Zerstörung auf breiter Bahn zustande bringt [57]. Gab es in den späten 40er Jahren Anzeichen für die Bereitschaft zu einer tiefgreifenden sozialen Neuorientierung, 24 griff dann doch wieder die Verdrängung um sich, wieder die Erziehung zur Anpassung, zum blinden Gehorsam, zum Schweigen, zum Wegsehen. Und wieder dieses barbarische Vergnügen, sich besser, tüchtiger, größer, wertvoller zu fühlen [59]. 2.5 Das Leben in der DDR als realsozialistische Alternative zum bewaffneten Kampf (Inge Viett) Inge Viett gehörte zu den igs. zehn Personen, die nach ihrem Ausscheiden aus dem bewaffneten Kampf in der DDR Aufnahme gefunden hatten. Sie bietet in ihren Briefen und in ihrer Autobiographie Innenansichten ihres acht Jahre währenden DDR-Alltags und politische Analysen zur Einverleibung der DDR in die BRD, mit denen sie ihre politische Position, die sie in den bewaffneten Kampf geführt hatte, unter veränderten historischen Bedingungen fortschreibt. Ihre Kritik richtet sich v. a. an die West-Linke, der sie vorwirft, eine abstrakte Idee von Sozialismus zu pflegen, den realen DDR-Sozialismus aber verächtlich zu machen, ohne überhaupt eine Anschauung von dem zu haben, worüber sie urteilt [53] [87]. Für sich selbst betrachtet sie es als ein kaum zu beschreibendes Glück, dass der Verlauf ihrer Geschichte ihre Unwissenheit über das andere Deutschland korrigierte, über das Leben dort im ständigen Widerspruch zwi‐ schen Verwirklichung und Verkümmerung sozialistischer Ziele, Ansprüchen und Lebensweise. Und dann, im Rückblick auf den Untergang der DDR, der Satz: „Nur wer dort gelebt hat, kann begreifen, was zerstört wurde.“ [87]. Was sie bei ihrer Übersiedlung vorfand, war Geschichte im Pionierstadium des Sozialismus, die ihr Respekt abnötigte im Blick auf das, was in 40 Jahren dem übermächtigen 224 Manuel Vogel <?page no="225"?> Gegner abgerungen worden war. Sie ist verblüfft von dem Selbstbewusstsein, der Lockerheit und der Souveränität, mit der sich die DDR-BürgerInnen in ihren Arbeits- und Funktionsbereichen bewegten [28]. Hier findet sie auch eine echte, lebbare Alternative zum bewaffneten Kampf, der ihr nun im Verhältnis zu den vielfältigen und bisher unlösbaren Problemen bei der gesamtgesellschaftli‐ chen Realisierbarkeit sozialistischer Inhalte übertrieben vorkommt [44]. Nach 1990 besteht sie auf der Tragfähigkeit und Unverzichtbarkeit der nun so laut denunzierten Grundlagen der ehemaligen DDR: gesellschaftlicher Besitz an Grund, Boden und Produktionsmitteln, Ausschaltung des zerstörerischen Pro‐ fitsystems, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit [52]. Im Verlauf von acht Jahren erlebt sie einen hierarchiefreien Alltag, der nicht durch Befehle, sondern durch die Entwicklung und Mobilisierung von Beziehungen, Überzeugungen, Kontakten, Interaktionen funktionierte [88]. Kein Lehrling hatte Angst vor seinem Meister „und wir nicht vor Achim, unserem Abteilungsleiter. Eher schon umgekehrt.“ [89]. Die „Wende“ erlebt sie als brutale Zerstörung jedweder DDR-Identität [25], erlebt den Zusammenbruch von Existenzen, registriert die ungezähmte Geilheit, mit der der imperialistische Markt nachstößt [27]. Die DDR-Menschen dürfen sich jetzt nur noch aussuchen, entweder das Böse oder das Schwache gewesen zu sein [40]. Es gibt für sie nun kein Existenzrecht mehr, nur noch den Existenzkampf [36]. Die DDR wäre, hätte man ihr die Gelegenheit gegeben und ihr Zeit gelassen, aus ihren eigenen sozialistischen Kräften heraus reformierbar gewesen. Dass es dazu nicht gekommen ist, lag an der Hinwendung der Opposition zum Westen, übrigens auch an der Eitelkeit der Bürgerrechtler und der Feindschaft zum Sozialismus [54]. Die eilfertige Vorverurteilung der enttarnten RAF-Aussteiger durch die PDS-Fraktion in der Volkskammer nennt Inge Viett eine tollpatschige Flucht nach vorn [26], erkennt in der PDS den Willen zur Machtpartizipation innerhalb des kapitalistischen Systems [51]. Dass nunmehr die BRD-Justiz mit ihrer barbarischen Rechtsgeschichte, die sie bis heute prägt, über Menschen der DDR zu Gericht sitzen, kann sie nicht akzeptieren [38]. Die Kriminalisierung des Ministeriums für Staatssicherheit durch die BRD-Justiz zielt auf die Diskreditierung der DDR insgesamt [94]. Sie ist Teil einer Politik, die 17 Millionen Menschen an Bonn ausliefert [92], Menschen, deren bisheriges Leben mit der Macht eines abgebrühten Siegerbewusstseins in den Schlamm gezerrt und unkenntlich gemacht wird: Es gibt euch nicht, es hat euch nie gegeben. Es hat den Sozialismus nicht gegeben. Ihr wart von Anfang an ein Irrtum der Geschichte. Ihr habt nicht gelebt. Ihr habt umsonst gelebt. Ihr seid betrogen worden, sagen die Sprachrohre des Kapitalismus [90]. Was nun folgt ist die Preisgabe der Menschen an die Unsicherheit als dem Grundgefühl kapitalistischen Seins [51b]. Wege in die Radikalität 225 <?page no="226"?> 25 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 75. Nach ihrer Enttarnung ist es für Inge Viett unmöglich, weiterhin in der Illegalität zu leben, weil nach dem Ende des bewaffneten Kampfes nichts anderes zu tun bliebe als für die Nichtentdeckung der eigenen Person zu sorgen [91]. Also harrt sie ihrer Verhaftung, die dann auch nicht lange auf sich warten lässt. Das Kronzeugengeschäft kommt für sie nicht infrage, weil sie dann ausgerechnet im Moment der Wahrheit, dem „Augenblick, in dem es mir ganz persönlich an den Kragen geht“, ihre politischen Ideale verleugnen müsste [35]. Gegen Mitglieder der RAF will sie nicht aussagen: „Die RAF und ich haben einen gemeinsamen Kampf geführt. Wir haben um die gleichen Ideale, Bedürfnisse und Ziele gekämpft und tun es auch heute noch“ [55]. Sie realisiert freilich, dass sie mit den Versuchungen der Kronzeugenregelung auch selbst konfrontiert ist: Ihre Anwälte „sprechen das Wort Kronzeuge aus, wie jeden anderen juristischen Begriff. Für mich ist es jedesmal ein herznaher Axthieb.“ [35]. Im Rückblick resümiert sie, sie sei „erleichtert“, aus ihrem Prozess „nicht noch geknickter herausgekommen zu sein“ [94]. 2.6 Haftbedingungen, Hungerstreiks, Zwangsernährungen Die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes, die in den Texten zu Wort kommen, hatten von den langen Jahren ihrer Haft - währenddessen und danach - eine politische Auffassung. Es ging darum, in einer gesellschaftlichen Sonderregion, die den Menschen als Subjekt auszuschalten trachtet, als Subjekt zu bestehen [24] und sich zu behaupten gegen die täglich präsente Ignoranz, Bequemlichkeit, Ablehnung und Verachtung der Vertreter des Apparates [46]. Ihnen war klar: „Der Staat wollte nicht als erstes unser Leben auslöschen, erst wollte er unsere Moral zerstören, unser Bewusstsein von der Situation, wie sie ist. […] Daran waren die Haftbedingungen ausgerichtet. Wir sollten nicht einfach sterben, sondern aufhören, wir selber zu sein.“ 25 Inge Viett schildert eine Autofahrt nach Stammheim, wo sie als Zeugin gehört werden sollte: Gefesselt in der Hitze und Enge des Gefangenentransporters, bewacht von martialischen Elitebullen [47], die Rückfahrt im von der prallen Sonne aufgeheizten Fahrzeug noch quälender [48]. Und Stammheim selbst: die Perfektion von verwaltungsap‐ paratemäßiger, planvoller, wissenschaftlicher und funktionaler Ausschaltung, Abweisung, Vernichtung und Zerstörung. Hier haben sich die drei Gewalten der Elite ein Denkmal gesetzt, aus dem der Geist von Gestern und Morgen zuschlägt: Die Behauptung von tausend Jahren Machterhalt, die Vermessenheit von Selbstgerechtigkeit bis zum Größenwahn, die gnadenlose Selbstbehauptung 226 Manuel Vogel <?page no="227"?> durch Unterwerfung oder Vernichtung des Anderen. Dies sind die Merkmale der faschistischen Elite im Dritten Reich [49]. Der Unterwerfung und Vernichtung (bis hin zur physischen Vernichtung) diente die Isolations-Folter. Die totale Isolation mit völliger Abschottung von akustischen Außenreizen kann nicht plausibel von Sicherheitsinteressen her begründet werden, kann und muss mithin auch ohne eine weitergehende rechtliche und medizinische Erörterung des Begriffs der Folter als ebensolche bezeichnet werden. Ulrike Meinhof beschreibt eindringlich ihre Erfahrungen mit der sog. „weißen Folter“: „Das Gefühl, es explodiert dir der Kopf … das Gefühl, das Gehirn schrumpelt einem allmählich zusammen. Das Gefühl, man stünde ununterbrochen unter Strom, man würde ferngesteuert, das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt … das Gefühl, man verstummt, man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren, nur noch raten . . . Kopfschmerzen, Flashs - Satzbau, Grammatik, Syntax - nicht mehr zu kontrollieren … Das Gefühl, innerlich auszubrennen.“ [70]. Karl-Heinz Dellwo war in der JVA Celle zweieinhalb Jahre der totalen Geräuschisolation ausgesetzt, ebenfalls in einer weißen Zelle: „Um mich herum war alles hell und grell. Weiße Schleiflackmöbel, die sich kaum von den Wänden unterschieden, zwei riesige Neonröhren an der Decke und eine über dem Stahlspiegel. Ich hatte gleich sirrende Geräusche in den Ohren. Später sah ich es draußen regnen, hörte aber nichts. Kein Regenprasseln, nichts. Ich war in einer unwirklichen Welt, in der man etwas sah, aber gleichzeitig existierte es auch nicht.“ Dellwo schildert, wie er eines Tages sechs Stunden an der Schreibmaschine sitzt und genau sechs Zeilen hinbekommt, die voller Fehler waren: „Nach den sechs Stunden habe ich in den Stahlspiegel geschaut und nüchtern den Gedanken zugelassen, dass ich nichts mehr hinbekomme und es vorbei ist.“ [114]. Vor der Verlegung nach Celle war Dellwo in Köln-Ossendorf inhaftiert, wo er mit dauer‐ haftem Schlafentzug gefoltert wurde und ständig demütigenden Schikanen und teilweise extremer Gewalt durch die Wärter ausgesetzt war [113]. Gegenüber der Einzelisolation stellte die (mit Hungerstreiks - hierzu S C H U L Z 2019 - hart erstrittene) spätere Kleingruppenisolation eine gewisse Erleichterung dar, die aber ebenfalls belastend war und die sich das Wachpersonal, zu dem die Celler Gefangenen jedweden Kontakt vermieden [113], auf eigene Weise zunutze zu machen versuchten [115]. Die stetigen Auseinandersetzungen als Reaktion auf die kleineren und grö‐ ßeren Schikanen und Repressionen des Wachpersonals (und sei es der kleine Kastanienbaum, der unbeachtet unter der Tischtennisplatte wuchs, und der von einem Wärter, sobald er ihn bemerkt hatte, ausgerissen wurde) wurden als Handlungsmöglichkeiten verstanden, „weil du das Gefühl hast, doch noch Wege in die Radikalität 227 <?page no="228"?> 26 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 76. irgendetwas machen zu können“. Das Verbot, Brot zum Hofgang mitzunehmen um Vögel anzulocken wurde notorisch ignoriert [96]. Bei allen Konflikten zwischen Gefangenen im Laufe der jahrelangen Kleingruppenisolation „brachte uns der Angriff von außen sofort wieder zusammen.“ [115] Und im Blick auf erfahrene Gewalt und Androhung von Gewalt resümert Karl-Heinz Dellwo: „Während der Konfrontation, in die du selbst aktiv hineingehst, hast du keine Angst. Angst hast du nur, wenn du ausweichen willst und die Dinge mit dir machen lässt.“ [116]. In den Hungerstreiks, die die Beteiligten all ihre Kraft kosteten und sie wie‐ derholt in lebensbedrohliche Situationen brachten, und in den dann folgenden Zwangsernährungen, mit denen der Staat versuchte, den Widerstand der Ge‐ fangenen zu brechen, wurde der Antagonismus von beiden Seiten dramatisch auf die Spitze getrieben. Hungerstreik hieß: „Du stehst wieder auf und bist Subjekt deiner Geschichte.“ [97]. Außerdem handelte es sich in der Situation der Islolation um kollektive Aktionen, die, ermöglicht durch die Vermittlung der Anwälte, unter den Gefangenen abgesprochen werden konnten und damit den individuellen Kampfeswillen stärkten [71]. In der „Situation der äußersten Defensive bringen Gefangene, die nichts haben und die deswegen ihr Leben kollektiv einsetzen, eine moralische Kraft rüber, die stärker ist als die Macht.“ 26 Die Zwangsernährungen waren stets eine gewalttätige, brutale Tortur unter Beteiligung von Wärtern und Sanitätern. Karl-Heinz Dellwo berichtet: „Sie hatten mich mit Fuß-, Bein-, Bauch- und Brustgurten festgezurrt und die Hände nach hinten mit Handschellen gefesselt. Am Kopf hingen zwei Wärter und hinten drückte noch einer die Arme hoch, dann wurde mein Mund mit einer Stange aufgebrochen und Gummikeile reingeschoben. Danach der Zwangser‐ nährungsschlauch. Ich bin dann plötzlich zusammengeklappt. Während der Schlauch drin war, stieg gleichzeitig die reingepumpte Flüssigkeit wieder hoch und etwas davon lief in die Bronchien rein. Ich dachte, ich ersticke und mir fliegt der Kopf weg. Dann riss der Arzt auf einmal den Schlauch raus und schrie, dass man mich losbinden sollte. Danach lag ich vielleicht 20 Minuten in heftigen Krämpfen auf dem Boden und habe mir sozusagen die Lunge aus dem Leib gekotzt.“ [116]. Eine tragische Ausnahmeerscheinung war der Berliner Gefängnisarzt Dr. Volker Leschhorn, der in Wahrnehmung seiner medizinischen Verantwortung für die Gefangenen von der Gefängnisleitung gedemütigt, schikaniert und 228 Manuel Vogel <?page no="229"?> 27 Die Gefangenenzeitschrift der lichtblick widmete der ausführlichen Dokumentation seines Falles im März 1982 ein Sonderheft (s. Abb. 3). Das Heft ist als pdf zugänglich unter https: / / www.lichtblick-redaktion.de/ archiv-1/ ausgaben-1980-1989 (letzter aufruf 22.9.2024 ). schließlich in den Suizid getrieben wurde. 27 Gabriele Rollnik zählt ihn „zu den wirklich guten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe“ [98]. 2.7 Erfahrungen von Freiheit, antagonistischer Standpunkt Inge Viett beschreibt ihre Entwicklung von kindlichen Intuitionen - den Namen Eisenhower hört die Neujährige als „Eisenhauer“ und denkt an den brutalen Dorfschmied, der seine Pferde quält [58] - über das noch unartikulierte Gären eines eigenen politischen Bewusstseins [60] [61] [62] [63] bis zu einer ersten Festnahme nach einer Demonstration: Zum ersten mal nimmt sie, die bisher unbekümmert im Reich der Konsequenzlosigkeit gelebt hat, ein ganz persönliches Gefühl von Fronten wahr: „Der Staat steht mir als personifizierte Autorität gegenüber, und zwar in seiner hohlsten und bedingungslosesten Gestalt, dem Polizeibeamten.“ Es ist die Erfahrung eines tiefen Bruchs, der sie entschiedener und aggressiver macht [66]. Später, in der Illegalität, sieht sie sich an der vordersten Front der jahrhundertealten Befreiungsgeschichte, dem Gegenstrom zur herrschenden Geschichte, als Teil der Menschheit, der an die Befreiung und Entwicklung der Humanität glaubt [84]. Sie hat sie ein stolzes, starkes Gefühl der totalen Hingabe an eine Sache, für die seit Jahrhunderten die besten Menschen ihre Kraft und ihr Leben hingegeben hatten: für die Befreiung des Menschen, für eine Gesellschaft ohne Klassen. Sie ist erfüllt von ihrer existenziellen Entscheidung, dafür zu kämpfen. Mit dieser Entscheidung hat der übermächtige Imperialismus seine Macht über sie verloren: die Verlockung, Verführung, die Verleumdung, Polizei, Gesetze, Gefängnis, Tod. „Nie in meinem Leben war ich sicherer und furchtloser als in dieser Zeit im Untergrund, dem Ort, der ein neues, anderes Sein außerhalb der hässlichen Welt gestattete. Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität und von gesellschaftlichen Vorgaben.“ Gegenüber dem herrschenden System ist sie vogelfrei. Frei wie ein Vogel, frei von Angst vor Verfolgung, vor der Zukunft und vorm Sterben [76]. Rückblickend bezeichnet sie ihr damalige Leben als „romantisch“ [64] [68] [74] [79], auch im Sinne von „unrealistisch“, doch ohne Abschätzigkeit oder ironische Distanzierung von diesen Jahren. Inge Vietts Sprache ist an keiner Stelle doktrinär oder fanatisch, sondern grundiert von einem Bewusstsein von der „unumstößlichen Ewigkeit, in der ich herumturne, in der ich Gefahr laufe, lächerlich zu wirken mit meinen Anstrengungen, die Welt heilen zu wollen“ [81]. Wege in die Radikalität 229 <?page no="230"?> Abb. 3 230 Manuel Vogel <?page no="231"?> 28 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 73f. Luzide beschreibt sie dann das spätere Nachlassen ihrer revolutionären Grund‐ spannung: „Wie die unsichtbare Drift von Nebelschwaden bei Windstille nahmen unsere Wünsche und Bedürfnisse unmerklich Partei für den Status quo. Mir entging das nicht. Mit stillem Entsetzen registrierte ich, wie meine einstmalige seelische und mentale Kampfkraft von Tag zu Tag mehr aus mir herausgewaschen wurde.“ [82] Sie lebt damals in Paris, ist noch Teil der Bewegung 2. Juni, die dann von einer Verhaftungswelle hart getroffen wird. Der Weg in die RAF ist eine Flucht nach vorn, zugleich ein Weg in die Fremde, weil sie dort kaum Zuneigung, Offenheit und Vertrauen entwickeln kann [83]. Die in der RAF geübte Selbstkritik empfindet sie als gnadenlos [72]. Solche gemeinsam geübte (über die Anwälte kommunizierte) Selbstkritik war, wie Irmgand Möller notiert, freilich gerade in der Haftsituation trotz der Tendenz zum Destruktiven überlebenswichtig: „Wir konnten auf der Basis unserer Erfahrung miteinander draußen schreiben und Vertrauen haben, dass da niemand sitzt und sich über die Schwächen anderer hermacht […]. Wir haben herausgefunden, dass es in der Isolation die alten bürgerlichen Strukturen sind, die einen wieder einholen können und überwältigen, wenn man sie nicht erkennt.“ 28 Der Kampf musste, so Karl-Heinz Dellwo, die Veränderung des eigenen Subjekts beinhalten. Die Anziehungskraft der RAF nährte sich von der Verheißung aller Revoltiereden, dem neuen Menschen. Die ganze Person musste eingesetzt werden und sich von allem Bürgerlichen trennen [117]. Biographisch anschaulich wird der notwendige Bruch mit dem Bürgerlichen in der Entscheidung der Pädagogik-Studentin Gabriele Rollnik, die (zum Ent‐ setzen ihres linken, aber dann eben doch nicht so linken Professors) während der Abfassung ihrer Diplomarbeit beschließt ihr Studium abzubrechen, um sich jeden Weg in eine bürgerliche Existenz abzuschneiden [99]. In den Prozessen gegen die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes wurde das staatliche Angebot der Kronzeugenregelung, die die Aus‐ sicht auf eine milde Strafe und die frühere Rückkehr in die Gesellschaft versprach, von nicht wenigen Angeklagten angenommen, von anderen dagegen abgelehnt und scharf kritisiert. Auch die Art und Weise, mit der eigenen Geschichte im öffentlichen Diskurs umzugehen, war unterschiedlich. Irmgard Möller lehnt solche Positionen ab, die in einer „Generalabrechnung“ nichts Positives mehr gelten lassen, nur Irrtum und eigenes Scheitern betonen und „die Perspektive, dass das ein Befreiungskampf war, dass mit dem bewaffneten Kampf ein Versuch verbunden war, die Verhältnisse hier zu überwinden, dass also eine Hoffnung und etwas Positives damit verbunden waren“, nicht mehr Wege in die Radikalität 231 <?page no="232"?> 29 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 205. 30 Vgl. T O L M E I N / M Ö L L E R 1997, 207. gelten lassen. „Es ist nicht die Kritik, die uns trennt, sondern wie sie kommt.“ 29 In Talkshows, Interviews und Büchern werden Aussteiger-Geschichten privat, beliebig und anekdotisch. Aus dem Wunsch heraus mitzureden weicht man jeder kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart aus. „Für mich ist das die schlimmste Variante von ,einen Schlussstrich ziehen‘: Das haben wir versucht, es hat nicht geklappt, also arrangieren wir uns mit dem, was ist.“ 30 Die Alternative besteht in der Verweigerung jeglicher Versöhnlichkeit mit der deutschen Geschichte, die nach 1945 nicht hätte weitergehen dürfen, jedenfalls aber nicht so hätte weitergehen dürfen. Sie besteht darin, diese Verweigerungs‐ haltung fortzuschreiben wider den falschen Augenschein einer beschaulichen Normalität in einer Zeit, in der das Kapital Positionen und Regionen zurücker‐ obert, die ihm seit 1917 verloren gingen [56], sie durchzuhalten auch noch in der total gewordenen Warengesellschaft mit ihrer permanenten Einhämmerung des Zwangs zum Konsum [118]. Sie besteht im Festhalten an einer politischen Gegenwartsanalyse, die immer neu dem Kapitalismus in seinem unbewältigten Verhältnis von individueller Freiheit und Verantwortungslosgkeit für das Ganze [42] seinen ideologischen Schleier herunterreißt - erst recht dort, wo er anthropologisch naturalisiert und damit gerechtfertigt werden soll [30] - etwa wenn Inge Viett die verlogene Südafrika-Politik der BRD namhaft macht [37] oder nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf der Seite des Westens eine tiefe geistige und politische Armseligkeit erkennt: Nirgendwo auch nur der Ansatz von Bewusstsein über die eigene Verantwortung in der weltweiten Verschärfung der Konflikte. Nur dauerhafter Chauvinismus, nicht zu durchbrechende Selbstgerechtigkeit, qualvoller Opportunismus [95] [32]. Der bewaffnete Kampf hat sich vom linken Verbalismus seiner Zeit unter‐ schieden durch konkretes Handeln, dessen Wahrheit darin sich zeigte, dass der Staat es nicht tolerieren konnte. Aber sein Wahres und Gültiges liegt tiefer: „Das Mystische taucht als zweite Figur neben der materialistischen in allen Kämpfen auf, wo Menschen sich befreien, denn der Ursprung des Lebens hat keine Rationalität. Alles, was mit dem Menschen zu tun hat, hat auch gleichzeitig etwas Existenzialistisches.“ [117] 3 Texte Nach einem Auszug aus den Protokollen des Stammheim-Prozesses [1], einem Text aus B AK K E R S C H U T 1987 [2] und aus T O LM E IN / M ÖL L E R 1997 [23] folgen 232 Manuel Vogel <?page no="233"?> Texte von Inge Viett (1944-2022), Gabriele Rollnik (geb. 1950), Stefan Wisniewski (geb. 1953) und Karl-Heinz Dellwo (geb. 1952). Die Texte von Inge Viett, die sich durch besondere sprachliche Kraft auszeichnen, nehmen den weitaus größten Raum ein (Briefe: [24]-[56]; Autobiografie: [57]-[94]). Für die usprünglich unter [3] - [22] in der Sammlung enthaltenen Texte aus T O LM E IN / M ÖL L E R 1997 war eine Abdruckgenehmigung nicht zu realisieren, weshalb in der Einleitung ersatzweise in den Anmerkungen auf die entsprechenden Seiten im genannten Buch verwiesen wurde, oder aber die aufgenomme Textmenge wurde auf das für wissenschaftliches Zitieren quantitativ Übliche und Zulässige beschränkt [23]. [1] J EẞB E R G E R / S C H U C HMAN N 2021: 144-154 Prof. Dr. Azzola: Die Erklärung meiner Mandantin zur Sache hat ergeben, dass, selbst wenn man die Anklageschrift in allen Punkten als bewiesen annehmen dürfte, hieraus nichts anderes als ein Freispruch folgen kann, weil die in der Anklageschrift bezeichneten Taten im Kriege nicht strafbare Handlungen sind. Die Angeklagten befanden sich im Kriegszustand. Zunächst sind die Gegner zu bezeichnen: auf der einen Seite der Imperialismus des internationalen Kapitals und seine Agenten; auf der anderen Seite die den proletarischen Internationa‐ lismus praktizierenden Befreiungsbewegungen. Diese Befreiungsbewegungen sind: sozialrevolutionär, antiimperialistisch und, da sie antikolonialistisch bzw. antihegemonistisch sind, national. Sodann ist der Konflikt zu bezeichnen: Der Konflikt ist international, denn das Kapital ist international organisiert und das Proletariat organisiert sich zu einem gemeinsamen, d. h. internationalen Widerstand. Des Weiteren sind die Mittel der Kriegsführung zu bezeichnen: Unbeschadet seiner Internationalität wird dieser kriegerische Konflikt an ver‐ schiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten mit den unterschiedlichsten Mitteln ausgekämpft, nämlich sowohl mit klassischen Mitteln kriegerischer Auseinandersetzung als auch mit modernen Mitteln, die übrigens neuerdings rechtliche Anerkennung erfahren haben, wie z. B. der Partisanenkrieg als solcher, aber auch die in seinem Vollzug angewandten Mittel und seine Fortent‐ wicklung - die Stadtguerilla -, wobei letztere regelmäßig in den Metropolen, d.-h. in den Basismachtzentren des internationalen Kapitals kämpft. […] Bundesanwalt Dr. Wunder: Herr Vorsitzender, darf ich, damit nichts passiert, auch noch auf die Existenz der Bestimmung des §140 StGB hinweisen? Vorsitzender: Herr Professor. Prof. Dr. Azzola: Ich habe es zur Kenntnis genommen. Der Krieg ist keine absolute, von gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängige, geschichtslose Wege in die Radikalität 233 <?page no="234"?> Kategorie. Dies gilt selbstverständlich auch für die Kategorie des Krieges, als der das Kriegsrecht des bürgerlichen Zeitalters konstituierenden Kategorie, und damit ist von Kriegsrecht, von Völkerrecht die Rede, und das muss ich darlegen können. Die bürgerliche Kategorie des Krieges war selbst von der feudalstaat‐ lichen der Söldnerheere grundlegend verschieden, nämlich als bürgerlicher Volkskrieg Levee en masse, wie ihn beispielhaft und erfolgreich die Französische Revolution hervorgebracht hat in ihrer Auseinandersetzung mit den Truppen der reaktionären europäischen Interventionsmächte. Rechtliche Konsequenzen aus dieser veränderten Lage wurden erst Jahrzehnte später, ja zum Teil erst über ein Jahrhundert, später gezogen, nämlich in der ersten Genfer Konvention bzw. in der ersten Haager Landkriegsordnung. Dabei entsprach die Verknüpfung der Kategorie des Krieges mit der Kategorie der Nation zum Zwecke der Bestim‐ mung der legitimerweise kriegsführenden Partei der Tatsache, dass sich das Bürgertum in der Nation politisch konstituierte, wie sich in der Französischen Revolution das parliament zur assemblee nationale erklärte. Daneben hat es im bürgerlichen Zeitalter zwar auch die Kategorie des Bürgerkrieges gegeben. Diese war aber gerade nicht sozial bestimmt und so mit historischem Inhalt gefüllt; sie war dementsprechend nicht verrechtlicht und mit bürgerlichen Kategorien auch noch nicht verrechtlichungsfähig, so dass ihre Bestimmtheit noch erst gewonnen werden muss bzw. als antibürgerliche Kategorie in der Kategorie des Klassenkrieges tendenziell bereits gewonnen ist. Damit sind die kriegsführenden Parteien nicht mehr im Horizont der Kriegsführung durch Nationen bestimmt, sondern tendenziell weltweit, nämlich, wo immer sich diese Klassen auseinandersetzen. Inhaltlich bedeutet diese Neubestimmung die Einbeziehung aller Mittel, die in dieser Auseinandersetzung praktischer‐ weise zur Anwendung kommen. Dies entspricht (…) der nicht in nationalen Grenzen beschränkten Konstitution der am Kampf beteiligten Klassen, ihrer weltweiten Existenz. Demgegenüber haben die veränderten gesellschaftlichen Machtverhältnisse schon jetzt für die nationalen Befreiungsbewegungen, d. h. für die antiimperialistischen und antihegemonialen Kämpfe an der Peripherie jedenfalls zu einer tendenziellen Verrechtlichung geführt und auch zu politi‐ scher Anerkennung, was bewiesen wird sowohl durch die Neubestimmung des Kombattantenstatus in den Genfer Konventionen 1974 als auch nämlich indirekt durch die Terrorismusdiskussion in der UN-Vollversammlung 1972 bis hin zu der Verleihung des UN-Status - Mitgliedsstatus - an die PLO (mit Ausnahme des Stimmrechts) aus Anlass der jüngsten Nahost-Debatte des UN-Sicherheits‐ rates. Diese rechtliche Anerkennung geschah freilich mit allen Brüchen, ja inneren Widersprüchen, die eine solche Inkorporation revolutionärer Postulate in herrschendes Recht nach sich ziehen muss, etwa hinsichtlich der Frage 234 Manuel Vogel <?page no="235"?> der Neubestimmung des Völkerrechtssubjekts und der hieran zu knüpfenden Rechtsfolgen. In den vergangenen Jahrzehnten ist es den Völkern der Dritten Welt durch ihren weltweit gestiegenen Einfluss gelungen, die Anwendung des Kriegs und Völkerrechts in Konflikten zwischen der Kolonialmacht und der sich gewaltsam befreienden Kolonie schrittweise durchzusetzen, d. h. der sich be‐ freienden Kolonie, der Befreiungsbewegung und ihrem Kampf einen rechtlichen Status zuzuerkennen, vergleichbar demjenigen der internationalen Konflikte, mit allen Privilegien, die hieran für die Freiheitskämpfer, insbesondere bei ihrer Gefangennahme, geknüpft sind. Vor allem sind sie als Kriegsgefangene zu behandeln und nicht als kriminelle Häftlinge. So jedenfalls der Stand der Diskussion in der internationalen Kommission des Roten Kreuzes. […] Diesem neuen Inhalt kriegerischer Konflikte muss auch eine brauchbare Definition dessen, was völkerrechtlich als Krieg zu betrachten ist, Rechnung tragen. Auf das hergebrachte formale Kriterium, dass Nationalstaaten die Kon‐ fliktpartner sein müssen, kann es nicht mehr ankommen und kommt es schon heute nicht mehr an. Vielmehr ist entscheidend, dass jede kriegerische Ausein‐ andersetzung auch völkerrechtlich als Krieg zu bezeichnen ist, die sich in das Koordinatensystem der weltweit sich antagonistisch entgegenstehenden Kräfte von imperialistischer Unterdrückung auf der einen Seite, dem Streben nach nationaler Befreiung, staatlicher Unabhängigkeit und revolutionärer Emanzi‐ pation der Völker auf der anderen Seite einfügt. […] Merkmale des Krieges bzw. der kriegführenden Parteien sind danach heute neben den und anders als die klassischen Merkmale insbesondere die vom Klassenkampf zum Klassenkrieg gesteigerte Auseinandersetzung, sowohl der unterdrückten Völker und ihrer Protagonisten, aber auch deren Verbündeter in den Metropolen als Protagonisten des Weltproletariats, als die Protagonisten der nur im Weltmaßstab als politischer Klasse konstituierbaren Klasse der Ausgebeuteten, Elenden und Entrechteten. Dies gerade dort und insoweit, wo dieser Kampf nicht aus einer Position von Arbeiteraristokratie zugunsten der Erzielung partieller Erfolge, insbesondere auf der Konsumebene, im Rahmen nationaler Grenzen geführt wird, sondern wo Inhalt und Ziel des Kampfes in totaler Negation der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer lntegrationsstrate‐ gien bewusst und ausschließlich zugunsten des Citoyen Proletaire und damit zugunsten des ersten Weltbürgers geführt wird, selbst wenn dies zeitweilig im Widerspruch zu stehen scheint, mit den Bedürfnissen und Interessen eines nationalen Proletariats, dieser Kampf also auch nur bedingt von diesem akzep‐ tiert und in dieses integriert wird: Dann liegt die Massenbasis dieses Kampfes und dann liegen seine befreiten Gebiete eben nicht in den Grenzen eines bestimmten Nationalstaates, sondern dort, wo die Gewalt der Völker der Gewalt Wege in die Radikalität 235 <?page no="236"?> der imperialistischen Staaten schon entscheidende Niederlagen zufügen konnte, neuestens in Vietnam, Kambodscha und Laos, in Guinea-B., Mosambik, Sao Tome und Principe. (…) Daraus folgt: Diejenigen, die in den Metropolen den Klassenkrieg führen, fallen unter den Schutz der Genfer Konvention, weil sie Verbündete von nationalen Befreiungsbewegungen sind, für die wiederum die Regeln der internationalen bewaffneten Konflikte angewendet werden sollen. Die Vorschläge des Internationalen Roten Kreuzes sehen eine Regelung vor, wonach solche bewaffnete Auseinandersetzungen wie internationale Konflikte behandelt werden sollen - ich zitiere: „… in denen Völker gegen Kolonialherr‐ schaft und fremde Besetzung und gegen rassistische Regime kämpfen“. Dass der Kampf an der Peripherie und der Kampf in der Metropole insoweit gegen den gleichen Kriegsgegner geführt wird, wurde in der Erklärung der Gefangenen zur Sache ausführlich dargelegt. Die Gefangenen befanden sich nach ihrer eigenen Erklärung im Kriegszustand mit den imperialistischen Kräften des Kapitals auf dem Boden der BRD als Verbündete solcher Befreiungsbewegungen, insbesondere der FNL in Vietnam, der Neo Lao Haksat in Laos, der FUNK Kambodschas, der Frelimo in Mosambik, der PAIGC in Guinea-B., der PLO und der IRA. Darum wurden sie auch von der Regierung der BRD und dem reaktionären Teil der Öffentlichkeit dieser Gesellschaft zu Staatsfeinden Nr. 1 erklärt und mit allen zur Verfügung stehenden militärischen und quasimilitäri‐ schen Mitteln bekämpft. (…) Dies nicht nur in Erklärungen, sondern auch im Verhalten, nämlich in einer riesigen Counter-Guerilla-Aufrüstung, einer quasi‐ kriegsrechtlichen Neufassung der StPO, bis hinein in das militärische Gepränge dieses Verfahrens in und um dieses Mehrzweckgebäude, das bestenfalls geeignet ist, mehrfach demselben Zweck zu dienen. Die Totalität dieses Konfliktes ergibt sich aus seinem Inhalt. Als erste und bisher einzige Gruppe hat die RAF (…) diejenige Verfassungsfrage von Grund auf wieder aufgerollt, von deren endgültiger Entscheidung jede Verfassung ausgeht, auf der sie fußt, obwohl ersichtlich ist und ersichtlich sein muss, dass dies nichts anderes sein kann als eine Fiktion, nämlich: die Machtfrage. Dies freilich nicht im Gewande der Staats‐ gewalt, sondern an ihrer Wurzel, nämlich der Frage der Träger der sozialen Gewalt, die so lange gestellt werden wird, solange Menschen über Menschen soziale Gewalt ausüben, solange also Menschen der Rechtfertigungsideologien bedürfen zum Zwecke der Legitimation der Ausübung solcher Herrschaft, während andere Menschen den Kampf aufnehmen gegen diese Legitimität und ihre Rechtfertigungsideologie auf der Ebene des Rechts: die Legalität. […] Es wäre Sache der Bundesanwaltschaft, darzulegen, dass die Gefangenen mit den ihnen zur Last gelegten Taten strafbare Handlungen im Sinne des Kriegsrechts gehandelt haben, denn nur diesem Kriegsrecht unterliegen die Handlungen der 236 Manuel Vogel <?page no="237"?> Angeklagten und nur nach diesem Kriegsrecht können sie beurteilt werden. Da sich weder aus der Anklageschrift, noch aus dem bisherigen Verhalten, aus dem bisherigen Verhalten der Bundesanwaltschaft ähnliches ergibt, ist zunächst davon auszugehen, dass auch die Bundesanwaltschaft erkannt hat, dass es an solchen strafbaren Handlungen in Sinne des Kriegsrechts mangelt. Da die angeklagten Kriegsgefangenen selbst dann freigesprochen werden müssten, wenn die ihnen zur Last gelegten Taten als bewiesen anzusehen wären, bedarf es keiner weiteren Beweisaufnahme, die insoweit nur einer Prozessveschleppung dienen könnte. Es wird daher beantragt: Die ergangenen Beweisbeschlüsse, soweit die Beweisaufnahme noch nicht durchgeführt worden ist, als rechtlich irrelevant aufzuheben, die Beweisaufnahme abzuschließen und die Gefangenen unverzüglich in Kriegsgefangenschaft zu überführen. (..) Gelächter auf der Bank der Bundesanwaltschaft. […] Bundesanwalt Dr. Wunder: Herr Vorsitzender, ich möchte Stellung nehmen zu dem Antrag von Herrn Professor Azzola. Vorsitzender: Herr Bundesanwalt. Bundesanwalt Dr. Wunder: Ich glaube, es ist zweckmäßig und richtig, auf das eben Angeführte sofort zu antworten und nicht erst später. (…) Das uns bindende geltende Recht gibt keinen Raum für Denkgebilde und Wunschträume, wie sie eben dargestellt worden sind. Damit erübrigen sich alle weiteren Ausführungen. In unserem Lande werden Morde als das verfolgt, was sie sind. Wir leben in Frieden und nicht in einem den Angeklagten vorschwebenden Kriegszustand. Diesen Frieden zu erhalten ist auch unsere Aufgabe als Angehörige der Justiz, im Übrigen aber insbesondere auch all derjenigen, die einen Eid auf diese Ver‐ fassung geleistet haben. […] Es gibt keinen straffreien Raum, in dem ein durch quasi Kriegszustand gerechtfertigtes Töten erlaubt wäre. Es kann und wird dies in unserem Rechtszustand nicht geben. Das Widerstandsrecht in diesem Zusammenhang anzuführen, ist meiner Auffassung nach fast beleidigend für all diejenigen, die im Dritten Reich zulässigen Widerstand geleistet haben, leisten mussten und dankenswerter Weise geleistet haben. Ich bitte, den Antrag zurückzuweisen. […] Vorsitzender: Frau Meinhof. Angeklagte Meinhof: Ja, dieser Frieden, von dem Wunder hier gesprochen hat, sieht so aus: Es gibt eine Besatzungsarmee, dazu gehören 125 US-Militär‐ basen, 7000 Atomsprengköpfe und das amerikanische Truppenkontingent in der Bundesrepublik ist das größte, das die USA in einem Land außerhalb Wege in die Radikalität 237 <?page no="238"?> ihres eigenen Territoriums, den USA, stationiert haben. Sie ist Voraussetzung, diese Besatzungsarmee ist die Voraussetzung der repressiven Befriedigung im Innern und Bedingung, um die Kriege gegen die Befreiungsbewegung in der dritten Welt zu führen, deren letzter großer Krieg der Vietnam-Krieg war, der den Charakter des Genozids angenommen hat, wozu wichtig ist, dass es ein Krieg ohne Kriegserklärung war, es in diesem Krieg nie eine Kriegserklärung gegeben hat und worin evident geworden ist, dass Krieg heute internationaler Klassenkrieg ist. Die Kommandozentralen dieses Krieges, von denen aus die Genozidstrategie in Vietnam koordiniert worden ist, be finden sich auf dem Territorium der Bundesrepublik Und während des Jom-Kippur-Kriegs haben die USA Waffentransporte von hier aus durchgeführt und es bestehen feste Vereinbarungen - das konnte man in der Frankfurter Allgemeinen vor ein paar Wochen lesen -, dass der nächste Nah-Ost-Krieg, und dann ohne Einspruch der Regierung, vom Territorium der Bundesrepublik aus geführt werden wird. Weiter ist zu sagen, zu dem Frieden, den Herr Wunder hier proklamiert, dass die Bundesrepublik an allen strategischen Punkten für das und mit dem US-Kapital der US-Armee, im CIA nach den Einsatzplänen des Pentagon gegen die Befreiungsbewegung in der dritten Welt interveniert, polizeilich, militärisch, ökonomisch, politisch, ideologisch und an diesen Kriegen aktiv beteiligt ist. Das betrifft Angola, Thailand, lrland, Namibia, lndonesien, Portugal usw. Zu diesem Frieden gehört, dass diese Regierung, dass dieser Staat Regierungen stürzt, z. B. ist bekannt die Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes am Sturz von Sukarno in Indonesien 1965, wobei 500.000 Kommunisten ermordet worden sind, mitten in dem Frieden, den Wunder meint, und der Krieg ist (…). Weiter gehört zu diesem Frieden, dass die Bundesrepublik Armeen aufrüstet und ausbildet, z. B. war Spinola, bevor er nach Guinea-Bissao geschickt wurde, zwei Jahre lang auf der Heeresoffiziersakademie in Hamburg-Wandsbek zur Ausbildung. Und z.-B. wurden Hubschrauberpiloten für die Südvietnamesische Armee, also die Armee von Thieu, in der Bundesrepublik ausgebildet und werden immer noch thailändische Armeeangehörige an Hubschraubern in der Bundesrepublik ausgebildet. Weiter gehört dazu, dass die Counter-Guerilla organisiert Polizeiexperten nach Afghanistan, den Sudan, nach Äthiopien, in den Maghreb usw. schickt, und außerdem die (phon: Kompradorenregimes) zur dritten Welt mit polizeilicher Logistik für die Counter-Guerilla-Kriegführung vollständig ausrüstet, Pkw, Funk usw., das heißt, die Repressionstechnologie exportiert, mit der der US-Imperialismus in diesen Staaten Krieg führt. Die Bundesrepublik ist bei den Völkern der dritten Welt und im Prozess der Kolo‐ nisierung, der inneren Peripherie, als das Zentrum der Counterrevolutionären Kriegführung bekannt, das betrifft Portugal, Griechenland, die Türkei und 238 Manuel Vogel <?page no="239"?> natürlich Irland, das heißt - der Kolonisierung der inneren Peripherien - das heißt, sie wird immer deutlicher als der Stellvertreterstaat der USA, als militärische, politische, ökonomische und ideologische Exekutive der USA in der dritten Welt begriffen als kriegführender Staat, was zu bestreiten innerstaatlich nur mit dem enormen Counter-Apparat und der enormen Repressionsmaschine, über die die Bundesrepublik verfügt, und von der die Bundesanwaltschaft ein Teil ist, überhaupt möglich ist. Wunschdenken ist, von dem Wunder hier gesprochen hat, wenn Wunder hier von Frieden quatscht, womit er sich damit ja auch klar … Vorsitzender: Ich möchte Sie bitten, sich in einem … Angeklagte Meinhof: Wenn Wunder hier von Frieden … Vorsitzender: … in Worten zu halten. Angeklagte Meinhof: Ja. Wunschdenken ist, wenn er hier vom Frieden spricht, womit er sich da auch klar im Widerspruch, zu seiner eigenen Staatsschutzma‐ schine befindet. Herold zum Beispiel fasst seinen Job selbst als Krieg auf. Herold spricht von der Verpolizeilichung des Krieges, dass das die Form sei, in der heute Konflikte ausgetragen würden, und verlangt völkerrechtliche Normen für den Einsatz der Polizei und Klassenkrieg in den Metropolen. Das bemühte imperiale Gelächter der Bundesanwaltschaft, zu dem Antrag von Azzola, ist davon Ausdruck einer Hysterie, die im Widerspruch steht zu allen Tatsachen ihrer eigenen Politik. Zu denen gehören: Vernichtungshaft, Isolation, die Trakts, die sie gegenüber 90 politischen Gefangenen in der Bundesrepublik einsetzt, und die rational nur als Kriegshandlungen gegen Kriegsgefangene, die hier Geiselstatus haben, (aufzufassen) sind. Die Kriege, die die Bundesrepublik zusammen mit und für die USA gegen die Befreiungsbewegung an der Peripherie führt, sind die Bedingung, der Grund der repressiven Befriedigung im Innern der Metropolen. Sie reagiert auf die politische Defensive, in der sich das Kapital durch die Entwicklung der Front im Nord-Süd-Gegensatz befindet, innerstaatlich mit Repressionen, Klassenkrieg von oben, der Hinrichtung antiimperialistischer Kämpfer auf der Straße, der Hinrichtung von Gefangenen aus der Stadtguerilla im Gefängnis, totaler polizeilicher Kontrolle und Durchdringung der Gesell‐ schaft, gesetzlich verankerter Berichterstattungspflicht gegenüber dem Verfas‐ sungsschutz, Berufsverbot usw., psychologischer Kriegsführung. Wunders Satz, dass hier Frieden ist, ist nackte sozialdemokratische Demagogie. Analog Brandts … (…) Vorsitzender: Frau Meinhof, ich bitte Sie jetzt langsam … Angeklagte Meinhof: … Ich möchte das bitte zu Ende bringen. Wege in die Radikalität 239 <?page no="240"?> Vorsitzender: Ja, eben. Angeklagte Meinhof: Analog Brandts programmatischem Satz: „Die Bevölkerung musste gegen revolutionäre Politik“ - bei Brandt heißt das politischen Terro‐ rismus - „immunisiert werden, durch die ruhige und entschlossene Behauptung des Normalzustands.“ Wunder behauptet den Frieden, weil Krieg ist. Ihn als Normalzustand zu behaupten, ist ein elementarer Grundsatz der Counter-Gue‐ rilla-Kriegsführung, das heißt konkret, Wunder gibt zu, dass wir Kriegsgefan‐ gene sind, dass die Bundesanwaltschaft diesen Prozess als Kriegshandlung versteht, für den Krieg, den sie führt. Oder wozu, Herr Wunder, der Bunker hier für zwölf Millionen Mark mit drei Millionen eingebauter militärischer (…) Logistik. Wozu 300 Hundertschaften BGS, wozu die Teleüberwachungssysteme, die tausend Bereitschaftspolizeien in Stuttgart (…). Die vollständige Umorgani‐ sierung des gesamten Polizeiapparates an diesem und zu diesem Prozess, wozu die militärtaktischen Gesichtspunkte bei der Wahl des Areals und so weiter. Also es ist kurz zu sagen, es gehört schon eine Maschine für Counter-Guerilla und psychologische Kriegsführung, wie die der Bundesanwaltschaft, dazu und ihr Verständnis, aus der Rolle und Funktion der Sozialdemokratie und der Bundesrepublik in der Global-Strategie des US-Kapitals. Das alles gehört dazu, um diesen Krieg noch als Frieden zu behaupten. Vorsitzender (nach geheimer Umfrage): Der Senat hat folgenden Beschluss ge‐ fasst: „Der von Professor Azzola angebrachte Antrag der Angeklagten Meinhof, die Beweisaufnahme abzuschließen und die Angeklagten sofort in Kriegsgefan‐ genschaft zu überführen, wird verworfen.“ Der Senat sieht keinen Anlass, die Beweisaufnahme jetzt abzuschließen. Für eine Überführung der Angeklagten in Kriegsgefangenschaft fehlt es an jeder rechtlichen Grundlage. - Ich bitte nun den Zeugen. Angeklagte Meinhof: Wie können Sie denn diesen Beschluss fassen, eine Minute, nachdem wir Stellung genommen haben? Vorsitzender: Der Beschluss ist beraten und verkündet. Angeklagte Meinhof: Also ist das rechtliche Gehör eine Farce hier, wie wir gesagt haben. [2] B AK K E R S C H U T 1987: 6 Der Herausgeber versteht die Veröffentlichung der „info“-Briefe als einen Beitrag zur Aufklärung über Ursachen, Hintergründe und Ziele des bewaffneten Kampfes in Westeuropa, der, als antiimperialistischer Guerillakrieg geführt, von den Staatsschutzbehörden als solcher auch verstanden und auf der Ebene offener 240 Manuel Vogel <?page no="241"?> und verdeckter Kriegsführung angenommen wurde. Dieser Krieg ist Teil unserer Gegenwart. Er herrscht weltweit und kann nicht mit verschleiernden Begriffen aus der Welt geschafft werden. Seine Existenz ist also keine Frage der Moral und keine des Bekenntnisses dafür oder dagegen. Das Aussprechen dieser Selbstver‐ ständlichkeit würde sich erübrigen, wenn nicht die augenblickliche Behandlung dieses Themas gleichzeitig ein Versuch der Entpolitisierung beinhaltete, der die Hintergründe der Auseinandersetzung, der die Motive und das Ziel der po‐ litischen Gefangenen und damit letztlich auch der „68er-Bewegung“ vergessen machen soll. Somit dient die Veröffentlichung dieses Dokumentbandes der notwendigen Rekonstruktion eines über den heutigen Tag hinaus wirkenden bedeutsamen Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte. Texte [3] - [22] sind entfallen (s.-o.) [23] T O LM E IN / M ÖL L E R 1997: 259-261 Das Ding hat die Form eines Antrages, weil es sonst nicht möglich gewesen wäre, im Prozess auch nur einen Satz noch zu sagen. Stammheim, 29.3.1977 An das Oberlandesgericht 7000 Stuttgart Aktenzeichen: 2 StE (OLG Stgt) 1/ 74 Wir beantragen - übrigens zum ersten Mal - Brandt und Schmidt als Regie‐ rungschefs der Regierungen Brandt/ Scheel und Schmidt/ Genscher zu laden zum Beweis, dass (…) 7. im Rahmen der antisubversiven Aktion Kampagnen in die Massenmedien nach den Strategien der psychologischen Kriegsführung zentral beschlossen und gesteuert werden und dass Falschmeldungen wie a) die RAF hätte geplant, in der Stuttgarter Innenstadt drei Bomben zu zünden ( Juni 72) b) die RAF hätte geplant, während der Fußballweltmeisterschaft Raketenan‐ griffe auf besetzte Fußballstadien durchzuführen (Sommer 74) c) die RAF hätte geplant, das Trinkwasser einer Großstadt zu vergiften (Sommer 74) d) die RAF hätte Senfgas gestohlen und geplant, das Gas einzusetzen (Sommer 75) e) das Kommando Holger Meins hätte das Botschaftsgebäude in Stockholm selbst gesprengt (April 75) f) es gäbe „Spannungen“ innerhalb der Gruppe der Angeklagten (Feb. 72 und seit Ulrike Meinhofs Tod) g) die RAF hätte einen Überfall auf einen Kinderspielplatz und die Geisel‐ nahme von Kindern geplant (März 77) Wege in die Radikalität 241 <?page no="242"?> h) die RAF hätte Angriffe auf Kernkraftwerke und den Einsatz nuklearer, chemischer und bakteriologischer Waffen geplant (seit Januar 76) i) die RAF hätte geplant, den Bodensee mit atomarem Müll zu verseuchen (September 75) und Provokationen von Nachrichtendiensten wie Sprengstoffanschläge auf Hauptbahnhöfe (Bremen Dezember 74, Hamburg September 75, Nürnberg, Augsburg, München, Köln) k) Sprengstoffbzw. Brandanschläge auf die gerichtlich bestellten Zwangs‐ verteidiger Langner in Hamburg (19. Juni 76), Peters in Düsseldorf (16.2.77) im Zusammenhang der Fahndung und der Prozesse initiiert worden sind, um „diese Gruppen völlig zu entsolidarisieren, sie von all dem zu isolieren, was es sonst an radikalen Meinungen in diesem Lande auch geben mag. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben.“ (Ehmke, als Chef des Kanzleramts Koordinator der Geheimdienste, Bundestag, 7.6.72) „ … den Sumpf aus(zu)trocknen - und ich sage es ganz hart - aus dem die Blüten der Baader-Meinhof-Bande emporgestiegen sind.“ (Kohl, Fernsehinter‐ view 25.4.75) „… eine scharfe, unzweideutige, klare Trennung zwischen den Mitgliedern dieser Bande und der gesamten übrigen Bevölkerung …“ zu ziehen. (Carstens, am 25.4.75 im Bundestag) „ … es kommt - ich spreche es aus - auf Infiltration in die Sympathisanten‐ gruppen hinein an.“ (Schmidt, Regierungserklärung 13.3.75) „Aktionen gegen die RAF müssen immer so abgewickelt werden, dass Sym‐ pathisantenpositionen abgedrückt werden.“ (Herold, Chef des BKA während der Innenministerkonferenz, Januar 72) „ … die Nervenknoten des Gegners heraus(zu)isolieren und sie dann gezielt mit Maßnahmen an(zu)gehen, sie (zu) paralysieren, (zu) neutralisieren.“ (Herold, Hessenforum, Mai 1975) und dass l) Planung und Einsatz dieser Kampagnen den im ISC-Report vom Mai 1975 für den Natobereich festgestellten Richtlinien zur „Entsolidarisierung, Isolation und Eliminierung“ der illegalen Gruppen entspricht. [24] V I E T T 1996a: 7 Die Gefangenschaft ist für einen politischen Menschen keine Strafe, sie ist eine Prüfung, in der es vom ersten Tag an darum geht, in einer gesellschaftlichen Son‐ derregion, welche den Menschen als Subjekt auszuschalten trachtet, als Subjekt zu bestehen. Sich der Unterdrückung, Entmündigung und Entsolidarisierung nicht zu ergeben, sondern diese Prinzipien und Gesetze des Gefängnisses aus der eigenen Seele herauszuhalten, das ist eine tägliche Herausforderung der 242 Manuel Vogel <?page no="243"?> Selbstbehauptung. Ich habe das Gefängnisleben als Teil meiner Geschichte, als Teil meines Kampfes um menschlichere Verhältnisse und Beziehungen angenommen. Es ist ein bedrängtes, karges Leben, aber nicht einmal die Sterne über uns sind ewig. Warum sollten wir da verzweifeln? Jeder Zustand trägt die Gnade der Endlichkeit in sich, darum haben wir immer wieder eine Chance. Nur aufgeben dürfen wir nicht. [25] V I E T T 1996a: 10 Unsere Regierung und die der BRD kommen mir vor, als wären sie dem politi‐ schen Tollhaus entsprungen, anders ist die brutale Zerstörung der DDR-Identität der Bevölkerung nicht auf den Begriff zu bringen. Es ist quälend mit anzusehen, was abläuft. Ich empfinde es wie das Einschlagen auf einen Wehrlosen. Wehrlos deshalb, weil die gesamte Bevölkerung fixiert ist auf die Probleme der Geldum‐ stellung, paralysiert ist von der Angst vor Arbeitslosigkeit und somit unfähig ist, sich zu finden, sich zu artikulieren, gemeinsam zu handeln. Die Strategen der BRD machen sich das unbarmherzig zunutze. Sie werden nicht mehr loslassen bis alles, was nach Sozialismus auch nur schimmert, eliminiert ist. [26] V I E TT 1996a: 11 [an Gregor Gysi] Mit Verwunderung hab ich im ND vom 18.6. die Distanzierung der PDS-Fraktion in der Volkskammer gelesen: Sie sei empört, dass die „Terro‐ risten aus der BRD sich der gerechten Strafe entziehen konnten …“ usw. Also einem Mann wie Ihnen unterläuft dieser juristische Lapsus? Von welcher Strafe spricht die PDS-Fraktion? In keinem Fall der Verhafteten hat es bisher einen Pro‐ zess gegeben. Einer Strafe geht ein Urteil voraus und dem Urteil ein Verfahren! Solange gilt jeder Beschuldigte als unschuldig. Also eine klare Vorverurteilung durch die PDS-Fraktion der Volkskammer? Warum? ! Die PDS ist nicht die SED. Sie braucht nicht in Angstschweiß auszubrechen und so tollpatschig die Flucht nach vorne anzutreten. Tollpatschig deshalb, weil die juristisch anrüchige und politisch überflüssige Distanzierung einen starken Mangel an Souveränität und ein profundes Unwissen aufweist, was ,Terrorismus‘ in den westeuropäischen Staaten, insbesondere in der BRD, tatsächlich ist. [27] V I E TT 1996a: 14f Seit Monaten erlebe ich das Zusammenbrechen von Existenzen und Identitäten, das Auseinanderfallen von Gemeinschaften, Kollektiven und Familien, das verzweifelte Suchen nach Orientierung derjenigen, die ein Leben lang gekämpft und geschuftet haben für die Realisierung und Materialisierung ihrer Ideale. Und dann seh ich diejenigen, die sich ducken, kleinmachen, um nicht gesehen Wege in die Radikalität 243 <?page no="244"?> zu werden, die bei passender Gelegenheit in eine Lücke springen und wieder da sind: programmatisch, geschmeidig und anpassungsfähig. Fähig, jedem Herrn zu dienen. Und dann die freie Bahn für Dummheit, Bosheit und Häme. Elemente, die nie interessiert waren an einer Weiterentwicklung, Verbesserung des Sozialismus, sondern seine Schwächen und Möglichkeiten gleichermaßen ausgebeutet haben. Mensch, Verena, Du machst Dir keinen Begriff, was hier los ist. Ein gnadenloser Kahlschlag sozialistischer Inhalte und Werte auf allen Gebieten. Elternhaus, Schule, Beruf, Freizeit. Mit ungezähmter Geilheit stößt der imperialistische Markt nach und transportiert seine Inhalte. Die Vereinzelung der Menschen ist in vollem Gange. Die Naivität der Leute gegenüber dem Imperialismus, ihre Schutzlosigkeit und ihre Ausnutzungsmöglichkeit sind zur Zeit wahrlich grenzenlos. [28] V I E TT 1996a: 18f [Über einen Redebeitrag von Antje Vollmer im Bundestag] Es ist genau dieser Punkt, den sie herausstellte: die Negierung, dass die DDR eine reale Gesell‐ schaft, ein reales Gemeinwesen mit eigenen, teilweise stark verinnerlichten Zusammenhängen, Werten und auch positiv bestimmten Erfahrungen ist und nicht besteht aus einer Summe vereinzelter geschichtsloser Menschen, die nur darauf warten, eine ,Heimat‘ zu finden. Natürlich ist dies die Fortsetzung einer fünfundvierzigjährigen BRD-Politik, die das andere Deutschland stets nur als illegitimes Regierungsgebilde gedacht und behandelt hat, und die 17 Millionen Bürger verstanden wissen wollte als unmündige Schwestern und Brüder, welche in einem Zustand des Wartens auf Befreiung verharrten. Ent‐ sprechend ist jetzt die Politik der totalen Verfügung über diese Schwestern und Brüder. Sie sind Objekte einer ignoranten, geschichtlich verhängnisvollen und gleichermaßen niveaulosen Polit-Trickserei. Tatsächlich aber ist hier in einem mehr als vierzigjährigen, komplizierten, widersprüchlichen Prozess, in einer Art Hass-Liebe zu ihrem Staat, eine Gesellschaft, ein Gemeinwesen entstanden, in dem die Leute fest verankert und frei von jeder Existenzbedrohung waren. Immer wurde mit Inbrunst über alles, was nicht klappte und woran es mangelte, geschimpft und gestöhnt, aber nie fühlten sich die Menschen existentiell verun‐ sichert. Wohnungsnot? Ja, vielleicht als Belastung oder mögliches Konfliktfeld im Elternhaus, aber als Vorstufe von Obdachlosigkeit? Undenkbar. Absurd. Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel? Begriffe, die außerhalb jeder Erfahrung lagen. Als ich in die DDR kam, war ich in höchstem Maße verblüfft von dem Selbstbewusstsein, der Lockerheit und der Souveränität, mit der sich die DDR-BürgerInnen in ihren Arbeits- und Funktionsbereichen bewegten. Wie sie darin lebten. Ich rede hier nicht von Leitungs- und Funktionärsebenen, da sieht’s 244 Manuel Vogel <?page no="245"?> wieder anders aus, sondern von meinen Erfahrungen in den Basiskollektiven der Produktion und Verwaltung. Dieses Verhältnis zur Arbeit erklärte sich mir bald aus der Befreiung von Konkurrenz und Existenzangst und dem hohen gesellschaftlichen Stellenwert der Arbeit im moralischen Sinn. Die soziale Sicherheit war die Grundqualität des Seins in der DDR. Wenn ich von der Hass-Liebe spreche, die Heiner Müller als Burgfrieden bezeichnet, ist diese Grundqualität auf jeden Fall ein Teil der Liebe und beantwortet die immer wieder gestellte dümmliche Frage der BRD: wieso konnte sich die DDR überhaupt solange halten? Ein weiterer Teil war der humanistische Anspruch der DDR, denn wer konnte sich nicht mit Zielen identifizieren wie die Schaffung einer Gesellschaft, in der keiner zurückbleibt, Chancengleichheit für alle, Solidarität mit den unterdrückten Völkern, Kampf gegen Faschismus, gegen Krieg - doch nur ausgemachte Lumpen und Egoisten. Dies waren Erziehungsinhalte, in welcher Form auch immer. Sie haben vierzig Jahre lang die Bildung, Literatur, Kunst, Musik und das tägliche Leben mitgeprägt, sind Identität geworden. [29] V I E T T 1996a: 27 Dear Faiza. Ich hab Deinen Brief mit großem Interesse gelesen und bin über‐ rascht über Deine europäisch ausgerichtete progressive Bildung. Sie ist viel umfassender als meine eigene, welche von dem beschränkten Bildungsgut einer Dorfzwergschule ausgehen musste. Du weißt eine Menge mehr von Europa als ich von Afrika. Als die Weißen allgemein. Das sind Zeichen und Auswirkungen von weißem Chauvinismus. Hatten Afrika mehr als ein Jahrhundert besetzt und wissen nichts. Abgesehen von ein paar Experten. Chauvinismus sieht und beschäftigt sich nur mit sich selbst und interessiert sich nicht für die Weisheit und Tradition anderer. Für den Westen ist Afrika nur zum Verzehren interessant. [30] V I E T T 1996a: 28 Stell Dir vor, gegenwärtig läuft hier als Folge der Niederlage des sozialistischen Lagers bzw. des weltweiten kapitalistischen Siegeszuges eine Diskussion um die Frage, ob das Machtstreben und der Egoismus nicht die dominierende anthropologische Konstante des Menschen sei, und ihm deshalb die kapita‐ listischen Gesellschaftsstrukturen entsprechen und angemessen sind. Ist das nicht verheerend? Es bedeutet letztlich, dass der Sinn der Menschheit in ihrer Selbstzerstörung liegt, weil der Mensch nicht fähig ist, seine Vernunft zu entwickeln, sondern Opfer seines Egoismus, seiner Machtgier wird. Ich finde, das ist der lächerliche Versuch, die bestehenden Machtverhältnisse anthropolo‐ gisch und philosophisch zu legitimieren, und die Obszönitäten der Wegwerf- und Warengesellschaft als menschlich natürlich zu rechtfertigen. Somit wäre Wege in die Radikalität 245 <?page no="246"?> auch kein Kraut dagegen gewachsen und jeder andere Gesellschaftsentwurf unnatürlich. Dass sich auch die Linken an dieser Diskussion beteiligen, zeigt eine tiefe Depression und Orientierungslosigkeit. Aber das ist auch nicht so verwunderlich in der jetzigen Situation, in der wir alle geschüttelt sind von der rigorosen Eliminierung der DDR und des allgemeinen Kehraus sozialistischer Werte und Strukturen. [31] V I E T T 1996a: 32 Liebe. Ja, ich kenne den Baader-Meinhof-Komplex von Stefan Aust. Das Buch ist hier in der Bibliothek und erfreut sich offensichtlich großer Beliebtheit. Es ist reichlich zerlesen und abgegriffen. Mir gefällt es nicht, weil es scheinob‐ jektiv und in großer Abneigung gegen Andreas Baader geschrieben ist, den er als psychologisch/ ideologischen Vergewaltiger der Gruppe darstellt. Eine Version, die von der gesamten Massenpresse von Anfang an verbreitet und ausgeschmückt wurde. Das Buch fasst auch nicht das Wichtigste zusammen, weil es sich lediglich und unmittelbar auf die Gruppe beschränkt und nichts oder kaum was über ihre damalige Wirkung, Faszination auf die linke Bewegung aussagt. Allein diese machte sie für den Staat so gefährlich. Du hast völlig recht mit Deinem Empfinden von Oberflächlichkeit. Aber dies ist Absicht und nicht fehlendes Wissen. Das ganze Buch hat die Tendenz der Entpolitisierung und Psychologisierung der Gruppe und liegt damit ganz auf Linie. Dennoch enthält es eine Menge Richtiges und es ist gut, dass Du es gelesen hast. [32] V I E TT 1996a: 36f Liebe Faiza. Ich muss Dir heute unbedingt von den Auseinandersetzungen hier um den Golfkrieg erzählen. Dabei musst Du aber bedenken, dass mein Informationsstand nicht so üppig wie draußen ist. Er speist sich aus dem, was die öffentlichen Medien sagen und nicht sagen (letzteres ist meistens am aufschlussreichsten). Ich hab Rundfunk, Fernseher und drei Tageszeitungen verschiedener ideologischer Provenienz. Die linken Intellektuellen haben eine katastrophal verwirrende Haltung zum imperialistischen Krieg der Alliierten, denn nichts anderes ist das, was der Westen dort treibt. Die Linken schwimmen im Zeitgeist und arbeiten an der Hoffähigkeit der von den USA dominierten Kriegspolitik. Gerade die 68er Garde, die einmal sehr genau wusste um den unseligen, zerstörerischen Einfluss der führenden imperialistischen Staaten auf den Trikont, baut jetzt mit an dem Bild eines „gerechten“ Krieges gegen den „Irren aus Bagdad“. Aber jetzt sitzen sie alle in ansehnlichen Sesseln, haben ihren Bereich in Politik, Kultur oder Wirtschaft gefunden und verteidigen die Weisheiten und „Errungenschaften“ der westlichen Systeme. Natürlich mit 246 Manuel Vogel <?page no="247"?> ungeheuer linkem Touch. Sie stiften furchtbare Verwirrung mit den Begriffen Anti-Amerikanismus und Anti-Semitismus und versuchen so, die Demos und Aktionen der Kriegsgegner zu entpolitisieren. Als ginge es um irgendwelche mythischen Anti-Gefühle und nicht gegen eine ganz bestimmte Großmachtpo‐ litik, die auf Herrschaft und Verfügung aus ist. Viele Linke finden nicht aus dem Problem heraus, dass Saddam Hussein einerseits eine grausame Vernichtungs‐ politik gegen eine Opposition im eigenen Land - Kurden und Kommunisten - führt und andererseits in diesem Krieg für die arabischen Völker steht, die sich von politischer, ökonomischer und kultureller Vorherrchaft und Ausbeutung des Westens befreien wollen. Ihnen ist nicht so sehr die Besetzung Kuwaits das Pro‐ blem (ich meine jetzt die aufrechten Linken, nicht die Karriere-Intellektuellen), im Grunde weiß jeder politisch gebildete Mensch, dass die Behauptung Saddam Husseins, Kuwait sei ein künstliches Gebilde des Kolonialismus, einfach richtig ist und nicht dem Gehirn eines Irren entspringt, sondern der tatsächlichen Geschichte entspricht. Kuwait hat die Funktion einer Finanz- und Öl-Enklave für den Westen und ist im Besitz einer historisch bereits verwesten Feudalclique und der westlichen Ölkonzerne. Das rechtfertigt natürlich nicht die militärische Okkupation durch den Irak, schon weil es unter den gegebenen internationalen Kräfteverhältnissen eine fürchterliche politische und militärische Dummheit ist, aber sie unterscheidet sich von den militärischen Überfällen der USA auf Grenada und Panama dadurch, dass sich ein „Habenichts“ der Dritten Welt erdreistet hat, in die Taschen der imperialistischen Phalanx zu fassen, während die USA ohne jegliche völkerrechtlichen Skrupel mit militärischer Gewalt den Hinterhofstatus im aufbegehrenden Grenada und Panama wiederhergestellt haben. Eine Schamlosigkeit und Brutalität, die von der UNO nur ganz kleinlaut behandelt wurde. Jetzt allerdings, wo sich das Kräfteverhältnis in der UNO wieder zum absoluten Vorteil der imperialistischen Staaten verschoben hat durch die historische Niederlage der sozialistischen Staaten, ist die Sache noch einfacher geworden. Ich begreife die Verkleisterung so vieler Linker nicht. Es geht doch gar nicht darum, für oder gegen Saddam Hussein Partei zu ergreifen, sondern zu erkennen, dass dieser Krieg und die entmenschlichte Art seiner Durchführung das barbarische Instrument der imperialistischen Staaten und in erster Reihe der USA ist, jetzt ohne relevanten Widerstand ihre Herrschaft und Überlegenheit weltweit zu gravieren, Nah-Ost ein für allemal jetzt in ihrem Interesse zu befrieden, und der Welt deutlich zu machen: Wir sind die Herren. [33] V I E T T 1996a: 142 f In Lateinamerika ist die Verbindung von Marxismus und Katholizismus schon lange eine politische Kraft, die sich als recht tragfähig erwiesen hat. Befrei‐ Wege in die Radikalität 247 <?page no="248"?> ungstheologie ist der Begriff und nicht umsonst wird dieses Verständnis von Rom scharf bekämpft. Viele Priester, die sich in Nicaragua und El Salvador z. B. dem Befreiungskampf angeschlossen hatten, sind exkommuniziert worden. Heiner Müller bringt das sehr genau zum Ausdruck: „Wer gegen den Kom‐ munismus ist, ist gegen die Bergpredigt, ist gegen Jesus. Das hat man in Lateinamerika begriffen. Die Konfrontation zwischen Katholizismus und Kom‐ munismus in Europa war eigentlich völlig überflüssig, denn nirgendwo steht geschrieben, dass Christentum an die Struktur des Privateigentums gebunden ist. Im nächsten Jahrtausend muss es zur Allianz von Kommunismus und Katholizismus kommen. Die Realität gibt nur nach, wenn man sich gegen sie verbündet. Che Guevara war ein Heiliger, ein neuer Apostel. Das setzt die Fusion von Rom und Byzanz voraus. Dagegen ist der Kapitalismus eine Fußnote. Alles andere ist ephemer, Tagespolitik.“ Ob die Kirche in Europa noch was zur Rettung leisten kann, ist mir höchst zweifelhaft, sie ist völlig in der kapitalistischen Denkweise und Kultur verwurzelt und verstrickt. Aber Europa ist ja nicht die Welt. Auch wenn es so tut. [34] V I E TT 1996a: 43f Was wir nicht gesehen haben und nicht sehen wollten: es gibt keine tatsächliche Basis hier für eine revolutionäre Veränderung, keine relevanten Kräfte, die auf die Abschaffung der Warengesellschaft aus sind, weil Abschaffung nämlich Zerstörung der Strukturen bedeutet. Was die politische und ökonomische Elite in der BRD jetzt zum Beispiel sehr gut begriffen hat: Ausradierung sozialistischer Werte heißt Zerstörung aller sozialistischen Strukturen. Der bewaffnete Kampf hat auf die Zerstörung kapitalistischer/ imperialistischer Zerstörung gezielt. Hierfür gibt es aber kein Bedürfnis, das sich als politische Kraft hinter uns hätte stellen können. Darum findet das Guerrilla-Konzept in Europa auch keine Unterstützung. Mal abgesehen von den romantischen Augenaufschlägen und Flirts der Linken in den Anfangsjahren, und auch abgesehen von den Defensivsympathien kleiner radikaler Gruppen. Gescheitert heißt für mich: das Konzept ist politisch unfruchtbar geblieben. [35] V I E TT 1996a: 46f.55f. Wie kann ich vorgehen? Es geht mir nicht darum, eine bestimmte Politik zu vertreten, sondern eine bestimmte Haltung und Integrität, die natürlich nicht irgendeine beliebige ist, sondern sich entwickelt hat durch meine Lebensge‐ schichte, geprägt ist von revolutionären Ideen, sozialer/ politischer Parteilich‐ keit. Das kann ich nicht verleugnen im Moment der Wahrheit. Dieser Moment der Wahrheit ist nun mal der Augenblick, in dem es mir ganz persönlich an 248 Manuel Vogel <?page no="249"?> den Kragen geht. Mein Prozess ist politisch, weil meine Lebensgeschichte in diesem Verfahren zur Disposition gestellt werden soll. Ihr wirklicher Inhalt, nämlich die Parteinahme für die Deklassierten, Ausgeplünderten, Entwerteten und gegen ein System, in dem sich niemand für diese Produktion der Dehu‐ manisierung verantwortlich fühlt, ja sie nicht einmal zur Kenntnis nehmen will. Am allerwenigsten meine Ankläger und Richter. Ihr Denken und Handeln ist fundiert und legitimiert durch die Gesetze der Systemerhaltung und lässt kein anderes Verständnis zu. Über meine konkreten Fehler und Irrtümer soll dieser Hintergrund meiner Lebenspraxis abgewickelt werden, dargestellt als Verirrung, Absurdität, als kriminelle Entgleisung. Im Gerichtssaal wird dies alles sehr routiniert ablaufen, denn meine Kontrahenten sind sich einig und haben viel Erfahrung. (…) Dem stehe ich als verunsicherte Kandidatin gegen‐ über, ziemlich allein auf der Flur, nirgendwo mehr zugehörig, Bruch mit der Guerilla-Geschichte, untergepflügte DDR. Scheinbarer Sieg auf ganzer Linie für das, wofür meine Richter stehen. Trotzdem will ich bestehen. Aber ich weiß noch nicht wie, das macht mich nervös. Wirst Du auch noch zu mir stehen, wenn ich jammervoll versage und als ein Häuflein Erniedrigung aus dem Prozess gehe? Nun, ich will den Teufel nicht an die Wand malen, schließlich werde ich mir noch gehörig Gedanken machen und Abwehrstoffe bilden. […] Es geht doch in diesem Prozess nicht um politische und persönliche Fehler, sondern um kriminalistische Abrechnung mit einem Stück Geschichte. Wenn ich mich durch den Prozess hangele wie die anderen, gibt es danach nichts mehr zu sagen, nicht zur Geschichte, nicht zu mir, nicht mehr, was falsch war, und nicht mehr, was richtig bleibt. Die Rechtsanwälte verstehen mich nicht, sehen nur das Urteil als Damoklesschwert und nehmen daneben nichts ernst. Ich beginne, ihnen mit Schweigen zu antworten, weil ich dahinter gekommen bin, dass sie mich nicht verstehen können. Natürlich ist eine Verteidigung nicht mehr besonders interessant und gewiss auch deprimierend, wenn das Urteil bereits politisch vorfixiert ist. Vielleicht ist es das, was sie meinen mit: Sie könnten nur noch die Hände heben, wenn ich nicht ins Kronzeugengeschäft gehe. Nach jedem Anwaltsbesuch habe ich schlaflose Nächte. Sie sprechen das Wort Kronzeuge aus, wie jeden anderen juristischen Begriff. Für mich ist es jedesmal ein herznaher Axthieb. [36] V I E T T 1996a: 52 Liebe. Ich gerate in Wut, wenn ich sehe, wie Du dich abmühst, rumhetzt und betteln musst, um Arbeit zu finden, und wenn ich dran denke, dass Hundert‐ tausende genauso durch ihren Alltag stürzen in der Hoffnung, dieser oder Wege in die Radikalität 249 <?page no="250"?> jener zusammengeschusterte, unqualifizierte Lehrgang, Beratung, Anleitung etc. könnte ihre Zukunft sein. Existenzrecht gibt es nun nicht mehr. Der Westen kennt nur den Existenzkampf, die Existenzmöglichkeit. Kriechen um Arbeit, um Sinn und Aufgabe im Leben. Welch herrliche Freiheit, gell? Bleib trotzdem gelassen und schau bei allem ganz genau hin. 90 % von dem, was sie zu Euch rüber schaffen, ist nichts als hohle Scheiße. [37] V I E TT 1996a: 58 f Abschaffung der Apartheid, Befreiung von der Herrschaft der weißen Minder‐ heit, Selbstbestimmung sind ja Forderungen, die den Westen furchtbar in die Klemme bringen. Einerseits muss er sie mittragen, weil er sich ständig als Hort der Menschenrechte legitimieren will, andererseits wäre die Realisierung der Menschenrechte nicht nur in Südafrika sondern in der gesamten Dritten Welt eine höllische Perspektive für ihn, nämlich sein Untergang. Darum auch die bigotte Politik der BRD. Umgehung der Wirtschaftssanktionen, heimliche Waffenlieferungen an das Rassistenregime, Unterstützung der Anti-ANC-Kräfte bei gleichzeitiger Beteuerung, für die Herstellung der Menschenrechte auch für die schwarze Bevölkerung zu sein. Der Westen ist auf die Durchsetzung der Menschenrechte weder geistig/ kulturell noch politisch/ ökonomisch vorbereitet und auch nicht willens. Im Gegenteil - die ganze Asyl-Politik in Europa ist von Verschreckung, Abschottung und Eigenbehauptung getrieben. [38] V I E T T 1996a: 62 f Ich hab ein Problem damit, die BRD-Justiz zu legitimieren, über die Menschen aus der DDR zu richten. Eine Justiz mit barbarischer Rechtsgeschichte, in der noch dreißig Jahre und länger nach der Zerschlagung des dritten Reichs Ver‐ antwortliche für Massenmord, Deportationen, Folterungen, ungezählte Terror- und Todesurteile Positionen beziehen, anklagen und richten durften. Von dieser Geschichte und diesem Geist hat sie sich bis heute nicht befreit. Das ist unübersehbar in ihrer traditionell unterschiedlichen Haltung zum Rechts- und Linksradikalismus. Und auch in ihrer Befangenheit zur Kriminalität der mittleren und hohen Ebenen von Wirtschaft und Politik. „Aber es ist doch nur die Stasi, ein Apparat, der den Sozialismus schon lange verraten hat“, sagen mir viele. So einfach ist das aber nicht. Die Wahrheit ist viel realer und komplizierter, denn „den Apparat“ gibt es nicht, er ist nur Mystik, real sind allein die Menschen darin, mit denen ich vielschichtige und schwierige Beziehungen eingegangen war, und die Bilanz dieser Beziehungen sieht allemal anders aus, als die abstrakten Vorstellungen der Außenstehenden. Sie sagen auch völlig richtig, dass es keine Geheimnisse mehr zu verraten gibt. Da waren die Betroffenen 250 Manuel Vogel <?page no="251"?> längst so frei, sie selbst offen zu legen. Teils aus Opportunismus, teils aus Lebens- und Zukunftsangst. Allerdings hat ein jeder die Variante gewählt, von der er glaubt, sie schütze ihn am besten vor einer Anklage. Das ist das gute Recht jedes Beschuldigten. Ich soll nun helfen, die richtige Variante herauszufinden, und darin liegt die Möglichkeit, dem „Lebenslang“ zu entkommen. Ein klares Geschäft. Ich bin nicht in der Lage, es anders zu nennen. Was mir dieses Geschäft so problematisch macht, ist nicht in erster Linie eine Belastung ehemaliger MfS-Offiziere, denn hier ergibt jede vernünftige juristische Prognose, dass diese Belastung nur sehr gering sein wird, sondern dass ich meinen lebenslangen Kampf gegen die Käuflichkeit des Menschen, gegen das Warenverhältnis in den Beziehungen verliere gegen mich selbst. Ich weiß nicht, ob ich auch mit dieser Niederlage noch fertig werden kann. [39] V I E T T 1996a: 66 f Sie wissen das vielleicht schon, ich stehe bereits mitten im Prozess. Ihr Brief vom November hat mich nochmal in Unruhe gebracht. Nicht allein Ihre, auch die Ratschläge vieler FreundInnen, die sich so kurz vor Beginn des Verfahrens noch mal mit höchster Eindringlichkeit massierten, haben meine Entscheidung nicht unberührt gelassen. Sie fragen sich, wie weit ich mich von der „inneren Bindung an den Terrorismus gelöst und zu anderen Werten gefunden habe“ und gehen davon aus, dass meine Ablehnung der Kronzeugenregelung mit dem Grad dieser inneren Ablösung zu tun hat. Der Terrorismus ist ja kein Wert an sich, sondern ein politisches Mittel, zu dem man kommt durch eine falsche Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und zu dem man greift, weil man glaubt, dass es keine andere Chance gibt, den Lauf einer Politik aufzuhalten, die in der Konsequenz zerstörerisch für Mensch und Umwelt ist. Die Frage nach der Legitimität revolutionärer Gewalt kann ja nie grundsätzlich beantwortet werden, weder in ihrer Bejahung, noch in ihrer Verneinung. Ihre grundsätzliche Bejahung, der ich verfallen war, kann eben zu individuellem Terrorismus führen, zu ungerechtfertigten Opfern und zu persönlicher Schuld. Ihre grundsätzliche Verneinung führt zur ewigen Herrschaft des marodierenden Egoismus der Starken. Von der Vorstellung, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa ließen sich mit gewaltsamen Methoden verändern, hab ich mich bereits vor zehn Jahren gelöst und das manifestiert sich mit meinem Leben in der DDR. Hier liegt nicht das Problem. Um einem „Lebenslänglich“ zu entkommen, soll ich partizipieren an einem Geschäft, das von Verrat und Käuflichkeit lebt. Unterwirf dich, und sei mir nützlich …, das ist der Rhythmus kapitalistischer Beziehungen, kapitalistischer Funktionsweise. Mit und in meinem ganzen Leben hab ich mich gegen diesen Rhythmus gewehrt, jetzt soll ich ihm erliegen? Wege in die Radikalität 251 <?page no="252"?> [40] V I E T T 1996a: 69 Wir sind nicht die ersten und die letzten, die ihrer Werte und ihrer Identität beraubt werden sollen, aber wir sind auch nicht die ersten und letzten, denen es unmöglich ist, zu den Werten des Kapitals zu konvertieren. Und das ist die Aussicht. Auch wenn es jetzt erstmal nach Ende und Trostlosigkeit aussieht. Liebe Gisela, ich weiß wohl, dass dieses historische Verständnis uns keinen Moment von unserem ganz persönlichen Versagen, unserer ganz persönlichen Schuld - wie nuanciert sie auch sein mag - entlastet. Aber diese ganze Täter/ Opfer-Terminologie und -Debatte ist gestrickt aus der Ideologie des Siegers und seinen politischen Interessen. Sie ist verheerend für das Selbstbewusstsein der DDR-Menschen, die sich jetzt nur noch aussuchen dürfen, entweder das Böse oder das Schwache gewesen zu sein. Dieser Art von Aufarbeitung müssen wir uns verweigern und widersetzen, sie zielt auf die Auslöschung unserer authentischen Erfahrungen. [41] V I E TT 1996a: 81 Sie wollen nicht sehen, dass das Proletariat mit seiner Geschichte gebrochen hat. Im Westen schon lange und im Osten 89, als es seine Organisationen davongejagt hat und zum Kapital übergelaufen ist. Natürlich sehe ich auch, dass die kommunistischen Parteien und besonders die SED es nicht geschafft haben, das Proletariat zu emanzipieren, aber erstens sind die kommunistischen Parteien gerade auch in der DDR Teil desselben und zwar der organisierte, was zu übersehen immer ein beliebter Trick aller linken und rechten Antikommunisten ist, und zweitens können wir nach 150 Jahren Aufklärung und Kampf nicht mehr die Augen davor verschließen, dass die Arbeiterklasse kein Interesse mehr daran hat, die ökonomische und politische Macht zu erobern, bzw. überhaupt als ge‐ schichtliches Subjekt zu handeln. Sie wollen nur teilhaben an den bürgerlichen Errungenschaften, egal ob sie auf Ausbeutung und Unterwerfung beruhen. Aber die KPD ist auch blind gegenüber möglichen anderen fortschrittlichen Kräften. Sie erkennt einfach nicht, dass die bürgerliche Ideologie wirklich bestimmend ist im Moment und eben nicht Thälmann. (Ein Artikel hieß: Thälmann hätte nicht aufgegeben.) Wir können die gegenwärtige Realität verwünschen und hassen, aber als politische Partei muss ich von ihr ausgehen und nicht von den guten alten Zeiten. Was damals auch harte und ebenfalls unterlegene Gegenwart war, kann heute nicht als Verklärung wiederbelebt werden. Das ist ja die Absurdität, mit der wir kaum fertig werden können, dass die kapitalistische Produktions‐ weise mit ihren bürgerlichen Werten sich durchgesetzt hat, obwohl sie der Menschheit die Lebensgrundlagen raubt und wegfrisst und das Individuum in 252 Manuel Vogel <?page no="253"?> archaischer Selbstbehauptung festhält oder dahin zurückführt. Es nützt aber nichts, sich an eine proletarische Mission zu klammem, die es nicht mehr gibt. [42] V I E T T 1996a: 83 f Alle aufgeklärten Schichten in den kapitalistischen Gesellschaften wissen, dass die Menschheit keine Chance hat, wenn der Antrieb der Dynamik zu dieser zerstörerischen Lebensweise nicht verändert wird. Trotzdem wird dieser An‐ trieb gepriesen und gefördert als Motor hemmungsloser Bedürfnisbefriedigung und Selbstverwirklichung, wird wahrgenommen als Motor der Freiheit. Sie leben gut in diesem unbewältigtem Verhältnis von individueller Freiheit und Verantwortungslosgkeit fürs Ganze. [43] V I E TT 1996a: 92 Ja, ich weiß natürlich, was für ein bigottes Hundeblatt die taz ist. Eine Geißel, die ich täglich auf mich nehme. Man kann sie nicht rechts liegen lassen, weil sie der ziemlich präzise Ausdruck dessen ist, was seit einigen Jahren in der linksliberalen meinungsbildenden Schicht läuft: die Legitimierung und Bildung von Konsens mit dem System, die wohlwollende, kritische Hinwendung zu den Machtzentren. Dies hat mit dem Verfall der sozialistischen Staaten einen exzessiven Schub bekommen, bis hin zum primitiven Antikommunismus. [44] V I E T T 1996a: 93 Es ist nun mal so, dass die vielen Jahre in der DDR-Realität mein früheres Verständnis von politischen Prioritäten enorm relativiert haben, als bewusster Prozess, denn ich habe ja auch in der DDR nicht aufgehört, politisch zu denken und zu handeln. Aber wie gesagt, diese Wichtigkeit, oder besser diese Exklusivität, die die bewaffnete Politik in der BRD hatte (für uns selbst vor allem), kam mir dann in der DDR sehr übertrieben, sehr metropolentypisch vor, im Verhältnis zu den unglaublich vielfältigen und bisher unlösbaren Problemen bei der gesamtgesellschaftlichen Realisierbarkeit sozialistischer Inhalte. Kurz gesagt, ich habe eine ziemliche Zeit gebraucht, die zwei politischen Lebensab‐ schnitte zusammenzubringen, um sie als Einheit verteidigen zu können. Auch so eine Vereinigung, die aber nicht wie die staatliche auf die Eliminierung oder Beschmutzung des einen Teils der Geschichte aus ist … Wir haben nun mal keine Erfahrung zu verschwenden und wegzuschmeißen. [45] V I E T T 1996a: 97 f Der bewaffnete Kampf ist von der RAF und auch von mir damals zur Ideologie gemacht worden. Ich habe diese Ideologie nicht mehr, er ist eben nur ein Wege in die Radikalität 253 <?page no="254"?> politisches Instrument, welches angewandt werden kann, wenn es von einem tragfähigen Teil der Bevölkerung für notwendig gehalten wird, und wenn dieser Teil auch bereit ist, an den politischen und militärischen Strukturen mitzuarbeiten. Der bewaffnete Kampf kann keine Lebenshaltung sein, etwas, woran allein die revolutionäre und persönliche Moral gemessen werden darf, etwas, was immer legitim und prinzipiell revolutionär ist. Das ist Quatsch. Er ist Mittel, nicht Inhalt. Die Ideologisierung, die Verabsolutierung als revolutionäres Nonplusultra, ist die Scheiße, die 20 Jahre durch uns und die Trabantenszene gelaufen ist, darum war auch die Überprüfung des Konzepts nicht möglich. Sie war bereits nach Schleyer fällig. Nicht weil die Sache so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist, sondern weil an ihr am deutlichsten wurde, dass es keinen sozialen Druck und keinen politischen Willen für eine bewaffnete Opposition in der BRD gab. Es gab nur den selbstgerechten Staat, uns, die kleine Clique, die ihn provozierte, und eine kommentierende riesige Zuschauermenge von links bis rechts. Dies ist kein Verhältnis, das den bewaffneten Kampf politisch rechtfertigen könnte. [46] V I E T T 1996a: 115 Ich spüre den Knast mit jedem Jahr stärker und kann ihn nicht mehr so ungebrochen ignorieren, ihm nicht mehr in allen Situationen widerstehen. Die immer wiederkehrenden selben Probleme der Frauen hier, ihre erschreckende Verfassung und Verfasstheit, die täglich präsente Ignoranz, Bequemlichkeit, Ab‐ lehnung und Verachtung der Vertreter des Apparates, ihre Selbstgerechtigkeit und unsere Ohnmacht, dieser Dauerzustand, dem ich mich nicht entziehen kann … Frisst mich langsam alles auf, dieses Unglück hier. Ich hab mich dem bisher mit meinem eigenen Bereich, mit Disziplin und ständig neu aufzubauender innerer Distanz entgegengestemmt, aber momentan fühle ich mich ganz durchlöcheıt und wackelig, möchte mich durch Passivität statt wie sonst durch Mobilisierung erholen. Ich brauche Erholung, emotional und physisch. Aber die gibt’s hier nicht. Und die Situation draußen deprimieıt zusätzlich. Kein Licht … [47] V I E TT 1996a: 116 Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden im Konvoi mit drei vollen Autos, schwer‐ bewaffnet. Vorweg ein Motorradfahrer, der alle Parkplätze zur Kontrolle abfuhr. Ich saß zwischen zwei Beamtinnen auf einem schmalen Kindersitz, die Hände gefesselt, mit strammem Gurt ans Auto gefesselt, und die gefesselten Hände nochmal an meinen Hosenbund gebunden. Dies war noch ein Kompromiss, den ich mit dem Kommandoführer ausgehandelt hatte, sie wollten mich mit auf dem Rücken gefesselten Händen ins Auto quetschen. Die beiden Frauen 254 Manuel Vogel <?page no="255"?> sind eigentlich zwei ganz lustige Beamtinnen, die immer was zu lachen und zu scherzen wissen. Die martialische Autorität der Elite-Bullen, die ganze neuroti‐ sche Atmosphäre des Transports aber hatte auch ihnen vollkommen die Sprache verschlagen. Schweigend und schwitzend in der Hitze und Enge rasten wir mit 160 km/ h über die Autobahn. Eine widerliche Situation, die keiner Realität mehr angemessen ist. Nur noch Selbstdarstellung der Sicherheitsmaschine. [48] V I E T T 1996a: 117 Ich hab auf der Fahrt noch etwas abscheulich Fortschıittliches festgestellt. Als Sechsjährige konnte ich mich noch in den Getreidefeldem verstecken, jetzt findet kaum noch ein Hase in ihnen Schutz, so kurz ist der Halm gezüchtet. Alles wird zugerichtet. Natürliche Rohstoffe wie Stroh sind nicht mehr verwertbar, werden durch Kunststoffe ersetzt. Welch eine Plage ist die Profitwirtschaft doch für die Natur. Die Rückfahrt war noch tierischer. Das Auto hatte nahezu drei Stunden in der brennenden Hitze gestanden und war aufgeheizt wie ein Pizzaofen. Nach wenigen Minuten perlten die Schweißtropfen unter meinem T-Shirt am Körper herunter. Ich konnte mich ja nicht bewegen, es kitzelte und klebte. Die Beamtinnen rechts und links schwitzten ebenfalls hochrot und ergeben vor sich hin. Durchnässt, verkrümmt und verschwollen ächzte ich mich hier wieder aus dem Auto. Am nächsten Tag hab ich geschlafen, die Eindrücke waren kolossal. Wie es drinnen gelaufen ist, erzähle ich Dir beim Besuch. Von der Sommerwelt hab ich doch viele Impressionen mit in meine Box genommen. Ich hatte also auch mein Vergnügen, trotz allem. [49] V I E T T 1996a: 118 f Aber als ich diese Ungeheuerlichkeit vor meinen eigenen Augen hatte, drauf zugefahren wurde, hat es in einer Weise gewirkt, dass ich nur eine Assoziation haben konnte: Krieg, Vernichtung, Verbunkerung. Du kannst gar nicht auswei‐ chen, es überfällt dich. Ich fühle mit einem Mal alles nach, was ich weiß über die Perfektion von verwaltungsapparatemäßiger, planvoller, wissenschaftlicher und funktionaler Ausschaltung, Abweisung, Vernichtung und Zerstörung. Ich weiß plötzlich, wie sie gewesen sein muss, diese präzise Justiz-, Lager- und Zuchthausmaschine im Faschismus. Die „Normalität“ ihres Räderwerks nach innen, das Monströse nur zu erkennen von außerhalb und am Ergebnis. Wer von Deutschland was erfahren will, soll sich Stammheim ansehen. Mit seinen eigenen Augen, denn alle - auch kritische - Beschreibungen transportieren und hinterlassen noch eine Spur des Versuchs, das Ganze erklärbar, vernunftzu‐ gänglich zu machen. Stehst du aber davor, fällt jede Restvermittlung fort. Was du siehst und fühlst, hat nichts zu tun mit „Antiterror-Kampf “ und „Sicherheitsbe‐ Wege in die Radikalität 255 <?page no="256"?> dürfnis“, du wirst versetzt in einen Zustand, der nicht zur Gegenwart zu gehören scheint, die hast du gerade hinter dir gelassen, als du den adretten, spießig ehrpusseligen, verputzten Vorort von Stuttgart passiert hast, die Vorderseite von Stammheim. Dann öffnet sich der Ort und zeigt seine andere Seite, führt dich auf dieses Monstrum aus verschachteltem Stahlbeton und Stacheldraht, Stacheldraht, wo du hinsiehst, Stacheldraht, Stahl und Beton. Hier hat sich nicht Verteidigung von irgendetwas Zivilisatorischem konzentriert, was ja auch immer zur Legitimierung herhalten muss, hier haben sich die drei Gewalten der Elite ein Denkmal gesetzt, aus dem der Geist von Gestern und Morgen zuschlägt: Die Behauptung von tausend Jahren Machterhalt, die Vermessenheit von Selbstgerechtigkeit bis zum Größenwahn, die gnadenlose Selbstbehauptung durch Unterwerfung oder Vernichtung des Anderen. Dies sind die Merkmale der faschistischen Elite im Dritten Reich. Und auch dies ist da: Festung Europa, Schaltzentrale, Herrschaft durch Perfektion, absolutistische Kontrollstrukturen, martialische Zukunftssicherung. Der gegenwärtige Zeitgeist, Verbrämung, Verschleierung, Vortäuschung, Umschreibung, Schafspelzigkeit als Mantel, schwindet angesichts des Machtmonuments. Darum wirkt die Stammheimer Eindeutigkeit so deplaziert und darum rufen einige Liberale nach Abriss. Klar, sie ist ihnen peinlich, widerspricht gnadenlos ihrem „Civil-Society“-Verständnis. Das war von draußen. Drinnen dann auf den ersten Blick modern organisiertes Gefängnis. Normalität in der Maschine: Freundlich höfliche Wärter, die ich nach der Möglichkeit einer Tasse Kaffee fragen kann, die ehrlich bedauernd verneinen, die guten Appetit wünschen und fragen, ob ich sonst noch was benötige. Aber dann werde ich in den Saal geführt und finde mich erst gar nicht zurecht in der Situation: Weißes, weißes Licht, weißer unwirklicher Raum, als wolle die Macht ihre Unschuld feilbieten. Weißes glattes Gefühl, alles steril, abgemessen, mit Kälte durchdacht, emotionstötend. „Nüchterne Atmosphäre“ nennen verständnisvolle Medien das, aber es ist ausgeklügelte Manipulation. [50] V I E TT 1996a: 129 f Aber nun ist gerade die weit aufgeklärtere und selbstbewusstere Arbeiterklasse der sozialistischen Staaten mit fliegenden Fahnen zum Kapitalismus überge‐ laufen. Sie war überhaupt nicht an der ihr objektiv zustehenden geschichtlichen Verantwortung interessiert, die sie ja 89 durchaus in die Hand hätte nehmen können, als ihre sie gängelnde Führung entmachtet war. Daran war ihr nicht gelegen, sondern an höherer Konsumfreiheit. In Krisenzeiten ist die Arbeiter‐ klasse in Deutschland immer eher für konservative bis repressive Lösungen zu mobilisieren gewesen. Da kann die DKP doch nicht vom klassenkämpferischen Bewusstsein sprechen. Sie muss doch sehen, dass die westlichen Arbeiter, und 256 Manuel Vogel <?page no="257"?> besonders die deutschen, jede Ausgrenzung der noch stärker Entprivilegierten für gut und richtig befinden, sich nicht mehr nach unten solidarisieren können und nach einem halben Jahrhundert konservativ/ sozialdemokratischer Führung Träger und Multiplikatoren kapitalistischer Werte sind. Sie verleugnen ihre revolutionäre Geschichte, revolutionäre Ambitionen sind nicht mehr auffindbar. [51] V I E TT 1996a: 146 Die Top-Genossen der PDS halten die Entwicklungen der SPD und der Grünen für deren spezifische Fehler/ Schwäche, nicht für das, was sie wirklich sind: ein objektiv folgerichtiger Prozess, der sich aus dem Willen zur Machtpartizipation innerhalb des kapitalistischen Systems ergibt. Sie tun grad so, als würde bei ihnen alles anders laufen, weil sie ja aufrechte demokratische Sozialisten sind. Das ist Vernebelung der Realität und auch Verweigerung objektiver Analysen. Eine Partei kann ja zweierlei sein: politische Heimat, also Adresse, Bindung und Absorption gesellschaftlicher Aktivitäten und damit eine politisch/ kulturelle Institution, die dem Individuum Sinn gibt. Sie kann auch ein Instrument der Veränderung des Gegebenen sein. Das ist aber ein anderes Bewusstsein. Vom PDS-Vorstand habe ich den Eindruck, dass er die PDS zu einer Institution - einer fortschrittlichen natürlich - unter den anderen Institutionen machen will, dass er um diesen Platz kämpft. Ich weiß nicht, wieviel Fortschritt auf diesem Weg herauskommt, aber ziemlich sicher ist, dass dieses Bewusstsein von Kampf die Partei geradewegs in denselben Prozess führen wird, wie ihn die SPD schon lange und die Grünen jetzt hinter sich haben. [51b] V I E TT 1996a: 148 Unsicherheit ist ein Grundgefühl kapitalistischen Seins. Darum wählen die Leute auch immer konservativ. Denn konservativ heißt, das Gestern festhalten. Und das Gestern haben wir ja so grade noch geschafft. Alles Weitere ist vollkommen unklar. [52] V I E TT 1996a: 153 War die DDR der bessere Staat für Sie? Ich habe von Anfang an keine Vergleiche mit dem Westen angestellt. Das finde ich auch heute noch unakzeptabel. Eine Degradierung. Schließlich ging es darum, eine andere Gesellschaft zu entwickeln. Mein erster Eindruck war: Geschichte im Pionierstadium des Sozialismus. Das fand ich aber ganz normal. Was waren denn 40 Jahre gegen so einen übermächtigen Gegner? Ich hatte Respekt vor dem, was ihm in der kurzen Zeit abgerungen worden war. Es gab keinen Moment der Sehnsucht nach dem Westen. Nach bestimmten Menschen, Wege in die Radikalität 257 <?page no="258"?> die im Gefängnis waren, ja. Der Westen war für mich verloren, abgebrannt. Keine Chance auf menschliche Entwicklung. Klar war die DDR der bessere Staat. Wenn die Menschheit sich eine lebenswerte Überlebenschance sichern will, wird sie sich den jetzt so laut denunzierten Grundlagen der ehemaligen DDR zuwenden müssen: gesellschaftlicher Besitz an Grund, Boden und Produktions‐ mitteln, Ausschaltung des zerstörerischen Profitsystems, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit. [53] V I E TT 1996a: 153 Wie haben Sie dann in der DDR gelebt? In den ersten Jahren in Dresden habe ich eine Ausbildung als Repro-Fotografin gemacht. Das waren die Jahre der Orientierung, des Lernens. Gewohnt habe ich mal allein, mal mit meiner Freundin im Neubaugebiet. Die Neubaugebiete, die ja auch mit so herzhafter Vorliebe von den bürgerlichen Linken als Schlafburgen denunziert werden. Also diese grenzenlose Borniertheit musste ich erstmal fassen: Leute, die ohne Erschütterung in einem System leben, das mehrere Hunderttausende Obdachlose produziert, Leute, die bei jedem Stadtgang über diese Obdachlosen steigen, fühlen sich getrieben, Verachtung auszuspeien über eine Lösung, die jedem eine bezahlbare Wohnung mit achtbarem Komfort gestattete. [54] V I E T T 1996a: 154 Haben Sie geglaubt, die DDR sei reformierbar? Doch, und zwar auf ihren eigenen Grundlagen, aus ihren eigenen sozialistischen Kräften heraus. Die Hinwendung der Opposition zum Westen hat jede Reform‐ ierbarkeit zunichte gemacht. Die folgenreiche Blödheit, zu glauben, die BRD könnte an einem „besseren“ Sozialismus interessiert sein, war aus der Eitelkeit der Bürgerrechtler geboren, oder eben aus der Feindschaft zum Sozialismus. [55] V I E T T 1996a: 155 Sie sind die einzige Exilantin aus der DDR, die keine Aussagen gegen andere RAF-Mitglieder gemacht hat. Warum? Die RAF und ich haben einen gemeinsamen Kampf geführt. Wir haben um die gleichen Ideale, Bedürfnisse und Ziele gekämpft und tun es auch heute noch, wenn auch ganz anders: ein vom Kapital befreites Leben, ohne Ausbeu‐ tung, ohne Unterdrückung, ohne das lebenszerstörende Profitsystem. Für die Gleichberechtigung und Würde jedes Menschen und aller Völker. All dies, mich 258 Manuel Vogel <?page no="259"?> selbst hätte ich verraten, wenn ich meine damaligen MitkämpferInnen aus der Bewegung 2. Juni verraten hätte. Das ging nicht. [56] V I E T T 1996a: 156 Ich denke nur, dass nicht allein in Deutschland, sondern weltweit die revolutio‐ nären Kräfte eine lange Phase der moralischen Erholung, der Neuorientierung, der Neuorganisierung durchmachen, bevor sie wieder fähig werden, dem Impe‐ rialismus erneut Grenzen zu setzen oder ihn zurückzuwerfen. Diese Zeit wird das Kapital zielstrebig nutzen, um Positionen und Regionen zurückzuerobern, die ihm seit 1917 verloren gingen. Die Eroberung ist voll im Gange: Angriff auf gewerkschaftliche Grundpfeiler, Abbau sozialer Kompensationen für die Opfer der Marktwirtschaft, Nutzung reaktionärer, faschistischer Ideologien, Umdeutung, Neutralisierung der faschistischen Geschichte, die juristische und politische Verankerung militaristischer Optionen zur Wiederherstellung und Absicherung der Vorkriegshegemonie über Osteuropa, den Balkan und Afrika. Deutschland treibt die gesamtimperialistischen Interessen voran. Es gibt im Moment keine Kraft, die gegensteuern kann. Das müssen wir jetzt aushalten. Als Sie den Kampf aufnahmen, war das anders? Rückblickend mag es ja naiv oder töricht erscheinen, dass wir versucht haben, in der BRD durch bewaffnete Aktionen revolutionäre Verhältnisse einzuleiten. Das ist auf ganzer Linie gescheitert. Aber Ende der sechziger Jahre sahen wir eine Chance in der moralischen Zerrüttung und Verschlissenheit der BRD und aller imperialistischen Staaten. Diese Chance wurde in fast allen kapitalistischen Staaten von revolutionären Kräften ergriffen. Das war ja wie ein Feuer. Aber wir haben am stursten daran festgehalten. Haben Sie die Erklärung der RAF zum Waffenstillstand begrüßt? Die Einstellung des bewaffneten Kampfes war zwingend. Kam spät. Er hatte schon lange nichts Positives mehr vorangebracht. Wir dürfen aber die Erfah‐ rungen aus dieser Geschichte nicht liegenlassen. Die eine Erfahrung ist, dass die repressive Entfaltung des Staates keine rechtsstaatlichen Grenzen mehr kennt, wenn es um die Bekämpfung einer fundamentalen Opposition geht. Die andere ist die, dass, wenn revolutionäre Entschlossenheit und revolutionäre Moral selektiv bleibt, die Frage nach organisierter revolutionärer Gewalt anders entschieden werden muss, als wir es vor 25 Jahren getan haben. Wege in die Radikalität 259 <?page no="260"?> [57] V I E T T 1996b: 18 Was uns in die Radikalität trieb, war die soziale Kälte einer herzlosen Kriegs‐ generation, die ihre beispiellosen Verbrechen leugnete oder verdrängte, die unfähig war, uns anderes als Besitzdenken und Anpassung zu lehren, die den Vietnamkrieg unterstützte, weil sie ohne Umschweife von der Vernichtungs‐ strategie gegen die „Jüdische Weltverschwörung“ zur Vernichtungsstrategie gegen die „Bolschewistische Verschwörung“ übergegangen war, eine Genera‐ tion, die nichts dabei fand, dass ehemalige Massenmörder zu dekorierten Helden der Demokratie gekürt wurden. Unsere Weigerung, daran teilzunehmen, uns zurechtstutzen und kaufen zu lassen von dem Konsum-Klimbim und der Talmi-Moral, die im Kern nichts als Anpassung an ein verlogenes unterworfenes Menschenbild und Menschendasein ist, unsere Abscheu vor dieser verschla‐ genen Elite-Gesellschaft, die aus Eigennutz, Profit- und Machtgelüsten oder aus traditioneller Beschränktheit letztendlich immer nur Zerstörung auf breiter Bahn zustande bringt, unsere Lust, diesem ganzen verkommenen Laden „vor den Koffer zu scheißen“, hat uns zusammengebracht. Zuerst auf der Straße, in den Hörsälen, in politischen Aktivitäten voller Vielfalt, Phantasie, Übermut, Leidenschaft, Empörung und später dann in organisierter Härte. [58] V I E TT 1996b: 31f Im Sommer waren alle Fenster und Türen geöffnet, damit auch in der hintersten Gartenecke das Radio zu hören war. 1953 im Juni donnerten täglich die Namen Eisenhower, Ollenhauer, Adenauer über die Gemüsebeete, vor denen ich hockte und Unkraut jätete. Ich war neun und verstand nichts. Die Leute im Dorf standen häufiger als sonst an ihren Gartenzäunen zusammen und nickten mit den Köpfen. Jacobsen, unser Nachbar, saß ganze Nachmittage lang mit der Frau in der Stube und trank Likör. Wenn er ging, war sein „Heil Hitler“ noch ein bißchen lauter als gewöhnlich. Allein schon aus der dröhnenden Roheit der Namen dieser Männer war Unheil zu spüren. Immer wieder hörte ich den Namen Eisenhower und dachte an unseren Dorfschmied, den Eisenhauer, diesen unbeherrschten, brutalen Kerl, der den Lehrlingen in den Rücken schlug und den Pferden mit seinen schweren Holzschuhen in den weichen Bauch trat, wenn sie beim Beschlagen ihrer Hufe nicht stillstehen konnten. [59] V I E TT 1996b: 34 f. Die Nachkommen der Kriegsgeneration sollten nicht nach Ursachen fragen, und die Massen sollten schnell vergessen, was sie nach 1945 alles hatten ändern wollen. Sie hatten sich leicht betrügen lassen um ihre Hoffnungen und Einsichten, die aus der Not und Schuld der zwei Weltkriege geboren waren. 260 Manuel Vogel <?page no="261"?> Vergessen die großen Sozialisierungsprogramme für die Schlüsselindustrien und Finanzimperien, vergessen die überwältigende Mehrheit für fundamentale soziale Umwälzungen, vergessen der Wille, den Militaristen und Kapitalisten ein für allemal den Boden für ihre Kriegs- und Eroberungspolitik zu entziehen. Alles vergessen! Statt dessen duldeten sie die Räuber, Mörder und Kriegsverbrecher in ihrer Mitte und auch an der Spitze des Staates. Statt dessen Verdrängung, wieder Erziehung zur Anpassung, zum blinden Gehorsam, zum Schweigen, zum Wegsehen. Und wieder dieses barbarische Vergnügen, sich besser, tüchtiger, größer, wertvoller zu fühlen. Besser als die „armen Schwestern und Brüder in der Ostzone“, besser als die von der boomenden Wirtschaft ins Land geholten türkischen und italienischen Menschen, „Arbeitskräfte“, die ihnen nun den Müll fortschafften und die Straßen vor ihren Häusern kehrten. Die Deutschen waren wieder wer, es ging ihnen gut, und die Politik überließen sie „denen da oben“. [60] V I E TT 1996b: 68 Es folgten rastlose Jahre ohne Bindung, mein Bezug waren der gerade gegen‐ wärtige Tag und Job. Personen und Orte hatten keine Bedeutung. Ich versuchte herauszufinden, was ich konnte, was ich wollte und welchen Sinn alles hatte. Ich suchte, aber ich suchte wie eine Blinde, die im Dunkeln eine schwarze Katze sucht, von deren Vorhandensein sie nicht mal überzeugt ist. Für mein täglich Brot zog ich von einer Arbeit zur nächsten und probierte allerlei aus: Reiseleiterin, Cutterin, Hausmädchen, Bardame u. a. Ich strengte mich jedesmal wieder an, mich anzupassen, guten Willens zu sein, die Abfertigungen, das Schein-und-Sein auszuhalten, die Unterordnung zu ertragen, die vorgesetzte Autorität zu akzeptieren, wie hohl auch immer sie war. Während die Elite und ihre Öffentlichkeit sich mit Wirtschaftswachstum, NATO und militärischer Überlegenheit beschäftigte, lief ich ziellos durch die Straßen der Städte und Orte mit den Büchern von Sartre und Camus in der Tasche. Meine Einsamkeit und Ratlosigkeit nannte ich nun Existentialismus und füllte mit diesem Kunstgriff ein bißchen Sinn in meine Leere. [61] V I E TT 1996b: 70 In der Gesellschaft knisterte es schon ein paar Jahre, bevor die Magnetwellen einer rebellischen Generation auch mich endlich aus meiner selbstbezogenen Trübnis zogen. Die heftigen Bewegungen der Jugend in den Großstädten und an den Universitäten gelangten nicht als Erschütterungen in die Provinz - und das war in den Sechzigern noch die ganze BRD mit Ausnahme der drei, vier größten Städte -, sondern als Nachrichten. Die Zeitungen waren voll von explosiven Ereignissen. Täglich wussten sie Ungeheuerliches und Ungebührli‐ Wege in die Radikalität 261 <?page no="262"?> ches zu berichten: Pudding-Attentat auf den amerikanischen Präsidenten in der Frontstadt Berlin, Kaufhausbrand aus Protest gegen den Vietnamkrieg in Frankfurt, Kommuneleben, Straßenschlachten … Eine militante Radikalität hatte die Jugend erfasst. Jetzt wurde alles angegriffen und in Frage gestellt, was die etablierte Nachkriegsgesellschaft uns an Inhalten, Werten und Strukturen aufgezwungen hatte. Jetzt wurden die vermoderten repressiven Bildungs- und Erziehungsinhalte ans Licht gezerrt, die verrottete herrschende Moral entlarvt, jetzt wurden die Verdrängung der Komplizenschaft mit den Verbrechen des Faschismus angeklagt und die Autoritäten für unfähig erklärt. [62] V I E T T 1996b: 71 f Zunächst habe ich kaum eine Ahnung von politischen Zusammenhängen, aber der Aufruhr zieht mich an. Aus ihm ist der Ruf nach freien Beziehungen zueinander und zu anderen Völkern zu hören, nach Widerstand gegen Unterdrü‐ ckung, nach Gerechtigkeit, Solidarität und Selbstbestimmung. Das ist, wonach ich schon lange suche. Seit Jahren bin ich ziellos und zufällig herumgestolpert, wollte einerseits noch auf verschiedenen Wegen und Weisen mein Glück machen, wanderte andererseits mit den Fragen nach Sinn und Ziel ständig am Abgrund der Empfindung von Sinnlosigkeit und Leere. Ich habe ganz andere Wünsche als Geld, Konsum, Karriere und was damit an Akzeptanz, Ansehen, Macht und Autorität verbunden ist. Meine Wünsche sind nicht ausgereift, sie sind stumm und versteckt in Abneigung gegen die Hierarchie, gegen die Anpassung und Einordnung in ihre Lebensvorgaben, die mich erdrückten und mich immer nur mit erdrückten Menschen zusammenbrachten. Darum hatte ich es nirgendwo lange aus gehalten. Weder in den sogenannten geordneten Arbeits- und Lebensverhältnissen noch im Halbdunkel des Submilieus. Ich bin immer auf der Suche nach dem anderen, das ich nicht kenne und auch nicht definieren kann. Ich habe auf der Welt nur mich, ich muss also selbst dahinterkommen, ich muss es selber finden. [63] V I E TT 1996b: 75 f Ich war immerhin schon fünfundzwanzig Jahre alt, war in fast allen menschli‐ chen Gefilden herumvagabundiert und hatte ein dichtes Bündel unreflektierter Erfahrungen angehäuft, die ich nicht in Bewusstheit und Souveränität hatte umsetzen können. Sie hatten mich nur von einer Lohnarbeit zur nächsten weitergetrieben, von einem Ort, einem Menschen, einem Erlebnis zum nächsten, ohne dass sich meine Zusammenhanglosigkeit mit den Verhältnissen um mich herum aufgehoben hätte, ohne dass ich mich irgendwo zu Hause gefühlt hätte, ohne dass ich überhaupt die Schranken meiner politischen und sozialen 262 Manuel Vogel <?page no="263"?> Unaufgeklärtheit erkennen konnte und ohne dass mir ein für mich bedeutsamer Sinn für meine Existenz klar geworden wäre. Die letzten Jahre hatten sich nur um diese Frage gedreht. Sie steckte in jedem neuen Versuch. Hier in Berlin kam ich der Antwort mit allem, was ich erfasste, anfasste und unternahm, näher. Das machte meine Begeisterung aus, mit der ich alle Informationen in mich hineinstopfte, ich spürte, dass dies die Hefe für meine ewig nebligen Träume und Ahnungen von einem grundsätzlich sinnvollen Menschsein war. Hier löste sich meine innere Isoliertheit auf, und ich entdeckte, dass mein Zustand der Zustand meiner Generation war und dass es dafür Gründe gab. [64] V I E TT 1996b: 78 f Ich war zurück von einer mehrmonatigen Reise nach Nordafrika. Als Indivi‐ dual-Touristinnen mit Hippie-Allüren waren wir mit unserem alten VW-Bus losgefahren. Waltraud und ich. Eigentlich wollten wir unsere Beziehung ins Lot bringen. Zurück kam ich völlig verwandelt. Erbittert, empört und nicht mehr bereit, auch nur ein Jota auf die verlogenen Rechtfertigungen der Eliteländer zu ihrem fortdauernden Parasitentum an den arm gehaltenen Ländern zu geben. Die Reise hatte ein fundamentales Ergebnis. Sie drängte mich entschieden zum politisch-sozialen Engagement. Arm und Reich war für mich keine neue Erfahrung, auch nicht Erniedrigung und Ausbeutung, aber wir werden im Westen groß mit der Vorstellung, dass dies ein individuelles Schicksal der Tüchtigen oder eben der Untüchtigen ist. Alle offiziellen Informationen und Erklärungen verstellen den Blick für die verbrecherische Systematik in der Abhängigkeit der Armen von den Reichen. Was ich auf dieser und späteren Reisen in die benachteiligten, vom Kolonialismus ausgeplünderten Regionen der Welt sah, waren keine Menschen- und Völkerschicksale von göttlicher Vorsehung, das waren Ergebnisse einer jahrhundertealten räuberischen Besitz- und Machtgier der „zivilisierten“ westlichen Welt. Von hier kamen Gold und Silber, Edelmetalle und Edelsteine, Früchte und Gewürze, Pelze und Stoffe, Holz und Öl, Kaffee und Tee, die billigen Arbeitskräfte, die Kunstschätze unserer Museen. Von hier stammt die Grundlage, der Rohstoff unseres Luxus. In den Gassen stieg ich über Bettler und Krüppelheere und fand vor Entsetzen den Weg nicht mehr. Vor den Toren der Stadt schier endlose Plantagen der euro‐ päischen und amerikanischen Konzerne, riesige Parks und Villen, vermauert und gesichert gegen die „Lumpenmenschen“ in ihren Karton- und Sackhütten. Hungrig und aggressiv verfolgten mich die Kinderscharen. Unablässig bettelten sie nach irgendetwas Brauchbarem. Entschlossen und bereit, mich zu zerreißen. Weiß sein, heißt reich sein, heißt gnädig sein oder herrisch, heißt leben oder nicht leben lassen, das heißt die Chance auf Essen. Sie haben keine andere Wege in die Radikalität 263 <?page no="264"?> Wahl, als sich zu erniedrigen, zu rauben oder gar zu töten, um zu überleben. Als ich später Fanon las, habe ich sofort verstanden. Unsere Zuneigung und Solidarität zur „Dritten Welt“ war damals gewiss auch sehr romantisch, aber sie war gerecht, notwendig, beispielgebend und hoffnungsvoll. Wir gaben den Befreiungsbewegungen jedes moralische Recht, die weißen Okkupanten und Kolonisatoren aus ihren Ländern zu werfen und deren einheimische Satrapen zum Teufel zu jagen. Mit leidenschaftlicher Anteilnahme haben wir uns „Die Schlacht um Algier“ angesehen; der Sieg des Vietcong, der Fall von Saigon und der Sieg der Sandinisten waren Höhepunkte in meinem Guerilla-Dasein. Immer wieder zog ich blank, wenn ich zurückkam nach Europa. In diesen gierigen Schlund, diesen Moloch, der nicht aufhören kann, andere Länder und Völker auszusaugen und sich ihre Kräfte einzuverleiben, um ihnen anschließend seine Ausdünstungen zu verkaufen. Gibt es einen widerlicheren Beweis für die moralische Verkommenheit der westlichen Staaten als die Tatsache, dass sie die Gebirge ihres unverdaulichen Mülls, ihre Gift- und Strahlungsabfälle für eine Handvoll Dollar in die Dritte Welt kippen, dorthin, wo ihr obszöner und sinnloser Überfluss Armut und Elend produziert? Zurück von meiner ersten Reise, warf ich den ganzen Kreuzberger Mummenschanz aus meiner Wohnung. Die Schnörkel- und Trödlermöbel, den überflüssigen Szene-Konsum-Kitsch. Er belästigte mich jetzt, ich wollte Klarheit, Eindeutigkeit, Einfachheit. Ich mied die Kaufhäuser, die Luxusstraßen. Sie ekelten mich. Der Überfluss ist obszön. [65] V I E TT 1996b: 79 f Als Rudi Dutschke Ostern 1968 angeschossen wurde, war das für die Mehrheit der außerparlamentarischen Opposition kein Fanal zum organisierten Wider‐ stand, sondern ein Schlag, unter dem sie mehr und mehr zu schrumpfen und sich zu krümmen begann. Nachdem ihre Wut und Empörung noch einmal in einem großen kollektiven, militanten Angriff auf den Springer-Konzern explodiert war, begann der schleichende Rückzug der akademischen Mehrheit der Revolte, vorsichtig und klug geleitet von Repressionen und Integrationsangeboten der Großen Koalition und dann der sozialliberalen Regierung. Der „lange Marsch durch die Institutionen“ war die Parole des Rückzugs. An ihr zerschellte die Einheit des Aufstandes. Er segmentierte zu Gruppen, Grüppchen, kleinen Parteien, Komitees, Fraktionen, Initiativen, alle auf der Suche nach der wahren Ideologie, der richtigen Praxis. Die Trennung verlief an den Fragen: Recht auf Widerstand gegen den Staat, staatliches Gewaltmonopol, an der Umsetzung einer revolutionären Theorie in revolutionäre Praxis usw. 264 Manuel Vogel <?page no="265"?> [66] V I E T T 1996b: 81 f Dies war beileibe nicht meine erste Demonstration gewesen, auch nicht die erste Straßenschlacht, aber diesmal ist so etwas wie ein tiefer Bruch geschehen, der mich entschiedener und aggressiver gemacht hat. In der Nacht in der Kaserne, eingesperrt. Übermüdet, ungewaschen, verschrammt und in Kleidern auf der Pritsche liegend, ist mir die Spielerei vergangen. Von den tumben uniformierten Männern wie Dreck herumgestoßen und angepöbelt, von deren Vorgesetzten behandelt wie ungezogene Kinder, denen nur eine Tracht Prügel fehlt, wo dummes Zureden nicht hilft, nehme ich zum ersten Mal ein ganz persönliches Gefühl von Fronten wahr. Der Staat steht mir als personifizierte Autorität gegenüber, und zwar in seiner hohlsten und bedingungslosesten Gestalt, dem Polizeibeamten. Ich kann plötzlich nicht mehr wegrennen und hinter der nächsten Ecke lachen. Ich bin gefangen, sie können mir nahetreten, wie und wann sie wollen. Am nächsten Morgen brüllen sie uns von der Pritsche und bringen uns nacheinander zur Vernehmung. Diese Festnahme ist an sich kein Drama. Aber ich bin das erste Mal ganz konkret in den Fängen des Staates. Darauf bin ich nicht vorbereitet, auch nicht auf die eventuellen Folgen. Manche von uns werden am nächsten Tag wieder freigelassen, andere kommen in den Knast. Die Aussicht darauf hat mir in der Nacht meine bisherige Abstinenz von politischer und persönlicher Verantwortung deutlich gemacht, und es ärgert mich, dass ich in dieser Situation Angst habe - einfach weil ich bisher unbekümmert im Reich der Konsequenzlosigkeit gelebt habe und nun überrascht dasitze. [67] V I E TT 1996b: 84 f Wir bekämpfen alles, was dem verachteten System seinen Fortbestand und seine Legitimation sichern hilft: die bürgerlichen Gesetze, die bürgerliche Moral, das Eigentum, die Staatsmedien, die Justiz, die Polizei, die Gefängnisse, die Vorherrschaft der Männer, die Tagespolitik des Berliner Senats, die Außen- und Innenpolitik und vor allem die Banken. Wir sind ungeheuer radikal, militant und erkennen mit wachsendem Entsetzen und Abscheu den Gang der Dinge unter der Herrschaft des Geldes. Wir nehmen alles grundernst, was wir tun. Es ist wichtig. Ich bin wichtig. Wir sind wichtig. Jeder Steinwurf in die Glasfronten der Bankhäuser verbindet uns mit den Revolutionären in der ganzen Welt, mit dem Vietcong im Dschungel, mit dem ermordeten Che Guevara, mit den Tupamaros in Uruguay, mit den kämpfenden afrikanischen Revolutionären in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Namibia und Südafrika, mit den großen Schlachten der Arbeiterbewegung, die in den Straßen Berlins geführt wurden. Wege in die Radikalität 265 <?page no="266"?> Wir sind stolz, wir haben keine Angst, wir sind dem System entschlüpft, wir wissen Bescheid. [68] V I E TT 1996b: 86 Wir sind die größten Romantiker und hängen an der Idee, dass ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat, sich erheben und seine Würde erkämpfen wird. Wir halten die an den Rand gedrängten, kriminalisierten und ausgeboo‐ teten Menschen für mobilisierbar. Es gibt keine Kriminellen, sagen wir, sie sind alle Opfer des Profitsystems. Randgruppenstrategie! Das Subproletariat revolutionieren, bevor die Herrschenden es gegen die Revolution mobilisieren! Die Revolution scheint uns eine unzweifelhafte Perspektive. Nur eine Frage der Zeit, eine Frage der Intensität unserer revolutionären Entschlossenheit. [69] V I E T T 1996b: 94 Die USA verschärften ihre Aggression gegen Vietnam, ungeachtet und zum Trotz der weltweiten Proteste. Durch die systematische barbarische Bombar‐ dierung ziviler Ziele und die Verminung nordvietnamesischer Häfen wollten sie das Land in die Steinzeit zurückzwingen. Die RAF griff daraufhin die militärischen US-Einrichtungen in Heidelberg mit Autobomben an. Es folgten weitere Anschläge aus dem Untergrund auf Polizeihauptquartiere, auf einen Richter des Bundesgerichtshofs, auf den Springer-Konzern. Der bewaffnete Kampf war in der Offensive, aber schon zwei Monate später waren mehr Guerilla-Kämpfer im Gefängnis als noch im Untergrund. [70] V I E TT 1996b: 95 An Ulrike Meinhof wurde die „weiße Folter“ erprobt. Sie kam nach Köln-Os‐ sendorf in den „Toten Trakt“: einen unbelegten, von der übrigen Anstalt abgetrennten Trakt. Sie war akustisch und visuell von allem abgeschnitten. Die Wände ihrer Zelle und sämtliche Einrichtungsgegenstände waren weiß gestrichen, das undurchsichtige Fenster ließ sich nur einen Spalt breit öffnen, Neonbeleuchtung brannte Tag und Nacht, die Zelle war permanent unterkühlt. Ulrike schrieb, was mit ihr geschah in der Isolation: „Das Gefühl, es explodiert dir der Kopf … das Gefühl, das Gehirn schrumpelt einem allmählich zusammen wie Backobst. Das Gefühl, man stünde ununterbrochen unter Strom, man würde ferngesteuert, das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt … die Zelle fährt, man wacht auf, macht die Augen auf, und die Zelle fährt. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht absetzen … das Gefühl, man verstummt, man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren, nur noch raten . . . Kopfschmerzen, Flashs - Satzbau, Grammatik, Syntax - nicht mehr zu 266 Manuel Vogel <?page no="267"?> kontrollieren … Das Gefühl, innerlich auszubrennen … rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschance hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln; Besuche hinterlassen nichts. Eine halbe Stunde danach kann man nur noch mechanisch rekonstruieren, ob der Besuch heute oder vorige Woche war …“ [71] V I E TT 1996b: 95 f Die erste kollektive Aktion aus der Gefangenschaft heraus brachte meinen Kampfeswillen in Höchstform. Im Gefängnis ist man zuerst mit sich selbst eingesperrt, und so beschäftigte ich mich mit mir. Ich studierte interessiert, wie die Gewohnheit zu essen, der Appetit, dann der Hunger mit dem Willen gebändigt werden können. „Nun essen Sie doch“, drängten mich die Beamtinnen täglich. Ich hatte mit ihnen nichts auszustehen, sie waren freundlich, fast müt‐ terlich zu mir, ohne Interesse, den Anweisungen gegen mich noch persönliche Unfreundlichkeiten oder Schikanen hinzuzufügen. Es ging in diesem Fall aber nicht um meine persönliche Situation, und ich glaube, gerade dies machte mich besonders stark. Das freiwillige Verweigern von Nahrung bringt einen anderen Hunger hervor als der unfreiwillige Nahrungsentzug. Nichts essen zu können, weil es nichts gibt, stelle ich mir als körperliches Schmerzgefühl vor. Während des Hungerstreiks aber wirkt der Hunger wie eine Art Obsession, die es im Kopf zu besiegen gilt. In den ersten zwei, drei Tagen knurrt mir der Magen, dann beginnen meine Gedanken unaufhörlich um das „Essenwollen“ zu kreisen. Ich kann es nicht abstellen, und es wird so schlimm, dass ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren kann und nur noch damit beschäftigt bin, die Gedanken ans Essen niederzuhalten. Im zwanghaften Rhythmus kehren sich alle Vorgänge im Kopf zu dem einen Wunsch hin: essen. Körperlich fühle ich nichts Besonderes. So ist es also, denke ich, die Idee, essen zu müssen, besetzt deinen Kopf und will dich verrückt oder eben schwach machen. Sind meine Wünsche und Vorstellungen, für die wir streiken, nicht meine eigenen und nicht überzeugend stark, dann besiege ich die Obsession in meinem Kopf nicht, und mein Wille, nicht zu essen, widersteht dem naturhaften Trieb nur kurze Zeit. In dieser Phase musste ich mich täglich neu entscheiden, was ich wollte: essen oder zusammen weiterkämpfen. Jeder Tag brachte mich ein Stück über den Berg und trainierte mich im Umgang mit den Hungergedanken. Nach einiger Zeit hatte ich sie bezwungen, konnte wieder konzentriert lesen, schreiben und über anderes nachdenken. Wege in die Radikalität 267 <?page no="268"?> [72] V I E T T 1996b: 98 f Mit Gitte kann ich von Fenster zu Fenster reden, sie liegt schräg unter mir. Obwohl sie mir sympathisch ist, versuche ich oft, mich ihren Gesprächen zu entziehen. Gitte will mich politisieren. Sie lässt mir eine Unmenge RAF-Infos zukommen, die mich auf unangenehme Weise erregen. Ich will nicht, dass sie mich für blöd hält, und lese sie auch alle, aber es macht mir keinen Spaß, sie zu lesen. Ich finde sie ungeheuerlich sezierend, mitleidlos. Sie stoßen mich ab, egal wie richtig sie sind. Es geht um die Aufdeckung und Eliminierung bürgerlicher Prägung und Verhaltensweisen in uns, die uns im Prozess der Emanzipation und Kollektivierung aufhalten. Aber da lese ich Kritiken, die wie Züchtigungen auf mich wirken, und Selbstkritiken wie verzweifelte Unterwerfungen. Ich kann diese Radikalität nicht mehr von Gnadenlosigkeit unterscheiden. Die Worte verletzen wie scharfe Rasiermesser. Ich verschließe mich dagegen, und wenn Gitte mich ans Fenster ruft und fragt: „Wie findest du das? “, sage ich: „Hm, na ja …“. Ich kann ihr das nicht erklären, warum sich alles in mir gegen diese Form des Umgangs miteinander wehrt, eine Form, die jeden Inhalt erschlägt. Ich sage ihr nicht, wie lieblos und zersetzend ich das finde, und auch nicht, wie intellektualistisch das alles ist, was sie „Proletarisierung des Bewusstseins“ nennen. Einerseits fühle ich mich politisch noch sehr unreif. Darum komme ich mit dem Zwiespalt nicht zurecht. Vieles, was in den Infopapieren steht, empfinde ich als richtig, aber es ist alles verrückt überspitzt, die Forderung nach gleichem Denken, gleicher Wertung von Erfahrungen, das Nonplusultra in jedem Moment der Erkenntnis, das hinterher die Selbstkritik so schwer macht. Es ist immer die neue Ausschließlichkeit in den Gedanken der RAF-Genossen, die mich einschüchtert und die ich nicht mag. Sie beklemmt mich. Ich will aber das, was ich richtig finde, auch mögen. Dieses Verhältnis zur RAF habe ich niemals abwerfen können. Ich fand vieles richtig, aber ich mochte sie nicht. [73] V I E T T 1996b: 100 Was sie beiseite ließen: eine Bevölkerung, die einem Hitler, einem Goebbels, einem Himmler zugejubelt hatte, die ungerührt der millionenfachen Verschlep‐ pung und Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger zugesehen, die sich nicht aufgelehnt hatte gegen die zigtausend Todesurteile der Volksgerichte, nicht gegen den Krieg und die Versklavung ihrer Nachbarvölker, eine Bevölkerung mit einer Intellektuellenschicht, die emigriert war, anstatt den Widerstand zu orga‐ nisieren, eine Bevölkerung, der es dreißig Jahre nach diesen Verbrechen besser ging als jemals zuvor, deren Gedächtnis unter dem Wohlstand begraben wurde, mit einer Jugend, die ihre Freiräume ertrotzen durfte, eine mit der sozialliberalen Schmidt-Regierung verwobene liberale Intelligenzia und eine im Polizeigriff 268 Manuel Vogel <?page no="269"?> steckende schwache radikale Linke … Diese Bevölkerung würde sich in größter Mehrheit auf die Seite des Staates schlagen; und der kleine Rest würde stumm, entsetzt und überfordert der Konfrontation zusehen. Arbeitgeberpräsident hin, faschistische Vergangenheit her, sagten die fortschrittlichen Arbeiter und die Linken, dafür vier Leibwächter erschießen und ein Flugzeug mit zweihundert Geiseln nehmen … so viele Tote für die Freiheit der politischen Gefangenen … Soviel Gewalt nahmen sie nur vom Staat hin, nicht von Rebellen. [74] V I E TT 1996b: 108-111 Die Gerechtigkeit war auf unserer Seite, sie gab uns jede Freiheit, zu tun, was richtig und notwendig war, die alte Gesellschaft zu stürzen. So dachten und so handelten wir. Zu allem entschlossene illegale Verschwörer. Aus unserem Pro‐ gramm schäumte die Romantik. Es war wunderbar. Es entsprach und entsprang unseren Wünschen. Es war ein Luftschiff ohne Anker. Niemand wusste so recht, wer das eigentlich geschrieben hatte. Es war Anfang der Siebziger plötzlich in der Bewegung wie ein niedergeschriebener kollektiver Traum: 1. Die Bewegung versteht sich als Anfang einer Organisation verschiedener auto‐ nomer Gruppen der Stadtguerilla. 2. Die Bewegung ist bemüht, dauernd revolutionäre Praxis zu treiben. Nur so kann sie den Anspruch erheben, revolutionär zu sein. Sie versteht sich als antiautoritär, allerdings dürfen niemals der strategische Plan, theoretische und praktische Prinzipien und eine Guerilla-spezifische Disziplin fehlen. 3. Die Bewegung zählt sich nur insoweit zur Avantgarde, als sie ,zu den ersten zählt, die die Waffen ergreifen‘. Sie wird nicht dadurch zur Avantgarde, dass sie sich einfach so nennt. Das Gewehr allein und der Vollzug revolutionärer Aktionen genügen nicht, den Anspruch zu rechtfertigen. Die Bewegung muss zur Aktion übergehen, eine überzeugende revolutionäre Praxis treiben, sich den Massen durch Kontinuität und vermittelte Aktionen verständlich machen. Sie muss zeigen, dass allein die Aktion die Avantgarde schafft und dass jede Avantgarde überflüssig geworden ist, wenn die Aktionen vom Volk aufgegriffen und vermasst sind. 4. Im Zeitalter des entwickelten Imperialismus bedurfte es keiner neuen Ana‐ lysen, dass die Hauptaufgabe nicht der Aufbau einer Partei ist, sondern die Auslösung der revolutionären Aktion, die Schaffung einer Organisation der bewaff‐ neten, revolutionären Gegengewalt des Volkes gegen die organisierte Gewalt des Staatsapparates. 5. Die ersten Aufgaben der Bewegung bestehen darin, sich systematisch den von ihr geleiteten Aktionen zu widmen, wenn diese auch noch begrenzt sind. 6. Entscheidend für die Arbeit der Organisation ist die Fähigkeit der Gruppen und Initiativen. Kein Kommando und keine Koordinationsstelle, kein Zentralkomitee Wege in die Radikalität 269 <?page no="270"?> und keine Vollversammlung besitzt das Recht, die Autorität, die Initiative einer Gruppe zu verhindern, die darauf gerichtet ist, eine revolutionäre Aktion auszu‐ lösen. Wir gehen jedoch davon aus, dass jede Gruppe durch das Schaffen eines reichen theoretischen Fundaments in der Lage ist, nur solche Aktionen auszulösen, die geeignet sind, dem Volk zu dienen. 7. Die militärische Linie der Bewegung 2. Juni ist nicht von der politischen Linie zu trennen und ist ihr nicht untergeordnet. Wir betrachten beide Linien als untrennbar verbunden. Sie sind zwei Seiten derselben revolutionären Sache. Die Linie der Bewegung 2. Juni ist einheitlich politisch-militärisch. Sie ist revolutionär. Die legal arbeitenden Genossen arbeiten an der Basis, in den Stadtteilen, Betrieben, Basisgruppen, in den Schulen und Universitäten und sind bemüht, an der Verein‐ heitlichung der städtischen Massenfront mitzuwirken. 8. Die Genossen der Bewegung betrachten ihre Arbeit in der Massenfront, in der Logistik und in den bewaffneten taktischen Einheiten als Vollzeitarbeit. Im Zuge der zunehmenden Faschisierung der westlichen Industrienationen, im Zeichen der Prometheus- und Notstandspläne, im Zeichen der Handgranaten- und verschärften Ausländergesetze, angesichts der Militarisierung der Klassenkämpfe seitens des Kapitals und der verstärkten imperialistischen Bemühungen des Monopolkapitals besteht die Arbeit der Bewegung 2. Juni darin, durch Aufzeigen revolutionärer Interventionsmethoden zur Lösung des Grundwiderspruchs in den kapitalistischen Ländern beizutragen. Dazu gehört die direkte Unterstützung von Massenkämpfen, gehört die Propagierung von Kampfmethoden nationaler und internationaler Lohnabhängigenmassen, gehört die Aufklärung über Möglichkeiten neuer Kampf‐ methoden. Deshalb hängt der Erfolg der revolutionären Praxis der Bewegung von der dauernden, direkten und persönlichen Teilnahme der Mitglieder des Kommandos ab. 9. Die Bewegung 2. Juni ist nicht der bewaffnete Arm einer Partei oder einer Organisation. Die bewaffneten taktischen Einheiten der Bewegung sind die selb‐ ständigen politisch-militärischen Kommandos der Organisation. Zur ständigen Arbeit der legal arbeitenden Genossen der Bewegung, die noch nicht in den Unter‐ grund gezwungen worden sind, gehört es jedoch, innerhalb der Organisationen, in denen sie wirken, die Schaffung revolutionärer Milizen zu propagieren und zu initiieren. Wir unterscheiden nicht zwischen ,legal‘ und ,illegal‘. Erfolg bringen nur Aktionen, die die Herrschenden ,illegal‘ nennen. Eine erfolgreiche legale Aktion der Basis wird illegalisiert. Wer das nicht in Kauf nimmt, kann nicht revolutionär genannt werden. 10. Die Bewegung 2. Juni ist keineswegs dem ,romantischen Mythos‘ der Untergrundarbeit verfallen. Die Kader der Bewegung schätzen ihre Arbeit und ihr Risiko realistisch ein. Sie sind sich klar darüber, zusammen mit anderen 270 Manuel Vogel <?page no="271"?> Guerilla-Organisationen, wie z. B. der RAF, als Vorhut zur Schaffung einer Armee des Volkes zu hochgradigen Staatsfeinden erklärt zu werden. Dass der revolutionäre Tod im Zuge der verschärften Klassenauseinandersetzungen zunehmen wird, ist uns klar. Der Terror, der sich jetzt gegen die Kader der Stadtguerilla wendet, ist nur die Vorbereitung auf bestehende Klassenkämpfe. Der Krieg gegen Staat und Kapital wird ein langwieriger Krieg werden. Und gerade das Studium der deutschen Arbeiterbewegung zeigt uns überdeutlich, dass wir das Kriegführen lernen müssen. Das Kriegführen aber lernen wir nur in der Praxis, Praxis heißt für uns: Schaffung militanter legaler Gruppen, Schaffung von Milizen, Schaffung von Stadtguerilla - bis zur Armee des Volkes. Der Kampf gegen Staat und Kapital ist kein Kampf gegen Charaktermasken. Es ist ein Kampf gegen die 1,3 % der Bevölkerung, die über 74 % des Produktions‐ vermögens verfügen, samt ihren Handlangern in Uniform und Zivil. Unser Ziel ist nicht die Schaffung einer ,Diktatur des Proletariats‘, sondern das Zerschlagen der Herrschaft der Schweine über die Menschen, ist das Zerschlagen der Herrschaft des Kapitals, der Parteien, des Staates. Das Ziel ist die Errichtung einer Rätedemokratie. Das Regime der Schweine wird nicht durch Formeln beseitigt, sondern durch den revolutionären Kampf. Dieser Kampf kann nicht national geführt und gewonnen werden, er ist international. Die Bewegung arbeitet mit allen sozialistischen Guerilla-Gruppen der Welt zusammen, ja, dieses Programm lehnt sich an das unserer brasilianischen Freunde der MLB an. Die Bewegung 2. Juni ist Teil einer weltweiten sozialistischen Offensive, sie kämpft Schulter an Schulter mit der IRA, den Weathermen, der Gauche Proletarienne, den Roten Brigaden und allen anderen Guerilla-Organisationen. Die revolutionäre Guerilla aufbauen! Der organisierten Gewalt des Staatsapparates die organisierte revolutionäre Gewalt entgegensetzen! Sieg im Volkskrieg! Alle Macht dem Volk! Bewegung 2. Juni [75] V I E T T 1996b: 112 f Werner wollte, dass wir nach Westdeutschland gingen und dort in Orientierung an den „Roten Brigaden“ und „Gauche Proletarienne“ militante Zellen in den Großbetrieben aufbauten. Werner kritisierte unentwegt unsere Verbindungslo‐ sigkeit zur Arbeiterschaft: Wir können keinen bewaffneten Klassenkampf an der Arbeiterklasse vorbei entwickeln und führen. Eine revolutionäre Strategie kann sich nicht ohne die größte unterprivilegierte soziale Schicht der Lohn‐ abhängigen entfalten. Und außerdem ist Berlin zu eng für eine langfristige Wege in die Radikalität 271 <?page no="272"?> Perspektive im Untergrund. Die linke Basis ist zu beliebig, zu heterogen und auf Dauer unzuverlässig. Ohne Verbindung zur Arbeiterklasse werden wir verkümmern, prophezeite Werner. Bär und ich wollten auf keinen Fall nach Westdeutschland. Wir klebten an Berlin und waren nicht bereit und auch nicht fähig, ein neues revolutionäres Konzept auf einem vollkommen ungesicherten Boden zu entwickeln und praktisch zu beginnen. Wir vertraten die Position, dass die faschistische Ideologie, der fortentwickelte Antikommunismus und die Sozialdemokratische Partei jedes revolutionäre Bedürfnis der Arbeiterklasse ausgelöscht hat. [76] V I E TT 1996b: 114 f Ich genoss mein neues Leben im Untergrund. Ich hatte ein stolzes, starkes Gefühl der totalen Hingabe an eine Sache, für die seit Jahrhunderten die besten Menschen ihre Kraft und ihr Leben hingegeben hatten: für die Befreiung des Menschen, für eine Gesellschaft ohne Klassen. Dieses Ziel war wie eine nebelhafte ferne Sonne und doch eine kraftvolle magnetische Zukunft. Die Revolution war noch nicht wirklich denkbar, aber der revolutionäre Kampf für dieses Ziel war jetzt machbar. Es war nicht meine Aufgabe und nicht mein Bedürfnis, darüber nachzudenken, ob es jemals erreichbar sein würde. Mich erfüllte und befriedigte meine existenzielle Entscheidung, dafür zu kämpfen. Mit dieser Entscheidung hatte der übermächtige Imperialismus mit all seinen Instrumenten zur Niederhaltung von Rebellen seine Macht über mich verloren: die Verlockung, Verführung, die Verleumdung, Polizei, Gesetze, Gefängnis, Tod. Seine Vernunft und Logik erreichten mich nicht mehr. Ich war draußen, ich war etwas Neues, Eigenes. Nie in meinem Leben war ich sicherer und furchtloser als in dieser Zeit im Untergrund, dem Ort, der ein neues, anderes Sein außerhalb der hässlichen Welt gestattete. Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der staatli‐ chen Autorität und von gesellschaftlichen Vorgaben. Kein Gesetz, keine äußere Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt, zu meinen Mitmenschen, zum Leben, zum Tod. Wir hatten unsere eigenen Gesetze. Sie gründeten auf dem Recht, der kapitalistischen Geschichte von Habgier, Egoismus und Zerstörung Widerstand zu leisten. Es war mehr als ein Recht, es war eine moralische Notwendigkeit. Ich war ein Teil des ewigen Kampfes, der überall dort, wo die Unterdrückung nicht mehr ertragen wird, seine revolutionäre Spur hinterlässt. Die Spur der Gegengeschichte. An sie hatte ich mein Leben mit Haut und Haar angekoppelt, nur ihr war ich verpflichtet und verantwortlich. Gegenüber dem herrschenden System aber war ich vogelfrei. Frei wie ein Vogel, frei von Angst 272 Manuel Vogel <?page no="273"?> vor Verfolgung, vor der Zukunft und vorm Sterben. Die Toten der Revolution lassen ihre Kraft und Liebe den Weiterkämpfenden. [77] V I E TT 1996b: 118 f Im Tegeler Forst und im Grunewald hatte ich das Schießen gelernt. Eine kleine, handliche 9-mm-Beretta mit Geschichte lag nachts unter meinem Kopfkissen und steckte, wenn ich die Straße betrat, in meinem Gürtel. Sie war einst silberglänzend gewesen. Die Zeit hatte Rostnarben in die Oberfläche des Stahls gegraben, ganz so wie die Spuren des Lebens in die Haut eines reifen Menschen. Mir gefiel die alte tadellos funktionierende Waffe. Ihr war der Partisanenkampf in nasskalten Wäldern und Bergen anzusehen, und sie ver‐ mittelte eine geschichtliche Kontinuität von den Kämpfen der jugoslawischen Widerstandsbewegung gegen die deutschen Faschisten zu meinem Kampf gegen dieselben Grundübel, denselben Geist, der dreißig Jahre zuvor schrankenlos und entfesselt über die Völker hergefallen war. Vielleicht hatte sie bereits einer Partisanin Schutz gegeben. Sie war für eine Frauenhand vortrefflich geeignet. Ich pflegte sie wie ein kostbares Erbstück. [78] V I E TT 1996b: 121 f Auf der Rückfahrt fahren wir über Essen und besuchen Fritz. Wir haben ihn mehr als ein halbes Jahr nicht gesehen und sind ganz erschrocken, wie wir ihn vorfinden. Zusammengeschrumpft, einsam und schweigsam. Sein Zimmer ist dürftig. Gerade so wie unsere Wohnungen, die wir für einige Wochen mieten, nur zur Vorbereitung einer bestimmten Operation. „Manchmal gehe ich zu einem koreanischen Kumpel. Er arbeitet in derselben Halle wie ich und wohnt ganz in der Nähe. Wir spielen Backgammon. Für mehr reicht unsere Verständigung nicht“, erzählt Fritz. Er ist sozial vollkommen isoliert, dieser kommunikationsfreudige und kommunikationsbedürftige Mensch. Wir wollen ihn am liebsten wieder mit nach Berlin nehmen. „Nein“, sagt Fritz, „die Arbeiter bringen es doch fast ein ganzes Leben lang.“ Ich weiß nicht, welchen Schwur er wem geleistet hat, ein Jahr lang in der Presserei durchzuhalten. Als Ungelernter machte er zusammen mit den türkischen, marokkanischen und koreanischen Arbeitern die schwerste und dreckigste Maloche. Fritz hat eine tiefe innere Zuverlässigkeit, und gleich hinter seiner Lust an unkonventionellen Formen steht eine zähe, aber freie Disziplin. Das ist Moral. Fritz hat mit dem Bild des schrillen Kommune-I-Bürgerschrecks wenig gemein. Sein scharfer, aber auch feiner Witz ist selten nur auf Effekte und kulturellen Nonsens aus. Es ist seine Methode, Sachverhalte auf eine Weise zu erhellen, die weitere Erklärungen überflüssig macht. Ich habe mich manchmal vor seinem intellektuellen Witz Wege in die Radikalität 273 <?page no="274"?> gefürchtet, der so bedächtig daherkommt und so punktgenau treffen kann. Fritz hatte eine Menge Erfahrung mit Leuten und durchschaute jede Pose, jedes Spiel, war frei von großen Gebärden und großen Worten, dabei liebenswert gutmütig. Ich selbst war noch recht am Anfang mit mir und war schnell zu ertappen. Aber Fritz benötigte und benutzte nicht die Schwächen anderer für sein Wohlbefinden. Er erzählt uns von seiner Arbeit: „Gespräche gibt’s höchstens in der Pause. Als kurze trockene Sätze. In der Halle ist es viel zu laut. Wir müssen schreien. Aber sie wollen die RAF an die Wand stellen, wenn sie was zu sagen hätten. Kurzer Prozess! Sagen die Arbeiter. Verhungern lassen im Knast! Die meisten sind für faschistische Lösungen. Sie haben keine Ahnung, worum es uns geht, wollen es auch nicht wissen: Sie haben von nichts mehr eine Idee. Außer von der Kohle.“ - „Warum hältst du das aus? “ frage ich, „Du musst es nicht, du bist privilegiert, du weißt Bescheid und bist frei, wenn du willst.“ Fritz will einfach herausfinden, was an der Arbeiterklasse noch dran ist, was von ihr noch zu erwarten ist. Wir sprechen mit ihm über Berlin, wie gut wir wieder organisiert sind, erzählen ihm von der bevorstehenden Befreiungsoperation, wir wollen ihm wieder Lust machen, ihn locken. Aber er schüttelt den Kopf und bleibt dort ein ganzes Jahr lang. Er gibt uns so wenige Chancen wie sich selbst. Erst nach der Befreiungsaktion kommt er zurück. Ein halbes Jahr später wird er von der Verhaftungswelle erfasst und kommt zum dritten Mal ins Gefängnis [79] V I E T T 1996b: 176 … ob er sich einfach falsche Vorstellungen vom alltäglichen Leben im Unter‐ grund gemacht hatte und jetzt feststellen musste, dass sich alles, auch die gefährlichsten Schritte, im Grunde aus kleinen ineinandergereihten banalen Verrichtungen zusammensetzte und aufbaute. Das Romantische ist allein die Überzeugung, dass es einem höheren Ziel dient. [80] V I E TT 1996b: 183 Rasha hatte sich nur schwer zu dieser Aktion entschließen können, sie glaubte wohl von allen am wenigsten an ihr Gelingen. Es waren keine überzeugenden rationalen oder gar politischen Einwände, die sie gegen die Aktion vorbringen konnte oder wollte. Es hatte mit ihr selbst zu tun. Wir kämpfen für eine Schimäre, sagte sie; niemand in Westeuropa will revolutionäre Veränderungen, nur wir Träumer. Wir können nichts bewegen und darum auch nicht als Guerilla überleben. Wir verschwenden uns hier an die Ignoranz der Satten, sagte sie. Ihr Herz war bei den Palästinensern, da wusste sie sich eins mit den Wünschen und dem Widerstand der Menschen; da musste sie niemandem erklären, warum der Imperialismus der Feind des Menschen ist. Seit Generationen litten und 274 Manuel Vogel <?page no="275"?> hungerten sie unter seiner Politik, kämpften für Brot und Menschenwürde. Die Deutschen, sagte sie, die Deutschen sind hochentwickelte Knechte ihres Herrschaftswillens, hier wird niemals die Freiheit geboren. [81] V I E TT 1996b: 199 f Regina und ich gehen an den Strand, als die drei sich auf den Weg nach Burgas gemacht haben. Rasha bleibt im Haus. Wir sind ganz allein am Wasser. Braun gebrannt und verwegen spielen wir herum. Belastet mit der Zukunft und trotzdem glücklich. Regina legt sich in die Sonne, ich setze mich ans Wasser und überlasse mich dem Augenblick. Der Wind stöbert ganz leicht und lau im Meer herum. Ihm gelingt kein großes Wellental, kein schäumender, sich überschlagender Wasserkamm, nur weiche, sanfte, friedliche Wiegungen auf der Meeresfläche. Meine Augen wandern über sie hinweg in die unschätzbare Ferne bis dorthin, wo das Wasser den Himmel trägt und wo die zwei Elemente scheinbar die Welt verschließen. Ich verträume mich in der Größe des Meeres und der Ewigkeit des Himmels. Meine Augen sehen nichts anderes mehr, und könnte ich in die Tiefe schauen, sähe ich auch da nur ewige Größe. Ich rücke ab von allem, was mich festhält, und fühle die unumstößliche Ewigkeit, in der ich herumturne, in der ich Gefahr laufe, lächerlich zu wirken mit meinen Anstrengungen, die Welt heilen zu wollen. In dieser Ewigkeit bin ich eine Versagerin. Tröstlich aber: In ihr sind wir es alle. Wir guten und wir schlechten Lebenden. Die Ewigkeit zu fühlen ist eine hilflose, faszinierende Sache. Darum haben die Menschen ja auch die Zeit erfunden. Die Ewigkeit ist der Rausch, die Zeit meine Wirklichkeit, und in ihr bin ich spürbar durch das, was ich tue. Eine leere Coca-Cola-Büchse wird an den Strand gespült. Sie scheppert leise beim Überrollen angeschwemmter Muschelteilchen. Das reißt mich aus meiner Abwesenheit und auch Reginas Arm auf meiner Schulter. Sie hat sich neben mich gesetzt. [82] V I E T T 1996b: 210-213 Die Zeit in Paris war wieder ausgefüllt mit alltäglichen Aktivitäten, die zum Leben in der Illegalität gehören: Sicherung der Wohnsituation, Depots anlegen und überwachen, Materialien beschaffen, Techniken weiterentwickeln, Doku‐ mente herstellen, grüne Grenzen ausfindig machen. Aber all diese subversiven Aktivitäten hatten unmerklich so etwas wie einen Selbstlauf bekommen. Sie waren ziellos geworden. Ich verbrachte Wochen in der Bibliothek des Centre Pompidou und durchforstete sie nach bestimmten Informationen zur NATO. Wenn ich an ihre praktische Verwertung dachte, beschlich mich mehr und mehr ein Gefühl der Unvorstellbarkeit, überhaupt noch mal einen Angriff Wege in die Radikalität 275 <?page no="276"?> organisieren zu können. Ich verbot mir diese aufkommende Mutlosigkeit und sprach nicht darüber. (…) Wir interessierten uns für bestimmte NATO-Zentren, Institutionen, Personen. Wir rackerten uns ab, um in der BRD Fuß zu fassen, schliefen in Zügen und Gott weiß was für unsicheren Buden. Aber nicht dies waren die wirklichen Probleme. Eine stabile Überzeugung entfaltet in kompli‐ zierten Phasen angemessen hohe Energien, um sie zu meistern. Ich war nicht mehr stabil. Mein Vertrauen war weg. Ein Stück war in Bulgarien geblieben, hatten Angelika und Gabi mit ins Gefängnis genommen. Ein Stück war bei Rasha in Bagdad geblieben, ein weiteres hatte der allgemeine Rückzug der Linken von revolutionären Zielen verzehrt, der Rest welkte in den Alltagsnotwendigkeiten einer Untergrundorganisation dahin wie das Gras unterm Stein. Ich hatte kein Vertrauen mehr in die kollektive Kraft der Gruppe und darum auch keins mehr in meine eigene Stärke. Ja, es war, als würde die Schwäche und Perspektivlosigkeit jedes einzelnen sich auf mich häufen und die meinige potenzieren. (…) Wie die unsichtbare Drift von Nebelschwaden bei Windstille nahmen unsere Wünsche und Bedürfnisse unmerklich Partei für den Status quo. Mir entging das nicht. Mit stillem Entsetzen registrierte ich, wie meine einstmalige seelische und mentale Kampfkraft von Tag zu Tag mehr aus mir herausgewaschen wurde. Sie war die Kraft der Überzeugung gewesen, dass meine Methode, gegen die zerstörerischen kapitalistischen Strukturen zu kämpfen, am durchgreifendsten, am konsequentesten, am richtigsten war, dass sie Wege und Ausblicke öffnete auf das tatsächliche Ende einer destruktiven Entwicklung. Nun, nach zehn Jahren, war alles eng und düster geworden. [83] V I E T T 1996b: 216 Ich pendle hin und her, wohne mal bei den alten Genossinnen, mal bei den neuen. Ein zerrissener, unakzeptabler Zustand. Manchmal renne ich stundenlang durch die langen, schnurgeraden Pariser Straßen, die wie begradigte Ströme aus den Vorstädten dem Zentrum zustreben. Mit zusammengebissenen Zähnen und nach innen gekehrtem Blick folge ich ihnen ziellos. Unfähig, mich aus dem Zwiespalt der Entscheidungslosigkeit zu reißen. Ich will nichts verlieren, nichts aufgeben, fürchte mich vor der Fremde. Der Schritt in die RAF ist ein Schritt in die Fremde. Zu keinem aus der RAF habe ich ein spontanes Gefühl der Offenheit, der Zuneigung und des Vertrauens. Ich fühle mich nicht mehr frei in ihrer Gegenwart, sondern begutachtet, beobachtet, vor allem allein und bindungslos. (…). Die Verhaftung von Regina, Karin, Ingrid, Karola und Sieglinde im Mai 1980 kommt wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Sie brechen in die Wohnung ein, als Sieglinde einen Telefonkontakt mit palästinensischen Genossen wahrnehmen will. Später erklärt sich dies mit der Information, ein arabischer Verräter hätte 276 Manuel Vogel <?page no="277"?> der Polizei die Nummer zugespielt. Damit ist meine Unentschiedenheit beendet. Ich gehe zur RAF. Eine Alternative sehe ich nicht. [84] V I E T T 1996b: 225 Der Kampf gegen dieses unsere Welt so totalitär deformierende System ist mein Lebensinhalt. Der einzige Inhalt, für den es sich zu leben und zu sterben lohnt. Wir haben ja dem Guerilla-Kampf die höchsten Weihen gegeben. Sich für ihn zu entscheiden war die höchste Stufe moralischen und politischen Bewusstseins, der schärfste und endgültige Bruch mit den Interessen einer pervertierten Gesellschaft. Der Gedanke, wieder in sie zurückzukehren, war so entsetzlich, dass er gar nicht erst aufkam. Seit gut einem Jahrzehnt befinde ich mich in der absoluten Gewissheit, den einzig richtigen Platz eingenommen zu haben, an der vordersten Front der jahrhundertealten Befreiungsgeschichte. Sie hat keinen erinnerbaren Anfang, sie hat auch kein Ende. Sie ist der Gegenstrom zur herrschenden Geschichte. Sie ist der Teil der Menschheit, der an die Befreiung und Entwicklung der Humanität glaubt, nicht an die Befreiung und Entwicklung der archaischen Gewalten. Sie hört nicht auf, es sei denn, die Menschheit hörte auf zu sein. Darum hört auch der Kampf nicht auf, darum kann ich nicht aufhören und einfach irgendwas anderes tun. An all dem halte ich mich fest und schaue nicht hin, wenn die Wirkungen des konkreten Alltags sich nicht um meine Gewissheiten kümmern, sondern diese mehr und mehr auflösen. Ich kann nicht hinschauen und darüber wirklich nachdenken. Davor steht die tiefe Furcht vor Entwurzelung und Verstoßenwerden aus einer großen Zugehörigkeit. Die Furcht vor dem Rückfall in die Leere und Sinnlosigkeit eines früheren Lebens. Ich sehe für mich nicht den Schimmer einer Alternative, die mich drängen könnte, die Beklommenheit meiner Situation aufzulösen. [85] V I E TT 1996b: 231 Mit stummem Entsetzen sind wir durch das ehemalige KZ gegangen. Die Stätte des Grauens hat uns die Sprache genommen. Die Zeugnisse systematischer Menschenvernichtung und Menschenverwertung krümmte uns zusammen vor Hass, und wir fanden keinen anderen Ausdruck als atemloses Schweigen vor diesen Ungeheuerlichkeiten der Generation, die uns großgezogen hat, ohne jemals ihre Verbrechen einzugestehen, ohne jemals das Stadium ihrer Entmenschlichung überhaupt begreifen und aus ihm herauskommen zu wollen. Eine Generation, die den Widerstand gegen diese Systematik des Mordens und Quälens ausgemerzt und selbst im nachhinein, als längst die Ausmaße der barbarischen Verbrechen zutage getreten waren, noch denunziert, geschmäht hat und die in ihren Reihen noch heute diesen Vernichtungsgeist wärmt, nährt Wege in die Radikalität 277 <?page no="278"?> und weiterpflanzt. Buchenwald, ein Resultat deutschen Größenwahns, eines blutigen, tödlichen Chauvinismus. [86] V I E TT 1996b: 235 Wenn dreihunderttausend Menschen in Bonn gegen die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen auf die Straße gehen, warum sind sie nicht bereit, einfach das Verteidigungsministerium zu überrennen, nicht einmal, die Bannmeile zu durchbrechen? Was hält sie davon ab, durchzusetzen, was sie fordern, direkt und im Moment ihrer größten Stärke? Die Angst vor der Polizei, der sie doch hundertfach überlegen sind? Die Angst vor der abstrakten Staatsautorität? Untertanenbewusstsein? Die Angst vor Chaos? Oder war es diese schreckliche, grundlegende Übereinstimmung mit dem System, in dem sie lebten? Waren nicht gerade diese massenhaften friedlichen Demonstrationen der klarste Ausdruck von Ablehnung einer weitergehenden revolutionären Politik, wie wir sie anstrebten? Wer von diesen dreihunderttausend Menschen denkt auf dem Protestmarsch überhaupt an die Guerilla im Untergrund als einen Hoffnungsschimmer für politische Veränderungen? Oder als revolutionäres Kollektiv, als Keimzelle einer neuen Gesellschaft? Sind wir nicht auf einem Weg, auf dem uns im Grunde kaum jemand folgen will und auf dem uns jede militärische Aktion weiter aus der gesellschaftlichen Realität drängt? [87] V I E TT 1996b: 247 Dass ich im kapitalistischen Deutschland geboren und aufgewachsen bin, kann ich weder bedauern noch gutheißen, aber es ist ein kaum zu beschreibendes Glück, dass der Verlauf meiner Geschichte meine Unwissenheit über das andere Deutschland korrigierte, über das Leben dort im ständigen Widerspruch zwi‐ schen Verwirklichung und Verkümmerung sozialistischer Ziele, Ansprüchen und Lebensweise, über die Anstrengungen, die Ideale, Fähigkeiten und Unfä‐ higkeiten, die Wahrheiten und Irrtümer, die diesem Widerspruch entsprungen und von ihm gezeichnet sind. Nur wer dort gelebt hat, kann begreifen, was zerstört wurde. Die Linken im Westen haben keinen Begriff davon, wie schwer ihr Mangel an Erfahrung mit der sozialistischen Realität wiegt. Die Geschichte wird ihnen keine neue Gelegenheit bieten. Sie denken in ihrem Hochmut sogar, dass sie es sich leisten können, dies gar nicht als Mangel erkennen zu müssen. Der reale Sozialismus ihrer Zeit, vor ihrer Tür, in der DDR, war für sie die einzige Chance, jemals zu erfahren, wie die Idee vom Sozialismus, also das Ideal, real gesellschaftlich wirksam werden kann und wie nicht. Sie zogen es aber vor, sich von diesem geschichtlichen Prozess zurückzuziehen, ihn aus der Ferne zu benörgeln, zu bemängeln, zu belächeln. Sie zogen es vor, mit ihren 278 Manuel Vogel <?page no="279"?> sozialistischen Theorien die imperialistische Wirklichkeit einschließlich sich selbst zu kultivieren. [88] V I E TT 1996b: 285 f Kommandowirtschaft ist ein politischer Begriff, der nichts anderes klarmacht als die Verachtung der Bourgeoisie für eine vernünftige Idee. Nämlich, der Wirt‐ schaft ihren anarchischen, profitorientierten Selbstlauf-Charakter zu nehmen und sie den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen anzu‐ passen. Diese Idee ist wirklich nicht sehr vollkommen in der DDR realisiert worden, und dafür gibt es viele gute und schlechte Gründe. Ganz abgesehen davon, dass umwälzende Ideen ganze Epochen zum praktischen Reifen brau‐ chen, da das Experimentieren und Erkennen einer Generation dazu nicht aus‐ reicht. Ein Plan ist ja kein Kommando. Er kann falsch, mangelhaft, unrealistisch oder was weiß ich alles sein. Seine Realisierung an der Basis war überhaupt nur möglich durch die Entwicklung und Mobilisierung von Beziehungen, Überzeugungen, Kontakten, Interaktionen. Dies war unsere tägliche Wirklich‐ keit, mit der wir unsere Verantwortlichkeiten und Aufgaben wahrnahmen. Ein Abenteuer, weil es eben gerade nicht möglich war, etwas anzuordnen, zu befehlen oder anzufordern. Das konnte man natürlich machen aufgrund der Leitungskompetenzen, aber damit funktionierte nichts. Man musste sich immer mit den Leuten auseinandersetzen. Zusammenkommen, in Beziehung treten, die Interessen austauschen. Das ist spannend und menschlich, das Ergebnis meist offen. Kategorien wie ökonomisch-zeitlich uneffektiv passen hier überhaupt nicht hin. Sie sind aus einem anderen Lebensverständnis, in dem Lebensqualität nur noch mit Geld identifizierbar ist. Der Kapitalismus tötet die direkte Kommunikation zwischen den Menschen. Da wird durch die Maschine, durch die Technik kommuniziert. In der DDR waren alle für alle Probleme zuständig. Ihre Regelung erforderte das ständige Miteinander. [89] V I E TT 1996b: 288 Die DDR hat in ihrem Versuch, den Sozialismus zu praktizieren und zu behaupten, unter vielen Merkwürdigkeiten auch diese hervorgebracht: die unwirkliche Ebene des Autoritären und die wirkliche Ebene des Antiautoritären. Die Hierarchie im Betrieb hatte ihren offiziellen Ritus, ihren Orderstrang von oben nach unten, und der wurde auch ernsthaft rituell eingehalten, aber die persönlichen Verbindungen der Leute im Betrieb machten die Hierarchie unwirksam, neutral, oft überflüssig. Diese Beziehungen verhinderten die Über‐ tragung der autoritären Strukturen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. In der DDR hatte kein Lehrling Angst vor seinem Meister und wir nicht vor Wege in die Radikalität 279 <?page no="280"?> Achim, unserem Abteilungsleiter. Eher schon umgekehrt. Und privat hatte Frau Doktor ihren Garten neben dem Elektriker, Herr Direktor ist befreundet mit dem Gewerkschaftsleiter, der wiederum Brigadier ist. Und Christel, als ökonomische Sachbearbeiterin, hat, wenn sie als Delegationsleiterin die Kinder nach Polen ins Ferienlager begleitet, plötzlich die Autorität, als Vertreterin des SKL und der DDR allgemein aufzutreten und zu wirken. [90] V I E T T 1996b: 300 f Ich hoffe jeden Tag, dass hier und da Bastionen erhalten bleiben. Die Modrow-Regierung macht mir ein paar Wochen Illusionen, aber schnell zeigt sich, dass Bonn fest entschlossen ist, die Herrschaft in der DDR zu übernehmen, und auf keinen Fall eine DDR-eigene Entwicklung zulassen wird. Also keine Unterstützung für die Erneuerung der DDR, sondern letzte Schlacht im 45jäh‐ rigen Kampf um die Macht. Die DDR wird kurzerhand für bankrott erklärt. Die Westmedien sind bereits die Sieger in der Republik. Sie haben die absolute Meinungsherrschaft. Von allen Seiten wird den DDR-Leuten jetzt klargemacht, dass ihr verschwenderischer Sozialstaat eigentlich schon seit zehn Jahren pleite ist, aber nun in wenigen Tagen wegen Zahlungsunfähigkeit zusammenbrechen wird. Also keine Experimente mehr, Währungsunion und schneller Anschluss als Rettung vor dem drohenden Kollaps, sagt Kohl. Bloß keine demokratische Alternative DDR. Fahrplan und Ziel der DDR-Politik heißt: Abriss, Vernichtung, Auslöschung der DDR. Den Leuten in der DDR darf keine Zeit mehr zum Nach‐ denken und für autonome Versuche eingeräumt werden. Sie werden jeden Tag mit neuen Enthüllungen, Skandalen und Stasi-Diskussionen beladen, sie und ihr bisheriges Leben werden mit der Macht eines abgebrühten Siegerbewusstseins in den Schlamm gezerrt und unkenntlich gemacht: Es gibt euch nicht, es hat euch nie gegeben. Es hat den Sozialismus nicht gegeben. Ihr wart von Anfang an ein Irrtum der Geschichte. Ihr habt nicht gelebt. Ihr habt umsonst gelebt. Ihr seid betrogen worden, sagen die Sprachrohre des Kapitalismus, aber jetzt kommt das Geld, jetzt kommen die Autos, die Videos. Jetzt kommen die Freiheit und der Wohlstand. Jetzt kommt das Leben. Wer es besser wusste, verstummte in Ohnmacht, aber wohl die Hälfte der Bevölkerung berauschte sich wie an Heroin mit diesen Versprechungen. [91] V I E T T 1996b: 303 Diesem Untergang kann ich nicht entfliehen. Wohin auch? Und wofür noch? Der Kapitalismus ist überall. Eine Flucht vor dem drohenden Gefängnis wäre eine Flucht in die völlige Zusammenhanglosigkeit. Ins politische, geschichtliche und persönliche Niemandsland. Illegalität hat nur einen Sinn als politische 280 Manuel Vogel <?page no="281"?> Position, als Fluchtort vor der Justiz ist sie schlimmer als das Gefängnis, weil sie mich als politische Person auslöscht und mir ein Leben aufzwingt, in dem es nichts mehr zu tun gibt, als für die Nicht-Entdeckung meiner Person zu sorgen. Nein, eine zukünftige Fluchtexistenz kommt für mich nicht in Frage, lieber stelle ich mich der unaufhaltsam näherrückenden Verhaftung. Aber ich bin auch vielzu sehr beschäftigt mit den Prozessen meiner Umwelt, um mich innerlich richtig darauf vorbereiten zu können. Ich lasse es auf mich zukommen. [92] V I E TT 1996b: 304 Noch gab es die DDR, und darum kämpfte ich tapfer wie Don Quichotte gegen eine Auslieferung in die Bundesrepublik. Die DDR-Staatsanwältin lächelte schwach über mein Beharren auf der Souveränität der DDR. Die Marionetten‐ regierung unter de Maizière regelte gerade die Auslieferung von 17 Millionen DDR-Bürgern an Bonn, was hatte ich da noch zu erwarten? Der DDR-Richter zuckte müde die Schultern, als ich um die Erläuterung der Paragraphen aus dem BRD-Haftbefehl bat. Er kannte sie nicht. Es waren die Strafgesetze der Bundesrepublik. „Sie haben keine gesetzliche Grundlage, mich auszuliefern“, sagte ich empört. „Ich bin Bürgerin der DDR.“ Er stimmte mir zu. Aber das bedeutete schon nichts mehr. Seine Kompetenzen waren nur noch die einer Schreibkraft. [93] V I E T T 1996b: 305 f Ich war ausgepumpt, leer und nahm in angespannter Gleichgültigkeit und harter innerer Distanz den ganzen neurotischen Terrorismus-Rummel hin. Er hatte sich mit einem sinn- und grundlosen Aufwand, einer Routine auf mich geworfen, dass ich mich in eine andere Zeit katapultiert fühlte. Diese funktionierende Maschine, das war für mich die BRD. Jetzt hatte ich sie wieder auf dem Hals. Tag und Nacht, ohne ihr entrinnen zu können. Sie hatten mich mit institutionell vorbereiteter Feindseligkeit in Westdeutschland empfangen. Stahltore, Stahltüren öffneten und schlossen sich. Hautnahe Bewachung klebte an jedem meiner Schritte. Keine Bewegung meines Körpers blieb unbemerkt. Ich wartete darauf, endlich in eine Zelle gebracht zu werden, um den Tross feindli‐ cher, fremder Körper von mir abtrennen zu können. Zwei Wärterinnen standen vor mir. Ausdruckslos die eine, herausfordernd die andere. Leise auf den Fersen wippend, schlug sie mit leichten drohenden Schlägen den Gummiknüppel in ihre linke Handfläche, starrte mich an mit der provokanten Sicherheit staatlicher Überlegenheit. Ich wandte ihr den Rücken zu, verzichtete darauf, ihr zu sagen, wie lächerlich ihre Aufrüstung gegen mich war. Ich beschloss, dass eine Verständigung mit diesen angesammelten Vorstellungen von mir als Wege in die Radikalität 281 <?page no="282"?> Terroristin ungemein viel emotionale Disziplin kosten, aber unerlässlich sein würde, um diese irrationale Atmosphäre gegen mich einzugrenzen. Wir waren Welten voneinander entfernt. Ihre war mir bekannt, das war ein Vorteil, von meiner hatten sie nur einen kriminellen Begriff. Die Ordnung ihrer Welt und ihrer Vorstellungen würde sich jetzt für viele Jahre über mich stülpen, würde mich entprivatisieren und meine eigenen Lebensangelegenheiten als Unordent‐ lichkeit bekämpfen. All mein Persönliches würde sie stören, es würde zwischen diesen Mauern immer illegal sein. Trotzdem würde ich mein Leben für mich organisieren müssen in diesem Apparat, würde mir kleine Oasen als eigenen Raum schaffen müssen. Dies dachte ich, während ich entkleidet, durchsucht und mit der Gefängnishabe beladen wurde. Eine Schüssel, eine Kanne, ein Löffel, eine Tasse … usw. Die Zumessung des Unpersönlichen. Endlich war ich allein in der Zelle und betrachtete prüfend meine neue Gesellschaft. Tisch, Stuhl, Schrank und Bett schauten mich kühl, aber nicht unfreundlich an. Das Fenster, so groß wie in noch keinem Gefängnis, umarmte mich gleich tröstend, obwohl es nicht mehr als die Tristesse einer grauen Mauer mit Stacheldraht zu geben hatte. Immerhin ließ es die Sonne herein und möblierte den Raum mit den Schatten der Gitter. Weil es sowieso sein musste, nahm ich entschieden und schnell die Zelle in meinen Besitz. Ich wollte versuchen, diesen kleinen Raum zu meiner Burg und auch zu meinem Schneckenhaus zu machen. [94] V I E TT 1996b: 309 Mein Prozess hatte für den Staat zwei Funktionen: die Geschichte der Stadtgue‐ rilla juristisch und denunziatorisch abzuwickeln und die DDR durch Kriminali‐ sierung des MfS zu diskreditieren. Die zweite Funktion hatte ich zunächst nicht so deutlich erkannt, und als sie mir deutlich wurde, habe ich sie nicht klar genug zurückgewiesen. Ich habe diesen Prozess aus der äußersten Defensive geführt. Am Ende war ich erleichtert, nicht noch geknickter herausgekommen zu sein und nicht auf ein Leben zurückblicken zu müssen, das Teil des geschichtlichen Müllbergs ist, aufgetürmt von Überläufern und Verrätern, die ihren Kampf um eine menschlichere Zukunft dorthin getragen haben, weil er im Licht der Sieger plötzlich „verkehrtes“ oder „sinnloses“ oder „aufgezwungenes“ Leben war. [95] V I E TT , 2001 Gedanken zum 11. September 2001 (Text vom 29. September 2001, unveröffentlicht) Am 11.09., dem Tag der Ermordung Salvador Allendes, wollten wir uns zu einem gemütlichen Abendessen treffen mit dem üblichen Palaver über die politischen und privaten Befindlichkeiten unseres Milieus, die schiefe Weltlage, über dies 282 Manuel Vogel <?page no="283"?> und das. Dann waren wir auf ganz andere Weise froh zusammenzusein um das politische Erdbeben, welches der Attacke auf das Pentagon und den WTC folgen wird, gemeinsam einschätzen zu können. Die Ungeheuerlichkeit des Angriffs, die unabwägbaren Folgen, die archaische Reaktion der amerikanischen Regierung und der westlichen Medien macht uns Herzklopfen vor Angst. Entgeistert schauen wir immer wieder auf die vorbeiziehenden Bilder des einstürzenden World Trade Center. „Wie grausam,“ denke ich, „jetzt erleben sie ihr eigenes Hiroshima, nicht in der Dimension von 1945, als sie - die USA - zwei japanische Großstädte samt der Menschen und Tiere pulverisierten, nein nicht in diesem Ausmaß, aber genauso grausam.“ Wer sind sie, die es gewagt und geschafft haben, das Zentrum der Weltmacht anzugreifen? Bestürzung! Welche Konsequenzen werden diesem Angriff folgen? Und: Wer den Willen und die Rücksichtslosigkeit für so einen Anschlag hat, wo ist die Grenze dieser Rück‐ sichtslosigkeit, gibt es sie überhaupt? Nach einer durchdiskutierten Nacht halten wir drei Versionen für denkbar: Es sind Leute, die wegen der endlosen Kette ungestrafter kriegerischer, geheimdienstlicher und ökonomischer Verbrechen der USA an anderen Völkern, wegen eines halben Jahrhunderts selbstherrlicher, gewaltsamer Aufoktroyierung des destruktiven „American way of life“ über andere Welten, gesagt und beschlossen haben: Jetzt ist Schluss mit lustig, jetzt schlagen wir zurück, egal was kommt, egal welches Gesicht die Welt danach annimmt, egal wer dafür bluten muss, nach uns die Sintflut… Leute, die ihre gesamte Aktionsfähigkeit in diesen Angriff gesteckt und mit ihrem Leben beendet haben. Eine Version zum Fürchten. Sie überlässt die Welt der initiierten Katastrophe. Oder es sind Leute mit Machtpotenzen, die in Kürze als neues politisches Moment mit politischen Forderungen auf die Weltbühne treten, um die Folgen ihres Angriffs in Schach zu halten, Bedingungen zu stellen. Solche Machtpotenzen benötigen eine Massenbasis, bzw. einen kohärenten, gemeinsamen geistig-kulturellen Unterbau. Eine solche Attacke entsteht nicht allein aus dem Willen einer isolierten Gruppe, sondern ist die Realisierung geheimer kollektiver Wünsche gedemütigter Massen. Alle herkömmlichen antiimperialistischen Kräfte haben weder diese Potenzen, noch diese Muster der Rücksichtslosigkeit, welche uns nur bekannt sind aus faschistischer und kapitalistischer Kriegführung und als religiöse Kreuzzüge, religiöse Pogrome. Vielleicht der fundamentalistische Islam? Der „Dschihad“? Die Spur seiner bewaffneten Krieger in den verschiedenen arabischen und asiatischen Ländern ist furchterregend! Oder sie kommen aus dem Innern der amerikanischen Gesellschaft, ein Konglomerat aus Ultrarechten und geheimen Sonderdiensten. Es gibt genug Beispiele ihres Wirkens. Die berüchtigtsten sind der Mord am eigenen Präsidenten und der Anschlag auf das Federal Building in Oklahoma Wege in die Radikalität 283 <?page no="284"?> City mit 168 Toten. Es sind Kreuzzügler für die arische Rasse, die freimütig antijüdische und antikommunistische Attentate propagieren. Sie wären gewiss die irrationalsten Kräfte, genutzt vielleicht von Sonderdiensten, die einen Weg für amerikanische Zukunftsstrategien zur Zementierung ihrer Herrschaft freisprengen wollen. Ist das wirklich denkbar? Ein Genosse schüttelt den Kopf: „Ich glaube noch an die Menschen, wenn das möglich wäre, welche Chancen hätten wir dann noch? “ Wir fragen uns, ob unsere von den Klassenkämpfen dieses Jahrhunderts geprägten Kategorien von gesellschaftlicher Verantwor‐ tung, von Moral, von Gerechtigkeit, von emanzipatorischen Prozessen, nicht völlig unwirksam geworden sind zur Identifizierung der heutigen Politik, der heutigen Auseinandersetzungen, ob nicht die Entzivilisierung, die Barbarei bereits ihre Gültigkeit hat. Seit dieser Nacht mischt der Welthegemon USA alle gängigen bündnispolitischen Konstellationen mit Drohungen auf. Wer sich nicht im Feldzug gegen „das Böse“ auf die Seite Amerikas stellt, wird als Feind und potenzielles Ziel betrachtet. Die merkwürdigsten Koalitionen werden geschlossen. Die USA-Militärmaschine klirrt auf ihren Stützpunkten rund um die Erde und richtet sich auf die unbotsamen Staaten in der Islamischen Welt. Atombomben und chemische Waffen werden als adäquate Kampfmittel genannt. Bush identifiziert und personifiziert „das Böse“. Sein Name ist Osama bin Laden und Taliban. Von der CIA an die Macht und in Stellung gebracht gegen den damaligen Erzfeind SU, dienen die ungeratenen ehemaligen Quislinge heute dazu, lang gepflegte strategische Interessen ohne lauten Widerstand durchzusetzen. Afghanistan ist umzingelt, die Bevölkerung flieht, es wird besetzt werden unter dem Vorwand bin Laden zu fangen. Damit ist der Weg in den Iran, den Irak und nach Syrien frei. Und ins Kaspische Becken, wo die größten Ölreserven der Welt liegen. Die unverantwortlichen Politiker der Bundesrepublik haben den Amerikanern uneingeschränkte militärische Unterstützung, uneingeschränkte Solidarität zugesagt. Bush ruft: Wollt ihr den totalen Krieg? Der Bundestag, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung antwortet: jaa, jaa, jaa! Eine tiefe geistige und politische Armseligkeit zeigt sich in den Reden, Beschlüssen der Politiker, der Medien, der staatsräsonierten Intellektuellen. Nirgendwo auch nur der Ansatz von Bewusstsein über die eigene Verantwortung in der weltweiten Verschärfung der Konflikte zwischen Arm und Reich, zwischen den Lautsprechern und den Stummen, zwischen den Stiefeln und den Barfüßigen. Nur dauerhafter Chauvinismus, nicht zu durchbrechende Selbstgerechtigkeit, qualvoller Opportunismus. [96] R O L L NIK / D U B B E 2007: 100 Dubbe: Ein paar Blumen vielleicht noch? 284 Manuel Vogel <?page no="285"?> Rollnik: Echte Blumen nicht. Einmal ist unter der Tischtennisplatte ein kleiner Kastanienbaum gewachsen. Da ist gleich der Wärter gekommen und hat ihn ausgerupft. Dubbe: Was passierte, wenn im Hof ein Vogel landete? Rollnik: Vögel haben wir schon angelockt. Auch das ist uns dann verboten worden. Wir nahmen Brot mit zum Hofgang. Dazu wurde ein Verbotsbeschluss verkündet: Es darf kein Brot mehr mit nach draußen genommen werden, weil dies zu viele Vögel anlockt. Natürlich haben wir trotzdem Brot mitgenommen. Es gab also dauernd Auseinandersetzungen. Ich muss aber auch sagen, dass diese Auseinandersetzungen einen lebendig halten, weil du das Gefühl hast, doch noch irgendwas machen zu können. [97] R O L L NIK / D U B B E 2007: 101-103 Dubbe: Die Hungerstreiks müssen eine furchtbare Quälerei gewesen sein. Quält einen der Hunger ständig oder hört er auch mal auf ? Rollnik: Die Hungerstreiks waren vielleicht auch quälend, jedenfalls waren sie nicht einfach. Aber wir haben das in erster Linie so gesehen: Du stehst wieder auf und bist Subjekt deiner Geschichte. Das wiegt alles andere auf. Daran musste man sich aber immer wieder erinnern, um einen solchen Kampf durchzuhalten. Trotzdem wird es schwer, wenn du dich deinen körperlichen Grenzen näherst und dich mit deiner Todesangst auseinandersetzen musst. Dubbe: … auf der Intensivstation? Rollnik: Was heißt Intensivstation? Im Knast gab es keine Intensivstation. Es gab nur Knastkrankenzellen. Dubbe: Ihr seid also im Trakt geblieben? Ihr seid gar nicht ins Krankenhaus gekommen? Rollnik: Nee, wir sind nicht ins Krankenhaus gekommen. Wir wollten ja auch nicht ins Krankenhaus. Wir wollten auch nicht ernährt werden, sondern wir wollten, dass die Forderungen erfüllt werden. Die Zwangsernährung war ja nur eine Methode, um den Forderungen nicht nachzugeben. Um zu sagen: Wir tun ja etwas für die Gefangenen. Wir verhindern, dass sie sterben. Deshalb haben wir die Zwangsernährung immer denunziert. In Berlin gab es diese Zwangsernährung ja auch nicht. Dort haben sie gewartet, bis man wirklich am Ende war. Wenn man ins Koma gefallen wäre, hätten sie Infusionen gegeben. Einmal waren wir nach relativ kurzer Zeit schon ziemlich am Rande … Dubbe: … eurer Kräfte … Wege in die Radikalität 285 <?page no="286"?> Rollnik: Ja, unserer Kräfte sowieso immer, aber auch am Rande des physischen Überlebens. Wir hatten keine Vitamine genommen. Normalerweise nahm man immer Vitamintabletten während des Hungerstreiks. Die haben wir absichtlich nicht genommen, weil wir das diesmal beschleunigen wollten. Dubbe: … was wolltet ihr beschleunigen? Rollnik: Naja, den Zeitpunkt, wo sie unter Handlungszwang geraten. Und der kam immer nur, wenn unsere Situation kritisch wurde. Solange dies nicht der Fall war, konnten die sich zurücklehnen und abwarten. Wir kamen relativ früh in eine lebensbedrohliche Situation. Ich hatte Bilder vor Augen, ich habe Stimmen gehört. Ich konnte kein Wasser mehr bei mir behalten und bin körperlich völlig ausgetrocknet. Das war für mich sehr gefährlich. Wir waren damals zu viert im Knastkrankenhaus, Monika Berberich, Angelika Goder, Gudrun Stürmer und ich, und wir haben unser Vorgehen untereinander abgestimmt. Das Problem war dabei auch, dass in den anderen Bundesländern die Situation noch nicht so weit war. Es gab also eine Ungleichzeitigkeit der Eskalation. Es bestand die Gefahr, dass andere Bundesländer die Harten spielten, weil bei ihnen gerade nichts drohte, und sie warteten, was nach einem Toten in Berlin passieren würde. Deswegen haben wir uns dann entschieden, uns kurzfristig an den Tropf hängen zu lassen, um Elektrolyte und Flüssigkeit aufzunehmen. Es ging darum, den Wasserhaushalt zu stabilisieren, nicht um die Zufuhr von Nahrungsflüssigkeit. So haben wir es zu viert beschlossen. Gudrun Stürmer und ich sind an den Tropf gegangen, weil bei uns die Situation am bedrohlichsten war. Wir haben uns für eine Woche mit Flüssigkeit versorgen lassen, und dadurch haben wir uns wieder stabilisiert. Ich konnte wieder besser sehen. Ich war quasi blind geworden. Dubbe: Wie reagiert der Staat in einem solchen Moment? Rollnik: Beauftragte vom Berliner Senat sind zu meinen Eltern gefahren und haben gesagt: „Wenn Sie ihre Tochter noch lebend sehen wollen, müssen Sie schnell nach Berlin kommen. Die liegt im Sterben.“ Meine Eltern sind gleich nach Berlin gefahren und haben mich besucht. Da hatten wir uns gerade entschieden, uns an den Tropf legen zu lassen. Ich konnte nicht mehr laufen. Der Besuch fand in der Krankenzelle statt. Dafür hatte sich der Knastarzt Dr. Leschhorn eingesetzt und vom Justizsenat wurde dem entsprochen, weil der Justizsenat hoffte, dass meine Eltern den Druck meiner gesundheitlichen Situation nicht aushalten und mich beknieen würden, den Hungerstreik abzubrechen. Da haben sie sich aber getäuscht, denn meine Eltern haben das nicht gemacht, sondern sich gut verhalten, und das hat mich ihnen noch einmal näher gebracht. Dubbe: Was heißt „gut verhalten“? 286 Manuel Vogel <?page no="287"?> Rollnik: Sie haben gesagt, dass sie meine Entscheidung akzeptieren und mich unterstützen. Das ist ihnen sehr schwer gefallen. Mein Vater hatte, wie ich später erfuhr, vorher zu meiner Mutter gesagt, dass ich schon genügend Leute hätte, die gegen mich sind. Sie haben sich viele Gedanken gemacht und sich, wie ich sagen muss, sehr solidarisch verhalten. Und nicht nur mir gegenüber. Sie waren jahrelang in der Angehörigengruppe tätig. Der Berliner Justizsenat hatte meinen Eltern angeboten, auf seine Kosten nach Berlin zu kommen. Sie haben es abgelehnt. Von diesem Staat wollten sie kein Geld, wenn es um ihre Tochter ging. [98] R O L L NIK / D U B B E 2007: 103-105 Dubbe: Gab es im Gefängnis oder in den Behörden Leute, die euch unterstützt haben oder wo ihr sagen könnt, die haben sich korrekt verhalten? Rollnik: Ja, immer wieder. An erster Stelle Dr. Leschhorn. Diese Geschichte hat ja tragisch geendet, denn am Ende war er tot. Er wurde vom Knast und von seinen vorgesetzten Behörden in den Tod getrieben. Das geht aus seinem Abschiedsbrief hervor. Man kann ihn auch als den zweiten Toten aus dem ’81er Hungerstreik sehen. Der erste war Sigurd Debus, der während des Hungerstreiks in Hamburg starb. Dubbe: Wer war dieser Dr. Leschhorn, und was war eure Erfahrung mit ihm? Rollnik: Wir haben Leschhorn kennengelernt als jemand, der sich seinem Ge‐ wissen als Arzt entsprechend verhielt. Ihm war schon klar, dass es ein Gefängnis ist und dadurch ein Rahmen gesetzt ist. Aber er sah sich der Gesundheit der Gefangenen verpflichtet. Für den Justizsenat und die Gefängnisadministration sollte er aber, zumindest in Bezug auf uns, einfach nur ein Büttel sein, der die politisch gewollten Maßnahmen ohne Widerspruch auch medizinisch unter‐ zeichnete. Hier war er völlig zerrissen. Er kannte unsere Isolationsbedingungen und fand sie erschreckend. Dubbe: Hat Dr. Leschhorn sich für Verbesserungen eurer Haftbedingungen eingesetzt? Rollnik: Ja, besonders dafür, dass die Fenster geöffnet werden können. Die waren von Anfang an geschlossen. Wir hatten immer das Gefühl, uns würde die Luft abgedreht. Das konnte er gut nachfühlen. Er hat sich auch öffentlich gegen die Zwangsernährung ausgesprochen und versucht, Knastärzte aus anderen Bundesländern, in denen Zwangsernährung durchgeführt wurde, zu überzeugen, damit aufzuhören. Ich glaube auch, dass er uns respektiert hat. Ich rede hier nicht vom bewaffneten Kampf. Aber unsere Radikalität schien ihn Wege in die Radikalität 287 <?page no="288"?> zu beeindrucken. Es ist einmal sogar zu physischen Konfrontationen zwischen dem Knastpersonal und Leschhorn gekommen. Der Sicherheitsleiter Hahnfeld wollte unsere Krankenzellen stürmen und wie bei den normalen Haftzellen üblich unter „Sicherheitsaspekten“ auf den Kopf stellen. Das war absurd, denn wir hingen am Tropf, waren körperlich völlig geschwächt und keine von uns wäre in der Lage gewesen zu fliehen oder irgendetwas zu machen. Leschhorn hat die Maßnahme abgelehnt, weil er sie für zu riskant für uns hielt. Er hatte klar gesagt, in unserer Situation könne das zum Kollaps führen. Hahnfeld hat das nicht interessiert. Er hat mit seinen Wärtern die Krankenzelle gestünnt. Leschhorn stellte sich ihnen in den Weg mit dem Argument, dass er medizinisch allein die Verantwortung tragen würde. Da hat ihn die uniformierte Knasthorde, bewaffnet mit Helmen, Schildern und Knüppeln, vor unseren Augen gepackt und einfach zur Seite gestoßen, ist an ihm vorbei getrampelt und hat unsere Krankenzelle auf den Kopf gestellt. Natürlich haben sie nichts gefunden oder entdeckt. Die wollten offensichtlich nur mal klar machen, wer Herr im Viertel ist. Das muss man sich vorstellen, was das für ein Eklat und für eine persönliche Demütigung für Leschhorn war, der ja eigentlich in der Hierarchie als Medizi‐ naldirektor dem Anstaltsleiter gleichgestellt war. Der war danach völlig fertig. So war mit ihm in seinem ganzen Leben offenkundig noch nie umgesprungen worden. Da war auf unterer Ebene angekommen, was bundesweit inzwischen üblich war: die Exekutive beherrscht die Situation und lässt sich von niemandem Grenzen setzen oder gar kontrollieren. Leschhorn ist dann auch von seinem Dienstvorgesetzten regelrecht verraten worden … Dubbe: … dem Anstaltsleiter? Rollnik: Nein, der war es nicht. Sein Dienstvorgesetzter war der Justizsenator, damals Rupert Scholz, und als dessen Stellvertreter die Staatssekretäre im Justizsenat, Bung und von Stahl. Denen konnte es gar nicht hart genug zugehen. Sie wollten Leschhorn zwingen, uns zwangszuernähren, was dieser aus medi‐ zinischen Gründen ablehnte. Durch sein Insistieren auf seiner Verantwortung als Arzt wurde er von seiner eigenen Behörde als Feind wahrgenommen und richtiggehend isoliert. Ein Teil seiner Untergebenen schnitt ihn, andere feindeten ihn offen an. Es wurden sogar Aushänge produziert, auf denen sich Beamte beschwerten, dass Leschhorn sich angeblich mit uns identifıziere statt mit ihnen. Uns erzählte er einmal schockiert, wie abfällig und abkanzelnd von Stahl ihn bei irgendeinem Empfang behandelt hatte. Die haben ihm richtig gezeigt, dass er für sie unten durch ist. Wir hatten ihn damals gefragt, warum er überhaupt etwas auf die Meinung solcher Gestalten wie von Stahl gebe. Dubbe: Über solch persönliche Fragen hat Dr. Leschorn mit euch gesprochen? 288 Manuel Vogel <?page no="289"?> Rollnik: Ja, denn wir waren uns durch die existenzielle Gefährdung in diesem Hungerstreik 1981 näher gekommen und hatten eine Art Vertrauensebene. Aber wir konnten ihn nicht trösten. Er wollte in seiner bürgerlichen Rolle und damit auch in seinem Dienstrahmen anerkannt sein. Nach Ende des Hungerstreiks wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet und man versetzte ihn auf irgendeine Geschäftsstelle, wo er nur noch Akten bearbeiten durfte. Diese Demütigung hat er nicht mehr ausgehalten und einen ersten Selbstmordversuch unternommen. Darauf erklärte Senatsdirektor Bung, dass solche Selbstmord‐ versuche nichts darüber aussagen, ob Personalentscheidungen richtig oder falsch seien. Wochen später hat Leschhorn sich dann umgebracht. Das hat uns damals sehr, sehr leid getan und entsetzt. Wir hatten ihm das Leben ja auch nicht leicht gemacht. Wir haben auch immer auf unserer Sicht beharrt, aber wir haben ihn respektiert, ihn nah an uns herangelassen und waren ihm für vieles dankbar. Ohne ihn hätte es bei uns wahrscheinlich Tote gegeben. Hinterher hat die Administration ein paar Krokodilstränen vergossen, aber sie blieb ja unbehelligt und stand schnell wieder in Stiefeln da. Für mich ist es eine unerhörte Schweinerei, dass die Institutionen, die Leschhorn damals bekämpft haben, sich immer noch nicht veranlasst sehen, ihn und seine Arbeit zu würdigen. Und auch die ehemaligen 68er in der Politik haben es bis heute nicht für nötig erachtet, Leschhorn zu rehabilitieren. Ich zähle ihn zu den wirklich guten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe. [99] R O L L NIK / D U B B E 2007: 9.11 Dubbe: Dann hast du irgendwann dein Studium geschmissen? Rollnik: Da war ich mitten in meiner Diplomarbeit. Ich hatte bereits das Thema: „Die Doppelbelastung der Frau in Familie und Beruf “. Ich habe mich aber ent‐ schieden, das Studium abzubrechen und in einen Betrieb, zu AEG-Telefunken, zu gehen. Dubbe: Wie bist du auf die Idee gekommen? Kam das von Mao? Rollnik: Es gab verschiedene Studentengruppen, die sich auf Betriebsarbeit konzentriert hatten. Meine Überzeugung war, dass es eine revolutionäre Um‐ wälzung geben sollte, und ich habe gedacht, das revolutionäre Subjekt ist die Arbeiterklasse, und ich bin als Intellektuelle ziemlich weit entfernt von diesem revolutionären Subjekt. Damals war schon klar: Die ganze Studentenbewegung ist am Zerbröckeln. Es gab zwar noch so kleine Grüppchen, die sich an der alten Arbeiterbewegung der 20er Jahre orientierten, und die versuchten, in den alten Masken und Kostümen dieser Arbeiterbewegung Politik zu machen. Da hatte ich aber das Gefühl: So geht es auf keinen Fall. Und dann gab es die anderen, auch Wege in die Radikalität 289 <?page no="290"?> aus meinem Freundeskreis, die integrieren sich jetzt und werden den langen Marsch durch die Institutionen machen. Die schließen ihr Studium ab, machen ein Diplom oder werden Lehrerinnen und werden irgendeinen bürgerlichen Beruf machen, und was dann sein wird und ob sie dann überhaupt noch politisch irgendetwas machen werden, das fand ich damals sehr zweifelhaft, und ich wollte das auf keinen Fall. Ich hab gedacht, ich muss mir jeden Weg in eine bürgerliche Existenz abschneiden. Den will ich nicht. Und weil du gefragt hast: Haben euch eure Professoren agitiert: Der, bei dem ich die Diplomarbeit schrieb, zu dem bin ich damals hingegangen mit einem Freund zusammen und hab gesagt, ich will das jetzt abbrechen, ich finde das politisch falsch, das zu Ende zu machen. Er war völlig entsetzt und sagte nicht etwa: Toll, mach das. Sondern: Nein, das finde er furchtbar, ich könne das Studium doch zu Ende machen und dann könne ich mir ja immer noch überlegen, in einen Betrieb zu gehen. Das fand ich aber nicht glaubwürdig für mich. Immer die Möglichkeit zu haben, wenn es mir mal nicht mehr passt, als einfache Arbeiterin zu leben, wieder aussteigen und doch Sozialpädagogin oder was weiß ich werden zu können: Ich wollte alle Brücken in eine Mittelschichtexistenz abbrechen. Mein Professor wollte mich unbedingt von diesem Schritt abhalten. Dadurch ist er für mich völlig unglaubwürdig geworden, weil ich merkte, wie wichtig diese bürgerliche Existenz für ihn selbst war. Dubbe: Eigentlich hatte er dich das Gegenteil gelehrt? Rollnik: Er hatte mich das nicht gelehrt, denn ich wollte selbst in diese Richtung, aber er hatte sich verbal immer sehr „revolutionär“ geäußert. [100] W I S NI E W S KI 1997: 15-18 Wie bist du denn bei der RAF gelandet? Dazu muss ich erst einmal erzählen, wie ich zur antiautoritären Bewegung gekommen bin. Ich bin in den 50er Jahren in einem kleinen idyllischen Schwarz‐ walddorf geboren und aufgewachsen, als Sohn eines polnischen Zwangsarbei‐ ters. Keine spektakuläre Geschichte, in Polen wäre es nur eine von hundert‐ tausend anderen gewesen, aber in diesem Dorf bläute mir meine Mutter ein: „Erzähl bloß nichts von der Geschichte deines Vaters, sonst kriegst du Ärger.“ Im Ort gab es etliche frühere SS- und SA-Männer und Mitläufer, die zu den angesehenen Bürgern zählten. Mein Vater hat „die Vernichtung durch Arbeit“ in einem KZ-Außenkommando nur acht Jahre nach seiner Befreiung überlebt - ich war damals noch ein Baby und meine Schwester war gerade unterwegs. Meine Mutter wollte mich ohne Hass erziehen. Aber auch in guter Absicht zu „schweigen“ war wohl doch nicht der richtige Weg. Ich bin jedenfalls aus 290 Manuel Vogel <?page no="291"?> verschiedenen Gründen für kürzere Zeit in ein Heim für „schwererziehbare“ Jungs gesteckt worden. Die meisten Kinder dort kamen aus den untersten sozialen Schichten, viele Farbige, Kinder ehemaliger GIs, auch Sinti und sogar ein Junge mit polnischer Abstammung. Im Heim sollten wir eine Lehre machen, mit Meistern, die uns mit Sprüchen wie: „Bei Hitler hätten wir mit euch kurzen Prozess gemacht“ traktierten. Ich bin von dort siebenmal in einem Jahr abgehauen und teilweise nach abenteuerlichen Jagden von der Polizei wieder eingefangen worden. Als ich das, auch mit Hilfe meiner Mutter, endlich hinter mir hatte, bin ich nach Hamburg gegangen und von dort zur See gefahren. Das war gar nicht romantisch, ich hab’ dabei das Elend in der Dritten Welt kennengelernt, wenn in afrikanischen Häfen ältere Männer an Bord kamen und im Tausch für Essensreste ihre Ehefrauen anboten. Wer sich da nicht schämt, sollte den Haifischen zum Fraß vorgeworfen werden. Ich bin dann in Hamburg geblieben, hab’ gejobbt und eine Abendschule besucht. Wie alt warst du damals? Da war ich knapp 20 Jahre. In jeder dieser Phasen hätte ich auch einen ganz anderen Weg gehen können, entscheidend für mich war die antiautoritäre Be‐ wegung: die neuen Lebensformen, Wohngemeinschaften, Stones-Musik, lange Haare, das hatte auf mich eine enorme Anziehung. Dazu kam der Sozialismus und andere revolutionäre Theorien, vor allem der in der Revolte geborene Sinn für Gerechtigkeit. Ich ging zur Roten Hilfe, war bei einer Hausbesetzung dabei, der Eckhoffstraße, einem Haus der Neuen Heimat. Wir waren militant, aber wir haben auch soziale Arbeit mit Obdachlosen oder Fürsorgezöglingen gemacht. Polizei und Springerpresse sind damals gemeinsam auf uns losgegangen - einige mussten für ein Jahr in den Knast, und es war eigentlich nur Zufall, dass ich nicht dazugehörte. Damals hatten wir das Gefühl, noch wirklich etwas verändern zu können, auch wenn sich der Rückzug der 68er längst abzeichnete und der Repressionsapparat immer härter zuschlug. Vor diesem Hintergrund erschien uns die RAF als besonders glaubwürdig, immerhin setzten die Genosslnnen ihr Leben für ihre Überzeugung ein. Es herrschte damals, als die ersten RAF-Leute verhaftet wurden, eine ungeheure Hetze. Schon deshalb dachten wir, da muss doch etwas dran sein, wenn gegen die so gehetzt wird. Es waren viele verschiedene Anstöße, die bei mir dazu geführt haben, mich mit der RAF zu beschäftigen. Ich bin dann aber erst noch nach Berlin gegangen. Ich war auch 1974 in Berlin und hab’ bei der Demo nach dem Tod von Holger Meins erstmals richtig Prügel gekriegt. Diese Situation haben ganz viele Leute erlebt, aber ganz wenige sind zur RAF gegangen. Wege in die Radikalität 291 <?page no="292"?> Dort hätten wir uns eigentlich treffen können. Ich habe nie vergessen, wie ich damals im Jugendzentrum in der Potsdamer Straße gewesen bin. Es ging um den Hungerstreik. Wir hatten von amnesty international bis Pfarrer Albertz alles mobilisiert, was überhaupt möglich schien. Ich stand also da in diesem Jugendzentrum, auf einem Tisch, ein Podium gab es nicht, und hielt gerade eine Rede. In dem Moment kommt jemand rein und sagt: Der Holger ist tot. Mir und nicht nur mir sind die Tränen in die Augen geschossen. Einige, die sonst eher zu den Kritikern der RAF zählten, haben sofort angefangen Molotowcocktails zu basteln, sind zum Ku’damm los. Wenn die anfangen, die Gefangenen umzubringen oder verrecken zu lassen, dann muss was anderes geschehen, dachten wir. Alles, was ich bis dahin in bezug auf die Gefangenen politisch gemacht hatte, war schlicht wirkungslos geworden. So konnte es nicht weitergehen. Die Beerdigung von Holger Meins mitzuorganisieren war meine letzte legale politische Tätigkeit. Das war für mich das Überschreiten einer Schwelle. [101] W I S NI E W S KI 1997: 47-50 Die Palästinenser hatten eigene Interessen bei so einer Aktion. Schon auch, dass die Gefangenen rauskommen, es ging ja auch um zwei palästinensische Gefangene, die in einem türkischen Knast saßen, aber sie haben dabei einen ganz anderen Hintergrund gehabt. Die haben sich gesagt, ein Land wie die Bundesrepublik, das wichtigste Land in der EG, ist in eine Konfrontation verwickelt, auf die die ganze Welt schaut, da können wir unser Anliegen mit einbringen. In dem Flüchtlingslager Tel al-Zatar in Beirut waren damals die Syrer den Falangisten zur Hilfe gekommen, als diese 6000 Palästinenser massakriert haben. Die Fraktion innerhalb des palästinensischen Widerstands, die die Landshut entführt hat, wollte in dieser Situation verhindern, dass die Syrer oder andere arabische Regierungen sich auf Kosten der Palästinenser mit Israel einigen. Wir wurden in diesem Konflikt auch in bezug auf Israel von der deutschen Geschichte eingeholt. War euch nicht klar, was es bedeutet, wenn bei der Flugzeugentführung 80 unheteiligte Urlauber umgebracht werden? Es entschuldigt nichts, aber wir haben dabei an die erfolgreichen Flugzeugent‐ führungen von Leila Khaled gedacht, deren Buch lange als Kultbuch in der Linken zirkulierte. Es war für uns ein Problem, die Mallorca-Urlauber und Schleyer auf eine Stufe zu stellen. In dieser speziellen Situation, in der Dynamik, die sich nach der Schleyer-Entführung entwickelt hatte, konnte das Angebot aber die Lösung sein. Wir sind davon ausgegangen, dass die Bundesregierung 292 Manuel Vogel <?page no="293"?> durch die Flugzeugentführung die Gelegenheit bekam zu sagen: O. K., wir sind hart geblieben bei Schleyer, aber jetzt können wir nicht mehr, jetzt müssen wir austauschen. In dieser Haltung steckte ein grotesker Widerspruch. Wir haben einerseits geglaubt, die Bundesrepublik befinde sich in einer Entwicklung hin zum Faschismus und haben deshalb der politischen Klasse alles Mögliche zugetraut. Aber genau an diesem Punkt haben wir unsere eigene Analyse nicht ernst genommen und gesagt: So, jetzt müssen sie austauschen, das können sie sich nicht leisten. Warum eigentlich nicht? Wir sind damit nicht aus der Verantwortung entlassen, weil wir einfach darauf vertraut haben. Aber für uns wäre es die Lösung gewesen: Schleyer wird nicht erschossen, die Gefangenen kommen raus. Ihr habt geglaubt, die 80 Leute sind nicht wirklich in Gefahr? Wir haben gedacht, dass sie sehr, sehr wahrscheinlich ausgetauscht werden. Wir sind aber auch dabei von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Die Aktion ist anders gelaufen, als sie geplant war. Die Entführung sollte im Südjemen enden. Dort wäre die GSG 9 niemals an die Maschine herangekommen, ohne sich gleich mit dem ganzen Land und dem Ostblock anzulegen. Die Bundesregierung hätte verhandeln müssen. [102] W I S NI E W S KI 1997: 53-57 Die Geschichte ist wie sie ist, und wir müssen sie erst einmal annehmen und die Verantwortung übernehmen. Ich muss zu meiner Schande sagen, dass ich mir auch erst viel später, während meines Prozesses, als ich anfing, meine eigene Ge‐ schichte unter einem anderem Blickwinkel zu begreifen, überlegt habe, dass wir viel stärker hätten deutlich machen müssen, warum wir ausgerechnet Schleyer gefangengenommen haben. Wir hätten Forderungen stellen müssen, die in eine ganz andere Richtung zielten. Es wäre naheliegend gewesen zu fordern, dass Daimler-Benz die Archive über den Einsatz von Zwangsarbeitern öffnet, dass der Konzern Entschädigungen für Zwangsarbeiter zahlt. Wir hätten sagen können, bei der Frage der Gefangenen gibt es nur noch tödliche Konfrontation, aber auf einem anderen Terrain kommen wir jetzt auf das zurück, worum es uns eigentlich inhaltlich geht. Aus einer solchen Position wäre es dann vielleicht auch möglich gewesen, ein anderes Ende, für Schleyer eine menschlichere Lösung zu finden. Habt ibr in der Gruppe darüber geredet? Wir haben, wenn überhaupt, dann nur innerhalb der Konsequenz dieser Aktion darüber geredet. Im Nachhinein muss ich sagen, wir haben nichts versucht, um Wege in die Radikalität 293 <?page no="294"?> die vermeintliche Zwangsläufigkeit zu durchbrechen. Aber damals war niemand bereit, ein Eingeständnis zu machen. Das hätte bedeutet, dass wir vieles, was wir später wohl gesehen haben, vorweggenommen hätten. Wir hätten sagen müssen, der bewaffnete Kampf, so wie er gelaufen ist, geht nicht. Für euch war schon vor Beginn der Geschichte klar, wenn die Gefangenen nicht rauskommen, wird Schleyer erschossen? Ja, das ist auch das, was in den Kommuniqués drinsteht … Es ist aber doch eine Sache, was man in Kommuniqués ankündigt, und eine andere, was dann wirklich passiert. Wir haben uns ja auch anders verhalten. Wir sind sogar während der Aktion von einer anderen Gruppe kritisiert worden, dass wir nicht die Aktion beendet haben, indem wir Schleyer erschießen. Sie haben gesagt, dadurch, dass wir das hinauszögern und auf die Verschleppungstaktik des Krisenstabes eingehen, machen wir es anderen unmöglich, bei späteren Gefangenenbefreiungen noch ernstgenommen zu werden. Es gab aber doch eine Zäsur, einen Punkt, an dem die Spirale der wechselseitigen Drohungen beendet war. Das war nach dem 18. Oktober. Die Maschine in Moga‐ dischu war gestürmt, die Geiseln befreit, drei Palästinenser erschossen, und die Gefangenen in Stammheim waren tot. Warum konntet ihr da nicht aussteigen, warum habt ihr Schleyer nicht nach Hause geschickt? Das hätte aus unserer damaligen Sicht bedeutet, dass wir die Politik des Krisenstabes bestätigen und legitimieren. Eine Freilassung ohne politische Ge‐ genleistung wäre nicht als eine menschliche Geste verstanden worden, sondern als Eingeständnis der Niederlage, als voller Erfolg für den Krisenstab, nach dem Motto: Härte zahlt sich aus. Aus heutiger Sicht sehe ich auch unsere verpassten Chancen, die politischen Interventionsmöglichkeiten, die auch Schleyer den Weg nach Hause hätten ebnen können. Hattet ihr euch dazu etwas überlegt, gab es Kompromisslinien, z. B. weniger Gefangene werden freigelassen, Hafterleichterungen, die Anerkennung, dass es sich um politische Gefangene handelt? Ein Kompromiss war von uns aus möglich. Wenn in der damaligen Situation das Angebot von Andreas zum Rückzug der Gefangenen zu einer Reaktion der Bundesregierung geführt hätte, wenn es irgendeine Form der politischen Akzeptanz gegeben hätte, wenn beispielsweise eine internationale Kommission zur Überprüfung der Haftbedingungen angeboten worden wäre, dann hätten 294 Manuel Vogel <?page no="295"?> wir natürlich reagiert, dann wäre es für uns undenkbar gewesen, strikt auf der ursprünglichen Forderung zu beharren und Schleyer zu erschießen. Man kann uns vieles vorwerfen, aber nicht, dass wir die Interessen der Gefangenen ignoriert hätten. Welche Rolle hat es gespielt, dass ihr nach den sechs Wochen Schleyer als Person kanntet? Das hat natürlich eine Rolle gespielt, es war bewegend und banal zugleich, wie bei jedem, der um sein Leben bangt. Aber Schleyer war auch zuletzt für uns nicht nur jemand, der eine Familie hat. Hat Schleyer jemals Rücksicht auf die ausgesperrten Arbeiter genommen? Schleyer hat nie ernsthaft seine Rolle im Protektorat Böhmen und Mähren bedauert - er war als SS-Mann für die Integration der tschechischen Industrie in die deutsche Kriegswirtschaft zuständig, sein Büro war damals nur 60 Kilometer vom KZ Theresienstadt entfernt, von wo die Transporte nach Auschwitz gingen. Außerdem hat die Bundesregierung ja die Ausstrahlung der Videobänder, in denen Schleyer selbst an den menschlichen Aspekt appelliert hat, verhindert. Sie hat auch die Gefangenen nicht reden lassen, dann wäre vielleicht das Rückzugsangebot Baaders bekanntgeworden und die Gefangenen hätten in der Öffentlichkeit ein anderes Gesicht bekommen. Sie hatten auch Freunde und Familie, die sie gerne wiedergesehen hätten. Aber die menschlichen Gesichtspunkte wurden vom Krisenstab bewusst ausgeschaltet. In der Logik der Aktion war dann auch das bittere Ende konsequent. Aber für unsere menschlichen und politischen Ziele war es ein Desaster. Wir waren so unheimlich konsequent, als es darauf angekommen wäre, menschliche Stärke und Großzügigkeit zu zeigen, und waren politisch so wenig radikal, sogar harmlos, als es darum ging, die gesell‐ schaftlichen Verhältnisse umzuwälzen und zum Tanzen zu bringen. [103] D E L LW O 2007: 65 Das kann man so sehen. Wir waren überzeugt davon, dass man vorangehen muss. Die RAF-Schriften haben mich und mein Umfeld angesprochen, weil sie für mich eine wirkliche Radikalität artikulierten. Was ich unheimlich treffend fand, war zum Beispiel der Satz: „Wer wirklich empört ist, der schreit nicht - der handelt.“ Das ging gegen die Anprangerungskultur der Linken. Warum erkläre ich anderen, dass man gegen My Lai und die Flächenbombardements doch was tun müsse? Warum mache ich nicht einfach was, und zeige den anderen so, was meine Antwort darauf ist? Dieser Gedanke entsprach mir sehr. Wege in die Radikalität 295 <?page no="296"?> Aber die „Anderen“, denen man durch Taten zeigen wollte, was die Antwort auf Vietnam oder die Notstandsgesetze oder die Isolationsfolter sein muss - das waren doch auch Linke. Das war doch nicht an die „Massen“ gerichtet. Die „Anderen“ waren nicht nur die Linken, sondern unsere ganze Generation und alle, die unter den Verhältnissen litten. Unmittelbar ging der Ruf natürlich an die Linken, eine revolutionäre Praxis zu entwickeln. Die wollten doch schließlich auch die Revolution, jedenfalls haben sie es alle laut betont. Die „Massen“ waren aber auch gemeint. Die sollten uns verstehen und uns nicht an die Polizei verraten. Die RAF sollte in der Bevölkerung sein wie ein Fisch im Wasser. [104] D E L LW O 2007: 68 Wolfgang Kraushaar vom Institut für Sozialforschung in Hamburg hat festge‐ stellt, dass die späteren RAF-Mitglieder überwiegend aus Upper-Class-Familien mit hohem Bildungsgrad kamen. Er spricht von den „entlaufenen Kindern der Bourgeoisie“. Und Jan Philipp Reemtsma hat in einem Interview zur RAF erklärt: „Es gibt immer einen bestimmten Teil von Adoleszenten oder Post-Adoleszenten, die sich vor dem bürgerlichen Leben fürchten, weil sie mit Recht annehmen, dass es anstrengend wird. Und die lassen sich von denen, die scheinbar nur nach dem selbst gegebenen Gesetz antreten, faszinieren. Aber in dem Augenblick, wo kein Weg mehr daran vorbeiführt, ein bürgerliches Leben zu beginnen, da hört das auch auf.“ (Hamburger Abendblatt, 8.6.2007) Für deinen Lebensweg gilt die Charakteri‐ sierung als „Bürgersohn“ sicherlich nicht. Aber allgemein gesprochen: Entstand der bewaffnete Kampf in Deutschland, weil Wohlstandskinder des bürgerlichen Lebens überdrüssig waren? Ich bin manchmal verblüfft über die Schlichtheit der Analyse, die aus diesem Institut kommt. Zum einen gab es damals schon viele Arbeitslose. Das „Wirt‐ schaftswunder“ war schon vorbei. Nach den Zerstörungen des Krieges hatte es ohnehin erst einmal nur aufwärts gehen können, außerdem haben die Siegermächte während des „Kalten Kriegs“ viel Geld in den Frontstaat BRD rein‐ gepumpt. Das wurde zur Leistung des Wirtschaftsministers und kurzzeitigen Bundeskanzlers Erhard hochstilisiert. Eine saturierte Gestalt, die gleichzeitig In‐ tellektuelle als „Pinscher“ bezeichnete und „die formierte Gesellschaft“ predigte, eine Art Ständestaat. Das waren Vorstellungen, die gut das pseudodemokrati‐ sche Bewusstsein der gewendeten Nazi-Eliten wiedergaben. Ab 1967 schlug der normale Krisenzyklus des Kapitals durch, und damit begann eine steigende Dauerarbeitslosigkeit. Es gab also schon eine materielle Krise. Dann hat die Jugend auch diese „gelenkte Demokratie“ nicht ausgehalten. Wenn der Wider‐ 296 Manuel Vogel <?page no="297"?> stand dagegen von Vertretern dieses Instituts heute als „Wohlstandsattitüde“ abgetan wird, dann ist das auch eine Selbstdenunziation ihres eigenen, damals gewiss ernst gemeinten Protests und Widerstands. [105] D E L LW O 2007: 71f Ich war damals von einem tiefen Deutschland-Hass geprägt. Von mir aus hätten die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg Dänemark an die Schweiz angrenzen lassen können oder die Niederlande an Polen. Wir waren ja um die Abrechnung mit der alten Verbrechergesellschaft betrogen worden. Wir stießen, wenn wir uns mit der Vergangenheit beschäftigten, immer auf maßlose Verbrechen, und es gab keine Abrechnung! Ich hatte mich immer geschämt, wenn ich im Ausland war, weil ich als Deutscher gesehen wurde. Während der Seefahrt hatte ich mir einmal ein T-Shirt gekauft mit britischer Flagge. Ich habe es einen halben Tag angehabt und danach nie wieder angezogen, weil ich die Aussichtslosigkeit erkannte, mir eine andere Identität zu borgen, die nur ein Umhang gewesen wäre. Es gab kein Entrinnen. Wir haben der Nazi-Generation nicht geglaubt, dass die ihre Vergangenheit bedauern. Die haben ja allenfalls ihre Niederlage bedauert. Heute ist bekannt, dass in der Zeit, als Hanns Martin Schleyer Personalchef bei Daimler-Benz war, Eichmann als „Ricardo Klement“ in der Außenstelle in Argentinien eingestellt wurde und sich dort auch offen mit seiner Vergangenheit brüsten konnte. Auch ist inzwischen bekannt, dass Adenauer von Eichmanns Fluchtort wusste und in den USA intervenierte, diesen den Israelis nicht bekannt zu geben. Der Bundeskanzler der Nachkriegszeit deckt die Personifizierung des Judenmords! [106] D E L LW O 2007: 84 f. Von meiner Zelle aus konnte ich auf den Mittelhof schauen. Dort lag die Son‐ derstation B2, in der Werner Hoppe aus der RAF inhaftiert war. Ich sah ihn mit Handschellen beim Einzelhofgang, ich war selber isoliert und wollte irgendwas machen, also habe ich Teile des Zelleninventars auf den Hof geworfen, darunter Schüsseln, Teller, Besteck und „Ihr Schweine“ gerufen und: „Nehmt ihm die Handschellen ab.“ Kurz danach stürmte ein Trupp Wärter die Zelle und holte mich vom Fenster. Da ich nun kein Geschirr mehr hatte, um das Essen in Empfang zu nehmen, gab es keines, bis zum nächsten Abend. Dann hat mir der Abteilungsleiter einen „Schadenszettel“ vorgelegt, den sollte ich unterschreiben und die Kosten übernehmen als Bedingung für neues Geschirr. Das habe ich natürlich nicht gemacht und habe dann auch kein Essen bekommen. Daraufhin habe ich das Waschbecken aus der Wand gerissen. Als das Wasser schon über den Türabsatz hinweg und über die Galerie die Stockwerke hinunterlief, Wege in die Radikalität 297 <?page no="298"?> hat mich ein Wärtertrupp in die sogenannte „Hamburger Glocke“ geschleppt: eine fensterlose Zelle, in der auf einem Betonsockel Holzbohlen angebracht waren mit Vorrichtungen zum Fesseln der Hände und Füße. Man wurde mit dem Rücken draufgeworfen und festgezurrt, so dass man sich kaum bewegen konnte. Das wurde schon nach wenigen Minuten ziemlich schmerzhaft. In der „Hamburger Glocke“ waren noch in den 60er Jahren sechs Gefangene gestorben. Wir wussten das aus unserer Gefangenenarbeit. Wir wussten auch, dass es im Gefängnis noch irgendwo eine Guillotine gab, mit der während der Nazi-Zeit Hinrichtungen gemacht wurden. Über 500 Menschen hat die Justiz dort ermordet. Von den Wärtern über 45 Jahre, das war einfach auszurechnen, mussten einige daran beteiligt gewesen sein. [107] D E L LW O 2007: 100 f Holger Meins’ Tod war eine Zeitenwende in der Geschichte der RAF. Nachdem das passiert war, gingen mehrere Leute aus den damaligen „Komitees gegen die Isolationsfolter“ in den Untergrund - unter anderem auch du. Was hat euch so empört an seinem Tod? Was war seine Bedeutung? Die unmittelbare Erfahrung war: Dass die Macht über uns drüberwalzen wird. Dass diese Leute an der Macht über jede Leiche bei uns gehen werden, um ihre Ordnung sakrosankt zu machen. Der Tod von Holger Meins war eine herrische Geste. Sie haben einen von uns geköpft und den Kopf dann hochge‐ halten. Gemeint waren wir. Um uns ging es, die wir in einer grundsätzlichen Systemopposition bleiben wollten. Sicher hat uns das in der Analyse des „Neuen Faschismus“ bestätigt. Aber das ist politische Theorie. Die hatten wir schon vorher und waren schon vorher davon überzeugt. Carmen Roll haben sie narkotisiert, um sich die Fingerabdrücke zu holen. Das muss man sich vorstellen: Da stürmen ein paar Wärter in deine Zelle, reißen dich zu Boden, dann kommt ein zu allem bereiter Weißkittel an und drückt dir gegen deine Atemnot die Gasmaske ins Gesicht, bis du weg bist. Das war für die normal. Und 1973 hatte die Bundesanwaltschaft versucht, Ulrike Meinhof für verrückt zu erklären. Dazu wollten sie eine Zwangsszintigrafie durchführen, ihr also gegen ihren Willen gewaltsam den Kopf öffnen und mal schauen, was sie damit machen können. Bundesanwalt Zeis äußerte damals zynisch: „Es wäre doch schade, wenn sich herausstellen würde, dass die Leute einer Verrückten nachgelaufen sind! “ Das lag auf dem Level der Verbrechen der Ärzte im Nationalsozialismus. Das war so die Haltung von Bundesanwaltschaft, Justiz und Politik: „Wenn’s uns dient, dann zersägen wir euch auch“- und feixen noch rechtsstaatlich dabei! 298 Manuel Vogel <?page no="299"?> [108] D E L LW O 2007: 129 Der Prozess in Stammheim war längst zu einer Farce geworden: Von einst fünf Angeklagten lebten noch drei. Es galten Sonderrechte und -gesetze. Die wesent‐ lichen Wahlverteidiger waren vor Beginn des Prozesses ausgeschlossen worden. Die Zellen waren abgehört worden. Richter Prinzing besprach seine Strategie mit der nächsthöheren Instanz, die später über die Revision entscheiden sollte. Der Kronzeuge der Anklage, Gerhard Müller, hatte sich leicht erkennbar auf einen Deal mit der Regierung eingelassen: Er machte Aussagen im Sinne der Staatsanwaltschaft und wurde im Gegenzug nicht wegen der Erschießung des Polizisten Norbert Schmid 1971 in Hamburg verurteilt, die ihm leicht nachzuweisen gewesen wäre. Justizminister Hans-Jochen Vogel nahm die Akten einfach als „sicherheitsrelevant für die Bundesrepublik Deutschland“ unter Verschluss, damit das Gericht ihn „aus Mangel an Beweisen“ freisprechen konnte. So weit zum "Gerechtigkeitsempfinden“, das die damals beteiligten Politiker heute so gern hochhalten. Die Liste ließe sich leicht fortführen. [109] D E L LW O 2007: 133 Von der Bewegung 2. Juni, die unabhängig von der RAF-Aktion, aber zeitgleich, den Industriellen Walter Palmers in Österreich entführt hatte - eine Geldbe‐ schaffungsaktion -, war den Illegalen der RAF die Einschätzung mitgeteilt worden, dass die Schleyer-Sache doch offenkundig gelaufen sei und man die Aktion beenden sollte. Das wollten die Illegalen der RAF aber nicht sehen. Stattdessen haben sie die Flucht nach vorn fortgesetzt und dem, was nicht ausreichte, noch das Verwerfliche draufgesetzt: die Entführung der „Landshut“, eine Passagiermaschine mit Mallorca-Urlaubern. Diese Geiselnahme hat das, was Gudrun „das moralische Ticket“ nannte, vollends weggetreten. Der letzte Brief von Holger Meins schloss mit dem Aufruf „Dem Volke dienen! “, und hier wurde das Volk angegriffen. Das war einfach und unzweideutig in unserem Kontext eine terroristische Aktion, die man ablehnen musste. [110] D E L LW O 2007: 142 Hast du denn gewusst oder geahnt, dass diese Flugzeugentführung mit der Zu‐ stimmung von Baader, Ensslin und den anderen Stammheimer RAF-Häftlingen stattgefunden hat? Nein. Ich habe gar nichts gewusst. Es hatte bis dato erst eine Flugzeug‐ entführung mit deutschen Linken gegeben. Das war die Entführung einer Passagiermaschine nach Entebbe unter Beteiligung von Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die früher fest in der Frankfurter Linken eingebunden und nun beim internationalen Flügel der Revolutionären Zellen waren. Wege in die Radikalität 299 <?page no="300"?> Das war am 27. Juni 1976, als das palästinensisch-deutsche Kommando nach der Landung im ugandischen Entebbe die Geiseln in jüdische und nicht-jüdische Passa‐ giere selektierte - die Nicht-Juden wurden freigelassen. Ein israelisches Kommando befreite schließlich die Geiseln und erschoss alle Mitglieder des Kommandos. Die Selektion in Juden und Nicht-Juden war ein schlimmer Fehltritt des bewaffneten Kampfes in Deutschland. „Das Ausmaß an historischer Amnesie und moralischer Desintegration“, so schrieben die Revolutionären Zellen im Jahre 1991 über diese Selektion, „ist die schwerste Hypothek, mit der unsere Geschichte belastet ist.“ Ist euch diese Aktion damals aufgestoßen? Ja, das war ein Schock. Ich kann nur sagen, dass ich so etwas damals nicht für möglich gehalten hätte. Danach kam von Gudrun Ensslin ein Brief, dass sie sich „beinahe von der Aktion distanziert hätten“, es aber nun wegen der beiden toten RZler nicht machten. Dieser Brief hat mich damals unendlich erleichtert. […] Sämtliche „Landshut“-Geiseln wurden lebend befreit. Helmut Schmidt hat zwanzig Jahre später erklärt, wenn die Operation schiefgelaufen wäre, wäre er zurückge‐ treten. Welche Konsequenz hättest du aus einer Tötung der Geiseln gezogen? Das hätte ich nicht überlebt. Das wäre unerträglich gewesen. Es gibt einfach ein Scheitern, da wird es erbärmlich, wenn du weitermachst. Wenn du dafür eine Rechtfertigung suchst - das würde nur zeigen, dass du keinen Maßstab, keine Verhältnismäßigkeit mehr kennst. Dann gibt es aber nichts mehr, wofür du kämpfst. [111] D E L LW O 2007: 151 f Du wurdest am 8. Dezember 1978 in den neugebauten Hochsicherheitstrakt der JVA Celle verlegt. Es war ein Freitag. Der Hubschrauber landete auf dem Sporthof, mehrere Polizeiwagen standen da. Ich wurde in den neuen Trakt gebracht, Kameras, Alarmdrähte, Sirene und Kühlschrankatmosphäre. Im Traktbüro erwartete mich der Anstaltsleiter. Er trug einen Schlips mit aufgestickter Deutschlandflagge und sagte, hier käme ich nicht mehr raus. In der Zelle wartete ich am ersten Tag noch darauf, dass sie irgendwann die Fenster aufmachen, bis mir klar wurde: Sie bleiben geschlossen. Zuerst dachte ich, dass ich das nicht überstehen kann. Jahrelang froren wir dort, obwohl die Zellentemperatur normal war. Um mich herum war alles hell und grell. Weiße Schleiflackmöbel, die sich kaum von den Wänden unterschieden, zwei riesige Neonröhren an der Decke und eine über dem Stahlspiegel. Ich hatte gleich sirrende Geräusche in den Ohren. Später sah ich es draußen regnen, hörte aber nichts. Kein Regenprasseln, nichts. 300 Manuel Vogel <?page no="301"?> Ich war in einer unwirklichen Welt, in der man etwas sah, aber gleichzeitig existierte es auch nicht. Was existierte gegen das Außen waren Fenster aus einer irren Stahl- und Panzerglaskonstruktion, die nach innen keinen Griff hatten. Die Griffe und die Schlösser waren draußen. Das war symbolträchtig: Ich war „innen“, aber das „Außen“ war abgeriegelt, also spiegelverkehrt zur Welt draußen, wo die Öffnungsmechanismen innen liegen und das Objekt gegen Bedrohung von außen gesichert wird. Auf den Panzerglasfenstern ein Firmensignet: „Allstop-Fensterglas“. Die Wände, so erfuhren wir später, waren mit Spezialbeton ausgegossen, unter dem Fußboden lag eine Stahlplatte. Ebenso wurde Jahre später bekannt, dass die getrocknete, dicke, harzähnliche Paste unter dem enormen Stahlbett Schallschluckfarbe war. Das Ganze eine Art Faradayscher Käfig. Ich musste aufpassen, dass ich keine Atemnot bekomme. Gleich an dem Freitag, an dem ich in Celle ankam, schrieb ich meinen Besuchern die neue Adresse, unter anderem meiner Schwester. Montag früh gab ich diese Briefe ab, Montagmittag wurde ich zum Sicherheitsdienstleiter gerufen: „Zu folgenden Personen haben Sie Besuchs- und Schreibverbot …“ Und dann las er alle Namen vor, die ich angeschrieben hatte. Ich hatte einfach niemanden mehr, mit dem ich hätte Kontakt aufnehmen können, außer meinem Anwalt. Der Hofgang wurde in einem kleinen Betonhof durchgeführt, in dem man achtzehn Schritte geradeaus und vier zur Seite gehen konnte. Im letzten Höhenmeter richtete sich die Mauer schräg nach innen, zusätzlich bewehrt mit Natodraht‐ rollen. Der Hof war mit Kameras überwacht und auf der einen Seite überdeckt mit einer Gitterkonstruktion, auf der anderen Seite mit einem Tarnnetz der Bundeswehr. […] Wie lang musstet ihr in der erzwungenen Stille leben? Aus der totalen Geräuschisolation sind wir nach zweieinhalb Jahren heraus‐ gekommen nach einem Hungerstreik von 72 Tagen. Da wurden die Fenster aufgemacht und in die Zelle wehten Naturgeräusche und die Atmosphäre des Anstaltslebens. Was für ein Unterschied! [112] D E L LW O 2007: 154 ff Nachdem Lutz Taufer, Bernd Rössner, Hanna Krabbe und ich auseinanderge‐ rissen worden waren, begannen für mich in Köln sieben Monate andauernder Gewalt durch das Knastsystem. Mal wurde ich auf einen Hof gebracht mit weißen Markierungsstrichen, die völlig sinnlos waren, und mir nur befehlen sollten, dass ich die Markierungen nicht überschreiten durfte. Natürlich bin ich immer über die Linie getreten. Riefen mir Gefangene einen Gruß zu und ich antwortete, wurde der Hofgang abgebrochen, da ich ja Redeverbot hatte. Dann kam das Rollkommando, weil ich auf der gesamten Hofgangsstunde bestand. Sie Wege in die Radikalität 301 <?page no="302"?> traten und schlugen wie immer heftig zu und man schleppte mich durch lange Kellergänge in den Bunker. Dort wurde ich je nach Laune nur hineingeworfen oder aber auf dem im Boden einbetonierten Holzbrett, auf dem Rücken liegend, an Händen und Füßen mit Ketten und Handschellen an Stahlringe gebunden. Einmal lag ich dort 48 Stunden, ohne losgebunden zu werden. Ich lag dort in meinem eigenen Urin, jede Stelle meines Körpers schmerzte. […] Vom 19. Oktober 1977 bis zum 8. Dezember 1978, als ich von Köln nach Celle geflogen wurde, gab es in Köln-Ossendorf eine dauerhafte Strategie des Schlafentzuges. Wenige Tage nach dem Tod der Stammheimer brachte man eine Schaltuhr neben unseren Zellentüren an, die die Wärter alle paar Minuten betätigen mussten, nachdem sie durch den Spion in die Zelle geschaut hatten. Nachts machten sie ständig das grelle Zellenlicht an und aus, unter dem Vorwand, nachschauen zu müssen, ob wir noch am Leben wären. Manchmal klopfte der Wärter auch noch mit dem Zellenschlüssel gegen die Tür. Der Schlafentzug raubt dir schnell alle Reserven. Ich lag da mit einem Hass, der immer stärker wurde, und wusste, dass ich nicht die geringste Chance hatte, diesen Angriffen auszuweichen. Manchmal habe ich versucht, Kleidungsstücke und Bettbezüge über die Lampe zu hängen, um sie abzudunkeln. Aber das führte nur dazu, dass ein Wärtertrupp in die Zelle kam und alles wieder herunterriss. Wenn es gar nicht mehr ging, bin ich aufgestanden, habe mich angezogen und mit dem Zellenstuhl die Lampe von der Wand geschlagen. Man kann nicht immer nur aushalten, das macht einen krank. Es dauerte dann keine zehn Minuten, bis das Rollkommando vor der Tür stand und mich wieder in den Bunker schleppte. [113] D E L LW O 2007: 162 Wie war euer alltäglicher Kontakt mit den Wärtern? Wir haben mit denen nicht gesprochen. Weder ihr „Guten Morgen“ beim Zellenaufschluss noch sonst etwas beantwortet. Nach einiger Zeit haben sie es auch eingestellt und blieben stumm. Die Kommunikation mit ihnen verlief über Zettel. Brauchte man Zahnpasta, Seife oder Toilettenpapier, legte man ihnen morgens einen Zettel auf den Tisch. Zur Mittagessensausgabe brachten sie das dann mit. Wir zeigten auf den Brotstapel, hoben drei oder vier Finger und gingen in unsere Zelle zurück. So haben wir das über Jahre gemacht. Im Hochsicherheitstrakt hatte man uns fast alle Kontakte zu anderen Menschen weggenommen. Eine solche Situation soll dazu führen, dass der Gefangene sich an die Wärter wendet als sozialen Bezug. Deswegen mussten wir klar auf einem Trennungsstrich bestehen. 302 Manuel Vogel <?page no="303"?> Wäre es nicht möglich gewesen, einen alltäglich-höflichen Umgang miteinander zu etablieren, ohne sich dabei zu verlieren - einfach, um von euch aus zu deeskalieren? Warum habt ihr diese konsequente Nicht-Kommunikation aufrechterhalten? Diejenigen, die die Haftbedingungen durchsetzen mussten, hätten in den Ge‐ sprächen ihr Problem zu unserem gemacht. Es hat keinen Sinn, mit Leuten zu diskutieren, die über das, was sie tun, nicht entscheiden können. Wenn wir davon abwichen, versuchten die gleich, ihren Raum zu erweitern und unseren zu besetzen. Harry Stürmer von der Bewegung 2. Juni, der mit der schweren Last des Diplom-Psychologen geschlagen war, hatte irgendwann aus seiner strukturellen Freundlichkeit heraus doch „Guten Morgen“ und „Guten Tag“ gesagt, was sofort dazu führte, dass die Wärter ihm überflüssiges Essen anboten, sich immer freundlicher gaben und weitere Gespräche führen wollten. Man zog sich damit selber nur die zusätzliche Schwierigkeit auf den Hals, wieder neu die Grenzen ziehen zu müssen. Was einmal verloren ist, ist aber schwieriger wieder durchzusetzen. Ihm ging es dabei immer schlechter. Nach dem Gefängnis hat er sich für sein inkonsequentes Verhalten entschuldigt. [114] D E L LW O 2007: 164 f Man könnte den Hochsicherheitstrakt als eine Art Waschmaschine sehen, in dem das Bewusstsein des Gefangenen „weiß“ gewaschen wird. Ich selbst empfand ihn eher als Tiefkühlschrank, der den Widerstand einfrieren soll. In dieser Kühltruhe saß ich eines Tages sechs Stunden an der Schreibmaschine und habe genau sechs Zeilen hinbekommen. Die waren voller Fehler. Mir ist einfach nichts mehr eingefallen. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich eine Klammer im Gehirn. In den Ohren sirrte es ständig. Die fehlende Bewegungsmöglichkeit führte zu einer Art „Elefantenkrankheit“, das heißt, ich bin stundenlang in dieser Zelle hin und her gegangen. Wir hatten längliche Zellen. Sie hatten eine Länge von rund 5,70 Metern, in der Mitte eine Breite von 1,80 Metern und an den Enden von ungefähr 2 Metern, mit zwei Türen, so dass die Wärter gegebenenfalls durch zwei Eingänge reinstürmen konnten. Nach den sechs Stunden an der Schreibmaschine habe ich in den Stahlspiegel geschaut und nüchtern den Gedanken zugelassen, dass ich nichts mehr hinbekomme und es vorbei ist. Bei den Anwaltsbesuchen und bei dem Monatsbesuch fielen mir die Wörter nicht mehr ein und die, die ich fand, kamen mir nur mühsam und ungelenk über die Lippen. Ich hatte, wie in jedem Gefängnis, auch in Celle danach geschaut, was man machen konnte, wenn man Schluss machen will. Die schweren Stahlbetten, die man mit den Füßen zur Wand hochkant hinstellen konnte, gaben einem eine sichere Chance. Das hatte etwas Beruhigendes. Ich habe stattdessen am nächsten Tag eine Hungerstreikerklärung abgegeben. Ich existierte jetzt über Wege in die Radikalität 303 <?page no="304"?> vier Jahre unter wechselnden Isolations- und Gewaltbedingungen, es war klar, dass wir wegen der Situation bei allen einen gemeinsamen Hungerstreik machen mussten, aber ich konnte einfach nicht mehr warten. Heinz Herlitz und Harry Stürmer schlossen sich an. Am Ende dieses Hungerstreiks hatten wir zu dritt Hofgang im Trakthof und kamen zeitweise abends für ein oder zwei Stunden in einen Umschluss. [115] D E L LW O 2007: 165 War die - zumindest zeitweise - Zusammenlegung eine Lösung? Ging es euch danach besser? Jeder Zusammenschluss ist eine Erleichterung für eine Zeit. Diese Erleichte‐ rung zerfällt schnell. Drei Leute auf kleinstem Raum, jeder mit seinen eigenen Schwierigkeiten in der Isolation, den offen liegenden Nerven, der Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, und der aussichtslose Versuch, in einem Raum, der für niemanden reicht, dem anderen in seinen Bedürfnissen gerecht zu werden - das ist keine Konstellation, die auf Dauer lebbar ist. Das sehe ich heute auch für Stammheim so. In der Sprache der damaligen Zeit hieß das „Kleingruppenisolation“. Wie seid ihr mit den Konflikten unter euch umgegangen? In der Kleingruppe bekommt man nach einiger Zeit mit einiger Not gerade das gemeinsame Überleben hin. In dieser Nähe meint man irgendwann, dass man den anderen bis in seinen letzten Winkel kennt und der andere ohne jedes Geheimnis bleibt. Wir hatten die ganzen Jahre oft große Probleme unter uns, die wir nicht lösen konnten, die wir in der Hoffnung, dass wir irgendwann in einen größeren Zusammenhang kommen, weggeschoben haben. Von den unterschiedlichen Isolationsvarianten unterlag ich rund zwölf Jahre der Kleingruppenisolation. Wir hatten Zeiten, da haben wir monatelang kaum mit‐ einander gesprochen, außer dem Nötigsten, wenn es irgendetwas zu berichten gab oder entschieden werden musste. Aber selbst in der desolatesten Situation brachte uns der Angriff von außen sofort wieder zusammen. Die Wärter hatten ja unsere Situation ebenso mitbekommen, öfters versuchten sie, spaltend zu intervenieren. [116] D E L LW O 2007: 167-170 Du hast erlebt, wie Holger Meins starb. Hattest du Todesangst während des Hungerstreiks oder während der Zwangsernährung? Angst hat man immer vorher, immer wenn man auf das Rollkommando wartet. Wenn es dann da ist und man auch dagegen anrennt, verschwindet die Angst. 304 Manuel Vogel <?page no="305"?> Es ist sofort eine neue Situation da. Während der Konfrontation, in die du selbst aktiv hineingehst, hast du keine Angst. Angst hast du nur, wenn du ausweichen willst und die Dinge mit dir machen lässt. Beim Hungerstreik 1981 hatte die Anstaltsleitung in Celle sich vorgenommen, einmal eine Serie von Zwangsernährungen durchzuführen, um mich so vielleicht doch zum Abbruch zu bekommen. Damit niemand eventuelle Verletzungen sah, haben sie diesen Versuch auf Feiertage direkt vor einem Wochenende gelegt und einen bereits abgesprochenen Besuch telegrafisch aufgehoben. Das fand ich damals sehr be‐ drohlich und die dann folgenden Zwangsernährungen waren sehr gewalttätig. Ich habe mich immer mit allem, was ich an Kraft noch hatte, gewehrt. Am dritten Tag ist sie ihnen außer Kontrolle geraten. Ich war auf einem Stuhl festgebunden, der wie eine Sackkarre hinten Räder hatte und vorn eine Eisenplatte. Sie hatten mich mit Fuß-, Bein-, Bauch- und Brustgurten festgezurrt und die Hände nach hinten mit Handschellen gefesselt. Trotzdem habe ich noch ruckeln und den Kopf bewegen können. Am Kopf hingen zwei Wärter und hinten drückte noch einer die Arme hoch, dann wurde mein Mund mit einer Stange aufgebrochen und Gummikeile reingeschoben. Danach der Zwangsernährungsschlauch. Ich bin dann plötzlich zusammengeklappt. Während der Schlauch drin war, stieg gleichzeitig die reingepumpte Flüssigkeit wieder hoch und etwas davon lief in die Bronchien rein. Ich dachte, ich ersticke und mir fliegt der Kopf weg. Dann riss der Arzt auf einmal den Schlauch raus und schrie, dass man mich losbinden sollte. Danach lag ich vielleicht 20 Minuten in heftigen Krämpfen auf dem Boden und habe mir sozusagen die Lunge aus dem Leib gekotzt. Das war derart heftig, dass zwei der Wärter am Weinen waren. Damals dachte ich zuerst, dass ich jetzt sterben muss. Dann haben sie mich in die Zelle zurückgetragen. Inzwischen waren Notärzte von draußen gekommen. Der Anstaltsarzt Schulz bettelte mich richtig an, dass ich mich in die Klinik verlegen lassen sollte. Ich habe das gesagt, was man in der Situation nur sagen kann: Ich lasse mich behandeln, wenn die Forderungen erfüllt werden. In diesem Hungerstreik ist Sigurd Debus in Hamburg umgebracht worden, er starb am 16. April 1981 an den Folgen der Zwangsernährung. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was sie mit ihm gemacht haben. Wenn ich die Zwangsernährungen dazu zähle, habe ich in meiner Haft weit über 200 gewaltsame Zusammenstöße mit den Wärtern, mit der Polizei bei der Abnahme der Fingerabdrücke oder mit Ärzten durchgemacht. […] Was ich hier beschreibe, ist nur ein Auszug. Und es ist noch dazu einer, der mich betrifft. Auf die ganze BRD und Westberlin bezogen, könnten wir ganze Bände mit solchen Erinnerungen füllen. Es hat nicht erst mit unserer Inhaftierung angefangen, es hat auch nicht mit unserer Entlassung aufgehört. Seit 1970, mit den ersten Verhaftungen, hat es das Sonderprogramm gegen die Wege in die Radikalität 305 <?page no="306"?> politischen Gefangenen gegeben. Nach 1977 sind alle, die verhaftet wurden, diesem Sonderstatut unterworfen worden. Manchmal wundert es mich, dass es nicht noch mehr tote Gefangene gab. Als Knut Folkeıts im Hungerstreik 1985 in einen komatösen Zustand fiel, gerade noch zur Schnappatmung fähig, wusste keiner, ob er das überlebt. Nur zwölf Stunden später wurde Lutz Taufer im bewusstlosen Zustand abtransportiert. Die Situation bei Christian Klar war ähnlich. 1981 wurden die Eltern von Gabriele Rollnik vom Berliner Justizsenat angerufen mit der Information: Wenn Sie Ihre Tochter noch einmal lebend sehen wollen, müssen Sie sofort nach Berlin kommen. So war das Verhältnis. Um etwas zu verändern, mussten wir oft die Grenze vom Leben zum Tod berühren. Die Haftbedingungen waren nicht unbeabsichtigt oder ungewollt. Nach 1977 haben Länder und Bundesregierung weit mehr als 100 Millionen Mark ausgegeben, um Hochsicherheitstrakte zu bauen, die eigentlich Mausoleen waren, um die RAF, die Bewegung 2. Juni und alle anderen, die sich gegen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse bewaffnet hatten, darin zu begraben. Isolation, Vernichtungshaft und Folter: All das sind Begriffe, die in der Geschichts‐ schreibung fast nur noch als euer Propagandainstrument auftauchen. Du bestehst aber darauf, dass es eine Vernichtungsabsicht gegen euch gegeben hat. Die Gewaltmaßnahmen, auf die wir gestoßen sind, waren vielleicht nicht das, was sie gewollt haben. Sie wollten, dass wir uns in der Isolation verlieren, dass wir „weiß“ werden, wie Christian Geissler einmal richtig erkannte. Aber die Gewalt ist der Isolationsstrategie immanent, und die offene Gewalt sollte den Widerstand brechen, ohne den wir in der Isolation zugrunde gegangen wären. Dass wir da lebend und als Subjekte herausgekommen sind, haben wir allein unserem Widerstand und der Unterstützung unserer Freunde und Genossen draußen zu verdanken, ebenso den Angehörigen, die jahrelang in der Angehörigengruppe waren, vor allem auch unseren Anwälten, die so unendlich wichtig waren für uns, weil sie die Einzigen waren, die in unser Isolations‐ gehäuse reingelassen werden mussten - nicht immer, wie wir während der Kontaktsperre erlebten, aber doch die meiste Zeit. [117] D E L LW O 2007: 194 f In der Revolte der 60er Jahre - wie in jeder wirklichen Revolte war etwas von der befreienden Macht des Menschen über sich selbst aufgeschienen und wurde in unserer Generation zur materiellen Erfahrung, dass ein anderes Leben möglich ist. Es hat viele ergriffen, aber nicht alle auf Dauer geprägt. Diejenigen, die von dieser Erfahrung geprägt wurden, wollten sie nicht mehr loslassen. Es waren die Genossen, von denen Krahl auch schrieb, dass sie nicht mehr bereit waren, einen 306 Manuel Vogel <?page no="307"?> „abstrakten Sozialismus, der nichts mit der eigenen Lebenstätigkeit zu tun hat, als politische Haltung zu akzeptieren“. Der Kampf musste die Veränderung des eigenen Subjekts beinhalten. Krahl erkannte ebenso, dass in den Strukturen der revolutionären Organisation das Ziel bereits antizipiert sein muss. Das hatte die RAF versucht. Daran muss, gegen eine Renegatengeschichtsschreibung, heute erinnert werden. Das war eine Anziehungskraft der RAF, die Verheißung aller Revoltierenden: der neue Mensch. Die ganze Person musste eingesetzt werden und sich von allem Bürgerlichen trennen. Bis in die Orthografie hat die RAF nichts Altes bestehen lassen wollen. Das Mystische taucht als zweite Figur neben der materialistischen in allen Kämpfen auf, wo Menschen sich befreien, denn der Ursprung des Lebens hat keine Rationalität. Alles, was mit dem Menschen zu tun hat, hat auch gleichzeitig etwas Existenzialistisches. [118] D E L LW O 2022 Mich beschäftigt seit langer Zeit die Frage der „anthropologischen Mutation“, eine begriffliche Verdichtung, die ich später erstmals bei Pasolini gefunden habe, die mich aber inhaltlich trotzdem mein Leben lang begleitet hat. Bei einigen meiner Generation trat der Inhalt in einer anderen Form auf, deren Erfahrung aber aus der gleichen Zeit stammt: die Folgen der Modernisierung des Nachkriegskapitalismus von seinem 8-Stunden-Tag hin zum 24-Stunden-Tag des Kapitals. […] 1945 und folgend hatte der Nachkriegskapitalismus - da eine ungeheure Zerstörung der europäischen Welt aufgehoben werden musste - eine 20-jährige prosperierende Zeit vor sich, die keine zyklischen Krisen kannte und in der es im „Aufbau“, auch „Restaurationsphase des Kapitalismus“ genannt, immer nur aufwärts zu gehen schien. Das waren die Zeiten des sogenannten „Wirtschaftswunders“, ein simples ideologisches Konstrukt, mit der die Wahr‐ heit des Kapitalismus, der vorher im Konkurrenz- und Ressourcenkampf gerade erst zur Zerstörung von Gesellschaften geführt hatte mit ungeheuren materi‐ ellen Folgen, für die Gläubigen des Fortschritts als Überlegenheitsmoment des Westens propagiert wurde gegen die damals noch existierende erste Form eines Sozialismus, der einer noch aufzubauenden Staatlichkeit unterworfen war. Etwa 1967, eigentlich beginnend schon ab 1965, ist die Zeitspanne abgelaufen, in der die Restauration der bürgerlichen Gesellschaft nach ihrer Selbstauflö‐ sung im Pakt mit dem Faschismus (also den beginnenden 30er Jahre bis hin dann 1945) alle immanenten Widersprüche nach hinten geschoben hatte. Die ersten manifesten Verwertungskrisen des Kapitals traten auf. Es musste eine Ausdehnung des Verwertungsbereiches für die permanente Geldproduktion gefunden werden und historisch ist das etwa die Zeit, in der zunehmend vormals als privat geltende Lebensbereiche durchkapitalisiert wurden. Das fressende Wege in die Radikalität 307 <?page no="308"?> Bedürfnis des Kapitals nach Zugriff auf weitere Lebensbereiche in der Gesell‐ schaft jenseits der Fabrik und der Agrarproduktion wurde größer. Alles wurde neu durchorganisiert und neu getaktet. Arbeitsemigranten wurden in Massen herbeigeholt, weil das einheimische Personal nicht mehr ausreichend war und sie billiger entlohnt werden konnten. Die Frauen wurden in das Arbeitsleben hineingezogen und damit in die Normalität von Produktion und Handel. Aus den Universitäten wurden Funktionsorte für die Erfordernisse von Industrie und Handel. Bildung ist inzwischen eine flexible Ware. Die sogenannte „sexuelle Freiheit“ wurde als systemstabilisierend erkannt und als Verwertungsbereich aus der Schmuddelecke der Gesellschaft herausgezogen hinein in einen profi‐ tablen Massenbereich. Inzwischen gibt es, wenn Sie sich z. B. das Fernsehen (am übelsten das Privat-TV) oder die Online-Medien anschauen, nichts mehr, was nicht der permanenten Einhämmerung des Zwangs zum Konsum unterworfen ist. Sie können kaum noch einen Film ansehen oder eine Nachricht lesen, ohne unterbrochen zu werden mit Videoclips und sich anbiederndem Werbemüll. Der Bericht über eine Katastrophe oder ein Verbrechen wird unterbrochen mit der Werbung für eine Sonnencreme. Jeder Adressat von Nachrichten oder Werbung ist darin heute gleichermaßen verachtet. Alles Authentische scheint verloren und ist zum Beiwerk einer Welt des Verkaufs degradiert. (…) Dieser Prozess, den viele der sich damals Politisierenden als zunehmende Übernahme ihrer neuen Lebensformen durch das Kapital erfahren, am Anfang überhaupt erst intuitiv erspürt hatten, wurde mit Scheinfreiheiten umstellt. Plötzlich waren Lebensformen akzeptiert, deren Beanspruchung zuvor oftmals noch zum Polizeieinsatz führte. Viele Haltungen der vorher erstarrten Gesellschaft wurden aufgehoben, denken Sie nur an das Recht auf Abtreibung, Entkrimina‐ lisierung der Homosexualität, Durchlässigkeit des Bildungssystems auch für Arbeiterkinder, neue Schulformen und Kindererziehung und vieles andere mehr. Das ganze Gesellschaftssystem wurde umgebaut. Wenn ich von Scheinfreiheiten rede, dann nicht, weil ich die Dinge im Einzelnen entwerte. Endlich gibt es eine - wenigstens - formale Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft, endlich werden andere sexuelle Identitäten in ihrer Normalität anerkannt. Wenn ich von Scheinfreiheiten rede, dann deswegen, weil jeder dieser Erfolge mit einem höheren Grad an Anpassung in das ökonomische System bezahlt wurde. Das ist das Paradox: Die Erweiterung einer partikularen Freiheit wird vom System so organisiert, dass sie auf das ganze System stabilisierend und herrschaftssichernd wirkt unter Steigerung der Ausbeutungsrate. Das ist die Potenz des liberalen Kapitalismus, die er gerne gegen andere Wirtschaftsformen in Geltung bringt und von der aus er glaubte, sukzessive die ganze Welt erobern zu können. Dass das allerdings nur im Innern funktioniert und die Liberalität 308 Manuel Vogel <?page no="309"?> schnell ihre Grenzen findet, haben diverse Kriege in den letzten Jahrzehnten wie der Irak-Krieg 1, der Jugoslawienkrieg, der Irak-Krieg 2, die Zerstörung von Libyen und jüngst die Politik gezeigt, die zur Militarisierung des neuen Ost-West-Konfliktes in der Ukraine führte. Gleichwohl, wir reden hier von der sozialen Zerstörungskraft des Kapitalismus nach innen: Das Kapital repro‐ duziert sich nach seinen Sachzwängen, und seinen Vertretern ist es in letzter Konsequenz egal, ob Sie Frau, Mann oder divers, ob Sie Afrikaner, Chinese, Europäer, ob sie schwarz, weiß oder gelb sind, ob Sie sich dieser oder jener sexuellen Gruppe zugehörig fühlen oder irgendeiner Lebensform. Natürlich be‐ vorzugen die führenden Akteure innerhalb des bestehenden Herrschaftssystems Menschen, die das alles nicht wollen, die in nationalistischen Kategorien denken oder in den alten Kategorien der Geschlechterhierarchie oder in etwas anderem, womit Gesellschaften gespalten werden, da es Herrschaft leichter macht. Aber in der letzten Instanz der ökonomisch grundierten Gesellschaft gilt nur ein Gesetz: das von Wachstum und Mehrwehrt, das von Arbeit und Konsum. Das ist das einzig Unverzichtbare für das System der Lebens- und Weltverwertung: dass die Menschen die Verwertung des eigenen Lebens für die Akkumulation des Kapitals akzeptieren. Der Preis dafür ist unendlich hoch: Jede/ r bezahlt es mit dem grundsätzlichen Verlust über die Verfügung des eigenen Lebens. Dieser Akt vollzieht sich, indem die substanzielle Ausbeutung mit dem technologischen Fortschritt gesteigert und gesteigert und gesteigert wird. Wenn Sie dem nicht mehr entsprechen, sind Sie der Feind aus einer anderen Welt. (…) Das war der Hintergrund der aufbrechenden Revolte der sechziger Jahre, die bei mir und anderen zu dem geführt hat, was man den Trennungsstrich ziehen nannte oder die Machtfrage stellen oder einfach nur das Einnehmen einer antagonistischen Position. 4 Literatur A U S T , Stefan (2010): Der Baader-Meinhof-Komplex, München 2010 (Taschenbuchausgabe der Neuausgabe von 2008). B A K K E R S C H U T , Pieter (Hg.) (1987): das info. 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W I S N I E W S K I , Stefan (1997): Wir waren so unheimlich konsequent … Ein Gespräch zur Geschichte der RAF mit Stefan Wisniewski, Berlin 1997. Wege in die Radikalität 311 <?page no="313"?> Autoren dieses Bandes Apl. Prof. Dr. Raik Heckl, Jahrgang 1967, studierte Evangelische Theologie in Leipzig, Halle und Naumburg sowie Judaistik in Jerusalem. Nach Promotion im Jahr 2001 und Habilitation im Jahr 2008 nahm er eine Vielzahl von Lehrstuhl‐ vertretungen wahr. Als Heisenbergstipendiat analysierte er die biblischen Texte als Diskursfragmente und verfasste zuletzt eine Studie zum Konzept der Leviten. Prof. Dr. Werner Kahl, Jahrgang 1962, studierte Evangelische Theologie in Bochum, Göttingen und an der Emory University in Atlanta, Georgia, wo er 1992 promoviert wurde. Nach Vikariat und Pfarramt ermöglichte es ihm ein Habilitationsstipendium der DFG, zu Feldforschungen nach Westafrika zu gehen. Die Habilitation erfolgte 2004 an der Goethe-Universität Frankfurt. Nach einer dreijährigen Dozentur an der Legon-University in Accra, Ghana, und der Übernahme einer mehrjährigen Vertretungsprofessur an der Universität Kassel war er von 2006 bis 2020 als Studienleiter an der Missionsakademie an der Universität Hamburg tätig. Er lehrt als außerplanmäßiger Professor für Neues Testament an der Goethe-Universität und ist seit 2022 Pfarrer in Hanau. Gastprofessuren in Ghana und in Samoa. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Synoptische Evangelien, Neues Testament und Koran, Postkoloniale und Inter‐ kulturelle Hermeneutik. Prof. Dr. Andreas Kunz-Lübcke, geb. 1964, hat in Naumburg evangelische Theologie und in Jerusalem rabbinische Literatur studiert. Nach seiner Pro‐ motion und Habilitation in Leipzig hat er an den Forschungsprojekt „Das Kind in Israel und seinen Nachbarkulturen“ gearbeitet. Seit 2012 lehrt er an der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie in Hermannsburg das Fach „Biblische Hermeneutik in interkulturelle Perspektive“. Apl. Prof. i.R. Dr. Karl Leo Noethlichs, geb. 1943. Studium in Köln in den Fächern Alte Geschichte, Mittlere und Neuere Geschichte, Klassische Philologie mit Schwerpunkt Latein und Philosophie. Dort Promotion im Februar 1971; Habilitation an der RWTH-Aachen im Januar 1980 in Alter Geschichte. Ernen‐ nung zum apl. Professor 1987. 1991 Beförderung zum Studiendirektor i.H. Erasmusbeauftragter 1991-2008. Lehrtätigkeiten in Duisburg, Nottingham (Eng‐ land), Lyon (Frankreich) und Siena (Italien); Mitglied der Group de Recherche 2135 (Paris): „Textes pour l’Histoire de l’Antiquité Tardive“. Forschungsschwer‐ <?page no="314"?> punkte: Römisches Recht, Spätantike Verwaltungsgeschichte (Konstantin bis Justinian), antikes Judentum, frühes Christentum (Häresien), „Korruptionsfor‐ schung“. Prof. Dr. Simone Paganini, geboren 1972 in Italien. Nach Stationen in Florenz, Rom und Innsbruck war er an den Universitäten Wien, München, Innsbruck und Bozen tätig. Seit 2013 ist er Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen. Er ist Autor mehrerer wissenschaftlicher Monographien ( Jesaja, Deuteronomium und Dead Sea Scrolls) und populärwissenschaftlicher Bücher (zuletzt über Fake News, Tiere, Sex in der Bibel oder über biblische Bezüge in Star Wars) sowie zahlreicher Aufsätze in Fachzeitschriften. In der Lehre expe‐ rimentiert er gerne mit neuen Methoden der technologiegestützten Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte (Blended Learning, Gamification, Flipped Classroom, Virtual Reality). Prof. Dr. Michael Tilly, geboren 1967, studierte Evangelische Theologie in Hei‐ delberg und Mainz, wo er 1993 im Fach Neues Testament promoviert wurde. Bis 1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann bis 2001 Wissenschaftlicher Assistent am dortigen Seminar für Judaistik. Im Jahre 2001 erlangte er die Habilitation im Fach Judaistik. Bis 2007 Hochschuldozent in Mainz, bis 2012 Professor für Neues Testament und biblische Didaktik in Landau. Seitdem Professor für Neues Testament und Leiter des Instituts für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungs‐ schwerpunkte: Neutestamentliche Zeitgeschichte, antike Bibelübersetzungen, Anthropologie und Ethik im antiken Judentum und im frühen Christentum. Prof. Dr. Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangeli‐ schen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitar‐ beiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hoch‐ schuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u. a. zu Paulus, Josephus, zum hellenistischen Judentum und zum christlich-jüdischen Dialog. 314 Autoren dieses Bandes <?page no="315"?> Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ) begründet von Klaus Berger, François Vouga, Michael Wolter und Dieter Zeller herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ theologie-kat/ theologiereihen-kat/ tanz/ ? ___store=narr_starter_de Band 34 Holger Sonntag NOMOΣ ΣΩTHP Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext 2000, XII, 376 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2826-7 Band 35 Markus Sasse Der Menschensohn im Evangelium nach Johannes 2001, XIV, 337 Seiten, €[D] 43,- ISBN 978-3-7720-2827-4 Band 36 Michael Labahn/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft Vorträge auf der ersten Konferenz der European Association for Biblestudies 2002, VIII, 286 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2828-1 Band 37 Johannes Krug Die Kraft des Schwachen Ein Beitrag zur paulinischen Apostolatstheorie 2001, 350 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2829-8 Band 38 Byung-Mo Kim Die paulinische Kollekte 2002, 220 Seiten, €[D] 44,- ISBN 978-3-7720-2830-4 Band 39 Vincenzo Petracca Gott oder das Geld Die Besitzethik des Lukas 2003, XIV, 410 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2831-1 Band 40 Jürg Buchegger Erneuerung des Menschen Exegetische Studien zu Paulus 2003, XIV, 409 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2832-8 Band 41 Claudia Losekam Die Sünde der Engel Die Engelfalltradition in frühjüdischen und gnostischen Texten 2010, VI, 407 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8001-2 Band 42 Stefan Alkier/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Unter Mitarbeit von C. Dronsch und M. Schneider Zeichen aus Text und Stein Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments 2003, 540 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8007-4 Band 43 Alexander Mittelstaedt Lukas als Historiker Zur Datierung des lukanischen Doppelwerks 2005, 271 Seiten, €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8140-8 TANZ Reihenzettel_20220407.indd 1 TANZ Reihenzettel_20220407.indd 1 25.10.2024 09: 41: 48 25.10.2024 09: 41: 48 <?page no="316"?> Band 44 Anja Cornils Vom Geist Gottes erzählen Analysen zur Apostelgeschichte 2006, VIII, 283 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8156-9 Band 45 Joel White Die Erstlingsgabe im Neuen Testament 2007, 374 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8210-8 Band 46 Jörg Michael Bohnet Die Berichte über die Himmelfahrt Jesu 2015, ca. 430 Seiten, ca. €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8216-0 Band 47 Renate Banschbach Eggen Gleichnis, Allegorie, Metapher Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung 2007, XII, 312 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-8238-2 Band 48 Frank Holzbrecher Paulus und der historische Jesus Darstellung und Analyse der bisherigen Forschungsgeschichte 2007, X, 200 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8242-9 Band 49 Armin D. Baum Der mündliche Faktor Analogien zur synoptischen Frage aus der antiken Literatur, der Experimentalpsychologie, der Oral poetry-Forschung und dem rabbinischen Traditionswesen 2008, XVIII, 526 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8266-5 Band 50 Christian Kurzewitz Weisheit und Tod Die Ätiologie des Todes in der Sapientia Salomonis 2010, 194 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8349-5 Band 51 Sascha Flüchter Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit Auf dem Weg zu einer sozialhistorisch orientierten Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 in der neutestamentlichen Literatur 2010, XIV, 385 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8373-0 Band 52 Philipp Kurowski Der menschliche Gott aus Levi und Juda Die Testamente der zwölf Patriarchen als Quelle judenchristlicher Theologie 2010, VI, 195 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8384-6 Band 53 Jochen Wagner Die Anfänge des Amtes in der Kirche Presbyter und Episkopen in der frühchristlichen Literatur 2011, 358 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8411-9 Band 54 Stephan Hagenow Heilige Gemeinde - Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums 2011, 370 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8419-5 Band 55 Soham Al-Suadi Essen als Christusgläubige Ritualtheoretische Exegese paulinischer Texte 2011, 347 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8421-8 Band 56 Matthias Klinghardt/ Hal Taussig (Hrsg.) Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum Meals and Religious Identity in Early Christianity 2012, 372 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8446-1 Band 57 Philipp F. Bartholomä The Johannine Discourses and the Teaching of Jesus in the Synoptics A Contribution to the Discussion Concerning the Authenticity of Jesus’ Words in the Fourth Gospel 2012, XIV, 491 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8457-7 TANZ Reihenzettel_20220407.indd 2 TANZ Reihenzettel_20220407.indd 2 25.10.2024 09: 41: 48 25.10.2024 09: 41: 48 <?page no="317"?> Band 58 Wichard von Heyden Doketismus und Inkarnation Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie 2014, XIV, 567 Seiten, €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8524-6 Band 59 Julian Petkov Altslavische Eschatologie Texte und Studien zur apokalyptischen Literatur in kirchenslavischer Überlieferung 2015, 495 Seiten, ca. €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8531-4 Band 60 Matthias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band I: Untersuchung | Band II: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten 2020, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, 2 Bände, XXVIII, 1480 Seiten, €[D] 218,- ISBN 978-3-7720-8742-4 Band 61 Jan Heilmann/ Matthias Klinghardt (Hrsg.) Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert 2018, 322 Seiten, €[D] 118,- ISBN 978-3-7720-8640-3 Band 62 Nathanael Lüke Über die narrative Kohärenz zwischen Apostelgeschichte und Paulusbriefen 2019, 302 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8677-9 Band 63 Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund 2020, 254 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8709-7 Band 64 Viktor Löwen Die zwölf Jünger Jesu Exegetische Untersuchungen zum Kreis der zwölf Jünger im Matthäusevangelium 2021, 658 Seiten, €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8724-0 Band 65 Jan-A. Bühner Jesus und die himmlische Welt Das Motiv der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum und in der von Jesus ausgehenden Christologie 2020, 490 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8725-7 Band 66 Jan Heilmann Lesen in Antike und frühem Christentum Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese 2021, 708 Seiten, €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8729-5 Band 67 Tobias Flemming Die Textgeschichte des Epheserbriefes Marcion änderte nichts: Eine grundlegend neue Perspektive auf den Laodicenerbrief 2022, 250 Seiten, €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8738-7 Band 68 Manuel Vogel Heiliger Krieg Antike Texte - moderne Kontexte 2024, 314 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8787-5 Band 69 Matthias Klinghardt Mahl und Kanon Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag 2022, 500 Seiten, €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8779-0 Band 70 Markus Vinzent Concordance to the Precanonical and Canonical New Testament 2023, 571 Seiten, €[D] 118,- ISBN 978-3-381-10601-1 Band 71 Aaron Graser Das Fremdzeugnis für Jesus Untersuchung der narrativen Darstellung des Zeugnisgebens für Jesus im Johannesevangelium 2023, 429 Seiten, €[D] 118,- ISBN 978-3-381-11001-8 TANZ Reihenzettel_20220407.indd 3 TANZ Reihenzettel_20220407.indd 3 25.10.2024 09: 41: 49 25.10.2024 09: 41: 49 <?page no="319"?> ISBN 978-3-7720-8787-5 www.narr.de T A N Z T A N Z T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER Der Band versammelt Beiträge zum Thema des „Heiligen Krieges“ u. a. im Deuteronomium, bei Sacharja, im 1. Makkabäerbuch, in der Kriegsrolle von Qumran und in der Johanneso enbarung, ergänzt durch einen Abriss zu Kriegskonzeptionen bei Griechen und Römern. Moderne komparative Kontexte kommen mit dem spiritual warfare im westafrikanischen Christentum zur Sprache, aber auch in der „Geistlichen Anleitung“ der A entäter vom 11. September 2001 sowie in Begründungen des bewa neten Kampfes in der Roten Armee Fraktion (RAF). Deutlich wird zumal in den antiken jüdischen und christlichen Texten, dass entweder religiöse Deutungen erst in der historischen Retrospektive greifen oder dass das Medium des Textes in liturgischer Inszenierung und apokalyptischer Imagination den realen Krieg substituiert. Umgekehrt kann aber auch äußerste Gewalt in ihren extremsten Momenten als liturgische Handlung und spirituelle Übung aufgefasst und so überhaupt erst durchführbar werden (Anschläge von 9/ 11). Oder aber eine radikale Minderheit sieht sich an der Epochenschwelle eines weltweiten Befreiungskampfes in unbedingter historischer Verantwortung (RAF). Die Beiträge des Bandes sind je für sich und in der Zusammenschau vielfältig anschlussfähig an religions-, sozial- und kulturwissenscha liche Diskurse. Manuel Vogel (Hrsg.) Heiliger Krieg Manuel Vogel (Hrsg.) Heiliger Krieg Antike Texte - moderne Kontexte