Pretend Reading: Vorschulkinder "lesen vor"
Implizites Textwissen und Textproduktion am Ende des Kindergartenalters
0925
2023
978-3-7720-5791-5
978-3-7720-8791-2
A. Francke Verlag
Kristina Strozyk
10.24053/9783772057915
Gängige Sprachförderkonzepte, die derzeit in Kindertagesstätten zum Einsatz kommen, konzentrieren sich primär auf die Förderung von Syntax und Wortschatz und sind häufig dialogisch ausgerichtet. Um bereits vorhandenes implizites Textwissen aktivierend herauszufordern, bietet es sich an, Kinder zu monologischen Textproduktionen anzuregen. Diesen Ansatz wählt diese Studie, in der Vorschulkinder aufgefordert wurden, ein ihnen bekanntes Bilderbuch "vorzulesen". Die Datenerhebung zu diesem als Pretend Reading bekannten Verfahren erfolgte in vier Durchgängen und in jeweils an das gezeigte Sprachhandeln der Kinder angepassten und modifizierten Settings. Die Auswertungsergebnisse verweisen eindrücklich auf das vielversprechende Potenzial des Pretend Reading zur Sprachförderung. Die Funktion der Musterhaftigkeit für eigene Textproduktion wird dabei besonders betont.
<?page no="0"?> 2 Kristina Strozyk Pretend Reading: Vorschulkinder „lesen vor“ Implizites Textwissen und Textproduktion am Ende des Kindergartenalters <?page no="1"?> Pretend Reading: Vorschulkinder „lesen vor“ <?page no="2"?> Literacy im Elementar- und Primarbereich Forschungsbeiträge zu Literalität & Literarität LiEP 2 Herausgegeben von Prof. Dr. Iris Kruse (Paderborn) Prof. Dr. Christiane Miosga (Hannover) Prof. Dr. Katharina J. Rohlfing (Paderborn) Prof. Dr. Elvira Topalović (Paderborn) Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Sandra Ballweg (Paderborn) Prof. Dr. Tabea Becker (Hannover) Prof. Dr. Heike Behrens (CH/ Basel) Dr. Kristin Börjesson (Halle) Prof. Dr. Monika Dannerer (A/ Innsbruck) Prof. Dr. Sara Fürstenau (Hamburg) Prof. Dr. Petra Gretsch (Freiburg) Dr. Angela Grimminger (Paderborn) Prof. Dr. Dieter Isler (CH/ Thurgau) Prof. Dr. Friederike Kern (Bielefeld) Prof. Dr. Norbert Kruse (Kassel) Prof. Dr. Daniela Merklinger (Ludwigsburg) Prof. Dr. Anja Müller (Mainz) Prof. Dr. Claudia Müller-Brauers (Hannover) Prof. Dr. Sven Nickel (I/ Bozen) Prof. Dr. Julie A. Panagiotopoulou (Köln) Prof. Dr. Anke Reichardt (Halle) Dr. Stefanie K. Sachse (Köln) Vertr.-Prof. Dr. Lis Schüler (Berlin) Dr. Jutta Trautwein (Paderborn) Prof. Dr. Benjamin Uhl (Koblenz) Prof. Dr. Constanze Weth (LU/ Luxemburg) Prof. Dr. Petra Wieler (Berlin) Prof. Dr. Anja Wildemann (Landau) <?page no="3"?> Kristina Strozyk Pretend Reading: Vorschulkinder „lesen vor“ Implizites Textwissen und Textproduktion am Ende des Kindergartenalters <?page no="4"?> Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktorin der Philosophie, vorge‐ legt im Fachbereich 02 der Universität Kassel unter dem ursprünglichen Titel: Vorschul‐ kinder „lesen vor“. Implizites Textwissen und Textproduktion am Ende des Kindergartenal‐ ters (Erstgutachter: Prof. Dr. Norbert Kruse, Zweitgutachter: Prof. Dr. Michael Ritter, Datum der Disputation: 28. September 2021, gekürzte Fassung). DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057915 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2751-6547 ISBN 978-3-7720-8791-2 (Print) ISBN 978-3-7720-5791-5 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0237-3 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 19 1 21 2 43 3 47 3.1 47 3.2 61 3.3 73 3.4 78 4 89 4.1 89 4.2 110 5 115 5.1 115 5.1.1 115 5.1.2 132 5.1.3 138 5.2 140 5.3 151 5.4 155 5.5 158 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I: Theoretischer Rahmen und kategoriale Bestimmungen der Untersuchung Sprachförderung, Schrift und Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Text, Textkompetenz und Textproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz . . . . . . . . . Vorlesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textproduktion im Medium der Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . Pretend Reading als Form der Textproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pretend Reading im Elementarbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pretend Reading in der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster und Textproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musterhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formelhaftigkeit und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster und die poetische Funktion der Sprache . . . . . . Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive . . Muster und Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musterhaftigkeit und Spracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherwerb und Kinderliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 5.6 160 5.7 167 6 175 6.1 176 6.2 200 7 207 217 1 219 2 221 2.1 221 2.2 240 2.3 245 2.3.1 248 2.3.2 263 3 281 3.1 281 3.1.1 281 3.1.2 308 3.1.3 337 3.1.4 378 3.1.5 420 3.1.6 462 3.1.7 472 3.2 509 Muster - eine vergleichende Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . Das Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit Implizites Wissen und implizites Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi . . . . . . . . . . Pretend Reading, implizites Lernen und implizites Wissen . . Erkenntnisse zum (impliziten) Erwerb und Gebrauch von Mustern didaktisch fruchtbar machen - ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II: -Empirische Studie zum Pretend Reading -im Vorschulalter . . . . . . . . . . . . Beschreibung der Forschungsidee: -Der Gebrauch von Textwissen beim „Vorlesen“ ohne Schriftkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische und methodologische Überlegungen: Forschungsdesign, Forschungsarrangement und Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenaufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung der Analyseraster zur Datenauswertung Vorgehen bei der Datenauswertung und Entwicklung der Kategorien und Analyseinstrumente . . . . . . . . . . . . Auswertung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textanalyse I: Frosch hat Angst von Ben . . . . . . . . . . . . . Textanalyse II: Clown Beppo von Kira . . . . . . . . . . . . . . . Textanalyse III: He Duda von Ida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textanalyse IV: Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten von Mia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textanalyse V: Torro sieht rot von Nicole . . . . . . . . . . . Textanalyse VI: Apfelsaft holen von Jan . . . . . . . . . . . . . Textanalyse VII: Die kleine Elfe kann nicht schlafen von Muriel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende Darstellung der Beobachtungen zu den sieben Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4 573 581 581 582 599 604 Ertrag und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Vorwort Im Grundschulalter hatte ich Freude daran, in meiner Freizeit Geschichten zu schreiben und mit Zeichnungen zu illustrieren. Dazu gehörte auch das Verfassen von Geschichten zu anderen Geschichten, die mir gefielen. Diese Textproduktionen enthielten viele Inhaltselemente der Originalgeschichten. Dennoch gab es im Inhalt stets Variationen, beispielsweise das Verfassen einer Fortsetzung mit den bekannten Figuren. Auf der sprachlichen Ebene lassen sich in diesen Textproduktionen sprachliche Versatzstücke aus den Originalge‐ schichten identifizieren. Dass es sich dabei um das Phänomen der Intertextualität handelt, das grund‐ legend für das Verfassen von Texten ist, und dass es didaktische Konzeptionen geben wird, die den Gebrauch von Musterhaftigkeit nutzen und sich für die Textproduktion zu Texten aussprechen, ahnte ich damals natürlich nicht. Und auch nicht, dass mich das Thema Musterhaftigkeit lange und intensiv begleiten wird. Ein ganz besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Norbert Kruse, der den Entstehensprozess dieser Studie als Betreuer in wertschätzender Weise begleitete und mir viele hilfreiche Hinweise und Anregungen gab. Herzlichen Dank für Deine hervorragende Betreuung und Unterstützung! Außerdem danke ich Herrn Professor Dr. Michael Ritter sehr herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Ein herzlicher Dank geht des Weiteren an alle Kinder für das „Vorlesen“ ihrer Bilderbücher im Rahmen dieser Studie sowie an ihre Eltern. Zudem bedanke ich mich auch sehr bei den Studierenden, die die Erprobungen zum Pretend Reading mit den Kindern durchführten. Zudem danke ich Frau Professorin Dr. Friederike Heinzel, Frau Professorin Dr. Anke Reichardt, Frau Professorin Dr. Lis Schüler und Frau Professorin Dr. Hanna Sauerborn für wertvolle Hinweise. Ich bedanke mich bei den Mitgliedern des Promotionskollegs der Universität Kassel für ihre Anregungen und der Dissertationsrunde von Herrn Professor Dr. Norbert Kruse an der Universität Kassel insbesondere für die Teilnahme an Datensitzungen. Zudem danke ich Herrn Professor Dr. Thorsten Pohl, Herrn Professor Dr. Arne Wrobel, Herrn Professor Dr. Helmuth Feilke, Frau Professorin Dr. Astrid Neumann, Herrn Pro‐ fessor Dr. Hansjakob Schneider und Frau Professorin Dr. Anita Schilcher für ihre Beratung in Kolloquien im Rahmen der dieS-Sommerschule. Ich bedanke mich des Weiteren herzlich bei Frau Professorin Dr. Iris Kruse, Frau Professorin Dr. <?page no="10"?> Christiane Miosga, Frau Professorin Dr. Elvira Topalović und Frau Professorin Dr. Katharina Rohlfing sowie bei Herrn Dr. Bernd Maubach. Außerdem möchte ich mich herzlich bei Herrn Tillmann Bub vom Narr-Verlag bedanken. Ein herzlicher Dank geht zudem an Elvira Dyck, Christian Haaßio, Julia Hei‐ derich, Dr. Bernd Maubach, Kathrin Meckbach, Leif Pollex, Brigitte Retter, Na‐ dine Rudolph, Luisa Maria Schäfer, Isabella Schulz, Regina Schwarzbach-Bräu‐ tigam, Claudia Strozyk, Dominik Strozyk und Konstantin Strozyk für das gewissenhafte Korrekturlesen der Arbeit. Ganz besonders danke ich meinen Eltern Uta und Michael sowie meinem Bruder Konstantin für ihre Unterstützung! Abschließen möchte ich mit einem Hinweis: Zum Buch finden Sie umfang‐ reiches Zusatzmaterial im digitalen Anhang. Dieser enthält weitere praktische Hinweise zur Durchführung von Pretend-Reading-Situationen, Schulungsma‐ terial und illustrierende tabellarische Darstellungen. Sie finden ihn im Webshop des Narr-Verlags unter https: / / www.narr.de/ Pretend-Reading-Vorschulkinder-l esen-vor-38791-1. 10 Vorwort <?page no="11"?> 1 Der Name des Kindes wurde aus Datenschutzgründen geändert. 2 Scheffler, Axel (2017): Hase und Igel. Weinheim, Basel: Beltz/ Gelberg. Einleitung ‚kann es losgehen? ‘ der hase tute so, als wäre er nicht da. [2] ‚natürlich [leise] , ei: ns, zwei: , drei: .‘ der hase rennte von der kanone wie schnell, wie’s geht […] (Emilia 1 zum Bilderbuch Hase und Igel (2017) von Axel Scheffler, 9. DS) 2 Die Kultusministerinnen und -minister verständigten sich als Reaktion auf die Ergebnisse von PISA in ihrer Plenarsitzung am 5./ 6. Dezember 2001 auf sieben Handlungsfelder. Vorrangig tätig werden wollten sie dabei in den Hand‐ lungsfeldern „‚Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich‘ und […] ‚Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (KMK, 2001)‘“ (Redder et al. 2011, S. 6). In ihrer „Bilanz und Konzeptualisierung von strukturierter Forschung zu ‚Sprachdiag‐ nostik und Sprachförderung‘“ (Redder et al. 2011) konstatieren Redder et al., dass es im Bereich der Sprachdiagnostik und Sprachförderung „an Grundlagen‐ kenntnissen über sprachliche Aneignungsprozesse“ (ebd., S. 6) sowie an wissen‐ schaftlich verantworteten Interventionen mangele. (Vgl. ebd.) Als Grundlage für erfolgreiche schulische Bildung gelten bildungssprachliche Kompetenzen und konzeptionelle Schriftlichkeit (vgl. ebd., S. 67). Nach Weinert et al. (2010), die im Rahmen der Studie BiKS-3-8 Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung von sprachlichen und kognitiven Kompetenzen Dreibis Fünfjähriger in den Blick nahmen, variieren die Kompetenzen der Kinder „in Abhängigkeit von sozialen Hintergrundvariablen“ (Weinert et al. 2010, S. 41). Daraus ergibt sich die Forderung, konzeptionell schriftliche Kompetenzen bei Kindern zu fördern: Die Konsequenz ist, dass (frühe) sprachliche Förderung Kompetenzen fördern muss, die über die konzeptionell mündliche Sprache hinausgehen und auch jene Sprach‐ kompetenzen aufbauen und fördern [muss], denen in der Schule und für schulisches Lernen besondere Bedeutung zukommt. (Redder et al. 2011, S.-67f.) (Vgl. ebd.) Redder et al. (2011) arbeiten mit dem Qualifikationenfächer nach Ehlich (Ehlich et al. 2008), um dem komplexen Sprachbegriff in der Beschreibung der Sprachaneignung gerecht zu werden. <?page no="12"?> Zweck der Auffächerung des sprachlichen Handelns nach unterschiedlichen Basis‐ qualifikationen ist es, Sprache umfassend als ein gesellschaftliches Handlungsmittel zu begreifen und insbesondere auch solche Teilbereiche sichtbar zu machen, die bisher in der Forschung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. (Redder et al. 2011, S. 97) So bezieht sich die literale Basisqualifikation I auf präliterale Vorläuferfähig‐ keiten sowie den Eintritt der Kinder in die Schriftlichkeit. Sie umfasst „das Erkennen und Produzieren von Schriftzeichen“ (ebd., S. 99), „die Umsetzung mündlicher Sprachprodukte in schriftliche und umgekehrt“ (ebd.) sowie „erste Erfahrungen mit Texten“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Nach Heger (2018) scheinen spezi‐ fische Angebote, die auf Schriftsprache bezogen sind, eher die Ausnahme im Kindergartenalltag zu sein, während Förderangebote zur mündlichen Sprache stärker fokussiert werden (vgl. Heger 2018, S. 42). In ihrer Studie Zur Bedeutung der Early Literacy für den Schriftspracherwerb (2015) nimmt Sauerborn eine kritische Sicht auf die „einseitige Fokussierung auf die phonologische Bewusst‐ heit“ (Sauerborn 2015, S. 4) als Voraussetzung für den Schriftspracherwerb ein. „In Folge einer Art Mythologisierung der phonologischen Bewusstheit findet seit Ende der 80er Jahre eine verengte Sichtweise auf das komplexe Bedingungsgefüge des Schriftspracherwerbs und den Vorläuferfähigkeiten zum Lesen und Schreiben statt“ (ebd., S. 2). Während sich im deutschen Sprachraum diese Verengung verschärfte, da alternative Erklärungsansätze kaum rezipiert wurden, werden im anglo-amerikanischen Sprachraum vorschulische Vorer‐ fahrungen unter dem Konstrukt Early Literacy subsummiert, von denen die phonologische Bewusstheit lediglich ein Aspekt ist (vgl. ebd.). Sauerborn fordert das Einfließen von Aspekten „des Erwerbs konzeptioneller Schriftlichkeit bzw. eines literaten Registers“ (ebd., S. 181) in die Early Literacy Bildung (vgl. ebd.). Sie schreibt dazu: „Es wäre wünschenswert, ein dezidiertes Modell zum Schriftspracherwerb zu entwickeln, der diesen Erwerbsprozess hinreichend abbildet“ (ebd.). Auch Isler und Künzli kritisieren an Programmen zur Förderung von Vorläuferfähigkeiten des Lesens und Schreibens in der Deutschschweiz, dass mit diesen „vorwiegend technische, isoliert vermittelbare Fertigkeiten trainiert [werden], die den Aufbau einer komplexen schriftsprachlichen Hand‐ lungsfähigkeit langfristig kaum beeinflussen“ (Isler/ Künzli 2010, S. 1). Isler et al. (2018) richten den Blick auf mündliche Textfähigkeiten im Kindergartenalter: Wie aktuelle Studien zeigen, ist der Anteil herausfordernder Sprachhandlungen in pädagogischen Einrichtungen ausbaufähig, lässt sich das erwerbsunterstützende[] Handeln der Fachpersonen optimieren und wirkt sich ein optimiertes Handeln der Fachpersonen günstig auf das sprachliche Lernen der Kinder aus. Bisher fehlen 12 Einleitung <?page no="13"?> aber Studien, die diese Wirkung im Hinblick auf mündliche Textfähigkeiten und methodisch robust untersuchen. (Isler et al. 2018, S. 1) Es deutet sich hier die Notwendigkeit an, Sprachförder- und Sprachbildungspro‐ gramme für den Vorschulbereich zu entwickeln, die auch literale Basisqualifi‐ kationen (Ehlich 2007) in den Blick nehmen und auf diese Weise zur Entwicklung früher Textkompetenz beitragen. Dies unterstreicht auch der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 05.12.2019 zur Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen. Aus dieser Emp‐ fehlung geht hervor, dass „sprachliche Bildung und Sprachförderung bereits im Elementarbereich für den gelingenden Übergang in den Primarbereich angebahnt werden [sollten]“ (KMK 2019, S. 5). „Die Kultusministerkonferenz hat bereits in den vergangenen Jahren immer wieder die grundlegende Bedeutung bildungssprachlicher Kompetenzen in der deutschen Sprache für den Schuler‐ folg betont“ (ebd., S.-2). Wie Merklinger in ihrer Studie Frühe Zugänge zur Schriftlichkeit (2011) zum diktierenden Schreiben zeigt, sind Kinder bereits vor Beherrschung der Schrift in der Lage, im Medium der Mündlichkeit Texte zu produzieren, die Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit (Koch/ Oesterreicher 1994) aufweisen können. Merklingers Studie konnte zeigen, dass es sich bei der Diktiersituation, in der ein Vorschulkind einer Skriptorin oder einem Skriptor einen Text diktiert, nicht nur um eine Beobachtungssituation, sondern auch um „eine Lernsituation für frühe Zugänge zu (konzeptioneller) Schriftlichkeit“ (Merklinger 2011, S. 189) handelt (vgl. ebd.). Merklinger wählte zur Durchführung von Diktiersituationen eine Aufgabenstellung aus dem Schreiben zu Vorgaben (Dehn et al. 2011), indem sie Kinder ihre Gedanken zu einem Bilderbuch diktieren ließ (vgl. Merklinger 2011, Dehn et al. 2011). In ihrem didaktischen Konzept Texte und Kontexte (2011) zum Schreiben zu Vorgaben, bei dem Intertextualität eine bedeutsame Rolle spielt, verdeutlichen Dehn et al. die Bedeutsamkeit einer sprachlichen (und/ oder bildlichen) Vorgabe in Form eines Textes, eines Bilderbuches, eines Bildes etc., zu der Kinder eigene Texte produzieren, für die Komplexität der entstehenden Texte (vgl. Dehn et al. 2011). So zeichnen sich zu Bilderbüchern produzierte Kindertexte durch eine höhere Komplexität aus als Erlebniserzählungen. Dass Kindertexte, die fiktionalen Charakter haben, komplexere Strukturen aufweisen als Erlebnistexte, die Kinder vom Wochenende oder über die Ferien verfasst haben, zeigt die Forschung - und begründet dies mit dem Rückgriff auf sprachliche und literarische Muster, die die Vorgaben als Material für das Schreiben anbieten (vgl. Dehn/ Merklinger/ Schüler 2011). (Merklinger 2014, S.-4) Einleitung 13 <?page no="14"?> 3 Zum Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit vgl. Kapitel I.5.7. Narrative Strukturmuster erwerben Kinder durch das Vorlesen und Erzählen von Geschichten - und zwar als implizites Wissen (vgl. Spinner 2005, S. 155). Musterbildung vollzieht sich nach Dehn als implizites Lernen und innere Re‐ gelbildung (vgl. Dehn 2005, S. 24). Sie bezeichnet Schreiben, also „Gedanken, Wissen, Mitteilungen, Empfindungen, Erfahrungen, Erinnerungen aus dem Kopf aufs Papier zu bringen“ (ebd., S. 11), als Transformationsprozess. (Vgl. ebd.) Das Material des Transformationsprozesses sind dabei Muster (vgl. Dehn 2005, S. 13). Iris Kruse und Norbert Kruse (2007) stellen folgenden Zusammenhang zwischen dem Erwerb von Textkompetenz und dem Gebrauch sprachlicher Muster her: „Die Übernahme, Variation oder Transformation solcher Muster in die Struktur eigener Texte wird als Vorgang gesehen, der der Entwicklung von Textkompetenz dient“ (ebd., S. 30). In seinem Artikel Spracherwerb und Kinder‐ literatur (2011) stellt Jörg Meibauer u. a. die folgende These auf: „Kinderliteratur ist ein spezifischer Input im Spracherwerb. Eine Theorie des Spracherwerbs muss berücksichtigen, wie dieser Input den Erwerbsprozess beeinflusst.“ (Mei‐ bauer 2011, S. 9) Als Forschungsdesiderat fordert er die empirische Erforschung des Zusammenhangs „zwischen Spracherwerb und dem Erwerb von Kinderli‐ teratur“ (ebd., S.-19) (vgl. ebd.). Die eingangs zitierte Textpassage stammt aus einem mündlich produzierten Text vom Vorschulkind Emilia. Emilia wird zunächst das ihr bereits bekannte Bilderbuch Hase und Igel von Axel Scheffler vorgelesen. Anschließend „liest“ Emilia der oder dem Erwachsenen das Buch „vor“, obwohl sie selbst noch gar nicht lesen kann. Wie der Hase in ihrer Geschichte so tut, als wäre der Igel nicht da, so tut Emilia so, als würde sie das Bilderbuch vorlesen. Ähnlich wie im Kon‐ zept Texte und Kontexte findet in dieser Situation eine Textproduktion zu einem Text statt. In der kurzen Textpassage ist eine Herausforderung des Gebrauchs von Elementen konzeptioneller Schriftlichkeit durch die Aufgabe erkennbar. Des Weiteren lassen sich in der Textpassage formelhafter Sprachgebrauch und das Nutzen sprachlicher Versatzstücke aus einem weiteren Text beobachten. Emilia macht Gebrauch von der Zeitform Präteritum, „die für literarische Texte typische Form“ (Last et al. 2017, S. 19). Die Bildungen der Präteritumformen der starken Verben tun und rennen können dabei als Übergeneralisierungen bezeichnet werden. Zudem verwendet Emilia den Konjunktiv und bildet hy‐ potaktische Satzkonstruktionen. Auch Musterhaftigkeit lässt sich an Emilias Textproduktion erkennen. Zum einen greift Emilia in dieser Textpassage auf das erzähltypische Muster 3 der direkten Rede zurück. Dabei nutzt sie direkte Rede ohne Redebegleitsatz, während das Bilderbuch in diesem Kontext direkte 14 Einleitung <?page no="15"?> Rede mit nachgestelltem Begleitsatz enthält. Zum anderen scheint Emilia zwei Variationen sprachlicher Muster zu kombinieren: Sie nutzt eine Variation des Phraseologismus wie aus der Kanone geschossen, der im Bilderbuch im gleichen Kontext vorkommt, und kombiniert diesen mit einer Variation des sprachlichen Musters so schnell, wie es geht, das im Bilderbuch nicht enthalten ist. Dieses Muster erfüllt die Funktion, die hohe Geschwindigkeit, mit der der Hase losrennt, zu betonen. Die Information, dass der Hase so tut, als sei der Igel gar nicht da, bringt Emilia mit einer hypotaktischen Satzkonstruktion zum Ausdruck, die das sprachliche Muster so tun, als ob enthält. Im Bilderbuch wird dieses sprachliche Muster in dieser Form nicht verwendet. Hier wird vermittelt, dass der Hase eine Wolke fragt, ob es losgehen kann, „als ob der Igel gar nicht da wäre“ (Scheffler 2017, 9. DS). Emilia bringt somit mit Hilfe des sprachlichen Musters so tun, als ob die Kernaussage dieses Satzgefüges zum Ausdruck. Die von Emilia genutzte Formulierung kann es losgehen? wird im Bilderbuch im gleichen Kontext verwendet und kann daher als sprachliches Muster bezeichnet werden. Auch das Muster ei: ns, zwei: , drei: ist sowohl in Emilias Text als auch im Bilderbuchtext enthalten. Während Emilia zu einer solchen Textproduktion im Rahmen eines für die vorliegende Studie entwickelten Settings zur Durchführung einer Pretend-Rea‐ ding-Situation herausgefordert wurde, lässt sich ein solches Verhalten auch bei einigen Kindern in ihrem privaten Umfeld beobachten. „For decades parents have reported that their young children ‘memorize books’ and act as if they are reading” (Sulzby 1988, S. 39). Dieser Vorgang, der auch als „emergent storybook reading“ (Sulzby 1985, S. 460) bekannt ist, wird von Ray Reutzel als eine frühe Form des Lesens bezeichnet (vgl. Reutzel 1995, S. 310). Nach Janice Beaty und Linda Pratt erproben Kinder beim Pretend Reading ihre Vorstellungen darüber, wie geschriebene Sprache funktioniert: „Children test their beliefs about how written language works by trying it themselves through imitation and play (e.g., pretend reading; scribble writing)” (Beaty/ Pratt 2011, S. 7). Sascha Wittmer un‐ tersucht in seinem derzeitigen Forschungsvorhaben Transformationsprozesse beim Pretend Reading in der dritten Klasse mit gereimten Bilderbüchern. Anders als in Pretend-Reading-Situationen mit Vorschulkindern wurden im Rahmen dieser Studie die Texte der Bilderbücher, die von den Grundschulkindern im „Pretend Reading Modus“ (Merklinger/ Wittmer 2018, S. 309) vorgelesen werden sollten, abgeklebt. Mit diesem Setting sollten die Kinder „stärker zu einem dekontextualisierten Sprachgebrauch herausgefordert werden“ (ebd., S. 311). (Vgl. dazu ebd.) Müller und Stark beschreiben den Forschungsstand zum Pretend Reading im Vorschulalter in Deutschland 2016 wie folgt: „[V]ery few studies exist that highlight the meaning of pretend reading for literacy Einleitung 15 <?page no="16"?> learning” (Müller/ Stark 2016, S. 1). Diese von Müller und Stark aufgezeigte Forschungslücke gilt es mit der vorliegenden Dissertation in gewissem Maße zu schließen. In Anlehnung an Neuwegs Definition von implizitem Wissen als Wissen, „das in der praktischen Kompetenz einer Person […] zum Ausdruck kommt, das aber nicht oder nicht angemessen verbalisiert werden kann“ (Neuweg 2000, S. 198), zeigt sich in Emilias Textproduktion ihre Textkompetenz bzw. ihr Können. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Wissensbzw. Bewusstseinstheorie Michael Polanyis, die von Neuweg in seinem Werk Könnerschaft und implizites Wissen (2004, 2020) aus vielen Werken Polanyis rekonstruiert wurde, mit der Textproduktion im Vorschulalter in Verbindung zu setzen. Polanyis Werk fand und findet hauptsächlich im angloamerikanischen Sprachraum Resonanz. Erhellend ist hier der Hinweis, dass die bislang einzige Buchübersetzung ins Deutsche 1985 erfolgte […]. Erst von diesem Zeitpunkt an sind Bezugnahmen auf Polanyi im deutschen Sprachraum in nennenswertem Ausmaß feststellbar. […] Zwar verweisen die meisten Arbeiten, die sich mit dem Konzept des impliziten Wissens auseinandersetzten, auf Polanyi als Begriffsschöpfer. Eine Auseinandersetzung mit dem theoretischen und philosophischen Kontext, in den dieser Begriff bei Polanyi eingebettet ist, erfolgt jedoch kaum […]. (Neuweg 2020, S.-56) Die der vorliegenden Studie zur frühen Textkompetenz zugrundeliegende Auf‐ fassung von Sprachlichkeit beschränkt sich nicht auf ein rein innersprachliches Modell von Sprache. Vielmehr spielt die Funktion von Texten eine entschei‐ dende Rolle (vgl. dazu die textlinguistische Position Kirsten Adamziks (2004)). Mit der Sprache erwerben Kinder gleichzeitig „literale Basisqualifikationen“ (Ehlich 2007), die insbesondere in Form von implizitem Textwissen vorliegen. Ein Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, Erkenntnisse für die Entwicklung von Sprachförderprogrammen zu gewinnen, die das implizite Textwissen von Kindern in den Blick nehmen und daran anknüpfen. In der Studie soll mit Hilfe von Pretend-Reading-Situationen Sprachproduktion in Form von monolo‐ gischer Textproduktion angeregt werden. Dabei werden die Kinder nicht aufge‐ fordert, den Inhalt des Bilderbuches zu erzählen, sondern das Bilderbuch vorzu‐ lesen. Als weiteres Ziel der Durchführung von Pretend-Reading-Situationen mit Vorschulkindern gilt, den Gebrauch impliziten Textwissens herauszufordern. Dieses schließt die Herausforderung des Nutzens konzeptionell schriftlicher Elemente mit ein. Folgenden zwei Forschungsfragen wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen: 16 Einleitung <?page no="17"?> 1. Welches implizite Textwissen bzw. welches praktische Können (Neuweg 2000) im Hinblick auf monologische Textproduktion lässt sich durch Pretend-Reading-Si‐ tuationen bei Vorschulkindern herausfordern? Zur Beantwortung dieser Frage werden folgende Unterfragen berücksichtigt: 1.1. Wie organisieren Vorschulkinder einen Text? (Wie) gelingt Vorschulkindern eine monologische Textproduktion? • (Mit welchen Mitteln) wird Kohärenz hergestellt? • Was sind die Anker, die die Textproduktion stützen? • Lässt sich Musterhaftigkeit in der Textproduktion erkennen? Welche Funk‐ tion erfüllen verwendete Muster für die Textproduktion? • (Inwieweit) zeigt sich konzeptionelle Schriftlichkeit in der mündlichen Textproduktion? 1.2. Welche Bezüge sind zwischen der (sprachlichen) Gestaltung des Kindertextes und der des zuvor vorgelesenen Bilderbuches zu erkennen? • Welche Elemente, insbesondere Muster, werden aus dem vorgelesenen Bilderbuch (in welcher Form, welchem Kontext und mit welcher Funktion) übernommen? • Welchen Einfluss hat poetischer Sprachgebrauch auf die Übernahme und den Gebrauch sprachlicher Muster? Die Anschlussfrage zur Sprachförderung im Vorschulalter lautet: 2. Eignet sich Pretend Reading als Methode zur Förderung literaler Textentwicklung im Vorschulalter? An dieser Stelle sei bereits der Hinweis gegeben, dass Gedächtnisleistung, die vermutlich beim „Vorlesen“ eines bereits bekannten Bilderbuches durch ein Vor‐ schulkind eine Rolle spielt, nicht Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie ist. Die Forschungsarbeit zur frühen Textkompetenz gliedert sich in einen ersten Teil, der sich mit dem theoretischen Rahmen und den kategorialen Bestimmungen der Untersuchung beschäftigt, und einen zweiten Teil zur empirischen Studie zur mündlichen Textproduktion von Vorschulkindern. Das erste Kapitel des Theorieteils dient dazu, die Ausgangslage zur vorschu‐ lischen Sprachförderung in Deutschland darzustellen, kritisch zu beleuchten und im Zuge dessen die Forschungslücke aufzuzeigen. Die Darstellung des Forschungsstandes zum Erzählen im Vorschul- und Grundschulalter im zweiten Kapitel erfolgt unter besonderer Berücksichtigung von Ergebnissen zum Er‐ Einleitung 17 <?page no="18"?> zählen im Kindergartenalter sowie zum Gebrauch sprachlicher Versatzstücke und formelhafter Wendungen. Im dritten Kapitel wird der Blick auf die Textre‐ zeption und die Textproduktion im Vorschulalter gerichtet. Anschließend wird im vierten Kapitel der Forschungsstand zum Pretend Reading dargestellt, wobei sowohl Studien aus dem angloamerikanischen als auch aus dem deutschspra‐ chigen Raum berücksichtigt werden. Im fünften Kapitel wird der für die vorlie‐ gende Studie sehr zentrale Begriff Muster unter einer (text-)linguistischen und einer didaktischen Perspektive beleuchtet und das Verhältnis von Musterhaftig‐ keit bzw. Kreativität und Formelhaftigkeit (Stein 1995) thematisiert. Das Kapitel schließt mit einer Vorstellung des der vorliegenden Studie zugrundliegenden Musterbegriffes, der aus theoretischen Konzepten zur Musterhaftigkeit und am Material aus Pretend-Reading-Situationen in einem induktiv-deduktiven Verfahren entwickelt wurde. Das sechste Kapitel befasst sich mit implizitem Wissen und Lernen, dessen Kern die Übertragung der Theorie impliziten Wis‐ sens nach Polanyi auf den Textproduktionsprozess bildet. Im abschließenden siebten Kapitel des Theorieteils werden verschiedene didaktische Konzepte zum Vorschul- und Grundschulbereich vorgestellt, die Erkenntnisse zur Intertextu‐ alität sowie zum impliziten Erwerb von Musterwissen nutzen und didaktisch fruchtbar machen. Der zweite Teil zur empirischen Studie beginnt im ersten Kapitel mit der Beschreibung der Forschungsidee. Kapitel zwei dient der Darstellung des Erhebungsverfahrens, der Datenaufbereitung und des Auswertungsverfahrens, wobei eine Beschreibung des Forschungsprozesses stattfindet. Das dritte Kapitel umfasst die Datenauswertung sowie die Darstellung der Ergebnisse. Das vierte Kapitel beinhaltet den Ertrag der Studie sowie die Diskussion der Ergebnisse. 18 Einleitung <?page no="19"?> Teil I: Theoretischer Rahmen und kategoriale Bestimmungen der Untersuchung <?page no="21"?> 1 Sprachförderung, Schrift und Text Inwiefern werden Schrift und Text in Sprachfördermaßnahmen und Förderkon‐ zepten im Elementarbereich in Deutschland berücksichtigt und auf welche Weise wird das Medium Bilderbuch zur Sprachförderung eingesetzt? Diesen Fragen widmet sich das vorliegende Kapitel, indem nach einer Darstellung der Ausgangslage zur vorschulischen Sprachförderung in Deutschland exem‐ plarisch unterschiedliche Konzepte zur alltagsintegrierten Sprachförderung dies‐ bezüglich analysiert werden. Es gilt, die Forschungslücke im Bereich der vor‐ schulischen Sprachförderung aufzuzeigen und somit das Forschungsinteresse der vorliegenden Studie zu verorten. In Bilanz und Konzeptualisierung von strukturierter Forschung zu ‚Sprachdiag‐ nostik und Sprachförderung‘ (2011) geben Angelika Redder, Knut Schwippert, Marcus Hasselhorn, Sabine Forschner, Detlef Fickermann und Konrad Ehlich einen Problemaufriss hinsichtlich der Sprachdiagnostik und Sprachförderung im vorschulischen und schulischen Bereich in Deutschland. Wie aus der Einlei‐ tung zur vorliegenden Studie hervorgeht, zählen der Bereich der Förderung von Sprachkompetenz im Elementarbereich sowie der Bereich der Förderung bildungsbenachteiligter Kinder unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit Migrationshintergrund zu den vom Kultusministerium als Reaktion auf die Ergebnisse von PISA festgelegten zentralen Handlungsfeldern (vgl. Redder et al. 2011, S. 6). Seit 2001 sind in allen deutschen Bundesländern Sprachstandsfests‐ tellungsverfahren für Kinder im Vorschulalter eingeführt worden - und zwar in Verbindung mit Sprachfördermaßnahmen. Allerdings seien nach Redder et al. nur einige der Sprachstandsfeststellungsverfahren hinreichend wissenschaft‐ lich fundiert und nur wenige der Sprachförderprogramme und -maßnahmen evaluiert. (Vgl. ebd.) Redder et al. identifizieren drei zentrale Bedarfsfelder, „bei denen mit einem besonders hohen Wirkungsgrad erfolgreicher Fördermaßnahmen für den weiteren Verlauf der Bildungsbiographien gerechnet werden darf “ (ebd., S. 62). Eines der Bedarfsfelder ist „der Anstieg bildungsrelevanter Sprachdefi‐ zite im Vorschul- und Grundschulalter“ (ebd.). Da den frühen sprachlichen Fähigkeiten eine wichtige Bedeutung für den schulischen Erfolg zugeschrieben wird, wurden in mehreren Bundesländern Sprachstandserhebungsverfahren eingeführt, mit denen sogenannte „Risikokinder“, die eine besondere Förderung benötigen, ein bis zwei Jahre vor Schuleintritt identifiziert werden können. Ins‐ <?page no="22"?> besondere Kinder, die die deutsche Sprache noch nicht ausreichend beherrschen, sollen berücksichtigt werden. Gezielte Sprachförderprogramme sollen beispielsweise zur Erweiterung des Wort‐ schatzes, zur Verbesserung der Begriffsbildung, der syntaktischen Fähigkeiten und der Lautdiskriminationsfähigkeit beitragen, aber auch zur verbesserten Verfügbarkeit komplexerer sprachlicher Handlungsformen im schulischen Diskurs. (Ebd.) Redder et al. (2011) heben die Bedeutsamkeit von konzeptioneller Schriftlichkeit und bildungssprachlicher Kompetenzen für eine erfolgreiche schulische Bildung hervor (vgl. ebd., S. 67). Als Konsequenz fordern sie eine (frühe) Förderung von Sprachkompetenzen, die in den Bereich konzeptioneller Schriftlichkeit fallen (vgl. ebd., S. 67f.). Bei der Beschreibung der Aneignung von Sprache stehen jedoch häufig Grammatik und Wortschatz im Vordergrund. „Auch die Aneignung der lautlichen Charakteristika der jeweiligen Sprache wird, häufig auf den Aspekt der Aussprache verkürzt, als Aneignungsaufgabe kleiner Kinder wahr‐ genommen“ (ebd., S. 97). Dabei ist die Aneignung von Sprache als komplexes Geschehen zu betrachten, „das weit mehr umfasst als die traditionell vor allem wahrgenommenen Bereiche der Phonologie, der Grammatik (Formen‐ lehre/ Morphologie und Satzlehre/ Syntax) und der Lexik“ (ebd.). Kinder müssen neben den Formelementen einer Sprache auch lernen, wie sie durch sprachliches Handeln ein Ziel erreichen können. Für die erfolgreiche Sprachaneignung ist es wichtig, dass die unterschiedlichen Qualifikationen zusammenwirken und „zu einem umfassenden sprachlichen Handeln“ (ebd.) qualifizieren. (Vgl. ebd.) Um dem „komplexen Sprachbegriff in der Charakterisierung der Sprachaneig‐ nung gerecht zu werden“ (ebd.) greifen Redder et al. als Referenzrahmen auf das in der Einleitung der vorliegenden Studie bereits erwähnte Konzept eines Qualifikationenfächers nach Ehlich et al. (2008) zurück, bei dem auch die An‐ eignung pragmatischer, diskursiver und literaler Kompetenzen berücksichtigt wird (vgl. Redder et al., S. 97). Insgesamt lassen sich acht Basisqualifikationen des Qualifikationsfächers unterscheiden: Die phonetische Basisqualifikation betrifft „Wahrnehmung, Unterscheidung und Produktion von Lauten, Silben und Wörtern sowie die Erfassung und zielsprachliche Produktion von über‐ greifenden intonatorischen Strukturen“ (ebd., S. 98) wie die Wort- oder die Äußerungsprosodie. Die pragmatische Basisqualifikation I umfasst den Erwerb elementarer sprachlicher Handlungsmuster und das Kennenlernen und Nutzen passender sprachlicher Mittel. Die semantische Basisqualifikation fokussiert die Wörteraneignung, die Begriffsbildung und darüber hinaus die Übertragung von Bedeutungen wie beispielsweise bei Metaphern und Redewendungen. Des Weiteren betrifft sie auch die Ermittlung von Satzbedeutungen. Die morpholo‐ 22 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="23"?> 4 BiKS ist eine Abkürzung für „die interdisziplinäre Bamberger Forschergruppe ‚Bildung‐ sprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsunterscheidung [Hervorh. im Ori‐ ginal] im Vorschul- und Schulalter‘“ (Faust 2013, S.-7). (Vgl. ebd.) gisch-syntaktische Basisqualifikation fokussiert den Bereich der traditionellen Grammatik. Die diskursive Basisqualifikation umfasst „die Befähigung zum kom‐ plexen zweckgerichteten sprachlichen Handeln mit anderen“ (ebd., S. 99) sowie den Erwerb von Erzählfähigkeiten. Dieser beginnt mit etwa drei Jahren und entwickelt sich bis ins Schulalter hinein. Die pragmatische Basisqualifikation II bezieht sich auf die pragmatischen Kompetenzen der Kinder, die relevant werden, wenn sie in eine Bildungsinstitution eintreten. Ein wichtiger Schritt in der sprachlichen Entwicklung des Kindes ist es, angemessene sprachliche Mittel für die Verwendung in unterschiedlichen sozialen Wirklichkeitsbereichen zu erwerben. Die literale Basisqualifikation I bezieht sich auf präliterale Vorläufer‐ fähigkeiten sowie den Eintritt der Kinder in die Schriftlichkeit. Sie fokussiert „das Erkennen und Produzieren von Schriftzeichen“ (ebd.), „die Umsetzung mündlicher Sprachprodukte in schriftliche und umgekehrt“ (ebd.) sowie „erste Erfahrungen mit Texten“ (ebd.). Diese Erfahrungen werden gemacht durch Vorlesen und Anschlusskommunikation, die das Vorgelesene aufgreift. Die literale Basisqualifikation II umfasst „das Erkennen und Nutzen orthographi‐ scher Strukturen beim Lesen und Schreiben“ (ebd.), aber auch auf den Aufbau von schriftlicher Textualität. Die Beschäftigung mit Schrift befördert auch die Entwicklung von Sprachbewusstheit, auf die sich die literale Basisqualifikation II ebenfalls bezieht. (Vgl. ebd.) Aus der von Redder et al. erstellten Übersicht von Sprachstandserhebungs‐ verfahren, die im Elementarbereich eingesetzt werden, geht hervor, welche der Basisqualifikationen die jeweiligen Verfahren fokussieren. Während sich 22 Sprachstandserhebungsverfahren auf die phonische Basisqualifikation, 17 auf die pragmatische Basisqualifikation I, 27 auf die semantische Basisqualifika‐ tion, 25 auf die morphologisch-syntaktische Basisqualifikation und elf auf die diskursive Basisqualifikation beziehen, nehmen lediglich vier Verfahren auf die pragmatische Basisqualifikation II (BEK, HAVAS 5, SELDAK, SISMIK) Bezug, drei Verfahren (BISC, SLDAK, SISMIK) auf die literale Basisqualifikation I und kein einziges Verfahren auf die literale Basisqualifikation II (vgl. ebd., S.-101f.). Hinsichtlich der vorschulischen Förderung in Bayern und Hessen führte Wilfried Smidt im Rahmen der Forschungsgruppe BiKS 4 eine Studie zur Art, dem Ausmaß und der pädagogischen Qualität von Förderung im vorschulischen Bereich durch. Dabei wurden 102 Kinder aus 51 Kindergartengruppen mit einem Time-Sampling-Verfahren beobachtet. Dies fand im ersten, zweiten und dritten 1 Sprachförderung, Schrift und Text 23 <?page no="24"?> Kindergartenjahr statt. (Vgl. Smidt 2013, S. 73) Smidt fasst Ergebnisse für den Bereich Sprache, Schrift, Kommunikation wie folgt zusammen: Der Bereich ‚Sprache, Schrift, Kommunikation‘ wird vor allem von der Förderung sprachlicher Fähigkeiten mit einem Anteil von 60-70% der Beobachtungszeit domi‐ niert, während beispielsweise die Förderung von (Vorläufer-) Formen des Lesens und Schreibens im ersten, zweiten und dritten Kindergartenjahr eine untergeordnete Rolle spielt. (Ebd., S.-75) Heger, die in ihrer Studie Kinder auf dem Weg zum Schreiben (2018) der Forschungsfrage nachgeht, „über welche Kompetenzen Kinder im Übergang [Kindertageseinrichtung - Grundschule] bei der Bewältigung von Schreibauf‐ gaben verfügen“ (Heger 2018, S. 7), formuliert im Rahmen ihres Überblicks über empirische Befunde zu schriftsprachlichen Kompetenzen mit Bezug auf die genannte Studie von Smidt: „Auf die Schriftsprache bezogene, spezifische Angebote scheinen im Kindergartenalltag eher die Ausnahme zu sein. Stärker fokussiert werden im Alltag der Kindertageseinrichtungen Förderangebote zur mündlichen Sprache.“ (Heger 2018, S. 42) Dabei wird diese Fokussierung nach Heger durch in Kindertageseinrichtungen durchgeführte Sprachstandser‐ hebungen unterstützt. So lernen Kinder Sprache in der mündlichen Interaktion zu gebrauchen. (Vgl. ebd.) Seit der ersten PISA-Studie haben Sprachförderprogramme im vorschulischen Bereich nach Wolfgang Schneider (2018) im deutschsprachigen Raum stark an Bedeutung gewonnen. Schneider klassifiziert die vielfältigen Ansätze, auf die derzeit zurückgegriffen wird (vgl. Schneider 2018, S. 53), und stellt Befunde aus verschiedenen Studien zur Wirksamkeit unterschiedlicher Sprachförderpro‐ gramme zusammen (vgl. ebd., S. 57-69). So lassen sich Sprachförderprogramme drei Gruppen zuordnen: allgemeine kompensatorische additive Sprachförderpro‐ gramme, spezifische additive Förderprogramme im Bereich „Literacy“ und alltags‐ integrierte Sprachförderung in Kindertagesstätten (vgl. ebd., S.-56). Zu den allgemeinen kompensatorischen additiven Sprachförderprogrammen gehören das Programm Sag mal was (2011), das in Baden-Württemberg einge‐ setzt wird, Deutsch für den Schulstart von Kaltenbacher und Klages (2007), Kon-Lab von Penner (2005), Sprachliche Frühförderung von Tracy (2003), Hand‐ lung und Sprache von Häuser und Jülisch (2006), das in Brandenburg zum Einsatz kommt, und das in Hessen verwendete Programm Deutsch-Sprachförderung vor der Schule von Sachse, Budde, Rinker und Groth (2012). (Vgl. Schneider 2018, S.-56) Am meisten verbreitet scheinen nach Schneider strukturierte Förderpro‐ gramme zur „Emergent Literacy“ bzw. „zu schriftsprachrelevanten Vorläufer‐ 24 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="25"?> 5 Zum Dialogischen Lesen bzw. Dialogic Reading vgl. auch Kapitel I.3.3 zum Vorlesen. 6 Schneider nimmt bei seiner Darstellung Bezug auf folgende Literatur: Schneider, Wolfgang (2012): Die Relevanz früher phonologischer Bewusstheit für den späteren Schriftspracherwerb. In: Frühe Bildung, H. 1, S.-220-225. Schneider, Wolfgang (2017): Lesen und Schreiben Lernen - Wie erobern Kinder die Schriftsprache? Berlin: Springer-Spektrum. merkmalen wie etwa der phonologischen Bewusstheit“ (ebd., S. 56) zu sein. Der Gruppe der spezifischen additiven Förderprogramme im Bereich „Literacy“ ordnet Schneider das Programm Hören, lauschen, lernen I von Küspert und Schneider (2008) zu, das Programm Hören, lauschen, lernen II von Plume und Schneider (2004) sowie das Programm Lobo vom Globo von Fröhlich, Metz und Petermann (2009). (Vgl. Schneider 2018, S.-56) Der Gruppe der alltagsintegrierten Sprachförderung in Kindertagesstätten wird das Programm Dialogisches Lesen 5 von Ennemoser, Kuhl und Pepouna (2013/ 2015) sowie das Programm Heidelberger Trainingsprogramm zur frühen Sprachförderung in Kindertagesstätten von Buschmann et al. (2010) zugeordnet. (Vgl. Schneider 2018, S. 56) Bestandteil beider genannter Sprachförderpro‐ gramme ist die Methode Dialogic Reading. Während Befunde zur Wirksamkeit von additiv-kompensatorischen Ansätzen, die sich auf Wortschatz und Satzverständnis beziehen, sowie Befunde zu alltags‐ integrierten Ansätzen, die auf die Förderung von Wortschatz, Sprachverständnis und Sprechfreude abzielen, wenig nennenswerte Effekte erzielten, fallen Befunde zu additiven Programmen zur Förderung von schriftsprachrelevanten Merkmalen günstiger aus. (Vgl. ebd., S. 53) Hinsichtlich der Effekte spezifischer additiver Förderprogramme im Bereich der „Emergent Literacy“ 6 zeigen „die Befunde der internationalen und nationalen Metaanalysen zur Wirksamkeit der phonolo‐ gischen Bewusstheit“ (ebd., S. 65), dass bei angemessener Implementierung und Umsetzung der Hinweise im Manual die „Fördermaßnahmen substanzielle Steigerung in dieser Kompetenz zur Folge haben“ (ebd.). Zudem lassen sich bei angemessener Implementierung des Trainings „moderate Transfereffekte auf das Rechtschreiben“ (ebd.) nachweisen sowie Effekte auf unterschiedliche Aspekte der Lesekompetenz. Für den Schriftspracherwerb konnte zwar ein po‐ sitiver Effekt des phonologischen Bewusstseinstrainings nachgewiesen werden, jedoch betont Schneider (2018) mit Bezug auf seine frühere Publikation (2017), „dass die Förderung der phonologischen Bewusstheit lediglich ein Baustein innerhalb der Sprachförderung im Kindergarten“ (Schneider 2018, S. 65) sei. Ein Training der phonologischen Bewusstheit ersetze somit „nicht eine sprachliche Förderung in Alltagssituationen“ (ebd., S.-65), schlussfolgert Schneider. 1 Sprachförderung, Schrift und Text 25 <?page no="26"?> Nach Sauerborn (2018) geht es bei dem von Schneider erwähnten Trai‐ ningsprogramm Hören, lauschen, lernen insbesondere darum, dass die laut‐ analytischen Fähigkeiten von Kindern trainiert werden. „Dies geschieht mit der Annahme, dass Kinder in der Schule für das Lesen erst Grapheme in Laute übersetzen und schließlich synthetisieren sollen und für das Schreiben Laute analysieren und dann in Grapheme übersetzen sollen“ (Sauerborn 2018, S. 67), ein Vorgehen, das als analytisch-synthetisches zu bezeichnen ist und der gängigen Modellierung des Schriftspracherwerbs entspricht. (Vgl. ebd.) Sauerborn betrachtet die Frage kritisch, ob es lediglich „um die Transformation der Zeichenketten gesprochener Sprache in Schrift und vice versa“ (ebd., S. 68) gehe und nennt Gründe, die dagegensprechen (vgl. ebd.). Ähnlich wie Schneider (2018) formuliert Sauerborn, dass Schriftspracherwerb mehr umfasst als diese Transformation. Trainings zur phonologischen Bewusstheit trainieren ausschließlich Teilaspekte der Verschriftungstechnik, ohne dass den Kindern das Ziel dieses Trainings bewusst gemacht wird. „Ohne Umgang mit Schrift können Kinder jedoch keine Vorstellung von den Möglichkeiten von Schrift‐ lichkeit entwickeln“ (ebd.), so Sauerborn. Als weiterer Aspekt ist zu nennen, dass solche Trainingsprogramme zur phonologischen Bewusstheit nicht den Ausbau von konzeptioneller Schriftlichkeit unterstützen. Allerdings müssen Kinder „lernen, dass durch den speziellen Kontext von Schriftlichkeit, in der kein Kommunikationspartner vorhanden ist und non- und paraverbale Mittel fehlen, andere Formulierungen erforderlich sind als in der Mündlichkeit“ (ebd.). Diese Ausführungen Sauerborns verdeutlichen die Notwendigkeit, Kindern zur Sprachförderung den Umgang mit Schrift und Text zu ermöglichen (zur Dar‐ stellung der Studie Zur Bedeutung der Early Literacy für den Schriftspracherwerb (2018) vgl. Kapitel I.3.2 und I.3.4 der vorliegenden Studie). Konzepte zur alltagsintegrierten Sprachförderung Nach Schneider ist in den letzten Jahren „der Ruf nach alltagsintegrierter sprachlicher Förderung […] lauter geworden“ (Schneider 2018, S. 65), woraufhin mehrere Projekte gestartet wurden, um diese zu implementieren (vgl. ebd.). „Ein Grundprinzip der alltagsintegrierten Sprachförderung heißt: ‚Das Kind aktiv werden lassen‘, denn Sprechen lernt man nur durch Sprechen üben“ (Buschmann/ Degitz/ Sachse 2014, S. 418). Um aufzuzeigen, wie Schrift und Text sowie das Medium Bilderbuch in aktuellen Konzepten alltagsintegrierter Sprachförderung einbezogen werden, werden exemplarisch vier Konzeptionen in den Blick genommen: Das Fellbach-Konzept (2015), die alltagsintegrierte und dialogorientierte Sprachförderung nach Löffler und Vogt (2015), das Konzept Sprechen, Schreiben, Lesen - Kinder auf dem Weg zur Schrift (2011) der Kita 26 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="27"?> 7 Kucharz et al. (2015) verweisen auf folgende Literaturangaben: Kucharz, Diemut/ Mackowiak, Katja (2010): Konzeption einer Sprachförderung für die Stadt Fellbach. Unveröffentlicht. Kucharz, Diemut/ Mackowiak, Katja (2011): Sprachförderung in Kindergarten und Grundschule. Grundschulzeitschrift 25, H. 242/ 243, S.-42-43. Frankfurt und Überlegungen zur Sprachförderung von Ruberg und Rothweiler (2012), die Leitlinien zur Sprachförderung aufstellen und grundsätzliche As‐ pekte bei der Wahl und der Nutzung von Sprachfördermaterialien am Beispiel von Bilderbüchern thematisieren. Das von Diemut Kucharz, Katja Mackowiak und Christine Beckerle (2015) vorgestellte Weiterbildungskonzept 7 wurde für die Stadt Fellbach entwickelt (vgl. Kucharz/ Mackowiak/ Beckerle 2015, S. 8) und ist auch unter dem Namen Fellbach-Konzept bekannt (vgl. ebd., S. 13). Ziel war es, „ein durchgängiges Sprachförderkonzept für den Elementar- und Primarbereich zu entwickeln, durchzuführen und zu evaluieren“ (ebd., S. 13). Das Werk Alltagsintegrierte Sprachförderung. Ein Konzept zur Weiterqualifizierung in Kita und Grundschule (2015) beinhaltet sowohl theoretische Grundlagen als auch „Materialien, Übungen und Hinweise zur Durchführung von Weiterqualifizierungen von Erzieher/ innen und Grundschullehrer/ innen zur alltagsintegrierten Sprachför‐ derung“ (ebd., S. 8). An der nun folgenden Darstellung der Prinzipien alltags‐ integrierter Sprachförderung, an denen sich das Fellbach-Konzept orientiert, wird deutlich, dass Erzählen von Alltagserlebnissen gefördert wird. Im Zusam‐ menhang mit dem Einsatz des Mediums Bilderbuch wird dialogische Sprach‐ produktion durch Gespräche über vorgelesene Geschichten herausgefordert. Während des dialogischen Vorlesens ist es nach Kucharz et al. leichter möglich, eine standardnahe Sprache zu verwenden. Zudem wird deutlich, dass die dem Konzept zugrundeliegenden Sprachfördertechniken auf die Förderung von Wortschatz und Syntax abzielen. Alltagsintegrierte Sprachbildung und Sprachförderung kann als Gegenmo‐ dell zu der inszenierten Sprachförderung verstanden werden. Das Angebot der inszenierten Sprachförderung richtet sich dabei speziell an Kinder mit Sprachförderbedarf. Alltagsintegrierte Sprachförderung hingegen findet für alle Kinder statt und umfasst die ganze Kindergarten- und Grundschulzeit. Kucharz, Mackowiak und Beckerle (2015) verweisen auf die Unterscheidung von Schneider et al. (2012): Diese bezeichnen die inszenierte Sprachförderung als eigentliche Sprachförderung, während sie die alltagsintegrierte Sprachförderung als Sprachbildung betiteln. Im Sprachförderkonzept von Kucharz et al. werden Kinder mit und ohne Sprachförderbedarf gemeinsam und alltagsintegriert 1 Sprachförderung, Schrift und Text 27 <?page no="28"?> gefördert. Kucharz et al. siedeln die alltagsintegrierte Sprachförderung zwischen den beiden Polen „Sprachbad im Alltag“ (Kucharz/ Mackowiak/ Beckerle 2015, S. 94) (Immersion) und „systematische Sprachvermittlung“ (ebd., S. 95) an. (Vgl. ebd., S. 94-96) Als Prinzipien der alltagsintegrierten Sprachförderung sind Sprachvorbild und sprachförderliche Alltagsgestaltung zu nennen. „Die erwachsenen Bezugspersonen geben dem Kind mit ihrem Sprechen […] die Vorlage; sie fungieren als Sprachvorbild und bieten ihnen reichhaltigen Input auf den verschiedenen Sprachebenen an“ (ebd., S. 98). So dienen Erzieherinnen und Erzieher bzw. Lehrerinnen und Lehrer als Sprachvorbild. Damit Kinder an ihnen die Sprache lernen oder ihre Sprachkompetenz erweitern können, „ist eine möglichst umfassende und korrekte Sprache als Vorbild notwendig“ (ebd.), so die Autorengruppe. In alltagsintegrierter Sprachförderung verwenden Pädagoginnen und Pädagogen durch die Einbettung in alltägliche Situationen oft Umgangssprache. „Dies kann für Kinder problematisch sein, da sie aus dem Sprachangebot ihr Sprachwissen ableiten“ (ebd., S. 99). So zeigen beispielsweise die Studien von Landert (2007) und Gyger (2010), „dass die Nutzung der Standardsprache in Bildungseinrichtungen für Kinder am förderlichsten ist“ (Kucharz et al. 2015, S. 99). Mit Verweis auf Löffler (2003) betonen Kucharz et al. die Wichtigkeit, dass Kinder (insbesondere im Übergang Kindergarten - Grund‐ schule) „den Unterschied zwischen Standardsprache und Umgangssprache bzw. Dialekt sowie deren unterschiedliche Verwendung je nach Situation kennen‐ lernen“ (Kucharz et al. 2015, S. 99). Folglich sollten Erwachsene eine „möglichst korrekte Sprache nutzen und dabei bewusst nah an der Standardsprache mit den Kindern kommunizieren“ (ebd., S. 99), so Kucharz et al. mit Bezug auf Knapp/ Kucharz/ Gasteiger-Klicpera (2010) und Löffler (2011). (Vgl. Kucharz et al. 2015, S. 98f.) Es gibt verschiedene Situationen, um Gespräche mit Kindern zu führen: Erzählen von interessanten Erlebnissen, Wünsche äußern und eigene Deutungen bzw. Entdeckungen zu einer Bilderbuchgeschichte mitteilen. (Vgl. ebd., S.-99f.) Gerade zur Förderung der Literalität eignen sich Gespräche über Bücher und Ge‐ schichten sowie das dialogische Vorlesen. Hier ist es leichter möglich, standardnahe und damit vorbildliche Sprache zu verwenden, aber auch situationsspezifisch in Umgangssprache zu wechseln. (Kucharz et al. 2015, S.-100) An dieser Stelle wird deutlich, dass Bilderbücher im Rahmen der alltagsinte‐ grierten Sprachförderung als Anlass dienen können, miteinander ins Gespräch zu kommen. Eine wesentliche Fördermethode besteht bei der alltagsintegrierten Sprach‐ förderung in der Anwendung von Sprachfördertechniken (vgl. ebd., S. 14). Im 28 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="29"?> Fellbach-Konzept wurden die drei Sprachfördertechniken korrektives Feedback, Modellierungssowie Stimulierungstechniken adaptiert. Ziel des korrektiven Feedbacks ist es, indirekt sprachliche Fehler der Kinder zu verbessern und sie zu ermutigen (ebd., S. 101). So wird eine fehlerhafte kindliche Äußerung in richtiger Weise wiederholt. (Vgl. ebd., S.-102f.) Das korrektive Feedback kann bezüglich verschiedener Sprachebenen eingesetzt werden: bei fehlerhafter und unvollständiger Lautbildung (Phonologie), bei einem unvollständigen Satz oder fehlerhafter Satzstellung (Syntax), bei fehlenden oder falschen grammatischen Wortmarkierungen (Morphologie) oder bei fehlenden oder falsch verwendeten Wörtern (Lexik). (Ebd.) In Bezug auf die lexikalische Ebene könnte ein korrektives Feedback folgender‐ maßen aussehen: „Kind: ‚Kannst du mir die Schuhe machen? ‘ - Pädagog/ in: ‚Ich kann dir die Schuhe zumachen/ zubinden.‘“ (ebd., S.-103). (Vgl. ebd., S.-102f.) Auch bei den Modellierungstechniken reagiert die Pädagogin bzw. der Päd‐ agoge auf sprachliche Äußerungen des Kindes. Diese werden aufgegriffen und erweitert. Ziel hierbei ist zum einen, dass das Kind den verbesserten Satz hört und zum anderen, dass seine Äußerungen fortgeführt, also modelliert werden. Hier lassen sich drei Arten von Modellierungen unterscheiden, die jedoch oft auch in Verbindung miteinander verwendet werden: Die syntaktische Ergänzung, die morphologische Umformung und die semantische Erweiterung. Bei der syntaktischen Ergänzung werden einfache Sätze des Kindes zu komplexeren ergänzt oder aber unvollständige Sätze vervollständigt. Bei der morphologischen Umformung werden im Satz des Kindes grammatische Formen auf Wortebene verändert. Bei der semantischen Erweiterung geht es primär um die Erweiterung von Wortschatz und Satzverständnis. Es können neue Wörter zum Satz des Kindes hinzugefügt werden, Füllwörter durch präzise Wörter ersetzt werden. Durch zusätzliche inhaltliche Informationen kann auch die Bedeutung des vom Kind geäußerten Satzes erweitert werden. Welche Technik gewählt wird, hängt vom Sprachstand des jeweiligen Kindes ab sowie von der diagnostizierten Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski). Kucharz et al. zeigen anhand einiger Beispiele, wie der Einsatz der Modellierungstechniken aussehen kann. Hierfür wählen sie eine Situation, in der ein Kind ein Bilderbuch betrachtet: „Sagt das Kind beim Betrachten eines Bilderbuches z. B. ‚Da ist eine Ente und da ist eine Ente‘, kann die Pädagogin/ der Pädagoge erwidern: ‚Da sind zwei Enten‘ oder ‚Da schwimmen zwei Enten auf dem Teich.‘“ (ebd., S.-104). (Vgl. ebd., S.-103ff.) Der Einsatz von Stimulierungstechniken verfolgt das Ziel, Kinder zum Spre‐ chen anzuregen, wobei zwischen zwei Arten von Stimulierungstechniken un‐ terschieden wird: Parallel-Talking und offene Fragen bzw. Impulse, die zum 1 Sprachförderung, Schrift und Text 29 <?page no="30"?> Sprechen animieren sollen. Parallel-Talking bietet Sprachmuster an, die vom Kind beim Sprechen verwendet werden können. Das Parallel-Talking wird insbesondere bei sehr jungen Kindern genutzt und bei solchen, die entweder Schwierigkeiten beim Erstspracherwerb haben oder aber sehr wenig Kenntnisse in ihrer Zweitsprache Deutsch haben. Diese Kinder wären überfordert, wenn sie zum Erzählen aufgefordert werden würden, da sie nicht über den dafür notwenigen Wortschatz sowie über die nötigen morpho-syntaktischen Struk‐ turen verfügen. „Damit sie selbst Sprache produzieren können, brauchen sie ein Angebot an Satzmustern und geeigneten Wörtern, an denen sie sich orientieren können und die es ihnen erleichtern, die Strukturen der deutschen Sprache zu identifizieren“ (ebd., S. 106). Handlungen und Gefühle der Gesprächspartne‐ rinnen und Gesprächspartner werden beim Parallel-Talking sprachlich begleitet. Kucharz et al. illustrieren diese Technik mit folgendem Beispiel: „Das Kind zieht seine Jacke an. Sprachliche Begleitung durch die Pädagogin: ‚Du ziehst deine Jacke an. Danach ziehst du die Hausschuhe aus und deine Stiefel an. Möchtest du noch deine Mütze anziehen oder lieber deine Handschuhe? ‘“ (ebd.). So hört das Kind mehrfach „einfache Satzbildungen mit dem Verb ‚anziehen‘“ (ebd.). Jedes Mal wurde die Verbklammer genutzt. Um die Frage am Schluss zu beantworten, hat das Kind ein Satzmuster erhalten, welches es nutzen kann. Die Form, offene Fragen zu stellen, ist für Kinder geeignet, die von sich aus nicht viel sprechen. „Impulse dieser Art können lauten: ‚Erzähl mal …‘ oder durch eine offene Frage erfolgen, z. B. ‚Wie fühlt sich das Kind auf dem Bild wohl? ‘“ (Kucharz et al. 2015, S.-107). (Vgl. ebd., S.-106ff.) Anstoß für das Forschungsprojekt Sprachförderung im Alltag von Spielgruppe, Kita und Kindergarten (Sprima) gab die Frage, wie die Integration von Sprach‐ förderung in den Alltag - als Alternative zu Sprachförderprogrammen - unterstützt werden kann. Im Rahmen dieses Projektes entstand Löffler und Vogts Werk Strategien der Sprachförderung im Kita-Alltag, ein „Praxisbuch, für alle, die Sprachförderung zu ihren Aufgaben zählen“ (Löffler/ Vogt 2015, S. 7.). (Vgl. ebd.) Die vier folgenden Strategien zur Sprachförderung beziehen den Umgang mit Texten (z. B. Bilderbücher) oder Schrift ein. Die Strategien sind auf mündliche Kommunikation, Wortschatzerweiterung und den Erwerb syntaktischer Strukturen ausgerichtet. Bilderbücher dienen als Erzählimpuls, Bildimpuls, Informationsquelle und als Anregung für dialogisch angelegte Sprachproduktion. Die von Franziska Vogt und Bea Zumwald vorgestellte Strategie Im Dialog mit Kindern (vgl. ebd., S. 42-49) wird am Beispiel eines Gesprächs erläutert, das während des Vorlesens eines Bilderbuches entsteht. Hierbei äußert ein Junge eine Beobachtung zu einem Tier aus seinem Alltag. Dies führt dazu, 30 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="31"?> dass die frühpädagogische Fachperson die Bildbetrachtung unterbricht, auf den Beitrag des Jungen eingeht, das Gespräch um einen Aspekt erweitert und das Thema durch das Erzählen von einem eigenen Erlebnis weiterführt. Bei dieser Strategie sollen Kinder nicht nur erzählen, sondern zum Denken herausgefordert werden. Es geht darum, im Gespräch Gedanken zu entwickeln. „Die Dialoge entstehen aus Momenten im Alltag“ (ebd., S. 45). Themen der Kinder werden wahrgenommen und in einen längeren Dialog vertieft. (Vgl. ebd., S. 43-45) Auf diese Strategie kann somit auch bei der Arbeit mit einem Bilderbuch zurückgegriffen werden. Dabei ist die Sprachförderung, wie der Titel der Strategie bereits verrät, dialogisch angelegt. In der von Nadine Itel und Andrea Haid dargestellten Strategie Schritt für Schritt den Wortschatz fördern (vgl. ebd., S. 50-58) gilt es, Themen der Kinder aufzugreifen und sprachlich anzureichern. Itel und Haid stellen mit Bezug auf Glück (2003) und Siegmüller und Kauschke (2006) für das Erlernen neuer Wörter drei Erwerbsphasen vor: In der ersten Erwerbsphase (Phase des Anbietens) lernt ein Kind ein neues Wort kennen, in der zweiten Erwerbsphase (Phase des Erarbeitens) lernt es die Bedeutung des neuen Wortes, während es in der dritten Phase (Phase des Festigens) das Wort längerfristig abspeichert. Nach dem Durchlaufen dieser drei Phasen ist die Wortschatzerweiterung jedoch noch nicht abgeschlossen: Das Kind benötigt weitere Gelegenheiten, das Wort selbstständig zu verwenden. „Dies ermöglicht den Übergang von der rezept‐ iven (Kind kennt das Wort) auf die produktive (Kind sagt das Wort) Ebene der Wortschatzerweiterung“ (ebd., S. 52). (Vgl. Löffler/ Vogt 2015, S. 52) Als weiterführenden Fördervorschlag zur langfristigen Abspeicherung eines neuen Wortes nennen Itel und Haid auch den Einsatz eines Buches. Sie bezeichnen den Einsatz von Bildmedien als wertvolle Möglichkeit, „um eingeführte Begriffe mit weiteren Informationen anzureichern“ (ebd., S. 57). Der Einsatz eines Bildes zur Anreicherung kann im Gespräch mit den Kindern zu weiteren Fragen führen, auf die eingegangen werden kann. (Vgl. ebd.) In dieser Strategie zur Wortschatzerweiterung wird der Einsatz eines Bilderbuches vorgeschlagen, wobei das Bildmaterial und die Kommunikation über den eingeführten Begriff im Zentrum zu stehen scheint. Cordula Löffler und Nadine Itel unterscheiden in ihrer Strategie Sprache modellieren zwischen drei Modellierungstechniken: Solche, die einer kindlichen Sprachäußerung vorausgehen, solche die ihr nachfolgen und korrektives Feed‐ back (vgl. ebd., S. 59-69). Einer kindlichen Äußerung vorausgehende Modellier‐ ungstechniken dienen dazu, das Kind zum Sprechen zu motivieren und ihm modellhafte Äußerungen zu präsentieren (vgl. ebd., S. 61). Dazu gehört zum Beispiel die gehäufte Einführung einer neuen sprachlichen Zielstruktur wie 1 Sprachförderung, Schrift und Text 31 <?page no="32"?> Adjektivendungen („Das ist ein ganz schönes Pferd. Hast denn du schon mal ein richtiges Pferd [Hervorheb. im Original] gesehen? “ (Ebd.)). Mit den einer kindlichen Äußerung nachfolgenden Modellierungstechniken werden Kindern gezielte und unmittelbare Rückmeldungen gegeben, wozu u. a. die Vervollständigung eines vom Kind geäußerten Satzes (Expansion) zählt. (Vgl. ebd., S. 62) Die verbesserte Wiederholung bzw. das korrektive Feedback (vgl. ebd.) kann sich auf Laute, Wortschatz und Grammatik beziehen (vgl. ebd., S. 63). Löffler und Itel illustrieren die Strategie Sprache modellieren u. a. am Beispiel eines Mädchens, das von ihrem Geburtstag erzählt, wobei auffällt, dass ihr Vergangenheitsformen noch Mühe bereiten und wichtige Funktionswörter von ihr ausgelassen werden (vgl. ebd. S. 65). Als weiterführender Fördervorschlag wird die Arbeit mit einem Bilderbuch zur Vertiefung des mündlich bereits thematisierten Themas Geburtstag genannt: „Die detailreich gestalteten Bilder der Geschichte […] regen zum Beobachten und Erzählen an“ (ebd., S. 68), wodurch das Mädchen neuen Input zum Thema Geburtstag bekommen kann, und erleichtern das Erzählen vom eigenen Geburtstagskuchen. Dabei kann die Frühpädagogin die Äußerungen des Kindes modellieren. (Vgl. ebd.) Auffällig ist, dass wie bei der Strategie Schritt für Schritt den Wortschatz fördern das Bildmaterial hervorgehoben wird. Dieses soll dem Kind als Erzählimpuls dienen. Bei der von Mandy Schönfelder präsentierten Strategie Den Spracherwerb mit Fragen fördern und begleiten (vgl. ebd., S. 70-77) werden Kinder durch Fragen angeregt, eigene Gedanken zu entwickeln und sprachliche Äußerungen zu formulieren. Dabei kann es angemessen sein „je nach Sprachstand […] alle Frageformen in eine wirksame Förderstrategie zu integrieren“ (ebd., S. 70). Es wird zwischen drei stimulierenden Fragetypen unterschieden: Entscheidungs‐ frage, Ergänzungsfrage (oder W-Frage) und Wahl- oder Alternativfrage. (Vgl. ebd.) Diese Unterteilung geht auf Altmann zurück (vgl. Altmann 1993, S. 1007ff.). Schönfelder illustriert die Strategie anhand einer gemeinsamen Bilderbuchsitu‐ ation zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. Das Bilderbuch Puh der Bär wird gemeinsam betrachtet und die frühpädagogische Fachperson setzt verschiedene Fragetypen ein. Sie stellt beispielsweise die Ergänzungsfrage „Was ist denn Pu für ein Tier? “ (Löffler/ Vogt 2015, S. 72), mit der ein einzelnes Wort aktiviert wird. (Vgl. ebd., S. 71-73) Festzuhalten sei, dass die Sprachförderung unter Einsatz eines Bilderbuches dialogorientiert und nicht monologisch angelegt ist. 32 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="33"?> 8 Lenel, Aline (2011): Sprechen, Schreiben, Lesen - Kinder auf dem Weg zur Schrift. Anregungen für die Praxis in Kindertageseinrichtungen für Kinder im Alter von 1-10 Jahren, hrsg. v. Kita Frankfurt. Frankfurt a. M. In der Broschüre Sprechen, Schreiben, Lesen - Kinder auf dem Weg zur Schrift (2011) stellt Aline Lenel 8 ein Konzept vor, in dem Literacy in den Blick genommen wird. Jede Textart hat ihr typisches Aussehen. Diese unterschiedlichen Strukturen nehmen Kinder sehr früh wahr. Erhalten sie Gelegenheit, ahmen sie die Formate nach. Dabei entwickeln sie ein Wissen von der angemessenen Anordnung der Schrift auf dem Papier. (Ebd., S. 16) So werden im Kapitel Erstes Textwissen „Aktivitäten vorgestellt, in denen Kinder Layouts von unterschiedlichen Texten herstellen“ (ebd.). Sie verfassen ohne Buchstaben Texte verschiedener Textsorten (z. B. Briefe, Rezepte, Listen, Kalendereinträge) und bemerken dabei Lücken (z. B. zwischen Überschrift und Text, zwischen Absätzen etc.). Obwohl sich Kinder mit der äußeren Form von Texten beschäftigen, steht doch „der eigentliche Sinn des Schreibens, nämlich die Mitteilung an eine andere Person“ (ebd., S. 16), bei vielen dieser Aktivitäten im Vordergrund: „Die Adressatenorientierung ist das Motiv jeder schriftlichen Äußerung und bestimmt ihre Form“ (ebd.). Das Kapitel beinhaltet sieben Erfah‐ rungsberichte zum Umgang mit Texten, die insbesondere die Textsorten Brief und Zeitung thematisieren: Geheimnisse in Briefumschlägen von Iman Afif (vgl. ebd., S. 17), Die Schrift-Schatzkiste von Christina Hoede (vgl. ebd., S. 18), Die mobile Briefkiste von Katrin Schulze (vgl. ebd., S. 19f.), Briefkästen für alle von Christina Hoede (vgl. ebd., S. 21), Briefe an ein krankes Kind von Erika Horlacher (vgl. ebd., S. 22f.), Der Postweg von Erika Horlacher (vgl. ebd., S. 24f.) und Wandzeitung über die Erlebnisse der Waldwoche von Astrid Appel (vgl. ebd., S.-26f.). „Immer wieder fiel der Erzieherin auf: Wenn sie etwas schrieb, nahmen auch die Kinder Papier und Bleistift zur Hand und fingen an zu schreiben“ (ebd., S. 18), so berichtet Hoede im Erfahrungsbericht zur Schrift-Schatzkiste. Um das vorhandene Interesse der Kinder zu nutzen und ihnen mehr Schrifter‐ fahrung zu ermöglichen, stellte die Erzieherin ihnen besseres Schreibmaterial zur Verfügung, z. B. Postkarten, Lottoscheine und Schulhefte. Diese Utensilien kamen in eine Lebkuchenkiste, eine Schreibschatzkiste. Diese wurde dadurch, dass die Kinder erst fragen mussten, bevor sie sie bekamen, „begehrenswert und kostbar“ (ebd.). Gemeinsam wurde beschlossen, Briefkästen zu bauen. Teilweise schrieben die Kinder Briefe. „Andere wiederum machen lieber ‚Haus‐ aufgaben‘ und schreiben in ihre Schulhefte, wobei sie ihre älteren Geschwister 1 Sprachförderung, Schrift und Text 33 <?page no="34"?> nachahmen“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Deutlich wird bei diesem Erfahrungsbericht die Bedeutsamkeit eines Vorbildes, das die Kinder beobachten und nachahmen - sei es die schreibende Erzieherin oder ein älteres Geschwisterkind. Im Gegensatz zu sechs Erfahrungsberichten, die sich mit dem Verfassen von Briefen beschäftigen, berichtet Astrid Appel über das Erstellen einer Wandzeitung zu den Erlebnissen der Kinder bei der Frankfurter Waldwoche. Anhand von Illustrierten und Zeitungen sprachen die Kinder „über deren Aufbau und unterschieden die verschiedenen Elemente Titel, Fließtext und Bild voneinander“ (ebd., S. 26). In Kleingruppen sollte jeweils über einen Tag der Frankfurter Waldwoche berichtet werden. Es kam zu unterschiedlichen Herangehensweisen und auch Ergebnissen. Die Kinder erstellten Zeichnungen, schnitten Wörter aus, schrieben Wörter ab oder druckten. Unter Rückgriff auf die Anlauttabelle wurden auch Sätze und kleinere Texte geschrieben. Teilweise wurde auf Informationen aus Büchern zurückgegriffen. (Vgl. ebd., S. 26f.) Wie beim Verfassen der Briefe spielt auch bei diesem Erfahrungsbericht ein Vorbild eine Rolle. Zwar handelt es sich um keine Person, die die Kinder imitieren, jedoch werden die Kinder vor ihrer Arbeit mit der Textsorte Zeitungsartikel vertraut gemacht, indem sie Beispiele ansehen und über deren Merkmale sprechen. Die Aktivitäten aus dem Kapitel Handlungskonzepte vom Lesen und Schreiben ermöglichen den Kindern, „sich selbst als Schreiber und Leser zu entwickeln“ (Lenel 2011, S. 30). Es werden in der Kita Räume geschaffen, „in denen Kinder Lesen und Schreiben als selbst- und lustbestimmte Tätigkeiten erleben können“ (ebd.). Zunächst müssen sie die Möglichkeit bekommen, Scheiber und Leser zu beobachten. Hierbei können sie z. B. beobachten, wie ein Buch gehalten wird. „Schriftbeherrschung macht selbstständig - Neugier und der Wunsch nach Freiheit und Autonomie motiviert zum Schrifterwerb“ (ebd.). Lenel betont an dieser Stelle die Notwendigkeit des Vorbildcharakters: „Zur Ausbildung dieses Wunsches benötigen Kinder Vorbilder“ (ebd.). Der Erfahrungsbericht von Astrid Walter zum Thema Schreibbüro (vgl. dazu ebd., S. 35) zielt auf die Förderung von Textkompetenz ab. Zunächst setzte sich die Erzieherin an einen Tisch und verfasste Antworten auf Briefe und Postkarten. Diese Tätigkeit führte zu Nachfragen der Kinder. Daraufhin bot sie den Kindern „ihren Dienst als ‚Schreibmaschine‘“ (ebd., S. 35) an, damit die Kinder auch Briefe an ihre Eltern, Großeltern und anderen Verwandten verfassen konnten, die letztendlich gemeinsam in den Briefkasten eingeworfen wurden. (Vgl. ebd.) Zum Diktieren der Briefe durch die Kinder schreibt Astrid Walter Folgendes: 34 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="35"?> 9 Die Studie von Merklinger (2011) untersucht das diktierende Schreiben im Detail (vgl. Kapitel I.3.4 zur Textproduktion im Medium der Mündlichkeit). Die Sätze der Kinder verbesserte […] [die Erzieherin] nicht. Im Gegenteil fiel ihr auf, dass die Kinder beim Diktieren bewusst nach besonderen Worten suchten. Sie gaben sich auch große Mühe beim Worten vollständiger Sätze. (Ebd.) An diesen Beobachtungen wird deutlich, dass durch ein solches Setting scheinbar zu einem gewissen Grad Schriftsprachlichkeit (z. B. das Bilden vollständiger Sätze und die Suche nach besonderen Worten) herausgefordert werden kann. 9 Der Erfahrungsbericht von Magdalene Stenger widmet sich dem Thema Bilderbücher vorlesen (vgl. ebd. S. 31f.). Gemeinsam wurde ein Leseprojekt durchgeführt. Dazu wurden Lese-Ecken in den Gruppenräumen eingerichtet. Hier gab es auch die Möglichkeit, Bücher auszuleihen. Mit den Kindern wurden regelmäßige Treffen zum Lesen vereinbart (Ritualisierung). Vor dem Vorlesen fand eine Abstimmung darüber statt, welches Buch vorgelesen werden sollte. Magdalene Stenger stellt drei Methoden vor, die beim Vorlesen des Buches genutzt werden können: Gestaltendes Vorlesen mit gemeinsamer Betrachtung des Bilderbuches, Erzählen zum Bilderbuch, bei dem sich die Erzieherin oder der Erzieher am Sprachniveau der Kinder orientieren kann sowie die dialogori‐ entierte Bilderbuchbetrachtung, z. B. mit Hilfe einer Handpuppe. Bei der dritten Methode soll durch Impulse und Fragen von der Vorleserin oder dem Vorleser oder alternativ der Handpuppe die sprachliche Beteiligung der zuhörenden Kinder herausgefordert werden. Alle drei Methoden können Denkprozesse und Fantasie anregen. Kinder können lernen, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und sich mit anderen zu identifizieren. „Gefördert werden das soziale Einfüh‐ lungsvermögen, das Gefühl für Sprache und ihre Ausdrucksmöglichkeiten sowie das Verständnis von Satzstrukturen. Nebenbei wird auf diese Weise auch der Wortschatz der Kinder erweitert“ (ebd., S. 32). Sprachförderung zielt hier auf Syntax und Wortschatz ab. Zusätzlich kann auch das Sprachgefühl und ein Gefühl für Ausdrucksmöglichkeiten gefördert werden. Explizit wird jedoch nicht die Förderung des Wissens über Texte angesprochen. In ihrem Werk Spracherwerb und Sprachförderung in der Kita (2012) stellen Tobias Ruberg und Monika Rothweiler Leitlinien der Sprachförderung auf, die zur Bewertung sowohl von Sprachförderprogrammen als auch Sprachför‐ dermaterialien dienen können (vgl. Ruberg/ Rothweiler 2012, S. 152-156; zu einer genauen Beschreibung der Leitlinien vgl. Ruberg/ Rothweiler 2012, S.-45- 49). Exemplarisch sei auf fünf ausgewählte Leitlinien hingewiesen. So besagt 1 Sprachförderung, Schrift und Text 35 <?page no="36"?> Leitlinie 1, dass Sprachförderung in Situationen erfolgt, „in denen Kinder Sprache als Instrument zum Erreichen persönlicher Ziele einsetzen können“ (ebd., S. 152). Zudem geschieht sie nach Leitlinie 2 „in Situationen, die zum Sprechen anregen und inhaltlich und thematisch an der Lebenswelt der Kinder anknüpfen“(ebd.). Der natürliche Entwicklungsverlauf dient als Orientierung für die Sprachförderung. Daher werden gemäß Leitlinie 4 die Förderziele nach dem Prinzip der Entwicklungsproximalität ausgewählt. Dabei erfolgt die entwicklungsproximale Förderung nach Leitlinie 5 strukturzentriert. (Vgl. ebd.) Kinder sind in der Lage, sich aus dem sprachlichen Angebot, das sie in natürlichen Kommunikationssituationen erhalten, genau das herauszuholen, was sie für den nächsten Entwicklungsschritt benötigen. Im Hinblick auf Sprachförderung ist zu‐ nächst einmal wichtig, einem Kind auch genau die Informationen zur Verfügung zu stellen, die es gerade benötigt. (Ebd., S.-48) Nach Leitlinie 6 nutzt Sprachförderung „implizite Sprachlehrstrategien in natür‐ lichen Kommunikationssituationen“ (ebd., S. 152). Dem funktionalen Gebrauch von Sprache, dem Lebensweltbezug und impliziten Lernen kommt somit für die Sprachförderung eine hohe Bedeutung zu. Es geht im Grunde darum, das Kind zum Sprechen anzuregen und in der Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski) handeln zu lassen. Dabei kann jedes Material als Sprachfördermaterial bezeichnet werden, „das in der Sprachförderung eingesetzt werden kann“ (ebd., S. 156). Dies gilt auch für Bilderbücher. Ihr sprachförderliches Potenzial entfaltet sich „erst in der Kommunikation über das Buch“ (ebd., S. 157). Ohne (sprachliche) Interaktion ist sprachlicher Input unzureichend für den kindlichen Spracherwerb. Gemäß der Leitlinien 1 und 2 muss das sprachliche Material, das dem Kind in einer Vorlesesituation angeboten wird, „in natürlichen Kommunikationssituationen aufbereitet werden, die von dem Kind als bedeutsam erlebt werden und einen konkreten Handlungsbezug aufweisen“ (ebd., S. 157). Nur dann wird sich ein echtes Gespräch entwickeln, wenn das Kind die Möglichkeit hat, „mit seinen persönlichen Erfahrungen an die Handlung des Buches an[zu]knüpfen“ (ebd.) und wenn es in das Gespräch diese persönlichen Erfahrungen einbringen kann. Gelingt es der Sprachförderkraft, mit Kindern ins Gespräch über das Buch zu kommen und dabei implizite Sprachlehrstrategien einzusetzen, wird der in Leitlinie 6 geforderte Einsatz impliziter Lehrmethoden nach Ruberg und Roth‐ weiler erfüllt. „Die Anwendung von Sprachlehrstrategien erfolgt jedoch nicht beim Vorlesen selbst, sondern während der Kommunikationsphasen, die das Be‐ trachten des Bilderbuchs begleiten“ (ebd.). Die gemeinsame Bilderbuchbetrach‐ tung wurde unter der Bezeichnung Dialogic Reading (dialogische Bilderbuchbe‐ 36 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="37"?> 10 In diesem Zusammenhang verweisen sie auf folgende Studien: Arnold, David H./ Lonigan, Christopher J./ Whitehurst, Grover J./ Epstein, Jeffery N. (1994): Accelerating language development through picture book reading: Replication and extension to a videotape training format. In: Journal of Educational Psychology, 86, S.-235-243. Hargrave, Anne C./ Sénéchal, Monique (2000): A book reading intervention with preschool children who have limited vocabularies: The benefit of regular reading and dialogic reading. In: Early Childhood Research Quarterly, 15, S.-75-90. Lonigan, Christopher J./ Whitehurst, Grover J. (1998): Relative efficacy of parent and teacher involvement in a shared-reading intervention for preschool children from low-income backgrounds. In: Early Childhood Research Quarterly, 13, S.-263-290. Whitehurst, Grover J./ Falco, F. L./ Lonigan, Christopher J. / Fischel, Janet E./ DeBaryshe, Barbara D./ Valdez-Menchaca, Marta C./ Caulfield, Marie B. (1988): Accelerating lang‐ uage development through picture book reading. In: Development Psychology, H. 24, S.-552-558. trachtung) von Whitehurst et al. (1988) erstmals zu einer Sprachfördermethode weiterentwickelt. (Vgl. ebd., S. 157) Ruberg und Rothweiler (2012) stellen die grundlegenden Techniken des Dialogic Reading (nach Arnold/ Lonigan/ White‐ hurst 1998) zusammen. Dazu gehört der Einsatz von Was-Fragen, um das Kind zum Sprechen anzuregen, das Stellen weiterer Fragen, nachdem das Kind eine Antwort gegeben hat und das Wiederholen korrekter Antworten des Kindes zur Bestärkung und um zu signalisieren, dass die Antwort richtig war. Zudem sollte von der erwachsenen Person ein Modell einer guten Antwort gegeben werden, auf das das Kind bei der eigenen Sprachproduktion zurückgreifen kann. Ebenfalls relevant sind das Wiederholen kindlicher Antworten, wobei diese durch Zusatzinformationen erweitert werden, und das Stellen offener Fragen, um komplexere Antworten herauszufordern. (Vgl. Ruberg/ Rothweiler 2012, S. 157f.) Ruberg und Rothweiler verweisen auf den in unterschiedlichen Studien 10 bestätigten förderlichen Effekt des Dialogic Reading auf den kindlichen Spracherwerb und betonen, dass sich signifikante Effekte insbesondere beim Wortschatzumfang zeigen. Des Weiteren nehmen Ruberg und Rothweiler auf den zu jenem Zeitpunkt nicht erfassten Einfluss des Dialogic Readings auf die semantische Entwicklung Bezug und erwähnen zudem den Grammatikerwerb: „Ob sich durch dialogische Vorlesesituationen auch der Grammatikerwerb för‐ dern lässt, ist bislang nicht eindeutig belegt“ (ebd., S. 158). Diese Ausführungen machen deutlich, dass die Forscher die Förderung von Wortschatz, Semantik und Grammatik in den Blick nehmen, jedoch Dialogic Reading nicht als Methode zur Förderung von Textkompetenz in Betracht zu ziehen scheinen. Diesen Eindruck bestätigen konkrete Überlegungen von Ruberg und Rothweiler zum Einsatz des Bilderbuches als Sprachfördermaterial. 1 Sprachförderung, Schrift und Text 37 <?page no="38"?> 11 Carle, Eric (1997): Von Kopf bis Fuß. Hildesheim: Gerstenberg. Entsprechend der Leitlinie 5, die besagt, dass die Umsetzung einer entwick‐ lungsproximalen Förderung strukturzentriert erfolgen soll, sollte ein Bilderbuch „Impulse für den Gebrauch solcher sprachlicher Strukturen bieten, die für ein Kind in der Zone der nächsten Entwicklung liegen“ (ebd.). Dazu ist es nötig zu analysieren, „für welche sprachlichen Strukturen sich beim Betrachten unterschiedlicher Bilderbücher Kontexte bieten“ (ebd., S. 159). Exemplarisch verdeutlichen die Autoren an einem Textausschnitt aus dem Bilderbuch Von Kopf und Fuß (1997) von Carle, 11 dass sich die in diesem Buch angebotenen Sätze in besonderer Weise für den Erwerb der Hauptsatzstruktur eigenen: „Ich bin ein Seehund und klatsche in die Hände. Kannst du das auch? Das kann ich auch! […] Ich bin eine Katze und mache einen Buckel. Kannst du das auch? Das kann ich! “ (Carle 1997, zit. n. Ruberg/ Rothweiler 2012, S. 159) In dem vorgestellten Textaus‐ schnitt findet eine Kontrastierung unterschiedlicher Flexionsformen des Verbs können statt. So erhält das Kind die Möglichkeit, Kongruenzmerkmale und ihre morphologische Markierung am Verb durch einen Vergleich der Verbformen zu identifizieren. (Vgl. Ruberg/ Rothweiler 2012, S. 159) Die Überlegungen, die die Autoren zu verschiedenen Bilderbüchern anstellen, legen den Fokus auf den Erwerb grammatischer Strukturen und die Wortschatzerweiterung (vgl. ebd., S. 159-161). Ruberg und Rothweiler geben den allgemeinen Hinweis, das Sprachfördermaterial vor dem Einsatz hinsichtlich sprachlicher Strukturen zu betrachten: „Welchen Wortschatz bietet das Material an? Welche Aspekte von Sprache werden besonders deutlich? Welche sprachlichen Strukturen treten besonders häufig und kontrastreich auf ? “ (Ebd., S.-162) Während Ruberg und Rothweiler ihr Augenmerk auf den Erwerb sprachlicher Strukturen setzten, wird in der vorliegenden Studie der Fokus darauf gelegt, solche Strukturen innerhalb eines Textes funktional einzusetzen, wobei es um die Herstellung von Textualität und Bildung von Kohärenz geht. Dies zielt - im Gegensatz zu dem vorgestellten Einsatz des Bilderbuches als Sprachförderma‐ terial - nicht primär auf die Förderung von Wortschatz und Syntax ab, sondern auf die Förderung von Textkompetenz. In ihrem Abschlusskapitel Sprachförderung konkret - Beispiele für die Planung und Umsetzung zeigen Ruberg und Rothweiler exemplarisch, wie alltagsinteg‐ rierte Sprachförderung im Kindergarten aussehen kann (vgl. ebd., S. 172-193), um das Vorgehen bei Planung und Umsetzung von Sprachfördermaßnahmen zu erläutern. Dabei sollte Sprachförderung stets „an die individuellen sprachlichen und lebensweltlichen Voraussetzungen des Kindes angepasst sein“ (ebd., S. 171). Auch diese Vorschläge beziehen sich im Schwerpunkt auf die Förderung von 38 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="39"?> 12 Die Erstpublikation des Beitrags erfolgte 2009: Isler, Dieter/ Künzli, Sibylle (2009): Literalitätsförderung im Kindergarten: Sprache braucht ein soziales Umfeld. In: Buch und Maus, H. 2, S.-6-9. 13 Isler und Künzli nehmen hier Bezug auf die folgenden Quellen: Näger, Sylvia (2005): Literacy - Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur. Freiburg im Breisgau: Herder. Sörensen, Barbara (2005): Kinder erforschen die Schriftkultur. Verlag KgCH (Verband KindergärtnerInnen Schweiz). Grammatik und Wortschatz: „Der Schwerpunkt liegt […] auf der Förderung zentraler grammatischer Strukturen sowie der semantisch-lexikalischen Ent‐ wicklung“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Exkurs: Sprachförderung im Elementarbereich in der Deutschschweiz Ein Blick in die Deutschschweiz zeigt, dass Isler und Künzli bereits 2009 an Programmen zur Förderung so genannter Vorläuferfähigkeiten des Lesens und Schreibens in der Deutschschweiz kritisierten, dass mit diesen „vorwie‐ gend technische, isoliert vermittelbare Fertigkeiten trainiert [werden], die den Aufbau einer komplexen schriftsprachlichen Handlungsfähigkeit langfristig kaum beeinflussen“ (Isler/ Künzli 2010 12 , S.-1). So konstatieren Isler und Künzli, dass die „Förderung von früher Literalität im Kindergarten […] sich […] nicht auf Schriftfertigkeiten beschränken [darf], sondern […] auch vor allem auf Textfähigkeiten ausgerichtet sein [muss]“ (ebd., S.-2). Isler und Künzli skizzieren drei verschiedene Handlungsansätze zur Förde‐ rung spezifischer sprachlicher und literaler Praktiken, die zudem eine Passung der lebensweltlichen und der schulischen Praktiken berücksichtigen: Erstens den Anschluss an Ressourcen der Kinder, zweitens das Ausgestalten einer li‐ teralen Alltagskultur in der Institution und drittens das Vermitteln literaler Handlungsformate und Textfähigkeiten. Beim ersten Handlungsansatz gilt es, Informationen über die Lebenswelten der Kinder einzuholen, damit jedes Kind in den Kindergarten eine Ressource (z. B. eine eigene Sprache) einbringen kann. Der zweite Handlungsansatz zielt darauf ab, Schrift und Medien in die Klassen zu integrieren. Der dritte Handlungsansatz besteht darin, Kindern regelmäßig Lernsituationen zu bedeutsamen literalen Praktiken anzubieten, welche ihnen „die Übernahme zunehmend initiativer Rollen und den Erwerb von Textfähigkeiten ermöglichen“ (ebd., S. 4). Darunter fallen beispielsweise Bilderbuchbetrachtungen, mündliche Erzählungen und mündliches Schreiben, bei dem Kinder der Lehrperson diktieren. 13 (Vgl. ebd., S. 3f.) „Im Unterschied zu vielen neuen Sprachförderprogrammen wird Sprache nicht isoliert, sondern als sozial und alltagskulturell bedingte Praxis verstanden und gefördert“ (ebd., S. 4). 1 Sprachförderung, Schrift und Text 39 <?page no="40"?> 14 Binationales Zentrum Frühe Kindheit (o. J.): Erwerbsunterstützung mündlicher Textfä‐ higkeiten im Kindergarten (EmTiK) In: https: / / www.fruehekindheit.ch/ forschung/ erwe rbsunterstuetzung-muendlicher-textfaehigkeit-im-kindergarten-emtik/ Nach Dieter Isler, Claudia Hefti, Katharina Kirchhofer und Iris Dinkelmann (2018) entwickelte sich die vorschulische Sprachförderung als Reaktion auf PISA zu einem bedeutsamen bildungspolitischen Handlungsfeld. Dabei standen zunächst curriculare Trainingsprogramme im Vordergrund, die basale Vorläu‐ ferfähigkeiten des Lesens und Schreibens fördern sollten. Derzeit setzt sich zunehmend eine alltagsintegrierte Sprachförderung durch. (Vgl. Isler et al. 2018, S.-2) „Durch eine wirksame Erwerbsunterstützung mündlicher Textfähigkeiten kann der Kindergarten einen nachhaltigen Beitrag zum Bildungserfolg aller Kinder leisten“ (ebd.). Auf ein Instrument zur Einschätzung mündlicher Textfähigkeiten von Kinder‐ gartenkindern nach Isler et al. (2018), das im Rahmen des bis 12/ 2023 laufenden Projektes Erwerbsunterstützung mündlicher Textfähigkeiten im Kindergarten (EmTiK) 14 unter der Leitung von Dieter Isler und Claudia Hefti entwickelt wurde (vgl. Binationales Zentrum Frühe Kindheit o. J.), wird in Kapitel I.3.4 zur Textproduktion im Medium der Mündlichkeit eingegangen. Hinsichtlich des Einsatzes von Sprachstandserhebungsverfahren konnten Redder et al. (2011) feststellen, dass nur eine geringe Anzahl von Verfahren sich auf die literale Basisqualifikation I (präliterale Vorläuferfähigkeiten und Eintritt in die Schriftlichkeit) beziehen. Auf die literale Basisqualifikation II, die unter anderem den Aufbau von schriftlicher Textualität betrifft, nimmt hingegen keines der Verfahren Bezug. Smidt konnte in einer Studie mit Blick auf den Bereich Sprache, Schrift und Kommunikation feststellen, dass im ersten bis dritten Kindergartenjahr „die Förderung von (Vorläufer-)Formen des Lesens und Schreibens“ (Smidt 2013, S. 75) eine untergeordnete Rolle spielt, während der Großteil der Beobachtungszeit durch die Förderung von sprachlichen Fähigkeiten dominiert wurde. Auch Heger (2018) weist darauf hin, dass im Kindergartenalltag Förderangebote zur mündlichen Sprache stärker fokussiert werden, während Angebote, die auf die Schriftsprache bezogen sind, eher die Ausnahme zu sein scheinen. Redder et al. (2011) fordern die frühe Förderung von Sprachkompetenzen, die im Bereich der konzeptionellen Schriftlichkeit liegen. Schneider (2018) betont, dass es sich bei der Förderung von phonologischer Bewusstheit lediglich um einen Baustein der vorschulischen Sprachförderung handelt und plädiert daher für eine ergänzende Sprachförderung in Alltagssituationen. Nach Sauer‐ born (2018) trainieren Trainingsprogramme zur phonologischen Bewusstheit 40 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="41"?> lediglich Teilaspekte der Verschriftungstechnik. Sie hebt hervor, dass Schrift‐ spracherwerb jedoch mehr umfasst als „die Transformation der Zeichenketten gesprochener Sprache in Schrift und vice versa“ (Sauerborn 2018, S. 68). So ist es für den Schriftspracherwerb von Bedeutung, den Ausbau von konzeptioneller Schriftlichkeit zu unterstützen. Dies entspricht den Forderungen von Isler und Künzli (2009), Förderung von früher Literalität vor allem auch auf mündliche Textfähigkeiten auszurichten. Die Textebene soll folglich in den Blick genommen werden. Bei der exemplarischen Untersuchung verschiedener Konzeptionen zur all‐ tagsintegrierten Sprachförderung zeichnete sich ein in Grundzügen ähnliches Bild bezüglich der Konzepte von Kucharz et al. (2015), Löffler und Vogt (2015) und den Überlegungen von Ruberg und Rothweiler (2012). Zum einen sind die Konzepte auf mündliche Kommunikation ausgerichtet. Diese sind überwiegend dialogisch angelegt, während beispielsweise im Fellbach-Konzept auch das Erzählen von Alltagserlebnissen gefördert werden soll. Eine solche Sprachpro‐ duktion zeichnet sich zwar überwiegend durch das konzeptionell mündliche Sprachregister aus, kann aber insbesondere durch eine mögliche Monologizität auch Merkmale von Textualität aufweisen. Die anhand der Mehrheit der unter‐ suchten Konzeptionen gemachten Beobachtungen stimmen mit den Aussagen von Smidt und Heger überein, die auf eine Dominanz der Förderung von mündlichen Sprachfähigkeiten im Kindergartenalltag gegenüber spezifischen auf Schriftsprache bezogenen Angeboten hinweisen. Da es sich bei den im Rahmen der vorliegenden Studie vorgenommenen Analysen von Sprachförderkonzepten jedoch um exemplarische Untersuchungen handelt, zeigen diese Ergebnisse lediglich eine Tendenz an, während keine wissenschaftlich fundierten Schluss‐ folgerungen daraus gezogen werden können. Zum anderen liegt in den drei genannten Konzepten zur Sprachförderung ein Fokus auf dem Erwerb grammatischer bzw. syntaktischer Strukturen und auf der Wortschatzerweiterung. In der vorliegenden Studie soll der Blick auf Sprache gerichtet werden, die als Text organisiert ist. Der Fokus liegt somit im Gegensatz zu den drei Konzeptionen auf der Textebene und der Förderung von Textkompetenz und weniger auf der Förderung von Wortschatz und Syntax. Von den drei genannten Konzepten zur Sprachförderung hebt sich das Kon‐ zept der Kita Frankfurt in zentralen Punkten ab. Dieses Konzept ist auf Schrift und Textualität ausgerichtet und bezieht sich auf die literale Basisqualifikation I, in dem es beim ersten Textwissen der Kinder ansetzt und Erfahrungen mit Text und Schrift integriert. Zudem sind auch Bezüge zur literalen Basisquali‐ fikation II erkennbar, da durch den Umgang und das Verfassen von Texten 1 Sprachförderung, Schrift und Text 41 <?page no="42"?> Kompetenzen im Aufbau von schriftlicher Textualität erworben bzw. erweitert werden können. Während in Bezug auf die Förderung von Kompetenzen der literalen Basis‐ qualifikation I in den drei Konzepten von Kucharz et al. (2015), Löffler und Vogt (2015) und Ruberg und Rothweiler (2012) keine Beobachtungen im Hinblick auf das Erkennen und Nutzen von Schriftzeichen und zur Umsetzung von mündlichen Sprachprodukten in schriftliche gemacht werden konnten, können erste Erfahrungen mit Texten als Bestandteil genannt werden. Nach Redder et al. (2011) werden diese nämlich durch das Vorlesen und durch die sich auf das Vorgelesene bezogene Anschlusskommunikation gemacht. Das Bilderbuch kommt in allen vier Ansätzen vorrangig zum Einsatz, um Kinder zur dialogischen Sprachproduktion oder zum Erzählen anzuregen. Dabei spielen auch die Bilder von Bilderbüchern eine bedeutsame Rolle. In mehreren Konzepten wird für den Einsatz der Methode des Dialogic Reading plädiert. Die Arbeit mit den Bilderbüchern ist in den vorgestellten Konzepten stets dialogisch und nicht monologisch angelegt. Im Gegensatz dazu ist es Anliegen der vorliegenden Studie, durch den Einsatz von Bilderbüchern Kinder zur monologischen Textproduktion anzuregen, indem sie so tun, als würden sie ein ihnen bekanntes Bilderbuch vorlesen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Überlegung, ob der Einsatz der Methode Pretend Reading als Sprachfördermaß‐ nahme im vorschulischen Bereich implementiert werden könnte, wobei eine solche Sprachförderung auf die literale Basisqualifikation I und zum Teil auch auf die literale Basisqualifikation II ausgerichtet wäre. 42 1 Sprachförderung, Schrift und Text <?page no="43"?> 15 Wardetzky, Kristin (1992): Märchen-Lesarten von Kindern. Eine empirische Studie. Berlin: Peter Lang. 16 Vgl. dazu Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive, Kapitel I.5.2. 17 Vgl. dazu Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz, Kapitel I.3.2. 2 Erzählen Um die Position der vorliegenden Studie darzulegen, wird der Forschungsstand zum Erzählerwerb im Vor- und Grundschulalter skizziert, wobei der Fokus zum einen auf Ergebnissen liegt, die sich auf das Erzählen von Vorschulkindern beziehen, und zum anderen auf solchen, die Musterhaftigkeit oder konzeptionelle Schriftlichkeit in den Blick nehmen. Dehn, Merklinger und Schüler (2014) teilen Studien zum Erzählerwerb in zwei Gruppen ein: Studien der ersten Gruppe untersuchen in Form von Stufenmodellen, wie die Aneignung der Höhepunkter‐ zählung bei den Kindern vonstattengeht. (Vgl. Dehn et al. 2014, S. 4) Der Großteil der Studien zum kindlichen Erzählen bezieht sich auf die Erzählentwicklung (vgl. Schüler 2018, S.-9). In den meisten Studien zur Erzählentwicklung im Grundschulalter gilt das Struk‐ turmodell der Höhepunkterzählung (abstract, orientation, complication, resolution, coda nach Labov/ Waletzky 1967 bzw. Labov 1972) als prototypisch für das Erzählen. Die kindliche Erzählentwicklung wird dem Grad der Annäherung an das Modell entsprechend als Abfolge in Stufen beschrieben. (Ebd., S.-5) Zu dieser Gruppe zählen Dehn et al. u. a. die Studien von Boueke et al. (1995), Becker (2001) und Augst et al. (2007) (vgl. Dehn et al. 2014, S. 4). Dieser Gruppe lässt sich auch die Studie von Wolf (2000) zur Modellbildung im Forschungsbereich sprachliche Sozialisation zuordnen. Die zweite Gruppe von Studien zum Erzählerwerb befasst sich nach Dehn et al. mit dem kindlichen „Erzählen im Kontext des verfügbaren Geschichtenfundus“ (Dehn et al. 2014, S. 4) und untersucht „die Auswirkung der Aneignung von Geschichten auf Inhalt und Sprachformen des kindlichen Erzählens“ (ebd.). Zu dieser Gruppe rechnen Dehn et al. beispielsweise die Studien von Wardetzky (1992), 15 Dehn (1999), Dehn (2005) 16 und Weinhold (2000). 17 Schüler (2018) ordnet auch ihre Studie Narrative Muster im Kontext von Wort und Bild dieser Gruppe zu (vgl. Schüler 2018, S. 70). Zudem lässt sich die Studie von Naugk (2018) zur Förderung von Bildungssprache durch mündliches Erzählen zu dieser Gruppe zählen. Wie die Studien von Schüler und Naugk grenzt sich auch die vorliegende Studie zur frühen Textkompetenz von Studien zur Erzählentwicklung ab. So ist es kein An‐ <?page no="44"?> 18 Weitere Befunde zum diktierenden Schreiben werden in Kapitel I.3.4 zur Textproduktion im Medium der Mündlichkeit dargestellt. liegen dieser Studie, Entwicklungsstufen zu identifizieren. Auch geht es weniger darum, Erzählstrukturen zu fokussieren, wie es für die Erzählforschung üblich ist. Vielmehr soll der Fokus auf die syntaktische Organisation von Texten gelegt werden. So wie die Studien, die gemäß der Zuordnung von Dehn et al. (2014) der zweiten Gruppe zugeordnet werden, „das Erzählen intertextuell betrachten“ (Schüler 2018, S. 70) und „Auswirkungen der Aneignung von Geschichten (und Bildern) auf Inhalt und Sprachform des Erzählens“ (ebd.) untersuchen, erfolgt auch in der vorliegenden Studie eine intertextuell ausgerichtete Betrachtung von Textproduktionen. Bei der Betrachtung der Studien zum Erzählen von Boueke et al. (1995), Wolf (2000), Becker (2001/ 2017), Becker (2005), Müller (2012), Schmidt (2014), Schüler (2018) und Naugk (2018) lassen sich durchaus ähnliche Beobachtungen machen. Hinsichtlich der Erzählungen Fünfjähriger zu Bildergeschichten fand Becker heraus, dass die jüngeren Kinder Beschreibungen produzierten, die sich u. a. durch deiktische Ausdrücke auszeichneten (vgl. Becker 2005, S. 30). Auch Boueke et al. konnten bei den meisten Kindergartenkindern bei der Wahl der Konnek‐ toren eine Tendenz zum Gebrauch von „‚da/ hier‘-Formulierungen“ (Boueke et al. 1995, S. 180) beobachten. Die meisten Kindergartenkinder bezeichnen Ereig‐ nisse, „die direkt aus den Bildinformationen […] übernommen werden“ (ebd.), die als Erzählstimuli eingesetzt wurden. (Vgl. ebd.) Im Gegensatz dazu erfasste Müller (2012) Erzählfähigkeiten von Kindern mit Hilfe eines den Kindern unbe‐ kannten Bilderbuches, das als Erzählstimulus diente (vgl. Müller 2012, S. 84). Müller (2012) konnte feststellen, dass „der interaktive Rahmen (Erzählen vs. Erzählen bei simultaner Verschriftung)“ (ebd., S. 240) die Wahl der sprachlichen Mittel der Kinder beeinflussen kann. Zudem konnte „dokumentiert werden, dass bereits vorschulische Kinder in der Lage sind, ihren Sprachgebrauch an eine formale Situation, wie es eine Diktiersituation ist, anzupassen“ (ebd., S.-241). 18 Das Bilderbuch als Erzählmedium löste nur bei den Kindern, die nicht über regelmäßige Erfahrungen mit Bilderbüchern verfügen, eine deskriptive Strategie aus (vgl. ebd., S. 239). „Bei den Kindern mit reichhaltigem familialem Erwerbsangebot provozierte dieses Medium ein narratives Handlungskonzept, das ihnen aus ihrer eigenen Sprachsozialisation bekannt war und ihnen als Orientierungsgrundlage diente“ (ebd.). Beim Vergleich der Beobachtungen zum Mustergebrauch beim Erzählen von Fünfjährigen lässt sich Folgendes feststellen: In der Analyse von Wolf (2000), die sich auf Texte zum Erzählen zu Bildergeschichten bezieht, konnten in keinem 44 2 Erzählen <?page no="45"?> 19 Beckers Studie Kinder lernen erzählen. Zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten von Kindern unter Berücksichtigung der Erzählform erschien erstmals 2001. 20 Eine differenzierte Darstellung der Beobachtungen zum Gebrauch und der Funktion von rhythmischen Elementen in den Nacherzählungen der Kinder ist Becker 2017, S.-160-174 zu entnehmen. Text der Kindergartenkinder literale formelhafte Wendungen gezählt werden. Es wurden zudem nur sehr wenige Ausdrücke verwendet, die der Gruppe gehobenes lexikalisches Inventar zugeordnet werden können. Auch machten tendenziell eher wenige Kindergartenkinder Gebrauch von umgangssprachli‐ chen Bausteinen. Nennenswerte Aktivitäten zeigten sich nur im Bereich der bildlichen, umgangssprachlichen Begriffe. (Vgl. Wolf 2000, S. 116) Wolf spricht hier von „oral geprägter Formelhaftigkeit“ (ebd., S. 92) und bezieht sich auf Ausdrücke wie „und dann krachen se zusammen“ (ebd.). Beckers Beobachtung, dass die Erzählungen zu Bildergeschichten der Fünfjährigen keine Ausdrücke aufwiesen, die als literarische Übernahmen bezeichnet werden konnten (vgl. Becker 2005, S. 30), deckt sich mit diesen Befunden. Auch beim Erzählen von Phantasiegeschichten konnte Schmidt (2014) ähnliche Beobachtungen machen: So kommt in den Phantasieerzählungen der Fünfjährigen die Verwendung von Erzählformeln nur vereinzelt vor, während „eine Integration literarischer Vorlagen in die Erzählungen […] gar nicht [erfolgt]“ (Schmidt 2014, S. 108). (Vgl. ebd.) Im Vergleich dazu nutzen jedoch bereits fünf Prozent der Sechsjährigen Erzählformeln in ihren Phantasieerzählungen, während die Integration literari‐ scher Vorlagen bei etwa sieben Prozent liegt (vgl. ebd., S.-112ff.). Bezüglich der Textsorte Nacherzählung fand Becker (2017 19 , 2005) hingegen heraus, dass sich vor allem die Nacherzählungen der jüngeren Kinder durch repetitive und rhythmische Elemente 20 - also Musterhaftigkeit - auszeichnen (vgl. Becker 2005, S. 35; Becker 2017, S. 181). Unter repetitiven Elementen versteht sie dabei „einzelne Wörter, Phrasen oder ganze Sätze, die ein- oder mehrmals im Text wiederholt werden“ (ebd., S. 161). Auf den ersten Blick ließe sich hier vielleicht von Imitationen der nachzuerzählenden Geschichte sprechen. Jedoch betonen sowohl Schüler (2018) als auch Naugk (2018), dass es sich bei den sprachlichen Formen, die sich in den von ihnen analysierten Erzählungen der Kinder zeigten, nicht um Imitationen der Vorgabe bzw. einer zuvor gehörten Geschichte handelt. Beide Forscherinnen beobachten Transformationen. (Vgl. Schüler 2018, S. 346; Naugk 2018, S. 245) Ähnliches bestätigen auch Beobach‐ tungen von Becker: Bei den Nacherzählungen übernahmen Kinder rhythmische Elemente aus dem Vorlesetext - und zwar meist in abgewandelter Form (vgl. Becker 2017, S.-162). Die Bedeutsamkeit einer Vorlage beim Erzählen zeigt sich nicht nur im Hinblick auf den Gebrauch von Mustern, sondern auch hinsichtlich 2 Erzählen 45 <?page no="46"?> des Gebrauchs schriftsprachlicher bzw. bildungssprachlicher Elemente. So stellt Becker fest, dass ausschließlich in Nacherzählungen der Fünfjährigen das Präteritum auftritt, nicht aber in ihren Erzählungen zu Bildergeschichten, ihren Erlebniserzählungen und Phantasiegeschichten (vgl. Becker 2005, S. 36). Naugks Studie zur Förderung von Bildungssprache durch mündliches Erzählen (2018) verfolgte das Ziel, medial mündliche Äußerungen von DrittklässlerInnen auf konzeptionelle Schriftlichkeit zu untersuchen, um Rückschlüsse auf eine frühe Form von Bildungs‐ sprachlichkeit, angeregt durch das mündliche Erzählen von Phantasiegeschichten, zu ziehen. (Ebd., S.-116) Dabei untersuchte Naugk die Rolle von sprachlichen Vorbildmodellen für münd‐ liches Erzählen (vgl. ebd., S. 113) und ging der Frage nach, inwiefern Kinder „ihnen vorgegebene sprachliche Ausprägungen und Strukturen“ (ebd. S. 114) in die eigenen mündlich erzählten Narrationen aufnehmen und auf diese Weise bildungssprachliche Elemente gebrauchen (vgl. ebd., S. 114). Die Untersuchung konnte zeigen, dass die Kinder „auch ohne explizite vorherige Vermittlung oder Aufforderung zum Gebrauch innerhalb eines bestimmten, für literarische Geschichten angemessenen[,] Registers sprachlich agieren, wenn auch nicht im gleichen Umfang“ (ebd., S. 212). Als Forschungsdesiderat formuliert Naugk „[e]ine Ausweitung der Untersuchung auf jüngere Kinder, denen bspw. der Einblick in mediale Schriftlichkeit noch fehlt“ (ebd., S.-250). Nach Becker „spiegeln sich die Erfahrungen der Kinder mit Literalität und auch Literarität in ihren mündlichen Texten“ (Becker 2005, S. 39) wider. Es wird deutlich, dass mündliche Erzählungen von Kindern schon früh textgram‐ matische Elemente aufweisen, die in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit gehen. Dabei deuten die dargestellten Befunde auf die Bedeutsamkeit von mittelbaren und unmittelbaren Erfahrungen mit Literatur bzw. Texten, die Bedeutsamkeit des Settings und den Gebrauch von Mustern hin. Dies ist ein zentraler Punkt, an dem die vorliegende Studie zum Pretend Reading ansetzt, um konzeptionelle Schriftlichkeit bereits bei Vorschulkindern in einem stärkeren Maße herauszufordern, bereits vorhandene Textkompetenz sichtbar zu machen und die Rolle und Funktion von Mustern zur Herstellung von Textualität und somit bei der Entwicklung früher Textkompetenz zu untersuchen. 46 2 Erzählen <?page no="47"?> 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter 3.1 Text, Textkompetenz und Textproduktion Die vorliegende Studie zum Pretend Reading untersucht die Herstellung bzw. Produktion von literaler Textualität. Der dafür zentralen Frage nach dem Zusammenhang von Rezeption und Produktion von Sprache wird insbesondere in Kapitel I.5.1.2 zu Formelhaftigkeit und Kreativität nachgegangen. Das folgende Kapitel dient dem Zweck, darzustellen, welcher Textbegriff der vorliegenden Studie zugrunde liegt und welches Verständnis von Textkompetenz sich daraus ergibt. Es wird erläutert, inwiefern die Darstellung des Schreibprozesses re‐ levant für die Beschreibung der Prozesse ist, die während einer Pretend-Rea‐ ding-Situation ablaufen. Zudem werden unterschiedliche Überlegungen zur Entwicklung von Textkompetenz betrachtet. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Text der vorliegenden Studie ist in erster Linie die oft zitierte Unterscheidung von konzeptioneller und medialer Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die auf Koch und Oesterreicher (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994) zurückgeht. Die Autoren weisen im Zusammenhang mit ihrem Nähe-Distanz-Modell darauf hin, dass die Termini mündlich und schriftlich „in doppeltem Sinne verwendet werden“ (ebd., S. 587). So beziehen sie sich einerseits auf „das Medium der Realisierung sprachlicher Äußerungen“ (ebd.), wobei mündlich dem Begriff phonisch und schriftlich dem Begriff gra‐ phisch entspricht. Anderseits können sich die Termini auch auf den Duktus bzw. die Modalität der Äußerungen beziehen - die Konzeption. (Vgl. ebd.) Konzeptionelle Schriftlichkeit kann auf der Wortebene, der Satzebene sowie auf der Textbzw. Diskursebene unterschieden werden (vgl. Günther 1993, S. 90). Nach Feilke ist dieser Ansatz „in der germanistischen Sprachdidaktik breit und mit fast durchgängig positiver Resonanz aufgegriffen worden“ (Feilke 2016, S. 127; vgl. dazu auch Topalović/ Drepper 2019, S. 326). Aber auch in der germanistischen Literaturdidaktik wurde das Nähe-Distanz-Modell aufgegriffen - hier sind Hurrelmann (2003), Garbe (2010) und Hennies/ Ritter (2014) zu nennen (vgl. Topalović/ Drepper 2019, S. 326). So entwickeln Hennies und Ritter beispielsweise [d]urch die Unterscheidung von medialer und konzeptioneller Ebene von (schriftli‐ chen) Texten […] in Verbindung mit einem erweiterten Schriftsprachbegriff aus einer eher sonderpädagogischen Tradition […] ein differenziertes, fachwissenschaftlich <?page no="48"?> 21 Hurrelmann nimmt dabei Bezug auf: Hurrelmann, Bettina (2002): Sozialhistorische Rahmenbedingungen von Lesekompetenz sowie soziale und personale Einflussfak‐ toren. In: Groeben, Norbert/ Hurrelmann, Bettina (Hrsg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim, München: Juventa, S.-123-149. 22 An dieser Stelle sei zustimmend auf die einschränkende Überlegung Wittmers (2019) hingewiesen, der in seiner Studie Pretend Reading als Methode für die Grundschule untersucht (vgl. I.5 zum Forschungsstand von Pretend Reading). Auch er betrachtet Pretend Reading im Licht von medialer und konzeptioneller Mündlichkeit und Schrift‐ lichkeit (Koch/ Oesterreicher 1985). Dabei weist er auf seine Annahme hin, dass die Formulierungen der Kinder durch das Medium der Mündlichkeit Spuren medialer Mündlichkeit enthalten (vgl. Wittmer 2019, S. 100f.). „Beim Pretend Reading sind die DrittklässlerInnen beispielsweise unter anderem dazu herausgefordert, im Medium der Mündlichkeit konzeptionell schriftlich zu formulieren, aber die geäußerten Formulie‐ rungen sind aufgrund ihrer Medialität immer auch an nähesprachliche Komponenten wie Verschleifungen, Klitisierungen, Diskurspartikeln, Prosodie oder auch die Körper‐ sprache gebunden. Daher ist davon auszugehen, dass beim Pretend Reading aufgrund der medial mündlichen Realisierung immer auch Spuren konzeptioneller Mündlichkeit zu erkennen sind - selbst dann, wenn die Kinder hochgradig syntaktisch komplexe Äußerungen formulieren.“ (Ebd., S.-101) abgesichertes Modell zur ressourcenorientierten Würdigung von auf den ersten Blick ‚unkonventionellen‘ Texten von SchülerInnen im Deutschunterricht […]. (Hennies/ Ritter 2014, S.-183) Hurrelmann versteht prä- und paraliterarische Kommunikationsformen mit Kindern, zu denen das Erzählen von Geschichten, das Lernen von Kinderreimen und -gedichten, das Singen von Liedern und das Spiel mit Sprache zählen, als „eine Art ‚Schaukelstuhl zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘ […], der Kindern den Umgang mit dekontextualisierter Sprache erleichtert“ (Hurrel‐ mann 2003, S. 168), wobei diese Funktion „auch das Vorlesen als semi-literarische Kommunikationsform“ (ebd.) hat 21 (vgl. ebd.). Im Eröffnen eines „Zugang[s] zur konzeptionellen Schriftlichkeit im Medium der Mündlichkeit“ (Garbe 2010, S. 181) für die Kinder liegt die wesentliche „Aufgabe der Familie in der frühen Lesesozialisation“ (ebd.). Dabei kommt Kinderliteratur „eine Brückenfunktion zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (ebd.) zu (vgl. ebd.). Im Rahmen der vorliegenden Studie soll mit Hilfe von Pretend-Reading-Si‐ tuationen konzeptionelle Schriftlichkeit 22 im Medium der Mündlichkeit heraus‐ gefordert werden - und zwar in Form von einer monologischen Textproduktion. Monologizität ist dabei eines der Merkmale, die Koch und Oesterreicher dem Schriftlichkeitspol zuordnen (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994, S.-588). Der Textbegriff, der der vorliegenden Studie zugrunde liegt, lehnt sich primär an Nussbaumers kognitiven Textbegriff (1993) an, den Nussbaumer auf mono‐ logische schriftliche Texte einschränkt (vgl. Nussbaumer 1993, S. 64). Dies mag 48 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="49"?> 23 Bei seinen Überlegungen zum Pretend-Reading-Text bezieht sich Wittmer u. a. auch auf Nussbaumers kognitiven Textbegriff: So handelt es sich beim „Pretend-Reading-Text der Kinder, über den gesprochen werden kann, […] immer [um] ein[en] Pretend-Rea‐ ding-Text 2 in den Köpfen der Wahrnehmenden, sodass - mit Bezug auf Pretend-Rea‐ ding-Text 1 - nur Annahmen getroffen werden können, welche Vorstellungen die Schü‐ lerInnen zu dem vorgelesenen […] Bilderbuch in ihren Köpfen (Pretend-Reading-Text 0) gebildet haben könnten. Die getroffenen Annahmen sind dann Rekonstruktionen, die auf Basis transkribierter Pretend-Reading-Texte entwickelt werden.“ (Wittmer 2019, S.-105) zunächst verwundern, da es sich bei dem in der Pretend-Reading-Situation pro‐ duzierten Text nicht um einen schriftlich fixierten Text handelt. Nussbaumers Textbegriff ist jedoch als Grundlage für die vorliegende Studie geeignet, da ein Ziel der Pretend-Reading-Situation darin besteht, einen (monologischen) schriftlich fixierten Text in einer „Als-ob-Situation“ zu imitieren bzw. zu simu‐ lieren. Beim Pretend Reading handelt es sich auch nicht um eine „zerdehnte Sprechsituation“ (Ehlich 1984, S. 18) im klassischen Sinne, da keine zeitliche und räumliche Trennung zwischen dem Produzenten (Kind) und dem Rezipienten (erwachsene Person) besteht und der Text somit sehr wohl mit Sprecher und Hörer (im Medium der Mündlichkeit) „kopräsent“ (ebd., S. 17) ist. Es wird jedoch eine zerdehnte Sprechsituation simuliert, da das Kind den bereits geschriebenen Bilderbuchtext imitiert. Dieser referiert nicht auf das „Hier und Jetzt“, sondern erzählt eine fiktive Geschichte und präsentiert somit distante Inhalte. Durch die „zerdehnte“ Kommunikation kommt dem situativen Kontext eine tragende Rolle bei Textproduktion- und rezeption zu (vgl. Fix 2008, S. 71f.). Die Notwendigkeit für das Kind, einen situativen Kontext zu schaffen, obwohl keine räumliche und zeitliche Trennung von Produzenten und Rezipienten besteht, wird somit vom Medium Bilderbuch gefordert. Daher kann dem Bilderbuch in der Pretend-Rea‐ ding-Situation eine zentrale Funktion zugesprochen werden. Nussbaumer unterscheidet zwischen dem Text im Kopf des Textproduzenten (T0), dem Text auf dem Papier (T1) und den Text im Kopf des Rezipienten (T2) (vgl. Nussbaumer 1993, S. 64). In einer Pretend-Reading-Situation entspricht demzufolge T1 dem vom Kind mündlich produzierten Text, der zu einem späteren Zeitpunkt zusätzlich in Form eines Transkripts vorliegt, T0 dem Text im Kopf des Kindes und T2 dem Text im Kopf der oder des Erwachsenen. 23 Das, was Texte zu Texten macht (Textualität), ist die Kohärenz, das ist das Zusam‐ menstimmen von Teilen zu einem integralen Ganzen. Dies ist eine Eigenschaft, die nicht äußerlichen Objekten (Texten auf dem Papier), sondern nur mentalen Entitäten (Texten in Köpfen von Sprachbenützern) zukommen kann. (Ebd.) 3.1 Text, Textkompetenz und Textproduktion 49 <?page no="50"?> Textualität stellt sich in der Rezeptionsarbeit ein (vgl. Nussbaumer 1996, S. 98). So wird die bedeutsame Rolle des Lesers bei der Herstellung von Textualität betont. Nussbaumer hebt zudem die Bedeutsamkeit von Kohärenz hervor, indem er sie mit Textualität gleichsetzt: „Textualität im vollen Wortsinn oder Kohärenz ist etwas, was kooperative Rezipienten auf der Basis von ‚Texten 1‘ und unter Zuhilfenahme einer ganzen Reihe von Vorwissensbereichen rekonstruktiv herzustellen versuchen“ (Nussbaumer 1995, S. 76). Das Maß an Textualität bzw. Kohärenz, das sich einstellt oder herstellbar ist, hängt von dem Maß ab, in dem ein Text 1 von einem Sprachbenützer als verständlich wahrgenommen und verarbeitet werden kann bzw. von dem Maß, in welchem sich Verstehen einstellt oder herstellbar ist. Somit stehen Textualität und Kohärenz in einem engen Verhältnis zu Verstehen und Verständlichkeit. (Vgl. Nussbaumer 1993, S. 65) Als zentral für den Textbegriff Nussbaumers seien das Merkmal Kohärenz und die Rolle des Lesers für die Herstellung von Kohärenz bzw. Textualität genannt, die auch als wichtige Merkmale in den Textbegriff der vorliegenden Studie einfließen. Dass Kohärenz als zentrales Merkmal eines Textes gilt, ist unumstritten. Dies zeigt auch der exemplarische Blick auf die Vorstellungen von Text und Textualität von Fix (2008), Brinker (2010) und Linke et al. (2004) sowie von Adamzik (2004). „Im modernen Verständnis der Textlinguistik ist Kohärenz ein umfassendes Konzept, das mit Textualität nicht nur sprachliche, sondern auch funktionale, inhaltlich/ thematische und auch situative Aspekte meint“ (Kruse 2009, S. 219). So stellt Adamzik ein „grobes Ordnungsraster für Dimensionen der Textbeschreibung“ (Adamzik 2004, S. 58) vor. Dabei steht die Dimension Sprachliche Gestalt in Beziehung zum Wo (situativer Kontext), Was (Thema/ Inhalt) und Wozu (Funktion) der kommunikativen Handlung. Kohäsion besteht zwischen den Sprachzeichen, welche die sprachliche Gestalt ausmachen. Kohärenz kann nicht nur zwischen der sprachlichen Gestalt und den übrigen drei Dimensionen vorliegen, sondern auch zwischen den verschie‐ denen Dimensionen. (Vgl. ebd., S. 58f.) In einer Pretend-Reading-Situation gilt es, die Produktion eines monologischen, möglichst kohärenten Textes herauszufordern. Die Bedeutsamkeit der Leserrolle wird bei der Analyse der kindlichen Text‐ produktionen erstens dadurch berücksichtigt, dass die Verständlichkeit des Textes aus der Leserperspektive geprüft wird, wobei das Merkmal Kohärenz in den Blick genommen wird. Nach Fix (2008) lässt sich Kohärenz in thematische, strukturelle und grammatische Kohärenz unterteilen. Während sich thematische Kohärenz auf die Makrostruktur eines Textes, auf das behandelte Thema und seinen Inhalt bezieht (vgl. Fix 2008, S. 76), ist strukturelle Kohärenz auf die Superstruktur des Textes und verwendete Textmuster bezogen (vgl. ebd., S.-79). 50 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="51"?> 24 Vgl. hierzu die Ausführungen von Isler et al. 2018; vgl. Kapitel I.3.4 zur Textproduktion im Medium der Mündlichkeit. Grammatische Kohärenz bezieht sich auf die Mikrostruktur eines Textes. Formale Mittel der Morphologie und der Syntax realisieren auf der sprachlichen Mikro‐ struktur die Makrosowie die Superstruktur des Textes. Der dabei entstehende sprachliche Zusammenhalt wird auch als Kohäsion bezeichnet. (Vgl. ebd., S. 80) Bei der Analyse der kindlichen Textproduktionen findet eine Beschränkung auf thematische und grammatische Kohärenz statt. Die Superstruktur wird nicht explizit in den Blick genommen, da die Studie nicht den Aufbau von Narrationen folgend einer Höhepunktstruktur untersucht. Zur Beschreibung der Herstellung von grammatischer Kohärenz bei den sieben Textanalysen zu Pretend-Reading-Situationen (vgl. II.3.1) wird auf die verschiedenen Formen von Kohäsion von Linke, Nussbaumer und Portmann (2004) zurückgegriffen. Sie unterscheiden zwischen Rekurrenz und partielle Rekurrenz, Substitution, Pro-Formen, bestimmter und unbestimmter Artikel, Deixis, Ellipse, explizite Text‐ verknüpfung, Tempus und Konnektive (vgl. Linke et al. 2004, S.-245-253). Zweitens werden Hinweise, die auf eine Leserorientierung des Kindes deuten, explizit in den Blick genommen wird. In Textproduktionen im Medium der Mündlichkeit kann Leserorientierung allerdings nicht nur durch die Wahl sprachlicher Mittel zum Ausdruck gebracht werden, sondern auch zusätzlich durch Intonation sowie Mimik und Gestik, 24 die es bei fixierten schriftlichen Texten nicht gibt. Diese stehen mit dem adäquaten Umgang mit dem Medium Bilderbuch im Sinne des gestaltenden Vorlesens in Verbindung: So hebt z. B. Kruse (2009) die Bedeutsamkeit der bewussten Sprechgestaltung im Kontext des Höreraktivierenden Vorlesens heraus (vgl. Kruse 2009, S. 15). Da diese nicht-verbalen Mittel zum Bereich der Mündlichkeit gehören, werden sie zwar bei der Analyse der Texte aus den Pretend-Reading-Situationen in den Blick genommen, jedoch nicht zu den Merkmalen von Textualität gerechnet. Da im Rahmen der vorliegenden Studie Kinder in Pretend-Reading-Situationen Texte produzieren, die als Texte von Bilderbüchern fungieren können, greift ein linguistischer Textbegriff zur Beschreibung dieser Texte allerdings zu kurz. Aus diesem Grund wird das Bilderbuch als Medium gesondert betrachtet. Nach Staiger (2014) kann das Bilderbuch als ein semiotisch sehr komplexes Erzählmedium bezeichnet werden. Der Grund dafür liegt darin, dass „Bilder und Verbalsprache auf verschiedene Art und Weise kommunizieren und erzählen“ (Staiger 2014, S. 12). Beim Medium Bilderbuch liegt die Besonderheit in der Art und Weise, wie Informationen an die Rezipientin oder den Rezipienten vermittelt werden: Die Informationsvergabe „erfolgt in einer Kombination aus 3.1 Text, Textkompetenz und Textproduktion 51 <?page no="52"?> 25 Nikolajeva, Maria/ Scott, Carole (2006): How Picturebooks Work. New York: Routledge. 26 Vgl. dazu das von Baurmann und Pohl entwickelte Schreibkompetenzmodell (vgl. Baurmann/ Pohl 2009, S.-96). bildlichen und verbalen Codes, die in Abhängigkeit und Wechselwirkung zuein‐ ander stehen [Hervorh. im Original]“ (ebd.). Es werden in einem multimodalen Text zwei Zeichensysteme miteinander verknüpft. „Bei einem Bilderbuch ist der Lesepfad nicht zwingend vorgegeben, die Lektüre erfolgt in einem stetigen Pendeln zwischen Bild und Schrifttext“ (ebd., S. 13). Für die Bilderbuchanalyse unterscheidet Staiger fünf untrennbar miteinander verbundene Dimensionen: Die narrative, verbale, bildliche, intermodale und paratextuelle und materielle Dimension. (Vgl. ebd., S. 12-14) Hervorzuheben ist an dieser Stelle die intermo‐ dale Dimension, die nach der Beziehung von Bild und Schrifttext zueinander fragt. So kann gemäß der Typologie von Nikolajeva und Scott (2006) 25 das Bild-Schrifttext-Verhältnis beispielsweise als komplementär bezeichnet werden (vgl. Staiger 2014, S. 18f.), was bedeutet, dass „Bild und Schrifttext sich ergänzen, indem sie wechselseitig bestehende Leerstellen füllen“ (ebd., S.-20). Demzufolge ist die Textproduktion eines Kindes (verbale Dimension), das im Rahmen einer Pretend-Reading-Situation ein Bilderbuch „vorliest“, als Teil eines multimodalen Textes zu betrachten: Sie ist mit den Bildern des Bilderbuches ver‐ woben. Kontextualisierungskompetenz, 26 eine Teilkompetenz von Schreibkom‐ petenz, wird als Fähigkeit verstanden, eine aus sich selbst heraus verständliche Textwelt aufbauen zu können (vgl. Baurmann/ Pohl 2009, S. 96). Bei einer Produktion eines Textes zu einem Bilderbuch ist jedoch zu berücksichtigen, dass dies nicht zwingend notwendig ist, da Text und Bilder in Abhängigkeit zu‐ einander stehen und bestehende Leerstellen möglicherweise gegenseitig füllen. Diese Überlegungen entsprechen auch der Forderung von Iris Kruse (2016) zum „guten Vorlesen“ hinsichtlich des Umgangs mit Text-Bild-Korrespondenzen im Unterricht: Der aus dem Zusammenspiel von Text und Bild resultierende besondere medienästhe‐ tische Status des Bilderbuchs darf […] nicht übergangen werden, denn die multime‐ diale Gesamtaussage eines Bilderbuchs kann nur dann erfolgreich generiert werden, wenn ‚bildnerische und textliche Anteile zu einer ästhetischen Gesamterfahrung‘ (Thiele 2002, S.-46) verknüpft werden. (Kruse 2016, S.-106) Wird im Rahmen der vorliegenden Studie im Folgenden von Text (oder Bilder‐ buchtext) gesprochen, ist damit - der von Rita Finkbeiner gewählten Termino‐ logie folgend - der „unimodale“ symbolische Schrifttext im Bilderbuch (vgl. Finkbeiner 2019, S. 46) bzw. der vom Kind zum Bilderbuch „vorgelesene“ Text gemeint. 52 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="53"?> Bei Betrachtung der bereits erwähnten Textbegriffsvorstellungen von Fix (2008), Brinker (2010), Linke et al. (2004) und Adamzik (2004/ 2016) rückt neben Kohärenz Funktionalität als weiteres zentrales Merkmal in den Blick. Nach Brinker definiert die sprachsystematisch orientierte Textlinguistik Text als „kohärente Folge von Sätzen“ (Brinker 2010, S. 14), während die kommunika‐ tionsorientierte Textlinguistik an der kommunikativen Funktion von Texten interessiert ist (vgl. ebd., S. 13ff.). Brinker liefert eine Definition von einem inte‐ grativen, beide Grundpositionen der Textlinguistik einschließenden Textbegriff: „Der Terminus ‚Text‘ bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert“ (ebd., S. 17; Herv. durch Verf.). Die Merkmale Kohärenz und kommunikative Funktion sind auch für die Textdefinition von Linke et al. (2004) zentral: „Ein Text ist eine komplex strukturierte, thematisch wie konzeptionell zusammenhängende Einheit, mit der ein Sprecher eine sprachliche Handlung mit erkennbarem kommunikativem Sinn vollzieht“ (Linke et al. 2004, S. 275; Herv. durch Verf.). Fix nennt neben Kohärenz Situationalität, Verständlichkeit und Funktionalität als Merkmale von Textualität (vgl. Fix 2008, S. 71ff.). Den Hintergrund der Textfunktion bildet die Mitteilungsabsicht des Produzenten (vgl. Fix 2008, S. 72). Geschriebene Texte lassen sich - wie Steinig und Huneke zeigen - in Anlehnung an Bühlers Organonmodell entsprechend ihrer Funktion eher expressiven, informativen oder appellativen Textsorten zuordnen. Dabei werden Erzählung und Gedicht als eher expressive Textsorten eingeordnet (vgl. ebd.; vgl. Steinig/ Huneke 2007, S. 127f.). An dieser Stelle leuchtet ein (vermeintlich) kritischer Punkt auf: „Literarische Texte können wegen ihres besonderen Weltbezugs nicht diejenigen Textfunktionen erfüllen, die für Gebrauchstexte im Allgemeinen angenommen werden“ (Nikula 2017, S. 236). Lehmann und Stocker (1981) ergänzen als vierte Funktion die kreative Funktion und ordnen dieser die narrativen Texte zu (vgl. Fix 2008, S. 73; Lehmann 1981, S.-38). Der viergeteilten Intention des Schreibers entsprechen vier Bezugsmöglichkeiten: der expressiven Intention bzw. Sprachfunktion der dominierende Schreiberbezug; der informativen Funktion der überragende Sachbezug; der appellativen Funktion der betonte Leserbezug; der kreativen Funktion der besondere Sprachbezug. (Ebd.) Jakobson (1972) wiederum spricht von einer poetischen Funktion der Sprache (vgl. Jakobson 1972, S. 103-108; vgl. I.5.1.3). Brinker (1997) unterscheidet zwischen den fünf textuellen Grundfunktionen Informationsfunktion, Appell‐ funktion, Obligationsfunktion, Kontaktfunktion und Deklarationsfunktion (vgl. Brinker 1997, S. 104f.) und „nimmt […] eine […] ästhetische Funktion in 3.1 Text, Textkompetenz und Textproduktion 53 <?page no="54"?> 27 Während Jakobson sich „fast ausschließlich auf die Verskunst [bezieht]“ (Große 1976, S. 41), soll Großes Begriff der poetischen Funktion „auch die Funktion der literarischen Prosa umfassen“ (ebd.) und wird „daher identisch mit Mukařovskýs Begriff der ätheti‐ schen Funktion [Hervorh. im Original]“ (ebd.) (bezogen auf sprachliche Kunstwerke) gesetzt. (Vgl. ebd.) 28 Zur poetischen Funktion nach Jakobson (1972) vgl. Kapitel I.5.1.3. 29 Auf Islers Studie (2014) und das von ihm entwickelte Literalitätsmodell wird in Kapitel I.3.2 zu Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz näher eingangen. seinen Katalog von Grundfunktionen des kommunikativen Kontakts auf “ (Fix 2008, S. 73): „Ästhetische Funktion, Unterhaltung (häufig fiktionale Texte, v. a. Erzählungen)“ (ebd., S. 74). „Zu ergänzen wäre noch die sog. poetische (ästheti‐ sche) Funktion, die in literarischen Texten dominiert und primär Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen ist“ (Brinker 1997, S. 105). Dabei nimmt Brinker auf Große (1976) 27 Bezug (vgl. Brinker 1997, S.-105). Es wird angenommen, dass die Texte, die von den Kindern in der Pre‐ tend-Reading-Situation produziert bzw. „vorgelesen“ werden, unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Eine zentrale Funktion wird in der Unterhaltung des Erwachsenen durch das Vorlesen einer Geschichte gesehen: Kinder, denen bereits Bilderbücher im privaten Kontext vorgelesen worden sind, haben sehr wahrscheinlich selbst die Unterhaltungsfunktion von Literatur erfahren können. Soll ein Text die Funktion Unterhaltung erfüllen, ist dies in Verbindung mit der Fähigkeit zu sehen, den Leser in den Blick zu nehmen zu können. Zudem kann die Unterhaltungsfunktion auch im engen Zusammenhang mit dem ästhetischen oder poetischen Sprachgebrauch gesehen werden. Nach Nikula bezieht sich Jakobsons poetische Funktion „ausschließlich auf die Ebene der Formulierung“ (Nikula 2017, S. 237). Da die Ebene der Formulierung in der vorliegenden Studie eine zentrale Rolle spielt und das für die Studie zentrale Konzept der Musterhaftigkeit (vgl. Kapitel I.5) stark mit ästhetischem Sprachgebrauch in Verbindung steht, 28 ist es naheliegend, sich bei der Analyse der Textproduktionen auch auf Jakobsons poetische Funktion zu stützen. Die Textproduktion in einer Pretend-Reading-Situation wird aber auch als Sonder‐ fall betrachtet. Beim literarischen Text begibt sich der „(reale) Autor […] in die Rolle dessen, der etwas erfindet“ (Corbineau-Hoffmann 2002, S. 171). In der Pretend-Reading-Situation hat das Kind zwar die Möglichkeit, sich eine Geschichte zu den Bildern auszudenken und somit selbst Autor zu sein. Es wird jedoch vermutet, dass es den meisten Kindern beim Pretend Reading intentional stärker um die Darstellung bzw. Wiedergabe des bekannten Inhalts aus der Geschichte geht als um den „subjektiven Ausdruck“ (Fix 2008, S. 72), auch wenn diese Funktion nicht unberücksichtigt bleiben darf. Dies ist auch mit Islers (2014) Überlegungen 29 vereinbar. Isler (2014) stellt mit Bezug auf Becker (2005) 54 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="55"?> und Rosenblatt (2004) eine Unterteilung der darstellenden Sprachhandlungen in realitätsbezogene und fiktionale vor (vgl. Isler 2014, S.-14): Damit ergibt sich für den konzeptionell schriftlichen Sprachgebrauch eine Binnen‐ strukturierung in a) darstellende realitätsbezogene, b) darstellende fiktionale sowie c) eine Sammelkategorie der weiteren (instruierenden, erklärenden und argumentie‐ renden) literale Praktiken. (Ebd.) Demnach könnten die beim Pretend Reading stattfindenden literalen Praktiken als darstellende fiktionale literale Praktiken bezeichnet werden. Die dominie‐ rende Funktion menschlicher Sprachzeichen ist nach Bühler die Darstellungs‐ funktion (vgl. Bühler 1965, S. XXVI). Bei der Darstellung distanter Inhalte ist ein dekontextualisierter Sprachgebrauch erforderlich, der durch die Aufforderung, ein Bilderbuch „vorzulesen“, herausgefordert werden soll. Dass Verständlichkeit auch ein Merkmal literarischer Texte ist, zeigen die Überlegungen von Corbineau-Hoffmann: Texte sind auf Verstehen hin angelegt, auch dann noch, wenn sie diesem Hindernisse in den Weg stellen, was bei ungeübten Sprechern, aber auch bei künstlerischen Texten geschehen kann, die bewusst ‚verdunkelt‘ sind. Das Verstehen von Texten […] kann sich auch auf Momente beziehen, die interpretiert werden müssen. (Corbineau-Hoff‐ mann 2002, S.-9) In diesem Zusammenhang sei auf das für literarische Texte charakteristische Merkmal der Polyvalenz hingewiesen: „Die Viel- oder Mehrdeutigkeit […] ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal literarischer Texte gegenüber prag‐ matischen“ (ebd., S. 167). Allerdings ist anzunehmen, dass Bilderbücher, die Vorschulkindern im privaten Kontext vorgelesen werden, sich in der Regel nicht übermäßig durch Mehrdeutigkeit und Offenheit auszeichnen, auch wenn dies natürlich nicht auszuschließen ist. Daher ist bei einer Analyse eines in einer Pretend-Reading-Situation entstandenen Kindertextes hinsichtlich des Merkmals Kohärenz eine potentiell im Bilderbuch enthaltene Deutungsoffen‐ heit zu berücksichtigen. Somit sind für den Textbegriff der vorliegenden Studie die Merkmale Kohärenz, Leserorientierung, Funktion und Monologizität von hoher Relevanz. Da Pretend Reading im Rahmen der vorliegenden Studie als Methode zur Entwicklung früher Textkompetenz in den Blick genommen werden soll, ist eine Definition von Textkompetenz erforderlich, die dem soeben erläuterten Textbe‐ griff entspricht. Dabei sind die Überlegungen von Portmann-Tselikas (2002) und Weidacher (2007) leitend, bei denen die Merkmale Kohärenz, die Bedeutsamkeit, 3.1 Text, Textkompetenz und Textproduktion 55 <?page no="56"?> die Leserperspektive einzunehmen, und Funktionalität von zentraler Bedeutung sind. So versteht Portmann-Tselikas (2002) unter Textkompetenz zunächst die Fähigkeit, mit Texten rezeptiv und produktiv umzugehen. Wer über Textkompetenz verfügt, kann Texte eigenständig lesen, und die damit erworbenen Informationen für sein weiteres Denken, Sprechen oder Schreiben nutzen. Textkom‐ petenz schließt auch die Fähigkeit ein, selber Texte für andere herzustellen und damit seine Intentionen verständlich und adäquat mitzuteilen. (Portmann-Tselikas 2002, S.-14) Für die vorliegende Studie ist an dieser Definition die produktive Seite von Text‐ kompetenz von hoher Relevanz: die Fähigkeit, Texte für andere zu produzieren. Die Textproduktion erfolgt dabei in einer solchen Weise, dass der Leserschaft die Intentionen der Autorin oder des Autors verständlich und in einer adäquaten Form mitgeteilt werden (vgl. ebd.). Weidacher versteht unter Textkompetenz im engeren Sinn, die auch als Textualisierungskompetenz bezeichnet werden könnte, die Fähigkeit, kohärente Sinngebilde zu erzeugen und als Textur auszu‐ formulieren. Nach Weidacher darf es dem Textproduzenten jedoch nicht nur darum gehen, einen kohärenten Text zu kreieren. Vielmehr muss er zudem die Adressatin oder den Adressaten im Blick haben. (Vgl. ebd. S. 44f.) Unter Textkompetenz, die mit Hilfe der Pretend-Reading-Situationen zu fördern ist, soll die Fähigkeit verstanden werden, für einen Leser einen kohärenten und verständlichen Text zu erzeugen. So soll in einer Pretend-Reading-Situation eine eigenständige Textproduktion angeleitet werden, die literal geprägt ist. Es wird angenommen, dass der dabei stattfindende Textproduktionsprozess dem herkömmlichen Schreibprozess sehr ähnlich ist. Zur Modellierung dieses Textproduktionsprozesses wird daher auf Erkenntnisse der Schreibprozessfor‐ schung zurückgegriffen, die sich mit der Frage beschäftigt, welche kognitiven Prozesse vor und während der Textproduktion ablaufen (vgl. Steinig/ Huneke 2007, S. 126). Überarbeitungen können in allen Phasen des Schreibprozesses durchgeführt werden - beim Planen, im Aufschreibprozess, nach der Fertigstel‐ lung eines Entwurfs oder bei der Herstellung der endgültigen Fassung (vgl. Jantzen 2003, S. 114) und sind unmittelbar mit der Textproduktion verwoben (vgl. Merz-Grötsch 2010, S. 57). Offensichtlich ist, dass das Kind bei der Textpro‐ duktion in der Pretend-Reading-Situation im Gegensatz zum herkömmlichen Textproduktionsprozess vom motorischen Aspekt des Schreibens entlastet ist. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass auch der Textproduktionsprozess im Medium der Mündlichkeit durch für das Schreiben charakteristische Über‐ arbeitungsprozesse geprägt ist - wenn auch in einem weniger starken Maß als bei der herkömmlichen Textproduktion, da der entstehende Text - geschuldet 56 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="57"?> 30 Fix verweist auf Dörner, der in der deutschsprachigen Forschung den Prozess des Problemlösens eingehend beschrieben hat (vgl. Fix 2000, S.-24). durch das Medium der Mündlichkeit - von Flüchtigkeit geprägt ist. So spre‐ chen Koch und Oesterreicher vom „materiell ,flüchtigen‘ phonischen Medium“ (Koch/ Oesterreicher 2011, S. 12). Kapitel I.6.2 widmet sich der Übertragung der Theorie impliziten Wissens von Polanyi (1985) auf den Schreibprozess, bei der eine Orientierung am weit verbreiteten Schreibprozessmodell (Hayes/ Flower 1980) sowie am CDO-Modell (Bereiter/ Scardamalia 1987) stattfindet, das die kognitiven Operationen beim Überarbeiten modelliert (vgl. Fix 2000, S. 27). So ist es naheliegend, sich bei der Modellierung des beim Pretend Reading statt‐ findenden Textproduktionsprozesses an diese Übertragung anzulehnen (vgl. Kapitel I.6.2). Bei dieser Übertragung ist die weit verbreitete Betrachtung des Schreibprozesses als Problemlöseprozess von zentraler Bedeutung. Zur Darstel‐ lung des Schreibprozesses greift die kognitive Schreibforschung auf vorhandene Problemlösemodelle zurück (vgl. Merz-Grötsch 2010, S. 53). Ein Problem lässt sich nach Dörner (1976) 30 durch drei Komponenten kennzeichnen: Es existiert ein unerwünschter Anfangszustand, ein erwünschter Endzustand und eine Barriere, welche die Transformation vom unerwünschten in den erwünschten Zustand verhindert, da das Individuum in diesem Moment nicht über die nötigen Mittel verfügt (vgl. Dörner 1976, S. 10). Bei dialektischen Problemen - hier liegt eine sogenannte dialektische Barriere vor - ist die Klarheit der Zielkriterien gering (vgl. Dörner 1976, S. 13f.). „Der wesentliche Unterschied des dialektischen Problemlösens zu allen anderen Formen des Problemlösens besteht darin, daß die Kriterien für die Beurteilung des angestrebten Endzustandes mit diesem zu‐ sammen entstehen“ (ebd., S. 102). Die einzige bekannte Größe ist der Ausgangs‐ zustand, während Unklarheit über den Zielzustand und über geeignete Mittel zum Erreichen des Zieles herrscht (vgl. Merz-Grötsch 2005, S. 265). Nach Dörner finden beim dialektischen Problemlösen Prüfprozesse und Konstruktionsprozesse statt (vgl. Dörner 1976, S. 97) - eine für die unter I.6.2 dargestellte Übertragung zentrale Aussage. Eine Schreibaufgabe wird wie ein Problem bewältigt, das zu lösen ist. Dabei ist das zu erreichende Ziel der zu schreibende Text. (Vgl. Merz-Grötsch 2005, S. 87) Hayes und Flower bezeichnen einen zu schreibenden Text als ein ungeklärtes Problem mit offener Lösung („ill-defined problem“) (vgl. Fix 2008, S. 36) - ein Problem, für das es keine eindeutige Lösung gibt (vgl. Fix 2000, S. 24). „Die Schreibaufgabe stellt das Problem dar, dessen Lösung die erfolgreiche Durchführung verschiedener Prozesse erfordert“ (Molitor-Lübbert 1996, S. 1006). Diese Prozesse sind Planen, Formulieren und Überarbeiten. (Vgl. ebd.) Schreiben wird als dialektischer Problemlösetyp aufgefasst, da zu Schreib‐ 3.1 Text, Textkompetenz und Textproduktion 57 <?page no="58"?> beginn oft noch kein präzises Schreibziel feststeht und sich dieses erst während des Schreibens entwickelt (vgl. Ossner 2006, S. 108). Vom Endzustand, dem Text, hat der Schreiber vor dem Schreiben nur eine ungefähre Vorstellung im Kopf, die erst während des Schreibprozesses an Deutlichkeit gewinnt (vgl. Fix 2000, S. 24). Im Vergleich zum herkömmlichen Schreibprozess ist zu vermuten, dass das Kind in einer Pretend-Reading-Situation eine etwas genauere Vorstellung vom zu produzierenden Text hat, da es den Bilderbuchtext zuvor bereits mehrmals vorgelesen bekommen hat. Während es bei der Darstellung des herkömmlichen Schreibprozesses darum geht, aufzuzeigen, wie etwas vom Kopf auf das Papier kommt, rückt beim Pretend Reading stärker die Frage ins Zentrum, wie (und insbesondere mit welchen sprachlichen Mitteln) bereits Vorhandenes (eine bekannte Narration) von den Kindern zum Ausdruck gebracht wird. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass das Kind dennoch zu einer eigenen Textproduktion angeleitet wird, die ihm in der Rolle des „Vorlesers“ auch den Freiraum gibt, eine vom Bilderbuchtext stark abweichende Geschichte „vorzulesen“ bzw. zu erfinden. Nach dem CDO-Modell (compare-diagnose-operate) von Bereiter und Scar‐ damalia (1987) besteht die Überarbeitung eines bereits geschriebenen Textes aus einem rezeptiven (vergleichenden, diagnostizierenden) und einem produktiven (operierenden) Anteil. Bei konzeptuellen Revisionen wird die semantische Tiefenstruktur des bereits geschriebenen Textes nachkonstruiert und in eine mentale Repräsentation umgesetzt. Diese wird anschließend „mit der mentalen Repräsentation des vorher intendierten Textes verglichen und evaluiert“ (ebd.). (Vgl. Fix 2000, S. 27) Bereiter und Scardamalia beschreiben die beiden mentalen Repräsentationen wie folgt: „[…] a representation of the text written so far, and a representation of the text intended, which includes the whole text, not just parts already written“ (Bereiter/ Scardamalia 1987, S. 266). Wird dabei eine Unstim‐ migkeit zwischen den beiden Repräsentationen gefunden, setzt der CDO-Prozess ein. (Vgl. ebd.) Wird in der „Vergleichs-Phase“ („compare“) eine Nichtüberein‐ stimmung („mismatch“) gefunden, wird in der „Diagnose-Phase“ („diagnose“) nach einem möglichen Grund für die Nichtübereinstimmung gesucht. Dies kann dazu führen, dass der Schreiber seine Schreibabsichten ändert: „One possible outcome of diagnosis is a decision to alter intentions rather than to alter the text“ (Bereiter/ Scardamalia 1987, S. 267). Die zweite Möglichkeit ist, dass der Schreiber seinen Text ändert, um die Diskrepanz zwischen dem realisierten Text und seiner Intention zu beseitigen. In der „Durchführungs-Phase“ („operate“) wird dann die Art der Textänderung ausgewählt („choose tactic“) und die gewählte Taktik umgesetzt („generate change“). Dies führt zu einer veränderten Textrepräsentation (des bereits geschriebenen Textes). Im Anschluss folgt eine 58 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="59"?> 31 Bei der Übersetzung aus dem Englischen fand eine Orientierung an Keßler 2010, S. 13 statt. neue „Vergleichs-Phase“. 31 Der CDO-Prozess wird solange wiederholt, bis die Diskrepanz beseitigt ist oder bis eine Handlung während des Ablaufs misslingt („fail“). (Vgl. Bereiter/ Scardamalia 1987, S.-266f.) Um Revisionshandlungen durchführen zu können, muss der Schreiber gemäß dem CDO-Modell einen Vergleich von bereits realisiertem und intendiertem Text durchführen können. Folglich ist es erforderlich, dass er eine ungefähre Vorstellung von dem Text hat, den er zu verfassen beabsichtigt. Der Schreiber benötigt demnach eine Vorstellung von dem Schreibziel, das er verfolgt. Dies deckt sich mit Aussagen von Martin Fix. Nach Fix setzt eine Revision „eine Aufgabendefinition bzw. Zielbewusstheit [Hervorh. d. Verf.] voraus“ (Fix 2008, S. 165). Der Autor muss ein Schreibziel bestimmen, das während der Überarbei‐ tungsprozesse die Rolle des Monitors übernimmt, damit die Überarbeitungen eine klare Linie haben. (Vgl. ebd.) Eine weitere Voraussetzung zur Durchführung von Revisionshandlungen ist nach Martin Fix eine „gewisse Distanz [Hervorh. d. Verf.] zum eigenen Text“ (Fix 2000, S. 28). Dazu gehört beispielsweise, dass ein Schreiber sein privilegiertes Wissen unterdrückt, über das der Leser nicht verfügt. (Vgl. ebd., S. 27) Im Überarbeitungsprozess „tritt der Schreiber als sein erster Leser auf “ (Weinhold 2000, S. 39). An dieser Stelle leuchtet erneut die für die produktive Seite der Textkompetenz bedeutsame Fähigkeit auf, die Leserperspektive einnehmen zu können. Exemplarisch wird im Folgenden auf Befunde und Überlegungen zur Entwick‐ lung von Textkompetenz (Baurmann/ Pohl 2009; Habersaat/ Dehn 1998; Dehn 2009) eingegangen, die für die vorliegende Studie von Interesse sind. In der Studie Text - Sorten - Kompetenz. Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung von Textkompetenz im Grundschalter (2007) von Augst, Disselhoff, Henrich, Pohl und Völzing wurde „die Entwicklung der produktiven, medial wie konzeptionell schriftlichen Text-Sorten-Kompetenz während des Grundschulalters“ (Augst et al. 2007, S. 15) hinsichtlich fünf unterschiedlicher Textsorten untersucht (vgl. ebd.). Dabei wurden vergleichbare Entwicklungsschritte und Entwick‐ lungsphänomene entdeckt, so Baurmann und Pohl. Diese vier von Augst et al. beschriebenen Entwicklungsphasen stellen Baurmann und Pohl (2009) (mit abweichender Bezeichnung) als Ausgangspunkt und Basis für kompetenzför‐ dernden Schreibunterricht vor. (Vgl. Baurmann/ Pohl 2009, S. 81ff.) In der ersten Entwicklungsphase (assoziative Texte) schreiben Schüler unmittelbar das auf, was ihnen durch den Kopf geht. Die Texte dieser Entwicklungsphase zeichnen sich daher oft durch inhaltliche Brüche aus und weisen häufig eine besondere 3.1 Text, Textkompetenz und Textproduktion 59 <?page no="60"?> 32 Weitere Ausführungen zum Einfluss der Aufgabenstellung auf die Komplexität von Kindertexten sind in der Einleitung der vorliegenden Studie und in Kapitel I.6 zu finden. emotionale Qualität auf. Eine weitere typische Erscheinung von Texten dieser Entwicklungsstufe ist das Ausscheren aus der angestrebten Textsorte. Texte der zweiten Entwicklungsphase, verkettende Texte, weisen viele Bindewörter wie beispielsweise „und dann“ auf und haben daher auf den versierten Leser eine monotone Wirkung. Beim Erzählen halten sich die Schüler an eine chronologi‐ sche Folge. In der dritten Entwicklungsphase produzieren Schüler gegliederte Texte. In Texten dieser Entwicklungsphase lassen sich Gliederungsbemühungen der Schreiber aufzeigen: Das monotone Moment der vorangehenden Phase wird durch Versuche aufgehoben, „einzelne Textteile in besonderer Weise ein‐ zuleiten und diese explizit sprachlich zu gestalten“ (ebd., S. 82f.). Dies geschieht beispielsweise durch die Verwendung von als und plötzlich. In der vierten Entwicklungsphase werden sogenannte textsortenfunktionale Texte verfasst. Während es Kindern in der vorangegangenen Phase bereits möglich war, zentrale Eigenschaften einer Textsorte zu realisieren, gelingt es Kindern erst in dieser Phase, ihre Texte insgesamt in der Weise zu gestalten, dass diese wirklich die gewünschte Textfunktion erfüllen. Dazu bedarf es einer Planung vom funktionalen Ziel des Textes aus. (Vgl. ebd., S.-81ff.) Mechthild Dehn und Steffi Habersaat weisen darauf hin, dass Textkompe‐ tenz nicht uneingeschränkt entwicklungspsychologisch determiniert sei (vgl. Habersaat/ Dehn 1998, S.-193): Die Textkompetenz junger SchreiberInnen ist nicht ausschließlich entwicklungspsy‐ chologisch determiniert, sondern Aufbau und Inhalt von Schreibanlässen müßte für die Entstehung von Komplexität in Kindertexten sowohl in der Schreibforschung als auch in der Didaktik des Schreibunterrichts größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. (Ebd.) So zeigen die Autorinnen eindrücklich, dass die Aufgabenstellung Einfluss auf die Komplexität von Kindertexten im ersten Schuljahr hat und dass Erstkläss‐ lerinnen und Erstklässler bereits in der Lage sein können, komplexe Texte zu verfassen 32 (vgl. ebd.). Dass auch die Aufgabe, ein bekanntes Bilderbuch „vor‐ zulesen“, einen Einfluss auf die Komplexität der entstehenden Texte hat, sodass Vorschulkinder nicht nur assoziative Texte produzieren, kann angenommen werden. Von zentraler Bedeutung für die Überlegungen zur Entwicklung von Text‐ kompetenz ist ebenfalls die Aussage Dehns, dass das Schreiben selbst einen Lernprozess darstellt (vgl. Dehn 2009, S.-154): 60 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="61"?> 33 Unter einer „Schreibidee“ verstehen Dehn und Schüler das Bild, was die Schreiberin bzw. der Schreiber sich vor und während des Schreibens vom Text macht (vgl. Dehn/ Schüler 2010, S.-25). 34 Dehn bezieht sich dabei auf Texte von Schreibanfängerinnen und Schreibanfängern, die aus der Studie Text als Herausforderung (Weinhold 2000) stammen und im Zusam‐ menhang mit dem „Schreiben zu literarischen und Medienfiguren“ (Dehn 2009, S. 158) entstanden sind (vgl. ebd., S. 154-162). Vgl. dazu auch Kapitel I.3.2 zu Schriftspracher‐ werb, Literacy und Textkompetenz. 35 Weitere Ausführungen zu Lernprozessen beim Textschreiben sind in Kapitel I.6.2 zur Übertragung der Theorie Polanyis auf die Textproduktion dargestellt. Das Schreiben stellt […] selbst einen Lernprozess dar und es integriert dabei zurücklie‐ gende Lernprozesse: Das betrifft das Verfügen über Inhalte, es betrifft die syntaktische Konzeptionierung, und es betrifft das Artikulieren der Beziehung zwischen dem Subjekt des Schreibers und dem Adressaten (Dehn 1996, S. 177; Dehn 1999) [Hervorh. d. Verf.]. (Dehn 2009, S.-154f.) Somit lernt das Kind während des einzelnen Schreibprozesses. Eine Schreib‐ idee 33 zu formulieren bedeutet, sich etwas zu „erschreiben“, so Dehn in Bezug auf Augst et al. (2007) (vgl. Dehn 2009, S. 154). Des Weiteren lässt sich an den Texten der Kinder 34 erkennen, an welchen Problemen sie beim Schreibenlernen gerade arbeiten und was sie sich „erschreiben“, so Dehn (vgl. ebd., S. 162). 35 Diesen Überlegungen folgend wird das Verfassen von Texten nicht als Entwicklung gesehen, sondern als Problemlöseleistung des Kindes begriffen. 3.2 Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz „Mit dem Eintritt in die Schule beherrschen die Kinder weitgehend ihre Mutter‐ sprache, doch der Erwerb der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben (Literacy im engeren Sinne) beginnt erst“ (Meibauer 2011, S. 9). Bei dem Begriff Literalität handelt es sich um eine Entlehnung aus dem Englischen (literacy) (vgl. Feilke 2011, S. 3). Feilke unterscheidet zwischen Literalität im engen und im weiten Sinn. Unter Literalität im weiten Sinn wird „die Gesamtheit von Einstellungen und Fähigkeiten, gesellschaftlichen Rollen und Institutionen, die für den Fortbestand einer Schriftkultur gebraucht werden“ (ebd., S. 1) verstanden. (Vgl. ebd.) Literacy bzw. Literalität im weiten Sinn ist für die vorliegende Studie ein zentraler Begriff. „Die Literacy-Konzepte und -kenntnisse, die Kinder in der Vorschulzeit erwerben, werden als Early Literacy oder zuweilen auch als Emergent Literacy verstanden“ (Kümmerling-Meibauer 2012, S. 21). Studien zur detaillierten Be‐ schreibung dieses Erwerbsprozesses fokussieren nach Kümmerling-Meibauer 3.2 Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz 61 <?page no="62"?> 36 Barton, David (1993): Eine soziokulturelle Sicht des Sprachgebrauchs. In: Balhorn, Heiko/ Brügelmann, Hans (Hrsg.): Bedeutungen erfinden - im Kopf, mit Schrift und miteinander. Konstanz: Faude, S.-214-219. 37 In diesem Zusammenhang bezieht sich Feilke auf Bandura (1979): Bandura, Albert (1979): Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. insbesondere Vorlesesituationen im Vorschulalter und den Erzählerwerb, wobei Kinderliteratur eine wichtige Rolle spielt (vgl. ebd.). Worin der Zusammenhang zwischen der Förderung von (Early) Literacy und den vorangegangenen Über‐ legungen zu Text, Textkompetenz und dem Textproduktionsprozess besteht und wie sich die vorliegende Studie im aktuellen Diskurs verorten lässt, soll im Folgenden erörtert werden. Dazu sind insbesondere Überlegungen von Feilke (2011) zu literaler Kompetenz und ihrer Förderung leitend. Feilke (2011) thematisiert Literalität und literale Kompetenz unter drei As‐ pekten: unter einem kulturellen Aspekt, einem Handlungsaspekt und einem sprachlichen Aspekt (vgl. ebd., S. 1). Literale Kompetenzen sind nach Feilke soziale, emotionale, kognitive und sprachliche Fähigkeiten, die zur Kommuni‐ kation mit Texten nötig sind (ebd., S. 5). In einer literalen Gesellschaft gibt es „kommunikative Standards, Ansprüche an Texte bzw. Äußerungen und damit wiederum spezifische Erwartungen in der Sozialisation“ (ebd., S. 6). Das Vorhandensein und die Verwendung von Schrift haben jedoch „nicht an sich schon bestimmte Verhaltenskonsequenzen, sprachliche und kognitive Konsequenzen“ (ebd.). Diese Konsequenzen sind von den literalen Praktiken (Barton 1993 36 ) abhängig, unter denen kulturell vermittelte Gebrauchsweisen verstanden werden. „Unter dem Kulturaspekt ist der Erwerb literaler Kompetenz als ‚literale Sozialisation‘ zu bestimmen“ (Feilke 2011, S. 7). Dabei ist das Modell-Lernen der zentrale Lerntyp: Es findet eine Orientierung an Menschen statt, die literale Praxen in der eigenen Umgebung modellhaft vorleben. 37 (Vgl. ebd., S. 5-7) Feilke betont die bedeutsame Rolle des Modell-Lernens sowie des Lernens durch Beobachtung für die Entwicklung literaler Kompetenz und die Bedeutsamkeit des Einbindens von Schreiben und Lesen in umfassendere literale Praktiken (vgl. ebd., S. 1). Feilke spricht in diesem Zusammenhang von „vielfach vernachlässigte[n] Einflussgrößen“ (ebd., S. 1). An diesen Punkt knüpft die vorliegende Studie an, indem sie das Imitieren einer beobachteten literalen Praktik, nämlich das Vorlesen, als Grundlage zur Entwicklung einer Methode zur Sprachförderung wählt. Der zweite Aspekt der literalen Kompetenz, der Handlungsaspekt, bezieht sich nach Feilke im Kern auf Unterschiede zwischen Schreiben und Sprechen sowie zwischen Lesen und Hören (vgl. ebd., S. 8). Ein Begriff literaler Kompetenz hat zu berücksichtigen, dass Schreiben und Lesen „als Handlungen sehr verschieden 62 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="63"?> von Sprechen und Hören“ (ebd.) funktionieren, so Feilke. „Es verlangt Fähig‐ keiten, z. B. Planungsfähigkeit und Überarbeitungsfähigkeit, […] die als Schreib‐ prozesskompetenzen unzweifelhaft zum Begriff einer literalen Kompetenz dazu gehören“ (ebd.). Feilke hebt die Bedeutsamkeit des Lesens für die Entwicklung von Schreibkompetenz hervor (vgl. ebd., S. 1). Auch am Handlungsaspekt der literalen Kompetenz dockt die Studie zum Pretend Reading an. Wie unter I.3.1 dargelegt wird die Pretend-Reading-Situation als Textproduktionssituation be‐ trachtet, durch deren Durchführung Schreibprozesskompetenzen wie Planungs- und Überarbeitungsfähigkeit auch im Medium der Mündlichkeit in gewissem Maße herausgefordert und somit im Gebrauch gefördert werden können. Zum dritten Aspekt der literalen Kompetenz, dem sprachlichen Aspekt, hebt Feilke den folgenden entscheidenden Punkt hervor: Literale Kompetenz heißt nicht Beherrschung der Zeichen, mit denen man das Sprechen aufschreiben kann, sondern Beherrschung der Formmerkmale schriftlicher Sprache, die das Verstehen schriftlicher Wörter, Sätze und Texte möglichst kontextfrei ermöglichen. (Ebd., S. 12) Hier bezieht sich Feilke auf den Begriff der konzeptionellen Schriftlichkeit, der einen zentralen Begriff für die jüngere Diskussion zum Thema Literalität darstellt. Als „Zielpunkt des Erwerbs literaler Kompetenz“ (ebd.) bezeichnet er „die Fähigkeit zu entfalteter konzeptioneller Literalität“ (ebd.). Diese schließt weit mehr ein, als Schrift lesen zu können und Buchstaben, Wörter und auch Sätze notieren zu können. Linguistisch gesehen ist der Kern konzeptioneller Literalität „die Orientierung an und die Konstruktion von sprachlichen Expli‐ zitformen auf praktisch jeder Ebene der Sprache, vom Laut über das Wort und den Satz bis zum Text“ (ebd., S. 12). Durch den Gebrauch sprachlicher Explizitformen wird ein kontextunabhängiges Sprachverstehen ermöglicht. Als Hauptkennzeichen konzeptioneller Schriftlichkeit bezeichnet Feilke „die maxi‐ male formale (sprachstrukturelle) Absicherung des Verstehens bzw. maximale Kontextunabhängigkeit für alle sprachlichen Formebenen [Hervorh. im Original] (Wort, Satz und Text)“ (ebd.). (Vgl. ebd., S.-12) Feilke stellt eine Kontrasthypothese einer Kontinuitätshypothese gegenüber. Die Kontrasthypothese besagt, dass die „Aufmerksamkeit für Elemente konzep‐ tioneller Schriftlichkeit […] umso größer [ist], je größer der wahrgenommene Kontrast zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist“ (ebd., S. 14). Es ist schwieriger, die besonderen Eigenschaften der Schriftsprache zu erwerben, je kontinuierlicher Beziehungen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Lernumgebung sind. Aus diesem Grund fordert eine Didaktik der Literalität „einen schriftspracherwerbsorientierten Unterricht, der die Schrift- und Texter‐ 3.2 Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz 63 <?page no="64"?> 38 Dieses Beispiel stammt aus: Dehn, Mechthild (1991): Bilderbuch, Zeitung und Autoatlas. Zur Entwicklung eines Begriffs von Lesen. In: Die Grundschulzeitschrift 5, H. 41, S.-3. fahrung zum primären Bezugspunkt macht und von Beginn an die Beherrschung konzeptioneller Schriftlichkeit anstrebt“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Was bei einer Didaktik der Literalität für den Unterricht gilt, wird in der vorliegenden Studie bereits für das Vorschulalter formuliert: Es gilt, konzeptionelle Schriftlichkeit von Anfang an zu fördern, indem sowohl rezeptive als auch produktive Texterfahrung ermöglicht wird. Frühes Lesen und Schreiben als frühe Formen des Lesens und Schreibens ver‐ stehen Dehn und Sjölin als Annäherung an die Schriftlichkeit (vgl. Dehn/ Sjölin 1996, S. 1141). Diese Schriftlichkeit beginnt lange bevor Kinder zur Schule gehen und bereitet sich vor. Diese frühen Formen des Lesens und Schreibens betrachten Dehn und Sjölin „als elementaren Ausdruck konstitutiver Aspekte des Lesens und Schreibens, die sich zunehmend entfalten und entfaltet werden können“ (ebd.). Im Zusammenhang mit frühem Lesen und Schreiben stellen sie das folgende Beispiel 38 vor: Ein einjähriges Mädchen, das gerade erst einige Wörter zu sprechen vermag, schaut sich gerne mit einem Elternteil ein Bilderbuch an. „Wenn sie nun ein Buch zum Lesen sich vornimmt oder wenn sie einem, der mit ihr das Buch betrachten soll, eines bringt, dann verändert sich ihre Stimmmelodie - der Singsang wird einförmiger, mehr auf einen ‚Erzählton‘ geführt“ (Dehn/ Sjölin 1996, S.-1143). (Vgl. ebd.) Dieses von Dehn beschriebene, schon sehr früh beobachtbare natürliche Verhalten von vielen Kindern wird bei der Methode Pretend Reading aufgegriffen, um den Gebrauch konzeptioneller Schriftlichkeit herauszufordern. Die Entwicklung von konzeptioneller Schriftlichkeit findet bereits im frühen Kindesalter statt (vgl. Pätzold 2005). Dabei entstehen Grundkompetenzen in einer Phase, die Pätzold als Protoliteralität bezeichnet. Protoliteralität beschreibt Pätzold mit Hilfe von fünf Thesen, die sowohl auf operationale als auch auf sprachstrukturelle Phänomene bezogen sind. Einschränkend weist sie darauf hin, dass mit diesen nicht alles erfasst wird, was unter protoliteraler Textkompetenz zu verstehen ist. (Vgl. ebd., S. 88) Erstens liegt nach Pätzold protoliterale Text‐ kompetenz vor, wenn ein Kind dazu in der Lage ist, auf sprachliche Strukturen zuzugreifen, die vom unmittelbar situativen Sprechen losgelöst sind, und wenn es versucht, den Verstehenskontext mit Hilfe von sprachlichen Formen mitzu‐ liefern. Zweitens kann protoliterale Textkompetenz als operatives Vermögen bezeichnet werden, „schriftsprachlich geprägte Strukturen aus vorgängiger Rezeption auszugliedern und in eigenen Texten zu rekonstruieren“ (ebd., S. 88). Drittens gibt die Verwendung „textuell formelhafter Ausdrücke“ (ebd.) Auf‐ 64 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="65"?> schluss darüber, dass ein Kind intuitiv textsprachliche Sphären unterscheiden kann. Viertens wird protoliterale Textkompetenz auch dadurch sichtbar, dass ein Kind versucht, „sich Möglichkeiten von Anschlusshandlungen verfügbar zu machen“ (ebd.), indem es bestimmte sprachliche Mittel auswählt. Fünftens werden „Operationen des Aufmerksamkeitswechsels“ (ebd.) von den mikrozu den makrostrukturellen Ebenen des Textes erkennbar. (Vgl. ebd.) Insbesondere an die von Pätzold aufgeführte Fähigkeit, schriftsprachliche Strukturen aus anderen Texten zu übernehmen und für die eigene Textproduktion nutzen zu können, knüpft auch die vorliegende Studie zum Pretend Reading an. Allerdings werden in der vorliegenden Studie nicht nur sprachliche Strukturen, sondern auch narrative Strukturen in den Blick genommen. Zu den bislang nicht sehr zahlreichen Studien, die Textkompetenz und konzep‐ tionelle Schriftlichkeit bereits im Vorschulalter fokussieren, gehören zudem die Studien von Isler (2014) und Sauerborn (2015), die im Folgenden skizziert werden. Zudem wird der Blick auf Studien zur Textkompetenz am Schulanfang (Weinhold 2000, Dehn/ Hüttis-Graff 2018) gelegt. Studien zur Textproduktion im Medium der Mündlichkeit werden wegen ihrer starken Nähe zur vorliegenden Studie gesondert unter Kapitel I.3.4 betrachtet. In seiner Studie Vorschulischer Erwerb von Literalität in Familien. Erkundungen im Mikrokosmos sprachlicher Praktiken und Fähigkeiten von 5- und 6-jährigen Kindern (2014) untersucht Dieter Isler literale Fähigkeiten von Kindern sowie ihre familiären Erwerbsbedingungen. Der Fokus wird dabei auf die Ebene der literalen Praktiken gelegt. Unter Praktiken werden „sich wiederholende (rekurrente) musterhafte Sprachhandlungen“ (ebd., S. 15) verstanden. Eine Fähigkeit oder Praktik kann nach Isler als literal bezeichnet werden, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist: Erstens dienen die Fähig‐ keiten oder Praktiken dazu, komplexe, situationstranszendierende Bedeutung zu ko-konstruieren, z. B. beim fiktionalen Erzählen - und zwar als (medial) mündliche Sprachhandlung. Anforderungen der schriftsprachlichen Standard‐ varietät werden dabei erfüllt. Zu diesen Anforderungen gehören Kontextreduk‐ tion, Monologizität, Explizitheit und Korrektheit. Zweitens können sie „als (medial) schriftliche Sprachhandlungen der Kodierung oder Dekodierung von Bedeutung mittels konventioneller Zeichensysteme (Symbole und Schrift)“ (ebd.) fungieren. Und drittens können sie der Objektivierung von Sprache dienen und helfen, einen theoretisch-reflexiven Zugang zu Sprache und Welt aufzubauen. (Vgl. ebd.) Isler geht der Frage nach, über welche literalen Fähigkeiten die Kinder ver‐ fügen und untersucht, inwiefern diese Fähigkeiten in Bezug zu den familiären Bedingungen der Kinder und im Besonderen zu ihren literalen Praktiken stehen 3.2 Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz 65 <?page no="66"?> (vgl. ebd., S. 15). Die Datenerhebung erfolgte über das Projekt Lernwelten - literacies. Dabei fanden u. a. teilnehmende Beobachtungen in vier Familien statt (vgl. ebd., S. 70). Einen wesentlichen konzeptionellen Beitrag seiner Studie zum Forschungsdiskurs sieht Isler in der Entwicklung eines Literalitätsmodells, das sowohl theoretisch als auch empirisch verankert ist. Dieses Modell (vgl. Tabelle 1) besteht aus den folgenden fünf Dimensionen: realitätsbezogene (1), fiktionale (2) und „schulnahe“ Sprachhandlungen (3), medial schriftlicher Sprachgebrauch (4) und Objektivierung von Sprache (5). Isler versteht in seiner Studie Literalität „1. als Realität darstellender Sprachgebrauch, 2. als Fiktion darstellender Sprach‐ gebrauch, 3. als instruierender/ erklärender/ argumentierender Sprachgebrauch, 4. als medial schriftlicher Sprachgebrauch sowie 5. als Objektivierung von Sprache“ (ebd., S.-14). Literalität Sprache als (Lern-)Medium gebrauchen Sprache als Gegenstand objektivieren konzeptionell schriftlich medial schriftlich darstellend weitere „schulnahe“ realitätsbe‐ zogen fiktional Tabelle 1: Literalitätsmodell nach Isler (2014), S.-356 Isler nutzte das dargestellte Modell, um literale Praktiken und Fähigkeiten zu klassifizieren (vgl. ebd., S. 356). Das Hauptergebnis seiner Studie sieht Isler im erstmaligen Vorliegen einer detaillierten Beschreibung familiärer Erwerbskon‐ texte für fünfbis sechsjährige Kinder in der Deutschschweiz. Zudem konnte anhand von vier Fällen belegt werden, „dass sich die Literalitätsprofile von fami‐ liären Erwerbskontexten und kindlichen Fähigkeiten weitgehend entsprechen“ (ebd., S. 360). Des Weiteren ergaben sich aus den Untersuchungen Hinweise auf familiäre Bedingungen, die unterstützend auf den Erwerb von Literalität wirken können. Zu nennen sind hier die Verfügbarkeit von Vätern, Geschwis‐ terkonstellationen, Medienorientierung, „produktive Formen des Sprach- und Mediengebrauchs“ (ebd., S. 360) und „Sprache objektivierende Praktiken und deren Einbindung in den Familienalltag“ (ebd.). (Vgl. ebd., S.-359f.) Der Textproduktion im Medium der Schriftlichkeit am Schulanfang widmet sich Swantje Weinhold. Ziel ihrer Studie Textkompetenz am Schulanfang (2000) ist es, eine Perspektive auf Kindertexte zu entfalten, „die an ihnen als Produkten die Momente ihres Prozesses, die Herausforderung der Textherstellung als 66 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="67"?> Zusammenspiel verschiedener (kommunikativer, personaler und textueller) Ansprüche widerspiegeln will“ (Weinhold 2000, S. 14). Es sollte empirisch nachvollzogen werden, was Kinder der ersten Klasse tun, wenn sie eine Schreib‐ aufgabe bekommen und Texte produzieren (vgl. ebd., S.-191). Die Datenerhebung erfolgte in zwei Durchgängen (91/ 92, 93/ 94) und steht „im Kontext des BLK-Modellversuchs Elementare Schriftkultur als Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und Analphabetismus bei Grundschülern (1991-1992)“ (Weinhold 2000, S.-99). Jeweils acht verschiedene Figuren aus der Medienwelt und der Kinderliteratur wurden den Kindern in Form von Bildern präsentiert (u. a. Arielle und Willi Wiberg) (vgl. ebd., S. 102). Die Schreibaufgabe dazu lautete: „Ich möchte euch bitten, Geschichten zu schreiben. Es gibt acht verschiedene Möglichkeiten, etwas zu schreiben, ihr könnt euch eine aussuchen. Überlegt schon mal, über wen ihr etwas schreiben wollt.“ (Ebd.) Weinhold stellt verschiedene Textanalysen der Kindertexte vor (vgl. ebd., S. 18). Dabei lässt sich eine Reihe von Kindertexten als „Text als ‚Kleine Ge‐ schichte‘“ (ebd., S. 151) bezeichnen (vgl. ebd., S. 151-160). Diese Texte zeichnen sich dadurch aus, „dass die strukturellen Muster des Erzählens durchweg eine gewisse Stütze für den Textaufbau im Medium der Schriftsprachlichkeit sind“ (ebd., S. 155). Weinhold zeigt dies an Kindertexten mit typischen Erzählanfängen: Diese sind gekennzeichnet durch „Handlungszeit, -ort und -träger i. S. einer einleitenden Orientierung mit Beginn des ‚settings‘ und/ oder Überschrift“ (ebd., S. 155). Bei anderen „kleinen Geschichten“ konnte Weinhold beobachten, dass von den jungen Schreiberinnen und Schreibern in ihren Texten genau der Erzählanfang aufgegriffen wurde, der ihnen aus der Bilderbuchvorlage bekannt war. Es ist der refrainmäßig wiederkehrende Einstieg der Geschichten von Willi Wiberg, mit dessen Hilfe die Schreibanfänger in den Text gelangen und in der Folge dann eine erinnerte Episode im Sinne des erzählenden Berichtens wiedergeben können. (Ebd., S. 156) Zudem stellt Weinhold bei etlichen Texten fest, dass die Kinder das Textende markieren. Dabei kommen einige Kinder zum Ende, ohne dass sie die Kom‐ plikation und die Lösung ausgeführt haben. Sie „lassen sich so streng von dem Erzählschema leiten, dass sie ihren Text nicht ohne eine Abschlussformel verlassen mögen“ (ebd.). Weinhold spricht hier von einem Textschließungsbe‐ dürfnis, das sich im musterhaften Gebrauch von Erzählabschlüssen zeigt. In weiteren Texten konnte Weinhold eine zeitliche Markierung identifizieren, die auf das Bedürfnis der Kinder hindeutet, „die geschilderte Begebenheit als eine von vielen anderen“ (ebd., S. 157) im Leben der gewählten literarischen 3.2 Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz 67 <?page no="68"?> oder Medienfigur hervorzuheben. Zu nennen sind hier beispielsweise Eines Tages oder heute. Teilweise fungieren auch Überschriften in den Texten der Kinder als einführende Erzählrahmen. In einigen Texten lassen sich zeitliche Markierungen identifizieren, mit denen makrostrukturell auf die Ereignis-Folge verwiesen wird wie wieder, wie immer und schon wieder. Weinhold konnte zudem feststellen, dass einige Kinder eine Überschrift bzw. „eine Notierung für die zeitliche Hervorhebung des aktuellen Ereignisses“ (ebd., S. 159) fanden, aber „trotz des zügigen und ‚gewussten‘ Einstiegs“ (ebd.) im Textaufbau nicht weiterkamen. (Vgl. ebd., S. 155ff.) An dieser Stelle leuchtet die Funktion von Mustern für die Textproduktion, die in der vorliegenden Studie eine zentrale Rolle spielt, auf (vgl. Kapitel I.5). Das Nutzen der Schrift bereits zu dem Zeitpunkt, wenn Kinder sich erst im Stadium des Schrift-Erwerbs befinden, begründet Weinhold (2002) u. a. damit, dass Kinder auf diese Weise die Funktion von Schriftlichkeit erfahren können (vgl. 2002, S.-147): Die Ingebrauchnahme von Schrift ist das beste Mittel, SchreibanfängerInnen Spaß am Schreiben-Lernen zu vermitteln und für sie das ‚Weiß-Wozu‘ von Schriftlichkeit erfahrbar zu machen, so dass sie dann bereit sind, sich auf den mühsamen Weg des Schriftspracherwerbs zu begeben. (Ebd.) Durch die Schreibaufgabe werden die Kinder mit einer neuen Kommunikations‐ situation konfrontiert. Unterstützt durch die Schreibaufgabe finden sie Mittel und Wege, um ihre Botschaft zu transportieren: „Sie knüpfen an Muster des Sprechens und Erzählens an und experimentieren auf dieser Grundlage mit medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit“ (ebd., S.-159). (Vgl. ebd.) Auf die vorgestellte Studie Weinholds nehmen Mechthild Dehn und Petra Hüttis-Graff (2018) in ihrer Untersuchung Bezug. So vergleichen sie die beiden Textkorpora, die zum Schreiben zu literarischen Figuren und Medienfiguren 1992/ 1994 und 2014 entstanden sind. Dabei ordnen sie das zweite Korpus den Kategorien Weinholds (2000) zu und erweitern ihre Perspektive der Schreibpro‐ zessforschung um den Begriff der elementaren Schriftkultur. (Vgl. dazu Dehn/ Hüttis-Graff 2018) Elementare Schriftkultur meint im umfassenden Sinn den Gebrauch von Schrift: Dazu gehört die Aufmerksamkeit auf Geschriebenes, auf Zeichenhaftes überhaupt, die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Notierens und der Informationsentnahme bei anderen und die Aufmerksamkeit auf die Wirkung dieser Tätigkeiten; dazu gehört das Zuhören beim Vorlesen, die Kenntnis literarischer Inhalte und die Adaption von Erzählstrukturen (auch von Film, Computerspiel und Tonträger); dazu gehört die Erfahrung einer Beziehung zwischen erlebter und dargestellter Welt; die Erfahrung, selbst etwas zu Papier gebracht zu haben, das persönlich wichtig ist und das andere 68 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="69"?> lesen können, und die, im Lesen Neues zu erfahren oder Vertrautes bestätigt zu finden; und nicht zuletzt die Bestätigung in der Gruppe der Gleichaltrigen und bei den Erwachsenen. Der Begriff akzentuiert im Unterschied zu den entfalteten Formen den Beginn von Schriftlichkeit, das Phänomen der Andeutung, der Spur, die es wahrzunehmen und zu entwickeln gilt. (Dehn/ Hüttis-Graff 2018, S.-50f.) Das Beherrschen der Kulturtechnik wird nicht als Voraussetzung gesehen, an Schriftkultur teilhaben zu können (vgl. ebd., S. 51). Nach Dehn und Hüttis-Graff bietet die gewählte Aufgabenstellung den Kindern die Möglichkeit, (im Spiel) in die Geschichte einzutauchen „und dabei sprachliche Elemente in die eigene Formulierung zu übernehmen, sie sich - im Gebrauch - ein Stück weit mehr anzueignen“ (ebd., S. 74). Somit können sich die Kinder sprachliche Strukturen, die ihnen in Texten und anderen Kontexten begegnet sind, dadurch in gewissem Umfang aneignen, dass sie sie in ihre eigenen Formulierungen einbinden (vgl. ebd.). „Die Texte zeigen, dass die Kinder am Ende von Klasse 1 vielfältige Zugänge zu Schrift-Sprachlichkeit gefunden haben und wie sie sich, indem sie schreiben, diese Zugänge ein Stück weit mehr aneignen - implizit“ (ebd., S. 74). (Vgl. ebd.) An dieser Stelle lässt sich eine Verbindung zur epistemischen Komponente des Schreibens von Grundschulkindern ziehen (vgl. Pohl/ Steinhoff 2010). Wie deutlich wurde klingt die Bedeutsamkeit des Gebrauchs (schriftsprachlicher) sprachlicher Strukturen aus anderen Texten für die eigene Textproduktion sowohl in den Überlegungen von Pätzold (2005) als auch in den Studien von Weinhold (2000) und Dehn/ Hüttis-Graff (2018) an. Die in den vorgestellten Studien geschilderte Beobachtung, den Gebrauch von Elementen bzw. von Mustern aus anderen Texten für die eigene Textproduktion zu nutzen, wird in verschiedenen didaktischen Konzeptionen (vgl. Kapitel I.7) fruchtbar gemacht. Auch die Methode Pretend Reading knüpft an Beobach‐ tungen zum Mustergebrauch aus anderen Texten für die eigene Textproduktion an und präsentiert Kindern eine monologische Textproduktion mit (hohen) schriftsprachlichen Anteilen in Form von Bilderbüchern. Durch den Vergleich zum 20 Jahre später entstandenen Korpus von Kinder‐ texten werden die Befunde von Weinhold (2000) bestätigt. Zudem geben die Texte der Kinder Aufschluss über Medien- und Literaturrezeption der Kinder am Schulanfang. Diese zeigen sich „in vielen Formulierungen, die über das gesprochene Wort hinaus gehen“ (Dehn/ Hüttis-Graff 2018, S. 74) und in Beson‐ derheiten der Textformen wie der „Ansprache eines fiktiven Lesers“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Die Autorinnen schließen: Wenn man Schriftkultur und Kulturtechnik [Hervorh. im Original] betrachtet, be‐ deutet das, dass es durchaus nicht nur um Vermittlung orthographischer und grapho‐ 3.2 Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz 69 <?page no="70"?> motorischer Kenntnisse gehen kann, sondern dass der Umgang mit Buch und Medien im Sinne gelebter Leseaffinität erfahrbar werden muss. (Ebd., S.-75) Ähnlich wie eine Didaktik der Literalität einen schriftspracherwerbsorientierten Unterricht, der Schrift- und Texterfahrungen fokussiert und den Erwerb von konzeptioneller Schriftlichkeit „von Anfang an“ anstrebt (vgl. Feilke 2011, S. 14), werden Forderungen danach, den Schriftspracherwerb um die Perspektive der Textkompetenz und der damit verbundenen Perspektive auf konzeptionelle Schriftlichkeit zu erweitern, von Hüttis-Graff und Dehn (vgl. Hüttis-Graff/ Dehn 2018) und - wie die folgenden Ausführungen zeigen werden - von Sauerborn (vgl. Sauerborn 2015) gestellt. An diesen Forderungen setzt die vorliegende Studie an, die den Gebrauch von bereits vorhandenem Textwissen, das als implizites Wissen vorliegt, bei Kindern im Vorschulalter durch die Methode Pretend Reading herausfordern möchte. Ein Anliegen von Hanna Sauerborns Studie Zur Bedeutung der Early Literacy für den Schriftspracherwerb bestand darin, den Blick auf den Schriftspracherwerb zu weiten: Lesen und Schreiben meint mehr als das Beherrschen von technischen Fertigkeiten. Vielmehr muss es Ziel sein, dass Kinder Lesen und Schreiben in der Weise lernen, dass sie - in unterschiedlichen Ausprägungen - aktiv an der Schriftkultur teilhaben können. (Ebd., S.-182) Die in der Einleitung der vorliegenden Studie bereits erwähnte kritische Sicht Sauerborns auf die „einseitige Fokussierung auf die phonologische Bewusstheit“ (ebd., S. 4) als Voraussetzung für den Schriftspracherwerb resultiert in der Formulierung verschiedener Fragen, die Sauerborn im Rahmen ihrer Studie bearbeitet. So geht Sauerborn erstens der Frage nach, ob das Konstrukt der pho‐ nologischen Bewusstheit einer kritischen Überprüfung standhält und die Bedeu‐ tung, die ihm für den Schriftspracherwerb zugesprochen wird, neu eingeschätzt werden muss. Zudem untersucht sie, ob das Konstrukt der Early Literacy „eine alternative Betrachtungsweise auf den vorschulischen Schriftspracherwerb“ (ebd., S.-177) bietet. (Vgl. ebd.) Dabei versteht Sauerborn Literacy in einem doppelten Sinn (vgl. ebd., S. 115): Zum einen „als Set verschiedener Fähigkeiten (Lit 1 )“ (ebd., S. 129) und zum anderen „als Begriff im Zusammenhang mit der Teilhabe an der Schriftkultur (Lit 2 )“ (ebd.). So wird Literacy erstens „als ein Kompetenzgrad im Umgang mit Schriftlichkeit“ (ebd., S. 115) verstanden. Dieser zeigt sich in der Performanz unterschiedlicher Teilfertigkeiten (Lit 1 ). Zweitens wird Literacy als „Grad an Vertrautheit mit der Schriftkultur (Lit 2 )“ (ebd.) verstanden. Ein Indikator für Vertrautheit mit Schriftlichkeit ist nach Sauerborn „das Vorhandensein einer konzeptionell schriftlichen Sprache“ (ebd.). (Vgl. ebd.) 70 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="71"?> 39 Sauerborn nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf Snow, Catherine E.: (1991): The Theoretical Basis For Relationships Between Language and Literacy in Development. In: Journal of Research in Childhood Education, H. 6 (1), S. 5-10. und Strickland, Dorothy S. / Riley-Ayres, Shannon (2007): Literacy leadership in early childhood. The essential guide. New York, Washington, DC: Teachers College Press; National Association for the Education of Young Children. 40 Zur genauen Darstellung der Methode vgl. Kapitel I.3.4. Lit 1 wurde mit Hilfe der Oberbegriffe alphabetic code, decontextualisation und print 39 sowie mittels entsprechender Indikatoren und Aufgaben operatio‐ nalisiert. (Vgl. ebd., S. 115) Lit 1 setzt sich dabei aus acht Untertests zusammen (vgl. ebd., S. 142). Die Aufgaben bezogen sich beispielsweise auf den Wortlän‐ genvergleich, Lesen, Schreiben und Buchstabenkenntnis (vgl. ebd., S. 116). Zur Erhebung von Lit 2 nutzte Sauerborn das sogenannte Kinderdiktat 40 (vgl. ebd., S. 129). Zudem wurde phonologische Bewusstheit erhoben und Lese- und Schreibleistungen der Kinder am Ende der ersten Klasse erfasst (vgl. ebd., S. 140ff.). Befragungen und Kinderdiktate fanden zweimal im letzten Kindergartenjahr und einmal am Ende der ersten Klasse statt (vgl. ebd., S. 110). Sauerborn stellt im Rahmen ihrer Studie zwei Hypothesen auf, die beide verifiziert werden konnten. So konnte erstens ein positiver Zusammenhang zwischen der phonologischen Bewusstheit und Early-Literacy-Fertigkeiten der Skala Lit1 festgestellt werden. Dieser bezieht sich auf den Zeitpunkt kurz vor der Einschulung. Nach Sauerborn bekräftigt dies „die Theoretisierung des Konstrukts Early Literacy, es handle sich hierbei um verschiedene Aspekte, die eng miteinander verwoben sind und somit nicht isoliert betrachtet werden sollten“ (ebd., S. 180). Zweitens konnte die Hypothese bestätigt werden, dass auch ein positiver „Zusammenhang zwischen Early-Literacy-Fertigkeiten der Skala Lit 1 im letzten Kindergartenjahr und den Lese- und Schreibleistungen am Ende der der 1. Klasse“ (ebd.) besteht. (Vgl. ebd.) Sauerborn spricht sich gegen eine „Überbewertung der Prognosekraft des Faktors phonologische Bewusstheit“ (ebd., S. 181) aus. Sie zeigt in ihrer Studie in Ansätzen, „dass der Schriftspracherwerb deutlich mehr Prozesse als die Transformation gesprochener Lautketten in Schrift und umgekehrt beinhaltet“ (ebd.). So müssen nach Sauerborn „Aspekte der Enkulturation und des Erwerbs konzeptioneller Schriftlichkeit bzw. eines literaten Registers ebenso in die Early Literacy-Bildung einfließen, wie die Anbahnung hierarchie-hoher Prozesse“ (ebd.). Sauerborn plädiert daher für die Entwicklung eines Modells zum Schrift‐ spracherwerb, das diesen Erwerbsprozess hinreichend abbildet. (Vgl. ebd.) Interessant zur Verortung des Ziels der vorliegenden Studie erscheinen auch die Überlegungen von Kümmerling-Meibauer (2012), Meibauer (2011) 3.2 Schriftspracherwerb, Literacy und Textkompetenz 71 <?page no="72"?> 41 Zu einer ausdifferenzierten Darstellung verschiedener Konzepte von Literacy aus dem englischsprachigen Raum vgl. Sauerborn 2015, S.-70ff. und Gressnich (2014). Im Zusammenhang mit den Literacy Studies schreibt Kümmerling-Meibauer (2012) zum Begriff Literacy: 41 Mit dem Begriff ‚Literacy‘ werden nicht nur die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bezeichnet (sogenannte Functional Literacy), sondern weitere grundlegende Kompe‐ tenzen wie Textverständnis, Vertrautheit mit Literatur und anderen Medien sowie Erfahrungen mit der Lese-, Bild- und Erzählkultur. Man unterscheidet dabei drei spezifische Formen: a) Literary Literacy, d. i. die Fähigkeit, Literatur zu verstehen und auch selbst zu produzieren; in der deutschen Forschung als ‚Literaturerwerb‘ bezeichnet, b) Visual Literacy als die Fähigkeit, Symbole und Zeichen in Bildern zu verstehen (Bilderwerb), und c) Media Literacy als die Kompetenz, mit verschiedenen Medien (Printmedien, AV-Medien, interaktive Medien) umgehen zu können. (Küm‐ merling-Meibauer 2012, S.-20) Gressnich (2014) weist darauf hin, dass Meibauer (2011) ein leicht abweichendes Modell entwirft, das den Erwerb von Medienkompetenz ausklammert und den Spracherwerb (Linguistic Literacy) einschließt (vgl. Gressnich 2014, S. 149). Meibauer (2011) schreibt: Unterscheidet man zwischen den drei Domänen ‚linguistic literacy‘ (Sprachverstehen und -produktion), ‚visual literacy‘ (Bildverstehen und -produktion) und ‚literary literacy‘ (Literaturverstehen und -produktion), so kann man davon ausgehen, dass in all diesen Domänen Entwicklungsprozesse ablaufen, die sich zum Teil gegenseitig unterstützen und befruchten. (Meibauer 2011, S.-17) Nach Gressnich „spricht nichts dagegen, davon auszugehen, dass sich Cultural Literacy in alle vier genannten Teilbereiche gliedert“ (Gressnich 2014, S. 149). Sie begreift den Bereich Literary Literacy „als eine weit gefasste Text Literacy […], die nicht auf literarische Gattungen beschränkt ist und expositorische Texte mit einschließt“ (ebd., S. 152). So lässt sich der Erwerb konzeptioneller Schriftlichkeit, der auf unterschiedliche Textsorten zu beziehen ist, besser erfassen. Nach Gressnich ist der kindliche Erzählerwerb „auf der Schnittstelle zwischen Linguistic Literacy und Literary Literacy anzusiedeln“ (ebd.). Auch beim Pretend Reading könnte der Fokus sowohl auf der Förderung von Literary Literacy - im Sinne des Produzierens von Literatur („Vorlesen“ bzw. Produzieren eines narrativen Textes) - als auch auf der Förderung von Linguistic Literacy - im Sinne des Erwerbs und Gebrauchs sprachlicher Strukturen bei der Textproduk‐ tion - gesehen werden, wobei durch die (vorangegangene) Bilderbuchrezeption 72 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="73"?> und die Textproduktion zu einem Bilderbuch selbstverständlich auch Visual Literacy und Media Literacy gefördert werden können. 3.3 Vorlesen Beim Setting der vorliegenden Studie wird eine Vorlesesituation mit einer Textproduktionssituation kombiniert. Die folgende Darstellung nationaler und internationaler Studien zum Vorlesen im Vor- und Grundschulalter zeigt, dass diese Studien die Bedeutsamkeit des Vorlesens von Geschichten (und damit verbundener Aktivitäten) herausstellen - und zwar hinsichtlich der Förderung unterschiedlicher Fähigkeiten. Im Jahr 2007 fand erstmals eine Durchführung einer Vorlesestudie durch DIE ZEIT, Deutsche Bahn und Stiftung Lesung statt, der weitere Untersuchungen zu verschiedenen Fragestellungen folgten. Im Werk Stiftung Lesen: Vorlesen im Kinderalltag (2013) wurden die Ergebnisse aus den sechs Vorlesestudien systematisch aufbereitet und systematisiert. (Vgl. Ehmig/ Reuter 2013, S. 83ff.) So wurde in einem ersten Schritt die Bedeutsamkeit „des Vorlesens und Ge‐ schichtenerzählens für die frühe Lese- und Sprachsozialisation von Kindern“ (ebd., S. 85) und ebenfalls für das Jugendalter herausgearbeitet. Daraus resultie‐ rende Schlussfolgerungen und Empfehlungen sind das regelmäßige (im Idealfall tägliche) Vorlesen durch die Eltern - und zwar durch Mütter und Väter. Im zweiten Schritt wurde die tatsächliche Situation charakterisiert. So belegen die Analysen „ein Vorlese-Defizit in etwa einem Drittel aller Familien mit Kindern im Vorlesealter“ (ebd., S. 85f.) Zudem wurden die drei Faktoren im familiären Umfeld aufgegriffen, die in den PISA-Studien „als Barrieren für eine gelungene Lesesozialisation“ (ebd., S. 85) genannt werden: Bildungshintergrund, Migrati‐ onshintergrund und Geschlecht. Diese wurden auf ihre Bedeutung hinsichtlich des Vorlesens getestet. Analysen zeigen, dass insbesondere der Bildungshinter‐ grund des Elternhauses einen großen Einfluss auf das Vorleseverhalten der Eltern hat. Der Migrationshintergrund hat den Analysen zufolge „überwiegend im Zusammenspiel mit dem Bildungsniveau der Eltern Relevanz“ (ebd.). Zudem konnten große geschlechtsspezifische Handlungsmuster festgestellt werden. Zurückführen lassen sich diese u. a. auf klare Rollenverteilungen zwischen Vätern und Müttern. Diese Rollenverteilungen beeinflussen wiederum Erzie‐ hungsziele und Umgangsweisen mit Töchtern und Söhnen und bewirken die unterschiedliche Lese- und Mediensozialisation von Mädchen und Jungen. In einem dritten Schritt werden Überlegungen zur Ansprache der genannten Zielgruppen dargestellt. Zum einen wird die Kompensation der Defizite durch 3.3 Vorlesen 73 <?page no="74"?> Dritte bedacht. Zum anderen wird der Blick auf Vorleseangebote gerichtet, wie zum Beispiel digitale Angebote, die Väter zum Vorlesen motivieren können. (Vgl. ebd.) Diese Befunde heben die enorme Bedeutsamkeit des Vorlesens im Vorschulalter für die Entwicklung unterschiedlicher Fähigkeiten sowie den Handlungsbedarf in diesem Bereich hervor, dem auch die vorliegende Studie gerecht werden möchte. Aus der folgenden Darstellung ausgewählter Studien zum Vorlesen mit begleitenden Aktivitäten wird ersichtlich, dass im Gegensatz zur vorliegenden Studie, bei der die Herausforderung von monologischer Textproduktion eine zentrale Rolle spielt, sowohl Vorlesegespräche als auch Dialogic Reading auf die Anregung von dialogisch angelegter Sprachproduktion abzielen, die eher dem mündlichen Sprachregister zuzuordnen ist. So kommentieren Müller und Stark Dialogic Reading folgendermaßen: „[…] communication is dialogic (not monologic)“ (Müller/ Stark 2016, S.-4). Studien zu Buchgesprächen, die zwischen Eltern und Kindern stattfinden, sind sowohl zahlreich als auch methodisch und disziplinär vielfältig, so Isler. Zu den Untersuchungen, die Diskursmuster der Eltern im Gespräch mit ihren Kindern zum Thema machen, gehört z. B. die Studie Vorlesen in der Familie von Petra Wieler. (Vgl. Isler 2014, S. 49) Anliegen dieser Fallstudie war es, „[d]ie musterhafte Struktur ‚realer‘ Vorlesegespräche mit Vierjährigen in sozial unterschiedlichen Familienkontexten offenzulegen“ (Wieler 1997, S.-150). Als wichtigstes Merkmal, in dem sich die untersuchten Vorlesegespräche zwischen El‐ tern und Vierjährigen in sozial-differenten Familienkontexten unterscheiden, wurde die Berücksichtigung der kindlichen Bilderbuch-Kommentare durch die vorlesenden Erwachsenen genannt. (Ebd., S.-313) Wieler konnte diese Beobachtung bereits anhand einer sozial-vergleichenden Rekonstruktion zweier Vorlesegespräche machen: In einer Familie, die der unteren sozialen Schicht zugeordnet werden kann, wehrte die Mutter verständ‐ nissichernde Fragen des Kindes ab oder beantwortete sie nur knapp. In einer anderen Familie, die der mittleren sozialen Schicht angehört, folgten diesem Typus kindlicher Fragen ausführliche Erläuterungen. (Vgl. ebd.) Das beschrie‐ bene „Phänomen der sozial-differenten Ausprägung familialer Vorleseroutinen“ (ebd.) zeigte sich auch anhand weiterer ausgewählter Gesprächssequenzen, die aus dem erhobenen Korpus an Vorleseprotokollen stammen. (Vgl. ebd.) Im Vergleich dazu zeigen die Auswertungen der Interviews, die mit den Müt‐ tern geführt wurden, dass die Mütter aller sozialen Milieus die dialogischen Komponenten des Vorlesens anerkennen (vgl. ebd., S. 315). Wieler nahm eine Unterscheidung „zwischen einer eher ‚geschlossenen‘ und einer eher ‚offenen‘ 74 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="75"?> familialen Vorlesepraxis in den verschiedenen sozialen Milieus“ (ebd., S. 317) vor. Dabei werden den Vorlesenden verschiedene Konzepte unterstellt: Mit der eher geschlossenen Vorlesepraxis korrespondiert die Auffassung des Vorlesens „als ‚Mitteilen eines Textes‘“ (ebd.). Diese geht damit einher, dass das Kind die Rolle des stillschweigenden Zuhörers zugewiesen bekommt. Mit der eher offenen Vorlesepraxis hingegen korrespondiert die Auffassung von Vorlesen „als ‚gemeinsame Vergegenwärtigung einer Geschichte‘“ (ebd.). Das Kind wird hierbei darin bestärkt, eigene Beiträge zu liefern in der Rolle als aktiver Rezeptions- und Gesprächspartner. (Vgl. ebd., S.-317f.) In Studien zum Vorlesen im Vorschulalter wurden Formen von Interaktionen herausgearbeitet, die als fördernd gesehen werden können, so Spinner. Mit Bezug zu Wielers Studie ist der Grundsatz zu nennen, „Kindern Raum zur ak‐ tiven Rezeption und zum problementfaltenden Gespräch“ (Spinner 2005, S. 154) zu geben. Einige grundlegende Erkenntnisse aus der familialen Vorlesesituation sind in Kaspar H. Spinners didaktisch-methodische Überlegungen zum Vorlesen in der Schule eingegangen. (Vgl. ebd.) Den Begriff Vorlesegespräch entnimmt er den Untersuchungen von Wieler (vgl. Spinner 2004, S. 294). Bei seinem Konzept der Vorlesegespräche mit höreraktivierenden Impulsen entwickelte Spinner fünf Impulstypen (vgl. Spinner 2004, S. 296f.). Um die Gefahr des Abschweifens vom vorgelesenen Text zu vermeiden, werden die Gesprächseinlagen kurz gehalten. Bei der Durchführung eines Vorlesegespräches ist es bedeutsam, durch die Unterbrechungen „die imaginative Verstrickung in den Text“ (ebd., S. 295) nicht zu stören, wobei die Impulse gleichzeitig auch zur Anregung der Vorstellungsbildung dienen können. (Vgl. ebd.) Neben der Vorstellungsbildung und der Fähigkeit zur Perspektivübernahme als den beiden zentralen Kategorien literarischer Rezeptionskompetenz werden eine Vielzahl weiterer Aspekte des literarischen Lernens angesprochen, z. B. die Fähigkeit zum Nachvollzug der narrativen Handlungslogik, die Fähigkeit zum Verstehen metapho‐ rischer und symbolischer Ausdrucksweise sowie die Fähigkeit zum literarischen Gespräch (vgl. Spinner 2006). (Kruse 2016, S.-105) Deutlich wird, dass Spinners Gesprächsimpulse auf dialogisch ausgerichtete Sprachproduktion angelegt sind und insbesondere dem literarischen Lernen dienen. „Weniger um literarisches, sondern vor allem um sprachliches Lernen mit Bil‐ derbüchern geht es im Rahmen des dialogic reading, das sich vor allem an Kinder im Vorschulalter richtet“ (Merklinger 2015, S. 91). Das Konzept Dialogic Rea‐ 3.3 Vorlesen 75 <?page no="76"?> 42 Whitehurst, Grover J./ Falco, F. L./ Lonigan, Christopher J. / Fischel, Janet E./ DeBaryshe, Barbara D./ Valdez-Menchaca, Marta C./ Caulfield, Marie B. (1988): Accelerating lang‐ uage development through picture book reading. In: Development Psychology, H. 24, S.-552-558. 43 An dieser Stelle sei auf die Überlegungen von Merklinger zur Formulierung der Aufga‐ benstellung beim diktierenden Schreiben (schreiben vs. erzählen bzw. sagen) hingewiesen (vgl. I.3.4; Merklinger 2012, S.-40). 44 Ein Überblick über weitere Forschungsergebnisse zum Dialogic Reading ist Schneider (2018) zu entnehmen (S.-66-68). ding 42 geht auf Whitehurst et al. (1988) zurück (vgl. Simsek/ Erdogan 2015, S. 755). „The main principle of dialogic reading is to teach children become a storyteller instead of passively listening to the story“ (ebd., S. 755). Anstatt nur passiv beim Vorlesen zuzuhören, sollen Kinder lernen, selbst Geschichtenerzähler zu sein (vgl. ebd.). An dieser Stelle wird eine Parallele zum Pretend Reading sichtbar: Während das Kind beim Dialogic Reading zum Geschichtenerzähler werden soll, nimmt es im Setting der vorliegenden Studie die Rolle des „Vorlesers“ ein. Aber schon allein die Wahl der Begriffe „story teller“ und „Vorleser“ weisen auf die stärkere Verortung im konzeptionell Mündlichen und konzeptionell Schrift‐ lichen hin. 43 Wie in Kapitel I.1 zur vorschulischen Sprachförderung thematisiert wird auf die Methode Dialogic Reading (Dialogisches Lesen) bei der alltagsinte‐ grierten Sprachförderung zurückgegriffen. 44 Exemplarisch sei im Folgenden die Studie von Simsek und Erdogan (2015) zum Dialogic Reading mit vierbis fünf‐ jährigen Kindern aus Familien der sozialen Unterschicht skizziert. Ziel dieser Studie war es, den Effekt einer vierwöchigen Dialogic Reading-Intervention auf die rezeptiven und expressiven Sprachfähigkeiten der Kinder zu untersuchen. Dazu wurden Kinder eines Kindergartens in der Türkei zufällig in zwei Gruppen eingeteilt. Der ersten Gruppe wurden über einem Zeitraum von vier Wochen acht Bilderbücher vorgelesen, wobei Gebrauch von den Techniken des Dialogic Reading gemacht wurde. Den Kindern der Kontrollgruppe wurden die gleichen acht Bilderbücher im traditionellen Lesemodus vorgelesen. (Vgl. ebd., S. 754) Um das Level der Sprachentwicklung der Kinder festzustellen, wurde der Test of Early Language Development-Third Edition (TELD-3) (Hresko/ Reid/ Hammill 1999) durchgeführt. Die Kinder nahmen an einem Prä- und einem Posttest teil. (Vgl. Simsek/ Erdogan 2015, S. 756). Die quantitativen Analysen zeigten, dass sich bei den Kindern, die am Dialogic Reading teilnahmen, signifikante Veränderungen in den Tests zeigten (vgl. ebd., S. 757). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Dialogic Reading eine sehr effektive Technik zu sein scheint, um die Sprachentwicklung von Vorschulkindern zu unterstützen (vgl. ebd., S. 758). „The dialogic reading is a highly effective reading technique in order to enhance the language development of preschool age children“ (ebd.). 76 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="77"?> 45 Stark bezieht sich an dieser Stelle auf folgende Publikation: Stark, Linda (2016): Vorlesen und Präteritum. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren (Thema Sprache, Wissenschaft für den Unterricht, Bd.-24). Während Simsek und Erdogan die Bedeutsamkeit von Dialogic Reading für die Entwicklung rezeptiver und produktiver Sprachfähigkeiten deutlich machen, weist Stark (2017) auf die Funktion von Vorlesegesprächen für die Entwicklung konzeptioneller Schriftlichkeit hin. „Das Vorlesen von Bilderbüchern scheint bei der Vorbereitung literaler Kompetenzen, insbesondere für das Verstehen und Verwenden konzeptionell schriftlicher Formen, eine zentrale Rolle zu spielen“ (Stark 2017, S. 127). Nach Stark wird der Wirkungszusammenhang „zwischen Gegebenheiten der Kommunikationssituation, Versprachlichungsst‐ rategien und der sprachlichen Oberfläche eines Textes“ (ebd., S. 129) oft vernachlässigt. Bilderbuchtexte enthalten häufig konzeptionell schriftliche Oberflächenstrukturen (z. B. Präteritum). Mit Hilfe des sprechakttheoretischen Modells des Vorlesens (Rothstein 2013) kann gezeigt werden, dass beim Vorlesen „kommunikationssituative Bedingungen der Distanz vorliegen“ (Stark 2017, S. 131). So hat der Vorlesende die Funktion, als Medium zu fungieren, während der physisch abwesende Autor der eigentliche Kommunikationspartner des zuhörenden Kindes ist. Neben dieser Distanzkommunikation finden in Vorlese‐ gesprächen zwischen Vorlesendem und Kind zudem direkte Kommunikation statt. Diese unterliegt den nähekommunikativen Bedingungen. Neben der Rolle „des medialen Übermittlers der Autorenbotschaft“ (ebd., S. 133), ist die zweite Rolle des Vorlesenden, der direkte Kommunikationspartner des Kindes zu sein. (Vgl. ebd., S. 131f.) Stark analysiert Vorlesegespräche unter der Fragestellung, „inwiefern Vorleseinteraktionen dem Kind Rückschlüsse auf den distalen, phy‐ sisch nicht wahrnehmbaren Kommunikationspartner Autor sowie auf die damit zusammenhängende doppelte Rolle des Vorlesenden erlauben“ (ebd., S. 134). Sie identifiziert vier Typen von Distanzhinweisen, die den Autor als Kommunikationspartner implizieren. (Vgl. ebd.) Mit Hilfe aller vier Distanzhinweistypen wird vom Vorlesenden seine eigene rezeptive Haltung verdeutlicht. Den Kindern werden durch die Distanzhinweistypen Zugänge zu bedeutsamen Merkmalen distanzkommunikativer Bedingungen während des Vorlesens er‐ öffnet. Dazu gehören die bereits genannte doppelte Funktion des Vorlesenden, der Autor als Kommunikationspartner und die raumzeitliche Trennung, ein Merkmal der kommunikationssituativen Distanz. 45 Als Fördermaßnahme für Kinder, denen der Zugang zu konzeptionell schriftlicher Sprache fehlt, da in der Familie wenig Sprachpraktiken stattfinden, schlägt Stark vor, dass Vorlesen in der Förder- und Unterrichtspraxis in noch stärkerem Maße als bislang stattfinden solle. Zudem sieht sie Potential im gezielten Einsatz von 3.3 Vorlesen 77 <?page no="78"?> 46 An dieser Stelle sei bereits darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Datenerhebung der vorliegenden Studie bei der Anleitung der Pretend-Reading-Situation bewusst auf die Durchführung eines Vorlesegesprächs verzichtet wird (zur Begründung vgl. Kapitel II.2.1 zum Erhebungsverfahren). Es liegt nämlich der besondere Fall vor, dass das Kind ein Bilderbuch „vorliest“, das ihm zuvor bereits mehrfach vorgelesen worden ist. Distanzhinweisen für den Erwerb der konzeptionellen Schriftsprache. (Vgl. ebd., S. 140) Ein Desiderat sieht Stark in der Überprüfung der Distanzhinweise im Hinblick auf ihre Wirksamkeit in empirischen Studien (vgl. ebd., S.-143). Wie bei der Darstellung der Studien und Methoden deutlich wurde, wird den während des Vorlesens stattfindenden Interaktionen zwischen Erwachsenem und Kind ein beachtliches Potential zur Initiierung von Lernprozessen zuge‐ sprochen. 46 So formuliert auch Merklinger treffend: Die Interaktion zwischen Vorleser und Zuhörer(n) hat […] entscheidenden Einfluss darauf, ob die einer Vorlesesituation innewohnenden Lernpotenziale zur Entfaltung kommen können. Das gilt für die Entwicklung basaler Lesekompetenzen ebenso wie für literar-ästhetisches und sprachliches Lernen. (Merklinger 2015, S.-91) Nachdem der Blick auf Methoden zur Anregung von Sprachproduktion wäh‐ rend des Vorlesens gerichtet wurde, die - wie gezeigt werden konnte - stets dialogisch angelegt ist, dient das folgende Kapitel dazu, Methoden zur Heraus‐ forderung von monologischer Textproduktion im Medium der Mündlichkeit in den Blick zu nehmen. 3.4 Textproduktion im Medium der Mündlichkeit Im Folgenden werden drei Erhebungsinstrumente dargestellt, die dazu dienen, Kinder im Vorschulalter herauszufordern, Texte im Medium der Mündlichkeit zu produzieren. Dazu gehören die Methode diktierendes Schreiben nach Merklinger (2011, 2012), das Kinderdiktat von Sauerborn (2015) und das Instrument zur Einschätzung mündlicher Textfähigkeiten von Isler, Hefti, Kirchhofer und Din‐ kelmann (2018). Die Studien, in die diese eingebettet sind, werden skizziert. Wie die folgende Darstellung zeigen wird, haben die drei Erhebungsinstrumente ge‐ meinsam, dass mit ihnen - wie mit dem Erhebungsinstrument der vorliegenden Studie - die Produktion monologischer Texte bei Vorschulkindern herausgefor‐ dert werden soll. In allen drei Settings notiert die oder der Erwachsene etwas, das vom Kind geäußert wird, mit der Absicht, auf diese Weise eine monologische Textproduktion anzuregen. Die Terminologie, die in den drei Konzepten genutzt wird, unterscheidet sich leicht voneinander: Während Isler et al. von mündlichen 78 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="79"?> 47 Diese Studie ist im Jahr 2018 im Rahmen einer Zweitveröffentlichung digital er‐ schienen: https: / / sprachdidaktik.phil-fak.uni-koeln.de/ sites/ koebes/ user_upload/ KoeB eS-B-1-2018-Merklinger.pdf. Texten (Isler et al. 2018, S. 5) und einer solistischen Produktionsweise (ebd., S. 8) sprechen, nutzen Merklinger und Sauerborn den Begriff konzeptionelle Schriftlichkeit. Bei Merklinger und Isler er al. wird zudem die Bedeutung des Verhaltens der oder des Erwachsenen für die Herausforderung einer monologi‐ schen Sprachproduktion (vgl. Isler et al. 2018, S. 16) bzw. von konzeptioneller Schriftlichkeit (vgl. Merklinger 2011, S. 194) hervorgehoben. Während es sich bei den von Isler et al. und Sauerborn vorgestellten Vorgehensweisen ausschließlich um Erhebungsinstrumente im Rahmen von Studien handelt (vgl. Isler et al. 2018, S. 15), kann das diktierende Schreiben nach Merklinger zusätzlich als didaktische Methode bezeichnet werden. Das Erkenntnisinteresse der Studie Frühe Zugänge zur Schriftlichkeit (2011) 47 von Daniela Merklinger „bestand darin, herauszufinden, wie sich konzeptionell schriftliche Fähigkeiten bei Kindern herausbilden, die noch nicht selbstständig schreiben können“ (Merklinger 2011, S. 189). Dazu bekamen Kinder aus Vor‐ schulklassen die Möglichkeit, zu vier Zeitpunkten einer oder einem Erwach‐ senen einen eigenen Text zu einem Bilderbuch zu diktieren. Mit Hilfe der Kin‐ dertexte sowie der Transkripte untersuchte Merklinger, wie sich die Kinder der Schriftlichkeit nähern. Dabei lag der Fokus auf dem Prozess des Diktierens. (Vgl. ebd., S. 17) Nach Merklinger sollte die Diktiersituation den Kindern Ressourcen zur Verfügung stellen, damit alle Kinder unabhängig von ihren Vorerfahrungen die Diktiersituation „im Sinne ‚lernenden Schreibens‘ für ihren Zugang zu Schriftlichkeit nutzen können“ (ebd., S. 192). Dadurch, dass Kinder die Aufgabe bekommen, etwas zu einem ihnen bekannten Bilderbuch zu diktieren, besteht die Möglichkeit, „beim Formulieren ihrer Gedanken auf sprachliche, literarische und mediale Muster der Schreibvorgabe zurück[zu]greifen“ (ebd.) (vgl. ebd.). Merklinger fand heraus, dass vier Aspekte von Schriftlichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit der Kinder rückten: Der Formaspekt der Sprache, wortge‐ naues Formulieren, die Schriftzeichen auf dem Papier und die Materialität des Schreibens. (Vgl. ebd.) Die Studie zeigte, dass es sich bei der Diktiersituation nicht nur um eine Beobachtungssituation handelt, sondern dass diese auch „eine Lernsituation für frühe Zugänge zu (konzeptioneller) Schriftlichkeit“ (ebd., S. 189) dargestellt (vgl. ebd.). Im diktierenden Schreiben sieht Merklinger ein Format, das dem Erwerb von konzeptioneller Schriftlichkeit dienen kann. Ent‐ scheidend ist, „dass keine Gesprächs-, sondern eine Schreibsituation entsteht, die von Distanzsprachlichkeit geprägt ist“ (ebd., S. 132). (Vgl. ebd., S. 192) 3.4 Textproduktion im Medium der Mündlichkeit 79 <?page no="80"?> 48 Dieses Konzept wird in Kapitel I.7 dargestellt. Eine bedeutsame Voraussetzung dafür, dass das diktierende Kind eine Haltung des Schreibens einnimmt, ist die Langsamkeit des Schreibens, so eine zentrale Erkenntnis der Studie zum diktierenden Schreiben. Die Langsamkeit, „die unmit‐ telbar an den medialen Aspekt gebunden ist“ (ebd., S. 195), wird durch lautes Mitsprechen im Schreibtempo durch die Skriptorin oder den Skriptor für die Kinder hörbar. Indem sich die Kinder auf die Langsamkeit einstellen, „wird eine Verschiebung in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit möglich“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Bekommen Kinder die Möglichkeit, einer Skriptorin oder einem Skriptor eigene Texte zu diktieren, „können sie ihr Wissen über Schriftlichkeit und Schreiben (und damit ihr implizites Wissen) in der Diktiersituation erproben - und gleichzeitig Neues erfahren [Hervorh. im Original]“ (Merklinger 2012, S. 11). Zudem eröffnet die Diktiersituation der Skriptorin oder dem Skriptor die Möglichkeit, etwas über die Vorstellungen zu erfahren, die das diktierende Kind vom Schreiben sowie von Texten hat (vgl. ebd., S.-54). Die Methode des diktierenden Schreibens wurde von Merklinger „vor dem Hin‐ tergrund des ‚Schreibens zu Vorgaben‘ konzipiert“ (ebd., S.-35) (vgl. ebd.) 48 . Für das diktierende Schreiben bietet sich folgende Aufgabenstellung an: „Du hast die Geschichte … [Titel der Geschichte oder auch die zentrale Figur(en) der Geschichte benennen] gehört. Auf diesem Schreibblatt kannst du etwas dazu schreiben, was DIR wichtig ist. Ich schreibe es für dich.“ (Ebd., S.-40) Merklinger merkt dazu an: „Die Formulierung ist dabei wichtig: Nicht ‚erzählen‘, nicht ‚sagen‘, sondern: SCHREIBEN [Hervorh. im Original]“ (ebd.). Während des Diktierprozesses sitzen das Kind und die Skriptorin bzw. der Skriptor nebeneinander. Dabei kann das Kind sehen, wie sein Text auf dem Papier entsteht. Mittig vor beiden Personen liegt das Schreibblatt. Eine zentrale Bedeutung nimmt während der Diktiersituation die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf dieses ein. (Vgl. ebd., S. 49) Nach Merklinger hat das Verhalten der Skriptorin oder des Skriptors „[…] einen entscheidenden Einfluss darauf, dass die Kinder in der Diktiersituation einen Zugang auch zur konzeptionellen Dimension des Schreibens finden können“ (ebd., S. 43). Wenn die oder der Erwachsene eine „Grundhaltung der Schriftsprachlichkeit“ (ebd.) einnimmt, kann sie oder er auch das Kind „in seiner ‚Haltung des Schreibens‘ unterstützen und es zugleich zu einem Handeln in seiner ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ herausfordern“ (ebd., S. 44). Zu den Verhaltensweisen der Skriptorin oder des Skriptors, die sich in der Studie als zentrale Impulse erwiesen haben, um bei den Kindern eine Haltung des Schreibens anzuregen, gehört, dem Kind „keine Impulse zum Weiterschreiben“ (Merklinger 2012, S. 54) zu geben. Stattdessen soll dem Kind signalisiert werden, 80 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="81"?> dass es selbst bestimmen kann, wann sein Text fertig ist. Zum einen soll das Kind die Erfahrung machen, „dass man seine Gedanken beim Schreiben ganz allein entfalten muss“ (ebd.). Zum anderen besteht die Gefahr, dass die Situation in einen Dialog wechselt, wenn der Skriptor nach einer Fortsetzung fragt. (Vgl. ebd., S.-43ff.) Würde der Skriptor nach der Fortsetzung fragen, wechselt die Situation leicht in einen Dialog, also vom Diktieren zum Gespräch, von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit und das Kind reagiert z. B. mit Halbsätzen wie im Mündlichen (z. B. ‚Dass die Maus das gesagt hat mit der Grüffelogrütze‘) oder es reiht weitere Aspekte aneinander, die es von sich […] [aus] eigentlich gar nicht aufschreiben würde. (Ebd.) Zudem sollen Formulierungen des Kindes durch die Skriptorin oder den Skriptor weder beeinflusst noch inhaltlich verändert werden, damit Kinder den entste‐ henden Text als ihren eigenen empfinden können. Außerdem können die Kinder nur so „den Transformationsprozess von der inneren zur geschriebenen Sprache (Wygotski 1964)“ (Merklinger 2012, S.-54) erfahren. (Vgl. ebd.) Neben verschiedenen Verhaltensweisen, mit denen Kinder in ihrem Zugang zur Schriftlichkeit unterstützt werden können (vgl. ebd., S. 55), nennt Merklinger als weitere Möglichkeiten: „[i]mplizit zu Schriftlichkeit herausfordern“ (ebd.) und „[e]xplizit zu Schriftlichkeit herausfordern“ (ebd., S. 59). Sie unterscheidet vier Möglichkeiten zur impliziten Herausforderung von Schriftlichkeit in Diktier‐ situationen: „Vorlesen von bereits Geschriebenem“ (ebd., S. 55), „Während des Aufschreibens gezielt Pausen machen“ (ebd., S. 56), „Als Strukturierungshilfe einen Satzanfang notieren“ (ebd., S. 57) und „Dem Kind Zeit geben, eine Formulierung zu finden“ (ebd., S. 58) (vgl. dazu ebd., S. 55-59). Diktiert das Kind einen Satz, der entweder nicht an das zuvor Geschriebene anknüpft oder der eine ungewöhnliche Reihenfolge aufweist, kann die Skriptorin oder der Skriptor zunächst noch einmal vorlesen, was das Kind bereits „geschrieben“ hat. (Vgl. ebd., S. 55f.) Die Skriptorin oder der Skriptor kann zudem bewusst die Aufmerksamkeit des Kindes auf sogenannte „Schlüsselstellen für den Übergang zu konzeptioneller Schriftlichkeit“ (ebd., S. 56) lenken, indem sie oder er beim Aufschreiben an solchen Stellen gezielt Pausen setzt, „die in Bezug auf die sprachliche Struktur eine Entscheidung erfordern“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Falls Kinder etwas erzählen anstatt zu diktieren, hat die Skriptorin oder der Skriptor die Option, einen Satzanfang aus dem vom Kind Geäußerten aufzuschreiben. Dabei ist es wichtig, nur Wörter zu wählen, die vom Kind zuvor selbst genutzt worden sind. (Vgl. ebd., S.-97) Die vierte Möglichkeit besteht darin, den Kindern Zeit zu geben. „Eine Schreibidee zu entwickeln und eine passende Formulierung zu finden, braucht 3.4 Textproduktion im Medium der Mündlichkeit 81 <?page no="82"?> Zeit“ (ebd., S. 58). Bei dieser Strategie muss die Skriptorin bzw. der Skriptor darauf vertrauen, dass die Kinder intensiv nachdenken und die Pause nicht daraus resultiert, dass sie mit ihrem Text bereits fertig sind. In solchen Situa‐ tionen kann den Kindern auch signalisiert werden, dass sie ruhig überlegen können. Neben den bereits dargestellten Möglichkeiten, implizit zu Schriftlichkeit herauszufordern, besteht auch die Möglichkeit, ein Kind „auf metasprachlicher Ebene“ (ebd., S. 59) dazu herauszufordern, „eine ‚Haltung des Schreibens‘ einzunehmen“ (ebd.). (Vgl. ebd., S.-58f.) Ähnlich wie Merklinger lässt auch Hanna Sauerborn Kinder Texte diktieren. Zur Datenerhebung im Rahmen ihrer Studie Zur Bedeutung der Early Literacy für den Schriftspracherwerb nutzt Sauerborn unter anderem die Methode Kinderdiktat (vgl. Sauerborn 2015, S. 129ff.; Kapitel I.3.2). Zur Erhebung von Lit 2 , dem „Grad an Vertrautheit mit der Schriftkultur “ (Sauerborn 2015, S.-115), wird Gebrauch von einer „Erzähl-Aufgabe im Sinne eines Kinderdiktats“ (ebd., S. 129) gemacht. Dieser Aufgabe liegt die Annahme zugrunde, dass sich Vertrautheit mit unserer Schrift- und Erzählkultur bei der Erzählung einer Geschichte nach einer Bildvorlage in der Fähigkeit zeigt, in einem zunehmend literaten Register zu sprechen. (Ebd., S. 129) Für das Kinderdiktat wurde ein Bilderbuch ausgewählt, das eine sich nach einem klaren Schema entwickelnde Handlung hat. Die Seiten des Bilderbuches wurden ohne den Text zur Verfügung gestellt. Sauerborn bezieht sich u. a. auf eine Beobachtung von Becker (2005), dass jüngere Kinder, die zu einer Bildergeschichte einen Text produzieren sollten, oft reine Bildbeschreibungen produzierten. Deshalb erachtet es Sauerborn als bedeutsam, bei der Arbeitsan‐ weisung, „den Kindern zu helfen, potentielle - momentan jedoch abwesende - Zuhörer für ihre Geschichte vor Augen zu haben, was zudem konzeptionell schriftliche Äußerungen evozieren sollte“ (ebd., S. 131). Die Aufgabe, die die Kinder im Rahmen von Sauerborns Untersuchung erhielten, lautete daher: Schau mal, ich habe neulich ein Buch gekauft, das ich meinen Kindern vorlesen wollte. Aber als ich zu Hause das Buch aufgeschlagen hatte, habe ich gemerkt, dass da gar keine Schrift drin ist - dass es nichts zum Vorlesen gibt. Jetzt machen wir es so: Du schaust dir nun das Buch einmal an. Dann schaust du es dir noch mal an und erzählst mir dann die Geschichte und ich schreibe sie dabei auf. Dann kann ich meinen Kindern deine Geschichte erzählen. (Sauerborn 2015, S.-131) Die Erhebung fand zu drei Messzeitpunkten statt (vgl. ebd., S. 129ff.). Das Kinderdiktat wurde u. a. auf die Merkmale Satzlänge, konzeptionell schriftliche Elemente, Tempusverwendung, Einführung des Protagonisten, Konnektoren, 82 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="83"?> kohärenz-stiftende Elemente, Emotionalität, kohärente Rekonstruierbarkeit, „Bewertung und Gesprächsanschuss auf der kommunikativen Meta-Ebene“ (ebd., S. 136), „Wegfall von Gesprächspartikeln/ Dialog-typischen Elementen“ (ebd., S. 137) untersucht. (Vgl. ebd., S. 135-137) Bei der Analyse konzeptio‐ nell schriftlicher Elemente wurde insbesondere die lexikalische Ebene in den Blick genommen. Sauerborn nennt hier Phraseologismen und auffällige lexika‐ lische Elemente (vgl. ebd., S. 136). Zum Wegfall von Gesprächspartikeln und dialog-typischen Elementen schreibt Sauerborn erläuternd: „[…] der Wegfall der Gesprächspartikel zeigt die Versiertheit in der Textsorte monologisches Erzählen [Hervorh. im Original]“ (ebd., S.-137). Sauerborns Studie enthält fünf Einzelfallbeschreibungen (vgl. ebd., S.-156), in denen sich „ein breites Spektrum der Literacy-Entwicklung“ (ebd., S. 174) wider‐ spiegelt. Das Kinderdiktat erwies sich als Instrument, mit dem hierarchie-höhere Prozesse abgebildet werden können und das es ermöglicht, „Rückschlüsse auf die Lit 2 zu ziehen“ (ebd., S. 175). Die Regression einiger Texte von einem zum anderen Messzeitpunkt zeigt jedoch, dass es nicht 100 % reliabel möglich war. Des Weiteren äußert Sauerborn die Vermutung, „dass ein so anspruchsvolles Aufgabenformat besonders sensitiv für unterschiedliche Tagesverfassungen ist“ (ebd., S.-176). (Vgl. ebd., S.-174-176) Isler et al. stellen 2018 ein „Instrument zur Einschätzung mündlicher Textfähig‐ keiten“ (Isler et al. 2018, S. 2) von Kindergartenkindern vor. Dieses wurde für die - zu diesem Zeitpunkt geplante - Interventionsstudie Erwerbsunterstützung mündlicher Textfähigkeiten im Kindergarten (ebd., S. 15) entwickelt. (Vgl. ebd.) Im Rahmen dieses Projektes sollen Zusammenhänge „zwischen der Qualität des Lehrpersonenhandelns im Kindergarten und dem Erwerbsverlauf mündli‐ cher Textfähigkeiten der Kinder untersucht werden“ (ebd., S. 4). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich eine Optimierung des Lehrpersonenhandelns positiv auf den Erwerb solcher Fähigkeiten auswirkt (vgl. ebd.). Folgenden drei Forschungsfragen wird im Rahmen der Studie nachgegangen: 1. Wie entwickeln sich die mündlichen Textfähigkeiten der Kinder vom Anfang bis zum Ende des Kindergartens (während 18 Monaten)? 2. Lässt sich das kommunikative Handeln von Lehrpersonen in Alltagsgesprächen durch eine Weiterbildung (videoba‐ siertes Coaching und Gruppenweiterbildung) weiterentwickeln? 3. Wirkt sich ein optimiertes kommunikatives Handeln auf den Erwerb mündlicher Textfähigkeiten durch die Kinder aus? “ (Ebd.) Für die Interventionsstudie wurde ein Instrument benötigt, mit dem münd‐ liche Textfähigkeiten von vierbis sechsjährigen Kindern verlässlich einge‐ schätzt werden können. Bereits existierende Instrumente, die der Einschätzung 3.4 Textproduktion im Medium der Mündlichkeit 83 <?page no="84"?> oder Messung produktiver Sprachfähigkeiten bei Kindern dieser Altersgruppe dienen, „fokussieren in der Regel lokale oder oberflächliche Aspekte wie Wortschatz, Phonologie, Morphologie oder Syntax“ (ebd., S. 5). „Die Ratingskala zur Erfassung bildungssprachlicher Kompetenzen von Kindern im Vorschul‐ alter RaBi (Tietze, Rank & Wildemann, 2016)“ (Isler et. al. 2018, S. 5) sowie das „Dortmunder Beobachtungsinstrument zur Interaktion und Narrationsent‐ wicklung DO-BINE (Quasthoff et al., 2011)“ (Isler et. al. 2018, S. 5) - zwei Verfahren, mit denen der Blick auf komplexere Sprachfähigkeiten gerichtet werden kann - kamen aus verschiedenen Gründen nicht für die geplante Interventionsstudie in Frage. Dem von Isler et al. entwickelten Instrument zur Einschätzung mündlicher Textfähigkeiten liegt das Konstrukt Mündliche Textfähigkeiten zugrunde. Dieses Konstrukt weist vier Facetten auf: Zur inter‐ aktionalen Facette wird die Fähigkeit gerechnet, als primäre Sprecherin oder primärer Sprecher (zunehmend) solistische Gesprächsbeiträge zu produzieren. Zur referenziellen Facette gehört es, in der Lage zu sein, distante Inhalte zu repräsentieren. Die strukturelle Facette betrifft die „Fähigkeit zur textuellen Organisation […] von Propositionen als mentale Modelle“ (ebd., S. 6). Die konventionelle Facette bezieht sich auf die Fähigkeit, genretypische Muster zur Bearbeitung kommunikativer Aufgaben zu verwenden. Nach Isler et al. ließen sich die längeren monologischen Gesprächsbeiträge, die sie als mündliche Texte bezeichnen, ebenfalls mit anderen Konzepten fassen. Es werden an dieser Stelle die Begriffe konzeptionelle Schriftlichkeit (Koch/ Oesterreicher 1994; Feilke 2002), globalstrukturierte Diskurseinheiten (Hausendorf/ Quasthoff 1996) und bildungssprachliche Praktiken (Morek/ Heller 2012) genannt. Aus zwei Gründen schlagen Isler et al. jedoch einen neuen Begriff vor: Erstens nennen sie die Absicht, die bereits bestehenden Konzeptionen in ein übergreifendes Modell zu integrieren und zweitens lässt sich - so zeigt es die bisherige Erfahrung - im Praxisfeld gut mit dem Begriff mündliche Texte arbeiten. (Vgl. Isler et. al. 2018, S.-5f.) Bei der Datenerhebung im Kindergarten erzählt jeweils ein Kind einer Testlei‐ terin einen Trickfilm nach. Nachdem sich das Kind einen sprachfreien Trickfilm angeschaut hat, erhält es von der Testleiterin folgende Aufgabe: „Erzähl mir, was im Film passiert ist“ (ebd. S.-9; vgl. ebd.). Während das Kind erzählt, notiert die Testleiterin, was gesagt wird. Das Mitschreiben der Testleiterin ist dabei für das Kind gut sichtbar. Als nächstes wird das Kind eingeladen, seine Nacherzählung zu ergänzen. Auffällige Ergänzungen werden von der Testleiterin erneut notiert. Der Impuls wird von der Testleiterin drei Mal wiederholt bzw. so lange, bis die Nacherzählung vom Kind für beendet erklärt wird. Das Mitschreiben der Testleiterin dient dazu, dem Kind die kommunikative Aufgabe zu verdeutlichen. 84 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="85"?> (Vgl. ebd., S. 6) „Indem die Textleiterin ihrer Aufmerksamkeit auf das Blatt richtet, wird für das Kind deutlich, dass es die Rolle der primären Sprecherin bzw. des primären Sprechers (Hausendorf/ Quasthoff, 1996) dauerhaft innehat und nicht auf Gegenzüge der Testleiterin warten soll“ (Isler et al. 2018, S. 6). Das Mitschreiben soll somit den Zweck erfüllen, dem Kind zu verdeutlichen, dass es nicht zu einer dialogischen, sondern zu einer monologischen Sprachproduktion aufgefordert ist. Es ist eine längsschnittliche Durchführung mit drei Erhebungen pro Kind geplant. Die bei der Datenaufbereitung zu erstellenden Textexzerpte werden anhand der vier beschriebenen Facetten eingeschätzt. (Vgl. ebd., S. 7) Es folgt eine Vorstellung der Konzeptionen der Facetten, inklusive ihrer Ausdifferenzie‐ rungen in verschiedene Kriterien. Facette 1: Solistische Produktionsweise Zur Realisierung mündlicher Texte müssen die Kinder in der Rolle der primären Sprecherin oder des primären Sprechers agieren. Die Testleitung hingegen übernimmt weitgehend die Rolle der Zuhörerin oder des Zuhörers. Hierbei handelt es sich um eine asymmetrische Rollenverteilung, die im Kontrast zur in Alltagsgesprächen vorherrschenden symmetrischen Rollenverteilung steht. „Bereits erworbene Fähigkeiten zur Übernahme und Aufrechterhaltung der Rolle der primären Sprecherin bzw. des primären Sprechers unterstützen die Kinder dabei, längere Texte selbstständig zu produzieren“ (ebd., S. 8). Bedingt durch die Standardisierung von Erzählimpuls und Handeln der Testleitung ist es möglich, „anhand von Indikatoren des kindlichen Handelns (wie Umfang der sprachlichen Äusserungen und Selbständigkeit bei deren Produktion) auf solche individuell erworbenen Fähigkeiten“ (ebd.) zu schließen. Als Kriterien dienen die folgenden Indikatoren: Die Anzahl der vom Kind realisierten Züge, die Länge des längsten Einzelzuges und die durchschnittliche Zuglänge. (Vgl. ebd.) Facette 2: Sprachliche Repräsentation distanter Inhalte Die Kinder benötigen spezifische Fähigkeiten zur sprachlichen Repräsentation von distanten Inhalten. Diese Inhalte sind nach der Filmbetrachtung im geteilten Wahrnehmungsraum nicht mehr präsent und können weder angefasst, noch durch Zeigen zum Thema gemacht werden können. Isler et al. unterscheiden bei den Referenzräumen zwischen der sichtbaren Welt des Trickfilms (im Film Sichtbares und Hörbares), der unsichtbaren Welt des Trickfilms und weiteren filmbezogenen Aussagen des Kindes. Bei diesen kann es sich um Weiter- oder Vorauserzählungen der Filmhandlung, eigene Erlebnisse, Bezüge zu Ge‐ schichten oder anderen Filmen oder Kommentare handeln. Die „Repräsentation 3.4 Textproduktion im Medium der Mündlichkeit 85 <?page no="86"?> der sichtbaren Welten“ (ebd., S. 9) bildet bei der Einschätzung jedoch das Basiskriterium, da nur dies in der Aufgabenstellung gefordert wurde. Als Kri‐ terien gelten folgende Indikatoren: Die „Anzahl der sprachlich repräsentierten sichtbaren (oder hörbaren) Elemente des Films“ (ebd., S. 9) und das Vorkommen weiterer Elemente. (Vgl. ebd., S.-8f.) Facette 3: Textuelle Organisation Um ein mentales Modell - in diesem Fall eine Geschichte, die als Trickfilm rezipiert wurde - als kohärenten Text sprachlich zu repräsentieren, ist es nötig, Propositionen (Aussagen) „in eine Reihenfolge zu bringen“ (ebd., S. 9) und zu verknüpfen. „Die textuelle Organisation manifestiert sich entsprechend inhaltlich und sprachformal“ (ebd.) Als sprachliche Basiskriterien gelten die chronologische Abfolge der Propositionen sowie das Vorkommen und die Varia‐ tion „einfacher sprachlicher Verknüpfungsmittel (Pronomen, additiv-reihende Konjunktionen)“ (ebd.). Als ergänzende Kompensationskriterien gelten das „Vorkommen komplexerer Verknüpfungsmittel[] (z. B. kausale Konjunktionen oder hierarchische Satzgefüge)“ (ebd.) und das Vorhandensein „expliziter Hin‐ weise auf die Textorganisation (z. B. Textgrenzen oder Textteile)“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Facette 4: Genretypische Muster Zu den genretypischen Aufgaben, die beim Nacherzählen sprachlich zu bear‐ beiten sind, gehören „die Klärung des Schauplatzes und/ oder der Ausgangslage, die Einführung der Hauptfiguren, die Darstellung der Problemlage, die Dar‐ stellung mehrerer Lösungsversuche, die Darstellung der Lösung sowie der Abschluss der Geschichte“ (ebd., S. 9). Wenn die Kinder bereits mit Erzählauf‐ gaben vertraut sind, kann beim Nacherzählen der Trickfilme eine Orientierung „an dieser ‚story grammar‘ (Thorndyke 1977)“ (Isler et al. 2018. S. 9) stattfinden. Zur Klärung und Aufrechterhaltung der Sprachhandlung ‚Erzählen‘ sowie zur Invol‐ vierung der Zuhörerin oder des Zuhörers können einzelne Elemente mit sprachlichen Mitteln hervorgehoben und ausgestaltet werden. Dazu gehören Verstärkungen durch Wiederholung oder Nachdruck, Elemente mit besonderen narrativen Funktionen, Inszenierungen (z. B. durch Figurenstimmen oder Lautmalereien) […]. (Ebd.) Basiskriterium der vierten Facette bildet die Anzahl der Erzählaufgaben, die von den Kindern bearbeitet wurden. Dabei wird auch ihre Ausführlichkeit einbe‐ zogen. Hinzu kommen das Vorhandensein von Ausgestaltungs- und Hervorhe‐ bungsmitteln und deren Häufigkeit sowie das Vorhandensein unterschiedlicher Typen von Ausgestaltungs- und Hervorhebungsmitteln. (Vgl. ebd.) 86 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="87"?> Aus der Entwicklung des vorgestellten Instruments resultieren nach Isler et al. Impulse zum sprachdidaktischen Fachdiskurs (vgl. ebd., S. 15). Als ersten Punkt nennen Isler et al. die Stärkung eines erweiterten Verständnisses „von Vorläuferfähigkeiten des Lesens und Schreibens“ (ebd.). Dieses nimmt „neben basalen Schriftfertigkeiten (wie phonologischer Bewusstheit oder Kenntnis der Laut-Buchstaben-Korrespondenzen; vgl. z. B. Paris, 2011) auch hierarchiehöhere Textfähigkeiten (vgl. z. B. Schmotz & Dutke, 2004) in den Blick“ (ebd.). Diese hierarchiehöheren Textfähigkeiten können im Medium der Mündlichkeit schon „lange vor dem Erstunterricht in Lesen und Schreiben erworben und unterstützt werden“ (ebd.). Als zweiten Punkt nennen Isler et al., dass in dem Modell der mündlichen Textfähigkeiten unterschiedliche „Konzeptionen von übersatz‐ mässigen, textförmigen Sprachproduktionen“ (ebd.) integriert werden. Drittens dient das Konstrukt als Vorschlag, mündliche Textfähigkeiten sowohl genre‐ übergreifend als auch genrespezifisch zu modellieren. Möglicherweise können die ersten drei Facetten des Konstrukts der mündlichen Textfähigkeiten an mündliche Texte aller Art angelegt werden. Als vierten Punkt weisen Isler et al. darauf hin, dass das Konstrukt Mündliche Textfähigkeiten über eine konsequente Ausrichtung auf „globale, textuelle Eigenschaften“ (ebd., S. 16) verfügt. Im Unterschied zu allen anderen Isler et al. bekannten Instrumenten wird „bewusst darauf verzichtet, lokale sprachformale Merkmale des Sprachsystems als eigene, nebengeordnete Facetten zu konzipieren“ (ebd.). Zudem sei darauf hingewiesen, dass es das vorgestellte Erhebungssetting ermöglicht, „bei 4-jährigen Kindern in standardisierter Weise monologische Sprachproduktionen zu elizitieren, indem durch das Mitschreiben die Sprecherwartung an das Kind gut erkennbar aufrechterhalten wird“ (ebd.). (Vgl. ebd., S.-15f.) Eine Erprobung des Instruments zur Einschätzung mündlicher Textfähigkeiten zeigte, dass mit diesem „das Konstrukt ‚Mündliche Textfähigkeiten‘ mittels Beobachtung der vier Facetten Solistische Produktionsweise, Repräsentation dis‐ tanter Inhalte, Textuelle Organisation und Genretypische Muster […] eingeschätzt werden [kann] [Hervorh. d. Verf.]“ (ebd., S.-15). (Vgl. ebd.) Während in den Settings von Isler et al. und Sauerborn durch die Formulierung der Aufgabe eine Erzählung gefordert ist, findet in Merklingers Setting zum dik‐ tierenden Schreiben keine Festlegung auf eine bestimmte Textsorte statt. Auch die Aufgabenstellungen unterscheiden sich voneinander: Während Merklinger bewusst auf den Begriff erzählen verzichtet, um kein Gespräch bzw. konzeptio‐ nelle Mündlichkeit herauszufordern, wird in den Aufgabenstellungen von Isler et al. und Sauerborn der Begriff erzählen verwendet. In den Settings von Isler et al. und Sauerborn haben die Kinder jeweils die Aufgabe, eine Geschichte, die ihnen lediglich in visueller Form (Bilderbuch ohne Text/ Stummfilm) präsentiert 3.4 Textproduktion im Medium der Mündlichkeit 87 <?page no="88"?> wird, sprachlich darzustellen. In Merklingers Setting hingegen wird den Kindern - ähnlich wie beim Setting zum Pretend Reading der vorliegenden Studie - eine Geschichte nicht nur in visueller, sondern auch in sprachlicher Form angeboten, auf die in der eigenen Textproduktion zurückgegriffen werden kann. 88 3 Textrezeption und Textproduktion im Vorschulalter <?page no="89"?> 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion In ihrem Werk Wie Kinder lesen und schreiben lernen (2011) schildern Ursula Bredel, Nanna Fuhrhop und Christina Noack Beobachtungen zum Erwerbspro‐ zess der Schriftsprache und nennen in diesem Zusammenhang das „Vorlesen” eines Bilderbuches: So imitieren schon dreijährige Kinder den Schreib- und Le‐ seprozess beispielsweise dadurch, dass sie „ein bekanntes Bilderbuch auswendig ‚vorlesen’“ (Bredel/ Fuhrhop/ Noack 2011, S. 75) und Kritzelbriefe erstellen. (Vgl. ebd.) Studien, die Pretend Reading als Methode untersuchen, existieren hingegen bislang nur wenige. Zur Darstellung des Forschungsstandes zum Pretend Reading werden zunächst internationale und nationale Studien zum Pretend Reading (Sulzby 1985) im Vorschulalter in den Blick genommen. An‐ schließend wird der Blick auf Pretend Reading in der Grundschule gerichtet. Alternative Bezeichnungen für die Methode Pretend Reading sind die Bezeich‐ nungen Emergent Storybook Reading (Sulzby 1985) bzw. storybook „reading“ (Sulzby 1985), imitierendes (Vor-)Lesen (Becker/ Müller-Brauers/ Stude 2017) und So-tun-als-ob-Lesen (Last/ Merklinger/ Wittmer 2017, S.-18). 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich „For decades parents have reported that their young children ‚memorize books‘ and act as they were reading“ (Sulzby 1988, S. 39) - so schildert Elizabeth Sulzby die Beobachtungen von Eltern, die bemerkten, dass ihre Kinder so tun, als würden sie ein Buch vorlesen. Sulzby untersucht dieses als Pretend Reading bezeichnete Verhalten von Kindern in verschiedenen Studien. Es folgt zunächst eine Darstellung von Studien zum Pretend Reading von Sulzby, bei denen die Entwicklungskomponente eine zentrale Rolle spielt. In ihrer Publikation Children’s Emergent Reading of Favorite Storybooks: A Development Study (1985) diskutiert Sulzby die Ergebnisse zweier Studien (Studie I und Studie II) zum Pretend Reading (vgl. Sulzby 1985). Ein Fokus liegt auf der Weiterentwicklung eines Klassifikationsschemas, um Entwicklungsmuster beim Emergent Storybook Reading bei Kindern abzubilden. An diesem hatte <?page no="90"?> 49 Sulzby, Elizabeth (1981): Kindergarteners begin to read their own compositions: Begin‐ ning readers‘ development knowledge about written language project. Final report to the Research Foundation of the National council of Teachers of English. Evanston, IL: Northwestern University. 50 Diese Studie wird vorgestellt in: Sulzby, Elizabeth (1983): Children’s emergent abilities to read favorite storybooks. Final report to the Research Foundation of the National Council of Teachers of English. Evanston, IL: Northwestern University. Sulzby (1981) 49 bereits mit früher erhobenen Daten gearbeitet. (Vgl. Sulzby 1985, S.-462) Im Rahmen von Studie I wird die Existenz der Kategorien und Unterkategorien des entwickelten Klassifikationsschemas am Datenmaterial weiter überprüft. Zudem wird erforscht, ob sich bei den Kindern Veränderungen im Laufe der Zeit feststellen lassen. (Vgl. ebd., S. 463) An Studie I nahmen 24 Kindergarten‐ kinder im Alter von vier bis sechs Jahren teil. Am Anfang und am Ende des Kindergartenjahres fand jeweils ein Interview mit dem Titel General Knowledge About Written Language statt. Zu diesem Interview sollte jedes Kind eines seiner Lieblingsbilderbücher aus der Klassenraumsammlung mitbringen. Gegen Ende des Interviews forderte die Interviewerin oder der Interviewer das Kind mit den Worten „Read me your book“ (ebd.) auf, das mitgebrachte Buch „vorzulesen“. Erwiderte das Kind, dass es nicht lesen könne, wurde es mit den Worten „Well, pretend you can. Pretend-read to me“ (ebd.) von der Interviewerin oder vom Interviewer ermutigt. Weitere mögliche Ermutigungen waren „What can I do to help? What do you want me to do? How will that help? “ (ebd.). (Vgl. ebd., S.-463) Sulzby stellt vier Kategorien und elf Unterkategorien (Levels) vor, die die Entwicklung des Emergent Storybook Reading bei Kindern abbilden sollen (vgl. ebd., S. 465-474). Diese Levels werden im Zusammenhang mit der Darstellung weiterer Ergebnisse von Sulzby (1988) dargestellt. Der Vergleich der Levels, die Kinder am Anfang und am Ende des Kindergartenjahres erreichten, ergab, dass die Mehrheit der Kinder (16 von 24) beim zweiten Messzeitpunkt ein höheres Level erreichte (vgl. Sulzby 1985, S.-474). Studie II befasst sich mit der Konstanz des Verhaltens beim Storybook Reading einzelner Kinder und mit altersbedingten Unterschieden (vgl. ebd., S. 463). Die Daten, auf die sich die vorgestellten Ergebnisse beziehen, wurden im Rahmen einer Longitudinalstudie 50 erhoben, die aus vier einzelnen Studien (vgl. ebd., S. 475) und vier Fallstudien (vgl. Sulzby 1988, S. 44) besteht. In jeder Sitzung mit einer Interviewerin oder einem Interviewer „las“ ein Kind jeweils zwei Bilderbücher „vor“. In den ersten drei Studien wurden die Bilderbücher von der 90 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="91"?> Lehrperson eingeführt und den Kindern wiederholt vorgelesen. Für die vierte Studie wurden jeweils zwei aktuelle Lieblingsbücher der Kinder verwendet. (Vgl. Sulzby 1985, S.-476) Es wurden die Prozentzahlen für den Fall ermittelt, dass die beiden „Vorlesever‐ suche“ eines Kindes innerhalb einer der vier Studien der gleichen Unterkategorie (Level) zugeordnet wurden und für den Fall, dass sie entweder der gleichen oder einer angrenzenden Unterkategorie zugeordnet wurden. „There is […] some evidence that children’s emergent reading behaviors are relatively stable across familiar storybooks“ (ebd., S. 477). Bis auf einige Ausnahmen konnten die beiden „Vorleseversuche“ eines Kindes entweder der gleichen oder einer angrenzenden Unterkategorie zugeordnet werden. Die Mehrheit der Ausnahmen lässt sich dadurch erklären, dass Kinder sich weigerten, das erste Bilderbuch „vorzulesen“, das zweite Bilderbuch jedoch „vorlasen“. Beim „Vorlesen“ ihrer aktuellen Lieb‐ lingsbücher (vierte Studie) war die Nähe der von den Kindern erreichten Levels in der jeweiligen Studie noch höher als beim „Vorlesen“ der Bücher aus den ersten drei Studien. (Vgl. ebd., S.-476f.) Die von Sulzby und weiteren Forscherinnen und Forschern identifizierten Entwicklungsmuster weisen darauf hin, dass Kinder folgende Entwicklung durchmachen: Während sie zunächst einzelne Seiten des Buches wie einzelne Einheiten behandeln, behandeln sie später das ganze Buch als Einheit. (Vgl. ebd., S. 478) Merkmale von geschriebener Sprache, die in den „vorgelesenen“ Texten der Kinder identifiziert werden konnten, ließen sich auf der Ebene der Formulierungen finden. Zudem erinnerten Intonationen an die Tätigkeit des Vorlesens (vgl. ebd., S. 479): Characteristics of ‚written language’ that can be found in children’s storybook reading speech include (a) wording that is more appropriate for written than oral discourse, and (b) intonation patterns that sound like reading rather than conversing or storytelling. (Ebd.) In ihrer Publikation A Study of Children’s Early Reading Development berichtet Sulzby (1988) von der bereits erwähnten Longitudinalstudie zum Storybook-Reading-Verhalten von zweibis vierjährigen Kindern in einer Kindertagesstätte in den USA (vgl. ebd., S.-39). Die in 1: 1-Situationen stattfindenden Storybook-Reading-Situationen wurden folgendermaßen initiiert: Die Interviewerin oder der Interviewer ließ das Kind aus einer Box ein Plüschtier auswählen. Das „vorzulesende“ Buch wurde vom Kind manchmal aus dem Klassenraum mitgebracht und manchmal aus einer Box ausgewählt. Nach der Frage, warum das Kind das jeweilige Buch 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 91 <?page no="92"?> ausgewählt hat, bekam es den Auftrag, das Buch der Interviewerin oder dem Interviewer und dem gewählten Plüschtier vorzulesen. Weigerte sich das Kind, das Buch vorzulesen oder äußerte, dass es noch nicht lesen könnte, griffen die Interviewenden auf eine Zusammenstellung von Ermutigungen zurück: Zum Level 1 gehörten die Äußerungen „Try.“, „Do your best.“ und „Give it a try.“ Zum Level 2 zählten die Äußerungen „Pretend.“ und „Pretend-read it.“ „I can help you.“ und „What do you want to read? “ (ebd., S. 42) gehörten zum Level 3 und Level 4 bestand aus den Äußerungen „I can help you.“ und „Let’s read it together.“ (ebd.). (Vgl. ebd.) „The study […] presents evidence that children aged 2 through 4 show develop‐ mental patterns when attempting to read from storybooks which they have selected as ‚favorites‘“ (ebd., S. 70). Sulzby konnte - wie bereits erwähnt - im Hinblick auf die Storybook-Reading-Situationen elf Unterkategorien identifi‐ zieren, die im Folgenden kurz erläutert werden. Beim labelling and commenting (Level 1) blättert ein Kind auf eine Seite, zeigt auf ein Objekt und benennt oder kommentiert es. Bei Level 2, dem following the action, spricht das Kind über jedes Bild als einzelne Einheit, aber erzählt keine Geschichte, die über das ganze Buch geht. Typischerweise wird Sprache mit dem Zeigen verbunden. Bei Level 3, dem dialogic storytelling, äußert das Kind Dialoge zu den Figuren auf den Bildern. Bei Level 4, dem monologic storytelling, ist die vom Kind erzählte Geschichte monologisch, während die Syntax und bestimmte Phrasen wie eine erzählte Geschichte klingen. Zudem ist die Geschichte auch kontextabhängig: „The story is context-dependent, assuming that both the child ‚reader‘ and the adult can see the pictures in the book“ (ebd., S. 54). Bei Level 5, dem reading and storytelling mixed, baut das Kind Abschnitte, die wie geschriebene Sprache klingen, in Abschnitte ein, die wie gesprochene Sprache klingen. Beim reading similar-to-original story, dem Level 6, weisen die Formulierungen und Betonungen Ähnlichkeiten zur geschriebenen Sprache auf, unterscheiden sich aber ein wenig von der Originalgeschichte des Bilderbuches. Dabei bildet das Kind oft Muster (engl.: patterns), die ähnlich sind zu denen des Bilderbuches oder zu denen ähnlicher Bücher. „Children often insert ‚pattern of three‘ or other repetitive patterns into stories“ (Sulzby 1988, S. 57). (Vgl. ebd., S. 49-70) An dieser Stelle leuchtet ein Bezug zu den Beobachtungen Beckers auf, die bei Nacherzählungen von Kindern die mehrfache Wiederholung rhythmischer Elemente und die Bedeutsamkeit der Zahl Drei bei solchen Wiederholungen beobachtet (vgl. Becker 2017, S. 163). „More typically, the child may simply come close to the actual story, without showing the effort to retrieve the verbatim story“ (ebd., S. 57). Auf Level 7, dem reading verbatim-like story, lassen sich Selbstkorrekturen des Kindes beobachten, die darauf hindeuten, dass das Kind 92 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="93"?> versucht, die wirkliche Geschichte des Bilderbuches wiederzugeben. Sulzby widerspricht der Auffassung, Storybook Reading - im Sinne eines Auswendig‐ lernens - als Routine und belanglos anzusehen: Children have been described as ‚memorizing‘, or ‚just memorizing‘ a book as if that behavior is rote and inconsequential. In this highest level before the child is attempting to read from print, the child shows an awareness and partial memory for stretches of the text that is not rote, but is highly effortful and conceptual. (Ebd., S.-57) Auf Level 8, dem „refusing to read based upon print awareness“ (ebd., S. 60), weigern sich Kinder vorzulesen, weil sie das Bewusstsein für die Schrift haben. „I don’t know the words“ (ebd.) kann dabei eine Aussage von Fünfjährigen sein. Auf Level 9, dem reading aspectually, befassen sich die Kinder mit ein bis zwei Aspekten von Schrift. Dies können beispielsweise Wörter oder die Phonem-Graphem-Korrespondenz sein. Während das Kind auf Level 10, dem reading with strategies imbalanced, noch nicht unabhängig lesen kann, ist das auf Level 11, dem reading independently, möglich. (Vgl. ebd., S.-49-70) Die dargestellte Studie gibt Hinweise darauf, dass sich bei den Kindern Fähigkeiten zur Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache entwickeln: „The patterns of ‚reading‘ contain evidence of children’s developing distinctions between written and oral language” (ebd., S.-70). Die Fähigkeit, zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch un‐ terscheiden zu können, spielt auch in den Ausführungen von Purcell-Gates eine bedeutsame Rolle. Es folgt ein Überblick über Ergebnisse einer Studie von Purcell-Gates, die im Gegensatz zu Sulzby nicht das „Vorlesen“ eines bereits bekannten Bilderbuches untersucht, sondern Kinder mündliche Texte zu textlosen Bilderbüchern „vorlesen“ lässt. Dabei arbeitet sie kontrastiv mit einer Aufgabe zum Erzählen eines Erlebnisses und zum „Vorlesen“ einer Geschichte (vgl. Purcell-Gates 2001, S.-15). Exemplarisch zeigt Victoria Purcell-Gates einen Text eines fünfjährigen Mädchens, den dieses ihrer Puppe aus einem textlosen Bilderbuch „vorliest“. Der Anfang dieses Textes lautet: „There once was a brave knight and a beautiful lady. They went on a trip, a dangerous trip“ (Purcell-Gates 2001, S. 7). „What she was doing was pretending to read orally from a wordless picture book [Hervorh. im Original]“ (ebd.) - so beschreibt Purcell-Gates die Tätigkeit des Mädchens. Nach Purcell-Gates zeigt das Mädchen im Prozess des Pretend Reading, über welche sprachliche Kompetenz sie verfügt: „In this process, she was revealing a type of language knowledge that she possessed, revealing linguistic competence through linguistic perfomance embedded in a congruent pragmatic context“ (ebd.). (Vgl. ebd.) 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 93 <?page no="94"?> 51 Purcell-Gates, Victoria (1988): Lexical and Syntactic Knowledge of Written Narrative Held by Well-Read-To Kindergarteners and Second Graders. In: Research in the Teaching of English, H. 22, S.-128-160. Im Zusammenhang mit den Studien zum Pretend Reading von Sulzby (1985) und Pappas (1991), in denen Kinder schriftlich vorliegende Narrationen „vorlasen“, die ihnen zuvor mehrfach vorgelesen worden waren, geht Purcell-Gates auf eine alternative Interpretation für das von den Kindern in diesen Situationen Gezeigte ein: Demnach werden die Kinder immer besser beim Wiederholen der häufig gehörten Sätze. (Vgl. Purcell-Gates 2001, S.-15) […] [B]oth Sulzby and Pappas could begin to trace the development of this written language over time and after experience with written text. However, with tasks such as these, the alternative explanation that children were simply getting better at repeating oft-heard sentences cannot be completely discounted. (Ebd.) Als Konsequenz begann Purcell-Gates ihre Untersuchungen zum Pretend Rea‐ ding mit einer Aufgabe, die sie entwickelte, um eine solche Interpretation zu vermeiden. Desiring to explore the hypothesis that young children, through hearing written language read to them, learn a linguistic register that is specific to the social context in which it is used (that is, storybooks and storybook reading), I designed a task that would require young children to compose this register without ever having heard a particular text. (Ebd.) In einer Studie von Purcell-Gates (1988) 51 wurden in einem randomisierten Verfahren 39 Kindergartenkinder ausgewählt, denen bereits häufig vorgelesen worden war. Purcell-Gates spricht in diesem Zusammenhang von „well-read-to kindergarten children“ (ebd., S. 15). (Vgl. Purcell-Gates 2001, S. 7-15). Diese Kinder bekamen zwei unterschiedliche Aufgaben: Die erste Aufgabe bestand darin, der Forscherin von ihrer letzten Geburtstagsfeier (oder einem ähnlichen Ereignis) zu erzählen („to tell me a recent birthday party [Hervorh. im Original]“ (ebd., S. 15)). Bei der zweiten Aufgabe wurden die Kinder aufgefordert, eine Geschichte, die in einem textlosen Bilderbuch durch Bilder erzählt wird, „vor‐ zulesen“. Dabei sollte sich die Geschichte so anhören, wie eine Geschichte aus einem Buch („to pretend to read a story told by pictures in a wordless storybook and make it sound like a book story [Hervorh. im Original]“ (ebd.)). Während durch die erste Aufgabe eine mündliche dekontextualisierte Erzählung („oral narrative“ (ebd.)) hervorgerufen werden sollte, zielte die zweite Aufgabe darauf ab, eine geschriebene dekontextualisierte Erzählung („written narrative“ (ebd.)) auszulösen. (Vgl. ebd.) 94 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="95"?> 52 Purcell-Gates, Victoria (1991): Ability of Well-Read-To Kindergarteners to Decontextu‐ alize/ Recontextualize Experience into a Written-Narrative Register. In: Language and Education, H. 5, S.-177-188. 53 Purcell-Gates, Victoria (1992): Roots of Response. In: Journal of Narrative and Life History, H. 2, S.-151-161. Neben der Überprüfung der Hypothese, dass Kinder, denen häufige vorge‐ lesen wird, Wissen über das schriftliche narrative Register haben, konnte Purcell-Gates durch diese Erhebung zusätzlich die Gegenhypothese überprüfen. Diese bestand darin, dass die Kinder die beim Pretend Reading gezeigte Sprache mündlich produzieren können, da sie stets auf diese Weise sprechen, wenn sie Erzählungen nacherzählen. (Vgl. ebd., S.-15f.) The data from this study, with its within-subject analysis, strongly confirmed that these children differentiated oral and written narrative language within their overall language knowledge and could produce each different register given the appropriate social context. (Ebd., S. 16) Purcell-Gates Auswertungen (Purcell-Gates 1988, 1991 52 , 1992 53 ) der darge‐ stellten Studie zeigen, dass die Kinder in den beiden Situationen nicht das gleiche linguistische Register wählten: [T]hese five-year-olds, when placed in a typically oral language social context of telling someone about a past event, did not talk in the same way as they did when they were placed in a typical written language social context of reading aloud from a book [Hervorh. im Original]. (Purcell-Gates 2001, S. 16) Die Register, auf die für das Pretend Reading von den Kindern zurückgriffen wurde, unterschieden sich in den folgenden Merkmalen von denen, die bei der Produktion der mündlichen Narrationen („oral narratives“ (ebd.) verwendet wurden: [T]hey were syntactically more integrated; they were lexically more literary and varied; they were lexically and syntactically more involving through the use of high-image verbs, image-producing adverbials, and attributive adjectives; and they were more decontextualized through appropriate endophoric reference use. (Ebd.) Die Sprache, die die Kinder in den beiden Situationen jeweils wählten, unter‐ schied sich hinsichtlich des Wortschatzes, der Syntax und dem Grad der Dekon‐ textualisierung. Die genannten Faktoren werden als bedeutsam für Emergent Literacy und den frühen Erfolg beim Lesen erachtet, so Purcell-Gates. (Vgl. ebd.) 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 95 <?page no="96"?> Eine weitere Studie zum dekontextualisierten Sprachgebrauch wurde von Cu‐ renton, Craig und Flanigan (2008) durchgeführt. Dabei wurde der Gebrauch von dekontextualisierter Sprache in unterschiedlichen story contexts in den Blick genommen, wobei Pretend Reading in einem der drei Settings erprobt wurde. Das Hauptziel der Studie von Stephanie M. Curenton, Michelle J. Craig und Nadia Flanigan bestand darin, den Gebrauch von dekontextualisierter Sprache in Mutter-Kind-Konstellationen zu erforschen, indem Unterschiede beim Ge‐ brauch von dekontextualisierter Sprache bei Vorschulkindern und Müttern in drei unterschiedlichen Kontexten („story contexts“ (Curenton/ Craig/ Flanigan 2008, S. 177)) untersucht wurden (vgl. ebd.). Das Sample bestand aus 33 Müttern und Kindern, wobei die Kinder im Schnitt ein Alter von 51 Monaten hatten. Zudem hatten die Familien unterschiedliche ethnische und sozioökonomische Hintergründe. (Vgl. ebd., S. 166) Es wurden jeweils drei Interaktionen zwischen Mutter und Kind durchgeführt: „Story-telling (an oral narrative), Story-reading (a shared reading task), and Story-creating (an emergent reading)“ (ebd., S. 177). Zunächst fand eine Story-creating interaction statt, bei der das Kind das Bilder‐ buch Snowy Days (1962) von Keats, das ihm von der Interviewerin oder vom Interviewer bereits bei einem Hausbesuch vorgelesen worden war, „vorlesen“ sollte. Bei der zweiten Interaktion handelte es sich um eine Story-reading interaction, bei dem die Mutter dem Kind ein weiteres Buch vorlas. Beim dritten Setting erzählte die Mutter ihrem Kind eine erlebte Geschichte aus ihrer Vergangenheit. (Vgl. ebd., S.-168) Die in den drei Interaktionen verwendete Sprache von Mutter und Kind wurde hinsichtlich des dekontextualisierten Sprachgebrauchs analysiert (vgl. ebd., S. 170). Dabei konnte festgestellt werden, dass die Kinder im Story-creating Kontext (Pretend Reading) mehr dekontextualisierte Sprache gebrauchten als in den anderen zwei Kontexten. So verwendeten die Kinder beim Pretend Reading eine höhere Anzahl an Konjunktionen, wobei es sich meist um Konnektive wie die Konjunktion and handelte, mehr Adverbien und mehr einfache erweiterte Nominalphrasen. Curenton et al. sprechen hier von einem Moderationseffekt („moderation effect“ (ebd., S. 182)), der sich auch darin zeigte, dass die Kom‐ mentare der Kinder in diesem Kontext eine stärker dekontextualisierte Sprache aufwiesen als in den anderen zwei Settings. Den Grund für dieses Verhalten sehen die Autorinnen in der Verantwortung, die dem Kind mit der Aufgabe übertragen wird: These moderation effects illustrate that when children were responsible for creating a story, they made more decontextualized comments than when they listened to their mothers tell a story because the responsibility of narrating fell on them, and they had to accommodate for this responsibility by producing specific and detailed talk. (Ebd.) 96 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="97"?> So schließen die Autorinnen: „These findings demonstrate that when children are permitted to use their creative energy, they are actually able to express themselves in a sophisticated manner“ (ebd.). Auch konnte aus der Art, wie sie das Buch hielten, geschlossen werden, dass viele Kinder aufgrund dieser Verantwortung stolz waren. „Some children even pretended to be the adult during the interaction by asking questions and by pointing to the pictures“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Die Ergebnisse der Studie zeigen somit, dass die Aufgabe, ein Buch nachzuer‐ zählen, den Kindern die Möglichkeit eröffnet, komplexe Sprache zu üben: „These findings from the Story-creating context are inspiring because they demonstrate that using a book to retell a story provides an opportunity for children to practice using compley talk“ (ebd.). Beobachtungen zum dekontextualisierten Sprachgebrauch konnten bei Familien mit niedrigem und mit mittlerem Ein‐ kommen festgestellt werden (vgl. ebd., S. 183). Mit Blick auf die Ergebnisse ihrer Studie können die Forscherinnen schlussfolgern: „The key recommendation from researchers, educators, and policymakers has been ‘Parents read to your children.’ Our results suggest that this advice should be augmented by ‘… and allow your children to pretend to read to you! ’” (Ebd.) Zu prüfen, welche Frage- und Kommentartechniken von Eltern und Lehrpersonen sich eignen, um den Gebrauch von dekontextualisierter Sprache bei Kindern zu unterstützen, nennen Curenton et al. als Forschungsdesiderat. (Vgl. ebd.) An dieses Forschungsdesiderat knüpft die vorliegende Studie an, indem sie in Anlehnung an den Design-Based Research-Ansatz das Verhalten der oder des Erwachsenen in einer Pretend-Reading-Situation mit einem Kind evaluiert und Instruktionen zur Herausforderung von monologischer Textproduktion und dekontextualiertem Sprachgebrauch entwickelt (vgl. II.2.1). Zwei Settings der dargestellten Untersuchung von Curenton, Craig und Fla‐ nigan (2008) - Shared Reading und Emergent Reading - wurden in einer Studie von Curenton und Kennedy (2013) aufgegriffen. Das Ziel dieser Studie bestand darin, Shared Reading und Emergent Reading miteinander zu vergleichen sowie quantitative und qualitative Unterschiede zwischen den beiden Interaktionen nachzuweisen. Unter einer typischen Shared Reading Situation wird dabei ein Einzelgespräch zwischen einer oder einem Erwachsenen und einem Kind verstanden, bei dem die oder der Erwachsene dem Kind eine Geschichte vorliest und es währenddessen dazu ermutigt, aktiv involviert zu sein, indem sie oder er Fragen an das Kind stellt und ihm erlaubt, eigene Ideen mitzuteilen. (Vgl. Curenton/ Kennedy 2013, S. 1) Emergent Reading (bzw. Pretend Reading) definieren Curenton und Kennedy wie folgt: 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 97 <?page no="98"?> [W]e define emergent reading as a one-on-one interaction between a parent and child in which a child uses the pictures of book, along with what they remember about the book, to retell the story perhaps with guidance from the parent in the form of questions and encouragement. (Ebd.) Anzumerken sei an dieser Stelle, dass die Autorinnen die Bedeutsamkeit der Bilder für das Emergent Reading hervorheben, indem sie sie in ihrer Definition erwähnen. Zudem verwenden sie die Formulierung „die Geschichte nacher‐ zählen“ („to retell the story“ (ebd.)), wodurch ihre Vorstellung vom Emergent Reading auf eine Reproduktion einer bekannten Geschichte abzuzielen scheint. Darauf lässt auch die Formulierung „what they remember from the book“ (ebd.) schließen. Demzufolge scheint bei dieser Vorstellung von der Methode Pretend Reading der Fall, dass ein Kind zu einem bekannten Buch auch (absichtlich) eine vom Original abweichende Geschichte „vorlesen“ darf, nicht bewusst miteinge‐ schlossen zu sein, ebenso wenig wie das von Purcell-Gates (2001) beschriebene Pretend Reading im Zusammenhang mit einem textlosen Bilderbuch. Im Zusammenhang mit der Darstellung von Ergebnissen vorangegangener Studien zum Emergent Reading im Vergleich zu anderen Vorleseinteraktionen oder mündlichen Narrationen heben Curenton und Kennedy die Besonderheit des Emergent Reading wie folgt hervor: In sum, these prior studies indicate that there is something special about emergent reading compared to other storytelling/ reading interactions in that children demonst‐ rate better skills during emergent reading than they do during other storytelling interactions […] (Ebd., S. 2) An ihrer Studie nahmen 25 Mütter und Kinder teil. Dabei wurden die ersten beiden Vorleseinteraktionen aus der dargestellten Studie von Curenton, Craig und Flanigan (2008) zum dekontextualisierten Sprachgebrauch erneut durchge‐ führt: Auch in dieser Studie wurde das Kind im ersten Setting dazu aufgefordert, das ihm bekannte Bilderbuch The Snowy Day „vorzulesen“. Im zweiten Setting wurde ihm ein Buch von der Mutter vorgelesen, wobei die Eltern instruiert wurden, das Buch auf die Weise vorzulesen, wie sie es normalerweise tun. (Vgl. Curenton/ Kennedy 2013, S.-3) Es konnte u. a. festgestellt werden, dass Mütter im Vergleich zu ihren Kindern beim Shared Reading höhere Redeanteile hatten, dass sie eine komplexere Grammatik verwendeten und mehr Fragen stellten. Beim Emergent Reading hingegen stellten die Mütter zwar ebenfalls mehr Fragen als ihre Kinder, jedoch waren die Redeanteile der Kinder höher als die der Mütter. Zudem konnte eine Tendenz dahingehend erkannt werden, dass die Kinder beim Emergent Reading eine komplexere Grammatik verwendeten. (Vgl. ebd., S.-5) 98 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="99"?> Dass das Verhalten der oder des Erwachsenen auf den dekontextualisierten Sprachgebrauch des Kindes beim Pretend Reading einen Einfluss haben kann, wird in einer Studie von Claudia Müller und Linda Stark (2016) in den Blick genommen. Nach Müller und Stark wird in deutscher Forschungsliteratur zwar die Be‐ deutung von Pretend Reading betont, jedoch mangele es an spezifischen Studien, die die Möglichkeiten dieser Methode bewerten: „Although in the German research literature the relevance of pretend reading is frequently highlighted (see, for example, Rau 1979), no specific studies to our knowledge have been carried out to assess the scope of pretend reading” (Müller/ Stark 2016, S.-5). Die Forscherinnen untersuchen in ihrer Studie das Potential des Pretend Reading (vgl. ebd. S. 6). In dem von ihnen gewählten Format werden drei be‐ deutsame Spracherwerbskontexte kombiniert: das Rollenspiel, Dialogic Reading und Pretend Reading (vgl. ebd., S. 2). An ihrer Studie nahmen 17 Elternteile (zwölf Mütter und fünf Väter) und 20 Kinder (zehn Mädchen und zehn Jungen) im Alter von drei bis sechs Jahren teil. Die Eltern bekamen die Aufgabe, ihren Kindern zunächst das Bilderbuch Der Prinz mit der Trompete (2011) von Janisch und Antoni vorzulesen. Die Wahl fiel auf dieses Bilderbuch, da es erstens den an der Studie teilnehmenden Eltern unbekannt war. Zweitens lässt sich die Sprache des Bilderbuches in vielerlei Hinsicht als literarisch bezeichnen, zum Beispiel bezüglich des Zeitformengebrauchs oder narrativer Markierungen. Zudem erinnert der Plot der Geschichte an traditionelle Märchen und auch die Figuren stammen aus ebensolchen. Nach dem Vorlesen sollten die Eltern ihre Kinder bitten, die Rolle der Leserin oder des Lesers zu übernehmen. (Vgl. ebd., S.-6) Die Forscherinnen analysierten die erhobenen Daten nach dem von ihnen modifizierten Modell von Hausendorf und Quasthoff (2005) und der Interakti‐ onsanalyse, um Einblicke in die von den Eltern gebrauchten Strategien zu bekommen, um den Rollenwechsel zu initiieren und das „Vorlesen“ des Kindes zu unterstützen (vgl. Müller/ Stark 2016, S. 6f.). Müller und Stark stellen kontrastiv zwei Fälle vor, anhand derer sie zeigen, dass die Sprachproduktion des Kindes in starkem Maße vom interaktiven Verhalten der oder des Erwachsenen abhängig ist (vgl. ebd., S. 7). Auf die Ergebnisse dieses Vergleichs wird genauer im Zusam‐ menhang mit der Darstellung der Überlegungen von Becker, Müller-Brauers und Stude (2017) zum Pretend Reading eingegangen. Nach Müller und Stark gibt es zum genannten Zeitpunkt in der deutschen Forschung keine umfassenden Belege, die Auswirkungen von Pretend Reading auf die kindliche Literalitätsentwicklung bestätigen (vgl. Müller/ Stark 2016, S. 14): 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 99 <?page no="100"?> 54 Hier nehmen die Autorinnen Bezug auf Lillard, Angeline S./ Lerner, Matthew D./ Hop‐ kins, Emily J./ Dore, Rebecca A./ Smith, Eric D./ Palmquist, Carolyn M. (2013): The impact of pretend play on children’s development: A review of the evidence. In: Psychol Bulletin 139, H. 1, S.-1-34. In German research, pretend reading is classified as an equally meaningful literal practice as narrating in early childhood, although there is no extensive evidence that validates the impact of pretend reading for children’s literacy development. (Ebd.) Einschränkend weisen Müller und Stark darauf hin, dass ihre Ergebnisse als vorläufig zu betrachten sind, da es sich bei ihrer Erhebung um einen qualitativen Ansatz mit wenigen Fällen handelt. Dennoch lassen sich folgende Einsichten aus ihren Daten gewinnen: Erstens gibt es - wie bereits angedeutet - Hinweise darauf, dass das interaktive Verhalten der oder des Erwachsenen bestimmt, ob das Kind letztendlich dazu in der Lage ist, sein literales Potential zu entfalten, indem es während der Pretend-Reading-Situation Gebrauch von dekontextualisierten Sprachformen macht. Ein zentraler Punkt scheint dabei im Rollenbewusstsein der oder des Erwachsenen zu liegen: „By establishing role taking sufficiently in interaction and playing the role of an active listener, the adult scaffolds the child’s performance as a reader“ (Müller/ Stark 2016, S. 14). (Vgl. ebd.) Die bedeutsame Rolle der oder des Erwachsenen bei der Durchführung einer Pretend-Reading-Situation wird in der vorliegenden Studie im Zusammenhang mit der Entwicklung von Instruktionen näher in den Blick genommen, die dazu dienen, das Kind zur Produktion einer möglichst kohärenten, monologischen Textproduktion herauszufordern (vgl. II.2.1). Zweitens weisen die Ergebnisse von Müller und Stark darauf hin, dass Scaffolding-Mechanismen der oder des Erwachsenen, auf die beim Dialogic Reading in gemeinsamen Vorlesesituationen zurückgegriffen wird, um die Sprachproduktion des Kindes zu unterstützen, in Pretend-Reading-Situationen kontraproduktiv zu sein scheinen: „they interrupt the elaboration phase and the speech production of the child“ (Müller/ Stark 2016, S. 14). Zudem scheint Pretend Reading wegen seines hohen Grads an Selbstbestimmung und Selbstentfaltung eine Nähe zum Rollenspiel zu haben. 54 Drittens weisen die Daten darauf hin, dass sich die Kinder beim Pretend Reading ein sprachliches Register erschließen, das über ihre Spracherfahrungen in der Familie und im alltäglichen Leben hinausgeht: […] the data suggests that by taking the role of the reader there is also a shift from the current potential of the child to a higher point of development (Vygotskij 2002) 100 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="101"?> as the child explores a linguistic register which exceeds his/ her language experiences in familiy and everyday interactions. (Müller/ Stark 2016, S. 14) Viertens erachten die Forscherinnen die Ergebnisse ihrer Studie nicht nur als relevant für Interaktionsstrategien bei Eltern, um die literale Sprachpro‐ duktion ihrer Kinder zu fördern. Darüber hinaus können sie für interaktive Strategien von Vorschullehrerinnen und -lehrern genutzt werden, um Pretend Reading systematisch in der Sprachförderung einzusetzen. Dabei äußern die Forscherinnen ihre Vermutung, dass in Trainingsprogrammen im Besonderen die Aufmerksamkeit auf das Rollenbewusstsein der Vorschullehrenden gerichtet werden müsse. (Vgl. ebd.) Zudem betonen Müller und Stark die Notwendigkeit, alternative Formen der Sprachförderung in Vorschulen und in Kindergärten in Deutschland zu implementieren: Partically in Germany, there is an urgent need for alternative forms of language promotion as only since the execution of international large-scale studies such as PISA […] have preschools and kindergartens been considered to provide the first and most important step in children’s educational careers”. (Ebd.) An dieser - auch von Müller und Stark aufgezeigten - Forschungslücke im deutschsprachigen Raum setzt die vorliegende Studie ebenfalls an: Pretend Reading wird als Möglichkeit der Sprachförderung im Sinne der Förderung von Textkompetenz im Vorschulalter in den Blick genommen (vgl. Kapitel I.1 zu Sprachförderung, Schrift und Text). Im Folgenden werden weitere Ergebnisse zum Pretend Reading dargestellt (Becker/ Müller-Brauers/ Stude 2017; Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden 2017), die sich auf die vorgestellte Datenerhebung beziehen. Dabei heben auch Tabea Becker, Claudia Müller-Brauers und Juliane Stude (2017) die bedeutsame Rolle der oder des Erwachsenen für „die Aktivierung literaler Handlungen“ (Becker et al. 2017) beim Kind in einer Pretend-Reading-Situation hervor. Becker, Müller-Brauers und Stude möchten „die Perspektive stärken, dass für den Schriftspracherwerb - unabhängig davon in welcher Sprache - vor allem die frühe Entwicklung literaler Routinen relevant ist“ (Becker/ Müller-Brauers/ Stude 2017, S. 101). Dies schließt zum einen ein, dass Kinder rezeptiv an literalen Routinen von Erwachsenen teilhaben und dadurch ihr sprachliches Wissen erweitern. Hiermit sind Routinen wie Vorlesen und Erzählen gemeint. Zum anderen können Kinder auch eigene literale Routinen ausbilden, indem sie „durch das gemeinsame Teilen dieser Routinen Modelle für die eigene Sprach‐ 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 101 <?page no="102"?> 55 Die Autorinnen nehmen hier Bezug auf folgende Literatur: Becker, Tabea/ Müller, Claudia (2015): Vorlesen und Erzählen im Vergleich. In: Gressnich, Eva/ Müller, Claudia/ Stark, Linda (Hrsg.): Lernen durch Vorlesen. Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule. Tübingen: Narr Francke Attempto, S.-77-93. 56 Die Autorinnen beziehen sich dabei auf folgende Studie: Müller, Claudia/ Stark, Linda (2016): Pretend Reading in Parent-Child-Interaction: Interactive Mechanisms of Role Taking and Scaffolding. In: Carragee, Kevin/ Mönnich, Annette (Hrsg.): Communication as Performance and the Performativity of Communication - Proceedings of the 24th International Colloquium on Communication, S.-58-75. produktion ableiten (Becker/ Müller 2015)“ 55 (Becker et al. 2017, S. 101). Mit Bezug auf Tomasello (2000) kann angenommen werden, dass sich Literalität „auf der Basis von festen Handlungsabläufen in der Erwachsenen-Kind-Interaktion und innerhalb spezifischer Handlungsroutinen herausbildet“ (Becker et al. 2017, S. 101). Kennzeichen dieser Handlungsabläufe und Handlungsroutinen und sind sozialinteraktionistische Faktoren (z. B. geteilte Aufmerksamkeit sowie Imita‐ tion) und werden durch das Medium Buch bestimmt, das für das literale Lernen sowohl den literaten als auch den literarischen Input zur Verfügung stellt. (Vgl. ebd.) Becker et al. diskutieren „buchbasierte sprachliche Handlungsmuster und -routinen“ (ebd., S. 102) zur Förderung der kindlichen Literalitätsentwick‐ lung. In diesem Zusammenhang betrachten die Autorinnen drei verschiedene Formate: klassische Eltern-Kind-Bilderbuchformate, mündliche Narrationen von Grundschulkindern und „sprachliche Handlungsformate in Situationen, in denen vorschulische, nicht-schriftkundige Kinder das (Vor-)Lesen von Büchern imitieren“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Ihre Überlegungen zum letztgenannten Format, das auch als Pretend Reading bezeichnet werden kann, werden im Folgenden dargestellt. In der Eltern-Kind-Kommunikation kann das Medium Buch der Ausgangs‐ punkt für ein Rollenspiel sein, „bei dem sich Kinder in literalen Handlungsrou‐ tinen erproben“ (ebd., S. 109). Dies konnte die Studie von Müller und Stark (2016) 56 verdeutlichen. (Vgl. Becker et al. 2017, S. 109) Becker et al. (2017) zeigen anhand eines Transkripts einer Situation imitierenden (Vor-)Lesens zwischen einem Kind und seinem Vater dreierlei: Den Einsatz von sprachlichen Formen und Erzählmustern bei der Textproduktion, die distinktiv für Kinderliteratur sind, die Imitation der Vorlesepraxis von Erwachsenen durch das Kind sowie die Verhaltensweisen des Vaters, die dem Kind helfen, literal zu handeln. (Vgl. ebd., S.-110-112) Diese drei Aspekte werden nun genauer ausgeführt. Das Kind beginnt „vorzulesen“, nachdem vom Vater der entscheidende Zugzwang in Form von der Äußerung „JETZT möchte ich gerne dass dU mir das buch mal vorliest“ (ebd., S. 110) gesetzt wurde. Dies wird u. a. am Einsatz von Erzählmustern und sprachlichen Formen, die distinktiv für Kinderliteratur 102 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="103"?> 57 In diesem Zusammenhang verweisen die Autorinnen auf folgende Studie: Stark, Linda (2015): Vorlesesituationen und literale Lernmöglichkeiten am Beispiel des deutschen Präteritums. Eine linguistische Analyse des Inputs, den erwachsene Interaktionspartner ihrem Kind bei der Bilderbuchrezeption bereitstellen. Unveröffentlichte Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum. (insbesondere Märchen) sind, sichtbar. So nennen die Autorinnen die Wendung es war einmal, die die Erzählung einleitet, den Gebrauch des indefiniten Artikels zur Einführung des Protagonisten und den multiplen Gebrauch des Intensitätspartikels ganz, um Erlebnisse lebhaft darzustellen. Des Weiteren sind auch der Gebrauch von elaborierten lexikalischen Formen und die Verwendung des Präteritums zu nennen. (Vgl. ebd., S. 110f.) Dass das Kind die Vorlesepraxis Erwachsener imitiert, wird an der Positionierung des Buches durch das Kind deutlich sowie am Nutzen von Zeigegesten. Außerdem macht das Kind den Versuch, Figurenrede stimmlich zu variieren. Dies kann als Nachahmen eines sprachlichen Mittels bezeichnet werden, welches von Erwachsenen in Vorlese‐ dialogen häufig genutzt wird. 57 (Vgl. ebd., S.-111) Des Weiteren machen die Autorinnen anhand des Transkripts deutlich, dass der Erwachsene die Bedingungen schafft, „sodass der Rollenwechsel gelingen und das Kind implizit literal handeln kann“ (ebd., S. 112). So schlüpft der Vater in die Rolle eines zuhörenden Kindes, indem er folgende Verhaltensweisen an den Tag legt: Seine dominante Rolle in der Interaktion gibt er auf. Dass er sich in die Rolle des zuhörenden Kindes begibt, macht er dem Kind gegenüber deutlich, indem er die Formulierung „ich HÖR dir zu“ (ebd., S. 112) äußert. Außerdem lobt er das Vorlesen des Kindes und motiviert es zum „Weiterlesen“ wie ein ungeduldiges Kind es in Erwachsenen-Kind-Vorlesedialogen tut. Zudem imitiert der Vater das Einschlafen, was als typisches Verhalten eines Kindes beim Vorlesen bezeichnet werden kann. (Vgl. ebd.) Kontrastiv stellen die Autorinnen eine zweite „Vorlesesequenz“ (ebd.) zwischen einer Mutter und ihrem Kind vor, bei der keine vergleichbare Imitationsweise des Vorlesens rekonstruierbar ist. Die direkte Instruktion, dass das Kind vorlesen soll, wird vom Kind nicht gleich befolgt. Daraufhin stellt die Mutter eine Wissensfrage („wie HEIßT denn das buch? “ (ebd., S. 113)), die vom Kind nicht beantwortet wird. Ein Elaborationsversuch des Kindes wird korrigiert („sprichst du jetzt wie ein BAby? “ (ebd.)). Die Mutter unternimmt einen weiteren Elabo‐ rationsversuch, indem sie versucht, dem Kind eine strukturelle Hilfestellung zu geben: Sie aktiviert das Vorwissen des Kindes bezüglich typischer Erzählmuster (z. B. „[WIE] fangen denn normalerweise märchen an? “ (ebd.)). Weiter lenkt sie 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 103 <?page no="104"?> den Versprachlichungsprozess des Kindes durch inhaltliche Fragen (z. B. „und WAS war einmal? “ (ebd.)). (Vgl. ebd., S.-112f.) Die Autorinnen schlussfolgern, dass beim Kind die Aktivierung literaler Hand‐ lungen nur dann gelingt, „wenn das Kind und der Erwachsene ihr sprachliches Handeln auf die Kommunikationssituation abstimmen; in diesem Fall das Rol‐ lenspiel mit klaren Rollen interaktiv gestalten“ (ebd., S. 114). Die Unterschiede zwischen den vorgestellten Vorlesesequenzen sind nach Becker et al. „durch das divergente Verhalten der Interaktionspartner und Schwierigkeiten bei der Rol‐ leneinnahme“ (ebd.) erklärbar. Im ersten Beispiel gelingt dieser Rollenwechsel dadurch, dass er implizit erfolgt. Zudem beruht er auf dem Imitieren der Rolle des erwachsenen Vorlesers und der Rolle des zuhörenden Kindes. Diese vertauschten Rollen verdeutlichen sich die beiden Personen einander immer wieder. Den misslungenen Rollenwechsel in der zweiten vorgestellten Vorlese‐ sequenz erklären die Autorinnen durch das dominante Interaktionsverhalten der Mutter. Sie behält „die Interaktionsstrategie des Fragens und Ergänzens der kindlichen Äußerungen bei“ (ebd.) und nimmt nicht die Rolle des kindlichen Zuhörers ein. Auf diese Weise erfolgt keine Versetzung des Kindes in die Rolle eines interaktiven Gestalters und das literale Handeln bleibt aus. (Vgl. ebd.) „Prozesse impliziten Lernens“ (ebd., S. 120) lassen sich sowohl bei den klassischen Eltern-Kind-Bilderbuchformaten, als auch bei den mündlichen Nar‐ rationen und dem imitierenden (Vor-)Lesen annehmen. Einen idealen Erwerbs‐ kontext für sprachliche Lernprozesse ermöglichen im Vorschulalter Formate mit wiederkehrenden Abläufen, so die Autorinnen. Der Text bietet „verstärkt Lernpotential, indem er konkrete Textmuster und Textroutinen als Lerngerüst bereitstellt“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Anhand einer qualitativen Analyse untersuchen Claudia Müller-Brauers, Linda Stark, und Friederike von Lehmden (2017) „wie Kinder sprachliche Strukturen des kinderliterarischen Vorleseinputs in die eigene Sprachproduktion einpassen und auf welchen sprachlichen Ebenen solche Einpassungen stattfinden [Her‐ vorh. im Original]“ (Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden 2017, S. 199). Zudem diskutieren sie, „unter welchen potentiellen Kontextbedingungen Einpassungs‐ prozesse wahrscheinlich werden“ (ebd.). Müller-Brauers et al. beziehen sich auf Erkenntnisse zum Erwerb von sprachlichen Strukturen. Mit Bezug auf Munro, Baker, McGregor, Docking und Arculi (2012) weisen sie darauf hin, dass Kinder schon „aus wenigen Präsentationen einer sprachlichen Äußerung in einem sog. Fast-Mapping-Prozess“ (Müller-Brauers et al. 2017, S. 200) Äußerungen reproduzieren können, ohne dass sie sie komplett analysiert haben. Mit Bezug auf Horst (2013) ergänzen Müller-Brauers et al., dass für das volle Verständnis 104 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="105"?> bzw. die robuste mentale Repräsentation jedoch Slow-Mapping-Prozesse nötig seien. (Vgl. Müller-Brauers et al. 2017, S.-200) Dabei spielen Wiederholungen im Sprachinput, die unterschiedlich situativ gerahmt sind, eine zentrale Rolle. Sie machen es möglich, dass Kinder den Input verarbeiten, behalten sowie über die einzelnen Sequenzen hinweg generalisieren und vom Kontext unabhängig verwenden können (Horst, 2013). (Müller-Brauers et al. 2017, S.-200) Beim Slow-Mapping werden „[b]esonders auffällige (kognitiv oder ontologisch saliente) Formen (Schmid, 2007)“ (Müller-Brauers et al. 2017, S. 200) im Ge‐ dächtnis tiefer verankert und sind leichter abrufbar (vgl. ebd.). Müller-Brauers et al. nehmen an, dass sich die beschriebenen grundlegenden Sprachlernprozesse insofern auch auf den Erwerb literater Strukturen, die im Vorleseinput vorkommen, übertragen [lassen], als dass bereits durch einmaliges Vorlesen eines Bilderbuches Fast-Mapping-Prozesse angeregt werden können, die beim wiederholten Vorlesen desselben Textes in Slow-Mapping-Prozesse übergehen und damit zu einer funktio‐ nalen Ausdifferenzierung literater Strukturen beitragen können. (Ebd., S.-201) Die Autorinnen analysieren zwei Beispiele aus dem bereits vorgestellten Daten‐ korpus zum Pretend Reading (Müller/ Stark 2016), in denen die Kinder nach dem Vorlesen die Geschichte wiedergaben (vgl. Müller-Brauers et al. 2017, S. 199). Die Erhebung fand im häuslichen Umfeld der Familien statt und war demzufolge wenig kontrolliert. So erhielten die Kinder zum Teil explizite Vorleseaufforde‐ rungen, während es in anderen Fällen zu buchbasierten Interaktionen kam. Diese lassen sich nach Müller-Brauers et al. als „gestützte Geschichtenwieder‐ gaben der Kinder“ (ebd., S. 201) beschreiben. Beim Fallbeispiel Ela (4; 0 Jahre) liegt eine solche gestützte Geschichtenwiedergabe vor, während die Sprachproduktion beim Fallbeispiel Oda (5; 6 Jahre) „durch einen narrativen Zugzwang durch die Mutter eingeleitet wurde“ (ebd.). Während Ela das Buch dreimal vorgelesen bekommen hat, bekam Oda das Buch nur einmal vorgelesen (vgl. ebd., S.-204). Mülller-Brauers et al. gleichen den Vorleseinput, den die beiden Kinder in der Vorlesesituation bekamen, mit dem Output ab, den sie „im Rahmen einer gelenkten Geschichtenwiedergabe produzierten“ (ebd., S. 201). Bei ihrer Analyse der Textproduktionen unterscheiden Müller-Brauers et al. zwischen lexikalischen Einpassungen, syntaktischen Einpassungen und morphologischen Einpassungen (Präteritum und Plusquamperfekt) (vgl. ebd., S. 201-204), wobei sie unter Einpassungen solche sprachlichen Strukturen im Output vom Kind verstehen, die dem Text des Bilderbuches bis auf minimale Abweichungen gleichen oder syntaktische Ähnlichkeiten aufweisen (vgl. ebd., S. 201). Es geht um Merkmale elaborierter Sprache - und zwar um „Formen mit kinderlitera‐ 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 105 <?page no="106"?> turspezifischen Lexemen“ (ebd.), um „hypotaktische und komplexe syntaktische Strukturen, wie z. B. ausgebaute Nominalphrasen“ (ebd.) sowie um „narrative, im Text vorkommende Tempora wie Präteritum oder Plusquamperfekt“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Bei Ela (4; 0 Jahre) sehen Müller-Brauers et al. Potential für Slow-Mapping-Pro‐ zesse, da sie die Geschichte vor der eigenen Wiedergabe bereits dreimal rezipiert hat. Es findet eine starke Orientierung an der Vorlage statt. In Elas Text dominieren lexikalische Einpassungen, Einpassungen von starken Verben im Präteritum sowie eingepasste metaphorische Mehrworteinheiten. Hinsichtlich der eingepassten metaphorischen Mehrworteinheiten stellen Müller-Brauers et al. die Hypothese auf, dass diese möglicherweise eine lückenfüllende Funktion haben. „Ela findet womöglich keine eigenen Worte für diese metaphorischen Strukturen und greift so ohne semantische Durchdringung der Struktur voll‐ ständig auf den Wortlaut des Bilderbuchtextes zurück“ (ebd., S. 204). (Vgl. ebd.) Sowohl bei Oda als auch bei Eda scheint der Erwerb der Tempusflexion hinsichtlich der Vergangenheitstempora noch nicht abgeschlossen zu sein. Die Autorinnen gehen davon aus, „dass die korrekt flektierten Präteritumformen von starken Verben von den Kindern ausgehend vom Input reproduziert und eingepasst und nicht neu gebildet werden“ (ebd., S.-204). (Vgl. ebd.) Oda (5; 6 Jahre) löst sich stärker als Eda von der Vorlage. Sie gebraucht einige strukturelle Einpassungen, die Hinweise darauf geben, dass Oda „die darunterliegenden syntaktischen Konstruktionen zumindest teilweise versteht und anwenden kann“ (ebd.). Der Versuch einer metaphorischen Einpassung, der misslingt, zeigt nach Mülller-Brauers et al. deutlich, „inwiefern Oda sprachliche Strukturen der literarischen Vorlage in ihre eigene Sprachproduktion einzu‐ passen versucht, die sie jedoch inhaltlich noch nicht vollständig erschlossen hat“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Aus den Beobachtungen zu den zwei Fallbeispielen ziehen Müller-Brauers et al. den Schluss, „dass Kinder sprachliche Strukturen aus dem Vorleseinput mimetisch in die eigene Sprachproduktion einpassen“ (ebd.). Die Einpassungen können dabei aus lexikalischen Einheiten (Wörter, Wortkombinationen) der vorgelesenen Geschichte bestehen. Es kann sich dabei um bestimmte Wort‐ formen handeln (z. B. Verben im Präteritum oder Plusquamperfekt). Die Ein‐ passungen können aber auch „aus syntaktischen Strukturen, die direkt über‐ nommen und mit anderen Inhaltwörtern bekleidet werden“ (ebd.), bestehen. (Vgl. ebd.) Müller-Brauers et al. stellen mit Blick auf die Fallbeispiele mehrere Hypo‐ thesen auf und formulieren mögliche Erklärungen für die Beobachtungen. Eine 106 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="107"?> Vermutung besteht darin, dass während des Vorlesens beim Kind Sprachlernpro‐ zesse stattfinden, die ihm den Gebrauch elaborierter sprachlicher Strukturen in der eigenen narrativen Sprachproduktion erlaubt. Eine Erklärung für Einpassungen literater Strukturen könnte ihre auffälligere Form sein, die im Gegensatz zu den in der Alltagskommunikation genutzten Formen steht. Durch mehrmaliges Vorlesen könnten diese salienten Strukturen tiefer verankert und somit leichter abrufbar sein. (Ebd.) Aber auch „die Absicht, einen Vorlesevorgang zu imitieren“ (ebd.), oder ein starker kommunikativer Druck könnten „der Auslöser für die Wiederholung und somit die Einpassung der literaten Strukturen sein“ (ebd.). Bei der Erklärung der Einpassungsphänomene müssen jedoch auch die Faktoren wie Alter des Kindes und Häufigkeit der gehörten Strukturen berücksichtigt werden. So orientierte sich Ela morphologisch und lexikalisch stärker am vorgelesenen Bilderbuch, das sie dreimal vorgelesen bekommen hatte. Oda, die 18 Monate älter als Ela ist, das Buch jedoch nur einmal vorgelesen bekommen hatte, „nahm weniger Einpassungen von ganzen literaturspezifischen Lexemen und Phrasen vor“ (ebd.). Zudem zeigte sie einen flexibleren Tempusgebrauch. In vielen Fällen waren die satzstrukturellen Einpassungen, die sie vornahm, un‐ vollständig. „Möglicherweise ließe sich daraus schließen, dass die Frequenz der dargebotenen Strukturen im Input ein wichtiger Faktor für sprachliche Einpassungen sein könnte“ (ebd.), so die Autorinnen. (Vgl. ebd.) Müller-Brauers et al. führen eine Reihe von Forschungsfragen und weiter‐ führenden Hypothesen auf. So ließe sich als Annahme formulieren, „dass sich Vorlesefrequenz, das interaktive Vorleseverhalten, das Alter und das sprachliche Vorwissen der Kinder positiv auf die Nutzung literater Strukturen des Vorle‐ seinputs auswirken“ (ebd., S. 205). Als mögliches Forschungsdesiderat wird die Kontrastierung von sprachlichen Einpassungen in den beiden Interaktionsmodi imitierendes Vorlesen und gestützte Geschichtenwiedergabe genannt. Auch stellt sich hinsichtlich des Erwerbs literater Strukturen die Frage, ob „durch die Einpassung literater Strukturen, die das Kind noch nicht vollständig analysiert hat, eine funktionale Ausdifferenzierung literater Sprachstrukturen ermöglicht“ (ebd.) wird. Müller-Brauers et al. halten es für denkbar, dass solche Einpassungen den Kindern eine Hilfe sein können, diese gehörten Strukturen zunächst zu memorieren, „sie davon ausgehend zu durchdringen, um sie auch in anderen Kontexten flexibel einsetzen zu können“ (ebd.). Aus sprachdidaktischer Sicht könnte nach Müller-Brauers et al. […] das Passungsverhältnis von der durch den Bilderbuchtext ausgehenden Sprach‐ komplexität, dem sprachlichen Vorwissen des Kindes und der Realisierung adäquater 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 107 <?page no="108"?> 58 Pappas bezieht sich hier auf folgende Literatur: Spiro, Rand J./ Taylor, Barbara M. (1987): On investigating children’s transition from narrative to expository discourse: The multidimensional nature of psychological text classification. In: Tierney, Robert J./ Anders, Patricia L./ Mitchell, Judy Nichols (Hrsg.): Understanding readers‘ understanding: Theory and practice. Hillsdale, NJ: Erlbaum, S.-77-93. 59 Hier nimmt Pappas (1993) auf Spiro/ Taylor 1987 Bezug. sprachproduktiver Anlässe in den Blick genommen werden, um daraus Schlüsse für die Sprachförderpraxis zu ziehen. (Ebd.) Es lässt sich festhalten, dass die Ergebnisse der Fallanalysen nach Müller-Brauers et al. „die Bedeutung der literarischen Grundlage für den Spracherwerb“ (ebd., S.-199) unterstreichen (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten Studien, bei denen Grammatikalität bzw. dekontextualisierter Sprachgebrauch eine zentrale Rolle spielt, wird in der Studie von Pappas (1993) Narrativität in den Blick genommen: Die Studie widmet sich dem Vergleich von „vorgelesenen“ Geschichten und „vorgelesenen“ Sachbüchern. Ausgangspunkt der Studie von Christine C. Pappas ist die verbreitete An‐ nahme 58 , dass die Fähigkeit von Kindern, Narrationen zu verstehen und zu verfassen, der Entwicklung ihrer Fähigkeiten vorangeht, schriftliche Sprache zu verstehen und zu gebrauchen, die anderen Textsorten zugrunde liegt - sogenannte „non-story written language“ 59 (Pappas 1993, S.-97). (Vgl. ebd.) Die Daten zum Pretend Reading, die Pappas (1993) vorstellt, sind Teil einer größeren Studie. An dieser nahmen 20 Kindergartenkinder teil, die unterschied‐ liche sozioökonomische Hintergründe hatten. Dabei gehörten die meisten Familien der Arbeiterklasse/ Unterschicht und der Mittelschicht an. Die Daten‐ erhebung fand zu drei Zeitpunkten statt, wobei sich die von Pappas dargestellten Ergebnisse auf die ersten zwei Erhebungszeitpunkte beziehen. In allen drei Erhebungsphasen wurden jeweils zwei unterschiedliche Bücher verwendet - eine Erzählung (story) und ein Sachbuch (information book). Den drei Datener‐ hebungssitzungen ging eine Einführungssitzung voraus. In dieser wurde den Kindern sowohl ein Sachbuch als auch das Bilderbuch Fix-It (1984) von McPhail vorgelesen. Im Anschluss daran durften die Kinder wählen, welches der beiden Bücher sie selbst „vorlesen“ wollten. Die Geschichte Fix-It endet damit, dass die Protagonistin Emma ihrer Puppe eine Geschichte „vorliest“, die ihr von ihrer Mutter zuvor mehrfach vorgelesen wurde. Auf diesen Inhalt wurde in der Studie bei der Überleitung zum Pretend Reading zurückgegriffen: „When it was time to take their turn to read, we acknowledged that they might not be able to read the book for real, but suggested that they could read it their own 108 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="109"?> way - they could pretend read it just like Emma [Hervorh. im Original]“ (ebd., S. 102). Jede der drei Datenerhebungsphasen umfasste drei Tage. Am ersten Tag wurde dem Kind jeweils zuerst die jeweilige Geschichte vorgelesen. An diese Tätigkeit schloss sich das Pretend Reading des Kindes an. Anschließend wurde dem Kind das Sachbuch vorgelesen, gefolgt vom Pretend Reading des Kindes. Am zweiten und am dritten Tag wurden ebenfalls beide Bücher von der oder dem Erwachsenen vorgelesen und anschließend vom Kind „vorgelesen“, wobei das Kind jeweils die Wahl hatte, mit welchem Buch begonnen werden sollte. Bei der Durchführung der Pretend-Reading-Situation wurde versucht, die Routinen einer gemeinsamen Vorlesesituation zu simulieren: „When children took their turns, they were in charge of the books - they held the book, turned the pages, and so forth. Thus, the study attempted to simulate the routines found in typical book-sharing settings“ (ebd., S.-102). (Vgl. ebd., S.-101f.) Äquivalent zu der bereits geschilderten Beobachtung, dass ein einjähriges Mädchen seine Stimmmelodie veränderte, wenn es einer erwachsenen Person ein Buch zum Vorlesen brachte (vgl. Dehn/ Sjölin 1996, S. 1143), konnte auch in dieser Studie beim Pretend Reading der Kinder der Gebrauch einer „Vorlese‐ stimme“ beobachtet werden: „All children used a reading voice in their pretend reading that could easily be distinguished form their conversation to the adult reader“ (Pappas 1993, S. 102). Zudem konnte festgestellt werden, dass die Mehrheit der Kinder das Sachbuch der Geschichte vorzog (vgl. ebd., S. 125). Als wichtige Eigenschaften, die Narrationen und Sachbücher voneinander un‐ terscheiden, nennt Pappas Koreferentialität („co-referentiality“) bei Narrationen und Co-Klassifizierung („co-classification“) bei Sachbüchern (vgl. ebd., S. 103). Ein weiteres Ergebnis der Studie besteht darin, dass Kinder beim Wiedergeben der Sachbücher genauso erfolgreich waren wie bei der Wiedergabe der Ge‐ schichten (vgl. ebd., S. 125): „The data presented […] indicate that young children are able to sustain co-referentiality in stories and co-classification in information books; they are able to acquire knowledge through the written texts of the two respective genres“ (ebd.). Bedeutsam ist nach Pappas ein Verständnis der Kinder dafür, dass es verschiedene Textstrukturen in unterschiedlichen schriftlichen Genres gibt, mit denen verschiedene Funktionen erfüllt werden können. Die Daten ihrer Studie zeigen, dass Kinder eine solche Aufgabe bewältigen können. (Vgl. ebd., S.-127) To become literate, the young child has to come to terms with certain important characteristics of written language that are different from spoken language - its sustained organization, its disembedded quality. And, children need to understand that different conventional rhythms and structures are expressed in different written 4.1 Pretend Reading im Elementarbereich 109 <?page no="110"?> genres to meet various social purposes in our culture. The data presented here suggest that young children are capable of taking on such a task. So the challenge is: What changes will we need to make so that children have enough opportunities to extend the functional potential of language so they can gain full access to literacy? (Ebd., S.-126f.) In der vorliegenden Studie werden - im Gegensatz zu den vorgestellten Studien zum Pretend Reading im Vorschulalter - die Bedeutsamkeit der Musterhaftigkeit für die Textproduktion der Kinder in den Fokus gerückt und Beziehungen zwischen Kindertext und Bilderbuchtext im Detail herausgearbeitet. Zudem wird Pretend Reading als Textproduktionsprozess aus der Perspektive der Schreibforschung beleuchtet und in Beziehung zu Polanyis Theorie impliziten Wissens gesetzt. Nach Wittmer (2021) steht Forschung zu der Frage aus, „welche Zugänge zu Elementarer Schriftkultur das Pretend Reading zu Bilderbüchern ermöglicht“ (Wittmer 2021, S. 144). Exemplarisch geht er dieser Frage anhand eines Auszugs aus einer Pretend-Reading-Situation mit zwei fünfjährigen Kin‐ dern nach (vgl. ebd.). Im Pretend-Reading-Text zeigen sich nach Wittmer Spuren ihrer Rezeption. Dabei erzählen die Kinder „die Bilderbuchvorgabe nicht nach, sondern erzählen sie neu - sie konstruieren ihren eigenen Bilderbuchtext und erproben sich dabei im Literarischen wie Sprachlichen“ (ebd., S.-147). 4.2 Pretend Reading in der Grundschule Die folgende Darstellung des Forschungsstandes zum Einsatz der Methode Pretend Reading in der ersten sowie in der dritten Klasse macht deutlich, dass im Pretend Reading sowohl ein Potential zur Initiierung sprachlicher Lernprozesse als auch literarischer Lernprozesse gesehen werden kann. Nach Sandra Last, Daniela Merlinger und Sascha Wittmer lesen Kinder beim Pretend Reading Bilderbücher „aus der Erinnerung“ (Last/ Merklinger/ Wittmer 2017, S. 18) vor. Sie produzieren eigene Texte zu dem, was sie gehört haben, wobei eine Orientierung „an Formulierungen der Schriftlichkeit“ (ebd.) statt‐ findet. Sie „transformieren […] die sprachlichen Muster der Vorgabe und machen sie sich zu eigen - eine Möglichkeit für sprachliches Lernen“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Pretend Reading kann jedoch nicht nur als Lernsituation gesehen werden, sondern auch als Beobachtungssituation für Lehrende dienen (vgl. ebd., S. 19). So kann ein Transkript aus einer Pretend-Reading-Situation einen Einblick geben, „über welche Erfahrungen Kinder im Umgang mit Literarität und Schriftsprache verfügen“ (ebd.). Last et al. stellen zwei Beispiele vor, wie Pretend Reading in der 110 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="111"?> Grundschule genutzt werden kann, von denen sich eine Möglichkeit auf erste Klassen und eine weitere auf dritte Klassen bezieht. Kombiniert werden kann Pretend Reading in der ersten Klasse mit dem Einsatz von Lese-Hör-Kisten (vgl. Hüttis-Graff 2012), die Hörspiele und zugehörige Bilderbücher enthalten. „Lies deinen Mitschülerinnen und Mitschülern ein Bilderbuch deiner Wahl so vor, als ob du schon lesen kannst“ (Last et al. 2017, S. 18), schlagen Last et al. als Arbeitsauftrag vor. Last et al. analysieren die mündliche Textproduktion eines Erstklässlers, der sprachliche Strukturen der Geschichte transformiert und eigene Vorstellungsbilder in Sprache formt. Der Text weist sowohl Merkmale von Mündlichkeit und als auch Merkmale konzep‐ tioneller Schriftlichkeit auf. Zu letzteren gehören der Gebrauch hypotaktischer Satzkonstruktionen, das Nutzen des Präteritums - „die für literarische Texte typische Form“ (ebd., S. 19) sowie sein eindrucksvoller Umgang mit dem Begriff Phobie. (Vgl. ebd.) Pretend Reading kann ebenfalls in höheren Klassenstufen als didaktische Möglichkeit eingesetzt werden. Als Ausgangspunkt einer solchen Überlegung nennen Last et al. die Frage „wie in inklusiven Lernkontexten auch diejenigen an Schriftkultur und insbesondere am Vorlesen teilhaben können, die nur schwer selbständig lesen können“ (ebd.). Nach Last et al. gilt Pretend Reading jedoch für alle Kinder als eine Herausforderung. (Vgl. ebd.) Eine Möglichkeit, Erstklässlern einen Zugang zum Pretend Reading zu ermöglichen, besteht darin, Kinder aus dritten Klassen den Arbeitsauftrag zu geben, „das Pretend Reading so in einer Dreiergruppe zu üben, dass sie es später Erstklässlern vortragen können“ (ebd.). Dazu müssen die Texte der Bilderbücher abgeklebt werden. (Vgl. ebd.) Ein Forschungsprojekt zum Pretend Reading in der Grundschule trägt den Titel „Pretend Reading: Zugänge zu Bilderbüchern in gereimter Sprache - eine explorative Studie in Klasse 3“ (Merklinger/ Wittmer 2018, S. 309). Mit Verweis auf Studien zum Pretend Reading aus dem angloamerikanischen Sprachraum konstatieren Merklinger und Wittmer, dass präliterale Vorschulkinder fähig seien, beim Pretend Reading „im Modus konzeptioneller Schriftlichkeit“ (ebd.) zu formulieren. (Vgl. ebd.) Das Pretend Reading kann dabei sowohl als Lernals auch als Erhebungsinstrument genutzt werden, da es einerseits Kindern - in Abhängigkeit von ihren literacy-Er‐ fahrungen - einen Zugang zu konzeptioneller Schriftlichkeit eröffnen kann und andererseits einen Einblick gibt, welche Erfahrungen sie bereits im Umgang nicht nur mit Literalität - die im weitesten Sinne an den Gebrauch von Buchstaben gebunden ist - sondern auch mit Literarität gemacht haben. (Ebd.) 4.2 Pretend Reading in der Grundschule 111 <?page no="112"?> 60 Es findet eine Orientierung an den Ausführungen von Dehn (2005) zum Schreiben als Transformationsprozess statt (vgl. Merklinger/ Schüler 2018, S. 318): Dehn, Mechthild (2005): Schreiben als Transformationsprozess. Zur Funktion von Mustern: literarisch - orthographisch - medial. In: Dehn, Mechthild/ Hüttis-Graff, Petra (Hrsg.): Kompetenz und Leistung im Deutschunterricht. Spielraum für Muster des Lernens und Lehrens. Ein Studienbuch. Freiburg: Fillibach, S.-8-32. Merklinger und Wittmer bezeichnen Pretend Reading ähnlich wie das diktierende Schreiben als eine Möglichkeit für Schülerinnen und Schüler, „im Medium der Mündlichkeit zu formulieren und dabei konzeptionelle Schriftlichkeit zu erproben“ (ebd., S. 310). Im Forschungsprojekt wird zum einen der Frage nachgegangen, welche sprachlichen Transformationsprozesse 60 „sich beim Pre‐ tend Reading zu Bilderbüchern in gereimter Sprache bei DrittklässlerInnen rekonstruieren“ (ebd.) lassen. Zum anderen wird der Blick auf den Reim und den Rhythmus der verwendeten Bilderbücher gelegt und untersucht, wie diese von den Kindern beim Pretend Reading genutzt werden. (Vgl. ebd.) Zur Datenerhebung wurden fünf dritten Klassen gereimte Bilderbücher vorgelesen, während fünf weitere dritte Klassen Prosaversionen dieser Bücher vorgelesen bekamen. Mit den Kindern wurde zunächst ein kurzes Vorlesege‐ spräch nach Spinner (2010) durchgeführt. Das Bilderbuch wurde ihnen erneut ohne Vorlesegespräch vorgelesen. Während eine Hälfte der Klasse eine schrift‐ liche Anschlussaufgabe bekam, erhielt die andere Hälfte eine mündliche. Die Schrifttexte der Bilderbücher wurden zur Bearbeitung der Anschlussaufgaben abgeklebt. Die mündliche Anschlussaufgabe bestand darin, einer oder einem Studierenden, die oder der beim Vorlesen der Bilderbücher abwesend war, das textlose Bilderbuch vorzulesen. Die mündliche Aufgabenstellung lautete: Du hast (Bilderbuchtitel) zweimal gehört. Ich war beim Vorlesen nicht dabei. Dieses Buch hat keinen Text, nur Bilder (blättern, zeigen). Tu so, als ob du den Text trotzdem vorlesen würdest. So, wie du den Text in Erinnerung hast - mit deinen Worten. (Merklinger/ Wittmer 2018, S.-311) Während der Pretend-Reading-Situation hatten die Studierenden keinen Blick auf die Bilder des Bilderbuches, was die Kinder in einem stärkeren Maße zum dekontextualisierten Sprachgebrauch anregen sollte. Am Ende der Erhebung hatte jedes Kind drei schriftliche und drei mündliche Anschlussaufgaben bear‐ beitet. Der didaktische Rahmen bestand darin, dass die Drittklässlerinnen und -klässler in Gruppen Erstklässlerinnen und -klässlern ein Bilderbuch im Pretend Reading Modus vorlasen, um sie zu befähigen, das gleiche zu tun. (Vgl. ebd.) Merklinger und Wittmer zeigen anhand der Analyse eines Transkriptaus‐ zugs, inwiefern sich beim Pretend Reading stattfindende sprachliche Transforma‐ 112 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="113"?> tionsprozesse rekonstruieren lassen (vgl. ebd., S.-319f.). Explizit sei auf folgende Beobachtung hingewiesen: Das Kind „wiederholt Wörter und Strukturen des Bilderbuches an anderer Stelle als in der Bilderbuchvorgabe verwendet“ (ebd., S. 322). Merklinger und Wittmer bemerken auch anhand weiterer Transkripte, „dass Kinder Wörter und Strukturen des Bilderbuches an anderer Stelle als in der Bilderbuchvorgabe transformieren“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Exemplarisch zeigt das von Merklinger und Wittmer vorgestellte Beispiel, dass Kinder „beim Pretend Reading das Sprachmaterial aus der Vorgabe in der Art eines ‚impliziten Scaffolding‘ verwenden“ (ebd. S.-324). (Vgl. ebd.) Anhand der exemplarischen Analyse der Textproduktion des Drittklässlers lassen sich zusammenfassend folgende Orientierungen für sprachliche Trans‐ formationen identifizieren: Erstens können Transformationen auf lexikalischer Ebene stattfinden. Wörter werden wörtlich übernommen und werden „in eine neue syntaktische Struktur eingebaut“ (ebd., S. 324). Zweitens werden syntak‐ tische Strukturen aus der Vorlage übernommen und um weitere Wörter ergänzt. Drittens können klangliche Ähnlichkeiten Gegenstand von Transformations‐ prozessen sein. Viertens besteht die Möglichkeit, dass vom Kind ein Bildaspekt der Vorgabe in Sprache transformiert wird. Fünftens können bei den Transfor‐ mationen Veränderungen auf morphematischer Ebene stattfinden. (Vgl. ebd., S. 324f.) Nach Merklinger und Wittmer geben die work-in-progress-Befunde Hinweise darauf, „dass Pretend Reading durch den materialisierten Gebrauch des Mediums Bilderbuch einen konzeptionell schriftlichen Sprachgebrauch provoziert“ (ebd., S. 325). Zudem regen gereimte Bilderbücher, die als Vorgabe im erprobten Pretend Reading Setting dienen, auf verschiedenen Ebenen zu sprachlichen Transformationsprozessen an. (Vgl. ebd.) Wittmer (2019) beschäftigt sich zudem mit der Frage, „welche Potenziale dem Pretend Reading für die Äußerung von Vorstellungsbildern zu einer literari‐ schen Vorgabe innewohnen“ (Wittmer 2019, S. 95). Dabei bezieht er sich auf Daten der vorgestellten Erhebung. Pretend Reading umschreibt Wittmer mit Hilfe der Formulierung etwas neu erzählen: „Die DrittklässlerInnen erzählen beim Pretend Reading die Geschichte der Bilderbuchvorgabe neu“ (ebd., S. 111). (Vgl. ebd.) Nach Wittmer geben die Kinder beim Pretend Reading „Vorstellungen eine äußere Form, die sie zu dem Bilderbuch im Kopf entwickelt haben“ (ebd.). Diese Vorstellungen gehen höchstwahrscheinlich über das beim Pretend Reading Gezeigte hinaus. In seinem Beitrag präsentiert Wittmer verschiedene Transkriptbeispiele zum Pretend Reading, die exemplarisch zeigen, dass die Kinder durch das Setting angeregt wurden, verschiedene Vorstellungen zu for‐ mulieren, die „wiederum in unterschiedlichen Verhältnissen zur vorgelesenen gehörten Bilderbuchvorgabe stehen“ (ebd.). So füllt ein Kind eine Leerstelle des 4.2 Pretend Reading in der Grundschule 113 <?page no="114"?> Bilderbuches, indem es die Vorstellung einer literarischen Figur formuliert. Ein anderes Kind lässt zwei Figuren des Bilderbuches einen Dialog führen, während im Bilderbuch selbst kein Dialog stattfindet, sondern lediglich ein Denken ihrer Standpunkte. Nach Wittmer geht das Kind dabei auf einen im Bilderbuch nicht explizierten Inhalt ein und formuliert eine Vorstellung, die „den Inhalt des Bil‐ derbuches modifiziert [Hervorh. im Original]“ (ebd.). Ein weiteres Kind reichert den gehörten Vorlesetext an, indem es seine Vorstellung des Kälteempfindens der Figuren durch ein Zusammenspiel von Bildtext, Sprechtext, Körpersprache und Prosodie zum Ausdruck bringt. Anders als in der Vorlesesituation zittert das Kind beim Pretend Reading in dieser Situation zusätzlich mit seinem Oberkörper und seinen Beinen. Ein anderes Kind reichert ebenfalls seinen Text an, indem es nicht nur wie im Bilderbuch formuliert, dass die Ohren einer Figur zugefroren sind, sondern noch ergänzt, die Figur könne nichts hören. (Vgl. ebd.) Dasselbe Kind formuliert eine Vorstellung, „die in einem gegensätzlichen Verhältnis zur Vorgabe steht [Hervorh. im Original]“ (ebd., S. 112). In diesem Beispiel reagiert eine Figur nicht ängstlich wie im Bilderbuch, sondern selbstsicher. Zudem verwendet dieses Kind eine Formulierung, die darauf schließen lässt, dass es „einen Inhalt in Sprache transformiert, der bis dahin nur implizit im Bildtext angelegt ist“ (ebd.). Dieser Inhalt wird im Bilderbuchtext erst zu einem späteren Zeitpunkt geäußert. Aus diesem Grund spricht Wittmer davon, dass das Kind „das Explizieren dieses Inhalts zeitlich verschiebt [Hervorh. im Original]“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Nach Wittmer geben die Analysen Hinweise darauf, dass die Methode des Pretend Reading für Schülerinnen und Schüler eine Möglichkeit sein kann, mit Kinderliteratur rezeptiv und produktiv umzugehen. Dabei können die Kinder sich im Literarischen, im Sprachlichen und im Szenischen erproben. Sie geben „Vorstellungen eine äußere Form, die über die Inhalte der Bilderbuchvorgabe hinausgehen“ (ebd.) und nutzen dazu die Deutungsspielräume, die ihnen sowohl die vorangegangene Vorlesesituation als auch der Bildtext des Bilderbuches bieten. (Vgl. ebd.) 114 4 Pretend Reading als Form der Textproduktion <?page no="115"?> 5 Muster und Textproduktion In diesem Kapitel werden unterschiedliche konzeptionelle Perspektiven auf den Musterbegriff gegeben. In Anlehnung an die Einteilung von Sonja Birkle (2011), die im Rahmen ihrer Studie Erwerb von Textmusterkenntnis durch Vorlesen zum einen eine didaktische Perspektive auf Textmuster vorstellt und zum anderen Textmuster aus linguistischer Perspektive beleuchtet (wobei sie Textmuster einerseits als kognitive Konstrukte betrachtet und andererseits Dimensionen zur Beschreibung von Textmustern auf der Textebene formuliert; vgl. Birkle 2011, S. 73), soll der Musterbegriff im Folgenden aus (text)linguistischer und aus didaktischer Perspektive beleuchtet werden. Neben der Darstellung verschie‐ dener Vorstellungen von Musterhaftigkeit wird auf den Zusammenhang von Mustern und Textproduktion eingegangen und der Frage nach dem Verhältnis von Formelhaftigkeit und Kreativität bei der Textproduktion nachgegangen. Zudem wird das Konzept der Intertextualität in den Blick genommen, das stark mit dem Gebrauch von Mustern bei der Textproduktion in Verbindung steht und als Grundlage verschiedener didaktischer Konzepte zur Textproduktion dient. Des Weiteren wird die poetische Funktion der Sprache ( Jakobson 1972) mit Musterhaf‐ tigkeit in Verbindung gebracht und die bedeutsame Rolle von Musterhaftigkeit im Spracherwerb herausgestellt. Nach einer vergleichenden Darstellung der verschiedenen Vorstellungen von Mustern bzw. Musterhaftigkeit schließt das Kapitel mit der Vorstellung des der vorliegenden Studie zugrundliegenden Mus‐ terbegriffes, der - in einem induktiv-deduktiven Verfahren - sowohl durch die Beschäftigung mit theoretischen Konzepten zur Musterhaftigkeit als auch durch die Analyse der Daten aus Pretend-Reading-Situationen entwickelt wurde. 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 5.1.1 Musterhaftigkeit Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Werk Muster in Sprache und Kommunikation (2019) von Stephan Stein und Sören Stumpf. Stein und Stumpf sind davon überzeugt, „dass Idiomatik, Festigkeit, Formelhaftigkeit, Mo‐ dellhaftigkeit, Vorgeformtheit usw. keine Randphänomene einer Sprache sind, sondern dass sprachliche Musterhaftigkeit vielmehr ein grundlegendes und <?page no="116"?> überaus facettenreiches Wesenselement natürlicher Sprachen ist“ (Stein/ Stumpf 2019, S. 11). Von vorgefertigten Strukturen und Einheiten wird im Bereich der Mündlichkeit und im Bereich der Schriftlichkeit tagtäglich Gebrauch gemacht. Stein und Stumpf vermuten, dass dieser Rückgriff auf Vorgefertigtes sich meist unbewusst vollzieht. (Vgl. ebd.) Sprachliche Musterhaftigkeit bezeichnen sie als ein sehr heterogenes Phänomen (vgl. ebd., S. 15). „Man denkt, wenn von Mus‐ terhaftigkeit die Rede ist, […] meistens automatisch an lexikalische Einheiten, wie sie vor allem im Rahmen von Idiomatik/ Phraseologie und Parömiologie behandelt werden“ (ebd.). Stein und Stumpf erscheint es hingegen naheliegend, ein weites Konzept von Musterhaftigkeit zu vertreten, wonach sich Musterhaftigkeit nicht nur in lexikalisch fassbaren Ausdrücken (Mehrworteinheiten), deren Untersu‐ chung in die Zuständigkeit der Phraseologieforschung und angrenzender Disziplinen wie die Parömiologie fällt, sondern auch in nur konzeptionell zu bestimmenden Struk‐ turen unterschiedlicher Art und Komplexität ausprägen kann, deren Untersuchung in die Zuständigkeit auch anderer linguistischer Teildisziplinen gehört [Hervorh. durch Verf.]. (Ebd., S.-16) Stein und Stumpf geben einen „Überblick über die vorgeformten sprachlichen Phänomene der deutschen Gegenwartssprache“ (ebd., S. 11). Dabei beleuchten sie verschiedene Ebenen sprachlicher Musterhaftigkeit. (Vgl. ebd.) Bei der folgenden Darstellung dieser sechs Ebenen liegt der Fokus auf den Ebenen, die für die vorliegende Studie von besonderer Bedeutung sind. Dieser Darstellung gehen Überlegungen von Stein und Stumpf zur Begriffsbestimmung von Mus‐ terhaftigkeit voraus. Jede Sprachteilhaberin [und jeder Sprachteilhaber], die [oder der] den eigenen wie den fremden Sprachgebrauch einigermaßen aufmerksam beobachtet, stellt unweigerlich fest, dass sich vieles wiederholt. Das gilt vor allem dann, wenn sich bestimmte Sprach‐ gebrauchssituationen selbst wiederholen, weil es die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben automatisch mit sich bringt, dass man gleiche oder ähnliche kommunikative Aufgaben bewältigen möchte oder bewältigen muss […]. (Ebd., S.-13) Es gibt kommunikative Tätigkeiten oder Routinen des Alltags (z. B. Handlungen des Begrüßens), für die innerhalb einer Sprachgemeinschaft ein Repertoire an Ausdrucksformen existiert, das als relativ fest bezeichnet werden kann. Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche Sprachgebrauchssituationen, „denen keine Alltagroutinen zugrunde liegen, in denen sich aber dennoch Sprachge‐ brauchsmuster wiedererkennen lassen“ (ebd.). Stein und Stumpf verweisen in diesem Zusammenhang auf den Phraseologismus Öl ins Feuer gießen. (Vgl. ebd.) Aufgrund der „Heterogenität der Phänomene, die als musterhaft bestimmt 116 5 Muster und Textproduktion <?page no="117"?> werden können“ (ebd., S. 19) ist eine Begriffsdefinition von Musterhaftigkeit nach Stein und Stumpf sehr schwierig. Das Grundmerkmal von Musterhaftigkeit besteht jedoch darin, […] dass in der Kommunikationspraxis etwas - sprachliche Strukturen und Aus‐ drücke, Abläufe und Abfolgen, Entstehungsprozesse, Verwendungsanlässe und -mo‐ tive - wiederholt auftritt, sodass im Ergebnis ein Produkt entsteht, dem etwas mehr oder weniger stark Wiedererkennbares anhaftet. Grundlegendes Bestim‐ mungsmerkmal für Musterhaftigkeit ist also, dass von Sprachteilhaber(inne)n in vergleichbaren Kommunikationszusammenhängen etwas - meist auf gesellschaftlich akzeptierte, wenn nicht sogar erwünschte und erwartete Weise, sofern sie eine oder sogar die sozial typisierte Art der Kommunikationsdurchführung darstellt - wiederverwendet wird [Hervorh. im Original]. (Ebd., S.-19) Musterhaftigkeit kommt auf allen sprachlichen (Beschreibungs-)Ebenen vor und kann somit „lexikalisch mehr oder weniger spezifiziert“ (ebd.) erscheinen. „[N]eben lexikalisch stark verfestigten [Strukturen umfasst sie] auch abstrakte Strukturen“ (ebd.). Dies ist in der nachstehenden Übersicht (vgl. Tabelle 2) ersichtlich. 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 117 <?page no="118"?> Vorgeformtheitsphänomen Beispiele h o h e r A b s t r a k t i o n s g r a d n i e d r i g e r v o l l l e x i k a l i s i e r t (lexikalisch spezifizierte) Phraseme jmdn. auf die Palme bringen, gang und gäbe, das Weiße Haus, den Tisch decken, Guten Tag, Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, Morgen ist auch noch ein Tag, Aller Anfang ist schwer t e i l l e x i k a l i s i e r t Wortbildungsmuster Verb(stamm) + -bar = deverbales Adjektiv mit passivisch-modaler Bedeu‐ tung: tragbar, genießbar, hörbar Modellbildungen/ Phrasem- Konstruktionen von X zu X (von Tür zu Tür), typisch X (typisch Mann), ein X von Y (ein Bild von einem Kerl) Verbvalenz berichten als dreiwertiges Verb: jmd. 1 berichtet jmdm. 2 etw. 3 formelhafte Texte Sehr geehrte Fahrgäste. In Kürze erreichen wir […]. Unser Zug endet hier. Für Ihre Anschlussmöglichkeiten achten Sie bitte auf die Ansagen am Bahnsteig. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung […] k a u m o d e r n i c h t l e x i k a l i s i e r t Satzmuster Der Nikolaus bringt Kindern kleine Geschenke: [[NP NOM ] [VP] [NP DAT ] [NP AKK ]] mit den semantischen Rollen A G E N S , E M P F ÄN G E R und B E T R O F ‐ F E N E S im Rahmen des „geben-Modell[s]“ (nach Heringer 2001, S.-136) (ritualisierte) Gesprächsphasen Eröffnungs-, Kern- und Abschlussphase, Auskunftsersuchen und Aus‐ kunftserteilung als Teile der Kernphase im Auskunftsdialog rituelle Muster und Adjazenzpaare bzw. Paarsequenzen in Gesprächen Alltagsrituale wie Gruß-Gegengruß, Dank-Gegendank, Frage-Antwort, Vorwurf-Rechtfertigung Textsorten/ -muster, Gesprächs‐ sorten, kommunikative Gattungen Rezension, Todes- und Traueranzeige, Sprechstundengespräch, Prü‐ fungsgespräch Argumentationsmuster/ Topoi Gefahren-Topos im Einwanderungsdiskurs (vgl. Stein/ Stumpf 2019, Kap. 7) 118 5 Muster und Textproduktion <?page no="119"?> Metaphern und Metaphernsysteme die letzte Reise antreten (‚sterben‘, konzeptualisiert i. S. v. L E B E N U N D T O D A L S R E I S E ), A R G U M E N T I E R E N I S T K R I E G (ein Argument ins Feld führen) Denkstereotype Der Chinese isst alles. Der Deutsche ist ordnungsliebend. Tabelle 2: Nachgebildete Übersicht über sprachlich vorgeformte Phänomene nach Stein und Stumpf (aus Stein/ Stumpf 2019, S.-18) 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 119 <?page no="120"?> 61 Heringer, Hans Jürgen (2001 2 ): Lesen lehren lernen. Eine rezeptive Grammatik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Bei ihren Überlegungen zu Musterhaftigkeit orientieren sich Stein und Stumpf am Zentrum-Peripherie-Modell, am Ebenen-Modell idiomatischer Prägung nach Feilke (2004) und an Ansätzen aus der Konstruktionsgrammatik (vgl. Stein/ Stumpf 2019, S.-26-33). Stein und Stumpf unterscheiden zwischen Musterhaftigkeit „auf der Wort‐ ebene, der Mehrwortebene, der Satzebene, der Textebene, der Gesprächsebene und der Diskursebene“ (ebd., S. 12). Die unterste Ebene sprachlicher Musterhaf‐ tigkeit ist die Wortebene. Neue Wörter lassen sich im Deutschen mithilfe der Wortbildung produzieren - und zwar „auf der Grundlage bereits vorhandenen Sprachmaterials“ (ebd., S. 65). So vollzieht sich die Bildung neuer Wörter „auf der Basis bestimmter Wortbildungsmuster“ (ebd.). Als die zwei wichtigsten Wortbildungstypen nennen Stein und Stumpf die Komposition (z. B. „Tisch-decke“ (ebd.)) und die Derivation (z. B. „Drehung“ (ebd.)). (Vgl. ebd.). Musterhaftigkeit auf der Mehrwortebene ist für die vorliegende Studie von besonderer Relevanz. „Die Mehrwortebene kann als Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung von Musterhaftigkeit verstanden werden“ (ebd., S.-67). Musterhaftigkeit auf der Satzebene zeigt sich in Form von sogenannten Satzmustern. Valenztheoretische Ansätze betonen, „dass das Prädikat als Zentrum des Satzes dessen Struktur in Form von Satzmustern vorgibt“ (ebd., S. 95). So bestimmt das Verb sowohl die Anzahl der in einem Satzmuster vorhandenen Stellen als auch die Art und Weise, wie diese (semantisch und formal) gefüllt werden können. (Vgl. ebd.) Es gibt verschiedene Typen von Satzmustern (vgl. ebd., S. 106ff.). Stein und Stumpf orientieren sich an Heringer (2001), 61 der zwischen ein-, zwei und dreiwertigen Modellen unterscheidet, denen sich 17 verschiedene Satzmuster zuordnen lassen. Stein und Stumpf stellen eine Auswahl dieser in verkürzter und modifizierter Form vor. (Vgl. Stein/ Stumpf 2019, S. 107ff.) Zur Illustration sei an dieser Stelle beispielshaft das zweiwertige Satzmuster genannt, das sowohl eine Nominativergänzung (Agens) als auch eine Akkusativergänzung (Betroffenes) verlangt und dabei die Bedeutung des Verbrauchens aufweist. Dieses liegt z. B. dem Satz „Sie essen/ konsumieren/ naschen Schokolade“ (ebd., S.-121) zugrunde. (Vgl. ebd.) Musterhaftigkeit auf der Textebene kann sich sowohl in der Wortwahl für bestimmte Teiltexte zeigen als auch in Kompositionen ganzer Texte (vgl. ebd., S. 123). Bei Erscheinungsformen von Musterhaftigkeit ist es naheliegend, „dass es sich […] nur teilweise um Ausprägungen lexikalischer Spezifiziert‐ heit handeln kann“ (ebd.). Sie zeigt sich „eher in der Rekurrenz abstrakter 120 5 Muster und Textproduktion <?page no="121"?> 62 Stein und Stumpf (2019) beziehen sich in diesem Zusammenhang auf Sandig (2010) und Lenk (2014): Sandig, Barbara (2010): Formulierungsmuster, idiomatische Prägungen, Konstruktionen. Zum Bewerten in journalistischen Texten. In: Korhonen, Jarmo/ Mieder, Wolfgang/ Piirainen, Elisabeth/ Pinel, Rosa (Hrsg.): EUROPHRAS 2008. Beiträge zur internationalen Phraseologiekonferenz vom 13.-16.8.2008 in Helsinki. Helsinki, S. 169- 179. Lenk, Hartmut E. H. (2014): Kommunikative Routineformeln in Zeitungskommentaren. In: Kolehmainen, Leena/ Lenk, Hartmut E. H./ Tiittula, Liisa (Hrsg.): Kommunikative Routinen. Formen, Formeln, Forschungsberichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Irma Hyvärinen. Frankfurt a. M., S.-77-98. 63 Kühtz, Stefan (2007): Phraseologie und Formulierungsmuster in medizinischen Texten. Tübingen. Strukturen und Schemata […], auf die in einer Sprachgemeinschaft für die Bewältigung bestimmter kommunikativer Aufgaben zurückgegriffen wird“ (ebd.). Textmusterhaftigkeit auf der Textebene kann nach Stein und Stumpf sowohl makrostrukturelle und mikrostrukturelle Prägungen umfassen: Unter makrostrukturellen Prägungen sind Textstrukturen gemeint, während unter mik‐ rostrukturellen Prägungen Formulierungsmuster verstanden werden. (Vgl. ebd., S.-129) Bei Formulierungsmustern handelt es sich […] um im Sprachgebrauch (in bestimmten Kommunikations- und Handlungsbe‐ reichen, Institutionen, Textklassen oder Textsorten) usuell auftretende sprachliche Einheiten, die in einer bestimmten Form entweder mit einer bestimmten Bedeutung versehen oder für die Wahrnehmung bestimmter kommunikativer Aufgaben funktio‐ nalisiert sind. (Ebd., S.-135) Es lassen sich aufgabenspezifische Subtypen unterscheiden. So gibt es beispiels‐ weise Gliederungsbzw. Textorganisationssignale, die als metakommunikative intertextuelle Verweise fungieren und formulierungsbezogene oder formulie‐ rungskommentierende Ausdrücke sein können: Zu nennen sind hier - z. B. hinsichtlich wissenschaftlicher Texte - Formulierungen wie „Im vorigen/ voraus‐ gehenden Kapitel wurde aufgezeigt/ dargelegt/ erwähnt“ (ebd., S. 134). Als weiteres Beispiel seien Formulierungsmuster des Kommentierens/ Bewertens 62 (beispiels‐ weise in meinungsbetonten Pressetexten) genannt: „Mag sein, dass […]“ dient hier der Evidenzabschwächung. Zur Abgrenzung von Formulierungsmustern zu Phrasemen weisen Stein und Stumpf auf Überlegungen von Kühtz (2007) 63 hin: Während Phraseme meist eine stabilere Ausdrucksstruktur haben, spricht Kühtz im Zusammenhang mit Formulierungsmustern von einer variableren Musterhaftigkeit. (Vgl. Stein/ Stumpf 2019, S. 135) „Insofern haben Kenntnis und Verwendung von Formulierungsmustern zur Folge, dass zwar die Formu‐ lierungsoptionen begrenzt werden, dass aber ausreichend Variationsspielraum 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 121 <?page no="122"?> verbleibt“ (ebd.). Makrostrukturelle Musterhaftigkeit liegt bei formelhaften Texten vor. Formelhafte Texte sind sprachliche Strukturen, die den Umfang von einem Satz haben können, meist jedoch einzelsatzübergreifende Einheiten darstellen. (Vgl. ebd., S.-136) Zu beobachten ist diese Art von Musterhaftigkeit auf Textebene vor allem dann, wenn kommunikative Aufgaben aus Gründen der Textproduktionsökonomie immer wieder mit ähnlichen oder sogar gleichen Textstrukturen und Formulierungen bewältigt werden (können) und dadurch für die Handlungsbeteiligten den Charakter von Routineaufgaben annehmen. (Ebd.) Als Beispiele für formelhafte Texte können u. a. Durchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Danksagungen genannt werden (vgl. ebd., S.-137). Musterhaftigkeit auf der Gesprächsebene bzw. Vorgeformtheitsphänomene in der mündlichen Kommunikation reichen nach Stein und Stumpf „von lexikali‐ schen Einheiten über syntaktische Konstruktionen bis hin zu gesprächsstruk‐ turellen und auf die Gesamtstruktur von Gesprächen einer bestimmten Sorte bezogenen Verfestigungen“ (ebd., S.-151). Musterhaftigkeit auf Diskursebene bezieht sich auf Musterhaftigkeit auf der inhaltlichen Ebene, die in einem Diskurs (einer Reihe von Texten zu einem be‐ stimmten Thema) identifiziert und analysiert werden kann (vgl. ebd., S. 177). Als sogenannte einzeltextübergreifende Ausprägungen von Musterhaftigkeit (ebd., S. 184) nennen die Autoren Argumentationsmuster bzw. Topoi, Metaphern und Denkstereotype (vgl. ebd., S. 184ff.). Musterhaftigkeit auf der Textebene sowie Musterhaftigkeit auf der Mehrwortebene werden nachfolgend genauer in den Blick genommen. Musterhaftigkeit auf der Textebene Musterhaftigkeit auf der Textebene wird exemplarisch an den Vorstellungen des Begriffes Textmuster von Teun A. van Dijk (1980), Barbara Sandig (1978), Ulla Fix, Hannelore Poethe und Gabriele Yos (2003) sowie Ulla Fix (2005) verdeutlicht. Globale „Strukturen, die den Typ eines Textes kennzeichnen [Hervorh. im Original]“ (van Dijk 1980, S. 128) bezeichnet Teun A. van Dijk als Superstruk‐ turen. „[E]ine Superstruktur ist eine Art Textform, deren Gegenstand, Thema, d. h.: Makrostruktur, der Textinhalt ist“ (ebd.). „Die Superstruktur ist also eine Art Schema, auf welches hin der Text angepasst wird [Hervorh. im Original]“ (ebd., S. 129). (Vgl. ebd., S. 128f.) Superstrukturen lassen sich auch als Textmuster bezeichnen. Martin Fix (2006) schreibt dazu: „Van Dijk (1980) differenziert […] zwischen Makrostruktur (Kernaussage) und Superstruktur (Textmuster)“ (Fix 2006, S. 79). Van Dijk illustriert Superstrukturen anhand der Erzählung. Bei einer 122 5 Muster und Textproduktion <?page no="123"?> 64 Der Abschnitt zu Textmustern nach Fix et al. (2003) ist in leicht modifizierter Form in der wissenschaftlichen Hausarbeit Rückmeldungen beim Textschreiben. Überlegungen zu lernförderlichen Rückmeldungen durch den Lehrenden zu Kindertexten im Schreibunter‐ richt der Grundschule (2011) der Autorin enthalten. Erzählstruktur handelt es sich um eine Superstruktur. (Vgl. van Dijk 1980, S. 128) Folglich lässt sich eine Erzählstruktur auch als Textmuster bezeichnen. Die Definition von Textmuster, die Ulla Fix, Hannelore Poethe und Gabriele Yos (2003) aufstellen, lässt eine sehr starke Verbindung zum Textsortenbegriff erkennen: Unser Alltagswissen über Textsorten ist […] Musterwissen. Wir haben Textsorten als Muster (im Sinne der kognitiven Psychologie) gespeichert. […] Es gibt innerhalb der Muster Elemente des Normativen als Handlungsorientierung, und es gibt Nicht‐ genormtes, Freiräume, die man individuell füllen muss. […] Man kann ein Textmuster als eine Anweisung mit prototypischen Elementen und Freiräumen betrachten, das über die jeweiligen inhaltlichen, funktionalen und formalen Gebrauchsbedingungen für Texte einer Textsorte informiert […]. Unter einer Textsorte ist demnach eine Klasse von Texten zu verstehen, die einem gemeinsamen Textmuster folgen. (Fix/ Poethe/ Yos 2003, S.-25f.) Demnach lassen sich bestimmte Textsorten bestimmten Textmustern zuordnen. In diesem Fall wird Textmuster ähnlich wie der Begriff Genre gebraucht. Nach Fix werden Muster durch sogenannte hochtypische Elemente mit Signalfunktion markiert, wie beispielsweise die in Märchen verwendete Formulierung Es war einmal (vgl. Fix 2005, S.-16). 64 Barbara Sandig unterscheidet zwischen Text und Text-Handlung. Während mit Text der Äußerungsaspekt benannt ist, ist mit Text-Handlung der Handlungs‐ aspekt benannt. Dabei kann eine Text-Handlung zum einen individuell und zum andern nach einem Textmuster sein. Sandig bezeichnet Textmuster als kom‐ plexe Handlungsmuster. Für die in der Gesellschaft relevanten Handlungsarten existieren Benennungen. Diese Benennungen können wiederum unterschieden werden in allgemeinere und speziellere. So nennt Sandig als Beispiele zum einen den Bericht und die Erzählung und zum anderen den Sportbericht und den Tagungsbericht sowie das Märchen, den Witz und die Kriminalgeschichte. (Vgl. Sandig 1978, S. 69f.) Im Folgenden wird Musterhaftigkeit auf der Mehrwortebene in den Blick genommen. Dazu wird auf (sprachliche) Muster nach Bubenhofer (2009), Muster und Musterhaftigkeit nach Brommer (2018) und Phraseologismen bzw. Phraseme eingegangen. 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 123 <?page no="124"?> Musterhaftigkeit auf der Mehrwortebene Das Ziel von Noah Bubenhofers Studie Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse (2009) bestand in der Entwicklung einer Methodik zur Untersuchung großer Textkorpora auf typische Muster im Sprachgebrauch (vgl. Bubenhofer 2009, S. 6). Im Rahmen dieser Studie gibt Bubenhofer einen Überblick über die Bedeutungsvielfalt des Begriffs Muster. Zunächst klärt er mit Bezug auf Kluge (1995) den Ursprung des Wortes Muster, das auf das italienische Wort mostra zurückzuführen ist. Dieses kann mit den Begriffen Probestück, Ausstellung und Auslage übersetzt werden. (Vgl. Bubenhofer 2009, S. 18) Dabei ist ein Probestück einerseits „das erste erstellte Objekt, das vorher nur als Plan existierte“ (ebd.) und andererseits ein Demons‐ trationsobjekt. Es zeigt, wie die Objekte, die noch herzustellen sind, aussehen werden. „In diesem Sinne ist es die Vorlage für die zu erstellenden Objekte“ (ebd.). Bubenhofer illustriert diese Vorstellung mit Hilfe der Herstellung von Ravioli. Dabei erfüllt der erste Prototyp zwei Funktionen: Er soll erstens zeigen, ob das Rezept (der Plan) funktioniert und zweitens dient er als Vorlage für alle weiteren Ravioli, die herzustellen sind. (Vgl. ebd.) Bei dieser Verwendungsweise von Muster hebt Bubenhofer Folgendes als interessant hervor: Das Probestück ist (mehr oder weniger) von gleicher Klasse wie die in der Folge sich daran orientierenden ‚endgültigen‘ Objekte. Es handelt sich somit beim Probestück nicht um den Plan, sondern um ein Objekt, dem der Status der Vorlage zuerkannt wird. (Ebd., S.-19) Bubenhofer geht neben der Bedeutung Probestück noch auf weitere Bedeu‐ tungen des Begriffes Muster ein, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht erläutert werden. (Sprachliche) Muster definiert Bubenhofer mit Hilfe von drei Eigenschaften: Erstens handelt es sich bei einem (sprachlichen) Muster um einen Zeichenkomplex. Ein (sprachliches) Muster kann „eine Wortform, eine Verbindung von Wortformen oder eine Kombination von Wortformen und nichtsprachlichen Elementen“ (ebd., S. 23) sein. Zweitens dient ein (sprach‐ liches) Muster „als Vorlage für die Produktion weiterer Zeichenkomplexe“ (ebd.). Drittens ist ein (sprachliches) Muster „von gleicher Materialität […] wie die daraus entstehenden Zeichenkomplexe“ (ebd.). Zu einem großen Teil deckt sich diese Definition von Muster mit der bereits erläuterten Idee vom Probestück, so Bubenhofer. Eine wichtige Komponente eines Musters ist, dass etwas zu einem Muster (Vorlage) gemacht wird, es jedoch nicht per se ist. „Jeder Zeichenkomplex kann in einer bestimmten Situation die Funktion eines Musters übernehmen“ (ebd.). (Vgl. ebd.) „Ein Muster kann nur auf einer analytischen Ebene im Nachhinein festgestellt werden“ (ebd., S.-24). 124 5 Muster und Textproduktion <?page no="125"?> Die Instanzen, die Musterfunktion aufweisen, können Phrasen wie […] Kampf gegen den Terrorismus sein, die bezüglich verwendeter Wortformen und lexikalischen Fül‐ lungen genau definiert sind, oder aber auch Phrasen wie KAMPF GEGEN X, die Slots für variable Füllungen offen halten [Hervorh. im Original]. (Ebd.) In ihrer Studie Sprachliche Muster: eine induktive korpuslinguistische Analyse wissenschaftlicher Texte (2018) verfolgt Sarah Brommer das Ziel, sprachliche Muster induktiv korpuslinguistisch zu bestimmen, „die typisch für den Sprach‐ gebrauch in wissenschaftlichen Texten sind“ (ebd., S. 51). Brommer lehnt sich bei ihrer Definition von Muster an Bubenhofers Musterbegriff (2009) an (vgl. Brommer 2018, S. 52). Daran, dass nach Bubenhofer ein Muster sowohl eine Wortform als auch eine Verbindung von Wortformen sein kann, wird deutlich, dass ein Muster eingliedrig und mehrgliederig sein kann. (Vgl. ebd.) Brommer bezeichnet aus mindestens zwei Elementen bestehende muster‐ hafte Wortverbindungen als n-Gramme. „Die Bezeichnung ‚n-Gramm‘ impli‐ ziert, dass es sich um eine beliebig umfangreiche Form handelt, die aus n Elementen bestehen kann“ (ebd., S. 65). Musterhafte Einzelwörter bezeichnet Brommer hingegen als Keyword. (Vgl. ebd.) Brommer operationalisiert Bubenhofers Musterbegriff, indem sie ihn um wei‐ tere drei Kriterien erweitert: Rekurrenz, Signifikanz und Typizität. So zeichnet sich ein Muster erstens durch wiederkehrenden Gebrauch aus (Rekurrenz). Als zweites Kriterium nennt Brommer Signifikanz, die sie in Relation zur Textsorte ermittelt und als drittes Kriterium gilt nach Brommer Typizität: Muster zeichnen sich durch Gebundenheit an bestimmte Verwendungskontexte aus. (Vgl. ebd., S.-53ff.) Anhand der sieben von Brommer im Rahmen ihrer Studie entwickelten Kategorien lässt sich ihr Musterbegriff illustrieren: Nominalgruppe (NGr), z. B. Einfluss + NP Gen / PP auf ; Überblick (über) - Verbalgruppe (VGr), z. B. sich um etw. handeln; eine Rolle spielen - Adjektivgruppe (AdjGr), z. B. spezifisch; jeweilige(n) - Partizipgruppe (PtGr), z. B. bedingt durch; bezogen auf - Adverbgruppe (AdvGr), z. B. darüber hinaus; folgendermaßen - Konjunktionalgruppe (KonGr), z. B. wie bereits + Partizip; so dass - Präpositionalgruppe (PrGr), z. B. in hohem Maß, in/ mit Bezug auf. (Ebd., S. 10) Im Folgenden wird der Blick auf Phraseologismen bzw. Phraseme gerichtet. „Die terminologische Vielfalt (böse Zungen behaupten Verwirrung! ) in der Phraseologie ist berühmt-berüchtigt und problematisch“ (Palm 1995, S. 2), so eine Aussage von Christine Palm. Äquivalente Ausdrücke zum Begriff Phraseo‐ logismus sind nach Harald Burger phraseologische Wortverbindung und feste Wortverbindung - im Gegensatz zu der freien Wortverbindung (vgl. Burger 2010, 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 125 <?page no="126"?> 65 Die Ausführungen zu Phraseologismen sind zum Großteil der wissenschaftlichen Hausarbeit der Autorin zum Thema Phraseologismen in Werbekommunikation. Eine funktional-pragmatische Analyse (2013) entnommen, die sie im Rahmen des Seminars Pragmatik an der Universität Kassel verfasste. S. 11). Als weitere Begriffe seien die phraseologische Wendung und die idiomati‐ sche Wendung genannt (vgl. dazu Janich 2010, S. 174). Weitere Synonyme sind die Ausdrücke Phrasem und Idiom (vgl. Donalies 2009, S. 1). Nach Palm werden Phraseme wiederum auch als Phraseolexeme, Idiome, Wortgruppenlexeme, feste Wendungen oder Redensarten bezeichnet (vgl. Palm 1995, S. 2). Nachfolgend werden verschiedene Definitionen und Konzepte von Phraseologismen darge‐ stellt: 65 Phraseologismen nach Burger (2010, 2015), Phraseme nach Donalies (2009) und formelhafte sprachliche Einheiten nach Stein (1995). Nach Burger (2010) lassen sich Phraseologismen im weiteren Sinne und Phrase‐ ologismen im engeren Sinne unterscheiden (vgl. Burger 2010, S. 14). Phraseolo‐ gismen im weiteren Sinne verfügen über zwei Eigenschaften: Polylexikalität und Festigkeit (vgl. ebd.). Unter Polylexikalität wird Folgendes verstanden: Ein „Phraseologismus besteht aus mehr als einem Wort“ (ebd.). Die unterste Grenze der Wortmenge, die einen Phraseologismus bilden, sind somit zwei Wörter (vgl. ebd., S. 15). Uneinigkeit besteht indes darüber, ob diese Wörter Autosemantika (z. B. Öl) oder Synsemantika (z. B. und) sein sollen. Burger bezeichnet „jede feste Kombination von zwei Wörtern“ als Phraseologismus und somit rechnet er auch aus zwei Synsemantika bestehende Ausdrücke wie bei weitem und so dass zu den Phraseologismen. Als obere Grenze phraseologischer Wortverbindungen gilt der Satz. Aber auch kleinere Texte wie Sprüche, Gedichte und Gebete können einen den Phraseologismen vergleichbaren Status haben, wenn sie zum Sprachbesitz größerer Gruppen gerechnet werden. (Vgl. ebd.) Festigkeit bedeutet in Bezug auf Phraseologismen, dass sie „in einem synchronen Sprachquerschnitt ‚gebräuchlich‘“ (ebd.) sind. „Der Phraseologismus ist mental als Einheit ‚gespei‐ chert‘ ähnlich wie ein Wort, er kann als ganzer abgerufen und reproduziert werden“ (ebd., S.-16). Phraseologismen im engeren Sinne weisen neben Polylexikalität und Festigkeit zusätzlich die Eigenschaft der Idiomatizität auf. Die Teilklasse von Phraseo‐ logismen, die alle drei Kriterien erfüllen, werden nach Burger auch Idiome genannt (vgl. ebd., S.-14). Burger bezeichnet einen Ausdruck als idiomatisch im semantischen Sinn, wenn zwischen phraseologischer und wörtlicher Bedeutung des Ausdrucks eine Diskrepanz besteht. Bei der semantischen Idiomatizität handelt es sich um eine graduelle Eigenschaft von Phraseologismen: Die Stärke der Diskrepanz zwischen den zwei erwähnten Bedeutungsebenen bestimmt, wie 126 5 Muster und Textproduktion <?page no="127"?> 66 Routineformeln sind ebenfalls unter den Begriffen kommunikative Formel und Sprech‐ aktformel bekannt (vgl. Donalies 2009, S.-5). stark idiomatisch ein Phraseologismus ist. (Vgl. ebd., S. 30) Zu den idiomatischen Phraseologismen gehört beispielsweise Öl ins Feuer gießen (vgl. ebd., S. 31). „[A]us der freien Bedeutung der Komponenten und deren Zusammenfügung“ (ebd., S. 30) lässt sich nicht durch eine semantische Regel die phraseologische Bedeutung ableiten (hier: einen Streit noch verschärfen) (vgl. ebd.). Idiomatische Wortverbindungen werden auch als Idiome bezeichnet (vgl. ebd., S. 37). Als teil-idiomatisch lassen sich Phraseologismen wie einen Streit vom Zaun bre‐ chen bezeichnen, die aus einer idiomatischen Komponente (hier: vom Zaun brechen) und einer Komponente, die ihre freie Bedeutung beibehält (hier: einen Streit), bestehen. Ausdrücke, bei denen keine oder lediglich eine minimale Diskrepanz zwischen wörtlicher und phraseologischer Bedeutung vorliegt (z. B. sich die Zähne putzen) werden als nicht-idiomatisch bezeichnet. (Vgl. ebd., S. 30) Nicht-idiomatische Wortverbindungen gehören somit zu den Phraseologismen im weiteren Sinne, während idiomatische und teil-idiomatische Wortverbin‐ dungen zu den Phraseologismen im engeren Sinne gerechnet werden (vgl. ebd., S.-31). Burger unterscheidet in Bezug auf die Zeichenfunktion zwischen referenti‐ ellen, strukturellen und kommunikativen Phraseologismen. Strukturelle Phraseolo‐ gismen haben lediglich „die Funktion, (grammatische) Relationen herzustellen“ (ebd., S. 36) (z. B. in Bezug auf). Kommunikative Phraseologismen hingegen erfüllen eine Aufgabe in kommunikativen Handlungen (z. B. Guten Morgen). Phraseologismen, die dieser Gruppe zugeordnet werden, können auch als Routineformeln 66 bezeichnet werden. (Vgl. ebd.) Referentielle Phraseologismen beziehen sich auf Sachverhalte, Objekte oder Vorgänge der Wirklichkeit (z. B. Schwarzes Brett) (vgl. ebd., S. 36). Die dritte Kategorie Burgers soll im folgenden Abschnitt genauer dargestellt werden. Burger stellt eine weitere Differenzierung der referentiellen Phraseologismen vor (vgl. ebd., S. 36ff.). Er unterscheidet zwischen referentiellen Phraseolo‐ gismen, die Objekte oder Vorgänge bezeichnen (wie z. B. das Schwarze Brett) und solchen, mit denen Aussagen über Vorgänge oder Objekte gemacht werden (z. B. Morgenstund hat Gold im Mund). In diesem Zusammenhang verwendet Burger eine auf Gläser (1990) zurückgehende Terminologie, indem er von nominativen (erste Gruppe) und propositionalen, (zweite Gruppe) Phraseologismen spricht. Während nominative Phraseologismen satzgliedwertig sind, sind propositionale Phraseologismen satzwertig. Nominative Phraseologismen untergliedert Burger gemäß ihrer Idiomatizität (vgl. Burger 2010, S. 37): Für die nicht- oder schwach‐ 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 127 <?page no="128"?> idiomatischen Phraseologismen verwendet Burger den von Gläser (1990) und Feilke (1994) gebrauchten Terminus Kollokation. Somit unterscheidet Burger zwischen Kollokationen, Teil-Idiomen und Idiomen. Propositionale Phraseolo‐ gismen unterteilt Burger in zwei große Gruppen: Feste Phrasen und Topische Formeln (vgl. Burger 2010, S. 36ff.). Unter festen Phrasen werden satzwertige Formulierungen verstanden, „die in der Regel explizit an den Kontext ange‐ schlossen sind“ (ebd., S. 39) und zwar durch bereits verfestigte Komponenten oder vom Sprecher formulierte Elemente. Feste Phrasen wie das ist ja die Höhe beziehen sich auf den vorangegangenen Gesprächsbeitrag oder die Situation. (Vgl. ebd.) Topische Formeln hingegen bezeichnen satzwertige Formulierungen, die im Gegensatz zu den festen Phrasen generalisierende Aussagen bilden, die auch ohne die Einbindung in einen Kontext aus sich heraus verständlich sind. Es lassen sich auch hier zwei Hauptgruppen unterscheiden: Sprichwörter und Gemeinplätze. Gemeinplätze formulieren im Gegensatz zu den Sprichwörtern Selbstverständlichkeiten und keine „neuen“ Einsichten. Die „tautologische“ Formulierung Was sein muss, muss sein wird zu den Gemeinplätzen gezählt, während Morgenstund hat Gold im Mund als Sprichwort bezeichnet wird. (Vgl. ebd., S.-41) Auch Burger macht Gebrauch vom Begriff Muster. So gibt es nach Burger typische Muster, „nach denen strukturell ähnliche Phraseme gebildet werden können“ (Burger 2015, S. 54). Zu diesen bekannten Mustern gehören Modellbil‐ dungen, Paarformeln, komparative Phraseme und Funktionsverbgefüge. Idiomati‐ sche Sätze und Sprichwortmuster sind Fälle von Mustern, die erst in jüngster Zeit entdeckt wurden (Vgl. ebd., S. 54-60). Im Folgenden werden diese sechs Fälle von Mustern kurz erläutert. Modellbildungen sind nach Burger zum einen „nach einem Strukturschema gebildet, dem eine konstante semantische Interpretation zugeordnet ist und dessen autosemantische Komponenten lexikalisch (mehr oder weniger) frei besetzbar sind“ (ebd., S. 54). Zur Illustration nennt er das Modell X um X, dessen Bedeutung sich mit „‚ein X nach dem anderen‘“ (ebd.) umschreiben lässt (Glas um Glas). Zum anderen gibt es auch Modelle, denen unterschiedliche Interpre‐ tation zugeordnet werden können, abhängig von der lexikalischen Besetzung. Dies zeigt Burger am Modell „von X zu X“. Während im Beispiel von Mann zu Mann ein „wechselseitiger Austausch von [vertraulichen? ] Informationen zwischen Männern“ (ebd.) gemeint ist, hat von Tag zu Tag die Bedeutung „stetige Entwicklung“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Paarformeln sind auch als Zwillingsformen bekannt. „Paarformeln werden nach dem gleichen Muster gebildet“ (ebd.). Dabei werden zwei Wörter der gleichen Wortart (oder zweimal das gleiche Wort) mit einer Konjunktion oder 128 5 Muster und Textproduktion <?page no="129"?> 67 Konversion. Präposition verbunden. Als Beispiele nennt Burger u. a. Schulter an Schulter und dick und fett. Paarformeln weisen oft „auffallende rhetorische Merkmale“ (ebd., 55) auf wie den Stabreim („frank und frei, fix und fertig, klipp und klar“ (ebd.)). Paarformeln können nicht-idiomatisch sein (dick und fett), teil-idioma‐ tisch (klipp und klar) und idiomatisch (gang und gäbe). Paarformeln sind des Öfteren auch ein Bestandteil von größeren phraseologischen Einheiten. Dies gilt insbesondere für verbale Phraseme wie beispielsweise „mit jmdm. durch dick und dünn gehen“ (ebd., S.-56). (Vgl. ebd., S.-55f.) Komparative Phraseme (oder auch phraseologische Vergleiche) „enthalten einen festen Vergleich, der häufig der Verstärkung eines Verbs oder Adjektivs dient“ (ebd., S. 56). Beispiele für diese Kategorie sind frieren wie ein Schneider und flink wie ein Wiesel. (Vgl. ebd., S.-56) Funktionsverbgefüge enthalten ein aus einem Verb nominalisiertes Nomen und „semantisch ‚leere‘ Verben“ (ebd., S. 57), zum Beispiel jmdm. Hilfe leisten. (Vgl. ebd., S.-57f.) Idiomatische Sätze folgen bestimmten Mustern, „die sowohl in semantischer als pragmatischer Hinsicht mehr oder weniger einheitlich konventionalisiert sind“ (ebd., S. 58). Burger erläutert idiomatische Sätze an folgendem Beispiel und bezieht sich dabei auf Finkbeiner (2008): „Das ist (ja/ doch) zum + KONV 67 “ lautet die Formel für das Muster, das auf verschiedene Arten realisiert werden kann: „Das ist (ja/ doch) zum Mäusemelken! (…) Das ist (ja/ doch) zum Auf-die-Aka‐ zien-Klettern! “ (Finkbeiner 2008, S. 90, zit. n. Burger 2015, S. 58). Burger spricht von „Realisierungen des Musters“ (Burger 2015, S. 58). Der Sprecher empfindet „Verzweiflung/ Ärger/ Wut wegen Sachverhalt“ (Finkbeiner 2008, S.-149, zit. n. Burger 2015, S.-58; vgl. dazu auch Steyer 2012, S. 308). Steyer (2012) konnte zeigen, dass es Sprichwortmuster gibt, welche aus variablen Slots und festen lexikalischen Sprichwortkomponenten bestehen, so Burger. So ist das Sprichwort Dummheit schützt vor Strafe nicht eine Realisierung des Musters [SUB NICHT-WISSEN schützt vor Strafe nicht.]. Es kann auch als Realisierung der abstrakteren Strukturformel [X schützt vor Y nicht] bezeichnet werden. (Vgl. Burger 2015, S.-59) Auffällig an Burgers Verwendung des Begriffes Muster ist, dass er damit eine Art Konstruktionsprinzip beschreibt. Muster können realisiert werden. Im Ver‐ gleich zu Stein und Stumpf (2019) bezeichnet Burger nur eine Untergruppe der Phraseologismen explizit als Muster (Modellbildungen, Paarformeln, komparative Phraseme, Funktionsverbgefüge, idiomatische Sätze, Sprichwortmuster), während 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 129 <?page no="130"?> nach Stein und Stumpf Phraseologismen als Muster (auf der Mehrwortebene) bezeichnet werden können. Ein polylexikalischer Ausdruck kann in einem literarischen Text „zu einer Art fester Wendung werden“ (Burger 2015, S. 49). Diese hat nur innerhalb dieses Textes seinen Sinn. Als Beispiel nennt Burger mit Bezug auf Fleischer (1997) den polylexikalischen Ausdruck auf den Steinen sitzen im Roman Buddenbrooks. Diesem Ausdruck weisen die Figuren „eine Art ‚Privatbedeutung‘“ (Burger 2015, S. 49) zu. (Vgl. ebd.): „Diese Steine waren seit dem ersten Tage zwischen den beiden zur stehenden Redewendung geworden. ‚Auf den Steinen sitzen‘, das bedeutete: ‚Vereinsamt sein und sich langweilen‘“ (Mann 2011, 3. Teil, 8. Kap.). Solche polylexikalischen Ausdrücke werden als Autorphraseme bezeichnet (vgl. Burger 2015, S. 49; Fleischer 1997, S. 67) Fleischer spricht von „einem selbstge‐ schaffenen Phraseologismus“ (Fleischer 1997, S. 67). Während Burger von Phraseologismus spricht, verwendet Elke Donalies den Begriff Phrasem. Es werden zunächst unterschiedliche Funktionen und anschlie‐ ßend verschiedene Strukturen von Phrasemen dargestellt. Donalies arbeitet eine Reihe von Funktionen von Phrasemen heraus. Es werden ausgewählte Funktionen dargestellt, die für die vorliegende Arbeit relevant sind. „Phraseme versprachlichen Begriffe auf besonders griffige Art [Hervorh. d. Verf.]“ (Donalies 2009, S. 46). Des Weiteren ermöglichen sie Menschen, sich effizienter zu verständigen (vgl. ebd., S. 48). Sie vereinfachen die Kommunikation. Ferner haben Phraseme auch eine ästhetische Wirkung. (Vgl. ebd., S. 55f.) Ohnehin produzieren und rezeptieren wir alle ständig und seit jeher Phraseme […]. Auch dieses letzten ästhetischen Arguments wegen: Weil Phraseme uns gefallen. Offenbar mögen wir es, sie zu machen, sie zu entdecken, sie zu verwenden und zu verwandeln. (Ebd., S.-56) Es gibt zwei Strukturtypen von Phrasemen: Satzteilphraseme und Satzphraseme. Satzteilphraseme bleiben in Texten als Einheiten zusammen. Sie „[…] werden en bloc in Sätze eingebaut“ (ebd., S. 57) und als „wortäquivalent“ eingestuft. Satzteilphraseme lassen sich unterteilen in Substantivphraseme (z. B. Zimmer mit Aussicht), Adjektivphraseme (z. B. flink wie ein Wiesel), Verbphraseme (z. B. in Erfahrung bringen) und Phraseme anderer Wortarten (z. B. bis zu). (Vgl. ebd., S.-57f.) Bei den meisten Satzphrasemen handelt es sich um Deklarativsätze (z. B. Wer die Wahl hat, hat die Qual). Donalies bezieht sich auf Lüger (ebd. 1999, S. 105- 110), der vier phrasemische Satztypen voneinander unterscheidet: Einfachsätze 130 5 Muster und Textproduktion <?page no="131"?> (Der Klügere gibt nach.), Satzreihen (Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser), Satzgefüge (Man tut, was man kann.) und elliptische Satzverbindungen (Aus den Augen, aus dem Sinn.). (Vgl. Donalies 2009, S. 91) Eine weitere Untergruppe der Satzphraseme sind die Phraseoschablonen. Da diese für die vorliegende Studie von großer Bedeutsamkeit sind, werden die Phraseoschablonen detaillierter vorgestellt. Unter Phraseoschablonen werden relativ frei füllbare Schablonen verstanden. Polciask (2007) spricht von phraseologisch syntaktischen Mustern (vgl. Donalies 2009, S. 101f.). Phraseoschablonen lassen sich auch als syntaktisch-sematische Struktur bezeichnen, „deren Bedeutung [..] unabhängig von der lexikalischen Füllung schon markiert ist“ (Palm 1995, S. 68), so Christine Palm. Als Beispiel für Phraseoschablonen führt Donalies unter anderem das phraseologisch syn‐ taktische Muster „X bleibt X“ an. Auf dieses phraseologisch syntaktische Muster wurde in Formulierungen wie Mainz bleibt Mainz - wie es singt und lacht oder Doof bleibt doof - da helfen keine Pillen zurückgegriffen. (Vgl. Donalies 2009, S. 101f.) Eine andere Phraseoschablone ist die „Wiederholung des finiten Verbs, verbunden durch ‚und‘“ (Palm 1995, S. 69). Als Beispiele dafür nennt Palm Das wird und wird nicht sowie Die Farbe trocknet und trocknet nicht (Vgl. ebd., S. 68). Phraseoschablonen und Modellbildungen können laut Stein und Stumpf gleichgesetzt werden. Es handelt sich dabei um ein „Strukturschema mit se‐ mantischer Invariante und relativ frei autosemantisch besetzbaren Leerstellen“ (Stein/ Stumpf 2019, S.-77). (Vgl. ebd.) In seiner Arbeit Formelhafte Sprache (1995) verfolgte Stephan Stein mitunter das Ziel, „das Verhältnis zwischen sprachlicher Kreativität (Stichwort: Ausdrucks‐ variation) und Formelhaftigkeit (Stichwort: Ausdruckskonstanz) zu beleuchten“ (Stein 1995, S. 18). Ein weiteres Ziel bestand darin, „zu prüfen, inwiefern der Rekurs auf Formelhaftigkeit als Entlastungsstrategie im mündlichen und schriftlichen Textproduktions- und Modellierungsprozeß modelliert werden kann“ (ebd.). Auf das Verhältnis von Musterhaftigkeit und Kreativität wird unter Kapitel I.5.1.3 näher eingegangen. Zunächst werden Steins Vorstellungen von formelhaften sprachlichen Einheiten in den Blick genommen. Die Begriffe Formel, Formelhaftigkeit und formelhaft sind in der linguistischen Forschung weniger etabliert als die Begriffe Phraseologismus, phraseologisch und Phraseologie, so Stein. Die erst genannten Begriffe fungieren als relativ unscharfe Ober- und Sammelbegriffe. Stein nimmt für den Begriff formelhaft eine eigene Begriffsbestimmung vor. (Vgl. Stein 1995, S. 45) Er unterscheidet zwi‐ schen syntaktischen Ausdrucksstereotypen (dazu rechnet er unter anderem Phra‐ seoschablonen und Modellbildungen, Satzmuster und Funktionsverbgefüge), 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 131 <?page no="132"?> „semantischen“ Ausdrucksstereotypen, auch idiomatische Wendungen genannt (z. B. Zwillingsformen, Redewendungen, Phraseolexeme, feste Vergleiche und Sprichwörter) und pragmatische Stereotypen bzw. formelhafte Wendungen. Die dritte Kategorie unterteilt er noch einmal in gesprächsspezifische und schreib‐ spezifische formelhafte Wendungen. Die gesprächsspezifischen formelhaften Wendungen lassen sich wiederum in situationsgebundene (z. B. Grußformel, Scheltformel, Essensformel) und situationsungebundene (wie Gesprächssteue‐ rungsformel und Aufmerksamkeitsappell) formelhafte Wendungen unterteilen. Schreibspezifische formelhafte Wendungen sind nach Stein entweder textsor‐ tengebunden (wie formelhafte Text(teil)e) oder textsortenungebunden (z. B. Text‐ steuerungs- und Textgliederungssignale oder Anredeformeln). (Vgl. Stein 1995, S. 55) Stein stellt zur Bestimmung formelhafter sprachlicher Einheiten folgende Definition auf: Formelhaft sind sprachliche Einheiten, die durch Rekurrenz, d. h. durch häufigen Ge‐ brauch, fest geworden sind oder fest werden. Aufgrund der Festigkeit im Gebrauch sind oder werden sie lexikalisiert, d. h. sie sind Bestandteile oder werden zu Bestandteilen des Wortschatzes, so daß sie von Sprachteilhabern als fertige komplexe Einheiten reproduziert werden [Hervorh. im Original]. (Stein 1995, S.-57) In der vorliegenden Studie wird in den weiteren Ausführungen in Bezug auf die Mehrwortebene (Stein/ Stumpf 2019) auf die Begriffe Phraseologismus (nach Burger 2010) und Phraseoschablone (nach Donalies 2009) zurückgegriffen. 5.1.2 Formelhaftigkeit und Kreativität Zunächst werden Überlegungen von Stein (1995) zum Verhältnis von Formel‐ haftigkeit und Kreativität im Sprachgebrauch dargestellt. Anschließend wird das Thema aus dem Blickwinkel der Werbekommunikation ( Janich 2010) betrachtet. Nach Stein lebt die praktische Stilistik von zu „Stilkrankheiten“ apostro‐ phierten „Feindbildern“. Darunter fällt unter anderem das „Formeldeutsch“ (vgl. Stein 1995, S. 89). „Bei der Lektüre von Stilratgebern drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, als setzten die Stillehrer Phraseologie gleich mit Phrasendre‐ scherei und Phrasenhaftigkeit, als bedeute Formelhaftigkeit nichts anderes als leeres Gerede und Abgedroschenheit [Hervorh. im Original]“ (ebd., S.-90). Sprachliche Kreativität stellt Stein sprachlicher Routine gegenüber. Während auf sprachliche Kreativität beim Lösen von sprachlichen und kommunikativen Problemen zurückgegriffen wird, kommt sprachliche Routine zum Einsatz, wenn sprachliche oder kommunikative Aufgaben bewältigen werden müssen. Zudem wird sprachliche Innovation der sprachlichen Musterbefolgung gegenübergestellt. 132 5 Muster und Textproduktion <?page no="133"?> Bei sprachlicher Kreativität geht es um die Produktion neuer Äußerungen, Sätze und Texte, wobei vom kreativen Sprachgebrauch gesprochen werden kann. Dem stellt Stein die Reproduktion verbaler Stereotype gegenüber - in diesem Zusammenhang kann vom formelhaften Sprachgebrauch gesprochen werden. Als letzten Punkt führt Stein das Verbalisieren als Produzieren auf und stellt diesem das Verbalisieren als Reproduzieren gegenüber. (Vgl. ebd., S.-114) Stein erläutert die Gründe, warum auf Formelhaftigkeit zurückgegriffen wird und in welchen Situationen sich Routinen ausbilden. Als möglichen Grund nennt er die Wiederkehr bestimmter Situationen: Die Wiederkehr von Situationen und Formulierungsanforderungen bedingt mit der Zeit die (Wieder-)Verwendung der gleichen sprachlichen Mittel, die sich individuell und/ oder in der Sprachgemeinschaft verfestigen zu standardisierten und konventio‐ nalisierten Verfahren. Dieser als Festigkeit im Gebrauch charakterisierte Vorgang führt im Verhaltensrepertoire zu Routine, auf der (rein) sprachlichen Seite zu Formel‐ haftigkeit. [Hervorh. im Original] (Stein 1995, S.-111) Dieses Zitat verdeutlicht nicht nur, dass sich die Wiederverwendung der gleichen Mittel bei der Wiederkehr bestimmter Situationen innerhalb der Sprachgemeinschaft verfestigen kann, sondern auch individuell. An dieser Stelle sei bereits auf die Verbindung zum bei Kindern beobachteten Gebrauch indivi‐ dueller Muster aus anderen Texten bei der eigenen Sprachbzw. Textproduktion hingewiesen (vgl. dazu die Ausführungen von Kruse/ Kruse 2007, Dehn 2005, Dehn et al. 2011, Christensen 2011; I.5.2; I.5.3). Viele Wortverbindungen, die geeignet sind, um bestimmte kommunikative Zwecke zu erreichen, müssen nicht durch das Anwenden grammatischer Regeln in jeder Situation neu erzeugt werden. Vielmehr können sie „als gebrauchsfer‐ tige Bausteine abgerufen und an den entsprechenden Stellen in die Sprachpro‐ duktion integriert werden“ (Stein 1995, S. 106). (Vgl. ebd.) Stein bezeichnet das Operieren mit Formulierungsroutinen als ökonomische Sprachbeherrschung (vgl. ebd., S.-127). Sprachliche Routine heißt weiterhin, daß sprachliche Fertigteile (Wendungen, Text‐ bausteine, Texte) in der Sprachgemeinschaft etabliert und individuell gespeichert sind, so daß sie wiederholt eingesetzt werden können, ohne Planungs- und Produktions‐ aufwand treiben zu müssen. Mit Formulierungsroutinen zu operieren ist Ausdruck ökonomischer Sprachbeherrschung, denn wegen ihrer hohen Frequenz und Bekannt‐ heit tragen sie zu reibungslosen und störungsfreien Kommunikationsabläufen bei. (Ebd.) 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 133 <?page no="134"?> Zudem mündet der Rückgriff auf formelhafte Wendungen in einer kognitiven Entlastung der Sprechenden oder Schreibenden (vgl. ebd., S.-113). Wenn durch die Ausbildung von Routinen kognitive Ressourcen frei werden, dann ist der entscheidende Vorteil, den die Verwendung formelhafter Einheiten im Sprach‐ produktionsprozeß bzw. beim Formulieren mit sich bringt, darin zu sehen, daß der Sprecher/ Schreiber kognitiv entlastet wird. (Ebd.) „Dadurch, daß die Produktionskomponente nicht in Anspruch genommen“ (ebd., S. 116) wird, sondern nur das Gedächtnis genutzt wird, werden nach Stein Zeit und Energie gewonnen. Insbesondere gilt dies für spontan gesprochene Sprache. Zudem kann das Reproduzieren sprachlicher Fertigteile Schreibern und Sprechern auch Verhaltenssicherheit im Sprachgebrauch geben. Formel‐ haftes Schreiben und Sprechen bietet die Möglichkeit, Sprache situationsadä‐ quat zu verwenden, sodass der Sprachgebrauch den Erwartungen der anderen Sprachteilhaber entspricht. Stein weist jedoch auch daraufhin, dass formelhafter Sprachgebrauch, der „als das Zurückgreifen auf ein Repertoire konventioneller, fester sprachlicher Einheiten“ (ebd.) verstanden wird, eine Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes voraussetzt. (Vgl. ebd.) Allgemein wird der Sprachgebrauch von Stein als eine Mischung aus kognitiven Produktionsmechanismen und dem Rückgriff auf im Gedächtnis gespeicherten Einheiten gesehen. So schreibt er: „Regelanwendung und generative Sprach‐ fähigkeit einerseits und Abruf gespeicherter Einheiten andererseits machen zusammen den Sprachgebrauch aus“ (ebd., S. 108). Weiter formuliert Stein: „Kognitive Produktionsmechanismen und die Verwendung von im Gedächtnis gespeicherten Einheiten ergänzen sich im realen sprachlich-kommunikativen Verhalten“ (ebd., S. 115). Dabei wird je nach Situation entschieden, ob auf bekannte Lösungsmethoden zurückgegriffen wird (vgl. ebd., S.-111). Die sprachliche/ kommunikative Routine und die sprachlichen/ kommunikativen Er‐ fahrungen, […] gehen als Hintergrund- und Erfahrungswissen ein in neu zu bewälti‐ gende Situationen und entscheiden mit darüber, ob für die Erbringung sprachlicher Leistungen bereits Lösungsmethoden bekannt und abrufbereit sind oder ob es erfor‐ derlich ist, mit kognitivem Aufwand eine Problemlösestrategie zu entwickeln. (Ebd.) Hervorzuheben sei bereits an dieser Stelle mit Blick auf die Erkenntnistheorie Polanyis (vgl. Polanyi 1985) und die Übertragung dieser auf den Schreibprozess (vgl. I.6.2), dass sprachliche Routine und sprachliche Erfahrungen nach Stein in das Hintergrund- und Erfahrungswissen eingehen und im Schreibprozess wirksam werden. Stein charakterisiert das Zusammenspiel von Formelhaftigkeit 134 5 Muster und Textproduktion <?page no="135"?> 68 Burger, Harald/ Buhofer, Annelies/ Sialm, Ambros (1982): Handbuch der Phrasologie. Berlin, New York. und Kreativität (vgl. Stein 1995, S. 115-122), das im Folgenden näher beleuchtet wird. Stellt man sich die Frage, ob es einen kreativen Umgang mit formelhafter Sprache, etwa einen kreativen Gebrauch von Idiomen und Phraseologismen, gibt, unterstellt man, daß in der Sprachproduktion die Produktionskomponente und die Reprodukti‐ onskomponente gleichzeitig wirksam sein können. (Ebd., S.-116f.) Die Produktionsregeln dienen nicht nur zur Generierung neuer (freier) Wort‐ verbindungen, sondern können auch auf feste Wortverbindungen angewendet werden (vgl. ebd., S.-117). Stein unterscheidet bei Beobachtungen zum variablen Gebrauch formelhafter Wendungen, der auch durch die kreative Komponente geprägt ist, sechs Fälle: „Variation fester Wortverbindungen“ (ebd., S. 117), „‚Ableitung‘ neuer fester Wortverbindungen“ (ebd.), „Abwandlung von Formeln und festen Wort‐ verbindungen“ (ebd., S. 118), „Kreativität als Reliteralisierung“ (ebd., S. 119), „Formelhafte Strukturen mit ‚Leerstellen‘“ (ebd., S. 121) und „kontaminierte Wendungen“ (ebd., S.-122) (vgl. ebd., S.-117-122). Im Zusammenhang mit der Darstellung der Variationen fester Wortverbin‐ dungen (erster Fall) nennt Stein den Begriff variable Stabilität: Bei einer großen Anzahl an Phraseologismen und formelhaften Wendungen sind Veränderungen und Eingriffe der morphosyntaktischen und lexikalischen Art möglich. Hierbei nimmt Stein auf Ausführungen von Burger, Buhofer und Sialm (1982) 68 Bezug. (Vgl. Stein 1995, S.-117) Einen zweiten Fall bezeichnet Stein als „Ableitung“ neuer fester Wendungen. Feste Wendungen können unter Berücksichtigung bekannter Wortbildungspro‐ zesse als Basis für Ableitungen dienen. Als Beispiel dafür sei auf den Ausdruck Phrasendrescher(ei) hingewiesen, der aus der festen Wendung Phrasen dreschen abgeleitet wurde. Neue Wendungen können ebenfalls auf der Basis von festen Wendungen entstehen, wenn Bestandteile einer festen Wendung verselbststän‐ digt werden: Aus der festen Wendung Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein entwickelte sich die weitaus kürzere Wendung jmdm. eine Grube graben. (Vgl. ebd. 117 f.) Dieses „kreative Spiel mit dem Komponentenbestand fester Wendungen“ (ebd., S. 118) kann auch in okkasionellen Modifikationen münden - in diesem Zu‐ sammenhang spricht Stein von der „Abwandlung von Formeln und festen Wort‐ verbindungen“ (ebd.), die den dritten Fall bilden. Dabei wird „[d]as bekannte 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 135 <?page no="136"?> 69 Der Spiegel, Nr.-12/ 1992, S.-55. 70 Der Spiegel, Nr.-12/ 1992, S.-42. ‚Ausgangsmaterial‘ […] in immer neue Formulierungssituationen eingepaßt“ (ebd., S. 119). Der kompetente Sprecher erkennt jedoch trotz „lexikalisch-se‐ mantischer ‚Verfremdung‘“ (ebd.) die Originale, wodurch die Wirkung dieses kreativen Spiels zustande kommt. Stein illustriert das Verfahren anhand der Audi-Werbung „Quattro macht den Meister“ (ebd., S. 118), das eine „Anspielung“ (Wiss 1989) auf das Sprichwort Übung macht den Meister ist. (Vgl. Stein 1995, S.-118f.) Reproduktive und produktive Verbalisierungsanstrengungen wirken zusammen, und sie können, sofern sich ein Muster in der kommunikativen Praxis bewährt, dazu führen, daß sich ‚gelungene‘ Anspielungen selbst wiederum zu Schemata verfestigen, auf die der Sprachteilhaber dann reproduktiv zurückgreifen kann […]. (Ebd., S. 119) Als Beispiel führt Stein die feste Wendung „lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach [Hervorh. im Original]“ (ebd.) und zeigt, dass das der Wendung zugrundeliegende Schema lieber … als … in weiteren Formulierungen auftaucht: „lieber ‘ne sechs als überhaupt keine persönliche Note“ (ebd.). Beobachtungen des vierten Falls lassen sich als Kreativität als Reliteralisierung bezeichnen. Phraseologismen können gezielt in vom Sprachsystem nicht vor‐ gesehene Verwendungskontexte gestellt werden. So kann eine Mehrdeutigkeit, die im Phraseologismus oder im Sprachsystem nicht angelegt ist, durch einen ungewöhnlichen Verwendungszusammenhang hergestellt werden. Ein Beispiel für den Gebrauch eines Phraseologismus, der wörtlich zu verstehen ist, liefert eine Werbeanzeige 69 mit einem Bild einer blauen Umhängetasche. Der Text lautet „SIE WERDEN IHR BLAUES WUNDER ERLEBEN [Hervorh. im Original]“ (Stein 1995, S. 120). Die idiomatische Wendung sein blaues Wunder erleben ist negativ konnotiert, wobei blau nicht wörtlich verstanden werden soll. Durch die Abbildung der blauen Tasche wird die übertragene Bedeutung jedoch umgekehrt: „‚blaues Wunder‘ referiert wörtlich auf die Tasche, ‚blau‘ soll als Qualitätsattribut gedeutet werden“ (ebd.). Auch Phraseologismen, die selbst mehrdeutig sind, können so verwendet werden, dass sowohl die übertragene als auch die wörtliche Lesart gleichzeitig aktiviert werden. In einer von Stein (1995) aufgeführten Werbeanzeige 70 heißt es „EUROCARD. Für Leute, die auch sonst gute Karten haben“ (Stein 1995, S. 121). Einerseits gehört die Wendung gute Karten haben zum Kartenspieler-Jargon und ist in diesem Zusammenhang wörtlich zu verstehen. Sie hat andererseits jedoch auch eine übertragene Bedeutung (z. B. Erfolg haben). In der Werbung wird auf beide Lesearten gesetzt: 136 5 Muster und Textproduktion <?page no="137"?> Erstens hat man mit der beworbenen Kreditkarte eine gute Kreditkarte und zweitens besitzen diese Kreditkarte nur erfolgreiche Leute. „Ausdruck kreativen Sprachgebrauchs ist dabei die Platzierung der Wendung in einem Kontext, in dem auf die wörtliche Bedeutung rekurriert und diese reliteralisiert wird“ (ebd., S.-121). (Vgl. ebd., S.-121f.) Als Fünftes geht Stein auf formelhafte Strukturen mit „Leerstellen“ ein. Dar‐ unter versteht er Phraseoschablonen (vgl. dazu auch Donalies 2009; I.5.1.1). Die Produktionskomponente wird immer dann beim Formelgebrauch aktiviert, wenn formelhafte Wendungen lexikalisch ergänzt werden müssen, damit sie überhaupt gesprochen oder geschrieben werden können, wie es bei den Phra‐ seoschablonen der Fall ist. Hier ist Formelhaftigkeit „auf ein festes Gerüst beschränkt, dessen Leerstellen aufgefüllt werden“ (ebd., S. 121). Dabei dient „[d]ie kontextspezifische Besetzung der Leerstellen […] dazu, die funktional unvollständige Struktur, die aus dem Lexikon abgerufen wird, kommunikati‐ onstauglich zu machen“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Als sechsten Fall führt Stein die kontaminierten Wendungen auf. Die Formulie‐ rung etwas hinterleuchten wurde beispielsweise aus den festen Wendungen etwas hinterfragen und etwas durchleuchten gebildet. Bei den kontaminierten Wendungen handelt es sich in den meisten Fällen um „Versprecher“ (ebd., S. 122). Daher unterscheiden sie sich nach Stein qualitativ von den fünf anderen Fällen und sind „nicht als Folge kreativitätsbestimmten Sprachverhaltens anzusehen“ (ebd., 122). (Vgl. ebd.) Das folgende Zitat beschreibt treffend den kreativen Sprachgebrauch im Hinblick auf formelhafte Wendungen: Daß ein kreativer Umgang mit formelhafter Sprache möglich ist, scheint ein Wider‐ spruch zu sein, tatsächlich schließt sich damit aber der Kreis: Kreativität geht von den Sprachteilhabern aus und manifestiert sich in der Fähigkeit und dem Bemühen, feste Wortverbindungen nicht nur sprachsystemgetreu zu reproduzieren, sondern sie sprachspielerischen Prozessen zu unterwerfen. Was im Sprachsystem als festes Bauteil oder ‚Versatzstück‘ angelegt ist, wird in der je individuellen Sprachverwendung zur variablen Größe. Bildlich gesprochen: Der ‚vorgefertigte Rohling‘ erfährt einen ‚kreativen Feinschliff ‘ [Hervorh. im Original]. (Ebd., S.-123) Die folgenden Ausführungen widmen sich Modifikationen von Phraseologismen. In ihrem Werk Werbesprache (2010) stellt Nina Janich unter anderem verschie‐ dene Wortspiele zusammen, die in der Werbesprache eingesetzt werden. Dabei lassen sich nach Janich verschiedene Verfahren auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems unterscheiden: Phonetische Verfahren, morphologische Ver‐ 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 137 <?page no="138"?> fahren, syntaktische Verfahren, phraseologische Verfahren und graphische und orthographische Verfahren. (Vgl. dazu Janich 2010, S.-205ff.) Die phraseologischen Verfahren werden im Folgenden dargestellt. Bei diesen wird zwischen drei Kategorien unterschieden. Die erste Kategorie lässt sich als „Veränderung eines Phraseologismus durch Ersetzen, Hinzufügen oder Weg‐ lassen eines Ausdrucks“ (ebd., S.-206) bezeichnen, die zweite als „Remotivation eines Phraseologismus“ (ebd., S. 207) und die dritte als „Kombination von zwei Phraseologismen“ (ebd.). Für die erste Kategorie nennt Janich zwei Beispiele. Ersetzung, also „lexikali‐ sche Substitution“ (ebd., S. 206) eines Ausdrucks lässt sich an einer Schlagzeile für Sixt-Autovermietung zeigen: „Ist die Katze günstig, freut sich der Mensch“ (ebd., S. 207). Als Referenztext ist der Slogan von Whiskas Katzenfutter zu nennen: „Ist die Katze gesund, freut sich der Mensch“ (ebd.). Hinzufügung illustriert Janich durch einen Anzeigentext von Mercedes: „Der klügere Gurt gibt nach“ (ebd.). (Vgl. ebd., S. 206f.) Bei der Remotivation eines Phraseologismus wird „neben der idiomatischen Bedeutung […] auch die wörtliche aktiviert“ (ebd., S. 207). Janich nennt hierfür als Beispiel unter anderem eine Schlagzeige für Verstärker der Marke Blaupunkt: „Für Leute, die gerne viel um die Ohren haben“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Für die Kombination von zwei Phraseologismen verweist Janich auf ein Beispiel von Forgás und Göndöcs (1997, S. 61): „Manche läßt es KALT, wenn die Minister für Umwelt ins Schwitzen kommen“ (Forgás/ Göndöcs 1997, S.-61 zit. n. ebd.). (Vgl. Janich 2010, S.-207) Janichs erste und dritte Kategorie können mit Steins Gruppe Variation fester Wortverbindungen (Stein 1995, S. 117) gleichgesetzt werden. Stein (1995) verwendet für das Verfahren Remotivation eines Phraseologismus auch den Ausdruck Reliteralisierung (vgl. Stein 1995, S.-119). 5.1.3 Muster und die poetische Funktion der Sprache Bei einem Akt sprachlicher Kommunikation wird eine Nachricht von einem Sender an einen Empfänger geschickt. Damit die Nachricht wirksam werden kann, ist ein verbaler oder verbalisierbarer Kontext für diese Nachricht not‐ wendig. Zudem wird ein Kode benötigt, der sowohl vom Empfänger als auch vom Sender (teilweise) bekannt sein muss sowie ein Kontaktmedium. (Vgl. Jakobson 1972, S. 103) Diese von Jakobson benannten sechs Faktoren bestimmen jeweils eine andere Funktion von Sprache. Dabei gibt es selten eine Nachricht, die lediglich eine dieser Funktionen erfüllt. So ist die Sprachstruktur einer Nach‐ richt insbesondere von der prädominanten Funktion abhängig. (Vgl. ebd., S. 104) Jakobson unterscheidet zwischen den folgenden sechs Sprachfunktionen: Die 138 5 Muster und Textproduktion <?page no="139"?> referentielle, „denotative“, „kognitive“ Funktion, die emotive bzw. „expressive“ Funktion, die konative Funktion (Ausrichtung auf den Sender), die phatische Funktion, die metasprachliche Funktion und die poetische Funktion (vgl. ebd., S.-103-108). Die poetische Funktion von Sprache soll im Folgenden erläutert werden. Bei der poetischen Funktion steht die „Nachricht selbst“ im Mittelpunkt (vgl. Pelz 1996, S. 32). „Die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Sprache [Hervorh. im Original]“ ( Jakobson 1972, S. 108). Dabei lässt sich die poetische Funktion weder auf die Dichtung beschränken noch die Dichtung auf die poetische Funktion (vgl. ebd.). Jeder Versuch, den Wirkungsbereich der poetischen Funktion auf Dichtung zu redu‐ zieren oder Dichtung auf die poetische Funktion zu begrenzen, wäre eine irrige Vereinfachung. Die poetische Funktion ist nicht die einzige Funktion der Wortkunst, sondern nur ihre dominante, determinierende Funktion, während sie in allen anderen Sprachaktivitäten eine untergeordnete, akzessorische Rolle spielt. (Ebd.) Auch in alltäglichen Sprachäußerungen lässt sich die poetische Funktion der Sprache entdecken. (Vgl. Pelz 1996, S. 32) Jakobson (1972) verdeutlicht die poetische Funktion der Sprache u. a. anhand der Äußerung eines Kindes: Ein Mädchen pflegte immer von ‚horrible Harry‘ zu sprechen. ‚Why horrible? ‘ ‚Because I hate him‘. ‚But why not dreadful, terrible, frightful, disgusting? ‘ ‚I don’t know why, but horrible fits him better‘. Ohne es zu merken, hielt sie sich an das poetische Mittel der Paranomasie. ( Jakobson 1972, S. 108) Es handelt sich somit um kein inhaltliches, sondern um ein rein ästhetisches Kriterium für die Wahl des Wortes horrible, so Pelz (vgl. Pelz 1996, S.-32). Um die Fragen zu beantworten, was für die poetische Funktion das empirische linguistische Kriterium ist und welches das Merkmal ist, das jeder Dichtung in‐ härent ist, beleuchtet Jakobson die zwei im sprachlichen Verhalten gebrauchten Grundordnungsarten Selektion und Kombination. Ist das Thema einer Nachricht child wird von dem Sprecher zunächst zwischen ähnlichen Nomen wie child, kid, youngster und tot eines ausgewählt. Anschließend wählt er ein Verb aus sinnverwandten Verben aus (z. B. sleeps, dozes, nods oder naps), um das Thema auszuführen und kombiniert die beiden Wörter. Selektion wird aufgrund von Äquivalenz und Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit oder aufgrund von Synonymie und Antinomie vollzogen. Kombination, die Herstellung einer Sequenz, beruht nach Jakobson hingegen auf Kontiguität. „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination 5.1 Muster und Musterhaftigkeit aus (text-)linguistischer Perspektive 139 <?page no="140"?> [Hervorh. im Original]“ ( Jakobson 1972, S. 110), so Jakobson. Dementsprechend findet eine Erhebung von Äquivalenz „zum konstitutiven Verfahren einer Sequenz“ (ebd.) statt. (Vgl. ebd., S.-109f.) In der Dichtung wird eine Silbe mit jeder anderen Silbe der gleichen Folge äquivalent; Wortakzente werden Wortakzenten gleichgesetzt, ebenso das Fehlen eines Akzentes einem Fehlen; prosodische Längen mit prosodischen Längen, Kürzen mit Kürzen; Wortgrenze mit Wortgrenzen, das Fehlen der Grenzen mit deren Fehlen; syntaktische Pausen mit syntaktischen Pausen, das Fehlen einer Pause entspricht wiederum dem Fehlen. Silben werden in Maßeinheiten verwandelt, und dasselbe gilt für Moren und Akzente. (Ebd., S.-110) Die poetische Funktion der Sprache lässt sich ebenfalls an festen Redewen‐ dungen der Alltagssprache aufzeigen. Die festen Wendungen Haus und Hof und bei Nacht und Nebel enthalten einen Stabreim bzw. eine Alliteration. Ein Endreim ist in der festen Redewendung weit und breit zu identifizieren. Eine Wiederholung weisen die festen Redewendungen von Haus zu Haus und jahraus, jahrein auf. Werbung nennt Jakobson „angewandte Poesie“. Auch hier lässt sich die poetische Funktion beispielsweise im Slogan Milch macht müde Männer munter oder in Produktnamen wie Wäscheweich und Kitekat finden. Weiter werden Buchtitel (Irrungen-Wirrungen) und Slogans (frisch, fromm, fröhlich, frei) genannt. Einige Regeln weisen Endreime auf. So gibt es gereimte Sprichwörter wie Morgenstund’ hat Gold im Mund, Wetterregeln wie Weihnacht im Klee, Ostern im Schnee und Lernverse wie In des Alten Bundes Schriften merke in der ersten Stell’ Mose, Josua und Richter und noch zwei von Samuel. (Vgl. Pelz 1996, S. 32f.) Treffend formuliert Pelz die Wirkung des Gebrauchs von Poetik in Sprachäußerungen wie folgt: Sprachäußerungen, deren dominante Funktion nicht die poetische, sondern häufig eine appellative oder eine Informationsfunktion ist, erfüllen offensichtlich ihre Hauptfunktion besser, wenn ihre sprachliche Form zugleich ein poetisch-ästhetisches Bedürfnis befriedigt. (Pelz 1996, S.-33) 5.2 Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive Im Folgenden wird der Blick auf die Vorstellungen von Musterhaftigkeit in unterschiedlichen didaktischen Konzeptionen zur Textproduktion gerichtet. In diesem Zusammenhang wird auch die den Konzeptionen zugrundeliegende Vorstellung des Verhältnisses von Muster und Textproduktion skizziert. Zunächst 140 5 Muster und Textproduktion <?page no="141"?> 71 Carle, Eric (2018 45 ): Die kleine Raupe Nimmersatt. Hildesheim: Gerstenberg. wird die textinterne Musterbildung in den Blick genommen. In einem nächsten Schritt werden sprachliche, literarische und narrative Muster thematisiert. Im An‐ schluss daran wird der Zusammenhang zwischen Mustern und Textprozeduren beleuchtet und abschließend werden Grundmuster in Erzählungen thematisiert. Textinterne Musterbildung Textinterne Musterbildung wird im Folgenden anhand der Überlegungen von Rita Finkbeiner (2019) und Alexandra und Michael Ritter (2008) betrachtet. Finkbeiner definiert sprachliche Rekurrenz, die auch als sprachliche Musterhaf‐ tigkeit bezeichnet werden kann (vgl. Finkbeiner 2019, S.-43), wie folgt: Sprachliche Rekurrenz lässt sich als wiederholter Gebrauch gleicher oder ähnlicher sprachlicher Formen in gleichen oder ähnlichen kommunikativen Situationen be‐ schreiben, wobei Rekurrenz nach allgemeiner Annahme über die Zeit zu sprachlicher Verfestigung führen kann. (Ebd.) Muster, denen sich die Sprecherinnen und Sprecher zur Erfüllung wiederkeh‐ render Aufgaben bedienen, sind auf jeder sprachlichen Ebene zu finden, so auch Finkbeiner. Sie verweist in diesem Zusammenhang zum einen auf kon‐ struktionsgrammatische Arbeiten, die ihren Schwerpunkt auf Konstruktionen legen, die auf der Satzebene oder unterhalb dieser einzuordnen sind. Zum an‐ deren nennt Finkbeiner pragmatische und textlinguistische Ansätze, die „schon früh auf die Relevanz rekurrenter Muster auf Textebene hingewiesen“ (ebd., S. 43f.) haben. So lassen sich Textmuster als „Teil des kollektiven sprachlichen Repertoires einer Sprachgemeinschaft“ (ebd., S. 44) bezeichnen, die durch das wiederholte Verwenden von Inhaltsbausteinen in Kombination mit bestimmten Ausdrucksformen entstehen, die sich wiederum beim Bewältigen wiederkeh‐ render kommunikativer Situationen bewährt haben. (Vgl. ebd. 43 f.) Nun gibt es aber Musterhaftigkeit auf der Textebene nicht nur in Form von kollektiv in einer Sprachgemeinschaft (zu einem Zeitpunkt t) etablierten formelhaften Texten. Texte können vielmehr auch dadurch ‚musterhaft‘ werden, dass in ihrem Verlauf schrittweise ein bestimmtes Muster erst erzeugt wird. (Ebd., S.-44) Die beschriebene Form von Musterhaftigkeit lässt sich auch als „Rekurrenz in Bezug auf die innere sequenzielle Struktur eines bestimmten Textexemplars“ (ebd.) bezeichnen. Finkbeiner illustriert sie am Beispiel des Bilderbuches Die kleine Raupe Nimmersatt: 71 „Am Montag fraß sie sich durch einen Apfel, aber satt war sie noch immer nicht. Am Dienstag fraß sie sich durch zwei Birnen, aber 5.2 Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive 141 <?page no="142"?> satt war sie immer noch nicht. […]“ (Ebd.) Hier entsteht durch Wiederholung zweier nebengeordneter Sätze „bei Variation bestimmter, festgelegter Parameter schrittweise eine Serie von Episoden“ (ebd.). Dabei wird das Muster schon bei der ersten Wiederholung erkennbar und ist spätestens mit der zweiten Wiederholung etabliert. „Repetition und Ersetzung ist hier das grundlegende Organisationsprinzip, mit dessen Hilfe die Geschichte ihre narrative Struktur bekommt“ (ebd.). Es liegt keine Reproduktion eines Textmusters vor, das in der Sprachgemeinschaft vorgängig etabliert ist. Allerdings wird „innertextlich, aktuell-sequentiell, quasi unter den Augen der (Vor-)Leserin eine Regel bzw. Routine erzeugt“ (ebd.). Nichtsdestotrotz ist die beschriebene Art von Muster‐ bildung nicht auf einzelne Textexemplare beschränkt. Vielmehr handelt es sich bei der seriellen Narration um „ein zentrales ästhetisches Gestaltungsprinzip in der Erstliteratur für Vorschulkinder“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Finkbeiner merkt an, dass Formen der textinternen Musterbildung bisher sowohl in der Phraseologieforschung als auch in pragmatischen Ansätzen kaum Beachtung fanden und äußert die Vermutung, dass der Grund hierfür darin liegen könne, dass es sich bei den Mustern nicht um ein alltagssprachliches Wandelphänomen handele, sondern um in einem bestimmten Sinn kulturelle Artefakte bzw. „eine Form der bewussten ästhetischen Gestaltung von Texten“ (ebd., S. 45). Finkbeiner plädiert jedoch für die Beachtung solcher Formen von Musterbildung durch einen pragmatisch orientierten Ansatz zur Textmuster‐ forschung, da diese Muster „wichtige Funktionen im Bereich der narrativen Strukturierung von Texten erfüllen können“ (ebd.). (Vgl. ebd.) In der Serialisie‐ rung sieht Finkbeiner ein einfaches Strukturierungsmittel und ein einfaches Modell für die Handlungsstruktur und den Aufbau von Geschichten (vgl. ebd., S.-57f.). Interessant erscheint die Betrachtung von Serialisierung als Teil des Textmus‐ terwissens. Dieses begründet Finkbeiner mit dem häufigen und konsequenten Rückgriff auf Serialisierung in Bilderbüchern (vgl. ebd., S.-58): Der frequente und konsequente Einsatz von Serialisierung in der Bilderbuchliteratur lässt den Schluss zu, dass Serialisierung auch textexemplarübergreifend ein etabliertes Verfahren der Organisation von Geschichten ist, und dass Serialisierung damit zu dem gehört, was man Textmusterwissen oder eine Konstruktion auf der Textebene nennen könnte. (Ebd.) Während Finkbeiner Gebrauch vom Ausdruck serielles Erzählen macht, greifen Ritter und Ritter (2008) auf den Begriff Baumuster zurück. Unter „Baumuster[n] des Schreibens“ (Ritter/ Ritter 2008, S. 14) werden „einfache Anleitungen für das Erfinden kleiner Geschichten oder Gedichte“ (ebd.) verstanden. Solche 142 5 Muster und Textproduktion <?page no="143"?> 72 Stamm, Peter/ Bauer, Jutta (2015): Warum wir vor der Stadt wohnen. Weinheim/ Basel: Beltz/ Gelberg. Baumuster sind für lyrische Kleinformen verbreitet. Zu nennen seien hier Elfchen und Haiku. (Vgl. ebd.) Ritter und Ritter zeigen, dass Kindern ebenfalls konkrete Geschichten für das eigene Verfassen von Texten dienen können (vgl. ebd., S. 15). Sie stellen dazu das Bilderbuch Warum wir vor der Stadt wohnen 72 von Peter Stamm und Jutta Bauer vor, das nach einem Baumuster aufgebaut ist. „Das Baumuster der Geschichte“ (ebd., S.-15) beschreiben sie wie folgt: […] jede Episode [folgt] […] ihrer Struktur nach dem gleichen Muster […]. Nach der sprachlich standardisierten Eingangsfloskel ‚Als wir (Wohnort) wohnten,…‘ wird beschrieben, was das Wohnen für die Familie an diesem Ort konkret ausmacht […]. […] Den drittletzten Satz jeder Episode charakterisiert eine Art Countdown, wobei immer etwas im Zusammenhang mit den Zahlen vier, drei, zwei und eins passiert. […] Im vorletzten Satz der Episode geschieht dann etwas, was wieder einmal den Wohnortwechsel notwendig macht und so wird im letzten Satz beschlossen, wohin die Reise geht. […] Dieses Baumuster zieht sich durch alle Episoden des Buches […]. (Ebd.) Die Geschichte weist eine episodenhafte Struktur auf. Ritter und Ritter be‐ zeichnen Baumuster auch als „analoge Szenen- und Dialogstrukturen“ (Ritter/ Ritter 2017, S. 14). Zusammenfassend lässt sich ein Baumuster als Struktur beschreiben, die in den verschiedenen Episoden einer Geschichte auftaucht und aus festen inhaltlichen Bausteinen sowie festen sprachlichen Versatzstücken besteht. Die inhaltlichen Bausteine können dabei in den verschiedenen Episoden sprachlich unterschiedlich ausgestaltet sein. Ritter und Ritter stellen eine Reihe von Bilderbüchern vor, die Musterpo‐ tentiale bieten. Darunter verstehen sie neben Baumustern beispielsweise im Bilderbuch mehrfach auftretende Merkmale wie den Paarreim, konditionale Satzgefüge, Ellipsen und Sprachverdichtungen, „episodisches Erzählen mit fester Erzählstruktur (wiederholtes Fragen)“ (ebd.), „Perspektivwechsel von ‚wir‘ zur Ich-Perspektive“ (ebd.), Konjunktiv II und kausale Satzgefüge. (Vgl. ebd.) Charakteristisch für diese Vorstellung von Musterhaftigkeit ist - wie bei den Überlegungen von Stein und Stumpf (vgl. Stein/ Stumpf 2019, S. 19; I.5.1.1) - das mehrfache Vorkommen von „etwas“. Bei diesem „Etwas“ kann es sich um kleinere Einheiten wie rhetorischen Mittel und Satzkonstruktionen handeln, aber auch um größere Einheiten wie den Wechsel einer Erzählperspektive. In den folgenden Ausführungen wird auf den Begriff Baumuster zurückgegriffen, um textinterne Musterbildung zu thematisieren. 5.2 Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive 143 <?page no="144"?> 73 Die Ausführungen zu (literarischen) Mustern und Textproduktion enthalten einige Überlegungen und Formulierungen aus der wissenschaftlichen Hausarbeit Rückmel‐ dungen beim Textschreiben. Überlegungen zu lernförderlichen Rückmeldungen durch den Lehrenden zu Kindertexten im Schreibunterricht der Grundschule (2011) der Autorin. (Literarische) Muster und Textproduktion Mechthild Dehn unterscheidet zwischen literarischen, orthographischen und medialen Mustern beim Schreiben (vgl. Dehn 2005, S. 14). 73 Im Folgenden sei der Blick auf die für die vorliegende Arbeit relevanten literarischen und medialen Muster gerichtet. Unter literarischen Mustern versteht Dehn unter anderem Geschichtenmuster, Metaphernbildung und den Gebrauch rhetorischer Figuren (z. B. Chiasmus) (vgl. ebd., S. 14f.). Des Weiteren gilt literarische Musterbildung den Topoi, Textstrukturen, Bildern und sprachlichen Figuren (vgl. ebd., S. 16). Diese Auflistung an Beispielen für literarische Muster macht deutlich, dass Dehns Musterbegriff sehr weit gefasst ist. „Geschichtenform, Chiasmus, Metapher, erlebte Rede, Selbstreferenzialität der Zeigwörter, Spiel mit Erzählhaltung und Perspektive sind nicht Zusatz, schmückendes Beiwerk in den Kindertexten, sondern sie konstituieren sie“ (Dehn et al. 2011, S. 65). Demnach wird ein Text durch Muster konstituiert. Schüler (2018) schreibt im Zusammenhang mit diesem Zitat: „Dehn zeigt an etlichen Beispielen, dass Texte von Grundschülerinnen und -schülern literarische und mediale Muster enthalten, die den Text zum Text machen“ (Schüler 2018, S. 61). Diese Erläuterung verdeutlicht, dass alle genannten Textmerkmale als literarische oder mediale Muster bezeichnet werden können. Es folgt ein Versuch, einige der von Dehn (2005) und Dehn, Merklinger und Schüler (2011) aufgeführten Beispiele für Mustergebrauch zu klassifizieren. Der Begriff Geschichtenmuster lässt eine Nähe zum narrativen Textmuster, der Narration erkennen. Hier ist Musterhaftigkeit auf der Textebene zu erkennen. Eine weitere Kategorie bilden rhetorische Mittel (Metaphern, Chiasmus). Nach Dehn, Merklinger und Schüler (2011) gibt es Muster des Erzählens zur zeitlichen Gliederung (z. B. es war einmal, eines Tages), zur Steigerung (sehr …, vor allem…, ging und ging) und zur Textgliederung (aber). (Vgl. Dehn et al. 2011, S.-9) Dehn, Merklinger und Schüler (2011) verwenden einen Musterbegriff, der sich grundsätzlich vom Alltagsgebrauch unterscheidet. Muster ist nicht die Norm, nach der man Kleider näht oder Bilder ausmalt oder - in der Aufsatzdidaktik - Texte schreiben lernen sollte: die gute Erzählung, die treffende Beschreibung und so weiter. (Ebd., S.-65) Den Begriff Textmuster gebrauchen sie im Sinne der Textlinguistik (vgl. ebd., S. 20). Anzumerken an dieser Stelle sei, dass der Begriff Textmuster jedoch auch als Synonym für Dehns Begriff des literarischen Musters verwendet werden 144 5 Muster und Textproduktion <?page no="145"?> 74 Der folgende Absatz ist Strozyk (2011) entnommen. kann. So schreibt Kruse: „Textmuster können Geschichtenmuster, spezifische Arten der Metaphernbildung, der Gebrauch rhetorischer Figuren […] sein“ (Kruse 2006a, S.-145). Nachfolgend wird der Zusammenhang zwischen Mustern, implizitem Muster‐ wissen und Textproduktion dargestellt. 74 Dehn bezeichnet „Schreiben“, also „Ge‐ danken, Wissen, Mitteilungen, Empfindungen, Erfahrungen, Erinnerungen aus dem Kopf aufs Papier zu bringen“ (Dehn 2005, S. 11), als Transformationsprozess (vgl. ebd.). Als Material dieses Transformationsprozesses nennt Dehn Muster. Diese werden durch die „Wahrnehmung und Aneignung der Lebenswelt“ (ebd., S.-13) erzeugt. Inhalte der äußeren Welt werden gebildet und nachgebildet. Für Dehn ist beim Musterbegriff „eine Art Pendelbewegung wichtig, nämlich die Internalisierung von Erzeugtem und Vorgefundenem - ‚Bilden und Nachbilden‘ - und die Entäußerung davon beim Schreiben - als Vergegenständlichung auf dem Papier“ (ebd., S. 13f.). „Literarische Muster beziehen sich auf Gehörtes, Gelesenes, Gesehenes“ (ebd., S. 19). Weiter schreibt Dehn, dass sich die Muster‐ bildung „als implizites Lernen und als innere Regelbildung“ (ebd., S. 24) vollzieht. Demnach bilden Kinder durch Erfahrungen mit Gehörtem, Gelesenem und Gesehenem implizit Muster aus. Musterelemente können „bei der Rezeption anderer Texte im Bilden und Nachbilden entwickelt […] [werden]“ (ebd., S. 16). (Vgl. ebd., S.-11ff.) Wer schreibt, erfasst Vorgegebenes, Gewusstes, Erfahrenes für sich und gibt es anderen wiederum zum Lesen. Der Text, der dabei entsteht, ist immer ein Text zwischen Texten. Er adaptiert andere Texte und korrespondiert mit ihnen, mit Formen und Mustern, in denen Inhalte, Themen, Bedeutungsstrukturen gestaltet, Erfahrung und Erkenntnis formuliert und generiert werden [Hervorh. im Original]. (Dehn/ Merklinger/ Schüler 2011, S.-42) Ein verfasster Text korrespondiert somit mit Formen und Mustern aus zuvor rezipierten Texten. Im Spiel mit Mustern ist Kindern die ästhetische Funktion des Schreibens zugänglich (vgl. ebd., S. 65). Dehn spricht von „Adaption und Variation von Mustern“ (Dehn 1999, S.-47). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Dehn Schreiben als Transforma‐ tionsprozess sieht, bei dem Muster das Material sind, um Gedanken aus dem Kopf zu Papier zu bringen. 5.2 Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive 145 <?page no="146"?> (Sprachliche) Muster und Textproduktion Nach einer Erläuterung der Begriffe (sprachliches) Muster und Musterhaftigkeit wird der Zusammenhang zwischen sprachlichen Mustern und Textproduktion beleuchtet. Im Zusammenhang mit ihren Überlegungen zur Anregung von Textmustergebrauch (vgl. dazu Kruse/ Kruse 2007; I.7) beziehen sich Iris und Norbert Kruse ebenfalls auf Muster. Sie nennen „sprachliche Formeln, eigen‐ tümliche Muster, Idiome oder ungewöhnliche Ausdrücke“ (ebd., S. 30), die einige Kinder aus literarischen Texten beim Verfassen eigener Texte adaptieren (vgl. ebd.). Kruse und Kruse subsummieren die genannten Formulierungen unter dem übergeordneten Begriff Muster: „Die Übernahme, Variation oder Transformation solcher Muster in die Struktur eigener Texte wird als Vorgang gesehen, der der Entwicklung von Textkompetenz dient“ (ebd.). Ein weiterer von Iris und Norbert Kruse in diesem Zusammenhang verwen‐ deter Ausdruck ist der Begriff sprachliches Muster (vgl. ebd., S. 31). Dieser sei mit Hilfe von zwei Beispielen, die Kruse und Kruse nennen, illustriert. Bei ihrem ersten Beispiel handelt es sich um eine von Kathrin Bothe (2006) beschriebene Beobachtung. So bekam eine Drittklässlerin, nachdem sie ein Guggenmos-Ge‐ dicht gehört hatte, die Aufgabe, „die Verwandlungsidee dieses Gedichts zu variieren“ (Kruse/ Kruse 2007, S. 30). Dabei formulierte sie folgenden Satz: „Ich fühlte mich luftig und leicht wie ein Streiflein Nebel“ (ebd.). Nach Bothe stammt diese Passage aus dem Kinderbuch Das kleine Gespenst von Otfried Preußler. Als zweites Beispiel nehmen Kruse und Kruse Bezug auf eine von Dehn geschilderte Szene (vgl. dazu Dehn 2005, S. 9). In dieser spricht Dehn mit einem fünfjährigen Jungen, der zum Märchen Hänsel und Gretel Bilder aufgeklebt hatte. Als dieser gefragt wurde, weshalb er ein bestimmtes Bild an eine bestimmte Stelle geklebt habe, antwortete der Junge mit dem fast wortwörtlichen Zitat aus der Fassung des Märchens der Gebrüder Grimm von 1812: „Und sie verbrannte elendiglich“ (Kruse/ Kruse 2007, S. 31). (Vgl. ebd.) Im Hinblick auf diese zwei Beispiele nutzen Kruse und Kruse den Begriff sprachliches Muster: „Die Textkompetenz nun be‐ steht darin, derartige sprachliche Muster kohärent einbinden zu können in einen neuen textuellen Zusammenhang“ (ebd.). Kruse und Kruses Auffassung von einem sprachlichen Muster schließt somit ganz individuelle Formulierungen ein. Formulierungen aus einem Text können dadurch zu sprachlichen Mustern werden, indem sie in einem weiteren Text (hier: in den kindlichen Sprach- und Textproduktionen) erneut verwendet werden. Kruse und Kruse (2017) stellen eine Zusammenstellung von Beispielen zur Musterhaftigkeit in Kindertexten aus Klasse 3 vor (vgl. dazu Kruse/ Kruse 2017, S. 7). Sie unterscheiden dabei zwischen den folgenden sprachlichen Auf‐ fälligkeiten: stark bildhafte Sprache (z. B. silbernes Meer), Verstärkungen (z. B. 146 5 Muster und Textproduktion <?page no="147"?> superstark), erfundene Wörter (z. B. Meerjungmann), Paarbildungen (z. B. Glitzer und Seide), Sprachspiele (z. B. „Sie ist Grau. Grau ist ganz schwarz.“ (Ebd.)), formelhafte Wiederholungen (z. B. „Das Pferd hat … Das Pferd hat“ (ebd.)), Muster, Phraseme (z. B. Es war einmal oder „Dir wird das Lachen noch vergehen“ (ebd.)), Wortschatz, ungewöhnliche Wörter (z. B. „Ein junger Mann namens Aladdin…“ (ebd.)) und auffälliger Satzbau und Umstellungen von Satzgliedern (z. B. „In den Wald gingen die Tiere“ (ebd.). Diese Auflistung kann um weitere sprachliche Auffälligkeiten ergänzt werden. (Vgl. ebd.) Bei dieser Zusammenstellung ist auffällig, dass sie sowohl Phraseologismen und Modellbildungen (nach Burger) enthält, als auch individuelle sprachliche Muster, die sich auf andere Texte beziehen (Intertextualität) und auffällige syntaktische Strukturen. Zudem wird deutlich, dass sich Musterhaftigkeit nach Kruse und Kruse auf den Gebrauch einzelner Wörter beziehen kann („superstark“ (ebd.), „Meerjungmann“ (ebd.)). Hier liegt demnach Musterhaftigkeit auf der Wortebene (Stein und Stupf 2019) vor und eine Parallele zum Musterbegriff nach Brommer und Bubenhofer wird deutlich. Zudem schließt Musterhaftigkeit nach Kruse und Kruse ähnlich wie der Musterbegriff von Dehn rhetorische Mittel wie beispielsweise die Wiederholung oder Anapher („Das Pferd hat … Das Pferd hat“ (Kruse/ Kruse 2017, S. 7)) mit ein. „Das Schreiben von Texten ist immer auch eine Frage der Erfahrung mit Texten. Denn mit den vorgelesenen, gesehenen und gehörten Texten werden Muster entdeckt und wiedererkannt, mit denen die Texte funktionieren“ (ebd., S. 4). Kruse und Kruse richten im Zusammenhang mit dem Nutzen von Mustern für die eigene Textproduktion den Blick auf die Funktionalität von Mustern: Mit Mustern funktionieren Texte. Die Erfahrung, dass mit bestimmten Mustern Texte funktionieren, können Kinder beim Hören, Sehen und Lesen von Texten machen. Als Gründe dafür, dass Kinder Muster in ihren Texten verwenden, nennen Kruse und Kruse (2017) zwei Gründe: Kognitive Entlastung und persönliche Vorlieben (vgl. ebd., S.-6). Einerseits ist es sicherlich eine kognitive Entlastung beim Schreiben und ermöglicht die syntaktische Organisation des Textes. […] Andererseits sind es auch Vorlieben für bestimmte Kombinationen, mit denen sich für die Kinder Vorstellungen und Handlungsräume verbinden, vielleicht auch Figuren, die durch einen bestimmten Sprachgebrauch zur Persönlichkeit werden, die für die Kinder attraktiv ist. (Ebd.) Narrative Muster Schüler untersucht in ihrer Studie Narrative Muster in Bild und Text (2018) narrative Muster (zur Vorstellung der Studie vgl. I.2). „[…] [V]or dem Hinter‐ 5.2 Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive 147 <?page no="148"?> grund eines weiten Mustergriffs“ (ebd., S. 50) betrachtet sie „Sprachformen als narrative Muster […], die basale Elemente von Narrationen konkretisieren“ (ebd.). „Im Erproben sind diese Muster möglicherweise (noch) nicht Teil des kognitiven Wissensbestandes, bergen aber das Potenzial in sich, ihn an ihnen auszubilden“ (ebd.). Schüler sieht im Rezipieren und im Erproben musterhafter Sprachformen die Grundlage für das Ausbilden von kognitiven Textmustern. (Vgl. ebd.) Im Rahmen der genannten Studie entwickelt Schüler ein Kategoriensystem zur „Analyse von Sprachformen für vorgestellte Erfahrung und Ereignisfolgen“ (ebd., S. 107). Dabei identifiziert sie erstens Sprachformen für vorgestellte Erfahrung. Hierbei unterscheidet sie zwischen drei Formen der Darstellung, und zwar Thematisierung ohne Hervorhebung, instrumentelle und literarische Hervorhebung. (Vgl. ebd., S.-109) Als Sprachformen (und Signalwörter) für instrumentelle Hervorhebung nennt Schüler Intensitätspartikeln und andere Intensifikatoren (wie sehr und ein biss‐ chen), Gradpartikeln (wie nicht einmal und ausgerechnet), Interjektionen (z. B. Toll! ) und graphische Elemente (z. B. graphische Sinnbilder). Bei den Sprach‐ formen (und Signalwörtern) zur literarischen Hervorhebung unterscheidet Schüler zwischen phonologischen Figuren (wie Wiederholungen im Sinne von Alliteration, Assonanz, Konsonanz und Reim), morphologischen Figuren (bei‐ spielsweise Wiederholungen mit Wortspiel), syntaktischen Figuren (z. B. Wie‐ derholungen im Sinne von Parallelismus und Chiasmus), semantischen Figuren (wie Wiederholungen im Sinne von Synonymie, Zwillingsformel, Hendiadyoin und Tautologie), narrativen Strukturen (zur Erzeugung von Spannung, Neugier und Überraschung) und metanarrativen Elementen (wie die Leseransprache). (Vgl. ebd. S.-128ff.) Zweitens identifiziert sie Sprachformen für Ereignisfolgen, wobei sie zwischen Sprachformen (und Signalwörtern) zur zeitlichen Markierung (wie eines Tages und „am [Morgen]“ (ebd., S. 143)), zur räumlichen Markierung (z. B. deiktisch weit weg) und zur kausalen Markierung (in Bezug auf konditionale Relationen (z. B. wenn…dann), kausale Relationen (z. B. da), konsekutive Relationen (beispiels‐ weise so…dass), konzessive Relationen (wie auch wenn) und finale Relationen (beispielsweise um…zu) unterscheidet (vgl. ebd., S.-143f.). Bei der Betrachtung der von Schüler identifizierten Sprachformen ist auf‐ fällig, dass diese - in Anlehnung an Stein und Stumpfs (2019) Übersicht über sprachlich vorgeformte Phänomene (vgl. I.5.1.1) - im Abstraktionsgrad variieren. So handelt es sich zum einen um voll-lexikalisierte Ausdrücke, wozu sowohl einzelne Wörter (z. B. Gradpartikeln und Konjunktionen) als auch sprachliche Einheiten, die aus mehreren Wörtern bestehen (z. B. eines Tages), gezählt 148 5 Muster und Textproduktion <?page no="149"?> werden. Zum anderen werden beispielsweise rhetorische Mittel oder metanar‐ rative Elemente wie die Leseransprache, die einen höheren Abstraktionsgrad aufweisen, ebenfalls zu den Sprachformen gerechnet. Darin zeigt sich Schülers weiter Musterbegriff. Textprozeduren Zwischen Musterhaftigkeit und Feilkes Konzept der Textprozeduren ist ebenfalls ein starker Zusammenhang erkennbar. Diesem widmen sich die folgenden Ausführungen. Helmuth Feilke schlägt neben den beiden das Schreiben bestim‐ mende Größen Produkt und Prozess noch eine dritte Größe vor: das Konzept der Prozedur (vgl. Feilke 2012, S. 7). Prozeduren „stützen den schwierigen Weg zwischen den jedes Mal situativ anders bestimmten Prozessen des Prob‐ lemlösens einerseits und dem Produkt andererseits“ (Feilke 2017, S. 51). Es kann hier von einer prozeduralen Kompetenz gesprochen werden, da es sich um ein Können handelt. Feilke unterscheidet zwischen Schreibprozeduren und Textprozeduren. Während sich Schreibprozeduren auf die Prozessorganisation des Schreibens beziehen, betreffen Textprozeduren „die Organisation wichtiger sprachlicher Komponenten, die das Verstehen des Textes erleichtern“ (ebd., S. 52). Sie sind auf den „entstehenden Text und seinen Aufbau bezogen“ (ebd.). Zudem können Textprozeduren als sprachliche Verfahren der Textkomposition bezeichnet werden. (Vgl. ebd., S.-51f.) „[…] Prozeduren können lexikalische Inventarien und syntaktische Muster, also lexikogrammatische Routinisierungen zugeordnet werden“ (Feilke 2010, S. 14). Zu bestimmten Prozeduren gehören somit entsprechende Muster. Nach Feilke (2017) haben Textprozeduren stets „[…] zwei Seiten: Der typische Aus‐ druck verweist auf ein Handlungsschema“ (Feilke 2017, S. 53). Feilke (2012) setzt ein Handlungsschema mit einem Gebrauchsschema gleich (vgl. Feilke 2012, S. 11). Im Kontext des wissenschaftlichen Schreibens lässt sich dem Gebrauchsschema Bezüge herstellen beispielsweise der Routineausdruck Bezüge herstellen zuordnen (vgl. ebd., S. 13). Bei diesem zur Illustration aufgeführten Ausdruck handelt es sich um einen Phraseologismus im Sinne Burgers (2010). „‚Einen fiktionalen Erzählraum konstituieren‘, das ist eine durch sprachliche Mittel musterhaft bestimmte Prozedur“ (Feilke 2009, S. 6). Bei der Fiktionalisie‐ rungsprozedur werden beispielsweise Ausdrücke wie Es war einmal verwendet. (Vgl. ebd.) Somit können mit Hilfe einer literalen Prozedur Muster in die syn‐ taktische Struktur des Textes eingeordnet werden. Nach Kruse und Kruse (2007) besteht Textkompetenz darin, „[…] sprachliche Muster kohärent einbinden zu können in einen neuen textuellen Zusammenhang“ (Kruse/ Kruse 2007, S. 31). Hier leuchtet der Zusammenhang zwischen Mustern und der syntaktischen 5.2 Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive 149 <?page no="150"?> 75 Die Ausführungen zu Textprozeduren enthalten vereinzelt Überlegungen und Formu‐ lierungen aus Strozyk (2011). Organisation des Textes auf. Muster werden durch literale Prozeduren in die syntaktische Organisation des Textes eingebunden. 75 Exemplarisch werden schließlich Textprozeduren des Erzählens erläutert. Durch die bereits thematisierte Wendung Es war einmal, mit der viele Märchen der Gebrüder Grimm beginnen, werden Leser bzw. Zuhörer auf die Textsorte Märchen hingewiesen. Durch Textprozeduren werden Lesererwartungen or‐ ganisiert und Schreibende können das Verstehen der Leser mit Hilfe von Textprozeduren steuern. „Das funktioniert, weil der typische Ausdruck in der Kompetenz durch Spracherfahrung einem Handlungsschema (hier: Eröffnung eines Märchens) zugeordnet ist“ (Feilke 2017, S. 53). (Vgl. ebd.) Der typische Ausdruck lässt sich in diesem Beispiel mit einem sprachlichen Versatzstück gleichsetzen, da es sich dabei, wie durch das aufgeführte Beispiel deutlich wird, nicht unbedingt um einen Phraseologismus handeln muss. „Für viele narrative Textprozeduren gibt es […] bereits bekannte Bezeich‐ nungen“ (ebd.). Beispielhaft zählt Feilke das epische Präteritum, das szenische Präsens und epische Vorausdeutungen auf. Der Satz Morgen war Weihnachten bezieht sich nicht auf Zeitverhältnisse. „Vielmehr versetzt das Präteritum den Leser in eine Erzählwelt. Das ist das Handlungsschema“ (ebd.). Durch den Gebrauch des epischen Präteritums wird deutlich, dass erzählt wird. (Vgl. ebd.) Literale Prozeduren sind auf die jeweilige Textfunktion bezogen (vgl. Feilke 2010, S. 13). Zu den literalen Prozeduren gehören auch die Leserinvolvierung (vgl. ebd., S. 10) und der innere Monolog (Feilke 2009, S. 6). Gute Beispiele für literale Prozeduren sind nach Feike zudem Titel und Überschriften (ebd.). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das, was einem Handlungsschema zugeordnet werden kann, weit mehr umfassen kann als ein einzelner Phraseo‐ logismus oder sprachliches Versatzstück. Grundmuster von Erzählungen Der Musterbegriff, der Kristin Wardetzkys Untersuchung zu Märchentexten von Grundschulkindern (Wardetzky 2015) zugrunde liegt, bezieht sich auf struktu‐ relle Aspekte. Sie verwendet dabei die Begriffe Strukturmuster, Grundmuster, Grundschema und Muster synonym (vgl. dazu Wardetzky 2015). Wardetzky bezieht sich auf Kindertexte, die zu einer „Sammlung von Erzählungen“ (ebd., S. 36) stammen, die von ca. 2000 Grundschulkindern der Kassen 2 bis 4 „ohne Anleitung, Hilfe oder Korrektur der Lehrer(innen)“ (ebd.) im Unterricht angefertigt worden sind. (Vgl. ebd.) An drei solcher Kindertexte verdeutlicht 150 5 Muster und Textproduktion <?page no="151"?> sie die Muster „Wunscherfüllung“ (ebd.), „Not und Bewährung“ (ebd., S. 36f.) und „Kampf oder Entzauberung“ (ebd., S. 37-39). Diese drei Muster werden im Folgenden kurz in ihrer Besonderheit dargestellt, um zu verdeutlichen, was Wardetzky unter einem Grundmuster versteht. In Geschichten, die dem Muster 1 (Wunscherfüllung) folgen, werden „die Glücksansprüche der Held(inn)en ohne eigenes oder fremdes Zutun erfüllt“ (ebd., S. 36). Dieses von Wardetzky als archaisch bezeichnete Muster wird von den Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern „als eine Art ‚Handlungsfahrplan‘“ (ebd.) bevorzugt. (Vgl. ebd.) Von älteren Kindern wird dieses Grundschema entfaltet - und zwar zu einem komplexen Modell. Muster 2 (Not und Bewährung) kann wie folgt beschrieben werden: „Isolierung der Hauptfigur - Bedrohung durch einen Schädiger/ Gegenspieler oder durch Verlassenheit/ Deprivation - Bewährung (mit oder ohne Beistand eines Helfers) - Glückliches Ende“ (ebd., S. 36f.). (Vgl. ebd.) Muster 3 kann wie folgt beschrieben werden: Muster 2 wird schließlich im Zaubermärchen um weitere Motive erweitert. Diese können z. B. sein „Verbot - dessen Übertretung, Kampf - Sieg, schwere Aufgabe - Lösung, Verfolgung - Flucht“ (ebd., S. 37). (Vgl. ebd., S. 37f.) Ein Strukturmuster oder Grundmuster bezieht sich somit auf eine bestimmte Abfolge von inhaltlichen Elementen. 5.3 Muster und Intertextualität Die folgenden Ausführungen dienen dem Zweck, den Zusammenhang zwischen Mustern und Intertextualität unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Zunächst erfolgt die Darstellung von Intertextualität aus einer literaturwissen‐ schaftlichen Perspektive nach Kristeva (1976). Anschließend wird der Blick auf die Werbesprachenforschung gelegt, um anhand einer Klassifikation zur Beschreibung von Grundformen von Intertextualität ( Janich 2010) die Bedeu‐ tung von Mustergebrauch und Musterwissen aufzuzeigen. In einem dritten Schritt wird die Darstellung um die didaktische Perspektive erweitert, indem Intertextualität in Kindertexten und implizites Lernen thematisiert wird. Bei dem Begriff Intertextualität handelt es sich ursprünglich um einen literaturwissenschaftlichen Begriff. Dieser wurde von Julia Kristeva, einer Semiotikerin und Literaturwissenschaftlerin, in den 60er Jahren des 19. Jahr‐ hunderts eingeführt - und zwar „auf der Basis von Michail Bachtins Konzept der ‚Dialogizität‘“ ( Janich 2010, S. 232). Dies geschah, um zu einem neuen und ra‐ dikalen Literaturverständnis zu kommen. „Der Autor und der Einzeltext werden zugunsten eines Universums von Texten aufgegeben, die vielfältig miteinander 5.3 Muster und Intertextualität 151 <?page no="152"?> 76 Janichs Klassifikation basiert auf Überlegungen von Fix (1997), Holthuis (1993) und Karrer (1985) (vgl. Janich 2010, S.-232). 77 Die vierte Kategorie „bildliche Anspielungen über den visuellen Code“ (ebd., S. 234) und die achte Kategorie „Anspielungen über den visuellen Code“ (ebd., S. 235) sind für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie nicht relevant und werden daher nicht erläutert. verwoben sind“ (ebd.). Dann entwickelte sich in der Literaturwissenschaft ein moderates Modell. Intertextualität dient in diesem dazu, verschiedene Referenz‐ bezüge, die zwischen Texten bestehen, zu bezeichnen. (Vgl. ebd., S. 232) Kristeva schreibt Folgendes: „[…] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“ (Kristeva 1976, S.-348). Janich (2010) nutzt den Begriff der Intertextualität für die Werbesprachenfor‐ schung. Sie legt eine Begriffsdefinition von Intertextualität vor, die sie als „methodisch handhabbare Arbeitsdefinition“ (ebd., S. 232) bezeichnet: Intertextualität ist eine konkret belegbare Eigenschaft von einzelnen Texten und liegt dann vor, wenn vom Autor bewusst und mit einer bestimmten Absicht auf andere, vorliegende einzelne Texte oder ganze Textgattungen/ Textsorten durch Anspielung oder Zitat Bezug genommen wird, und zwar unabhängig davon, ob er diese Bezüge ausdrücklich markiert und kenntlich macht oder nicht. (Ebd.) Der Bezug nehmende Text wird dabei Phänotext genannt, während der Refe‐ renztext der Text ist, auf den Bezug genommen wird. Janich unterscheidet acht Grundformen 76 von Intertextualität. (Vgl. Janich 2010, S. 232ff.) Sechs dieser Formen werden im Folgenden dargestellt, da sie zum einen dazu dienen, konkrete Ausprägungen von Intertextualität zu veranschaulichen. Zum anderen sind Bezüge zum eigens entwickelten Raster zur Beschreibung von Musterhaf‐ tigkeit in Kindertexten mit Bezug auf den Vorlesetext (vgl. II.2.3.1) erkennbar. 77 Die erste Form meint vollständige und unvollständige Zitate, die markiert oder unmarkiert sind. Die zweite Form nennt Janich „Anspielung durch Über‐ nahme von (meist syntaktischen) Strukturen bei lexikalischer Substitution“ (ebd., S.-233). Das bedeutet, dass eine Anspielung aufgrund des ähnlichen Satzbaus, einer übernommenen syntag‐ matischen Struktur oder der gleichen Anordnung von Teiltexten vorliegt, die aber durch lexikalische Substitution unterschiedlich stark verfremdet ist, also durch die Ersetzung einzelner Wörter durch andere. (Ebd.) Hier verweist Janich auf den Slogan Manche mögen’s easy (Markt & Technik), der auf den deutschen Titel Manche mögen’s heiß des US-amerikanischen 152 5 Muster und Textproduktion <?page no="153"?> 78 Zur Darstellung des Konzepts Texte und Kontexte von Dehn et al. (2011) vgl. Kapitel I.7. Filmes Some like it hot anspielt. Bei der dritten Form („Anspielung durch Übernahme zentraler lexikalischer Elemente bei struktureller Modifikation“ (ebd., S. 234)) kommt es hingegen zu einer Übernahme markanter Wörter oder kleiner Wortgruppen. Die fünfte Form bilden „Mustermetamorphosen“. Es findet eine Nachahmung eines fremden Textmusters statt. Diese Grundform von Intertextualität liegt zum Beispiel vor, wenn eine Werbeanzeige einen Textaufbau und ein Layout wie ein Brief hat. Bei „Mustermontagen/ Muster‐ mischungen“, die die sechste Kategorie bilden, werden verschiedene Muster kombiniert. „Musterbrechungen“ bezeichnen die Grundformen von Intertextu‐ alität der siebten Kategorie. Hier findet ein „punktueller Verstoß gegen einzelne Struktur- oder Formulierungsmerkmale eines Textmusters“ (ebd., S. 235) statt. (Vgl. ebd., S.-233ff.) Janichs Kategoriensystem verdeutlicht anschaulich den Zusammenhang zwi‐ schen dem Gebrauch von Mustern (auf verschiedenen Ebenen) und Intertextu‐ alität. So lassen sich folgende Bezüge zwischen Janichs Kategoriensystem und den in der vorliegenden Studie thematisierten Vorstellungen von Musterhaftig‐ keit herausarbeiten: Janichs erste zwei Formen von Intertextualität beziehen sich auf Übernahmen sprachlicher Muster aus einem anderen Text (wenn auch das Einwortmuster (Bubenhofer 2009) zu den sprachlichen Mustern gerechnet wird). Sprachliche Muster schließen dabei Phraseologismen ein. Die dritte Form beschreibt sehr treffend strukturelle Muster, zu denen auch Phraseoschablonen gezählt werden können. Die Formen 5, 6 und 7 beziehen sich auf Textmuster nach Fix (2008). Timm Christensen zeigt anhand von Kindertexten, die zu einer Aufgabenstel‐ lung aus dem Konzept von Dehn (1999) 78 verfasst worden sind, Intertextualität in Kindertexten auf (vgl. Christensen 2011). An von ihm gewählten Beispielen wird die Bedeutung von Mustergebrauch und Intertextualität sehr deutlich. Ein Schüler aus einer zweiten Klasse einer Sprachheilklasse verfasst den Text „Sven und Eleonora tanzen. Eine Palme ist eine Palme.“ (Christensen 2011, S. 53) Die sprachliche Qualität dieses Textes zeigt sich nach Christensen im zweiten Satz. Christensen weist an dieser Stelle auf die Formulierung „Rose is a rose is a rose is a rose“ (ebd.) hin, die aus dem Gedicht „‚Sacred Emily‘ (vgl. Rinser 1986, S. 7)“ (Christensen 2011, S. 53) stammt. Hier benennt Stein „das Offensichtliche und bekräftigt durch einfache Wiederholung ein Sein“ (ebd.). Zudem erwähnt Christensen in diesem Zusammenhang den Bibelsatz „‚Ich bin, der ich bin‘ (Mose 2, 3)“ (ebd., S. 53). Es lassen sich nach Christensen Grundzüge konzeptioneller 5.3 Muster und Intertextualität 153 <?page no="154"?> 79 Wiklón, Pitor/ Wilkón, Józef (1990): Rosalind das Katzenkind. Zürich: Bohem Press. Schriftlichkeit an der Formulierung, die Hassan wählt, erkennen. (Vgl. ebd.) Der Text, den Hassan verfasst hat, „steht in enger Beziehung zu einem Bilderbuch, das er vor dem Schreiben vorgelesen bekommen hatte“ (ebd., S.-55). (Vgl. ebd.). Es handelt sich dabei um das Bilderbuch Leuchte, Turm leuchte (vgl. ebd.) von Martin Baltscheit (vgl. ebd., S. 60). Zu diesem Buch durfte Hassan schreiben, was ihm wichtig war. Bei dieser Aufgabestellung handelt es sich um eine Aufgabe aus dem Konzept von Dehn (1999). (Vgl. dazu Christensen 2011, S. 55) In Hassans Text „steht weniger die narrative Struktur des Textes im Vordergrund als vielmehr das Formulieren einzelner Sätze“ (ebd.). In seiner sprachlichen Struktur ist Hassans Satz Eine Palme ist eine Palme analog zu folgendem Satz des Bilderbuches: „Ein Freund ist ein Freund“ (ebd.). Diese Formulierung wird im Bilderbuch vom Leuchtturm Jan geäußert. Zudem meint Jan an einer anderen Stelle in der Geschichte: „Ein Leuchtturm ist ein Leuchtturm“ (ebd.). (Vgl. ebd.) „Hassan hat die Schreibaufgabe genutzt, um in Resonanz mit der in dem Buch sehr auffälligen Syntax und ihrem Sprachrhythmus zu treten. Dieser Sprachrhythmus wird durch die Wortwahl des Satzes erzeugt.“ (Ebd.) In seinem Text variiert Hassan Syntax und Sprach‐ rhythmus (vgl. ebd., S. 56). Nach Christensen wird am Beispieltext von Hassan deutlich, dass Schreiblernerinnen und Schreiblerner „von sich aus, d. h. implizit, sprachliche Strukturen imitieren und variieren“ (ebd.). Implizites Lernen wird den Kindern dabei durch den Verzicht auf Festlegung und den Verzicht auf direkte Unterweisung durch die Lehrperson ermöglicht. (Vgl. ebd.) Ein weiterer Kindertext, den Christensen näher betrachtet, ist ein Text vom Erstklässler Jonte, der eine Grundschule besucht und zum Bilderbuch Rosalind, das Katzenkind 79 aufschrieb, was ihm wichtig war. Jonte fertigte dabei die folgende Beschreibung an, mit der die Figur Rosalind charakterisiert wird: „Rosalind hat keinen Verstand. Und macht nicht mit. Macht nur Quatsch. Rosalind hat die falsche Farbe. Mag keine Milch, sondern Tee.“ (ebd.) (Vgl. ebd.) „Die Formulierung ‚mag nicht Milch, sondern Tee‘ ist fast wortwörtlich im Bilderbuch nachzulesen: ‚Sie wollte keine Milch trinken, sondern Tee‘, heißt es dort.“ (Ebd., S. 57) Zur Illustration von Intertextualität zitiert Christensen unter anderem die Dichterin Ingeborg Bachmann: Also die Dichter der Vergangenheit - versuchen wir es mit denen: […] hier und da erinnere ich mich an eine früh gehörte Zeile, an einen Ausdruck, und wenn mir etwas sehr gefällt, wenn ich meine, es müsse gerettet werden, dann verwende oder variiere ich einen Ausdruck, gebe ihm einen neuen Stellenwert. Das ist also, wenn sie 154 5 Muster und Textproduktion <?page no="155"?> so wollen, ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein Arbeitsverhältnis. (Bachmann 1983, S.-60, zit. n. Christensen 2011, S.-54) Diese Aussage von Ingeborg Bachmann nutzt Christensen, um Jontes Vorgehen beim Verfassen seines Textes zu beschreiben: Genau wie Ingeborg Bachmann ihr Arbeitsverfahren beschreibt, erinnert Jonte eine ‚früh gehörte Zeile‘ und gibt ihr einen neuen Stellenwert, indem er sie variiert und nutzt, um seine Intention - Rosalind zu beschreiben - sprachlich auszudrücken. (Christensen 2011, S.-57) Hier wird somit eine Formulierung aus einem anderen Text variiert und verwendet, um sie für den eigenen Text intentionell zu nutzen. (Vgl. ebd.) Beim Verfassen von Texten zu solchen Schreibaufgaben konnten sich die Kinder als Schreibende erleben, „die vorhandene Texte und Formulierungen verwendet und ihrer Intention entsprechend gestaltet haben“ (ebd., S. 58). Im Gegensatz zu professionellen Schreibern ist den Kindern dieses Verfahren jedoch nicht bewusst, so Christensen. Dennoch wenden sie dieses Verfahren an, „um ihre ersten Schritte auf dem Weg zur ‚konzeptionellen Schriftlichkeit‘ (Günther 1993, S.-87) zu gehen“ (Christensen 2011, S.-58). (Vgl. ebd.) 5.4 Musterhaftigkeit und Spracherwerb „Gegenwärtig existiert keine einheitliche Theorie, die Spracherwerbsprozesse in ihrer Ganzheit und Komplexität ausschöpfend beschreiben würde“ (Stein/ Stumpf 2019, S. 216). Seit den 1970er Jahren gewinnt der konstruktivistische An‐ satz in der Spracherwerbsforschung an Bedeutung. Dieser Ansatz unterscheidet sich von anderen Ansätzen durch seinen integrativen Charakter und zeichnet sich durch eine „Durchbrechung der systemlinguistischen Einteilung von Spra‐ chen in Lexikon und Grammatik” (ebd., S. 220). „Unter anderem dadurch kommt der Musterhaftigkeit bei diesem Ansatz eine herausragende Bedeutung zu” (ebd.). (Vgl. ebd.) Der Konstruktivismus zeigt, wie Kinder grammatische Strukturen „durch Imitation, Kategorisierung und Generalisierung aus der Sprache der Umwelt, d. h. aus dem sie umgebenen Sprachgebrauch, entfalten” (ebd., S.-223). (Vgl. ebd.) Ein Überblick zur Musterhaftigkeit im ungesteuerten Spracherwerb ist dem be‐ reits zitierten Werk Muster in Sprache und Kommunikation (2019) von Stein und Stumpf zu entnehmen. Dabei werden die Ansätze Nativismus, Kognitivismus, Interaktionismus und Konstruktivismus im Hinblick auf die Rolle sprachlicher Muster beim Spracherwerb beleuchtet. (Vgl. Stein/ Stumpf 2019, S.-211-223) 5.4 Musterhaftigkeit und Spracherwerb 155 <?page no="156"?> Exemplarisch wird im Folgenden der Blick auf eine Studie gerichtet, die die Rolle und Funktion von Musterhaftigkeit im ungesteuerten Spracherwerb ansatzweise beleuchtet. Colin Bannard und Elena Lieven nehmen eine gebrauchsbasierte Perspek‐ tive („usage-based perspective“ (ebd., S. 302)) auf Sprache ein. Dabei stellen Wiederverwendung und Wiederholung zentrale Elemente dar. „According to a usage-based perspective the task of language learning can be thought as learning to appropriately reuse the language that one hears“ (ebd.). Beim Spracherwerb gilt es demnach, die gehörte Sprache angemessen wiederzuverwenden. (Vgl. ebd.) Nach Bannard und Lieven kann Formelhaftigkeit als Wiederverwendung von Sprache gesehen werden, die etwas sehr Grundlegendes für Kommunikation ist (vgl. Bannard/ Lieven 2009, S. 299): „Formulaicity can be thought of as language reuse. We will make the case that language reuse is not simply one aspect of linguistic communication but rather its very basis.“ (Ebd.) Diese Aussage ent‐ spricht Überlegungen von Stein und Stumpf, die sprachliche Musterhaftigkeit erstens als grundlegendes Wesenselement natürlicher Sprachen ansehen (vgl. Stein/ Stumpf 2019, S. 11) und zweitens als grundlegendes Bestimmungsmerkmal von Musterhaftigkeit die Wiederverwendung von „etwas“ nennen (vgl. ebd., S.-19). Bannard und Lieven (2009) stellen eine Studie mit zweijährigen Kindern vor (vgl. ebd., S. 299). Mit Hilfe einer Methode, die sie Traceback nennen, versuchten die Forschenden neue Äußerungen von Kindern zu identifizieren und deren mögliche Grundlage darin zu finden, was das jeweilige Kind zuvor gehört oder gesagt hatte. (Vgl. ebd., S.-309) Dazu wurde der Korpus für jedes Kindes in einen Hauptkorpus und einen Testkorpus unterteilt. Sechs Wochen lang wurde an fünf Tagen der Woche jeweils eine Stunde lang eine Aufnahme von einem zweijährigen Kind gemacht. Meist handelte es sich dabei um Situationen beim Spielen oder beim Essen. Im Testkorpus, der aus den sprachlichen Äußerungen der letzten zwei aufge‐ nommenen Stunden bestand, wurden alle neuen Äußerungen des Kindes iden‐ tifiziert, um sie anschließend mit Äußerungen (des Kindes oder einer anderen Person) im Hauptkorpus zu vergleichen, um herauszufinden, ob gemeinsames lexikalisches Material zu finden ist. „The idea is to trace novel utterances in the test corpus back to strings in the main corpus from which they could have been constructed“ (ebd.). Um als Komponenteneinheit (component unit) identifiziert zu werden, musste die Formulierung mindestens zweimal im Hauptkorpus vorkommen. Zudem wurde zwischen zwei Typen unterschieden: „fixed phrases and schemas with slots“ (ebd., S. 310). Als Beispiel für eine feste Phrase (fixed phrase) kann die Formulierung make a cake genannt werden. „A fixed phrase is 156 5 Muster und Textproduktion <?page no="157"?> any continuous string of words“ (ebd.). Diese aus mehreren Wörtern bestehende Einheit musste im Hauptkorpus mindestens zweimal enthalten sein, um als fixed phrase identifiziert zu werden. (Vgl. ebd., S. 309-312) Die fixed phrase könnte als sprachliches Muster im Sinne der Definition der vorliegenden Arbeit bezeichnet werden (vgl. I.5.7), da es sich bei dieser aus mehreren Wörtern bestehenden Einheit nicht um einen Phraseologismus handeln muss. Es handelt sich vielmehr um eine individuelle Wortkombination, die mehrfach geäußert wird und dadurch als musterhaft zu bezeichnen ist. Ein Schema mit Slots wurde folgendermaßen identifiziert: If a string occurred that matched the novel utterance in the same way, with variation in the same position, this was identified as a schema with a slot. A slot was established if at least two different expressions belonging to the same broad semantic category occurred in the same position in the schema. (Ebd., S.-310) Ein Schema mit Slot des Typs Utterance war in der referierten Studie beispiels‐ weise „UTTERANCE on it“ (ebd.). Die entsprechenden Äußerungen, die diesem Schema zugeordnet werden können, lauten „there’s sand on it“ (ebd.) und „a big flower on it“ (ebd.). Als Schema mit Slot des Typs Referent wird „REFERENT on there“ (ebd.) genannt. Beispiele dafür sind die Äußerungen „more choc + choc on there“ und „Bow-’s food on there“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Im Sinne des Musterverständnisses der vorliegenden Studie (vgl. I.5.7) handelt es sich beim Schema mit Slot um ein strukturelles Muster. Zu jeder neuen Äußerung aus dem Testkorpus (target utterance) wurden alle potentiellen Komponenteneinheiten im Hauptkorpus identifiziert. Mit Hilfe der zwei Handlungen Ersetzen (substitute) und Ergänzen (add) wurde versucht, die Zieläußerung (target utterance) herzuleiten. (Vgl. ebd., S.-311) Die Auswertung der Daten zeigte u. a., dass es sich bei 25 bis 40 Prozent der target utterances um exakte Wiederholungen von Worteinheiten handelte, die im Hauptkorpus produziert worden waren. Bei 36 bis 48 Prozent der target utterances konnten diese aus einer Formulierung aus dem Hauptkorpus mit Hilfe einer einzigen Handlung (operation) hergeleitet werden. Mit einer Zunahme der Länge der Äußerungen ging einher, dass die Anzahl an exakten Wiederholungen abnahm. „This makes sense if, as children develop their language, they depend less on simply repeating rote-learned strings and are able to command more sophisticated ‚assembly operations‘“ (ebd., S. 313). (Vgl. ebd.) Zudem konnte hinsichtlich der Schemata mit Slots beobachtet werden, dass mit einem Anstieg der Länge der Äußerung die Kinder die Referent-Slots mit komplexerem Wort‐ material füllten. (Vgl. ebd. S.-314) 5.4 Musterhaftigkeit und Spracherwerb 157 <?page no="158"?> Bannard und Lieven (2009) schlussfolgern u. a.: „We provided a rational argu‐ ment that the reuse by children of whole multiword sequences taken directly from the input represents a very efficient learning strategy“ (ebd., S. 318). Die vorgestellte Studie gibt Hinweise darauf, dass es sich beim Rückgriff auf Mehrworteinheiten aus dem Input beim Spracherwerb um eine sehr effektive Lernstrategie zu handeln scheint. 5.5 Spracherwerb und Kinderliteratur Im Folgenden wird zunächst auf den Zusammenhang von Spracherwerb und Kinderliteratur im Allgemeinen (Meibauer 2011) eingegangen. Anschließend werden Überlegungen zum Zusammenhang von Spracherwerb und seriellen Narrationen nach Finkbeiner (2019) thematisiert. Nach Jörg Meibauer existiert eine systematische Beziehung zwischen Sprach- und Literaturerwerb. Diese wird als Fähigkeit verstanden, „Literatur zu verstehen und zu produzieren“ (Meibauer 2011, S. 9). Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, ist nach Meibauer mit dem Verstehen von komplexen Strukturen in literarischen Texten verbunden. (Vgl. ebd.) In seinem Artikel Spracherwerb und Kinderliteratur (2011) stellt Meibauer in diesem Zusammenhang zwei Thesen auf. „Kinderliteratur ist ein spezifischer Input im Spracherwerb. Eine Theorie des Spracherwerbs muss berücksichtigen, wie dieser Input den Erwerbsprozess beeinflusst.“ (Ebd., S. 9) So lautetet seine erste These, die in einem starken Zu‐ sammenhang mit der vorliegenden Studie steht. Seine zweite These lautet: „Eine wesentliche Eigenschaft von Kinderliteratur ist, dass sie auf den kognitiven und sprachlichen Entwicklungsstand von Kindern Rücksicht nimmt. Eine Theorie der Kinderliteratur muss diese Eigenschaft erklären können.“ (Ebd.) Unter Spracherwerb versteht Meibauer dabei den natürlichen Erstspracher‐ werb. Dieser ist nicht auf die Vorschulzeit begrenzt, sondert dauert lebenslang an. (Vgl. ebd., S. 10) Meibauers erste These „läuft eher gegen Spracherwerbstheo‐ rien strikt nativistischer Ansätze“ (ebd.) und lässt sich als „eher kompatibel mit kognitivistischen und interaktionistischen Ansätzen“ (ebd., S. 10) bezeichnen. (Vgl. ebd.) Nach Meibauer gibt es dafür Evidenz, dass die gemeinsame Bilderbuchbe‐ trachtung der Funktion dient, „das Kind in seinem lexikalischen Erwerb zu unterstützen“ (ebd., S. 11). Auch bekommt das Kind durch das gemeinsame Bil‐ derbuchbetrachten Einsichten in grammatische Sachverhalte wie die Struktur einer Ergänzungsfrage und übt den Sprecherwechsel im Frage-Antwort-Format. (Vgl. ebd.) Kümmerling-Meibauer und Meibauer gehen davon aus, „dass ein Kind 158 5 Muster und Textproduktion <?page no="159"?> 80 Hier nimmt Finkbeiner Bezug auf Meibauer (2011), Kümmerling-Meibauer/ Meibauer (2013) und Gressnich (2014). 81 Finkbeiner verweist in diesem Zusammenhang für einen Überblick über neuere For‐ schungsarbeiten auf Meibauer (2011). ein Wort kennt, wenn es eine konsistente Zuordnung von lautlicher Form und konzeptueller Bedeutung vornimmt“ (ebd., S. 12). Diese Form-Konzept-Paare (Lexeme) werden im mentalen Lexikon gespeichert. (Vgl. ebd.) Für Meibauer ist es naheliegend, Entwicklungsstufen, wie Boueke et al. (1995) sie identifizierten, „mit dem Input der Kinder in dem entsprechenden Entwicklungsverlauf in Verbindung zu bringen“ (Meibauer 2011, S. 15) und schließt daraus Folgendes: „Das sprachliche Angebot in Bilderbüchern dürfte zum Teil weit über das hin‐ ausgehen, was Kinder selbst beherrschen, so dass man hier wieder Bestätigung der These 1 findet“ (ebd.). Um die von ihm genannten Thesen zu erhärten oder zu widerlegen, fordert Meibauer die empirische Erforschung des Zusammenhangs „zwischen Spracherwerb und dem Erwerb von Kinderliteratur“ (ebd., S.-19). Finkbeiner (2019) zeigt, dass es sich beim Prinzip der Serialisierung (vgl. I.5.2) um ein „ganz grundlegendes Prinzip der Erstliteratur für Kinder“ (Finkbeiner 2019, S. 56) handelt. Die Frage, warum auf dieses Prinzip bei der Gestaltung von Bil‐ derbüchern so durchgängig zurückgegriffen wird, müsse im erwerbsfördernden Potential des Bilderbuches liegen, wenn von der Hypothese 80 ausgegangen werden kann, „dass Kinderliteratur an den sprachlichen Erwerbsstand von Kin‐ dern angepasst ist“ (ebd.). Finkbeiner zeigt, dass die Bereiche Narrationserwerb, Wortschatzerwerb und Dialogerwerb von einer sprachlichen Gestaltung von Bilderbüchern, die sich durch Serialisierung bzw. den „Einsatz von Repetition und Variation“ (ebd.) auszeichnen, profitieren. (Vgl. ebd.) Ihre Überlegungen hinsichtlich des Wortschatz- und des Narrationserwerbs werden aufgrund ihrer Bedeutsamkeit für die vorliegende Studie skizziert. Hinsichtlich des lexikalischen Erwerbs weist Finkbeiner auf das Ergebnis neuerer Forschungsarbeiten 81 hin, die die positiv unterstützenden Auswir‐ kungen der Rezeption von Bilderbüchern auf eine zügige Wortschatzentwick‐ lung zeigen konnten. Mit Bezug auf Horst (2015) und Reese (2015) geht Finkbeiner auf das Prinzip des konstanten Kontextes ein, das sich bei der positionsgebundenen Einführung neuer Wörter als sehr förderlich erwiesen hat. Von diesem Prinzip wird in den von Finkbeiner untersuchten für Kleinkinder entwickelten Bilderbüchern, die Formen textinterner Musterbildung aufweisen, in starkem Maße Gebrauch gemacht. Dieses Prinzip reduziert die Anzahl der Fälle, in denen die Kinder mit ihnen unbekannten Wörtern in Berührung kommen, und erleichtert auf diese Weise die Konzentration auf neue Wörter, 5.5 Spracherwerb und Kinderliteratur 159 <?page no="160"?> so Finkbeiner. Durch den gleichbleibenden Kontext wird „die Generierung einer gezielten Erwartung bezüglich dessen, was kommt, und ein[] leichte[r] Abgleich mit dem jeweiligen Resultat“ (ebd., S. 57) ermöglicht. Zudem sind die Variationen innerhalb des Textes nicht willkürlich, sondern stets in einer bestimmten Weise organisiert. Nach Finkbeiner ist die Annahme naheliegend, dass das Wortlernen durch diese gezielten Beschränkungen erheblich erleichtert wird. (Vgl. Finkbeiner 2018, S.-57) Die Fähigkeit, Narrationen zu verstehen und zu produzieren, setzt eine Reihe weiterer Fähigkeiten voraus. Mit Bezug auf Forschungsarbeiten von Becker (2001), Klann-Delius (2005) und Kauschke (2012) nennt Finkbeiner beispiels‐ weise das Verstehen temporaler Relationen und die Fähigkeit, Strukturprinzi‐ pien (Anfang und Ende) zu erkennen. Diese Entwicklung kann durch Erstlite‐ ratur unterstützt werden, „wobei die Serialisierung des erzählten Inhalts ein einfaches, aber sehr wirkungsvolles Strukturierungsmittel ist“ (Finkbeiner 2019, S. 57). Die konstante Episodenstruktur in den von Finkbeiner analysierten Büchern Ab heute sind wir cool und Zum Elefanten immer geradeaus trägt zur Kohärenz der Episoden bei und dient der Unterstützung des inhaltlichen Verstehens der jeweiligen Geschichte. (Vgl. ebd.) Die Linearität der Serie lässt sich sehr einfach in die Dimension der Zeit abbilden, so dass eine einfache Temporalität, ein zeitliches Nebeneinander der Episoden entsteht. Das Kind erwirbt zugleich ein einfaches Modell für den Aufbau und die Handlungs‐ struktur von Geschichten - z. B. in Bezug auf die Unterscheidung zwischen konstanter Episode und Komplikation -, das es auch in der eigenen Textproduktion nutzen kann. (Ebd., S.-57f.) Durch den Umgang mit Bilderbüchern, die eine textinterne Musterbildung aufweisen, können Kinder somit ein Modell für die Handlungsstruktur von Narrationen kennenlernen, auf das sie selbst in ihren Textproduktionen zurück‐ greifen können. Dieses erfüllt dabei die Funktion, ein zeitliches Nacheinander von Ereignissen darzustellen. 5.6 Muster - eine vergleichende Gegenüberstellung Es folgt ein überblicksartiger Vergleich der Vorstellungen zum Begriff Muster sowie äquivalenter Begriffe, die im Hinblick auf ihre Konzeption mit dem Begriff Muster gleichsetzbar sind. Dabei soll der schrittweise Aufbau einer schematischen Darstellung der Illustration dienen. Es lassen sich fünf Gruppen von Mustern unterscheiden, bei denen es teilweise Überlappungen gibt. 160 5 Muster und Textproduktion <?page no="161"?> Literarische Muster nach Dehn (1999, 2005) bzw. Dehn et al. (2011) bilden die erste Gruppe (vgl. Abb. 1). Dehns sehr weit gefasster Musterbegriff umfasst sowohl Geschichtenmuster, Textstrukturen als auch den Gebrauch rhetorischer Figuren. Ein Geschichtenmuster erläutern Dehn et al. (2011) an folgendem Kindertext: „Es war einmal ein kleiner Wurm. Er war zu gern in einem Apfel. Er fraß sich kreuz und quer, bis er schließlich mit einem anderen Wurm zusammenstieß.“ (Dehn et al. 2011, S. 56) Dieser Text enthält eine Einleitungsformel eines Märchens, ein handlungstreibendes Moment und einen offenen Schluss (vgl. ebd.). Hier fällt die Nähe zu Ulla Fixens Überlegungen zum Textmuster (zweite Gruppe) auf: Muster werden durch hochtypische Elemente mit Signalfunktion markiert, z. B. die in Märchen verwendete Formulierung Es war einmal (vgl. Fix 2005, S. 16). Zudem werden Textsorten als Muster gespeichert (vgl. Fix 2003). Das Baumuster lässt sich, folgt man den Überlegungen von Finkbeiner (2018), ebenfalls den Textmustern zuordnen. Dabei kann es wiederum u. a. aus wiederkehrenden sprachlichen Mustern und Textstrukturen bestehen. LITERARISCHE MUSTER (Dehn) Metaphernbildung Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke Textstrukturen → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke Textstrukturen Geschichtenmuster TEXTMUSTER (sprachw.) → Textsorte Abbildung 1: Muster I 5.6 Muster - eine vergleichende Gegenüberstellung 161 <?page no="162"?> Eine dritte Gruppe bilden die sprachlichen Muster, Sprachmuster oder sprach‐ lichen Versatzstücke (vgl. Abb. 1). Nach Kruse und Kruse (2007) gehören zu den sprachlichen Mustern sprachliche Formeln, Idiome und ungewöhnliche Ausdrücke. Bei dieser Vorstellung ist eine Nähe zu Phraseologismen bzw. festen Wendungen (vierte Gruppe) erkennbar (vgl. Abb. 2). Synonyme für Phraseolo‐ gismen sind feste Wortverbindung, Phrasem und Idiom (Burger 2010, Donalies 2009). Es gibt nach Burger auch satzwertige Phraseologismen. Dazu gehören feste Phrasen und topische Formeln. LITERARISCHE MUSTER (Dehn) Metaphernbildung Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO- GISMEN (feste Wortverbindungen) „sich die Zähne putzen“ „den Nagel auf den Kopf treffen“ „fix und fertig“ Textstrukturen Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO-- GISMEN (feste GISMEN (feste GISMEN (feste 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Kombinationen von Wörtern aus der Literatur handeln kann, die in einem weiteren Text erneut gebraucht werden. Erinnert sei an dieser Stelle an das sprachliche Muster Ich fühlte mich luftig und leicht wie ein Streiflein Nebel aus dem Kinderbuch Das kleine Gespenst (vgl. dazu Kruse/ Kruse 2007). Der Gruppe der sprachlichen Muster lässt sich auch die von 162 5 Muster und Textproduktion <?page no="163"?> Dehn erwähnte Einleitungsformel eines Märchens Es war zuordnen sowie die Formulierung Es war einmal, die Fix als hochtypisches Element mit Signalfunktion bezeichnet. „Die poetische Funktion der Sprache“ ( Jakobson 1972), die sowohl in literari‐ scher Sprache als auch in alltäglichen Sprachäußerungen beobachtbar ist, lässt sich auch in der schematischen Darstellung von Musterhaftigkeit positionieren (vgl. Abb. 3). So gibt es zum einen Phraseologismen, die nicht als rhetorisches Mittel bezeichnet werden können (z. B. die Kollokation sich die Zähne putzen) und zum anderen Phraseologismen, die als Idiome bzw. Metaphern (den Nagel auf den Kopf treffen) und Alliterationen (fix und fertig) bezeichnet werden können. Da zu den literarischen Mustern (erste Gruppe) der Gebrauch rhetorischer Mittel gerechnet wird und es sich bei einem Teil der Phraseologismen (dritte Gruppe) zusätzlich um rhetorische Mittel handelt, liegt auch hier eine Überlap‐ pung der beiden Gruppen vor. LITERARISCHE MUSTER (Dehn) Metaphernbildung Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO- GISMEN (feste Wortverbindungen) „sich die Zähne putzen“ „den Nagel auf den Kopf treffen“ „fix und fertig“ Textstrukturen Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO-- GISMEN (feste GISMEN (feste GISMEN (feste 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der Sprache“ (Jakobson) (literarische Sprache & alltägliche Sprachäußerungen) Abbildung 3: Muster III Als weiterer bedeutsamer Aspekt sei die Modifikation von Phraseologismen ( Janich 2010) erwähnt. Stein (1995) spricht von „Kreativität […] und Formelhaf‐ 5.6 Muster - eine vergleichende Gegenüberstellung 163 <?page no="164"?> tigkeit“ (Stein 1995, S. 18) (vgl. Abb. 4). Analog dazu spricht Dehn mit Blick auf den Gebrauch von Mustern in Kindertexten von „Adaption und Variation“ (Dehn 1999) (vgl. Abb. 5). LITERARISCHE MUSTER (Dehn) Metaphernbildung Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO- GISMEN (feste Wortverbindungen) → „formelhafte sprachliche Einheiten“ (Stein) Textstrukturen → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO-- GISMEN (feste GISMEN (feste GISMEN (feste GISMEN (feste GISMEN (feste GISMEN 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GISMEN (feste GISMEN (feste GISMEN (feste Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) Wortverbindungen) 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„formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte „formelhafte sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) Textstrukturen Geschichtenmuster TEXTMUSTER (Fix) Modifikationen von Phraseologismen Formelhaftigkeit und Kreativität (Stein) Abbildung 4: Muster IV 164 5 Muster und Textproduktion <?page no="165"?> LITERARISCHE MUSTER (Dehn) Metaphernbildung Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO- GISMEN (feste Wortverbindungen) → „formelhafte sprachliche Einheiten“ (Stein) Textstrukturen → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER/ SPRACH- MUSTER - sprachliche Versatzstücke PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO 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sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche sprachliche Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ Einheiten“ (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) (Stein) Textstrukturen Geschichtenmuster Modifikationen von Phraseologismen Formelhaftigkeit & Kreativität „Adaption und Variation“ (Dehn) TEXTMUSTER (Fix) Abbildung 5: Muster V Die fünfte Gruppe von Mustern bilden die Phraseoschablonen (vgl. Abb. 6), die im Grenzbereich von Phraseologie zur Syntax liegen (vgl. dazu Fleischer 1997, zit. n. Donalies 2009). 5.6 Muster - eine vergleichende Gegenüberstellung 165 <?page no="166"?> LITERARISCHE MUSTER (Dehn) Metaphernbildung Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER PHRASEOLO- GISMEN Textstrukturen Chiasmus → Gebrauch rhetorischer Figuren SPRACHLICHE MUSTER PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO PHRASEOLO- GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN GISMEN Textstrukturen Geschichtenmuster Modifikationen von Phraseologismen Formelhaftigkeit & Kreativität „Adaption und Variation“ (Dehn) Routineausdruck „in Anlehnung an“ TEXTPROZEDUREN ( TEXTPROZEDUREN (Feilke Feilke) TEXTPROZEDUREN ( = sprachliche Werkzeuge der Textproduktion Sprachliches Handlungsschema (Gebrauchsschema) „Bezüge herstellen“ + Phraseoschablonen TEXTMUSTER (Fix) Abbildung 6: Muster VI Letztendlich können auch die Textprozeduren (Feilke 2017), die sprachliche Werkzeuge der Textproduktion sind, in die vergleichende Darstellung integriert werden. An den Routineausdruck in Anlehnung an ist beispielsweise das Ge‐ brauchsschema Bezüge herstellen gekoppelt (vgl. Feilke 2012, S. 13). Routine‐ ausdrücke wie in Anlehnung an lassen sich der Gruppe der Phraseologismen zuordnen, wobei die Phraseologismen nur einen Teil der sprachlichen Muster ausmachen. Damit handelt es sich beim Routineausdruck gleichzeitig auch um ein sprachliches Muster. An anderer Stelle gebraucht Feilke anstatt des Ausdrucks Routineausdruck den Begriff typischer Ausdruck als Bestandteil einer Textprozedur und nennt als Beispiel die Wendung Es war einmal (vgl. Feilke 2017, S.-53), bei der es sich nicht um einen Phraseologismus handelt. Nachfolgend wird das Verständnis von Musterhaftigkeit bzw. des Musterbe‐ griffes der vorliegenden Studie dargestellt. 166 5 Muster und Textproduktion <?page no="167"?> 82 Die Unterscheidung dieser drei Arten entstand mit Hilfe eines induktiv-deduktiven Vorgehens mit Blick auf erhobene Daten aus Pretend-Reading-Situationen und der Beschäftigung mit theoretischen Grundlagen zum Musterbegriff. 5.7 Das Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit Ähnlich wie bei den Ausführungen von Stein und Stumpf (2019) und Kruse und Kruse (2007) wird in der vorliegenden Studie der Begriff Muster als Oberkategorie genutzt, dem wiederum verschiedene Arten von Mustern unter‐ geordnet werden können. In Anlehnung an Mechthild Dehns Ausführungen wird Schreiben als Transformationsprozess betrachtet (vgl. dazu Kapitel I.5.2). Das Material des Transformationsprozesses sind dabei Muster (Dehn 2005, S. 13). Wie bereits erläutert besteht nach Stein und Stumpf (2019) das Grundmerkmal von Phänomenen, die als musterhaft bezeichnet werden können, darin, dass in der Kommunikationspraxis etwas - sprachliche Strukturen und Aus‐ drücke, Abläufe und Abfolgen, Entstehungsprozesse, Verwendungsanlässe und -mo‐ tive - wiederholt auftritt, sodass im Ergebnis ein Produkt entsteht, dem etwas mehr oder weniger stark Wiedererkennbares anhaftet [Hervorh. im Original]. (Stein/ Stumpf 2019, S.-19; vgl. dazu I.5.1.1). In den mündlichen Textproduktionen von Vorschulkindern, die im Rahmen von Pretend-Reading-Situationen entstanden sind, lässt sich Musterhaftes mit der Bedeutung „Wiedererkennbares, sich Wiederholendes“ auf drei Arten be‐ schreiben. 82 Musterhaftigkeit kann erstens in Bezug auf die Sprachgemeinschaft beschrieben werden (Kategorie 1). Zweitens lässt sich Musterhaftigkeit in Bezug auf einen weiteren Text beschreiben. Bei diesem kann es sich entweder um den Vorlesetext (Bilderbuchtext) aus der Pretend-Reading-Situation handeln (Kategorie 2b) oder um einen dritten Text (Kategorie 2a). Musterhaftigkeit kann sich drittens ausschließlich auf sich Wiederholendes in der Textproduktion des Kindes beziehen (Kategorie 3). Somit sind insgesamt vier Fälle (Kategorie 1, 2a, 2b und 3) zu unterscheiden (vgl. Tabelle 3). 5.7 Das Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit 167 <?page no="168"?> Musterhaftigkeit - vier Kategorien in Bezug auf die Sprachgemein‐ schaft/ Texte mit narrativer Themenentfaltung in Bezug auf einen weiteren Text im Kindertext selbst - 3. Text Vorlesetext - Kategorie 1 Kategorie 2a Kategorie 2b Kategorie 3 Tabelle 3: Musterhaftigkeit - vier Kategorien (Schema 1) Des Weiteren zeigt sich „etwas[,] […] [das] wiederholt auftritt [Hervorh. im Original]“ (ebd.), bei den kindlichen Textproduktionen auf verschie‐ denen Ebenen. Bevor die unterschiedlichen Ebenen vorgestellt werden, sei auf die unter Kapitel I.5.1.1 vorgestellte Übersicht zur lexikalischen „Spezifi‐ ziertheit sprachlich vorgeformter Phänomene“ (ebd., S. 18) von Stein und Stumpf hingewiesen. Bei Vorgeformtheitsphänomenen unterscheiden Stein und Stumpf zwischen voll-lexikalisierten Phänomenen („(lexikalisch spezifizierte) Phraseme“ (ebd.), teil-lexikalisierten Phänomenen (Wortbildungsmuster, Modell‐ bildungen, Verbvalenz, formelhafte Texte) und kaum oder nicht-lexikalisierten Phänomenen (Satzmuster, (ritualisierte) Gesprächsphasen, rituelle Muster/ Ad‐ jazenzpaare/ Paarsequenzen in Gesprächen), „Textsorten-/ muster, Gesprächssorten, kommunikative Gattungen“ (ebd.), Argumentationsmuster/ Topoi, Meta‐ phern/ Metaphernsysteme und Denkstereotype). Dabei wird der Abstraktions‐ grad höher, je weniger die Vorgeformtheitsphänomene lexikalisiert sind. (Vgl. ebd.) Hinsichtlich der Muster, die in mündlichen Textproduktionen aus Pre‐ tend-Reading-Situationen identifiziert werden konnten, lassen sich vier Ebenen unterscheiden. Bei der folgenden Darstellung (vgl. Tabelle 4) wird teilweise auf Begriffe aus der vorgestellten Übersicht von Stein und Stumpf (2019) zurückgegriffen. Es wird unterschieden zwischen einer konkreten bzw. voll-le‐ xikalisierten Ebene (Ebene 1), einer die Struktur von Mustern betreffenden bzw. teil-lexikalisierten Ebene (Ebene 2), einer abstrakten Ebene (Ebene 3) und einer vierten Ebene, die sowohl konkret/ inhaltliche Anteile als auch die Struktur betreffende Anteile enthält (Ebene 4). 168 5 Muster und Textproduktion <?page no="169"?> Musterhaftigkeit - vier Ebenen konkret/ voll-lexikalisiert die Struktur betreffend/ teil-lexikalisiert abstrakt konkret/ inhaltlich, die Struktur betreffend Ebene 1 Ebene 2 Ebene 3 Ebene 4 Tabelle 4: Musterhaftigkeit - vier Ebenen (Schema 2) Es folgt eine kurze Erläuterung der vier Ebenen. Zur Ebene 1, die sich auf Konkretes und Voll-Lexikalisiertes bezieht, gehören die sprachlichen Muster - ein Begriff, der sowohl von Brommer (2018) als auch von Bubenhofer (2009) und Kruse und Kruse (2007) verwendet wird. In Abgrenzung zu Bubenhofers und Brommers Musterbegriff, nach dem sprachliche Muster auch eingliedrig sein können, lehnt sich die der vorliegenden Studie zugrundeliegende Vorstellung von sprachlichen Mustern an Burgers Definition von Phraseologismen an, die immer aus mindestens zwei Bestandteilen bestehen. Der Begriff des sprachlichen Musters der vorliegenden Studie umfasst zum einen Phraseologismen im Sinne Burgers und zum anderen weitere sprachliche Einheiten bestehend aus mindes‐ tens zwei Wörtern (im Rahmen der vorliegenden Studie auch Mehrworteinheiten genannt), die dadurch musterhaft werden, dass sie in mehr als einem Text vorkommen oder in einem Text mehrfach auftreten. Musterhaftigkeit der Ebene 2, die sich auf Strukturelles bezieht, ist der Begriff des strukturellen Musters zuzuordnen. Der Begriff wurde im Rahmen der vorlie‐ genden Studie im Zusammenhang mit der Notwendigkeit entwickelt, mögliche Übernahmen aus dem Bilderbuchtext zu beschreiben, die sich in den mündlichen Textproduktionen der Kinder zeigen. Er bezieht sich auf syntaktische Strukturen und weist eine starke Nähe zum Begriff der Phraseoschablone (Donalies 2009) auf. Ähnlich wie der Begriff des sprachlichen Musters weiter gefasst ist als der des Phraseologismus, so ist der Begriff des strukturellen Musters weiter gefasst als der der Phraseoschablone. So wie ein sprachliches Muster erst durch den Gebrauch in einem weiteren Text zu einem sprachlichen Muster wird, so wird ein strukturelles Muster erst durch sein Vorkommen in einem weiteren Text zu einem strukturellen Muster. Phraseoschablonen bilden dabei einen Teil der strukturellen Muster. Musterhaftigkeit der Ebene 3 bezieht sich auf Abstraktes bzw. Musterhaftes mit einem höheren Abstraktionsgrad. Er umfasst erzähltypische Muster und weitere Muster der dritten Ebene. Der Begriff des erzähltypischen Musters wird in Anlehnung an Schüler (2018) gewählt, die sich auf Becker bezieht (vgl. Schüler 5.7 Das Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit 169 <?page no="170"?> 2018, S. 65): In diesem Zusammenhang wird direkte Rede als erzähltypisches Muster bezeichnet (vgl. ebd.). Der Begriff des erzähltypischen Musters bezieht sich im Rahmen der vorliegenden Studie auf Musterhaftes, das typisch für Narrationen ist. Neben dem bereits genannten Gebrauch direkter Rede (vgl. ebd.) soll - in Anlehnung an die Beispiele, die Feilke zur Verdeutlichung narrativer Textprozeduren nennt (vgl. Feilke 2017, S. 53) - auch Folgendes zu den erzähltypischen Mustern gerechnet werden: Der Gebrauch des epischen Präteritums und des szenischen Präsens. In Anlehnung an Feilkes Beispiele zur Verdeutlichung literaler Prozeduren werden auch Leserinvolvierung (vgl. Feilke 2010, S. 10) und der innere Monolog (vgl. Feilke 2010, S. 6) in dieser Studie als Muster der Ebene 3 bezeichnet. Zu den erzähltypischen Mustern sollen zudem die Leseransprache (vgl. Textanalyse II.3.1.4), Geschichtenenden und der Schlussformelgebrauch gezählt werden. Des Weiteren soll die Wiederholung sprachlicher Einheiten zur Darstellung einer sich wiedererholenden Handlung als erzähltypisches Muster bezeichnet werden. Gleiches gilt für den Gebrauch einer Redewendung (meist am Geschichtenende), um zum Ausdruck zu bringen, dass eine Figur verschwindet. Titel und Überschriften (vgl. dazu Feilke 2009, S. 6), die nicht auf die Textsorte Narration beschränkt sind, werden im Rahmen der vorliegenden Studie zu den weiteren Mustern der dritten Ebene gezählt. Muster der dritten Ebene werden i. d. R. mit Hilfe von sprachlichen und/ oder strukturellen Mustern realisiert. Muster der Ebene 4 bilden eine Sondergruppierung. Zu dieser gehören Bau‐ muster und Mini-Baumuster. Der Begriff des Baumusters geht auf die Termino‐ logie und die Ausführungen von Ritter und Ritter (2008) zurück. Baumuster beziehen sich auf einen einzigen Text. Dieser enthält mehrere Sequenzen, die alle nach dem gleichen Prinzip aufgebaut sind bzw. die gleichen Bausteine aufweisen. Diese Bausteine können wiederum sprachliche Muster, strukturelle Muster, erzähltypische Muster und weitere Muster der dritten Ebene oder auch inhaltliche Elemente enthalten. Zusätzlich zu den Baumustern sollen zur vierten Ebene die Mini-Baumuster gerechnet werden, die wie folgt definiert werden sollen: Mini-Baumuster bestehen wie Baumuster aus einer Reihenfolge bestimmter Bausteine, die sich aus Mustern der Ebenen 1, 2 und 3 zusammen‐ setzten können. Auch sie können weitere inhaltliche Bausteine enthalten. Mini-Baumuster unterscheiden sich insofern von den Baumustern, als dass sie erst im Vergleich zu einem weiteren Text als Muster identifiziert werden können, da sie in einem Text lediglich einmalig vorkommen. Im Folgenden werden Schema 1 und Schema 2 zu einem Schema kombiniert. Alle vier Kategorien (bzw. Formen) von Musterhaftigkeit (vgl. Tabelle 3) können auf 170 5 Muster und Textproduktion <?page no="171"?> allen vier Ebenen der Musterhaftigkeit (vgl. Tabelle 5) gefunden werden. Jeder der vier Kategorien lassen sich somit verschiedene Unterkategorien zuordnen, sodass Musterhaftigkeit insgesamt mit Hilfe von 15 Kategorien beschrieben werden kann. Musterhaftigkeit Ebene (E)/ Kategorie (K) in Bezug auf die Sprachgemein‐ schaft und nar‐ rative Texte (K1) in Bezug auf einen weiteren Text im Kindertext selbst (K3) 3. Text (K2a) Vorlesetext (K2b) Konkret/ inhalt‐ lich (E1) Phraseolo‐ gismen (sprachliche Muster) Mehrworteinheiten aus einem 3. Text (sprachliche Muster) Mehrwortein‐ heiten aus dem Vorlesetext (sprachliche Muster) sich wieder‐ holende Mehr‐ worteinheiten (sprachliche Muster) die Struktur betreffend (E2) Phraseoschablonen (struk‐ turelle Muster) syntaktische Strukturen aus einem 3. Text (strukturelle Muster) syntaktische Strukturen aus dem Vorlese‐ text (strukturelle Muster) sich wieder‐ holende syn‐ taktische Strukturen (strukturelle Muster) Abstrakt (E3) Erzähltypische und weitere Muster Erzähltypi‐ sche und wei‐ tere Muster aus einem 3. Text erzähltypische und weitere Muster aus dem Vorlesetext sich wieder‐ holende er‐ zähltypische und weitere Muster konkret/ inhalt‐ lich, die Struktur betreffend (E4) - Mini-Bau‐ muster, Bau‐ muster aus einem 3. Text Mini-Bau‐ muster, Bau‐ muster aus dem Vorlesetext Baumuster (mehrere Se‐ quenzen be‐ stehend aus mehreren Bausteinen) Tabelle 5: Das Vier-Ebenen-Modell zur Beschreibung von Musterhaftigkeit in Textpro‐ duktionen zu Bilderbüchern Im Folgenden wird näher auf das Vier-Ebenen-Modell (vgl. Tabelle 5) einge‐ gangen, indem die vier Kategorien (K1, K2a, K2b und K3) mit Bezug auf die vier Ebenen (E1, E2, E3 und E4) erläutert werden. 5.7 Das Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit 171 <?page no="172"?> Beschreibung der vier Kategorien (K1, K2a, K2b und K3) mit Bezug zu den vier Ebenen Kategorie 1 umfasst Musterhaftes in der Bedeutung wie Stein und Stumpf sie nutzen. Hierzu werden Phraseologismen (Ebene 1) und Phraseoschablonen (Ebene 2) gerechnet, die im allgemeinen Sprachgebrauch vorkommen und somit wiedererkennbar sind. In diese Kategorie fällt zudem Musterhaftes mit einem höheren Abstraktionsgrad, das häufig in narrativen Texten verwendet wird (erzähltypische Muster), aber auch Musterhaftes mit hohem Abstraktionsgrad, das textsortenübergreifend ist (Ebene 3). Kategorie 2a bezieht sich auf sprachliche (Ebene 1) und strukturelle Formen (Ebene 2) von Musterhaftigkeit sowie abstraktere Muster (Ebene 3), die im Kindertext aus der Pretend-Reading-Situation und in einem dritten Text außer‐ halb der Pretend-Reading-Situation vorkommen. In diesem Fall werden zu den Mustern der Ebene 3 auch abstrakte Muster gezählt, die erst musterhaft durch ihr Auftreten in der Textproduktion des Kindes und in einem dritten Text werden. Zu diesen Mustern lässt sich beispielsweise die Wiedergabe eines Liedes bezeichnen, wenn diese in beiden Texten enthalten ist (vgl. dazu Textanalyse IV, II.3.1.4). Der Gebrauch eines Baumusters (Ebene 4), das einem Kindertext zugrunde liegt, kann zusätzlich als musterhaft bezeichnet werden, wenn es vom Kind aus einem dritten Text übernommen wurde. Im Vergleich zu einem dritten Text kann auch ein Mini-Baumuster, bestehend aus Mustern der Ebenen 1 bis 3, im Kindertext identifiziert werden. Bei der Kategorie 2b handelt es sich um Wiedererkennbares aus dem im Rahmen der Pretend-Reading-Situation vorgelesenen Bilderbuch. So kann der Kindertext sprachliche Muster (Ebene 1) und sprachliche Strukturen (Ebene 2) aufweisen, die im Vorlesetext in identischer oder ähnlicher Form vorkommen. Zur Charakterisierung dieser Art von Mustern bietet es sich an, von buchei‐ genen sprachlichen Mustern und sprachlichen Strukturen zu sprechen. So kann es beispielsweise bucheigene Verbalphraseme geben. Bucheigene sprachliche Strukturen und Versatzstücke haben eine Ähnlichkeit zu Autorphrasemen (Burger 2015, S. 49). Bei den sprachlichen Versatzstücken und Strukturen, die in Bilderbuch und Kindertext vorkommen, kann es sich aber neben solchen bucheigenen sprachlichen Mustern und Strukturen auch um Phraseologismen oder Phraseoschablonen handeln (Kategorie 1). Kategorie 2b kann sich auch auf erzähltypische und weitere Muster des Vorlesetextes (Ebene 3) beziehen, die ebenfalls gleichzeitig der Kategorie 1 zugerechnet werden. Sie kann sich aber auch auf abstrakte Muster beziehen, die lediglich im Vorlesetext und in der Textproduktion des Kindes vorkommen, unabhängig davon aber nicht als musterhaft bezeichnet werden würden. Der Gebrauch eines Baumusters 172 5 Muster und Textproduktion <?page no="173"?> (Ebene 4), das einem Kindertext zugrunde liegt, kann zusätzlich als musterhaft bezeichnet werden, wenn es vom Kind aus dem Vorlesetext übernommen wurde. Im Vergleich zum Vorlesetext kann auch ein Mini-Baumuster, bestehend aus Mustern der Ebenen 1 bis 3, im Kindertext identifiziert werden. Die dritte Kategorie bezieht sich auf den Kindertext allein. Etwas („sprach‐ liche Strukturen und Ausdrücke“ (Stein/ Stumpf 2019) sowie weitere Textgestal‐ tungsmerkmale) kann im Kindertext selbst wiederholt auftreten und dadurch als musterhaft bezeichnet werden. Diese Kategorie hat eine Nähe zu Ritter und Ritters Musterbegriff, der sich auf „sich wiederholende[] Wendungen und Formulierungen“ (Ritter/ Ritter 2017, S. 13) innerhalb einer einzigen Bilder‐ buchgeschichte bezieht. Des Weiteren kann ein erzähltypisches oder weiteres Muster der Ebene 3 im Kindertext mehrfach wiederholt werden. Auch hier sind Überlappungen mit den Kategorien 1 und 2 möglich. Zudem kann der Kindertext über ein Baumuster (Ebene 4) strukturiert sein. Musterhaftigkeit und rhetorische Mittel Muster der Ebenen 1 bis 4 können zusätzlich eine poetische Komponente enthalten. Diese kann im Gebrauch rhetorischer Mittel bestehen. Rhetorische Mittel lassen sich gemäß ihrer Beschaffenheit unterschiedlichen Ebenen von Musterhaftigkeit zuordnen. Zum einen können sie als zusätzliches Merkmal zur Beschreibung von Mustern der 1. und 2. Ebene dienen. So können sprachliche Muster (u. a. Phraseologismen) (Ebene 1) zusätzlich als Alliteration oder Meta‐ pher bezeichnet werden. Strukturelle Muster (u. a. Phraseoschablonen) (Ebene 2) können zusätzlich beispielsweise als Anapher bezeichnet werden. Der Gebrauch rhetorischer Figuren wie Klimax und Wiederholung kann hingegen selbst als Mustergebrauch (Ebene 3) bezeichnet werden. Muster der 4. Ebene können sowohl rhetorische Mittel als zusätzliches Merkmal als auch rhetorische Mittel als eigenständige Muster enthalten. Muster der Kategorie 2b, die sich auf Wiedererkennbares aus dem im Rahmen der Pretend-Reading-Situation vorgelesenen Bilderbuch beziehen, lassen sich noch auf eine weitere Art und Weise unterteilen. Unter Kapitel II.3.2 („Aus‐ wertungsverfahren“) wird ein Analyseraster vorgestellt, das ebenfalls im in‐ duktiv-deduktiven Verfahren mit Blick auf die in Pretend-Reading-Situationen erhobenen Daten und theoretischen Grundlagen zum Musterbegriff entwickelt wurde. Dabei wird zwischen acht Fällen unterschieden. 5.7 Das Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit 173 <?page no="175"?> 83 Bei der Darstellung der Wissenstheorie Polanyis und der Übertragung der Theorie Polanyis auf die Textproduktion (Kapitel I.6.1) handelt es sich um leicht modifizierte Kapitel aus der von Norbert Kruse betreuten Examensarbeit Rückmeldungen beim Textschreiben. Überlegungen zu lernförderlichen Rückmeldungen durch den Lehrenden zu Kindertexten im Schreibunterricht der Grundschule (Strozyk 2011). An dieser Stelle danke ich Norbert Kruse für den Gedankenanstoß, Polanyis Wissenstheorie in meine Überlegungen zum Textschreiben einzubeziehen. 6 Implizites Wissen und implizites Lernen Dass implizites Wissen bei der Textproduktion eine zentrale Rolle spielt, ist all‐ gemein bekannt. „Die Schreibenden sind sich dieses intuitiven Textwissens oft nicht bewusst“ (Merklinger 2014, S. 4). Im vorliegenden Kapitel wird die Theorie des impliziten Wissens nach Michael Polanyi (1985) auf seine Bedeutung für die Beschreibung von Textproduktionsprozessen befragt. Dazu werden zunächst zentrale Überlegungen von Georg Hans Neuweg zum impliziten Wissen und Lernen dargelegt, gefolgt von einer Darstellung ausgewählter Aspekte der Wissenstheorie Polanyis. Anschließend wird der Blick auf implizites Wissen und Lernprozesse beim Textschreiben gerichtet. Im darauffolgenden Schritt folgt eine Übertragung dieser Theorie auf den Textproduktionsprozess. 83 In einem weiteren Schritt wird die Pretend-Reading-Situation, die ebenfalls einen Textproduktionsprozess beinhaltet, mit der Wissenstheorie Polanyis beleuchtet, wobei Prozesse, die sowohl vor als auch während der Pretend-Reading-Situation ablaufen, in den Blick genommen werden. Der Begriff des ‚impliziten Wissens‘ vereinigt in sich nahezu alle Eigenschaften, die man sich von einem Terminus in der wissenschaftlichen Diskussion gerade nicht wünscht. Er ist, sich gleichsam selbst bestätigend, ausgesprochen unscharf [und] […] wird keineswegs einheitlich und im Rahmen verschiedener Theoriekontexte verwendet. (Neuweg 2020, S.-24) Neuweg definiert implizites Wissen wie folgt: „Als implizites Wissen (tacit knowledge) ist […] ein Wissen zu definieren, das in der praktischen Kompetenz einer Person […] zum Ausdruck kommt, das aber nicht oder nicht angemessen verbalisiert werden kann [Hervorh. im Original]“ (Neuweg 2000, S. 198). Impli‐ zites Lernen lässt sich folgendermaßen beschreiben: Schreibt man einem Lerner den Erwerb einer Disposition zu, wenn sein Verhalten, insbesondere in Anpassung an bestimmte Struktureigenschaften der Lernumgebung, einer neuen, zuvor nicht gezeigten Regelmäßigkeit folgt, dann kann ein Lernprozess <?page no="176"?> als implizit bezeichnet werden, wenn der Lerner weder durch einen Lehrenden explizit (verbal) über diese Regelmäßigkeiten bzw. Struktureigenschaften informiert wird noch sich bewusst-reflexiv um deren gedankliche Vergegenwärtigung bemüht oder zu einem solchen Bemühen durch einen Lehrenden aufgefordert wird, deren ‚Kenntnis‘ jedoch nach Abschluss der Lernphase in seinem Verhalten zu zeigen in der Lage ist. (Ebd.) Von implizitem Lernen kann folglich dann gesprochen werden, wenn der Lerner nach der Lernphase in der Lage ist, das implizit Gelernte im Verhalten zu zeigen, sich jedoch nicht um ein bewusst-reflexives gedankliches Durchdringen des Lerngegenstandes bemüht hat oder darüber belehrt worden ist. 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Werk Implizites Wissen (1985), die deutsche Übersetzung von Polanyis Werk The Tacit Dimension (1966) sowie auf Neuwegs Werk Könnerschaft und implizites Wissen (2004), in dem er Polanyis Theorie impliziten Wissens bzw. Erkenntnistheorie aus vielen Werken Polanyis rekonstruiert. Eine zentrale These von Polanyi ist, „daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“ (Polanyi 1985, S. 14). Demnach handelt es sich bei implizitem Wissen um Wissen, das eine Person nicht aussprechen kann, aber in ihrem Verhalten zeigt (vgl. Neuweg 2004, S. 138). Unter explizitem Wissen versteht Polanyi klar angebbares Wissen (vgl. Polanyi 1985, S. 29). Eine Kernbehauptung Polanyis besagt jedoch, dass alles Wissen implizit ist oder in implizitem Wissen wurzelt. Daraus folgt, dass kein vollständig explizites Wissen existiert. (Vgl. Neuweg 2004, S. 139) „Wenn Polanyi von Wissen spricht, dann ist damit meist der Akt des Wissens, ein Erkennen, Tun, Denken oder Wahrnehmen, gemeint [Hervorh. im Original]“ (ebd., S. 135). Im Folgenden wird zunächst die Grundstruktur des impliziten Wissens dargestellt, die mit dem Erwerb des impliziten Wissens gleichzusetzen ist, um anschließend den Gebrauch des impliziten Wissens anhand der impliziten Triade vorzustellen. Die Grundstruktur des impliziten Wissens besteht aus zwei Gliedern, die Polanyi auch als ersten und zweiten Term bezeichnet (vgl. Polanyi 1985, S. 18f.). Dabei können die beiden Relata des impliziten Wissens auch als proximaler Term (p) und als distaler Term (d) bezeichnet werden. In der Regel enthält der proximale Term (p) mehrere unterscheidbare Elemente. Daher ist es auch möglich, anstatt von p von einem proximalen Gefüge oder Subsidien zu sprechen. (Vgl. Neuweg 176 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="177"?> 2004, S. 187f.) Während das Subjekt über den distalen Term ein angebbares Wissen hat, bleibt das Wissen vom proximalen Term implizit. (Vgl. Polanyi 1985, S. 19) „Es ist dann der proximale Term, von dem wir ein Wissen haben, das wir nicht in Worte fassen können“ (ebd.). Zwischen dem ersten Term (proximaler Term) und dem zweiten Term (distaler Term) besteht eine funktionale Beziehung (vgl. ebd., S. 18). „[…] [B]ei einem Akt impliziten Wissens [verschieben wir] unsere Aufmerksamkeit von etwas auf etwas anderes […], genauer gesagt: vom ersten auf den zweiten Term jener stummen Relation“ (ebd., S. 19). Dadurch ge‐ lingt „eine Integration von Einzelmerkmalen zu einer kohärenten Entität“ (ebd., S. 25). Auf den distalen Term ist der Aufmerksamkeitsfokus gerichtet - ihm gilt das Interesse der Person im Moment (vgl. Neuweg 2004, S. 188). Die Subsidien werden auf den distalen Term bezogen, ohne dass sie selbst thematisiert werden und fungieren als Schlüssel, um aufzuschließen oder zu erreichen, was im Fokus des Interesses liegt. Diese Funktion können sie allerdings nur besitzen, bleiben sie hintergrundbewusst. Sobald die Subsidien fokussiert werden, verlieren sie diese Funktion. (Vgl. ebd.) „Schalten wir dagegen unserer Aufmerksamkeit auf die einzelnen Merkmale um, so verlieren diese ihre Funktion als einzelne Merkmale, und die Entität, der unser Interesse galt, entzieht sich uns.“ (Polanyi 1985, S. 37) „Hintergrundbewußtsein und Fokalbewußtsein schließen einander wechselseitig aus“ (Polanyi 1964, S. 56, zit. n. Neuweg 2004, S. 200). Das Subjekt kann entweder nur auf etwas achten oder von etwas auf etwas anderes, aber niemals auf beides zugleich (vgl. Neuweg 2004, S. 200). Die Integration der Einzelheiten kann als Verinnerlichung betrachtet werden, die nun zu einem Mittel wird, „bestimmte Dinge als proximale Glieder eines impliziten Wissens fungieren zu lassen, so daß wir diese Dinge nicht mehr als solche beobachten, sondern ihrer im Zusammenhang der aus ihnen gebildeten komplexeren Entität gewahr werden“ (Polanyi 1985, S. 25). (Vgl. ebd.) Da auf den distalen Term der Aufmerksamkeitsfokus gerichtet ist, ist dieser somit im Fokalbewusstsein. Der proximale Term hingegen ist im Hintergrundbewusstsein. (Vgl. Neuweg 2004, S. 187f.) „Subsidien werden auf einen distalen Term bezogen, ohne selbst unmittelbar thematisch zu werden“ (ebd., S.-188). Jedes proximale Element ist […] aktuell implizit (aufgehoben nämlich in der fokalen Erfahrung); ob es prinzipiell implizit ist oder aber auch in den Fokus gebracht werden könnte, hängt von seiner Natur im Einzelnen ab und ist nicht konstitutiv für seine Zuordnung zum Hintergrundbewußtsein. (Ebd., S.-194) Polanyi schreibt dazu: „Was dieses nur nebenher registrierte Wissen aus‐ zeichnet, ist die Funktion, die es erfüllt; es kann jeden Grad von Bewußtheit haben, solange es als Schlüssel zum zentralen Objekt unserer Aufmerksamkeit 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 177 <?page no="178"?> 84 PK: Polanyi, Michael (1964): Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy. Chicago: The University Chicago Press; London: Routledge & Kegan Paul. KB: Polanyi, Michael (1962): Tacit Knowing: Its Bearing on Some Problems of Philo‐ sophy. In: Reviews of Modern Physics 34, S.-601-616. dient“ (Polanyi 1985, S. 86). „In das Hintergrundbewußtsein zielthematisch einverleibte Objekte und Instrumente sind uns nicht weniger bewußt als wenn sie fokal wären, sondern anders“ (Neuweg 2004, S.-179). Zur subsidiären Komponente rechnet Polanyi […] auch […] Erfahrungen aus der Vergangenheit, von denen wir viele überhaupt nicht mehr erinnern könnten, die aber ‚subsidiär im Formen und Verstehen unserer gegenwärtigen Erfahrung wirksam werden‘ und sich niederschlagen in der Art und Weise, wie sich uns die Dinge fokalbewußt präsentieren (PK, S. 97; vgl. auch KB, S. 165 […]) […]. (Neuweg 2004, S.-193 84 ) „Was wir subsidiär auf einen je bestimmten Fokus beziehen, ist letztendlich das Insgesamt aller Lernerfahrungen in der Vergangenheit, aus denen wir nie vollständig herauszutreten vermögen“ (Neuweg 2004, S. 228). Beim distalen Fluchtpunkt der Aufmerksamkeit, auf den Subsidien bezogen werden, kann es sich um eine Erkenntnisabsicht oder ein Handlungsziel handeln - er kann theoretischer, ästhetischer oder praktischer Natur sein (vgl. ebd., S. 196). Achtet das Subjekt von p auf d, so lässt sich häufig sagen, dass das Subjekt durch p hindurchblickt, p benutzt, p einverleibt oder dass es sich auf die Interpretation oder Evokation von p verlässt (vgl. ebd., S. 197). Das Subjekt nimmt p in Gestalt von d wahr oder von d her wahr (vgl. ebd., S. 198). „Die Subsidien des Von-zu-Wissens beziehen sich auf ein fokales Ziel, und worauf immer sich eine Sache bezieht, kann ihre Bedeutung genannt werden. Daher ist das fokale Ziel, auf das sie sich beziehen, die Bedeutung der Subsidien [Hervorh. im Original].“ (Polanyi/ Prosch 1975, S. 35 zit. n. Neuweg 2004, S. 199) So bedeuten etwa Teile ein Ganzes oder „das eigene Tun wird erlebt in seiner zum Ziel hin- oder von ihm wegführenden Bedeutung“ (Neuweg 2004, S.-199) (vgl. ebd.). Implizites Wissen stellt, so Polanyi, eine „bedeutungstragende Beziehung zwischen zwei Gliedern“ (Polanyi 1985, S.-202) her. Aus diesem Grund lässt es sich […] mit dem Verstehen jener komplexen Entität gleichsetzen, die die beiden Terme zusammen bilden. Der proximale Term stellt dann die Einzelheiten dieser Entität dar, und entsprechend können wir sagen, daß wir die Entität verstehen, indem wir uns, gestützt auf unser Gewahrwerden ihrer einzelnen Merkmale, ihrer Gesamtbedeutung zuwenden. (Ebd., S.-21) 178 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="179"?> 85 PK: Polanyi (1964) Neuweg rekonstruiert den Schemabegriff im Modell Polanyis. „Als Schema ließe sich […] extensional die Menge aller proximalen Gefüge p definieren, die dem Subjekt ein gleiches d bedeuten bzw. durch ein gleiches d evoziert werden“ (Neuweg 2004, S. 203). Beispielsweise sind Worte (p), die die gleiche Bedeutung haben (d), austauschbar. (Vgl. ebd.) Polanyi nimmt an, dass in allen Fällen impliziten Wissens eine Entsprechung „zwischen der Struktur des Verstehens und der Struktur des Verstandenen, der komplexen Entität“ (Polanyi 1985, S. 37, i. Orig. kursiv) besteht. (Vgl. ebd.) Er verdeutlicht die Funktion des Hintergrundbewusstseins anhand von zwei Beispielen. Zeigt ein Vortragender mit dem Finger auf einen Gegenstand, so folgt der Zuhörer der Richtung des Fingers und sieht auf das Objekt. Während sich das Objekt dann im Fokus der Aufmerksamkeit des Zuhörers befindet, wird der Finger nur als Hinweis auf den gezeigten Gegenstand gesehen. Polanyi benutzt ebenfalls die Metapher des Einverleibens: Dass der proximale Term einverleibt wird, bedeutet, dass er vom Subjekt ähnlich wie der eigene Körper benutzt wird. „Leib in diesem metaphorischen Sinne ist, was uns nicht als es selbst bewußt wird, weil wir es als Instrument benutzen, um damit etwas anderes, dem unsere eigentliche Aufmerksamkeit gilt, aufzuschließen oder zu erreichen“ (Neuweg 2004, S. 195). (Vgl. ebd., S. 194f.) „Subsidien werden in der impliziten Triade in einer Funktion beansprucht, sind ‚nicht Gegenstände unserer Aufmerksamkeit, sondern ihre Instrumente‘ (PK, S. 55)“ (ebd.). 85 Zusammenfassend lässt sich die Grundstruktur des impliziten Wissens fol‐ gendermaßen beschreiben: Von einem proximalen Term wird auf einen distalen Term gesehen. Dadurch fungiert der proximale Term, der im Akt des impliziten Wissens implizit ist, als Instrument, um den distalen Term, auf dem der Fokus der Aufmerksamkeit liegt, aufzuschließen oder zu erreichen. Die implizite Triade (vgl. Abb. 10) wird durch drei Elemente geformt: Den distalen Term, den proximalen Term und das Subjekt, welches das proximale Gefüge entweder intentional nutzt oder etwas aus ihm konstruiert (vgl. Neuweg 2004, S.-188f.). 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 179 <?page no="180"?> Abbildung 7: Die implizite Triade nach Neuweg 2004, S.-207 Den Aufbau einer impliziten Triade bezeichnet Polanyi als implizite Integration (vgl. ebd., S. 204). Die implizite Integration, der Prozess, in dem die Subsidien auf den Fokus bezogen werden (vgl. ebd., S. 221), lässt sich auch als ein Akt des Einfühlens, Verinnerlichens, Einverleibens oder ein Akt der Einsicht beschreiben (vgl. ebd., S. 204). Hierbei baut das Subjekt die Beziehung eines Subsidiums zum Fokus auf, indem es das eine zu dem anderen integriert. Es macht Elemente, Erfahrungen, Ideen u. a. zum proximalen Term. (Vgl. ebd., S.-188) Polanyi betrachtet, in Bezug auf das Erkennen, „die Gestalt als Ergebnis einer aktiven Formung der Erfahrung während des Integrationsvorgangs“ (Polanyi 1985, S. 15). Er schreibt: „Diese Formung oder Integration halte ich für die große und unentbehrliche stumme Macht, mit deren Hilfe alles Wissen gewonnen und, einmal gewonnen, für wahr gehalten wird“ (ebd.). Somit findet beim Akt der Integration, durch den alles Wissen entsteht, eine Formung von vergangener Erfahrung statt. „Ein Element, ein Ereignis, ein Gegenstand, eine Handlung werden proximal erst im Lichte eines distalen Bezugspunktes, auf den das Subjekt sie bezieht“ (Neuweg 2004, S. 196). „Allgemein läßt sich sagen, daß wir den proximalen Term eines Aktes impliziten Wissens im Lichte seines distalen Terms registrieren; wir wenden uns von etwas her etwas anderem zu und werden seiner im Lichte dieses anderen gewahr“ (Polanyi 1985, S. 20). Somit ist der Akt des impliziten Wissens nicht nur durch die Fokusverschiebung von p nach d zu charakteri‐ sieren, sondern auch dadurch, dass p im Lichte von d betrachtet wird. Neuweg schreibt: „Im Aufbau einer Triade existiert […] eine komplexere Dynamik, als die Wendung des ‚von-zu‘ vordergründig vermuten läßt“ (Neuweg 2004, S. 205). An dieser Stelle leuchtet das sogenannte Menon-Paradoxon auf. Im Menon-Pa‐ 180 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="181"?> 86 Das Menon-Paradoxon kann im Rahmen dieser Arbeit nur ansatzweise beschrieben werden. Eine Erläuterung des Menon-Paradoxons findet sich in Neuweg 2004, S. 214- 220 und Polanyi 1985, S.-28f. 87 Auf die Prozesse Intuition und Imagination wird im Zusammenhang mit dem Aufbau der impliziten Triade genauer eingegangen. radoxon 86 sieht Polanyi das Kernproblem jeder Lern- und Erkenntnistheorie (vgl. Neuweg 2004, S. 214). Für ihn ist das Menon-Paradoxon insbesondere ein Problemlöse-Paradoxon (vgl. ebd., S.-215). Schon Platon hat im Menon auf diesen Widerspruch hingewiesen. Die Suche nach der Lösung eines Problems, sagt er, sei etwas Widersinniges; denn entweder weiß man, wonach man sucht, dann gibt es kein Problem; oder man weiß es nicht, und dann kann man nicht erwarten, irgend etwas zu finden [Hervorh. im Original]. (Polanyi 1985, S.-28) „Die Menon-Paradoxie schließt alle Akte des Konstruierens ein und wirft die Frage auf, wie es möglich ist, von einem proximalen Gefüge auf einen distalen Term zu achten, wenn diese Relation noch nie zuvor hergestellt worden ist“ (Neuweg 2004, S. 215). „Warum können wir den Zusammenhang bislang unbegriffener Einzelheiten ahnen, und wie ist es zu erklären, daß wir von dieser Ahnung weg in die richtige Richtung arbeiten und schließlich zu einer Lösung gelangen? “ (ebd., S. 215f.) Polanyi löst das Menon-Paradoxon, indem er die Prozesse der Imagination und Intuition annimmt. 87 Wir haben die Fähigkeit, nicht nur auf Elemente, sondern von ihnen auf einen größeren Zusammenhang zu blicken, auch wenn dieser im Moment noch vage, diffus ist, weil unser Bewußtsein geschichtet und die Imagination imstande ist, auf noch Unverstandenes vorzugreifen. Wir erkennen ein Problem, allgemein einen Lernanlaß, indem wir vormals Distales vage integrieren, es als Set von Anhaltspunkten begreifen, die auf etwas hindeuten, ohne daß uns dies zunächst zugänglich wäre. (Ebd., S.-220) Polanyi schreibt: „Platons Menon demonstriert zwingend, daß wir kein Problem erkennen oder seiner Lösung zuführen könnten, wenn alles Wissen explizit, das heißt klar angebbar wäre [Hervorh. im Original]“ (Polanyi 1985, S. 29). „Wis‐ senszugewinn […] setzt voraus, vormals distale Elemente in das Hintergrund‐ bewußtsein abtauchen zu lassen, sie einzuverleiben, um antizipativ-intuitiv und imaginierend von ihnen aus auf etwas Neues zu achten“ (Neuweg 2004, S. 220). Die implizite Integration wird von Polanyi auch als impliziter Schluss be‐ zeichnet (vgl. ebd., S. 221). Implizites Schließen kann „als Überwindung einer ‚logischen Lücke‘“ (ebd.) bezeichnet werden. Im impliziten Schluss fügt das Subjekt den proximalen Bestandteilen Bedeutung zu und schafft aus ihnen somit 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 181 <?page no="182"?> mehr, als in ihnen, werden sie fokal betrachtet, enthalten ist. Auf der einen Seite bilden die Subsidien die „Prämissen“ des impliziten Schlusses, aber auf der anderen Seite muss die Schlussfolgerung schon vorausgesetzt werden, um die proximalen Elemente im Licht der Schlussfolgerung zu interpretieren oder sie zu evozieren. Es klafft eine logische Lücke zwischen p und d, die nicht durch das fokale Bearbeiten von p überwunden werden kann. Es gibt keinen rational explizierbaren Weg von den „Prämissen“ der impliziten Integration zu ihrer Transformation im distalen Term. (Vgl. ebd., S. 221ff.) „In der Überwindung dieser logischen Lücke sieht Polanyi den Kern dessen, was man Verstehen nennt“ (ebd., S.-222). Es lassen sich zwei Arten von Triaden unterscheiden: Bei der ersten Gruppe erkennt das Subjekt einen distalen Term. Hier werden die Subsidien im Licht dieses distalen Terms interpretiert. Bei der zweiten Gruppe hingegen versucht das Subjekt eine distale Handlungsabsicht umzusetzen. In diesem Fall werden die Subsidien „durch den distalen Term evoziert [Hervorh. d. Verf.]“ (Neuweg 2004, S. 205). (Vgl. ebd.) Ferner unterscheidet Neuweg bei den von Polanyi vorgestellten Beispielen für implizite Triaden zwischen drei verschiedene Funk‐ tionen des proximalen Terms: P kann in impliziten Triaden interpretiert werden, als Werkzeug genutzt werden oder als Mittelhandlung fungieren und aktiv hervorgebracht werden. (Vgl. ebd., S. 189ff.) Allerdings stellt Neuweg nicht dar, inwiefern diese drei Gruppierungen den zwei Gruppierungen zugeordnet werden können. Idealtypisch vollzieht sich der Aufbau einer impliziten Triade in drei Phasen: Der antizipativen Intuition folgt die Imagination und dieser wiederum die finale Intuition (vgl. ebd., S. 207ff.). Die antizipative Intuition, eine passive Phase, die bei Integrationen mit heuristischem Moment stattfindet, „liefert die Vermutung, daß es etwas gibt, was man in den Fokus bringen könnte, enthebt das, was später integriertes Subsidium sein wird, seiner Distalität, läßt den Fokus aber noch leer“ (ebd., S. 208). Nach Polanyi sind Intuitionen unverzichtbar, da nur diese dem Forschungsprozess eine Gerichtetheit geben können. (Vgl. ebd., S. 207f.) Neuweg verallgemeinert Polanyis Ausführungen zur antizipativen Intuition: Die antizipative Intuition tritt auf, wenn das Subjekt eine Situation als problemartig erlebt und einen Anstoß (bzw. eine Aufforderung) zur Integration verspürt. Die antizipative Intuition äußert sich in dem „Gefühl einer verborgenen Kohärenz“ (ebd., S. 210), in dem „Gefühl einer heraufdämmernden Triade, […] [in der] Überzeugung, eine Triade aufbauen zu können, […] [in einer] Lern- oder Problemlösemotivation“ (ebd., S. 210). In Polanyis metaphori‐ scher Redeweise bedeutet es, dass der Finger zu zeigen beginnt, aber das Subjekt noch nicht sieht, worauf. Antizipative Intuitionen setzten allerdings Vorwissen beim Subjekt voraus. (Vgl. ebd., S.-210f.) 182 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="183"?> 88 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich Polanyis Definition des Begriffes Imagination grundsätzlich von der Bedeutung unterscheidet, die Dehn diesem Begriff zuschreibt. Während Polanyi unter Imagination einen aktiven Akt des Subjekts ver‐ steht, der als Anstrengung erlebt werden kann (vgl. Neuweg 2004, S. 212), geschieht nach Dehn „[d]ie Erfahrung des Imaginären […] immer überfallartig“ (Dehn et al. 2011, S. 47) und ist weder planbar noch voraussehbar (vgl. ebd.). Laut Polanyi ist die Imagination in der Lage, auf noch Unverstandenes vorzugreifen (vgl. Neuweg 2004, S. 220). Dehn und Schüler hingegen verweisen auf Spinners Definition von Imagination, dem „Überschreiten der objektiven Wirklichkeit durch Vorstellungskraft und Phantasie“ (Dehn/ Schüler 2010, S. 26) im Zusammenhang mit den Grundprinzipien des Kreativen Schreibens (vgl. ebd.). Während Polanyi somit einen Vorgriff auf noch Unverstandenes meint, bezieht sich Dehns Vorstellung des Begriffes eher auf Phantasie im Sinne eines Vorstellens einer anderen Wirklichkeit im Kopf. Unter Imagination 88 versteht Polanyi den „antizipierenden Vorgriff im Akt der impliziten Integration“ (ebd., S. 211). Das proximale Gefüge ist noch nicht interpretiert, aber die Vorstellungskraft des Subjekts „greift auf das Ergebnis der Integration vor“ (ebd.). Die Imagination ist ein aktiver Akt des Subjekts und löst die Evokation oder Interpretation der Subsidien aus. (Vgl. ebd.) Sie veranlasst die Integration (vgl. ebd., S. 225). Löst die Imagination die Interpre‐ tation oder Evokation nicht mittelbar aus, wird sie als Anstrengung erlebt. Es lassen sich zwei Formen der imaginativen Anstrengung unterscheiden: Im ersten Fall wird die Imagination ausschließlich auf den distalen Term gerichtet. Als Beispiel hierfür gilt das Erlernen des Radfahrens. Im zweiten Fall findet ein Wechselspiel von Analyse und Integration statt: Zwischen den Subsidien und dem distalen Term wird gependelt. „Problemlöseprozesse mit ausgedehnter zeitlicher Erstreckung“ (ebd., S. 212) sind diesem Fall zuzuordnen. Dieses Wechselspiel von Analyse und Integration soll im weiteren Verlauf der Darstellung Polanyis Theorie noch genauer in den Blick genommen werden. Die Imagination Polanyis entspricht bei heuristischen Akten einer Suchbewegung und bei rekonstruktiven mentalen Akten der Aktivierung eines Schemas. Bei heuristischen Akten wird die Imagination auf einen anfangs leeren Fokus gerichtet. Dabei greift das Subjekt imaginär auf das vor, was es später verstehen oder können wird. „Unsere Einfühlung in die Einzelheiten, die subsidiären Anhaltspunkte, mündet nur mittels eines Aktes unserer Imagination in ihre Synthese in ein fokales Objekt - ein Überspringen einer logischen Lücke […]“ (Polanyi/ Prosch 1975, S. 62, zit. n. Neuweg 2004, S. 213). Vom imaginären Vorgriff auf die Integration her kann sich das proximale Gefüge erst organisieren. (Vgl. Neuweg 2004, S. 212f.) Durch Imagination wird die logische Lücke überwunden. Neuweg sieht Imagination jedoch nicht als „‚Plan‘ im Sinne einer bewußten oder unbewußten Vorwegnahme der später sich tatsächlich vollziehenden Integration oder Interpretation“ (ebd., S.-213). 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 183 <?page no="184"?> 89 Eine Erläuterung zum Konzept der „Sub-specie-Relation“, das von Wolfhart Matthäus unter Rückgriff auf das bei Rubinstein (1958) beschriebene Konzept der „Analyse durch Synthese“ ausgearbeitet wurde, findet sich in Neuweg 2004, S.-257ff. Unter der finalen Intuition wird der Prozess der Interpretation oder Evokation der Subsidien verstanden, der durch die Imagination ausgelöst wurde. Sie wider‐ fährt dem Subjekt. Polanyis finale Intuition entspricht im Problemlöseprozess der Illumination (im Sinne Poincarés). „Die Lösung kommt uns in den Sinn, dämmert uns, fällt uns ein […]“ (ebd., S. 214). (Vgl. ebd., S. 213f.) Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf das Wechselspiel von Integration und Analyse geworfen werden, um den Wissensgewinn, der dabei entsteht, erklären zu können. In der Regel ist die Aufmerksamkeit des Subjekts bei Aneignungs- und Anwen‐ dungsprozessen nicht beständig auf den distalen Term gerichtet und bringt die Subsidien nicht von sich aus hervor. Stattdessen sind diese Prozesse meist durch „ein Wechselspiel bewußt-analytischer Durchdringung des proximalen Gefüges und impliziter Integration“ (ebd., S. 252) gekennzeichnet. (Vgl. ebd.) Dieses Wechselspiel kann bei Lernprozessen wie folgt dargestellt werden: Die vollzo‐ gene implizite Integration wird einer Prüfung unterzogen. Dabei werden die proximalen Elemente im Lichte von d fokussiert, bestätigt oder bezweifelt. Der Zweifel kann die implizite Integration allerdings nicht unmittelbar zerstören. Sie kann aber durch eine alternative implizite Integration ersetzt werden. (Vgl. ebd., S. 352f.) Die Integration wird demnach im Lichte von p geprüft. Beim Problemlöseprozess findet ein Pendeln zwischen Gegebenem und Gesuchtem statt. Der Problemlöser muss abwechselnd die Daten vom Problem her und das Problem von den Daten her interpretieren. Er fragt sich: „‚Angesichts dieses Materials - habe ich das Ziel richtig verstanden? ‘; ‚Angesichts dieses Ziels - welche Möglichkeiten bietet mir das Material? ‘“ (Ebd., S.-261) (Vgl. ebd.) Auch „die Idee eines Wechselspieles von Analyse und Integration“ (ebd., S. 256) führt wieder in das Menon-Paradoxon, so Neuweg (vgl. ebd.). Einerseits erhalten die Elemente vom Ganzen her ihren Sinn, andererseits hängt es von der Deutung der Elemente ab, wie das Ganze erscheint. Neuweg schreibt: Wie kann das Pendeln zwischen Analyse und Integration jemals zu einer sich nach oben schraubenden Spirale, also mehr werden als eben bloßes Wechselspiel? Wenn die Elemente noch unverstanden sind, wie bewegt sich das Subjekt dann zu einem Ganzen, das bei der Refokussierung auf die Elemente an diesen mehr sichtbar macht als vorher schon gesehen worden ist? (Ebd.) Neuweg versucht das „Wirkprinzip des Wechselspiels von Analyse und Syn‐ these“ (ebd., S. 257) daher mit Hilfe des Sub-specie-Relation-Konzepts 89 aufzu‐ 184 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="185"?> hellen (vgl. ebd.). Dieses Konzept kann aufgrund seiner Komplexität im Rahmen dieser Arbeit nicht dargestellt werden. Es sei nur ein Aspekt aus der von Neuweg vorgenommenen Übertragung dieses Konzepts auf das Wirkprinzip des Wechselspiels von Analyse und Synthese herausgegriffen: Bei der Analyse bestimmt Bewusstseinsinhalt a, die diffuse Vorgestalt, die Bewusstseinsinhalte b 1 -b n , die Details. Im Lichte der Gestalt werden die Details b 1 -b n zu b 1 *-b n *. Diese interpretierten Details gehen wiederum in einen Syntheseprozess ein und machen aus der diffusen Vorgestalt a eine präzisere Gestalt a*. (Vgl. ebd., S. 261) Es folgt eine Gegenüberstellung von explizitem und implizitem Schließen. Ferner wird thematisiert, aus welchen Gründen eine implizite Integration nicht durch eine explizite Integration ersetzt werden kann. Beim expliziten Schließen findet im Gegensatz zum impliziten Schließen kein Pendeln zwischen p und d statt, da beim expliziten Schließen die Prämissen nicht bedeutungsärmer als die Schlussfolgerungen sind: Hier werden die In‐ formationen, die in den Prämissen schon enthalten sind, lediglich expliziert. (Vgl. ebd., S. 229) Der durch Integration hergestellte Zusammenhang weist im Gegensatz dazu Qualitäten auf, die in den Subsidien, die zum Aufbau des fokalen Ergebnisses verwendet werden, nicht vorhanden sind (vgl. Polanyi/ Prosch 1975, S. 134, zit. n. Neuweg 2004, S. 222). Auch vollziehen sich explizite Schlüsse stufenartig und zwar von Fokus zu Fokus. Dabei rückt auf jeder neuen Stufe ein anderer Term ins fokale Bewusstsein. (Vgl. ebd., S. 224) Beim expliziten bzw. formalen oder deduktiven Schließen handelt es sich um einen Prozess, welcher lediglich „auf eine implizite Integration aufsetzen kann“ (ebd., S. 229) und sie nachträglich formalisiert, sie aber nicht ersetzen kann. (Vgl. ebd.) Im Nachhinein, wenn der distale Term aufgeschlossen ist, ist es wohl möglich, in den expliziten Denkmodus zu wechseln, auf das proximale Fundament der Integration zu refokussieren, die beteiligten Elemente und die Relationen zwischen ihnen teilweise zu explizieren und die vorgenommene Integration kritisch zu testen. (Ebd., S.-223) Um dem intuitiven Akt der Integration äquivalent zu sein, müssten explizite Regeln zum einen die Einzelheiten spezifizieren und zum anderen auch die inte‐ grativen Beziehungen, durch die die Einzelheiten Entitäten formen, ausdrücken. Allerdings gibt es Explikationshindernisse für die Analyse bzw. „Dekomposition des distalen Ganzen in seine Einzelheiten“ (ebd., S. 233) und die Synthese bzw. „Komposition der Einzelheiten zum distalen Term“ (ebd.). Eine solche Artikulation würde immer unvollständig bleiben und überdies würde eine sogenannte Integrationsregel auch nicht automatisch die Integration beim Empfänger auslösen. (Vgl. ebd.) 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 185 <?page no="186"?> Neuweg systematisiert „Polanyis Argumente gegen die Formalisierbarkeit impliziten Wissens“ (ebd., S. 234) wie folgt. Erstens ist ein Teil der Subsidien un‐ bekannt: Manche Subsidien sind grundsätzlich nicht bewusstseinsfähig, andere sind nicht mehr bewusstseinsfähig, ein großer Teil der Subsidien wird implizit gelernt, was bedeutet, dass die Aufmerksamkeit während des Lernprozesses beständig auf p liegt und d nicht fokal wird. Dadurch sind die Einzelheiten fokal nicht bekannt, sondern nur subsidiär im Ganzen. Ein weiterer Teil der Subsidien ist zwar bewusstseinsfähig, aber nicht (angemessen) verbalisierbar. Ein zweiter Grund gegen die Formalisierbarkeit des impliziten Wissens liegt darin, dass die Aufmerksamkeit des Subjekts durch explizite Beschreibung auf die Subsidien gelenkt wird, die dadurch ihre Funktion in der impliziten Triade verlieren. Drittens ist eine implizite Integration nicht durch eine explizite Integration zu ersetzen. Die zwischen den Einzelheiten bestehende Beziehung muss durch das Subjekt in einer imaginativen Synthese selbst aufgebaut werden. Polanyi bezeichnet den Akt der Integration als unspezifizierbar - er ist unbeschreibbar. Überdies besteht die Gefahr, als Lehrender den Fokus des Lernenden auf die Subsidien einzufrieren, von denen er eigentlich auf etwas anderes achten soll, was ihm in dem Moment jedoch noch nicht zugänglich gemacht werden kann. Explikation ist keine Einverleibung und kann diese sogar behindern. Das Einfrieren der Aufmerksamkeit auf die Subsidien (clues) wird von Neuweg als clue-freezing bezeichnet. Viertens wird eine „Explikation distaler Entitäten über die Angabe subsidiärer Einzelheiten […] der Übersummativität einer distalen Bedeutung und der Flexibilität des Könnens nicht gerecht“ (ebd.). Durch subsidiäre Nutzung ist ein Könner beispielsweise in der Lage, in - werden sie fokal betrachtet - verschiedenen Elementen den gleichen Sinn erkennen. Es ist nicht möglich, ein Schema (im Sinne Polanyis) zu explizieren. (Vgl. ebd., S. 234ff.) Lernen kann, folgt man Polanyis Gedankengängen, wegen der Nichtspezifi‐ zierbarkeit des Integrationsaktes und der heuristischen Dimension maximal teilexplizit sein. Es handelt sich dann um „ein Lernen mit zeitweiliger fokaler Aufmerksamkeit auf p und auf Selbst- oder Fremdinstruktionen, die p mit d in Verbindung setzen“ (ebd., S. 245). Die explizite Lernbedingung arbeitet mit Definitionen und Maximen. Unter implizitem Lernen hingegen ist ein Lernen zu verstehen, bei dem die Aufmerksamkeit beständig auf d liegt, ohne dass p fokal wird. (Vgl. ebd.) Übertragung der Theorie Polanyis auf die Textproduktion Bevor der Textproduktionsprozess mit Hilfe von Polanyis Wissenstheorie be‐ leuchtet wird, sei der Blick auf implizites Wissen und Lernprozesse bei der Textproduktion gerichtet. Dazu werden für diese Übertragung bedeutsame 186 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="187"?> 90 Hier verweisen Augst et al. (2007) auf Eigler et al. (1987/ 1990) sowie Ortner (2000). Überlegungen von Dehn (1993, 1996, 2005, 2009), Pohl und Steinhoff (2010), Augst et al. (2007) und Jantzen (2010) herangezogen. Nach Dehn lassen sich Schülertexte in zweierlei Hinsicht als Ergebnisse von Lernprozessen bezeichnen: Zum einen sind sie „Ergebnis zurückliegender Lernprozesse [Hervorh. d. Verf.] (der Erfahrung, der Beobachtung anderer Texte), die im Schreiben ihren Niederschlag finden“ (Dehn 1996, S. 177). Diese „sind vorstellbar als Ergebnis von Wahrnehmung, von Beobachtung und Erfahrung, in Form von Nachahmung und Adaption, von Variation und Kreation“ (Dehn 1993, S. 79). Zum anderen sind Schülertexte auch „Ergebnis von Prozessen, die sich im Akt des Schreibens vollziehen, in der Notwendigkeit, eine Struktur für die Schreibidee zu finden, Beziehungen zu formulieren“ (ebd.) sowie in der Notwendigkeit zu ordnen (vgl. ebd.). Beiden Aspekten lässt sich u. a. der Gebrauch impliziten Musterwissens beim Textschreiben zuordnen: Erstens wird dieses durch Erfahrung mit anderen Texten erworben (vgl. I.5.2) und zweitens dienen Muster als Material für den Transformationsprozess vom Gedanken zum Text (vgl. Dehn 2005, S. 11ff.). Der zweite Aspekt Dehns lässt sich auch mit dem von Pohl und Steinhoff (2010) erläuterten epistemischen bzw. lernenden Schreiben beleuchten, das Lernprozesse beim Schreiben meint, sowie mit den von Jantzen (2010) beschriebenen Lernprozessen beim Überarbeiten von Texten. Pohl und Steinhoff (2010) nehmen - im Zusammenhang mit dem von ihnen entfalteten Textformen-Begriff - auf die von Augst et al. (2007) formulierte Kritik an Bereiters Schreibentwicklungsmodell Bezug und auf die damit verbundene Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Ausrichtungen des epistemischen Schreibens (vgl. Pohl/ Steinhoff 2010, S.-11f.). Bereiter nahm als höchste Stufe das ‚eptistemic writing‘ an, bei dem der Schrei‐ bende das Schreiben zur Erweiterung seiner kognitiven Komplexitätszustände nutzt. Schreiben wird zu einem Wissen schaffenden, oft auch zu einem Wissen strukturie‐ renden […] Prozess. (Augst et al. 2007, S.-364) 90 An der Aussage, dass epistemisches Schreiben die höchste Stufe der Kompe‐ tenzentwicklung sei, üben Augst et al. (2007) Kritik (vgl. Pohl/ Steinhoff, S. 11). Nach Augst et al. (2007) ist davon auszugehen, dass Grundschulkinder zwar ihre Schreibaktivitäten nicht so bewusst steuern können, um sich „neues“ Wissen erschreiben zu können, allerdings erhalte auch das Schreiben von Grundschulkindern eine epistemische Komponente (vgl. Augst et al. 2007, S.-364). 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 187 <?page no="188"?> Dennoch aber ergibt sich eine deutliche Parallele zwischen dem, was Bereiter erst für die höchste Stufe vorsieht, und dem, was sich an den Anfängen der Literalitäts‐ entwicklung zeigt: Während die epistemische Komponente von kompetenten Autoren (mehr oder weniger kontrolliert) auf Sach- und Erkenntnisfragen ausgerichtet werden kann, führt sie bei den Grundschülern dazu, dass diese sich grundlegende Aspekte des Schreibauftrags (u. a. in der Sachdimension) überhaupt erst erschreiben. Bei ihnen ist jene epistemische Dimension auf den Aneignungsgegenstand selbst bezogen […] [Hervorh. im Original]. (Augst et al. 2007, S.-364f.) Augst et al. begreifen daher das epistemische Schreiben als „Bedingung der Mög‐ lichkeit von Schreibentwicklungsvorgängen überhaupt [Hervorh. im Original]“ (ebd., S. 365). Bereiter orientiert seinen Begriff des epistemischen Schreibens an Lernvorgängen, die sich auf den Schreibgegenstand oder das Schreibthema beziehen, während Augst et al. auch Lernvorgänge miteinbeziehen, die auf den Aneignungsgegenstand, also auf die sich entwickelnde Textsortenkompetenz rückwirken, so Pohl und Steinhoff (vgl. Pohl/ Steinhoff 2010, S. 10f.). Es ist demnach zwischen zwei verschiedenen Ausrichtungen von Lernprozessen beim Schreiben zu unterscheiden: Einerseits gibt es Lernvorgänge, bei denen das Schreiben als Medium dient und der Lerngegenstand außerhalb des Schreibens liegt. Anderseits gibt es Lernvorgänge, für die gilt, dass das Schreiben nicht nur Medium, sondern auch Gegenstand des Lernens ist. Hierbei wirken „die epistemischen Möglichkeiten des Schreibens […] gewissermaßen zurück auf das Schreibprodukt selbst“ (ebd., S.-12). (Vgl. ebd.) Aus der Rekursivität des Schreibprozesses ergeben sich nach Pohl und Steinhoff die „epistemischen Möglichkeiten des Schreibens“ (ebd., S. 13), denn aus ihr „erwachsen die Optionen zur ‚allmählichen Verfertigung der Gedanken‘“ (ebd.). Durch diese Rekursivität wird Schreiben „zu einem Medium mit einzigartigem Aneignungspotential“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Dass Hayes und Flower bereits produ‐ zierte Textteile zum Aufgabenfeld zählen, zeigt, dass sich das ursprüngliche Problem, das mit dem writing assignment gestellt wurde, beim Schreiben verändert. So bringen bereits produzierte Textteile den Schreiber einer Ge‐ samtlösung näher, werfen aber gleichzeitig neue Probleme auf. Dies erklärt, warum Schreiben als Problemlöseprozess mit „ill-defined problems“ gesehen wird. Diese Konstellation des dialektischen Problemlösens ist ein Grund dafür, warum der Schreiber mit einer rekursiven Verschaltung der Prozessphasen re‐ agiert. Schreibplan, Formulierungsweise und Überarbeitungsverhalten werden dabei ständig an die neue Problemkonstellation angepasst. Dies kann sogar dazu führen, dass sich der Schreiber etwas erschreibt, was er zu Beginn des Schreibprozesses noch nicht intendieren konnte. (Vgl. ebd., S. 13f.) Epistemische Prozesse bzw. Lernprozesse werden folglich aufgrund dieser besonderen Eigen‐ 188 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="189"?> schaften des Schreibprozesses, nämlich Rekursivität und dialektisches Problem‐ lösen, evoziert. Sie können einerseits auf den Schreibgegenstand (das Thema bzw. die Sache), andererseits aber auch auf das Schreibmedium (die sprachliche Seite des Textes) ausgerichtet sein und das sowohl beim Schreibexperten als auch beim Schreibnovizen. (Vgl. ebd., S. 16) Ergänzend sei auf Dehns (2009) Überlegung hingewiesen, ob zum „Erschreiben“ von Textsorten, insbesondere bei Erzählung und Argumentation, „nicht auch das Verfügen über kulturelle Muster gehört, also über literarische Elemente des Anfangs, der Steigerung, der Entgegensetzung und über mediale Formen, was z. B. die zeitlichen […] Sprünge der Handlungsabfolgen betrifft“ (Dehn 2009, S.-168) (vgl. ebd.). Nach Jantzen (2010) können Überarbeiten und Überarbeitungen als „‚Medium des Lernvorgangs‘“ (Pohl/ Steinhoff 2010, zit. n. Jantzen 2010, S.-158) betrachtet werden. Wie Pohl und Steinhoff eine Unterscheidung zwischen solchen Lern‐ prozessen treffen, die auf das Schreibmedium und solchen, die auf den Schreib‐ gegenstand bezogen sind, so unterscheidet auch Jantzen (2010) zwischen Lernen, das sich auf eine angestrebte Textsorte oder vorgegebene Schreibziele bezieht (vgl. Jantzen 2010, S. 158) - und somit auf das Schreibmedium - und solchem Lernen, das sich auf andere Gegenstände bezieht (vgl. ebd.). Jantzen sieht Überarbeiten daher als „Aneignungs- und Entwicklungsprozess“ (ebd.) (vgl. ebd.). Aufbauend auf die vorangegangenen Überlegungen zum Schreibprozess, zu Musterhaftigkeit, zu Lernprozessen bei der Textproduktion und zu implizitem Wissen erfolgt nun die Übertragung der Wissenstheorie Polanyis auf den Schreibbzw. Textproduktionsprozess. Da es sich beim Textschreiben, folgt man Polanyis Logik, um eine implizite Integration handelt, findet der Aufbau einer impliziten Triade statt. Es folgt ein Versuch, Aspekte der Wissenstheorie Polanyis auf das Textschreiben zu übertragen, wobei der Schwerpunkt auf der Funktion von Mustern beim Text‐ schreiben liegt. Dass Muster eine zentrale Bedeutung für die Textproduktion haben, wurde im Kapitel Muster und Textproduktion (Kapitel I.5) herausgear‐ beitet. So baut sich beispielsweise nach Kristeva ein Text „als Mosaik von Zitaten auf “ (Kristeva 1976, S. 348), während Muster (z. B. erlebte Rede, Metapher, Chiasmus und Geschichtenform) nach Dehn et al. Texte konstituieren (vgl. Dehn et al. 2011, S.-65). Das Textschreiben lässt sich der Gruppe impliziter Triaden zuordnen, bei der das Subjekt eine distale Handlungsabsicht umzusetzen versucht und nicht zu der Gruppe, bei der das Subjekt einen distalen Term erkennt. Das zu erreichende Ziel beim Textschreiben als Problemlösen ist nämlich der zu schreibende Text (vgl. I.3.1). Demnach werden beim Textschreiben Subsidien, proximale Elemente, 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 189 <?page no="190"?> durch den distalen Term evoziert. Um den proximalen und den distalen Term in der impliziten Triade beim Textschreiben, die in dem angedeuteten Verhältnis zueinanderstehen, nun bestimmen zu können, wird der Blick zunächst auf die Grundstruktur des impliziten Wissens gerichtet. Im Akt des impliziten Wissens wird der proximale Term als Instrument benutzt, um etwas anderes aufzuschließen oder zu erreichen (vgl. Neuweg 2004, S. 195). Wie in Kapitel I.5.2 zu Mustern und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive dargestellt bezeichnet Dehn Muster als Material des Transformati‐ onsprozesses vom Gedanken im Kopf zum Papier (vgl. Dehn 2005, S. 11-13). Muster fungieren somit als Mittel bzw. Instrument, um etwas anderes zu erreichen, nämlich um einen Gedanken zu Papier zu bringen. Somit lassen sich als erstes Muster dem proximalen Term zuordnen, mit Hilfe derer etwas anderes erreicht werden soll, nämlich Gedanken auf dem Papier zum Ausdruck zu bringen. Ein weiterer Grund, weshalb Muster dem proximalen Term der impliziten Triade beim Textschreiben zugeordnet werden können, liegt darin, dass das Subjekt p einverleibt (vgl. Neuweg 2004, S. 197). Dehn schreibt nämlich im Zusammenhang mit ihrem Musterbegriff, dass Vorgefundenes internalisiert wird (vgl. Dehn 2005, S. 13) - dies könnte Polanyis Modell der Einverleibung entsprechen. Des Weiteren erwähnt sie ein Beispiel, in welchem sich ein Kind „ein äußeres Muster angeeignet, sozusagen ‚einverleibt‘ hat“ (ebd., S.-14). Muster lassen sich dem großen Teil der Subsidien zuzuordnen, die implizit gelernt worden sind: Sie werden implizit mit der Texterfahrung erworben und aus Texten übernommen - nach Dehn vollzieht sich Musterbildung als impli‐ zites Lernen (vgl. Dehn 2005, S. 24). Polanyi rechnet nämlich zur subsidiären Komponente auch Erfahrungen aus der Vergangenheit, die das Subjekt zum Großteil nicht mehr erinnern kann (Neuweg 2004, S. 193). Dies korrespondiert mit Dehns Aussage, dass sich Muster auf Gehörtes, Gelesenes und Gesehenes beziehen und dass zurückliegende Lernprozesse „im Schreiben ihren Nieder‐ schlag finden“ (Dehn 1999, S.-134). Entsprechend der Zuordnung der Muster zum proximalen Term sollen nun auch die anderen beiden Elemente der impliziten Triade beim Textschreiben näher bestimmt werden. Trivial ist dabei die Annahme, dass das Subjekt der Produzent des Textes ist. Um den distalen Term beim Textschreiben bestimmen zu können, ist es hilfreich, einen genaueren Blick auf die drei verschiedenen Funktionen, die der proximale Term haben kann, zu werfen, da die Funktion des proximalen Terms die Art der impliziten Triade gewissermaßen charakterisiert. Da Muster beim Textschreiben nicht interpretiert werden, könnte p entweder als Werkzeug verwendet werden oder aber aktiv hervorgebracht werden und als Mittelhandlung fungieren. Zu den proximalen Termen, die als nicht-materi‐ 190 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="191"?> 91 An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass das Textschreiben als Problem‐ löseprozess nicht als „geübte Handlung“ verstanden wird. Die Ausführungen zu den „geübten Handlungen“ sollen lediglich der Bestimmung des distalen Terms bei der impliziten Triade beim Textschreiben dienen. elle Werkzeuge verwendet werden, zählt Neuweg jedoch Bezugsrahmen wie wissenschaftliche Theorien oder moralische Lehren, welche als intellektuelle Werkzeuge verwendet werden oder Erfahrungen aus der Vergangenheit, die in interpretativen Prozessen genutzt werden (vgl. Neuweg 2004, S. 191). Da beim Textschreiben Muster aktiv hervorgebracht werden, was sich an ihrem Erscheinen auf dem Papier erkennen lässt, ließe sich das Textschreiben somit am ehesten dem Fall zuordnen, bei dem p als Mittelhandlung fungiert und aktiv hervorgebracht wird. Es sollen nun zwei Beispiele von impliziten Triaden, die Neuweg tabellarisch diesem Fall zugeordnet hat (vgl. Tabelle in Neuweg 2004, S. 189-191), in den Blick genommen werden, um anschließend d analog zu diesen Beispielen näher zu bestimmen. Bei einer „geübten Handlung 91 “ werden die Mittel (Elemente der Situation bzw. Handlungen) als proximaler Term bezeichnet, während der Zweck, der „plane of operation“ bzw. die Ar‐ beitsergebnisse, dem distalen Term zugeordnet werden: Der Bleistift fungiert beispielsweise als Mittel (p), während d „der zu schreibende Gedanke“ (Neuweg 2004, S. 191) ist. (Vgl. ebd.) Beim Sprechhandeln wirken „motorische Kompo‐ nenten und geäußerte Symbole“ (ebd.) subsidiär, während „auszudrückende und ausgedrückte Gedanken [Hervorh. d. Verf.]“ (ebd.) den distalen Term bilden (vgl. ebd.). Der distale Term kann somit einerseits der zu erfüllende Zweck einer Handlung und anderseits ihr Ergebnis sein. In Anlehnung an diese Beispiele ergeben sich bei der Bestimmung von d beim Textschreiben zwei Möglichkeiten: Handelt es sich bei d um das Ergebnis einer Handlung, so müsste der fertige Text analog zu den „ausgedrückten Gedanken“ den distalen Term in der impliziten Triade bilden. Wird d jedoch als der Zweck einer Handlung gesehen, wäre die Intention des Schreibers bzw. die Funktion des Textes als d zu beschreiben. Auch ließe sich analog zum Begriff „auszudrückender Gedanke“ dem distalen Term im Falle des Textschreibens die Schreibidee, für die im Schreibprozess eine sprachliche Form gefunden werden muss, zuordnen. „Die Schreibidee ist das Bild, das sich der Schreibende vom Text macht, bevor und während er schreibt. […] Die Schreibidee ist der Fokus, der Brennpunkt, der Textaussage“ (Dehn/ Schüler 2010, S. 25). Weiter bezeichnen Dehn und Schüler die Schreibidee in der Terminologie Nussbaumers als Text im Kopf des Schreibenden (vgl. ebd.). Unter Bezug auf Kretschmer (2007) weisen sie darauf hin, dass „‚[v]on der Schreibidee zum Text‘ […] nicht nur eine inhaltliche Idee, sondern auch eine 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 191 <?page no="192"?> Vorstellung von der Form und deren Realisierung auf dem Papier […] [meint]“ (Dehn/ Schüler 2010, S. 25) (vgl. ebd.). In der vorliegenden Studie soll d die Schreibidee bezeichnen, für die eine sprachliche Form gefunden werden muss. Diese ist eng mit der Funktion des Textes verknüpft, dem Schreibziel des Schreibers. Ein Grund, der diese Ent‐ scheidung rechtfertigt, liegt in der Notwendigkeit, den für den Schreibprozess essenziellen Vergleich von intendiertem Text und bereits geschriebenem Text auf die implizite Triade beim Schreiben zu beziehen. Diesen Überlegungen zufolge besteht die implizite Triade beim Textschreiben nun aus dem Schreiber (Subjekt), der Schreibidee, für die eine sprachliche Form gefunden werden soll (distaler Term), und den Mustern (proximales Gefüge), den Mitteln, mit dessen Hilfe dieser Zweck zu erreichen ist und die dabei aktiv hervorgebracht werden sollen. Nach dieser grundlegenden Zuordnung der drei die implizite Triade bil‐ denden Elemente wird nun der Akt der impliziten Integration beim Text‐ schreiben genauer betrachtet. Dabei sollen auch die drei Phasen, die beim Aufbau der impliziten Triade bei impliziten Integrationen mit heuristischem Mo‐ ment, wozu Schreiben als Problemlöseprozess zählt, hintereinander ablaufen, auf den Schreibprozess bezogen werden: Die antizipative Intuition, die Imagina‐ tion und die finale Intuition. Die antizipative Intuition, die erste Phase beim Aufbau der impliziten Triade, lässt sich als Problemlösemotivation beschreiben. In der Phase der Imagination greift das Subjekt auf das Ergebnis der Integration vor. Übertragen auf das Textschreiben müsste somit ein imaginativer Vorgriff auf den zu schreibenden Text geschehen. Dies deckt sich mit Erkenntnissen über das Schreiben als Problemlöseprozess: Vor dem Schreiben existiert im Kopf des Schreibers vom zu schreibenden Text nur eine ungefähre Vorstellung, die erst während des Schreib‐ prozesses an Deutlichkeit gewinnt. Das Subjekt greift somit auf das Ergebnis des Textproduktionsprozesses vor, indem es eine Schreibidee (im Sinne Dehns) entwickelt. Der Schreiber macht sich ein Bild vom Text, er hat eine inhaltliche Idee und eine Vorstellung von der Realisierung auf dem Papier (vgl. Dehn/ Schüler 2010, S. 25). Die Imagination löst Polanyis Modell zufolge die Evokation oder Interpretation der Subsidien aus (vgl. Neuweg 2004, S. 211). Übertragen auf das Textschreiben entspräche dies der Evokation angemessener Muster (p) durch den Blick auf die Schreibidee. Da es sich beim Textschreiben jedoch meist um einen Problemlöseprozess mit ausgedehnter zeitlicher Erstreckung handelt, entspricht es nicht dem Fall, bei dem die Imagination ausschließlich auf den distalen Term gerichtet ist. Das Textschreiben ist dem Fall zuzuordnen, 192 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="193"?> 92 Die Aussage der Schülerin kann keinesfalls als Beleg für die Gültigkeit der Aussage über das Wechselspiel beim Textschreiben gelesen werden. Es wird lediglich auf die Verein‐ barkeit der dargestellten Überlegungen mit der Aussage der Schülerin hingewiesen. bei dem ein Wechselspiel von Analyse und Integration stattfindet. Der finalen Intuition als Evokation der Subsidien, die dem Subjekt widerfährt, entspricht beim Textschreiben das bereits erwähnte Hervorbringen der Muster. Beim Textschreiben findet ein Pendeln zwischen den Subsidien und dem dis‐ talen Term statt. Analog zum Wechselspiel, das bei Lernprozessen stattfindet (vgl. Neuweg 2004, S. 352f.), lässt sich das Pendeln zwischen p und d beim Textschreiben wie folgt darstellen. Die Subsidien werden einerseits verwendet, um d aufzubauen: Mit Hilfe der Mittel bildet das Subjekt die sprachliche Form für die Schreibidee d. Anderseits werden die verwendeten Subsidien im Lichte von d, der Schreibidee, bestätigt oder bezweifelt. Liegt der letztere Fall vor, führt dies meist zu einer Überarbeitung in Form von einer Ersetzung oder Veränderung. Eine neue implizite Integration findet statt, indem eine neue Formulierung evoziert wird. Dies stimmt auch mit einer Aussage einer Zweitklässlerin (Laura) in einer Befragung von Swantje Weinhold (2005) zur Frage „Wie schreibst du einen Text? “ überein: 92 „Also, ich stell mir das erstmal vor, dann schreibe ich die Geschichte dazu, denk mir ein paar Wörter aus und guck, ob die dazu passen. Und wenn das nicht passt, radiere ich das wieder weg.“ (Weinhold 2005, S. 81f.) (Vgl. ebd.) Das Kind stellt sich erst einmal etwas vor, es macht einen imaginären Vorgriff auf die Schreibidee. Dies löst die Evokation entsprechender Subsidien aus - das Kind notiert etwas. Anschließend prüft das Kind, ob die Worte zur Schreibidee passen - es prüft die verwendeten Subsidien im Lichte von d. Dies führt eventuell zu einer Korrektur - das Kind löscht das Geschriebene. Die Prozesse, die beim Wechselspiel zwischen Analyse und Integration stattfinden, lassen sich mit den Aussagen Dörners zum dialektischen Problemlösen (vgl. Dörner 1976, S. 97; vgl. Kapitel I.3.1) vereinbaren: Es finden Konstruktionsprozesse (d wird durch p konstituiert, indem durch d p evoziert wird) und Prüfprozesse (im Lichte von d wird p geprüft) statt. Aber wird beim Textschreiben nicht auch manchmal innegehalten und intensiv nach Formulierungen oder sprachlichen Mustern für einen auszudrückenden Gedanken gesucht, bevor etwas niedergeschrieben wird? Auch dafür liefert das Wechselspiel von Analyse und Integration eine Erklärung. Da Überarbei‐ tungen, wie Hayes und Flowers Schreibprozessmodell zeigt, an jeder Stelle des Schreibprozesses stattfinden können - auch schon bei unausgesprochenen For‐ mulierungen im Kopf (Prätextrevision) - kann auch die Wahl des sprachlichen Mittels, das letztendlich auf dem Papier erscheint, mit diesem Wechselspiel 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 193 <?page no="194"?> erklärt werden. Kommt dem Schreiber ein sprachliches Mittel in den Sinn, prüft er es anhand der Funktion, die es zu erfüllen hat (im Licht von d), verwirft es eventuell, wenn es dem Sinn nicht ganz entspricht, und sucht weiter. Bei einem heuristischen Akt versteht Polanyi die imaginative Anstrengung als Suchbewegung. Allerdings, so mag an dieser Stelle eingewendet werden, kann der komplexe Vorgang des Textschreibens als Problemlöseprozess nicht auf das Evozieren von Mustern durch den imaginären Vorgriff auf den zu schreibenden Text und das Prüfen dieser reduziert werden. Muster, so viele Zuordnungen verschiedener Elemente der offene Musterbegriff Dehns auch zulässt, können nicht das Einzige sein, was beim Textschreiben hervorgebracht wird. Ein geschriebener Text besteht nicht ausschließlich aus Mustern. Überdies gibt es noch weitere Faktoren, die im Schreibprozess auf die Bildung des Textes wirken. Um mit dem Übertragungsversuch Polanyis Modell auf das Textschreiben die Wirk‐ lichkeit des Textschreibens präziser abzubilden, bedarf der proximale Term einer Erweiterung - um proximale Elemente, die aktiv hervorgebracht werden, aber insbesondere auch um Elemente, die diesen Prozess hintergrundbewusst unterstützen. Bei der letzteren Gruppe würde p als (intellektuelles) Werkzeug genutzt werden (vgl. Neuweg 2004, S. 189), ähnlich wie „Bezugsrahmen“ und Erfahrungen aus der Vergangenheit. Bei Betrachtung der impliziten Triade beim Textschreiben stellen sich verschie‐ dene Fragen: Wie ist es dem Schreiber möglich, zu prüfen, ob das gebrauchte Muster die intendierte Funktion im zu schreibenden Text erfüllt bzw. ob das verwendete Muster der Schreibidee angemessen ist? Wie ist es möglich, dass im imaginären Vorgriff auf die Schreibidee überhaupt angemessene Muster evoziert werden können? Ist nicht eine Voraussetzung dafür, dass dem Schreiber die Funktion des verwendeten Musters mindestens implizit bewusst ist? Daher wird nachfolgend die Grundstruktur und der Erwerb impliziten Musterwissens in Bezug auf Polanyis Modell in den Blick genommen. Da sprachliche Muster nach Kruse und Kruse von Kindern gebraucht werden, wenn diese das Gefühl haben, mit ihnen eine bestimmte Wirkung erzielen zu können (vgl. Kruse/ Kruse 2007, S. 31), liegt die Annahme nahe, dass bei Schreibern eine, in der Terminologie Polanyis ausgedrückt, „stumme Relation“ zwischen einem Muster und seiner Wirkung besteht. Unter Einbezug der Aussage Polanyis, dass der distale Term in der „Von-zu-Struktur“ des impliziten Wissens als Bedeutung des proximalen Terms bezeichnet werden kann (vgl. Neuweg 2004, S. 199), lässt sich die Funktion bzw. Wirkung des Musters dem distalen Term zuordnen, der als Bedeutung vom proximalen Term, dem Muster, 194 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="195"?> 93 Der Begriff Textmuster kann in diesem Zusammenhang als Synonym für Dehns Begriff des literarischen Musters verstanden werden (vgl. dazu Kapitel I.5.2 zu Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive). bezeichnet werden kann. Es handelt sich dabei um eine stumme Relation, da dem Textproduzenten die Beziehung zwischen dem Muster und seiner Wirkung nicht bewusst ist. Kruse erwähnt die Annahme, „dass Kinder mit der Texterfahrung zugleich Textmuster erwerben, die sie intuitiv gebrauchen, sie mischen und abwandeln“ (Kruse 2006a, S. 145), 93 was die These stützt, dass das Wissen des Kindes über die Beziehung zwischen Muster und Funktion nur implizit ist. Beim Erwerb des impliziten Musterwissens muss das Kind das Muster mit der Wirkung, die es bei der Begegnung mit ihm erfahren hat, unbewusst verknüpft haben. Das Kind verfügt über ein implizites Musterwissen, das durch einen impliziten Musterbildungsprozess erworben wurde. Zwischen der skizzierten Übertragung von Polanyis Grundstruktur impliziten Wissens auf implizites Musterwissen und Feilkes Konzept der Textprozeduren besteht eine Nähe: So kann der typische Ausdruck der Textprozedur (z. B. Es war einmal (vgl. Feilke 2017, S. 53)) dem proximalen Term zugeordnet werden und das Handlungsschema (z. B. „Eröffnung eines Märchens“ (ebd.)) dem distalen Term. Dabei lassen sich alle typischen Ausdrücke als Muster bezeichnen, jedoch nicht alle Muster als typische Ausdrücke, da der Musterbegriff der vorliegenden Arbeit weiter gefasst ist. Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich als Konsequenz, dass eine Erweiterung des proximalen Gefüges notwendig ist: So müsste Musterwissen als weiteres Element zum proximalen Term hinzugefügt werden, das hinter‐ grundbewusst zur Erreichung der distalen Handlungsabsicht genutzt wird. Konsequenterweise müsste dann allerdings auch Textwissen im Allgemeinen zum proximalen Term hinzugefügt werden, da dieses auch, ohne bewusst zu werden, beim Textschreiben wirksam ist (vgl. Merklinger 2014, S. 4). Nach dem Schreibprozessmodell von Hayes und Flower ist die Lösung des Problems (der zu schreibende Text) auch abhängig vom Langzeitgedächtnis des Autors. Dieses enthält das gespeicherte Wissen zum Textgegenstand, zu möglichen Rezipientengruppen sowie zu Schreib- und Textmustern. Des Weiteren lassen sich literale Prozeduren der subsidiären Komponente zuordnen. Wie in Kapitel I.5.2 dargestellt werden Muster mit Hilfe von literalen Prozeduren in die syntaktische Organisation des Textes eingebunden. Als sprachliches Verfahren zur Textkonstitution (vgl. Feilke 2010, S. 1) können literale Prozeduren auch als „vom Subjekt ausgeführte […] innere Operationen“ (Neuweg 2004, S. 192) oder „intellektuelle Werkzeuge im Gebrauch“ (ebd., S. 193) beschrieben werden 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 195 <?page no="196"?> 94 Der Begriff „bereits produzierte Textteile“ wurde von Pohl und Steinhoff übernommen, die diesen in Anlehnung an Hayes und Flowers „text produced so far“ bilden (vgl. Pohl/ Steinhoff 2010, S.-13). - zwei Aspekte, die, so Neuweg, in einem mentalen Akt hintergrundbewusst sein können (vgl. ebd., S. 192). Da beim Erwerb prozeduralen Wissens „der Gebrauchszusammenhang selbst verstanden“ (Feilke 2010, S. 3) werden muss, ist zu schließen, dass sie durch eine implizite Integration erworben werden. Hintergrundbewusst bzw. subsidiär können in der impliziten Triade des Wei‐ teren auch allgemein vergangene Lernerfahrungen mit Texten sein, an die sich das Subjekt oft nicht erinnern kann. Polanyi rechnet nämlich zur subsidiären Komponente auch Erfahrungen aus der Vergangenheit, die das Subjekt zum Großteil nicht mehr erinnern kann (vgl. Neuweg 2004, S. 193). Zu den Subsidien, die nicht (angemessen) verbalisierbar sind, lässt sich überdies das Sprachge‐ fühl rechnen. Die Aussage, dass verwendete Subsidien im Lichte von d, der Schreibidee geprüft werden, lässt die Frage aufkommen, wie es dem Subjekt denn überhaupt möglich ist, bereits Geschriebenes auf seine Angemessenheit in Bezug auf die Schreibintention zu bewerten. Kruse (2006) weist darauf hin, dass sich Revisionen „aus inneren Bewertungsmustern für das, was aufs Papier kommt, ab[leiten]“ (Kruse 2006b, S. 16). Diese werden mit Texterfahrung gewonnen. (Vgl. ebd.) Somit ließen sich „innere Bewertungsmuster“ ebenfalls als „intellektuelle Werkzeuge im Gebrauch“ (Neuweg 2004. S. 193) zum proximalen Term rechnen. Der Fokuswechsel zwischen dem proximalen und dem distalen Term erinnert im Zusammenhang mit dem Schreibprozess an den Vergleich zwischen inten‐ diertem und realisiertem Text, das konstitutiv für den Revisionsprozess ist (vgl. dazu die Ausführungen zum CDO-Modell nach Bereiter/ Scardamalia 1987, S. 266f.; Kapitel I.3.1). Die im Zusammenhang mit dem Wechselspiel von Analyse und Integration erwähnte Prüfung beschränkt sich folglich nicht nur auf die hervorgebrachten Muster, sondern umfasst auch den ganzen geschriebenen Text. Da der distale Term beim Textschreiben in diesem Übertragungsversuch durch die Schreibidee, den intendierten Text, repräsentiert wird, müssten, der Logik von Polanyis Erkenntnismodell folgend, „bereits produzierte Textteile 94 “ ein weiteres Element des proximalen Gefüges darstellen. Ein Grund dafür besteht darin, dass bereits realisierte Textteile wie Muster im Schreibprozess aktiv hervorgebracht worden sind. Nun ließe sich einwenden, dass Muster Mittel sind, um den Text zu konstituieren, während es sich beim „bereits geschriebenen Text“ um ein Ergebnis des Schreibvorgangs handelt, der unter anderem aus diesen Mustern konstituiert wird. Wie bereits aus Beispielen 196 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="197"?> Polanyis für die implizite Triade geschlossen wurde, kann d Zweck und Ergebnis einer Handlung sein kann (vgl. Neuweg 2004, S.-191). Somit erscheint es unge‐ wöhnlich, das Ergebnis einer Handlung, also „bereits geschriebene Textteile“, als p zu bezeichnen anstatt als d. Dem ist allerdings entgegenzusetzen, dass bereits geschriebene Textteile zum einen nicht den Text in seiner endgültigen Fassung meinen, sondern nur eine Momentaufnahme im Entstehungsprozess, und zum anderen, dass sie Aussagen Pohl und Steinhoffs zufolge den Schreiber der Gesamtlösung näherbringen (vgl. Pohl/ Steinhoff 2010, S. 10f.), also dem Umsetzen seiner Schreibidee. Zudem verändern bereits geschriebene Textteile, so Pohl und Steinhoff in Bezug auf Hayes und Flower, das ursprüngliche Problem, den zu schreibenden Text. In der Terminologie Polanyis verändern „bereits geschriebene Textteile“ demnach d. Die Tatsache, dass Hayes und Flower sie dem Aufgabenumfeld zuordnen und ihnen somit einen Einfluss auf den Schreibprozess zuweisen, rechtfertigt die Zuordnung der bereits verfassten Textteile zum proximalen Term, allerdings in der Funktion eines hintergrund‐ bewusst wirkenden (intellektuellen) Werkzeugs. Für die Übertragung bedeutet dies Folgendes: Jedes Hervorbringen eines Musters bzw. einer Formulierung wird durch die implizite Integration, meist im Wechsel mit einer Analyse, ausgeführt. Durch jede neue Formulierung wird der bereits geschriebene Text erweitert. Diese bereits geschriebenen Textteile beeinflussen als einverleibtes proximales Element, ähnlich wie Textwissen, Sprachgefühl und Musterwissen, das weitere Evozieren von Mustern, Wörtern und syntaktischen Strukturen. Diese Überlegungen führen in das epistemische Moment des Schreibens, das in Bezug auf Polanyis Modell erörtert wird. Trotz des dargestellten Einwandes scheinen somit mehr Gründe dafür zu sprechen, „bereits produzierte Textteile“ dem proximalen Term zuzuordnen. Diese Zuordnung wäre aber unter Einbezie‐ hung weiterer Fakten zum proximalen Term noch einmal kritisch zu prüfen. An dieser Stelle lässt sich der im Abschnitt zur impliziten Triade beim Textschreiben bereits angekündigte Grund nennen, warum es sinnvoller ist, den distalen Term als „den zu schreibenden Text“ und nicht als „geschriebenen Text“ zu bezeichnen. Wäre d der „geschriebene Text“, so müsste, um das Wechselspiel zwischen intendiertem und geschriebenem Text in die Triade zu integrieren, der „zu schreibende Text“, die Schreibidee bzw. Funktion des Textes, dem proximalen Term zugeordnet werden. In diesem Fall würde die Aussage über die Beziehung zwischen p und d nicht mehr stimmen: Das fokale Ziel - in diesem Fall „der geschriebene Text“ kann nicht als Bedeutung des proximalen Terms - in dem Fall des intendierten Textes - bezeichnet werden. Zu den aktiv hervorgebrachten proximalen Elementen könnten abgesehen von Mustern und bereits geschriebenen Textteilen auch Wörter und syntaktische 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 197 <?page no="198"?> 95 Dehn nimmt dabei Bezug auf Aussagen von Lew S. Wygotski (1969). Strukturen gerechnet werden. Dies kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht erschöpfend untersucht werden. Somit lassen sich neben den implizit erworbenen Mustern, auf die der Schreiber beim Verfassen eines Textes zurück‐ greift, auch Wörter und syntaktische Strukturen und bereits realisierte Textteile zählen (aktiv hervorgebrachte subsidiäre Elemente) sowie literale Prozeduren, Textwissen, (Text-)musterwissen, zurückliegende Erfahrungen mit Texten, das Sprachgefühl und innere Bewertungsmuster (als Werkzeug genutzte subsidiäre Elemente) zum proximalen Term der impliziten Triade beim Textschreiben zählen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass diese Zuordnung von Elementen zum proximalen und distalen Term nicht den Anspruch auf Vollstän‐ digkeit erhebt. Es wäre zu prüfen, ob noch weitere Aspekte aus Hayes und Flowers Modell auf das Modell der impliziten Triade beim Textschreiben zu beziehen wären. Festzuhalten sei: Beim Textschreiben muss das Subjekt (S) für die Schreibidee, für das, was verdichtet vorliegt und möglicherweise teilweise ein Denken in reinen Bedeutungen ist (vgl. Dehn 2005, S. 11 95 ), eine sprachliche Form und eine Realisierung auf dem Papier finden. Dies ist der Zweck und die Hand‐ lungsabsicht. Durch den imaginativen Vorgriff auf den zu schreibenden Text (d), werden aktiv Mittel (p), unter anderem Muster, Wörter und syntaktische Strukturen, hervorgebracht, welche in einer Analyse auf ihre Angemessenheit zum Ausdrücken der Schreibintention geprüft und gegebenenfalls verworfen und in einer neuen impliziten Integration durch andere Mittel ersetzt werden. Der Prozess wird durch literale Prozeduren sowie vergangene Texterfahrungen, Musterwissen und das Sprachgefühl hintergrundbewusst unterstützt. Dabei wirkt auch der während des Schreibprozesses entstehende Text subsidiär auf das Evozieren weiterer Muster, Wörter und syntaktischer Strukturen. Wie die Ausführungen zeigen, ist Textschreiben als Problemlösevorgang auf Polanyis implizite Integration übertragbar. Dass nach Dehn (1993) Lernprozesse während des Textschreibens stattfinden, um eine Form für den Gedanken zu finden - eine Überlegung, die mit dem Begriff des epistemischen Schreibens (vgl. Pohl/ Steinhoff 2010; Jantzen 2010) in Verbindung gebracht werden kann - lässt sich mit Polanyis Modell der impliziten Triade in gewissem Maße erhellen. Polanyi sieht in der Überwindung der logischen Lücke „den Kern dessen, was man Verstehen nennt“ (Neuweg 2004, S. 222). Da beim Textschreiben als implizite Integration eine logische Lücke geschlossen wird, muss auch beim Textschreiben „Verstehen“ stattgefunden haben. Dies kann auch als Erklärung 198 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="199"?> dafür dienen, dass beim Schreiben Lernprozesse stattfinden. Konsequenterweise müsste dies bedeuten, dass bei jedem Textschreiben als Problemlösen Lernpro‐ zesse stattfinden. Bezogen auf Polanyis Modell der impliziten Triade lässt sich Textschreiben nicht nur als Problemlöseprozess, sondern auch als Lernprozess bezeichnen, da nach Polanyi das Modell der impliziten Triade auf Lernen, Anwenden, Konstruktionen und Re-Konstruktionen angewandt werden kann. Lernen und Problemlösen werden dazu derselben Kategorie zugeordnet: Bei ihnen dauert die imaginative Anstrengung meist länger, ist intensiver, oft von Pendelbewegungen zwischen Analyse und Synthese gekennzeichnet und zieht die Integration, im Gegensatz zu Re-Konstruktionen, nicht unmittelbar nach sich. (Vgl. dazu Neuweg 2004, S. 207) Schreiben als Lernprozess zu sehen, stimmt auch mit Aussagen Dehns überein: Das Schreiben stellt also selbst einen Lernprozess dar und es integriert dabei zurücklie‐ gende Lernprozesse: Das betrifft das Verfügen über Inhalte, es betrifft die syntaktische Konzeptionierung, und es betrifft das Artikulieren der Beziehung zwischen dem Subjekt des Schreibers und dem Adressaten (Dehn 1996; Dehn 1999). (Dehn 2009, S.-154) Das epistemische Moment selbst beim Textschreiben lässt sich im Wechsel‐ spiel zwischen Analyse und Integration, im Pendeln zwischen p und d, im Überwinden der logischen Lücke erkennen. Zur Erhellung sei der Blick auf Neuwegs Idee zur Erklärung von „Bootstrapping“ mit Hilfe des Konzepts der Sub-specie-Relation gerichtet. Der proximale Term p - an dieser Stelle soll er durch den bereits geschriebenen Text verkörpert werden - wird im Licht von d, der Schreibidee, gesehen. Eine Prüfung kann zu einer Textveränderung führen (Muster, Wörter, Textstrukturen u. a. werden ersetzt, verändert etc.). P wird in dem Fall zu p*. Dass bereits geschriebene Textteile das Problem, den zu schreibenden Text, verändern (vgl. Steinhoff/ Pohl 2010, S. 13), bedeutet, dass d wiederum im Licht von p* zu d* wird. Die Schreibidee entwickelt sich während des Schreibprozesses weiter. Da die Schreibidee inhaltliche und formale Aspekte beinhaltet, deutet dies auf ein Lernen in Bezug auf den Schreibgegenstand und auf formale Aspekte hin. Des Weiteren werden beim Textschreiben neue Erfahrungen gemacht, die im weiteren Prozess subsidiär wirken können und somit den Prozess beeinflussen können. Polanyis Modell liefert auch eine Erklärung dafür, warum Lernprozesse beim Überarbeiten stattfinden: Wie bereits gezeigt kann das Wechselspiel von Analyse und Integration, das epistemisches 6.1 Die Theorie des impliziten Wissens nach Polanyi 199 <?page no="200"?> 96 Es sei darauf hingewiesen, dass der Übertragungsversuch Polanyis impliziter Triade auf das Textschreiben aufgrund der Komplexität des Schreibprozesses nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder Alleingültigkeit erhebt. Aufgrund der Komplexität des Schreibprozesses war es nicht möglich, analog zu Beispielen Polanyis (vgl. Tabelle in Neuweg 2004, S. 189ff.), dem proximalen Term nur eine Funktion zuzuordnen. Stattdessen mussten zwei Arten von proximalen Elementen, die verschiedene Funk‐ tionen erfüllen, gebildet werden (p wird aktiv hervorgebracht; p dient als Werkzeug). Daher ist eine 1: 1-Übertragung von Polanyis Modell nicht möglich, woraus sich einige Uneindeutigkeiten in der Übertragung ergeben. Potential hat, gerade beim Überarbeiten im Vergleich zwischen Realisation und Intention stattfinden. 96 Im Lichte von Polanyis Modell, das auf das Textschreiben übertragen wurde, lässt sich erneut die eingangs erwähnte von Dehn vorgenommene Unterschei‐ dung zwischen dem Text als Ergebnis zurückliegender Lernprozesse und als Ergebnis von Lernprozessen, die sich während des Schreibens des Textes vollziehen, betrachten. Die zurückliegenden Lernprozesse, die sich aus der Erfahrung mit anderen Texten ergeben, lassen sich in Polanyis Terminologie als frühere Lernerfahrungen bzw. als Ergebnisse früherer impliziter Integrationen bezeichnen, die subsidiär im Schreibprozess wirken. Lernprozesse, die während des Textschreibens ausgelöst durch die Notwendigkeit, für die Schreibidee eine Struktur zu finden, stattfinden, lassen sich mit dem Wechselspiel von Analyse und Integration erklären, durch das erstens Bedeutung geschaffen wird und das letztendlich zur Schließung der logischen Lücke zwischen p und d führt. 6.2 Pretend Reading, implizites Lernen und implizites Wissen Im Folgenden wird die Pretend-Reading-Situation mit Hilfe der Wissenstheorie Polanyis beleuchtet. Dafür wird zunächst der Blick auf den Verstehensprozess beim Hören einer Geschichte gelegt. Anschließend werden die vorgestellten Überlegungen zur Übertragung der Wissenstheorie Polanyis auf den Textpro‐ duktionsprozess im Medium der Mündlichkeit im Kontext von Pretend-Rea‐ ding-Situationen bezogen. Es folgt eine Betrachtung von Pretend Reading als Möglichkeit impliziten Lernens, wobei neben der Wissenstheorie Polanyis weitere Ausführungen von Neuweg (2000) und Erkenntnisse zum Textschreiben (Kruse/ Kruse 2007; 2017; Dehn et al. 2011; Pohl/ Steinhoff 2010; Christensen 2011) die theoretische Grundlage bilden. Dabei wird zwischen Erwerbskontexten beim Hören und Verstehen von Narrationen und Erwerbskontexten während der 200 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="201"?> 97 Den Prozess des Aufbaus einer impliziten Triade bezeichnet Polanyi als implizite Integration bzw. als „Akt des tacit knowing“ (Neuweg 2004, S.-204). eigenen Textproduktion unterschieden. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zum Gebrauch impliziten Wissens beim Pretend Reading. Im Zusammenhang mit Sprache und Bedeutung thematisiert Neuweg (2004) das Hören und Lesen eines Wortes. Entweder wird „auf das Wort als Wort [Hervorh. im Original]“ (Neuweg 2004, S. 182) geachtet oder „von ihm auf seine Bedeutung [Hervorh. im Original]“ (ebd.). Beim Anblick eines Wortes wird im Normalfall die fokale Aufmerksamkeit „von ihm weg auf seine Bedeutung gelenkt“ (ebd.), sodass die Person durch das Wort hindurch blickt. Wird jedoch das normalerweise proximale (hintergrundbewusste) Wort fokussiert, wird seine Bedeutung aus dem Fokus verloren. „Über die Zweigeschichtetheit des Bewußtseins ließe sich auch erklären, warum wir Bedeutungen besser behalten als den genauen Wortlaut, dem wir die Bedeutung entnommen haben“ (ebd.). (Vgl. ebd., S. 182f.) Subsidiär wirksam wird in diesem mentalen Akt des Textverstehens über die Worte hinaus auch die Gesamtheit der Lernerfahrungen, die den Worten ihre Bedeutung verleihen; auch sie werden funktional wirksam, ohne erinnert zu werden (vgl. PK, S. 91f.). (Neuweg 2004, S.-183) Beim Sprachverstehen wird der Text sowie die „gesamte bisherige Praxis des Referierens mit Symbolen“ (ebd., S. 190) auf die Wirklichkeit als proximal bezeichnet, während seine Bedeutung dem distalen Term zugeordnet wird. Bei dieser impliziten Triade, 97 bestehend aus dem Subjekt, einem distalen und einem proximalen Term, wird der promimale Term (p) aktiv interpretiert. (Vgl. ebd., S. 189f.) Das hier beschriebene Sprachverstehen bzw. Textverstehen kann auf die Situation des Zuhörens und Verstehens beim Vorlesen von Bilderbüchern bezogen werden. Dabei wird der Fokus vom Kind auf den distalen Term - den Inhalt, den Sinn bzw. auf die Bedeutung der vorgelesenen Wörter, aus denen die Geschichte besteht - gelegt. Die Wörter, die hier den proximalen Term bilden, werden vom Kind aktiv interpretiert. Nach der Betrachtung des Verstehensprozesses beim Vorlesen einer Geschichte, der beim Pretend Reading der Textproduktion des Kindes vorausgeht, wird nun dieser Textproduktionsprozess im Medium der Mündlichkeit beleuchtet. Beim Pretend Reading produziert ein Kind jeweils einen medial mündlichen Text zu einem medial schriftlichen Text (Bilderbuchtext), der dem Kind jedoch vorgelesen wurde. Der vom Kind produzierte Text kann dabei als „Text zwischen 6.2 Pretend Reading, implizites Lernen und implizites Wissen 201 <?page no="202"?> Texten [Hervorh. im Original]“ (Dehn et al. 2011, S. 42) bezeichnet werden - und zwar als Text zwischen dem bekannten Vorlesetext und weiteren zuvor rezipierten Texten. Des Weiteren kann auch Erfahrung mit konzeptionell mündlicher Sprache die Textproduktion des Kindes beeinflussen. Es ist anzu‐ nehmen, dass wie beim Schreibprozess auch beim Textproduktionsprozess in einer Pretend-Reading-Situation der Aufbau einer impliziten Triade stattfindet. Dabei ist zu vermuten, dass die Schreibidee d im Gegensatz zu herkömmlichen Schreibprozessen in den meisten Fällen eine sehr starke Nähe zum vorgelesenen Bilderbuchtext aufweist - und zwar hinsichtlich inhaltlicher und sprachlicher Aspekte, da die Aufgabe darin besteht, ein bereits bekanntes Buch „vorzulesen“ (zu den Auswertungen der empirischen Untersuchung vgl. Kapitel II.3). Da Überarbeitungen unmittelbar mit der Textproduktion verwoben sind (vgl. Merz-Grötsch 2010, S. 57), können mögliche Überarbeitungen, die Kinder wäh‐ rend der Textproduktion im Rahmen der Pretend-Reading-Situation vornehmen (vgl. Kapitel I.3.1 zu Text, Textkompetenz und Textproduktion), als Hinweis dafür gedeutet werden, dass diese Textproduktion im Medium der Mündlichkeit starke Ähnlichkeiten zum Schreibprozess im Medium der Schriftlichkeit aufweist: Wie beim Schreibprozess scheint somit eine Pendelbewegung zwischen p und d stattzufinden. Es lässt sich vermuten, dass das Kind an diesen Stellen z. B. bewusst nach einem alternativen Begriff sucht, der seinem Empfinden nach entweder für den Kontext besser geeignet zu sein scheint oder der eine gram‐ matische Korrektur des zuvor geäußerten sprachlichen Ausdrucks darstellt. Die während der Pretend-Reading-Situationen vorgenommenen Überarbeitungen werden bei der Analyse der sieben Textproduktionen im Einzelnen beschrieben und interpretiert (vgl. Kapitel II.3.1; 3.2). Zur Textproduktion in der Pretend-Rea‐ ding-Situation kommt zur herkömmlichen medial schriftlichen Textproduktion noch eine weitere Komponente hinzu: Die motorische Komponente der Sprach‐ produktion. Nach Polanyi wird beim Sprechhandeln p aktiv hervorgebracht. Der proximale Term besteht dabei aus motorischen Komponenten und geäußerten Symbolen, während die auszudrückenden und ausgedrückten Gedanken den distalen Term bilden (vgl. Neuweg 2004, S.-191). Inwiefern im Pretend Reading Möglichkeiten zum impliziten Lernen angelegt sind, wird im Folgenden thematisiert. Bezugnehmend auf die zu Beginn des Kapitels dargestellte Charakterisierung impliziten Lernens (vgl. Neuweg 2000, S. 198) lässt sich die Pretend-Reading-Situation aus folgenden Gründen als Lern‐ möglichkeit für implizites Lernen bezeichnen: So erhalten die Vorschulkinder erstens keine Erklärungen zur Funktion bestimmter sprachlicher Mittel zur Textstrukturierung oder darüber, welche sprachlichen Elemente dem Register der konzeptionellen Schriftlichkeit entsprechen und werden zweitens auch 202 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="203"?> nicht aufgefordert, sich bewusst-reflexiv mit ihnen auseinanderzusetzen oder sie zu verwenden. Wie die sieben Textanalysen zeigen werden (vgl. Kapitel II.3.2), sind die sieben Vorschulkinder, die zum Pretend Reading aufgefordert werden, dennoch zu einem bestimmten Grad in der Lage, Elemente konzep‐ tioneller Schriftlichkeit zu verwenden, Muster funktional einzusetzen und Kohärenz zu erzeugen - sie zeigen somit ihr Können in ihrem Verhalten, nämlich in der Textproduktion. „Lernprozesse beim Schreiben entstehen durch die Erfah‐ rung mit Texten. Das gilt sowohl für gelesene als auch für selbstverfasste Texte“ (Kruse/ Kruse 2007, S. 31). Daraus folgt, dass Lernprozesse sowohl beim Vorlesen des Bilderbuches durch andere Personen (Rezeption) als auch beim eigenen Verfassen eines Textes zum Bilderbuch (Produktion) durch das Kind stattfinden können. Nach Dehn et al. können implizite Lernmöglichkeiten z. B. „durch das Vorzeigen von Mustern“ (Dehn et al. 2011, S. 10) oder „das Herausfordern des Spiels mit Vorgaben“ (ebd.) entstehen. Vor der Pretend-Reading-Situation werden dem Kind u. a. durch das Vorlesen von Bilderbüchern Muster vorgezeigt - und zwar unmittelbar und mittelbar vor der eigenen Textproduktion. Des Weiteren werden Kinder durch die Aufforderung zum „Vorlesen“ indirekt zum Spiel mit Mustern der Vorgabe herausgefordert. Im Folgenden wird zwischen vier verschiedenen Erwerbssituationen bzw. -kon‐ texten im Rahmen von Pretend-Reading-Situationen unterschieden. Zwei dieser Erwerbssituationen können während der Textrezeption stattfinden - und zwar einmal mittelbar und einmal unmittelbar vor der Pretend-Reading-Situation (Erwerbskontext 1a und 1b). Die anderen zwei Erwerbssituationen können während der Textproduktion selbst stattfinden: Einmal bei der einmaligen funktionalen Verwendung von Mustern bei der Textproduktion und einmal bei der mehrfachen funktionalen Verwendung von Mustern (Erwerbskontext 2a und 2b). „An sich bewusstseinsfähige Subsidien können implizit erlernt werden, wenn die Konzentration im Lernprozess dem distalen Zweck gilt“ (Neuweg 2000, S. 208). Muster lassen sich zu einem großen Teil als „an sich bewusstseinsfähige Subsidien“ (ebd.) bezeichnen, da die Funktion, die ein Muster im Text hat, im Allgemeinen meist in Worte gefasst werden kann - wenngleich auch nicht vom Kind selbst und teilweise auch nicht vollständig. Beim Sprachverstehen ist der Fokus bereits auf den distalen Term gerichtet - somit ist eine Grund‐ voraussetzung für das Einsetzen eines impliziten Lernprozesses erfüllt. Kinder erwerben Muster bei der Konzentration auf den Inhalt, den Sinn bzw. auf die Bedeutung der vorgelesenen Geschichte, der bzw. die den distalen Term bildet. Sie erwerben sie nicht dadurch, dass sie die Muster bewusst lernen, 6.2 Pretend Reading, implizites Lernen und implizites Wissen 203 <?page no="204"?> indem sie auf die Verbindung zwischen dem jeweiligen Muster und seiner Bedeutung aufmerksam gemacht werden bzw. indem sie aufgefordert werden, die vorgelesenen Muster zu memorieren. Beim Textverstehen werden einerseits die Verbindungen von Mustern und Funktionen, z. B. Textprozeduren erkannt, die im Verstehensprozess wirksam werden. Andererseits werden neue implizite Verbindungen zwischen Mustern und seinen Bedeutungen und Funktionen beim Vorlesen hergestellt. Kinder lernen die Muster eingebettet in Kontexte kennen, in denen diese Muster funktionieren (vgl. hierzu Kruse/ Kruse 2017) und setzten sie dann in ähnlichen Situationen ein. Dies lässt sich - wie die Auswertung der Pretend-Reading-Situationen zeigen wird (vgl. II.3.1) - an der mehrfachen Verwendung des gleichen Musters, das in ähnlichen Situationen eingesetzt wird, erklären. Muster können somit beim Vorlesen implizit durch Spracherfahrung und im Kontext erlernt werden. Einschränkend einzuwenden ist, dass nicht alles, was vorgelesen und verstanden wird, erlernt und letztendlich auch in der eigenen Textproduktion aktiv hervorgebracht werden kann. Es wird angenommen, „dass dem expliziten und dem impliziten Wissens‐ system jeweils auch spezifische Lernmodi korrespondieren (vgl. etwa Berry/ Broadbent 1988, Hayes/ Broadbent 1988)“ (Neuweg 2004, S. 29). Demzufolge würde ein impliziter Lernmodus in implizitem Wissen münden (vgl. ebd.). Findet beim Vorlesen der Geschichte ein impliziter Lernprozess statt, bei dem vom Kind zuvor nicht bekannte Muster mit einer (vagen) Bedeutung und Funktion verknüpft werden, die sie mit Hilfe des Kontextes erschließen, so müssten die Kinder der Aussage Neuwegs folgend anschließend über ein implizites Musterwissen verfügen. Die anderen zwei Erwerbssituationen können während der Textproduktion selbst stattfinden. In Erwerbssituation 2a finden Lernprozesse durch die einma‐ lige funktionale Verwendung von Mustern bei der Textproduktion statt. So stellt Schreiben nach Dehn selbst einen Lernprozess dar (vgl. Dehn 2009, S. 154) und jedes Schriftstück kann als „Ergebnis impliziten Lernens“ (Dehn et al. 2011, S. 11) bezeichnet werden (vgl. ebd.) Die Bedeutsamkeit von Mustergebrauch für den Erwerb von Textkompetenz wird von Kruse und Kruse (2007) hervorgehoben: „Tatsächlich […] sind solche Sprachmuster beim Erwerb von schriftlicher Text‐ kompetenz in hohem Maße bedeutsam“ (Kruse/ Kruse 2007, S. 30). Den Vorgang des Einbindens von Mustern aus anderen Texten in die eigene Textproduktion erachten sie als dienlich für die Entwicklung von Textkompetenz (vgl. ebd.). Es finden folglich - wie auch beispielsweise Pohl und Steinhoff konstatieren (vgl. Pohl/ Steinhoff 2010) - Lernprozesse bei der Textproduktion selbst statt. Bei der Erwerbssituation 2a geschieht der Wissenserwerb durch den mehrfachen funktionalen Gebrauch von Mustern bei der Textproduktion. „Wer öfter 204 6 Implizites Wissen und implizites Lernen <?page no="205"?> Gelegenheit hat, komplexe Texte zu formulieren, kann sich allmählich diese Strukturen aneignen und sie dann auch explizit anwenden“ (Dehn et al. 2011, S. 10). Christensen spricht von einem „Prozess einer allmählichen Verinnerli‐ chung schriftsprachlicher Strukturen, Muster, Formulierungen“ (Christensen 2011, S. 59; vgl. Kapitel I.7). Das häufige Produzieren von Texten zu Bilderbü‐ chern im Rahmen von Pretend-Reading-Situationen könnte folglich zu einer solchen Verinnerlichung schriftsprachlicher Strukturen und Muster beitragen. Der Gebrauch impliziten Wissens beim Pretend Reading lässt sich wie folgt beschreiben. „Als implizites Wissen (tacit knowledge) ist […] ein Wissen zu definieren, das in der praktischen Kompetenz einer Person […] zum Ausdruck kommt, das aber nicht oder nicht angemessen verbalisiert werden kann [Her‐ vorh. im Original]“ (Neuweg 2000, S. 198). Übertragen auf die Pretend-Rea‐ ding-Situation bedeutet dies, dass in den Textproduktionen der Kinder ihre Textkompetenz - in dem Fall die praktische Kompetenz, Texte produzieren zu können - zum Ausdruck kommt, ohne dass die Kinder auf einer metasprachli‐ chen Ebene fähig sind, ihre Textproduktion zu erläutern. „Die Textkompetenz nun besteht darin, derartige sprachliche Muster kohärent einbinden zu können in einen neuen textuellen Zusammenhang“ (Kruse/ Kruse 2007, S. 31). Wird bei den Kindern in Pretend-Reading-Situationen das Einbinden von Mustern in neue Zusammenhänge sichtbar, lässt dies somit auf die (implizite) Text‐ kompetenz der Kinder schließen. Wie anhand der sieben Textproduktionen gezeigt wird (vgl. II.3.2), haben die Kinder Muster aus dem Bilderbuch in neue syntaktische Strukturen integriert und sie somit funktional eingesetzt. Dies sind sehr deutliche Hinweise auf ihre vorhandene Textkompetenz. 6.2 Pretend Reading, implizites Lernen und implizites Wissen 205 <?page no="207"?> 7 Erkenntnisse zum (impliziten) Erwerb und Gebrauch von Mustern didaktisch fruchtbar machen - ein Überblick In den vergangenen Jahren wurden im deutschdidaktischen Bereich unter‐ schiedliche Konzepte und Unterrichtsvorschläge zum (impliziten) Erwerb und Gebrauch von Mustern entwickelt. In den schreibdidaktischen Konzeptionen von Dehn et al. (2011), Kruse und Kruse (2007), Kohl (2007), Ritter und Ritter (2007) sowie Rathmann (2014) spielen das Verfassen eigener Texte zu anderen Texten und der Gebrauch von Mustern eine bedeutsame Rolle. Die Konzepte von Belke (2011) zum generativen Schreiben und Hochstadt (2015) zum mimetischen Lernen, die ebenfalls auf das Nutzen von Musterhaftem angelegt sind, sind in den Gebieten Deutsch als Zweitsprache und dem Grammatikunterricht angesiedelt. Die Skizzierung der sieben Konzepte verdeutlicht, dass ihnen unterschiedliche Vorstellungen von Musterhaftigkeit zugrunde liegen. Das Werk Texte und Kontexte (Dehn/ Merklinger/ Schüler 2011) möchte Lese‐ rinnen und Lesern ein Wissen darüber an die Hand geben, wie Schreibaufgaben gestaltet sein können, die Kinder zu Imaginationen anregen und sie dazu herausfordern, ihr implizites Wissen, die Geschichtenmuster, die sie sich in vielfältigen medialen Zusammenhängen angeeignet haben, in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Schreibvorgabe zu erproben und zu erweitern […] (Dehn et al. 2011, S.-10f.) Kinder sollen somit herausgefordert werden, ihr bereits vorhandenes implizites Wissen, das zum Beispiel in Form von Geschichtenmustern vorliegen kann, zu erproben. „Implizite Lernmöglichkeiten können durch das Vorzeigen von Mustern, das Herausfordern des Spiels mit Vorgaben, das Eröffnen vielfältiger Kontexte zum Schreiben und Lesen entstehen“ (ebd., S. 10). Dehn et al. (2011) verstehen das Verfassen von Texten als kulturelle Tätigkeit. Schreiben wird dabei immer „in Korrespondenz mit Vorgefundenem“ (ebd., S. 8) gesehen. „Wer schreibt, hat immer schon gelesen, Vorgelesenes gehört, Bilder gesehen. Dabei geht es nicht um Imitation, sondern um Adaption und Transformation“ (Dehn et al. 2011, S. 8). Eindrücklich zeigen die Autorinnen anhand von Gegenüber‐ stellungen je zweier Texte desselben Kindes aus einer ersten Klasse einer Grundschule, dass es zwischen Texten, die zu etwas Selbsterlebtem verfasst wurden und Texten, die zu einem Bilderbuch geschrieben wurden, erhebliche <?page no="208"?> Unterschiede gibt. Im Hinblick auf die sprachliche Dimension der Texte be‐ ziehen sich diese Unterschiede insbesondere auf Komplexität und Reihung (vgl. ebd., S. 9f.). Die Autorinnen stellen in diesem Zusammenhang folgende These auf: „Wer öfter Gelegenheit hat, komplexe Texte zu formulieren, kann sich allmählich diese Strukturen aneignen und sie dann auch explizit anwenden, zum Beispiel bei dem Bericht von Selbsterlebtem oder der Erlebniserzählung […]“ (Dehn et al. 2011, S.-10). Das Schreiben zu Vorgaben stellt das inhaltliche Kernstück der Konzeption Texte und Kontexte dar (vgl. ebd., S. 11). Dabei wirken inhaltliche Vorgaben (z. B. Texte, Bilder oder Erfahrungen aus dem Sachunterricht) als Herausforderung und Anregung. Bekommen die Kinder die Aufgabe, zu einem Bilderbuch zu schreiben, finden sie sowohl einen sprachlich als auch bildnerisch gestalteten Inhalt vor. Die Aufgabenstellung kann sehr weit gefasst sein, was es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, sowohl Erinnerungen, Erfahrungen und Imaginationen zu formulieren als auch deskriptive Formen zu wählen, indem sie „das Gehörte und Gesehene referieren, kommentieren, zusammenfassen, dazu argumentieren“ (ebd., S.-99f.). (Vgl. ebd.) Christensen (2011) stellt im Zusammenhang mit dem Konzept Texte und Kontexte Überlegungen zur Förderung von Textkompetenz in der Grundschule und Sprachheilschule an. „Zur Förderung von Textkompetenz [hält er] […] die Kombination eines sprachlich und inhaltlich komplexen Vorlesetextes mit einem von den Lernenden selbst wählbaren Bezug für äußerst lernförderlich“ (ebd., S. 55). Hervorgehoben sei an dieser Stelle die Bedeutsamkeit der Kom‐ plexität sowohl des Inhalts als auch der Sprache des Vorlesetextes, zu dem von den Kindern eigene Texte verfasst werden. Zudem spricht Christensen von einem „Prozess einer allmählichen Verinnerlichung schriftsprachlicher Strukturen, Muster, Formulierungen […]“ (ebd., S. 59). Schreibende lernen im Laufe ihrer Schreibentwicklung Texte auch unabhängig von konkreten Anregungen zu schreiben. „Sobald Schülerinnen und Schüler über ausreichend sprachliche Muster in Form von Sätzen, Formulierungen und Textstrukturen verfügen, benötigten sie nur noch eines - Fantasie.“ (Ebd.). (Vgl. ebd.) Diese Aussagen Christensens decken sich mit einer These von Dehn et al. (2011): Be‐ kommen Schreiberinnen und Schreiber häufiger Gelegenheit, komplexe Texte zu verfassen, können sie sich allmählich diese Strukturen aneignen und sie anschließend beispielsweise auch in einer Erlebniserzählung nutzen (vgl. Dehn et al. 2011, S.-9ff.). Ähnlich wie beim Schreiben zu Vorgaben können Kinder im nachfolgenden Unterrichtsvorschlag zur Anregung von Textmustergebrauch (Kruse/ Kruse 2007) sowie im Unterrichtsvorschlag zum Schreiben zu Bilderbüchern mit Baumustern 208 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen <?page no="209"?> 98 Schmid, Thomas (2002): 33 Bazi-Geschichten zum Vorlesen. Hamburg: Oetinger. (Ritter/ Ritter 2008) Texte zu Kinderliteratur verfassen. Diese Kinderliteratur zeichnet sich jedoch explizit durch Serielles aus: So werden den Kindern be‐ stimmte Formulierungen (sprachliche Muster) und Satzkonstruktionen (struk‐ turelle Muster) mehrfach angeboten. Das von Kruse und Kruse entwickelte didaktische Konzept nutzt auffällige Unauffälligkeiten in der Kinderliteratur, um den Mustergebrauch von Kindern beim Textschreiben anzuregen bzw. herauszufordern. Unter einer auffälligen Unauffälligkeit verstehen Kruse und Kruse Formulierungen wie das sprachliche Muster „Streiflein Nebel“, das aus dem Kinderbuch Das kleine Gespenst von Otfried Preußler stammt und von einem Kind beim Verfassen eines eigenen Textes verwendet wird (vgl. ebd., S. 31f.; II.5.2 zu Muster und Musterhaftigkeit aus didaktischer Perspektive). Diesen Rückgriff erklärt Bothe mit dem sprachlichen Empfinden des Mädchens. „Der Schreiberin war die Formulierung sprachlich attraktiv, sodass sie ihr beinahe wortwörtlich im Gedächtnis geblieben ist“ (Kruse/ Kruse 2007, S. 31). (Vgl. ebd.) Das „Streiflein Nebel“ hat auf der einen Seite „einen hohen Verallgemeinerungsgrad“ (ebd., S. 32), auf der anderen Seite ist diese Formulierung jedoch wenig auffällig. Sie wurde „aus einem persönlichen Sprachgefühl heraus angeeignet“ (ebd.) und wäre anderen Kin‐ dern nicht so nachhaltig in Erinnerung geblieben. In der Kinderliteratur sind viele solcher auffälliger Unauffälligkeiten zu finden. Beispielsweise weisen die Bazi-Geschichten 98 von Thomas Schmid auffällige Unauffälligkeiten auf: Alle Bazi-Geschichten beginnen mit dem Muster „‚Simon und sein Bazi‘ (…sie machen etwas, spielen, langweilen sich, sitzen etc.)“ (ebd.). Anschließend folgen jeweils vier stereotype Sätze: „Das heißt, eigentlich (machte, spielte, langweilte sich, …) nur Simon, denn den Bazi gab es gar nicht wirklich. Keiner konnte den Bazi hören oder sehen. Nur Simon natürlich. Der schon“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Einer der von Kruse und Kruse entwickelten Aufgabenvorschlägen zu Schmids 33 Bazi-Geschichten zum Vorlesen lautet: „Von den folgenden Bazi-Ge‐ schichten gibt es nur noch die Titel und einige Wörter. Denk dir die dazugehö‐ rige Geschichte aus und schreibe sie auf: […] Das Tapetenkunstwerk: weiße Tapeten - Mamas Lippenstifte - Kunst [Hervorh. im Original]“ (ebd., S. 33). (Vgl. ebd.) Es besteht die Möglichkeit, dass die Kinder die Formel „Simon und sein Bazi spielten/ machten/ saßen (…) gerade“ (ebd.) als Einstieg für ihre eigene Bazi-Geschichte nutzen und zwar dann, wenn die Schreibaufgabe „an einen freudvollen Rezeptionsprozess [anschließt], der Raum für das Entstehen einer persönlichen Bedeutsamkeit des Textes für das Kind gegeben hat“ (ebd., S. 32). An dieser Stelle betonen Kruse und Kruse persönliche Bedeutsamkeit der 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen 209 <?page no="210"?> Geschichte für das Kind im Hinblick auf den Gebrauch von Mustern aus dem Buch. Ein in diesem Sinne gelungener Rezeptionsprozess sowie Offenheit und Komplexität der Anschlussaufgaben […] schaffen den Rahmen für ein herausforderndes Unter‐ richtsarrangement, das den Kindern Erfahrungen mit dem eigenen Gebrauch, der Variation und Transformation sprachlicher Muster und Formeln ermöglicht. (Ebd.) Die Übernahme von Formeln und Mustern in eigene Texte kann und soll nach Kruse und Kruse nicht direkt angeregt werden (vgl. ebd.). Kinder nutzen Muster aus Texten nämlich aus dem Grund, dass sie ihnen „intuitiv brauchbar erscheinen“ (ebd., S. 31) und nicht, weil sie unmittelbar zum Gebrauch dieser Muster angeregt wurden. Wegen dieser persönlichen Bedeutsamkeit solcher Muster kann die Verwendung der Muster nicht direkt von außen angestoßen werden, sondern lediglich „indirekt herausgefordert werden“ (ebd.). „Lediglich um ein Nahe-Legen kann es gehen, um ein ‚Verlocken’ und Herausfordern“ (ebd., S. 32), so Kruse und Kruse. Aufgabenstellungen dürfen den Gebrauch von Sprachmustern und -formeln nicht explizit fordern. Stattdessen müssen die Kinder „anknüpfend an ihre individuellen Rezeptionserfahrungen mit dem literarischen Text, von sich aus den (schreibproduktiven) Zugriff auf Muster- und Formelhaftes leisten“ (ebd.). Literatur, die besonders geeignet ist, um Beziehungen zwischen Lesen und Schreiben zu stiften, zeichnet sich „durch Typisches, Musterhaftes und Serielles“ (ebd.) aus. Die Sprache solcher Literatur lässt sich nach Kruse und Kruse fol‐ gendermaßen charakterisieren: Sie kann u. a. musterhafte Geschichtenanfänge oder Geschichtenenden enthalten, Formelhaftigkeit, stereotypische Formeln und idiomatische Redeweisen aufweisen und sich durch „Verschiebungen von Bedeutungen durch ungewöhnliche grammatische Konstruktionen“ (ebd.) aus‐ zeichnen. Eine solche Sprache kann nahelegen, dass Muster und Formeln für die eigene Textproduktion verwendet werden (vgl. ebd.). Der Vorschlag von Claudia Rathmann zur Unterstützung der Kinder bei der Textproduktion zielt darauf ab, von Kinderbuchautoren zu lernen (vgl. Rath‐ mann 2014, S. 22). Sie schlägt für den Schreibunterricht die Arbeit mit einer Kartei vor: „Auf 13 Karten sind Textpassagen bekannter Kinderbuchautorinnen und -autoren zusammengestellt, in denen die Kinder Muster und Strukturen entdecken und sich zugleich deren Wirkung bewusst machen können“ (Rath‐ mann 2014, S. 22). Diese Kartei enthält verschiedene Textanfänge, Textenden und „Textpassagen, die beim Lesen eine besondere Wirkung entfalten“ (ebd.). (Vgl. ebd.) Dabei geht es um das Erzeugen von Spannung und Komik (vgl. ebd., S. 22ff.). Beim Einstieg in die Arbeit mit der Kartei ist es nach Rathmann von 210 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen <?page no="211"?> 99 Bei der Entwicklung des Baumusters für Wintermärchen folgte sie dem „sehr sparsamen, ja minimalistischen Muster des Bilderbuches ‚Ho Ruck‘“ (ebd., S.-24). Bedeutung, mit den Kindern einige Textpassagen zu lesen und mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen. Hier nennt Rathmann folgende Fragen: „Wie wirkt dieses Textbeispiel auf mich als Leserin oder Leser? An welchen Formulierungen liegt das? Was ist das Besondere daran? Gibt es eine Passage oder einen Satz, der mich besonders anspricht? Und warum? “ (Ebd., S.-24) (Vgl. ebd.) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kinder durch die Arbeit mit den Textpassagen bestimmten sprachlichen Formulierungen bzw. Mustern im Kontext begegnen und dabei deren Wirkung (z. B. Spannung und Komik) selbst erfahren können. Durch Gespräche über einzelne Textstellen können den Kindern somit auch Beziehungen zwischen einzelnen Formulierungen bzw. sprachlichen Mustern und den bei ihnen als Leserin oder Leser ausgelösten und erfahrenen Wirkungen (z. B. Entstehen von Spannung oder Komik) und Funktionen bewusst gemacht werden. Auf diese Weise lässt sich implizit Erfahrenes in einem gewissen Umfang explizit bewusst machen. Der von Eva-Maria Kohl entwickelte und erprobte Unterrichtsvorschlag zum Schreiben zu Baumustern orientiert sich am Wissen um die Story Grammar (vgl. dazu Kohl 2007). Jede Geschichte weist unterschwellig „eine Struktur einer bestimmten Anzahl geordneter Elemente“ (ebd. S. 23) auf. Als Grundbausteine von Geschichten gelten u. a. das Vorhandensein einer Heldin oder eines Helden und Angaben zu Zeit und Ort des Geschehens. Bekommen Kinder Märchen und Geschichten erzählt, „prägt sich ihnen diese Geschichtengrammatik unbe‐ wusst ein“ (ebd.). An diese bedeutsamen Vorerfahrungen muss in der Schulzeit angeknüpft werden, so Kohl, damit sich aus diesem Sprachgefühl ein Sprachbe‐ wusstsein entwickelt. Kohl erprobte Baumuster sowohl als Schreibals auch als Erzählimpulse in der Grundschule. (Vgl. ebd.) Das von ihr entwickelte Baumuster Wintermärchen 99 besteht aus fünf Sätzen: 1. Im ersten Satz ist es sehr, sehr kalt. 2. Im zweiten Satz steht ein König/ eine Königin am Fenster. 3. Im dritten Satz sieht/ hört er etwas Seltsames. (Was sieht er/ sie? ) 4. Im vierten Satz trifft der König/ die Königin eine Entscheidung. 5. Im fünften Satz endet die Geschichte. (Ebd., Anhang) Dieses Satzgerüst galt es von den Kindern „als eine Art Skelett [zu] entdecken, das sie aufpolstern und ausstaffieren konnten“ (ebd., S. 24). Die Arbeit mit den Baumustern bewertet Kohl folgendermaßen: 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen 211 <?page no="212"?> 100 Stamm, Peter/ Bauer, Jutta (2015): Warum wir vor der Stadt wohnen. Weinheim/ Basel: Beltz/ Gelberg. Auf das Baumuster, mit dem man seine eigene Geschichte schreibend konstituieren kann, ist Verlass. Es bietet den festen Rahmen, die haltbare Struktur für die originellen und witzigen Einfälle der Kinder, denen sie so eine Form geben konnten. (Ebd., S. 25) Weiter schreibt sie: „Die Kinder haben durch den bewussten Gebrauch der ‚Geschichtengrammatik‘ ihre Schreibkompetenz beträchtlich erweitern können […] (ebd., S.-25). Neben diesen „einfache[n] Anleitungen für das Erfinden kleiner Geschichten oder Gedichte“ (Ritter/ Ritter 2008, S. 14), die von Ritter und Ritter als deutlich abstrahiert bezeichnet werden, können auch konkrete Geschichten als Vorlage für das Schreiben von Kindern dienen. Dies zeigen sie am Beispiel des bereits er‐ wähnten Bilderbuches Warum wir vor der Stadt wohnen 100 (vgl. I.5.2) im Kontext des kreativen Schreibens. Die episodenhafte Struktur des Bilderbuches bietet die Möglichkeit einer Ergänzung um eigene Episoden durch die Kinder. (Vgl. ebd., S. 14f.) So kann die Lehrperson den Kindern vier Kapitel vorlesen, während die Kinder die Aufgabe haben, das der Geschichte zugrunde liegende Baumuster herauszufinden. Eine Möglichkeit besteht darin, eine Klassengeschichte zu verfassen. Die zum genannten Bilderbuch entstandenen Texte zeigen, dass die Episodenstruktur stets vorhanden ist. (Vgl. ebd., S. 16) Die Möglichkeiten, die Ritter und Ritter hinsichtlich des Umgangs mit dem Bilderbuch aufzeigen, bieten Grundschulkindern Chancen zum „literarischen Lernen im Spannungs‐ feld von Rezeption und Produktion“ (ebd., S.-18). Darüber hinaus können diese literarischen Rezeptionserfahrungen bedeutsam für die Entwicklung von Text‐ kompetenzen sein. Ritter und Ritter betonen die Bedeutsamkeit von sprachlichen Vorbildern in Form von Büchern für die Entwicklung der Schreibkompetenz: „Im imitierenden und variierenden Umgang mit diesen Büchern finden sie geeignete sprachliche Vorbilder, die im handelnden Nachvollzug die Entwicklung des eigenen Schreibens unterstützen“ (ebd.). Diese Möglichkeiten können allen Kindern durch Baumuster gegeben werden. (Vgl. ebd.) Während den Kindern beim Schreiben zu Baumustern ein Textaufbau (sowie sprachliche und strukturelle Muster) für eigene Geschichten angeboten werden, meint das Konzept zum generativen Schreiben nach Belke das „Schreiben auf der Basis vorgegebener poetischer Texte“ (Belke 2011, S. 5). Gerlind Belke (2011) plädiert für eine Überwindung der Trennung zwischen Muttersprachendidaktik und Fremd- oder Zweitsprachendidaktik sowie für eine gemeinsame integrative Didaktik. Indem der Gebrauch sprachlicher Mittel in den Fokus gerückt wird, 212 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen <?page no="213"?> vermittelt Literatur Sprache. Aus diesem Grund sieht Belke in ästhetischen Texten einen bedeutsamen Input „für die gemeinsame implizite Sprachvermitt‐ lung“ (Belke 2011, S. 1). Zur Sprachvermittlung scheinen sich literarische Texte besser zu eignen als funktionale Alltagssprache, da beispielsweise die poetische Funktion die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf die Sprache selbst lenkt, was das Wahrnehmungsvermögen für die im Text genutzten sprachlichen Mittel schärft. (Vgl. ebd., S. 1) Zudem arbeiten poetische Texte mit syntaktischen, klanglichen und semantischen Mustern wie „Reim und Rhythmus, Parallelismus, Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen“ (ebd., S. 2), die sich nach Belke nachdrücklicher einprägen als dies bei Texten der Fall ist, die aus dem kommunikativen Alltag stammen. (Vgl. ebd.) Als Grundlage des Konzepts, das bei den Lehrenden, die den Ansatz wei‐ terentwickelten, „unter dem methodischen Begriff des generativen Schreibens bekannt [ist]“, bezeichnet Belke den produktiven Umgang mit ästhetischen Texten (vgl. ebd.). Das in Grundschulen praktizierte „freie Schreiben von Anfang an“ (ebd., S.-3) führt nach Belke dazu, dass Kinder, die über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, Texte in ihrer Lernersprache, der so genannten Interlanguage, verfassen müssen. Dies wiederum kann zur Folge haben, dass es bei Kindern, die kommunikativ erfolgreich in ihrer Zweitsprache sind, zu einer Festschreibung, einer Fossilierung ihrer Sprache auf einem solchen Niveau kommt, das für mündliche Interaktionen ausreichend ist. (Vgl. ebd.) Nach Belke „muss der Schreibunterricht im Hinblick auf multilinguale Lern‐ gruppen Arrangements entwickeln, in denen sprachliche Mittel für den zu schreibenden Text bereit gestellt und geübt werden, die entdeckendes Lernen von Rechtschreib- und Grammatikregeln und damit den impliziten Erwerb dieser Regeln ermöglichen“ (ebd.). Belke fordert, dass auch Kindern, die über geringe Deutschkenntnisse verfügen, die Chance gegeben wird, sprachlich korrekte Texte zu verfassen, „indem sie auf der Basis einprägsamer Texte eigene Texte generieren“ (ebd.). Dabei werden Teile des Originaltextes von den Kindern übernommen und für eigene Ausdrucksbedürfnisse genutzt. (Vgl. ebd.) Generatives Schreiben bzw. generative Textproduktion kann in verschiedenen Altersstufen stattfinden. Bereits im Vorschulalter können den Kindern Bilder‐ buchtexte, Märchen, Kinderreime und Lieder angeboten werden. Aufgrund der kindlichen Urlust an der Wiederholung können solche Texte immer wieder vorgetragen, gemeinsam gesprochen und variiert werden. Auf diese Weise wird in einem für das sprachliche Lernen sehr sensiblen Alter der implizite Erwerb wichtiger sprachlicher Mittel gefördert, z. B. Funktionswörter, wie Artikel und Pro‐ nomen […]. (Ebd.) 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen 213 <?page no="214"?> 101 Belke bezieht sich an dieser Stelle auf folgende Literatur: Arslan, Feride (2005): Sprachvermittlung von Anfang an. Ein integratives Konzept zur Einführung der Artikel und ihrer Flexionen. In: Praxis Grundschule, H. 2, S.-12-19. Lüth, Monika (2008): Deutschunterricht in mehrsprachigen Klassen. In: Bainski, Chris‐ tiane/ Krüger-Potratz, Marianne (Hrsg.): Handbuch Sprachförderung. Verlag Erziehung und Wissenschaft NRW: Essen, S.-80-85. 102 vgl. dazu z. B. Funkes Musterbegriff (vgl. Hochstadt 2015, S.-44) Nach Belke muss dem Lesen das Hören und dem Schreiben das Sprechen vorausgehen. Im Unterricht werden daher zunächst von der Lehrperson Texte vorgetragen, vorgesungen oder vorgespielt, die anschließend nachgesprochen und auch spielerisch verändert werden. Wenn die Kinder die Texte dann fast auswendig können, erfolgt die Schreibaufgabe. Das sprachliche Material, das es zu ersetzen gilt, wird zuvor zusammen erarbeitet und zum Schreiben der eigenen Texte verwendet. 101 (Vgl. ebd.) Nach Belke wird beim freien, kreativen Schreiben des Öfteren auf Textmuster und sprachliche Formen zurückgegriffen, die beim generativen Schreiben erworben wurden. (Vgl. ebd., S.-5) An dieser Stelle sei ein interdisziplinärer Blick auf den Grammatikunterricht gerichtet. Christiane Hochstadts Studie Mimetisches Lernen im Grammatikun‐ terricht (2015) soll einen Beitrag dazu leisten „den Mimesisbegriff in die Sprach‐ didaktik zu implementieren“ (ebd., S. 169). (Vgl. ebd.) In diesem Zusammenhang wird von grammatischen Mustern 102 gesprochen. Hochstadt formuliert die An‐ nahme, dass die automatisierte Verfügbarkeit grammatischer Muster in primärsprachlichen Hand‐ lungen durch eine wiederholte, kontextualisierte Konfrontation mit diesen Mustern in interpersonellen, ästhetischen und musterorientierten Lernprozessen stabilisiert werden könne. (Ebd.). Sie nennt drei Dimensionen mimetischen Lernens: Musterorientierung, Interper‐ sonalität und Ästhetik. In ihrer Studie skizziert Hochstadt einen Grammatikun‐ terricht, der Möglichkeiten zum mimetischen Lernen geben soll. Ein solcher Grammatikunterricht orientiert sich an den folgenden fünf Grundsätzen: Ers‐ tens wird vorrangig Können und nicht Wissen gefördert. Zweitens ist wiederho‐ lendes Handeln möglich. Drittens werden sprachliche Elemente in spezifischen Kontexten erfahrbar. Viertens fördert ein solcher Unterricht reziproke Prozesse. Im Unterricht sollen fünftens „ästhetisch-aisthetische Erfahrungen mit Sprache“ (ebd.) ermöglicht werden. (Vgl. ebd.) Die kontextualisierte Konfrontation mit Mustern, die ein Merkmal von Hochstadts Konzept für den Grammatikunter‐ richt darstellt, lässt sich ebenfalls in den anderen vorgestellten Konzepten 214 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen <?page no="215"?> zum Textschreiben vorfinden: Muster werden in Kontexten für die Lernenden erfahrbar. Auch bei der Methode Pretend Reading, die im Fokus der vorliegenden Studie steht, werden Erkenntnisse zum (impliziten) Erwerb und Gebrauch von Mustern genutzt. Ähnlich wie in den vorgestellten Konzeptionen haben die Vorschul‐ kinder beim (mehrfachen) Hören eines Bilderbuches die Möglichkeit, die Wir‐ kung und Funktion von Mustern in Kontexten zu erfahren. Beim sich daran anschließenden Pretend Reading produzieren sie einen eigenen Text zu einem Text. Der zuvor vorgelesene Text kann den Kindern dabei - sowohl sprachlich als auch inhaltlich - als Orientierung dienen. Wie stark sich das Kind bei seiner Textproduktion an der Geschichte des Bilderbuches orientiert, liegt dabei im Ermessen des Kindes. 7 Erkenntnisse zum Erwerb und Gebrauch von Mustern fruchtbar machen 215 <?page no="217"?> Teil II: Empirische Studie zum Pretend Reading im Vorschulalter <?page no="219"?> 103 Die grundlegende Idee zur Konzeption der vorliegenden Studie stammt von Norbert Kruse. 1 Beschreibung der Forschungsidee: Der Gebrauch von Textwissen beim „Vorlesen“ ohne Schriftkenntnisse Die vorliegende Studie 103 steht in einem engen Zusammenhang mit einer Untersuchung von Maria Lypp (1997). Um „die Funktion der erzählerischen Kohärenz für die Mehrdeutigkeit“ (Lypp 1997, S. 103) in der Kinderliteratur zu beobachten, wird einem fünfjährigen Jungen ein Bilderbuch mehrfach vor‐ gelesen. Anschließend erzählt der Junge, der über keine Schriftkenntnis verfügt, die Geschichte anhand der Bilder nach - Lypp spricht in diesem Zusammenhang von „vorlesen“. Sie stellt fest, dass die Nacherzählung des (mehrdeutigen) Textes, der eine „betont konturierte Form“ (ebd.) hat und mit sprachlichen Paradigmen arbeitet (im Gegensatz zu der Nacherzählung ohne strukturierende Sprachmittel (vgl. ebd., S. 109ff.)), gelingt. Des Weiteren beobachtet sie anhand dieser Nacher‐ zählung, dass Sprachmuster, die im Originaltext enthalten sind, in der Erzählung des Kindes kaum verwendet werden, dass diese jedoch andere Sprachmuster evozieren, die entweder aus der Erinnerung des Kindes abgerufen oder aber neu erfunden werden (vgl. ebd., S. 109). Auch diese Untersuchung gibt Hinweise auf implizites sprachliches Musterwissen, das sich aus der Erfahrung mit Texten entwickelt hat und bei der eigenen (mündlichen) Textproduktion Anwendung findet. In Kapitel II.2.1 wird erläutert, wie dieses von Lypp entwickelte Setting für die vorliegende Studie erweitert und variiert wurde. Um Textkompetenz von Kindern im Vorschulalter, die noch nicht schreiben können, zu fördern, ist - ähnlich wie in der Studie zum diktierenden Schreiben von Merklinger (2011; 2012) - nach einer Möglichkeit zu suchen, sie im Medium der Mündlichkeit zu einer Textproduktion herauszufordern. Dabei bedarf es eines Settings, das Kinder zum dekontextualisierten Sprachgebrauch herauszufordern vermag. Dazu soll das im Folgenden beschriebene Setting zum Pretend Reading dienen. Die Aufgabe, ein den Kindern bekanntes Bilderbuch „vorzulesen“, und die Materialität des Bilderbuches sollen dabei als Trigger wirken, um eine monologische Textproduktion im Medium der Mündlichkeit in Gang zu setzen. Zudem gilt es, einen Text zu einem Text zu produzieren. Dass Intertextualität und Mustergebrauch eine essenzielle Rolle sowohl beim <?page no="220"?> schriftlichen als auch beim mündlichen Sprachgebrauch spielen, wurde in Kapitel I.5 (Muster und Textproduktion) dargestellt. So baut die vorliegende Studie - in einer ähnlichen Weise wie die in Kapitel I.7 beschriebenen didakti‐ schen Konzepte zur Textproduktion - auf Erkenntnisse zum Mustergebrauch beim Textschreiben auf und möchte diese zur Förderung von Textkompetenz fruchtbar machen. 220 1 Beschreibung der Forschungsidee <?page no="221"?> 104 Zur Diskussion des DBR-Ansatzes sei an dieser Stelle auf den von Dieter Euler und Peter F. E. Sloane herausgegebenen Band Design-Based Research (2014) hingewiesen, der das Ziel verfolgt, „den Stand der Diskussion um DBR aufzunehmen, zu systematisieren und 2 Methodische und methodologische Überlegungen: Forschungsdesign, Forschungsarrangement und Forschungsprozess Bei der vorliegenden Studie zum Pretend Reading handelt es sich um qualitative Forschung. Wie Kelle treffend formuliert, geht es in der qualitativen Forschung meist nicht so sehr um eine ‚orthodoxe‘ Methodenanwendung [Hervorh. im Original], die sich bestimmter, fest umschriebener Instrumente und Verfahren in vorab klar definierter Weise bedient. Vielmehr geht es um eine projektspezifische Methodenent‐ wicklung [Hervorh. im Original], welche die in der Methodenliteratur angebotenen Methoden für das jeweilige Forschungsfeld und -interesse modifiziert, transformiert, adaptiert und kombiniert. (Kelle 2013, S.-60f.) Auch für die vorliegende Studie fanden Modifikationen von Methoden entspre‐ chend dem Forschungsfeld und der Forschungsintention statt. Es folgt die Darstellung von Erhebungs-, Datenaufbereitungs- und Auswertungsverfahren. 2.1 Erhebungsverfahren Das Sample der vorliegenden Studie besteht aus sieben Vorschulkindern. Die Al‐ tersspanne umfasst 4,11 bis 6,3 Jahre. Alle sieben Kinder sprechen ausschließlich Deutsch. Sieben Studierende des Grundschullehramts der Universität Kassel for‐ derten jeweils eines dieser sieben Vorschulkinder in einer Pretend-Reading-Si‐ tuation zu einer mündlichen Textproduktion zu einem Bilderbuch heraus. Die Textproduktionen entstanden dabei zu sieben unterschiedlichen Bilderbüchern. Demographische Daten der Kinder werden zu Beginn einer jeden Textanalyse (vgl. II.3.1) aufgeführt. Der Forschungsprozess der vorliegenden Studie lehnt sich an den Design-Based Research-Ansatz an. Nach einer kurzen Darstellung des Ansatzes wird aufge‐ zeigt, worin Überschneidungen bestehen und in welchen Punkten sich der Forschungsprozess vom Design-Based Research-Ansatz 104 (DBR-Ansatz) unter‐ <?page no="222"?> insbesondere für die Domäne der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zur Diskussion zu stellen“ (Euler/ Sloane 2014, S. 8): Euler, Dieter/ Sloane, Peter F. E. (Hrsg.) (2014): Design-Based Research. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Stuttgart: Franz Steiner. 105 Shavelson, Richard J./ Philipps, D. C./ Towne, Lisa/ Feuer, Michael J. (2003): On the science of education design studies. In: Educational Researcher, 32, H. 1, S.-25-28. 106 Brown, Ann L. (1992): Design experiments: Theoretical and methodological challenges in creating complex interventions in classroom settings. In: Journal of the Learning Science, 2, S.-141-178. scheidet. Beim DBR-Ansatz lassen sich die drei Hauptphasen Vorprüfung, Pro‐ totypenentwicklung und Beurteilungsphase unterscheiden (vgl. Klees/ Tillmann 2015, S. 92f.), die in einem nächsten Schritt mit Bezügen zum Forschungspro‐ zess der vorliegenden Studie erläutert werden. In diesem Zusammenhang erfolgt eine detaillierte Darstellung des Prozesses, in dem Instruktionen zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation entwickelt und anschließend auf Grundlage erhobener Daten sukzessiv weiterentwickelt wurden. Dabei findet eine anschauliche Erläuterung und Begründung der Instruktionen statt. Diese Erläuterung erfolgt detailliert, da fortwährend Modifikationen an den In‐ struktionen und am Setting zur Pretend-Reading-Situation erforderlich waren. Seit etwa 20 Jahren wird im angelsächsischen Raum die Forschungskonzep‐ tion des Design-Based Research (DBR) diskutiert (vgl. Euler/ Sloane 2014, S. 9). Das Ziel des DBR-Ansatzes besteht darin „im praktischen Kontext Lernumge‐ bungen zu gestalten und gleichzeitig Lerntheorien im konkreten Kontext zu prüfen, zu entwerfen und weiterzuentwickeln“ (Klees/ Tillmann 2015, S. 92). Nach Lehmann-Wermser und Konrad (2016) verfolgt der DBR-Ansatz metho‐ disch elaboriert das Ziel, Lehr-Lern-Arrangements weiterzuentwickeln (vgl. Lehmann-Wermser/ Konrad 2016). Mit Verweis auf Shavelson et al. (2003) 105 und Brown (1992) 106 formulieren Euler und Sloane (2014) als Ziel des Ansatzes „die Entwicklung innovativer Lösungen für praktische Bildungsprobleme mit der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verzahnen“ (Euler/ Sloane 2014, S. 7). Nach Reinmann gibt es zudem auch Ziele, die erst während des Gestaltungs- und Forschungsprozesses entstehen (vgl. Reinmann 2018, S.-11). Aktuell lässt sich DBR „noch nicht durch ein einheitliches Regelwerk kenn‐ zeichnen“ (Euler/ Sloane 2014, S. 8). Nach Klees und Tillmann wird, „der Ent‐ wicklungsprozess der Innovation zum Forschungsgegenstand“ (Klees/ Tillmann 2015, S. 92f.). Bestritten wird dieser Entwicklungsprozess im praktischen Kon‐ text, wobei Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftler sowie Anwenderinnen bzw. Anwender von Beginn an beteiligt sind. Als weiteren Punkt nennen Klees und Tillmann „das zyklische, iterative Vorgehen der Untersuchung, indem 222 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="223"?> sich systematische Gestaltung, Durchführung, Überprüfung und Re-Design der Designlösung wiederholen“ (ebd., S. 93). (Vgl. ebd., S. 92f.) Lehmann-Wermser und Konrad (2016) sprechen von einer „enge[n] Verzahnung von Theorie und Praxis“ (Lehmann-Wermser/ Konrad 2016, S. 269) und auch Reinmann nennt als zentrale Punkte die „enge Verbindung zwischen Theorieentwicklung und Opti‐ mierung von Gestaltungsprozessen“ (Reinmann 2018, S. 11) sowie eine Forscher‐ gemeinschaft, die an neue Möglichkeiten bzw. das „Potentielle“ glauben kann (vgl. ebd.). Nicht die Wahl der Methoden an sich ist kennzeichnend für DBR, sondern sein interventionsorientierter Ansatz und die iterative Vorgehensweise. „Entwicklung und Forschung finden in kontinuierlichen Zyklen von Gestaltung, Durchführung, Analyse und Re-Design statt; Invention, Analyse und Revision wechseln also einander ab“ (ebd.). DBR ist gleichzeitig vorausschauend und reflektierend: Da „Designs vor dem Hintergrund hypothetischer Lernprozesse und auf der Basis theoretischer Modelle implementiert und untersucht“ (ebd.) werden, kann er als vorausschauend bezeichnet werden. Reflektierend ist DBR insofern, als dass eine Analyse und (mehrfache) Überprüfung der Annahmen im Forschungsprozess stattfindet. Untersuchungseinheiten können dabei sowohl aus Individuen als auch aus regionalen Einheiten bestehen. Zudem ist es möglich, DBR mit anderen Forschungsansätzen zu kombinieren. (Vgl. ebd.) Ergänzend sei an dieser Stelle auf die Ausführungen von Dube und Prediger (2017) hingewiesen, die anhand eines Projekts zum Metaphernverstehen zeigen, „wie sich das in anderen Fachdidaktiken gut etablierte Forschungsformat auch in der Deutschdidaktik im Rahmen der Forschung zum literarischen Lernen nutzen lässt“ (Dube/ Prediger 2017, S. 1). Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Design Research. (Vgl. ebd.) Die Datenerhebung zur vorliegenden Studie fand in vier Durchgängen bzw. Zyklen (A, B, C, D) statt: im Wintersemester 2017/ 18 (A), im Sommersemester 2018 (B), im Wintersemester 2018/ 19 (C) und im Sommersemester 2019 (D). Zyklus A ging eine Pilotstudie voraus. Im Zyklus A (WS 2017/ 18) wurden 17 Pretend-Reading-Situationen eingereicht, im Zyklus B (SoSe 2018) 28, im Zyklus C (WS 2018/ 19) 22 und im Zyklus D (SoSe 2019) 18. Die der Studie zugrunde liegenden Daten wurden auf freiwilliger Basis von Grundschullehramtsstu‐ dierenden der Universität Kassel erhoben. Die Durchführung der Pretend-Rea‐ ding-Situationen durch die Studierenden hatte - neben der Datenerhebung - die Funktion, die Instruktionen zur Anleitung einer Pretend-Reading-Situation zu optimieren. Die an der Studie teilnehmenden Studierenden besuchten ein Seminar bei Kristina Strozyk, in dem als alternative Studienleistung angeboten wurde, mit einem Kind im Vorschulalter eine Pretend-Reading-Situation durchzuführen. 2.1 Erhebungsverfahren 223 <?page no="224"?> 107 Eine detaillierte Beschreibung der Schulung zur Durchführung einer Pretend-Rea‐ ding-Situation ist im digitalen Anhang unter https: / / www.narr.de/ Pretend-Reading-V orschulkinder-lesen-vor-38791-1 zu finden. 108 Die verschiedenen Instruktionsblätter sind im digitalen Anhang angefügt. Die Kinder, die an Pretend-Reading-Situationen teilnahmen, wurden von den Studierenden selbst ausgewählt. Dabei hatten die Studierenden die Wahl, eine Pretend-Reading-Situation mit einem Kind aus ihrem privaten Umfeld oder in einer Kindertagesstätte bzw. einem Kindergarten durchzuführen. Wichtig bei der Wahl der Kinder war dabei, dass diese noch nicht oder kaum lesen konnten und noch keine Schule besuchten. Die von den Studierenden besuchten Seminare waren so konzipiert, dass das Thema diktierendes Schreiben nach Merklinger (2011, 2012) vor dem Thema Pretend Reading bearbeitet wurde. In diesem Zusammenhang beschäftigten sich die Studierenden mit den Zielen und Lernmöglichkeiten des diktierenden Schreibens und lernten Möglichkeiten kennen, wie sie (konzeptionelle) Schrift‐ lichkeit explizit und implizit herausfordern können (vgl. Merklinger 2012). Des Weiteren erhielten sie ein Instruktionsblatt mit Hinweisen zur Durchfüh‐ rung einer Pretend-Reading-Situation. Studierende, die an den Durchgängen C und D teilnahmen, aus denen die für die sieben Textanalysen ausgewählten Pretend-Reading-Situationen ausgewählt wurden (vgl. II.2.2), wurden vor der Durchführung der Pretend-Reading-Situation in einer für sie verbindlichen Schulung 107 zum Pretend Reading von der Autorin angeleitet. In den einzelnen Seminarsitzungen berichteten Studierende, die bereits während der Vorlesungs‐ zeit eine Pretend-Reading-Situation durchführten, von ihren Erfahrungen und gaben ggf. Tipps zur Durchführung an ihre Kommilitoninnen und Kommili‐ tonen weiter. Durch die Erprobungen des Settings zum Pretend Reading im praktischen Kontext innerhalb der einzelnen Zyklen (A bis D) stellte sich heraus, welche Hinweise zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation (vgl. Instruktions‐ blatt) und welche von den Erwachsenen intuitiv eingesetzten Strategien sich - im Hinblick auf das Bestreben, eine monologische, möglichst kohärente Text‐ produktion herauszufordern - als zielführend oder kontraproduktiv erwiesen. So folgten einer Evaluation Modifizierungen (Ergänzungen und Streichungen) von Handlungsanweisungen zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situa‐ tion (Re-Design). Zwischen den einzelnen Durchgängen fand somit jeweils eine Überarbeitung und Ergänzung des Instruktionsblattes zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation statt. 108 Dabei wurden Erfahrungen aus den bereits durchgeführten Pretend-Reading-Situationen eingearbeitet. Zudem flossen Hinweise und Fragen von Studierenden aus den einzelnen Seminaren und 224 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="225"?> 109 An dieser Stelle danke ich Mitgliedern der Dissertationsrunde der Universität Kassel für ihre Hinweise zum alternativen Setting. Überlegungen von Norbert Kruse ein. Bei der Entwicklung von Hinweisen zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation und des Settings fand eine - wie von Reinmann erwähnte - „Optimierung von Gestaltungsprozessen“ (Reinmann 2018, S. 11) statt. Das Vorgehen lässt sich mit den Begriffen „Ge‐ staltung, Durchführung, Analyse und Re-Design“ (ebd.) treffend beschreiben. Entsprechend dem eingangs von Klees und Tillmann genannten Ziel (vgl. Klees/ Tillmann 2015, S. 92) wurde auch in der vorliegenden Studie eine Lernumgebung in einem praktischen Kontext gestaltet. Dabei ging es jedoch weniger um die (Weiter-)Entwicklung und Prüfung einer Lerntheorie. Während der Erprobung von Pretend-Reading-Situationen innerhalb der einzelnen Zyklen ergaben sich Probleme, für die eine Lösung gefunden werden musste, um das Lernformat entsprechend dem Ziel, eine monologische Textpro‐ duktion herauszufordern, durchzuführen. Demzufolge entstand während des Forschungsprozesses u. a. das Ziel, alternative Handlungsmöglichkeiten für die oder den Erwachsenen zu entwickeln, wie sie oder er in einer Situation reagieren kann, in der das Kind ins Stocken gerät. Dies entspricht den von Reinmann er‐ wähnten neuen Zielen, die während des Gestaltungs- und Forschungsprozesses entstehen (vgl. Reinmann 2018, S.-11). In den Zyklen B, C und D wurden zusätzlich Daten zu Pretend-Reading-Si‐ tuationen mit veränderten Settings erprobt: Im Zyklus C wurde einmalig ein alternatives Setting getestet, in dem einem Vorschulkind zunächst von einer oder einem Erwachsenen ein Bilderbuch A vorgelesen wurde. Anschließend wurde das Kind aufgefordert, Bilderbuch B „vorzulesen“. Dieses Setting wurde jedoch verworfen. 109 Im Zyklus D wurde sechsmal eine zusätzliche Pretend-Reading-Si‐ tuation erprobt: Zunächst fand eine herkömmliche Pretend-Reading-Situation mit einem Kind im Vorschulalter statt. Nach einem selbst gewählten Zeitraum wurde die Pretend-Reading-Situation mit demselben Kind und demselben Bil‐ derbuch wiederholt. Der Unterschied zur herkömmlichen Pretend-Reading-Si‐ tuation bestand darin, dass beim zweiten Versuch die oder der Erwachsene dem Kind das Bilderbuch nicht unmittelbar vor dem Pretend Reading vorlas. Die in diesem Rahmen erhobenen Daten fließen nicht in die vorliegende Arbeit ein. Des Weiteren liegt aus den Zyklen B und C je eine Pretend-Reading-Situation vor, bei der das Vorschulkind aufgefordert wurde, ein Bilderbuch vorzulesen, was es im Gegensatz zur herkömmlichen Pretend-Reading-Situation nur einmal gehört hatte. 2.1 Erhebungsverfahren 225 <?page no="226"?> 110 Hierbei nehmen Klees/ Tillmann (2015) auf Plomp (2013) und Mayring (2010) Bezug. Beim DBR-Ansatz lassen sich die bereits erwähnten Hauptphasen Vorprüfung, Prototypenentwicklung und Beurteilungsphase unterscheiden, wobei auf multiple Erhebungsmethoden zurückgegriffen wird 110 (vgl. Klees/ Tillmann 2015, S. 92f.). In der ersten Phase, der Vorprüfung, die die bildungspraktische Problemanalyse darstellt, wird das Bildungsproblem auf der Basis von Forschungsergebnissen identifiziert. Dabei werden Forschungsfragen und Hypothesen formuliert. Zudem wird auf theoretischer Basis „ein erster Prototyp der Designlösung entworfen, der im weiteren Verlauf der Untersuchung sukzessive zur Lösung des Bildungsproblems weiterentwickelt wird“ (ebd., S. 93). Im Forschungsprozess der vorliegenden Studie fand die Entwicklung des Settings der Pilotstudie, das als Prototyp bezeichnet werden kann, ebenfalls vorwiegend auf einer theoretischen Basis statt. Auch dieser Prototyp wurde im weiteren Verlauf der Studie sukzessive weiterentwickelt. Diese Weiterentwicklung diente u. a. zur Lösung des „Problems“, wie Kinder, die noch nicht fähig sind zu lesen, zu einer monologischen, möglichst kohärenten Textproduktion herausgefordert werden können, anstatt konzeptionell mündlich zu erzählen oder in einen Dialog mit der erwachsenen Person zu treten. Die erste Idee zur Datenerhebung im Rahmen der vorliegenden Studie be‐ stand darin, mehreren Kindern zunächst das gleiche Bilderbuch mehrfach vorzulesen und sie anschließend aufzufordern, dieses Buch „vorzulesen“. Die Datenerhebung sollte durch die Forscherin durchgeführt werden. Da ein Ziel der geplanten Studie darin besteht, Kindertexte im Hinblick auf Musterhaftigkeit und Übernahmen von Mustern aus dem Bilderbuchtext zu analysieren, sollte ein Kriterium zur Auswahl des Bilderbuches sein, dass es eine hohe Anzahl an sprachlichen Mustern enthält. Zusätzlich sollte das gewählte Bilderbuch den Kindern gefallen, damit sie interessiert sind, es mehrmals vorgelesen zu bekommen. Aufgrund der enthaltenen Phraseologismen und Variationen an Phraseologismen wurden zunächst die Bilderbücher Ich bin der Stärkste im ganzen Land und Ich bin der Schönste im ganzen Land von Mario Ramos als geeignete Bilderbücher für die geplante Studie in den Blick genommen (vgl. dazu Preußer 2014, S. 15). Diese erste Idee wurde dahingehend verändert, dass zum Pretend Reading ein Bilderbuch ausgewählt werden sollte, welches das Kind bereits kennt und mag. Auf diese Weise sollte an bereits Vorhandenes angeknüpft werden. Zudem entfiel auf diese Weise das mehrfache Vorlesen vor der Pretend-Reading-Situation. Eine weitere Änderung der Datenerhebung kam durch die Idee zustande, Studierende im Rahmen von Seminaren die Methode Pretend Reading erproben zu lassen. 111 226 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="227"?> 111 An dieser Stelle bedanke ich mich bei Friederike Heinzel für diese Idee. 112 Bei einem ersten Versuch, bei dem die Studierende das Verb „vorlesen“ verwendete, weigerte sich das Kind. Als das Kind zu einem späteren Zeitpunkt den Wunsch äußerte, das Buch nun doch „vorlesen“ zu wollen, wurde vom Elternteil das Verb „erzählen“ verwendet. Während der Pilotstudie wurde das Setting zum Pretend Reading erprobt und modifiziert. Zunächst bekamen die Studierenden zwei Settings zur Auswahl: 1. Der Erwachsene liest dem Kind mehrmals ein Bilderbuch vor (zweibis dreimal) und lässt anschließend das Kind das Buch „vorlesen“, nimmt die Szene auf und transkribiert (siehe Merklinger 2012) sie. 2. Der Erwachsene lässt sich von einem Kind sein Lieblingsbilderbuch „vorlesen“, zeichnet die Szene auf und transkribiert sie. Eines der beiden Settings konnte mit einem Kind, das noch nicht lesen konnte, erprobt werden. Dabei sollte das verwendete Bilderbuch nicht in Reimform vorliegen. Nachdem eine Textproduktion zu einem Bilderbuch entstanden war, bei der das Kind zum Bilderbuch erzählte und Beschreibungen der Bilder des Bilderbuches vornahm, 112 anstatt so zu tun, als würde es vorlesen, wurde das Setting zum Lieblingsbuch modifiziert: Damit die Kinder ein Vorbild für das „Vorlesen“ haben und möglichst nicht zum Buch und den Bildern erzählen, sondern so tun, als würden sie vorlesen, wurden die folgenden zwei Varianten für das Setting zum Lieblingsbuch zur Erprobung angeboten. Die Instruktionen für Variante 1 lauteten: 1. Lesen Sie zuerst dem Kind sein Lieblingsbuch selbst vor. Nehmen Sie dabei eine typische Vorlesehaltung ein (sitzen Sie aufrecht auf einem Stuhl/ Sessel, halten Sie das Buch in einer typischen Vorlesepose, verdeutlichen Sie mit Hilfe des Zeigefingers, was Sie gerade vorlesen…) 2. Bitten Sie nun das Kind, das Lieblingsbuch vorzulesen. Bieten Sie dem Kind den „Vorlesesessel“ an, auf dem Sie saßen, als Sie vorgelesen haben. („So, und jetzt du.“) Die Instruktionen für Variante 2 lauteten: 1. Lesen Sie dem Kind zuerst ein Buch Ihrer Wahl vor (typische Vorlesehaltung, s.-o.) - „Ich lese dir mal ein Buch vor.“ 2. Bitten Sie nun das Kind, Ihnen sein Lieblingsbuch „vorzulesen“. Dabei entschieden sich alle Studierenden, die zu diesem Zeitpunkt das Pretend Reading noch nicht erprobt hatten, geschlossen für Variante 1. 2.1 Erhebungsverfahren 227 <?page no="228"?> 113 Hierfür wird auf das im Rahmen der vorliegenden Studie entwickelte Instruktionsblatt zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation zum Durchgang D (SoSe 2019) zu‐ rückgegriffen (vgl. digitaler Anhang). Ein Bestandteil der zweiten Phase, der Prototypenentwicklung, besteht darin, die konkrete Lehr-Lern-Situation zu erfassen (vgl. Klees/ Tillmann 2015, S. 93). Im Rahmen der vorliegenden Studie fand im Gegensatz dazu keine Erfassung einer Lehr-Lern-Situation in einer Institution (Kindertagesstätte) statt, in der anschließend das Setting zum Pretend Reading erprobt wurde. Zudem wurden die meisten Pretend-Reading-Situationen im privaten Kontext im häuslichen Umfeld durchgeführt. In der zweiten Phase liegt der Schwerpunkt „im anwen‐ dungsorientierten Bereich“ (ebd.). Dabei erfolgt die Prototypenentwicklung zyklisch, wobei sowohl Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftler als auch „Anwenderinnen bzw. Anwender“ daran beteiligt sind. (Vgl. ebd.) In dieser Ter‐ minologie gesprochen könnten die Studierenden, die die Erprobungen durch‐ führten, in gewisser Weise als „Anwenderinnen bzw. Anwender“ bezeichnet werden, die gemäß den Instruktionen, die von Wissenschaftlerinnen und Wis‐ senschaftlern entwickelt wurden, handelten. Allerdings wird die Bezeichnung Anwenderin bzw. Anwender der Rolle der Studierenden, die auch selbstständig auf unvorhergesehene Situationen reagieren mussten, nicht gerecht. Dass die Weiterentwicklung des Prototyps eines Settings zum Pretend Reading zyklisch erfolgte, steht außer Frage. Modifikationen am Setting (Prototyp) wurden bereits während der Pilotstudie auf Grundlage gemachter Erfahrungen einzelner Stu‐ dierender vorgenommen. Nach Klees und Tillmann kann die Evaluation unter Einsatz von qualitativen und/ oder quantitativen Methoden erfolgen (vgl. ebd.). Dabei liegt das Ziel in der „Sicherstellung der Entwicklung einer kontextbezo‐ genen praxistauglichen Designlösung zur Lösung des Bildungsproblems“ (ebd.). Zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation mit einem Kind im Vor‐ schulalter wurde das folgende Setting 113 entwickelt. I. Die Pretend-Reading-Situation in vier Schritten 1. Der Erwachsene informiert das Kind über das geplante Vorgehen. Beispiel A: „Du hast dir ja ein Buch ausgesucht, das du gerne magst. Ich möchte dir dieses Buch jetzt vorlesen. Du kannst ja mal gucken, ob ich das gut vorlese. Und dann liest du mir das Buch vor.“ Beispiel B: „Ich möchte dir jetzt gern das Bilderbuch vorlesen, das du ausgesucht hast. Und wenn ich fertig bin, tauschen wir und dann darfst du mir das Buch vorlesen.“ 2. Der Erwachsene liest dem Kind das Bilderbuch vor. 228 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="229"?> Beispiel: „Dann lese ich dir jetzt das Buch vor, hier aus meinem Vorlesesessel.“ 3. Der Erwachsene fordert das Kind auf, nun das Bilderbuch „vorzulesen“ (siehe II.2) 4. Das Kind tut so, als würde es das Bilderbuch vorlesen. Von diesen vier Schritten ist eine Videoaufnahme anzufertigen. Kamera 1 zeigt die beiden Personen von vorne. Sie dient dazu, neben den sprachlichen Äuße‐ rungen Mimik, Gestik und Körperhaltung während der Pretend-Reading-Situa‐ tion aufzuzeichnen. Kamera 2 zeigt das aufgeschlagene Bilderbuch. Sie wird hinter den Personen positioniert („Blick über die Schulter“). Diese Kamera soll das Umblättern, Zeigen auf Bilddetails und Wörter während der Pretend-Rea‐ ding-Situation aufzeichnen. II. Beschreibung des Settings Lassen Sie das Kind ein Bilderbuch auswählen, das es mag (und schon mehr‐ mals vorgelesen bekommen hat). Achten Sie darauf, dass es sich um kein gereimtes Bilderbuch handelt. Das gewählte Buch soll außerdem kein didaktisiertes Leselernbuch sein (z. B. aus der Reihe „Sonne, Mond und Sterne“), sondern möglichst ein ästhetisch anspruchsvolles Bilderbuch, das zum Vorlesen und Anschauen gedacht ist. Auch Pop-up-Bücher sollten nach Möglichkeit nicht ausgewählt werden. Beispiel: „Ich freue mich, dass du Dir Zeit genommen hast. Such Dir mal ein Buch aus, das du gerne magst und das du schon öfter vorgelesen bekommen hast. Ich bin gespannt, welches Buch du Dir aussuchst.“ 1. Sorgen Sie für eine ruhige Atmosphäre. Nehmen Sie in einem „Vorlese‐ sessel“ Platz. Das Kind sollte auf einer Sitzgelegenheit neben Ihnen sitzen, sodass Sie zusammen in das Bilderbuch sehen können (nicht übereck sitzen). Die beiden Sitzgelegenheiten sollten sich optisch voneinander unterscheiden. Lesen Sie zuerst dem Kind das Bilderbuch vor. Nehmen Sie dabei eine typische Vorlesehaltung ein: Sitzen Sie aufrecht auf einem Stuhl/ Sessel, halten Sie das Buch in einer typischen Vorlesepose, verdeutlichen Sie mit Hilfe des Zeigefingers, was Sie gerade vorlesen… (→ Vorbild zum Imitieren) Zeigen Sie beim Vorlesen jedoch nicht auf die Bilder des Bilderbuches. Führen Sie die Pretend-Reading-Situation nicht an einem Tisch durch, außer wenn dies vom Kind gewünscht wird. 2.1 Erhebungsverfahren 229 <?page no="230"?> 114 Zum Buch finden Sie umfangreiches Zusatzmaterial im digitalen Anhang. Dieser ent‐ hält weitere praktische Hinweise zur Durchführung von Pretend-Reading-Situationen, Schulungsmaterial und illustrierende tabellarische Darstellungen. Sie finden ihn im Downloadbereich des Webshops des Narr-Verlags unter https: / / www.narr.de/ Pretend -Reading-Vorschulkinder-lesen-vor-38791-1. 2. Bitten Sie nun das Kind, das von ihm gewählte Bilderbuch vorzulesen. Bieten Sie dem Kind den „Vorlesesessel“ an, auf dem Sie saßen, als Sie vorgelesen haben. Beispiel A: „Jetzt hab ich Dir das Buch vorgelesen und du hast zugehört. Und jetzt tauschen wir mal! Jetzt liest DU mir das Buch vor und ICH höre Dir zu. Du darfst dich jetzt auf den Vorlesesessel setzen und bekommst das Buch und ich setze mich auf deinen Platz.“ Beispiel B: „Nun hab ich Dir das Buch vorgelesen. Jetzt würde ich mich freuen, wenn du mir das Buch mal vorliest. (…)“ Beispiel C: „Und jetzt höre ich zu, und du liest mir das Buch vor. (…) Es folgt eine Darstellung des Prozesses, in dem das Instruktionsblatt mit Hinweisen zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation für Durchgang A (vgl. digitaler Anhang 114 ) entwickelt wurde. Im Rahmen der Pilotstudie trug ein Kind den Text eines Bilderbuches vor, wobei dieser Text bis auf wenige einzelne Wörter identisch zum Text des Bilderbuches war. Das Kind kannte das Bilderbuch auswendig. Da mit Hilfe der Pretend-Reading-Situation jedoch Textproduktionen analysiert werden sollen, wurde der folgende Hinweis für das Instruktionsblatt entwickelt: Fragen Sie bei der Wahl des Bilderbuches das Kind nicht, welches Buch es „auswendig kann“. Bei der Entwicklung der Hinweise zum Instruktionsblatt fand zudem eine Anlehnung an die Hinweise zur Durchführung einer Diktiersituation (vgl. Merklinger 2012) statt. Analog zum Hinweis, als Skriptorin oder Skriptor nicht den Ausdruck erzählen, sondern den Ausdruck schreiben zu verwenden (vgl. Merklinger 2012, S. 40), wurde folgender Hinweis gegeben: Verwenden Sie die Formulierungen „vorlesen“ und „tu mal so, als würdest du vorlesen“. Verzichten Sie auf den Ausdruck „erzählen“. Zudem erhält das Kind beim diktierenden Schreiben keine Impulse zum Weiterschreiben seines Textes. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Frage nach einer Fortsetzung leicht dazu führen könnte, dass die Situation in einen Dialog wechselt - und zwar „vom Diktieren zum Gespräch, von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit [Hervorh. im Original]“ (Merklinger 2012, S. 54). So könnte das Kind Halbsätze wie im Mündlichen äußern („Dass die Maus das gesagt hat mit der Grüffelogrütze [Hervorh. im Original]“ (ebd.)) oder Aspekte aneinanderreihen, 230 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="231"?> 115 An dieser Stelle danke ich den Studierenden aus dem Seminar Textkompetenz in der Vorschulzeit und am Schulanfang (WS 2017/ 18) sowie Norbert Kruse für seine Formulierung. welche es ohne die Nachfrage nicht aufschreiben würde. (Vgl. ebd.) Analog zu diesen empfohlenen Verhaltensweisen wurde der folgende Hinweis entwickelt, um den Wechsel von einer monologischen Textproduktion zu einem Dialog während einer Pretend-Reading-Situation möglichst zu vermeiden: Verzichten Sie beim eigenen Vorlesen des Bilderbuches auf Fragen und Kommentare zum Vorgelesenen. Verzichten Sie auf Nachfragen bezüglich der Handlung oder der handelnden Personen der Geschichte wie „Und wer ist das? “/ „Und was macht der? “, um das Kind zu animieren. Es könnte zu knappen konzeptionell mündlichen Antworten des Kindes führen („Der Frosch.“/ „Angeln.“), zu einem Wechsel von der Monologizität zur Dialogizität, vom „Vorlesen“ zu einem Gespräch oder zum Erzählen. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Verhalten in einer Diktiersitua‐ tion und einer Pretend-Reading-Situation besteht im Zeigen auf vorgelesene Wörter. Beim langsamen Vorlesen von bereits Geschriebenen zeigt die Skrip‐ torin oder der Skriptor jeweils auf das gelesene Wort, was die Diktiersituation „zu einer Situation der Schriftlichkeit“ (Merklinger 2012, S. 52) macht (vgl. ebd.). In der Pretend-Reading-Situation soll auch dadurch eine Haltung eingenommen werden, die den Gebrauch konzeptioneller Schriftlichkeit herausfordert, dass der oder die Erwachsene während des Vorlesens mit dem Finger unter den Wörtern entlanggefährt: Lesen Sie zuerst dem Kind das gewählte Bilderbuch vor. Nehmen Sie dabei eine typische Vorlesehaltung ein: Sitzen Sie aufrecht auf einem Stuhl/ Sessel, halten Sie das Buch in einer typischen Vorlesepose, verdeutli‐ chen Sie mit Hilfe des Zeigefingers, was Sie gerade vorlesen… (→ Vorbild zum Imitieren) Im Folgenden wird gezeigt, wie Fragen von Studierenden zu Modifikationen an den Instruktionen führten. So bezog sich eine Frage auf Handlungsmöglich‐ keiten für den Fall, dass das Kind erzählt anstatt „vorzulesen“. Im Seminar wurden dazu folgende Überlegungen angestellt: Versuche ich durch Impulse eine „Vorlesehaltung“ zu initiieren bzw. konzeptionelle Schriftlichkeit in ge‐ wissem Maße herauszufordern? Was wäre ein möglicher Impuls? Es entstand die Idee, auf die Seiten des Bilderbuches zu verweisen. Als möglicher Impuls wurde die Frage „Wo bist du denn jetzt? “ vorgeschlagen. Das Instruktionsblatt wurde letztendlich um den folgenden Hinweis 115 ergänzt: Wenn das Kind erzählt anstatt „vorzulesen“, verweisen Sie auf das Umblättern der Seiten, indem Sie das Kind fragen „Können wir schon umblättern? “ 2.1 Erhebungsverfahren 231 <?page no="232"?> 116 In den Auszügen aus Transkripten werden die Stellen, die zu Ergänzungen und Modifikationen des Instruktionsblattes führten, hervorgehoben (fett gedruckt). 117 An dieser Stelle danke ich der Studierenden des Seminars „Schreibunterricht in Klasse 1 + 2“ (WS 2017/ 18) für ihre Fragen nach Durchführung einer Pretend-Reading-Situation sowie Norbert Kruse für seine Ideen. 118 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zu folgendem Bilderbuch: Brenner, Katharina/ Roßbach, Iris (2003): Mit den Wichteln durch die Woche. Kangaroo. Eine weitere Studierende oder ein Studierender führte die Pretend-Rea‐ ding-Situation aus organisatorischen Gründen zu einem früheren Zeitpunkt durch. Das ihr zu diesem Zweck zur Verfügung gestellte Instruktionsblatt enthielt bereits die folgenden fünf Instruktionen: 1. Fragen Sie bei der Wahl des Bilderbuches das Kind nicht, welches Buch es „auswendig kann“. 2. Verwenden Sie die Formulierungen „vorlesen“ und „tu mal so, als würdest du vorlesen“. Verzichten Sie auf den Ausdruck „erzählen“. 3. Verzichten Sie während der Pretend-Reading-Situation weitgehend auf ein Gespräch über Inhalte des Buches, um nicht anstatt der Monologizität des „Vorlesens“ die Dialogizität herauszufordern. 4. Vermeiden Sie Kommentare zu den „vorgelesenen“ Inhalten. 5. Stellen Sie zur Animation des Kindes keine Fragen zur Handlung oder den handelnden Personen der Geschichte wie „Und wer ist das? “/ „Und was macht der? “ etc. Die Fragen 116 der oder des Studierenden bezogen sich darauf, wie auf bestimmte Äußerungen bzw. Fragen des Kindes (K) während der von ihr oder ihm durch‐ geführten Pretend-Reading-Situation zu reagieren sei. 117 K: […] aber MANCHE bleiben trocken und buddeln fröhlich im sand. [.] aber wo/ [4] holt paul seine gitarre oder wie? [3] wo paul seine gitarre rausgeholt hat, singen ALLE fröhlich mit. 118 Daraufhin wurde das Instruktionsblatt um den folgenden Hinweis ergänzt: Antworten Sie auf inhaltliche Nachfragen des Kindes. Beispiel: „Heißt der Peter? “ „Er heißt Paul.“ K: [5] was ist da? [zeigt auf das Wort ‚Freitag‘] was steht da? E: [.] donnerstag hatten wir gerade vorher, also ist das der [? ] 232 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="233"?> 119 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zum Bilderbuch: Brenner, Katharina/ Roßbach, Iris (2003): Mit den Wichteln durch die Woche. Kangaroo. 120 An dieser Stelle danke ich der Studierenden aus dem Seminar „Textkompetenz in der Vorschulzeit und am Schulanfang“ (WS 2017/ 18) für ihre Frage. 121 An dieser Stelle danke ich Norbert Kruse für diesen Vorschlag. 122 An dieser Stelle danke ich Norbert Kruse für diesen Vorschlag. 123 E: Erwachsene/ r. K: die: nstag m a c h en die wichteljungs und die wichtelmädchen einen schönen nachmittag. 119 Für eine solche Situation wurde der folgende Hinweis für das Instruktionsblatt entwickelt: Falls das Kind auf ein einzelnes Wort zeigt und Sie fragt „Was steht hier? “, sagen Sie ihm, was dort steht, anstatt das Kind durch ein gelenktes Gespräch selbst die Antwort finden zu lassen. Eine weitere Frage 120 einer Seminarteilnehm‐ enden bezog sich auf das Verhalten der oder des Erwachsenen in einer Situation, in der das Kind versucht, Wörter zu lesen, da es bereits über Buchstabenkenntnis verfügt. Folgender Hinweis 121 wurde für eine solche Situation formuliert: Falls das Kind versucht, einzelne Wörter zu lesen, greifen Sie nicht ein und unterbinden Sie es nicht. Zudem wurde in einem Seminar die Frage geäußert, ob die Frage Und wie geht es weiter? in einer Pretend-Reading-Situation gestellt werden dürfe. Diese Frage wurde auf das Informationsblatt aufgenommen: 122 Falls das Kind ins Stocken kommt, fragen Sie es „Wie geht’s weiter? “. Exemplarisch wird im Folgenden die Weiterentwicklung des Informationsblattes zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation zwischen den Durchgängen A und B dargestellt. Die Modifikationen beziehen sich vor allem auf Hinweise, die beim Kind das Entstehen des Eindrucks verhindern sollen, eine möglichst genaue Wiedergabe des Textes sei erforderlich. Zudem betreffen sie die Wahl des Bilderbuches, gestaltendes Vorlesen und Impulse während des Vorlesens. De‐ taillierte Darstellungen der Modifikationen am Informationsblatt, die zwischen Durchgang A und B, zwischen Durchgang B und C und zwischen Durchgang C und D stattfanden, sind im digitalen Anhang enthalten. Die folgende Szene 123 zeigt die Reaktion eines Kindes auf die Formulierung was du noch weißt während einer Pretend-Reading-Situation: E: dann darfst du jetzt auf den vorlesesessel und ich höre mal zu, wie du mir vorliest. K: hm: [7] soll ich also beim ersten satz anfangen [? ] E: ja. 2.1 Erhebungsverfahren 233 <?page no="234"?> 124 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zum Bilderbuch: Lindgren, Astrid/ Rettich, Rolf (1999): Pippi feiert Geburtstag. Übers. ins Deutsche von Cäcilie Heinig. Hamburg: Oetinger. 125 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zum Bilderbuch: Friedl, Peter/ Grimm, Sandra (2010): Jakob ist wütend. Carlsen. K: [.] hm: [.] (erste Satz) [flüstert] E: wo waren wir? einfach das, was du noch weißt. das war die geburtstagsfeier von [? ] K: von pippi. hm: [8] kann ich einfach nur lesen das, was ich noch weiß [? ] E: genau. das kannst du einfach machen. K: ihr lieben kinder, ihr sollt doch auch noch ihre geburtstagsgeschenke haben. 124 Der Transkriptausschnitt verdeutlicht, dass die Formulierungen des Kindes sehr nah an denen des Buchtextes sind. Generell könnte die Wahl der Formulierung „was du noch weißt“ beim Kind den Eindruck entstehen lassen, es ginge darum, das „vorzulesen“, was ihm noch in Erinnerung geblieben ist bzw. um eine korrekte Wiedergabe (sprachlich und/ oder inhaltlich) des Bilderbuches. Um dies zu verhindern, wurde folgende Instruktion ergänzt: Fordern Sie das Kind nicht auf „vorzulesen“, „was es noch weiß“, damit beim Kind nicht der Eindruck entsteht, es ginge darum, das Buch korrekt wiederzugeben. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Modifikationen zum Einsatz der Strategie Umblättern. Als mögliche Reaktion der oder des Erwachsenen für die Situation, wenn das Kind bei seiner Textproduktion ins Stocken gerät, enthält das Informationsblatt zu Durchgang A bereits den Hinweis Falls das Kind ins Stocken kommt, fragen Sie es „Wie geht’s weiter? “ Auf das Umblättern soll gemäß dem Instruktionsblatt verwiesen werden, wenn das Kind erzählt anstatt „vorzulesen“: Wenn das Kind erzählt anstatt „vorzulesen“, verweisen Sie auf das Umblättern der Seiten, indem Sie das Kind fragen „Kann ich/ Können wir schon umblättern? “ Es konnte beobachtet werden, dass mehrere Studierende bei der Erprobung einer Pretend-Reading-Situation auf die Strategie Umblättern zurückgriffen - allerdings in der Situation, wenn das Kind ins Stocken kam bzw. nicht weiterwusste. Es folgen Überlegungen zu dieser Strategie anhand von Ausschnitten aus zwei Pretend-Reading-Situationen. K: [3] ich will noch KAKAO. E: mhm [3] genau [.] und wie geht’s weiter? K: [3] weiß ich nicht mehr. 125 234 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="235"?> 126 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zu: Arnold, Marsha Diane/ Liwska, Renata (2017): Die Schneemacher. Hildesheim: Gerstenberg. Der Transkriptausschnitt macht deutlich, dass durch die Anwendung der Strategie Wie geht’s weiter? kein „Weiterlesen“ des Kindes initiiert. Die oder der Studierende steigt daraufhin auf die Strategie Umblättern um. E: bist du mit der seite fertig? [3] dann können wir umblättern, wenn du mit der seite fertig bist. K: ich weiß nicht, wie’s weitergeht. E: vielleicht fällt dir das ein, wenn du umgeblättert hast. Durch diesen Hinweis wird die Textproduktion zu einem gewissen Grad von der oder dem Erwachsenen gesteuert: Das Bild auf der nächsten Seite soll die Textproduktion wieder in Gang setzen, was einen bestimmten inhaltlichen Fokus setzt. K: [blättert um] [5] er wirft [.] sei/ stuhl um [3] und knabberzahn fiel auf den boden [blättert um] Nach zwei Hinweisen zum Umblättern geht die Textproduktion weiter. Auch im folgenden Transkriptausschnitt wird von der oder dem Erwachsenen auf die Strategie „Umblättern“ zurückgegriffen. K: okay. igel sah, wie dachs in den himmel s t a rr - te. E: [8] hm [2] wie geht die geschichte weiter [.] wollen wir mal auf der nächsten seite gucken? K: [11] weiß ich nicht. [5] [blättert zwei Seiten weiter] dachs h o l t e [2] t ö p f e, p f a n n e n [2] aus (seinem)haus [blättert um] E: weißt du, wie die geschichte hier weiter geht? K: nein. [blättert um] DA aber [3] (ich weiß aber) noch, was sagt beutelratte [.] heute ziehen wir die schlaf-an-züge verkehrt rum an [.] klappt bei uns immer in der familie immer. [blättert um] DA [.] ist der (dachs) nach draußen gegangen [.] und jubelte ‚SCHNEE, schnee, [blättert um] zucker.‘ [blättert um] weiß ich auch nicht mehr. [blättert um] und warteten und warteten, [blättert um] bis es [blättert um] so weit war. 126 2.1 Erhebungsverfahren 235 <?page no="236"?> Das Kind wendet die Strategie Umblättern auch im weiteren Verlauf des „Vorlesens“ an, wenn es sich nicht mehr an den Text der Seiten erinnern kann und „liest“ nur die Seiten „vor“, bei denen es sich erinnern kann. Möglicherweise wurde der Gebrauch dieser Strategie durch die Impulse der Studierenden (wollen wir mal auf der nächsten Seite gucken? weißt du, wie die geschichte hier weiter geht? ) in Gang gesetzt. Beim folgenden Text handelt es sich um die reine Textproduktion des Kindes. Formulierungen, die identisch zu denen des Bilderbuches sind, sind unterstrichen. Die sprachlichen Formulierungen des Kindes sind dabei sehr nah am Text des Bilderbuches. igel sah, wie dachs in den himmel s t a rr - te. dachs h o l t e t ö p f e , p f a n n e n aus (seinem) haus. ,was tust du da‘ (der) dachs versucht, es schnei-en zu lass-en. aber kein schnee: fiel. ‚heute ziehen wir die schlaf-an-züge verkehrt rum an, klappt bei uns immer in der familie immer‘. DA ist der (dachs) nach draußen gegangen und jubelte ‚SCHNEE,schnee,zucker.‘ und warteten und warteten, bis es so weit war. Dadurch, dass sich das Kind darauf beschränkt, nur das „vorzulesen“, an das es sich erinnert, werden Seiten (und damit Inhalte) ausgelassen, was zur Produktion eines Textes mit mehreren Leerstellen führt. Das Kind scheint weniger darum bemüht zu sein, einen kohärenten Text zu produzieren, sondern vielmehr darum, einen Text möglichst nah am Originaltext zu produzieren. Einerseits führt der Vorschlag der oder des Erwachsenen, umzublättern, in beiden Beispielen zur weiteren Textproduktion des Kindes. Somit ist die Strategie in Bezug auf die Textproduktion an sich als „erfolgreich“ einzuschätzen. Andererseits könnte durch die Aufforderung bzw. den Vorschlag, umzublättern, in Situationen, in denen das Kind ins Stocken kommt, beim Kind der Eindruck entstehen, es dürfe oder solle nur Inhalte „vorlesen“, die so wirklich im Buch stehen bzw. es ginge um eine möglichst genaue Wiedergabe des Textes. Beim Kind diese Vorstellung zu bewirken wäre hinderlich für die Beantwortung der Forschungsfrage, wie das Kind einen Text organisiert (u. a. wird Kohärenz hergestellt und wie? ). An folgendem Transkriptausschnitt kann beobachtet werden, wie die oder der Erwachsene in einer Pause während des Textproduktionsprozesses des Kindes selbst eine Seite des Buches umblättert. K: sie machte mit jeden eine [.] runde [.] durch den schlosspark. [20] dann ging sie rein, [.] ging in ihr (zimmer) [5] und weinte. 236 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="237"?> 127 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zur Geschichte Der Prinz und das Einhorn aus dem Buch: Königsberg, Katja/ Broska, Elke (2013): Einhornge‐ schichten. Ravensburger. 128 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zum folgenden Bilderbuch: Friedl, Peter/ Grimm, Sandra: Jakob ist wütend (2010). Carlsen. E: wollen wir mal gucken auf der nächsten seite, [blättert um] wie es weitergeht? [blättert um] K: dann ging sie zu ihren vater und flüsterte ihn was. der vater lachte [.] und dann ging sie zum balkon und rief nach unten ‚wer meinen armreif fängt, der so soll er mein (ge gemal) werden.‘ [blättert um] 127 Der Hinweis zum Verhalten der oder des Erwachsenen in Situationen, in denen das Kind ins Stocken kommt, wurde um zwei Hinweise zum Umblättern erweitert: Falls das Kind ins Stocken kommt, fragen Sie es „Wie geht’s weiter? “. Bewahren Sie Ruhe und lassen Sie Pausen zu. Fordern Sie das Kind nicht auf, umzublättern. Überlassen Sie das Umblättern nach Möglichkeit (! ) dem Kind. Eine weitere Parallele zum diktierenden Schreiben besteht nun darin, dass dem Kind bei der mündlichen Textproduktion Zeit gegeben wird. Beim dik‐ tierenden Schreiben gilt dies als eine von vier Möglichkeiten, implizit zu Schriftlichkeit herauszufordern (vgl. Merklinger 2012, S.-56). Eine weitere Modifikation bezieht sich auf die Bestätigung der Richtigkeit von Aussagen. In der folgenden Szene wird vom Kind „Vorgelesenes“ durch die oder den Erwachsenen mit genau bestätigt. Somit wird eine inhaltlich korrekte Aussage (Übereinstimmung mit dem Inhalt des Buches) bestätigt. K: [3] ich will noch KAKAO. E: mhm [3] genau [.] und wie geht’s weiter? 128 Dies könnte beim Kind den Eindruck erwecken, dass beim Pretend Reading der Inhalt des Buches korrekt wiederzugeben ist und Inhalte nicht erfunden werden dürfen. Das Instruktionsblatt wurde um den folgenden Hinweis erweitert: Verzichten Sie darauf, vom Kind richtig wiedergegebene Inhalte des Buches zu bestätigen („Genau“), um beim Kind nicht den Eindruck zu erwecken, dass es den Inhalt des Buches korrekt wiedergeben muss. Hinsichtlich der Wahl des Bilderbuches konnte beobachtet werden, dass auch di‐ daktisierte Leselernbücher zur Durchführung von Pretend-Reading-Situationen gewählt wurden. Daher wurde folgender Hinweis ergänzt: Das gewählte Buch 2.1 Erhebungsverfahren 237 <?page no="238"?> 129 Vgl. dazu Kruse, Iris (2010): Das Vorlesen lernförderlich gestalten: Astrid Lindgrens Märchen ‚Sonnenau‘ - Ein Unterrichtsbeispiel zum ‚Höreraktivierenden Vorlesen‘. In: Grundschulunterricht. Deutsch, H. 1, S. 18-22. und Kruse, Norbert (o. J.): Vorlesebeobach‐ tung. Handreichung. Universität Kassel. 130 Vgl. dazu Kruse (2010). 131 Auszug aus einer Pretend-Reading-Situation (Durchgang A) zur Geschichte Puuhs Honigbaum aus dem dem Bilderbuch: Walt Disney (2010): Winnie Puh und seine Freunde. Parragon. soll außerdem kein didaktisiertes Leselernbuch sein (z. B. aus der Reihe „Sonne, Mond und Sterne“), sondern möglichst ein ästhetisch anspruchsvolles Bilderbuch, das zum Vorlesen und Anschauen gedacht ist. Zudem wurden Hinweise zum gestaltenden Vorlesen des Bilderbuches ergänzt: Achten Sie beim Vorlesen darauf, dass Sie das Bilderbuch ‚gestaltend‘ vorlesen, damit das Kind erlebt, dass Sie selbst als Vorlesende auch von der Geschichte affiziert sind und zugleich das Kind emotional von dem Buch angesprochen wird. Variieren Sie Tonlage, Lautstärke und Lesetempo. 129 Setzen Sie Pausen an geeig‐ neten Stellen ein. 130 Verleihen Sie bei wörtlicher Rede den einzelnen Personen/ Tieren verschiedene Stimmen. Im folgenden Ausschnitt einer Vorlesesituation einer oder eines Erwachsenen, die dem „Vorlesen“ des Kindes vorangeht, wird das Vorlesen durch von der oder dem Erwachsenen gesetzte Impulse unterbrochen: E: [liest das Buch vor, unterbricht das eigene Vorlesen] : puh rieb sich den wu: nden kopf. ah, guck mal, [zeigt auf ein Bild] sein gesicht. 131 Das Vorlesen der oder des Erwachsenen soll dem Kind u. a. als Vorbild zum Imitieren dienen. Da beim Kind eine möglichst monologische Textproduktion angeregt werden soll, sollte auch das Vorlesen der oder des Erwachsenen möglichst monologisch sein. Daher sollte die oder der Erwachsene bewusst auf ein „Vorlesegespräch“ bzw. Fragen und Kommentare während des Vorlesens verzichten, um die Kinder nicht dazu anzuregen, beim eigenen „Vorlesen“ auch immer wieder in den Dialog mit dem Erwachsenen zu treten. Während der Pretend-Reading-Situation soll die Orientierung auf den Text abgesichert werden. Das Bilderbuch dient als Trigger, über den die Textproduktion in Gang gesetzt werden soll. Folglich wurde das Informationsblatt um folgenden Hinweis ergänzt: Verzichten Sie beim eigenen Vorlesen des Bilderbuches auf Fragen und Kommentare zum Vorgelesenen. Im Seminarkontext wurden zwei weitere Fragen gestellt, die sich auf hy‐ pothetische Situationen beziehen. 132 Es wurden die folgenden zwei Hinweise 238 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="239"?> 132 Im Zusammenhang mit den folgenden zwei Hinweisen danke ich einer Studierenden aus dem Seminar „Textkompetenz in der Vorschulzeit und am Schulanfang“ (SoSe 2018) für ihre Fragen sowie Norbert Kruse für seine Ideen. 133 Die Schulung, an der Studierende vor der Durchführung einer Pretend-Reading-Situa‐ tion in Durchgang C teilnahmen, unterscheidet sich nur in wenigen Punkten von der vorgestellten Schulung. 134 Das den Studierenden zur Verfügung gestellte Informationsblatt ist im digitalen Anhang enthalten. auf dem Informationsblatt ergänzt: Fragt das Kind Sie während des eigenen „Vorlesens“ „Ist das richtig? “, antworten Sie „Du kannst nichts falsch machen. Wenn du das vorliest, ist das richtig./ Was du vorliest, ist richtig.“ Stellt das Kind Ihnen während des eigenen „Vorlesens“ die Frage „Was kommt jetzt noch mal? “, geben Sie einen kurzen inhaltlichen Impuls. Eine detaillierte Darstellung der Schulung zum Pretend Reading, an der Stu‐ dierende vor der Durchführung ihrer Erprobung im Durchgang D 133 teilnahmen findet sich im digitalen Anhang. In Vorbereitung auf die Durchführung von Pretend-Reading-Situationen in den Erhebungsdurchgängen C und D wurde zudem das praktische Üben von gestaltendem Vorlesen von Bilderbüchern durch die Studierenden als weiterer Baustein in die Seminare integriert. 134 In der dritten Phase, der sogenannten Beurteilungsphase, „erfolgt die semi-sum‐ mative (bei weiterem Re-Design) bzw. summative Evaluation zur Wirksamkeit des innovativen Lehr-Lernansatzes“ (Klees/ Tillmann 2015, S. 93). Es findet eine Überprüfung von theoriebasierten Forschungsfragen und Hypothesen statt. Zudem werden „neue Erkenntnisse/ Ansätze und Zusammenhänge über den Lernprozess in der konkreten Lehr-Lernsituationen gewonnen“ (ebd.). Die Er‐ gebnisse können wiederum als Grundlage dienen, um weitere Forschungsfragen zu entwickeln. Ein erneutes Re-Design der Lernumgebung ist möglich. (Vgl. ebd.) Antworten auf theoriebasierte Forschungsfragen hinsichtlich der Organisa‐ tion von Texten, der Herausforderung konzeptioneller Schriftlichkeit und des Mustergebrauchs bei der Textproduktion mit Blick auf das zuvor vorgelesene Bilderbuch (Unterfragen der Forschungsfrage 1) konnten durch die Auswertung der erhobenen Daten in den Pretend-Reading-Situationen formuliert werden. Die Analysen der entstandenen Textproduktionen der Kinder liefern zudem Hinweise darauf, ob sich Pretend Reading als Methode zur Förderung von literaler Textkompetenz eignet (Forschungsfrage 2). Dem letzten Zyklus (Durchgang D) folgte in der vorliegenden Studie nach der Auswertung erhobener Daten eine erneute Modifikation des Instruktionsblattes, indem Handlungen der oder des Erwachsenen, die sich als zielführend zur Herausforderung einer monologischen Textproduktion erwiesen hatten, 2.1 Erhebungsverfahren 239 <?page no="240"?> 135 An dieser Stelle danke ich Hanna Sauerborn, den Mitgliedern der Dissertationsrunde der Universität Kassel sowie Norbert Kruse für Ideen und hilfreiche Hinweise zur Entwicklung und Modifikation der Formblätter. 136 Studierende, die eine Pretend-Reading-Situation mit einem Kind durchführten, fer‐ tigten ein Transkript an. Die im Rahmen der vorliegenden Studie verwendeten Trans‐ kripte wurden abschließend von der Autorin geprüft und angepasst sowie im Falle von Wiederholungen der Pretend-Reading-Situation um weitere Transkriptionen ergänzt. aufgenommen wurden. Es wäre denkbar, diese im Rahmen von weiteren Erprobungen des Settings zum Pretend Reading bzw. einem weiteren Re-Design auf ihre Brauchbarkeit für die Praxis zu prüfen. Neben den Videodaten zu Pretend-Reading-Situationen wurden personenbezo‐ gene Daten mit Hilfe von zwei Formblättern 135 erhoben (vgl. digitaler Anhang). Es handelt sich dabei um einen Elternfragebogen und einen Studierendenfra‐ gebogen. Dem Elternfragebogen sind Informationen zum Alter des Kindes, den Familiensprachen, Geschwisterkonstellationen (mit Altersangaben) und zum Besuch eines Kindergartens bzw. einer Kindertagesstätte zu entnehmen. Des Weiteren sind Angaben zum Bildungshintergrund der Eltern (höchster erreichter Bildungsabschluss) enthalten. Zudem enthält der Elternfragebogen Informationen zu Erfahrungen des Kindes mit Literalität. Dabei werden gezielt Informationen zu Erfahrungen des Kindes mit der Textsorte Narration und dem Medium Buch abgefragt: Angaben zur Anzahl der Bilder- und Kinderbücher, Angaben zur Häufigkeit des Erzählens und Vorlesens von Geschichten und - als sehr spezifische Frage - wird abgefragt, ob das Kind manchmal so tut, ob es jemandem vorlesen würde und wie es diese Tätigkeit ggf. selbst bezeichnet. Der Studierendenfragebogen wurde von der oder dem Studierenden ausgefüllt, die oder der eine Pretend-Reading-Situation mit einem Vorschulkind durchführte. Er enthält nähere Informationen zur Durchführungssituation sowie Angaben dazu, wie lange sich die oder der Studierende und das Kind vor der Erhebungs‐ situation bereits kannten. 2.2 Datenaufbereitung Der Transkription 136 liegen die folgenden von Merklinger in ihrer Studie Frühe Zugänge zur Schriftlichkeit (2011) verwendeten Transkriptionskonventionen zugrunde (vgl. Tabelle 6). Die folgende leicht modifizierte Darstellung der Transkriptionskonventionen Merklingers beschränkt sich auf Transkriptions‐ konventionen, die für die Transkription einer Pretend-Reading-Situation von Relevanz sind. 240 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="241"?> Transkriptionskonventionen Kennzeichnung von Pausen und Kommentaren: [3] Pause von 3 Sekunden [.] kurze Pause [Kommentar] Erläuterung des Diktierverhaltens Kennzeichnung der Betonung: [? ] Steigende Intonation am Ende einer Äußerung, die einen Sprecherwechsel einleitet. MAUS Worte, die mit besonderer Betonung geäußert werden, werden in Großantiqua notiert. […] - Weitere Merkmale der Diktierweise des Kindes: Tie-re Wenn Kinder silbisch diktieren, werden Bindestriche in‐ nerhalb der Wörter notiert. Mau: s Die Dehnung eines Lautes wird durch einen Doppelpunkt markiert. einen Werden von Kindern schriftsprachliche Endungen ex‐ plizit ausgesprochen, werden diese im Wort fett gedruckt. Grüffe/ Manchmal brechen die Kinder ihr Diktiertes mitten im Wort ab. G r ü ff e l o Leerzeichen zwischen den Buchstaben bedeuten lang‐ sames Sprechen. (aber) Die wenigen Wörter im Transkript, die nicht eindeutig zu verstehen sind, sind in Klammern gesetzt. Zur Interaktion von Kind und Skriptor: Die Maus/ / sah den Grüffelo Wenn das Kind sich gut auf die Langsamkeit des Schreibens einstellt, gehen die Äußerungen von Skriptor und Kind manchmal nahtlos ineinander über. Die Maus §freute sich §Und der Grüffelo Es gibt auch Situationen, in denen das Kind und der Skriptor gleichzeitig sprechen. […] - Tabelle 6: Leicht modifizierte Darstellung der Transkriptionskonventionen nach Merk‐ linger 2011, S.-85-87 2.2 Datenaufbereitung 241 <?page no="242"?> 137 An dieser Stelle danke ich den Studierenden meiner Lehrveranstaltungen für Fragen und Anmerkungen zur Transkription einer Pretend-Reading-Situation. Die dargestellten Transkriptionskonventionen wurden von der Autorin entspre‐ chend den Besonderheiten einer Pretend-Reading-Situation erweitert 137 (vgl. Tabelle 7). Ergänzungen der Transkriptionskonventionen E Erwachsene/ r, die/ der die Pretend-Reading-Si‐ tuation mit dem Kind durchführt - M Mutter - [N] Anfangsbuchstabe in Großantiqua des (ge‐ änderten) Namen des Kindes (z. B. Nina) - [? ] Steigende Intonation N: dann hat der den hasen WIEDER GEFUNDEN [? ]. [blättert um] [2] und dann sind die nach hause gegangen. - - - [hoch/ tief/ krächzend] - mit verstellter Stimme sprechen die krähe schreit ‚das war bärtram, ich hab‘s mit meinen eigenen augen gesehen.‘ [krächzend ab ‚das‘] [leise] , [laut] - Kommentar direkt hinter dem leise/ laut ge‐ sprochenen Wort bei mehreren leise/ laut gesprochenen Wörtern vermerken, ab welchem Wort leise/ laut gespro‐ chen wird spricht leise, laut N: er ging [2] langsam [leise] weg. (Hier wird nur das Wort langsam leise ge‐ sprochen.) K: er ging [2] langsam weg. [leise ab ‚langsam‘] (Hier werden die Wörter langsam weg leise gespro‐ chen.) [.] kurze Pause P: ich hab SPEZIALKLEBER. [.] be/ komm, wir kleben die tasse. 242 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="243"?> Ergänzungen der Transkriptionskonventionen [2] [3] etc. Pause in Sekunden (ab 2 Sekunden) P: dann gehen die beiden in die k/ [5]. [blättert um] [3] - Zeit messen zwi‐ schen Umblättern und erneutem Sprechen eine Seite wird umge‐ blättert J: sie wohnen [.] (ganz) ganz nah/ sie wohnen in einem leuchtturm ganz nah am meer. [blättert um] [3] die beiden kinder/ bären freu/ freuen sich, wenn sie mit/ mit [.] onkel fred zum meer ge/ gehen. [blättert 2 Seiten zurück] es werden zwei Seiten zurückgeblättert - X sagte ‚wörtliche Rede‘ Wörtliche Rede in der Textproduktion die krähe schreit ‚das war bärtram, ich hab‘s mit meinen eigenen augen gesehen.‘ [krächzend ab ‚das‘] [schaut X an] Person sieht während des Sprechens andere Person an N: der hund läuft SCHNELL weg. [K schaut E an ab ‚SCHNELL weg‘] [zeigt auf (Wort/ Bild)] Person zeigt auf ein Wort/ ein Bild im Bilder‐ buch A: was steht hier? [zeigt auf das Wort ‚Freitag‘] mh, mhm Zustimmung - äh, ähm Verzögerungssignale - hm, hm Verneinung - (unverständlich) Wort ist unverständlich - Courier New Mündliche Äußerungen - - Calibri - Beschreibungen von Handlungen, Mimik, Gestik - Tabelle 7: Transkriptionsregeln zum Pretend Reading: Ergänzungen und Modifikationen 2.2 Datenaufbereitung 243 <?page no="244"?> Da im Zentrum der Analysen der vorliegenden Arbeit die Textproduktionen der Kinder und Vergleiche zu den entsprechenden Bilderbuchtexten stehen, wurden die Satzzeichen Komma, Punkt und Fragezeichen zur besseren Lesbar‐ keit gesetzt. Zu diesem Zweck wurden zudem unterschiedliche Schriftarten gewählt: So werden mündliche Äußerungen in der Schriftart Courier New dargestellt, während ergänzende Beobachtungen zu Handlungen, Mimik, Gestik der handelnden Personen und zur näheren Beschreibung des mündlich Geäu‐ ßerten (Lautstärke, Tonlage etc.) mit der Schriftart Calibri dargestellt sind. Um Mehrdeutigkeiten in der Darstellung zu vermeiden, wurden alle mündlichen Äußerungen abgesehen von den Wörtern, die mit besonderer Betonung ausge‐ sprochen wurden, komplett klein geschrieben. Die Auswahl der sieben Pretend-Reading-Situationen für die sieben Textanalysen erfolgte anhand der folgenden vier Kriterien. Erstens wurden ausschließ‐ lich Pretend-Reading-Situationen aus den Durchgängen C und D gewählt. Zweitens leitet die oder der Erwachsene das Kind überwiegend gemäß den Instruktionen des Instruktionsblattes zur Durchführung einer Pretend-Rea‐ ding-Situation an. Das Handeln der oder des Erwachsenen scheint dabei an dem Ziel ausgerichtet zu sein, das Kind zu einer monologischen Textproduktion herauszufordern. Drittens handelt es sich nicht um eine Situation, in der sich das Kind weigerte, das Bilderbuch „vorzulesen“, da es ein zentrales Anliegen der vorliegenden Studie ist, Textproduktionen von Vorschulkindern im Hinblick auf Musterhaftigkeit zu analysieren. Viertens liegen Videoaufzeichnungen aller vier Schritte der Pretend-Reading-Situation in guter Qualität vor. Die Instruktionsblätter der Durchgänge C und D enthalten (im Vergleich mit Instruktionsblättern der Durchgänge A und B) bereits alle zentralen Hinweise zur Durchführung einer Pretend-Reading-Situation und unterscheiden sich zudem nur noch in wenigen Punkten voneinander. Des Weiteren war bei den Durchgängen C und D die Teilnahme an einer Schulung vor Durchführung der Pretend-Reading-Situation für die Studierenden verpflichtend. Ein weiterer Grund für die ausschließliche Wahl der Daten aus den Durchgängen C und D bestand darin, dass die zugehörigen Einverständniserklärungen - im Gegensatz zu denen aus den Durchgängen A und B - gemeinsame Datensitzungen im Rahmen der Dissertationsrunde von Norbert Kruse an der Universität Kassel anhand von Videomaterial erlaubten, ohne dass die Gesichter der Agierenden unkenntlich gemacht werden mussten. Es wurden sowohl Pretend-Reading-Si‐ tuationen mit Kindern ausgewählt, die mit der Handlung, so zu tun, als würden sie vorlesen, vor der Durchführung der Studie bereits Erfahrungen gemacht 244 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="245"?> hatten, als auch mit Kindern, die im Rahmen der Studie zum ersten Mal diese Aufgabe gestellt bekamen. 2.3 Auswertungsverfahren Als klassischen Bereich der qualitativen Forschung lässt sich Hypothesenbildung und Theoriebildung bezeichnen (vgl. Mayring 2015, S. 22). Die vorliegende Studie zur frühen Textkompetenz hat hypothesengenerierenden Charakter. Zur Datenauswertung findet eine Orientierung an verschiedenen Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse statt. Dabei werden sieben Textproduktionen aus ausgewählten Pretend-Reading-Situationen mit mehreren im Rahmen dieser Studie in induktiv-deduktiven Verfahren entwickelten Analyseinstrumenten untersucht. Das folgende Kapitel dient dem Zweck darzustellen, inwiefern sich das Verfahren an Formen der qualitativen Inhaltsanalyse anlehnt. Zudem wird der Forschungsprozess hinsichtlich der Datenauswertung skizziert, gefolgt von einer Darstellung der einzelnen Analyseinstrumente. „‚Die‘ qualitative Inhaltsanalyse gibt es nicht, und es besteht kein Konsens darüber, was qualitative Inhaltsanalyse ausmacht“ (Schreier 2014, Absatz 4). Ein Hauptanliegen der von Mayring (2015) vorgestellten Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse besteht im systematischen Verfahren. Ein zentraler Punkt liegt dabei in der Festlegung eines Ablaufmodells der Analyse (vgl. ebd., S. 50). Bei der Inhaltsanalyse handelt es sich nach Mayring nicht um ein Standardinstrument. Es gilt, sie jeweils an den konkreten Gegenstand anzupassen und auf eine spezifi‐ sche Fragestellung hin zu konstruieren. „Dies wird vorab in einem Ablaufmodell festgelegt“ (ebd., S. 51). In diesem werden einzelne Analyseschritte definiert und in ihrer Reihenfolge festgelegt. „Die Systematik sollte so beschrieben sein, dass ein zweiter Auswerter die Analyse ähnlich durchführen kann“ (ebd.). Während bei der quantitativen Inhaltsanalyse das Kategoriensystem als der zentrale Punkt bezeichnet werden kann, soll nach Mayring auch in der quali‐ tativen Inhaltsanalyse „versucht werden, die Ziele der Analyse in Kategorien zu konkretisieren“ (ebd.). So ist das Kategoriensystem als zentraler Punkt der Analyse zu bezeichnen (vgl. ebd.). Die Stärke der qualitativen Inhaltsanalyse sieht Mayring darin, „dass die Analyse in einzelne Interpretationsschritte zerlegt wird, die vorher festgelegt werden“ (ebd., S. 61). Mayring (2015) bezeichnet Pilotstudien als „ausgezeichnetes Gebiet für qualitative Analysen“ (ebd., S. 23). In Pilotstudien soll der Gegenstandsbereich offen erkundet werden. Zudem werden für Erhebung und Auswertung Kategorien und Instrumente entwickelt (vgl. ebd.). 2.3 Auswertungsverfahren 245 <?page no="246"?> Das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring wird von Heins mit Hilfe von vier Punkten charakterisiert: Die qualitative Inhaltsanalyse ist ein „datenreduzierendes Verfahren zur Erfassung von Textbedeutungen“ (Heins 2016, S. 304). Das Verfahren ist kategorieorientiert und berücksichtigt auch latente Bedeutungen. Des Weiteren lässt es sich als systematisches, regelgelei‐ tetes Vorgehen bezeichnen, das genutzt wird, um bedeutungshaltiges Material zu analysieren. Im Kategoriensystem werden die interessierenden Bedeutungs‐ aspekte expliziert. (Vgl. ebd.) Bei der deduktiven Kategorienbildung bestehen Kategorien bereits vor Sichtung des Materials. Sie werden aus Konzepten und Theorien deduziert. Bei der induktiven Kategorienbildung werden die Kategorien direkt am Material gebildet. Die gemischt deduktiv-induktive Kategorienbildung lässt sich als Kombination dieser beiden Vorgehensweisen beschreiben. (Vgl. ebd., S. 306) In der vorliegenden Arbeit findet eine gemischt deduktiv-induktive Kategorienbildung statt. Schreier (2014) stellt verschiedene Varianten qualitativer Inhaltsanalyse zu‐ sammen. So beschreibt und kontrastiert sie „die inhaltlich-strukturierende, die evaluative, die skalierende, die zusammenfassende […] [und] die typenbil‐ dende Inhaltsanalyse“ (Schreier 2014, Abs. 1). Die vorliegende Arbeit orientiert sich an der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. „Kern der inhaltlich-strukturierenden Vorgehensweise ist es, am Material ausgewählte inhaltliche Aspekte zu identifizieren, zu konzeptualisieren und das Material im Hinblick auf solche Aspekte systematisch zu beschreiben“ (ebd., Absatz 8). Charakteristisch für diese strukturierend-generische Variante qualitativer Inhaltsana‐ lyse ist ein iteratives Vorgehen, bei dem ein Kategoriensystem entwickelt, im Rahmen einer Probekodierung sukzessive modifiziert und schließlich in seiner Gesamtheit auf das Material angewandt wird […]. (Ebd., Absatz 48) Zwischen Vertreterinnen und Vertretern der qualitativen Inhaltsanalyse be‐ stehen Unterschiede bezüglich der Einzelheiten des Vorgehens und insbeson‐ dere im Hinblick auf die Fundierung des Kategoriensystems (vgl. ebd., Absatz 10). In diesem Zusammenhang weist Schreier unter anderem auf die von Sandra Steigleder entwickelte Variante der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse von Mayring (2010) hin, die „explizit eine kombiniert deduktiv-induktive Fun‐ dierung von Ober- und Unterkategorien vorsieht“ (Schreier 2014, Absatz 10). Zudem findet bei dieser modifizierten Variante im Gegensatz zu Mayrings Konzeption „eine kontinuierliche Anpassung der Kategorien am Material“ (ebd.) statt. Auf diese Weise entfällt sowohl die Notwendigkeit einer Probekodierung (ebd.) als auch die daran anschließende Überarbeitung des Kategoriensystems. (Vgl. ebd.) Schreier spricht sich für das Konzept des Werkzeugkastens aus: 246 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="247"?> „Statt einer Unterscheidung verschiedener Varianten qualitativer Inhaltsanalyse erscheint das Konzept des Werkzeugkastens angemessener“ (ebd., 58. Absatz). Das Auswertungsverfahren der Studie zur frühen Textkompetenz orientierte sich in den folgenden Punkten an der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015): Es wurde eine Pilotstudie durchgeführt. Das erhobene Material wurde erkundet, wobei bereits eine erste Kategorisierung stattfand. Kategorien zur Analyse wurden in einem induktiv-deduktiven Verfahren gefunden und modi‐ fiziert. Diese Kategorien dienen der Beschreibung der in Pretend-Reading-Situa‐ tionen entstandenen mündlichen Textproduktionen von Vorschulkindern und - expliziter formuliert - der Beantwortung der Frage, wie Kinder ihren Text (unter Rückbezug auf das jeweilige Bilderbuch) organisieren. Auch fand die Rasterent‐ wicklung zur Beschreibung von Musterhaftigkeit in einem induktiv-deduktiven Verfahren statt (Durchgang A). Die Anwendung des entwickelten Rasters auf das Material führte wiederum zu Modifikationen. In den folgenden Punkten weicht das Auswertungsverfahren von der qualita‐ tiven Inhaltsanalyse ab. Auch am zu beschreibenden Material, den Daten zu den sieben Textanalysen, entwickelte sich das Kategoriensystem weiter und neue Analyseinstrumente wurden entwickelt - und zwar während der Erstellung der sieben Textanalysen. Dazu gehört die Entwicklung des Vier-Ebenen-Modells zur Beschreibung von Musterhaftigkeit, das Instrument zur Beschreibung der Leserorientierung und die Vier-Felder-Tafel zu unspezifischen Verben in Begleit‐ sätzen. Beim Verfassen der sieben Textanalysen galt es - neben der Analyse der Textproduktion hinsichtlich bestimmter im Vorhinein festgelegter Kategorien - „das Besondere“ jeder einzelnen Textproduktion zu beschreiben, wodurch neue Aspekte in den Blick rückten. Das Instrument zur Beschreibung der Leser‐ orientierung differenzierte sich während des Verfassens der vergleichenden Darstellung der Beobachtungen zu den sieben Textanalysen (vgl. II.3.2) weiter aus. Zudem wurde im Zuge des schriftlichen Vergleichs der Textanalyen drei Analyseinstrumente zu neuen, veränderten und ausgelassenen Inhalten entwickelt, die zuvor lediglich in Form von wenig ausdifferenzierten Kategorien vorlagen. Die Ausdifferenzierung (und zum Teil auch die Entwicklung) von Kategorien fand somit teilweise während der Sichtung von Datenmaterial, teilweise bei der Erstellung einzelner Textanalysen und teilweise beim Zusammenstellen der Beobachtungen statt. Hervorzuheben ist, dass in der vorliegenden Studie das im epistemischen Schreiben liegende Potential für den Auswertungsprozess genutzt wurde, da während des Schreibprozesses beim Verfassen der Textanalysen und während 2.3 Auswertungsverfahren 247 <?page no="248"?> 138 Im Folgenden wird dieses Instrument als Analyseraster zur Beschreibung von Musterhaftigkeit im Kindertext mit Blick auf den Bilderbuchtext bezeichnet. des Verfassens einer vergleichenden Darstellung der Beobachtungen zu den sieben Textanalysen neue Kategorien entwickelt wurden. 2.3.1 Beschreibung der Analyseraster zur Datenauswertung Es werden folgende Auswertungsinstrumente dargestellt: Das Analyseraster zur Beschreibung sprachlicher Muster und Strukturen im Kindertext im Vergleich zu sprachlichen Mustern und Strukturen aus dem Bilderbuchtext, die Vier-Felder-Tafel zu unspezifischen Verben in Begleitsätzen, ein Instrument zur Beschreibung von Leserorientierung sowie drei Analyseinstrumente zur Beschreibung veränderter, neuer und ausgelassener Inhalte im Vergleich zum Bilderbuchtext. - Analyseraster zur Beschreibung sprachlicher Muster und Strukturen im Kindertext im Vergleich zu sprachlichen Mustern und Strukturen aus dem Bilderbuchtext 138 Die Fälle 1 bis 6 (vgl. Tabellen 8 bis 13) beziehen sich auf sprachliche Muster, während sich die Fälle 7 bis 8 (vgl. Tabellen 14 und 15) auf strukturelle Muster beziehen. Die Fälle 4 bis 6 beschreiben Variationen von sprachlichen Mustern, während Fall 7 die Variation eines strukturellen Musters beschreibt. Bei den sprachlichen Mustern wird jeweils unterschieden, ob es sich um unflektierbare Ausdrücke (Fall 1, Fall 4) oder flektierbare Ausdrücke (Fall 2, 3, 5, 6) handelt. Die Fälle, die sich auf flektierbare Ausdrücke beziehen, werden danach unter‐ schieden, ob es sich um die identische Form handelt (Fall 2, 5) oder ob eine neue flektierte Form gebildet wurde (Fall 3, 6). Um ein sprachliches oder strukturelles Muster, das im Kindertext sowie im Bilderbuch in identischer oder variierter Form vorkommt, näher zu beschreiben, wird im ersten Schritt das entsprechende Raster (Fall 1 bis 8) ausgewählt. Das weitere Vorgehen wird am Beispiel des Rasters zu Fall 1 vorgestellt. Das Verfahren erfolgt in drei aufeinander folgenden Schritten. Jedes Analyseraster weist eine Zweiteilung auf. So wird im ersten Schritt kontrolliert, ob es sich beim zu beschreibenden Ausdruck um eine feste Wortverbindung (Kategorie 1 und 2b) handelt oder um ein „bucheigenes“ sprachliches Muster (Kategorie 2b). Beim zweiten Schritt wird der Blick auf die poetische Qualität des zu beschreibenden Ausdrucks gerichtet. Es wird der Frage nachgegangen, ob es sich um ein rhetorisches Mittel (z. B. stetig steigen (Alliteration)) oder um kein rhetorisches Mittel handelt. Im dritten Schritt wird der Kontext betrachtet, 248 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="249"?> 139 Vgl. Kruse/ Kruse 2007 sowie Kapitel I.5.2 zum Zusammenhang zwischen dem Einbinden von Mustern in einen neuen textuellen Zusammenhang und der Entwicklung von Textkompetenz. in dem der zu beschreibende Ausdruck im Kindertext und im Bilderbuchtext auftritt. So kann ein Ausdruck im gleichen Kontext wie im Bilderbuch auftreten, aber auch in einem neuen Kontext. Die Analyse struktureller Muster wird mit Hilfe des Analyserasters zu Fall 7 erläutert. Auch die Analyseraster für strukturelle Muster weisen anlog zu den Analyserastern für sprachliche Muster eine Zweiteilung auf. In einem ersten Schritt wird die Struktur entweder als Phraseoschablone (Kategorie 1 und 2b) oder aber als eine weitere syntaktische Struktur, die im Bilderbuchtext vor‐ kommt, identifiziert (Kategorie 2b). In einem zweiten Schritt wird analysiert, ob die zu beschreibende Struktur als rhetorisches Mittel bezeichnet werden kann. Die Phraseoschablone X ist X beispielsweise kann gleichzeitig als Tautologie bezeichnet werden. In einem dritten Schritt wird erneut die Frage nach dem Kontext geklärt. Bei der Analyse von (möglichen) Variationen sprachlicher Muster oder Struk‐ turen aus dem Bilderbuchtext wird ähnlich vorgegangen. Das Vorgehen un‐ terscheidet sich lediglich im dritten Schritt. Hier wird nicht nur bestimmt, ob das Muster bzw. die Struktur im gleichen Kontext wie im Bilderbuchtext oder aber in einem neuen Kontext verwendet wird, sondern zusätzlich der Variationstyp bestimmt. Die Ausdifferenzierung der Variationstypen lehnt sich an die Modifikationen von Phraseologismen von Janich an (vgl. Janich 2010, S. 206f.; Kapitel I.5.1.2). Es wird in Anlehnung an Janich zwischen den Variationstypen Ersetzen (E), Hinzufügen (H) und Weglassen (W) unterschieden. Der Variationstyp geänderte Reihenfolge von Elementen (R) wurde hinzugefügt. Nach der Beschreibung der sprachlichen Struktur oder des sprachlichen Musters mit Hilfe von einem der Analyseraster folgt ein vierter Schritt. Es wird analysiert, ob das verwendete Muster in eine neue syntaktische Struktur eingebunden wurde. 139 2.3 Auswertungsverfahren 249 <?page no="250"?> Fall 1: Sprachliches Muster (unflektierbare Ausdrücke) bzw. wörtliche Übernahme (unflektierbare Ausdrücke) Kategorie Fall 1: Sprachliches Muster (unflektierbare Ausdrücke) Spezifizie‐ rung Phraseologismen* (feste Wortver‐ bindungen: Idiome und Kollokationen) (Nominal- und Verbalphraseme) *) Burger 2010 weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt - neu - alt neu alt - neu alt neu Tabelle 8: Fall 1: Sprachliches Muster (unflektierbare Ausdrücke) 250 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="251"?> Fall 2: Sprachliches Muster (flektierbare Ausdrücke - identische Form) bzw. wörtliche Übernahme (flektierbare Ausdrücke - flektierte Form übernommen) Kategorie Fall 2: Sprachliches Muster (flektierbare Ausdrücke - identische Form) Spezifizie‐ rung Phraseologismen* (feste Wortver‐ bindungen: Idiome und Kollokationen) (Nominal- und Verbalphraseme) *) Burger 2010 weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel sich die Zähne putzen, einen Betrieb über‐ nehmen, sche‐ matische Dar‐ stellung (Burger 2015) rhetorisches Mittel Metapher (den Nagel auf den Kopf treffen) Alliteration (stetig steigen) (Burger 2015) kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt - neu - alt neu alt - neu alt neu Tabelle 9: Fall 2: Sprachliches Muster (flektierbare Ausdrücke - identische Form) 2.3 Auswertungsverfahren 251 <?page no="252"?> Fall 3: Sprachliches Muster (flektierbare Ausdrücke - neue flektierte Form) bzw. wörtliche Übernahme (flektierbare Ausdrücke - neue flektierte Form) Kategorie Fall 3: Sprachliches Muster (flektierbare Ausdrücke - neue flektierte Form) Spezifizie‐ rung Phraseologismen* (feste Wortver‐ bindungen: Idiome und Kollokationen) (Nominal- und Verbalphraseme) *) Burger 2010 weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel sich die Zähne putzen, einen Betrieb über‐ nehmen, sche‐ matische Dar‐ stellung (Burger 2015) rhetorisches Mittel Metapher (den Nagel auf den Kopf treffen) Alliteration (stetig steigen) (Burger 2015) kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt - neu - alt neu alt - neu alt neu Tabelle 10: Fall 3: Sprachliches Muster (flektierbare Ausdrücke - neue flektierte Form) 252 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="253"?> Fall 4: Variation eines sprachlichen Musters (unflektierbare Ausdrücke) bzw. Variation einer wörtlichen Übernahme (unflektierbare Ausdrücke) Kategorie Fall 4: Variation eines sprachlichen Musters (unflektierbare Ausdrücke) Spezifizie‐ rung Phraseologismen weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt neu alt neu alt neu alt - neu „Variationstyp“ Ersetzen (E), Hinzufügen (H), Weg‐ lassen (W), geänderte Reihenfolge (R) von Ele‐ menten (Ter‐ minologie von Janich 2010 erwei‐ tert) - - - - - - - - Tabelle 11: Fall 4: Variation eines sprachlichen Musters (unflektierbare Ausdrücke) 2.3 Auswertungsverfahren 253 <?page no="254"?> Fall 5: Variation eines sprachlichen Musters (flektierbare Ausdrücke - identische Form) bzw. Variation einer wörtlichen Übernahme (flektierbare Ausdrücke - flektierte Form übernommen) Kategorie Fall 5: Variation eines sprachlichen Musters (flektierbare Aus‐ drücke - identische Form) Spezifizie‐ rung Phraseologismen weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt neu alt neu alt neu alt - neu „Variationstyp“ Ersetzen (E), Hinzufügen (H), Weg‐ lassen (W), geänderte Reihenfolge (R) von Ele‐ menten (Ter‐ minologie von Janich 2010 erwei‐ tert) - - - - - - - - Tabelle 12: Fall 5: Variation eines sprachlichen Musters (flektierbare Ausdrücke - iden‐ tische Form) 254 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="255"?> Fall 6: Variation eines sprachlichen Musters (flektierbare Ausdrücke - neue flektierte Form) bzw. Variation einer wörtlichen Übernahme (flektierbare Ausdrücke - neue flektierte Form) Kategorie Fall 6: Variation eines sprachlichen Musters (flektierbare Aus‐ drücke - neue flektierte Form) Spezifizie‐ rung Phraseologismen weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt neu alt neu alt neu alt - neu „Variationstyp“ Ersetzen (E), Hinzufügen (H), Weg‐ lassen (W), geänderte Reihenfolge (R) von Ele‐ menten (Ter‐ minologie von Janich 2010 erwei‐ tert) - - - - - - - - Tabelle 13: all 6: Variation eines sprachlichen Musters (flektierbare Ausdrücke - neue flektierte Form) 2.3 Auswertungsverfahren 255 <?page no="256"?> 140 Christensen zitiert den Satz „Ein Freund ist ein Freund“ aus dem Bilderbuch Leuchte, Turm leuchte (2005) von Martin Baltscheit (vgl. Christensen 2011, S.-55). Fall 7: Strukturelles Muster Kategorie Fall 7: Strukturelles Muster (Struktur/ Konstruktionsprinzip identisch, mit anderen Inhalten ge‐ füllt) Spezifizie‐ rung Phraseoschablonen - weitere syntaktische Konstruk‐ tionen/ Textstrukturen aus dem Bilderbuch („Als …, …“, „Gerade + Verb …“, „um zu + Verb“) Poetik kein rhetori‐ sches Mittel („Es ist zum X“ (Donalies 2009, S. 101) → „Es ist zum Heulen“ (ebd.) rhetorisches Mittel Tautologie („X ist X“ → „Ein Freund ist ein Freund.“ (Balt‐ scheit 2005, zit. n. Christensen 2011, S.-55 140 )) kein rhetori‐ sches Mittel - rhetorisches Mittel Chiasmus, Wiederholung Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt neu alt neu alt - neu - alt neu Tabelle 14: Fall 7: Strukturelles Muster 256 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="257"?> Fall 8: Variation eines strukturellen Musters Kategorie Fall 8: Variation eines strukturellen Musters (Struktur/ Konstruktionsprinzip identisch, mit anderen Inhalten ge‐ füllt) Spezifizie‐ rung Phraseoschablonen - weitere syntaktische Konstruk‐ tionen/ Textstrukturen aus dem Bilderbuch („Als …, …“, „Gerade + Verb …“, „um zu + Verb“) Poetik kein rhetori‐ sches Mittel („Es ist zum X“ (Donalies 2009, S. 101) → „Es ist zum Heulen“ (ebd.) rhetorisches Mittel Tautologie („X ist X“ → „Ein Freund ist ein Freund.“ (Balt‐ scheit 2005, zit. n. Christensen 2011, S.-55)) kein rhetori‐ sches Mittel - rhetorisches Mittel Chiasmus, Wiederholung Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt neu alt neu alt - neu - alt neu „Variationstyp“ Ersetzen (E), Hinzufügen (H), Weg‐ lassen (W), geänderte Reihenfolge (R) von Ele‐ menten (Ter‐ minologie von Janich 2010 erwei‐ tert) - - - - - - - - Tabelle 15: Fall 8: Variation eines strukturellen Musters 2.3 Auswertungsverfahren 257 <?page no="258"?> Die Vier-Felder-Tafel zu unspezifischen Verben in Begleitsätzen Verben, die in Begleitsätzen enthalten sind, lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Im Rahmen der vorliegenden Studie wird unterschieden zwischen unspezifischen Verben für Redebegleitsätze (sagen und fragen sowie denken und sich fragen) und spezifischen bzw. präzisen Verben, die weitere Informationen über die Art, wie eine Äußerung gemacht wird, liefern. So vermittelt das Verb flüstern beispielsweise nicht nur, dass etwas geäußert wird wie das Verb sagen, sondern enthält zusätzlich eine Information zur Lautstärke des Geäußerten. Solche Verben werden im Rahmen dieser Studie als präzise/ spezifische Verben bezeichnet. Mit Hilfe der vier unspezifischen Verben sich fragen, fragen, denken und sagen lassen sich alle möglichen Fälle der Kommunikation bei direkter Rede abdecken. Beim vorliegenden Instrument werden zwei Faktoren unterschieden - Aussagetyp und Adressat. Beim Aussagetyp ist wiederum zwischen einer Aussage (denken, sagen) und einer Frage (sich fragen, denken) zu unterscheiden. Des Weiteren wird unterschieden, wer der Adressat der Frage oder der Aussage ist - die sprechende Person selbst (sich fragen, denken) oder ein Gegenüber (fragen, sagen) (vgl. Tabelle 16). -Adressat Aussagetyp Frage Aussage Selbst sich fragen denken Gegenüber fragen sagen Tabelle 16: Vier-Felder-Tafel zu unspezifischen Verben in Begleitsätzen Den vier Oberkategorien, die mit den unspezifischen Verben sich fragen, fragen, denken und sagen abgedeckt werden, lassen sich die in den Kindertexten und zugehörigen Bilderbüchern enthaltenen präzisen bzw. spezifischen Verben zuordnen (vgl. Tabelle 16). Die genannten Verben bestimmen jeweils das unspe‐ zifische Verb näher, indem sie das unspezifische Verb um eine Zusatzinformation ergänzen. Das unspezifische Verb denken lässt sich mit dem Verb überlegen gleichsetzen, da es sich bei den beiden Verben um Synonyme handelt. 258 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="259"?> 141 Die Formulierung wurde in Anlehnung an die Formulierung „lexikalische und syntak‐ tische Mittel“ (Baurmann/ Pohl 2009, S. 96) aus dem Schreibkompetenzmodell von Baurmann und Pohl gewählt. Adressat Aussagetyp Frage Aussage Selbst sich fragen denken/ überlegen (sich wundern) Gegenüber fragen sagen (lachen, schimpfen, rufen, seufzen, be‐ teuern, schreien, antworten, begrüßen, flüstern, zischen, fauchen, stottern, singen, brüllen, kichern, schnauzen, je‐ manden anfeuern, jemanden warnen, grinsen, erwidern, staunen) Tabelle 17: Vier-Felder-Tafel zu unspezifischen und spezifischen Verben in Begleitsätzen aus den sieben Textproduktionen der Kinder und den zugehörigen Bilderbüchern Dieses Analyseinstrument dient einer genauen Beschreibung der in Kinder‐ texten (und weiteren Texten) verwendeten Verben in Begleitsätzen zur direkten Rede. Dabei lässt sich dieses Instrument beim Vergleich von inhaltlich äquiva‐ lenten Textpassagen in der Textproduktion des Kindes und dem zuvor vorgele‐ senen Bilderbuch einsetzen. Dieses Instrument wird dabei auch in Kombination mit dem Einsatz von Mimik und Gestik genutzt, um zu untersuchen, ob der Gebrauch eines unspezifischen Verbs in einem Begleitsatz im Fall, dass im Bilderbuch im gleichen Zusammenhang ein präzises Verb enthalten ist, vom Kind durch Mimik und Gestik begleitet wird. - Instrument zur Beschreibung von Leserorientierung Die Beschreibung der Leserorientierung in der vorliegenden Studie orientiert sich an folgenden Kategorien, die sich in drei Gruppen einteilen lassen. Die erste Gruppe bezieht sich dabei auf verbale Mittel, die im Textprodukt (Transkript) abgelesen werden können. Damit sind lexikalische bzw. syntaktische Mittel 141 gemeint: Dazu gehören Akzentuierungen von Inhalten durch den Gebrauch rhe‐ torischer Mittel (Wiederholung, Anapher) und Verstärkungen von Bedeutungen durch den Gebrauch der Intensitätspartikel „so“ und „ganz“ und des Adjektivs „ganz“. Die zweite Gruppe bezieht sich auf verbale Mittel, die durch Intonation zum Ausdruck gebracht werden. Hierzu gehören Akzentuierungen von Inhalten 2.3 Auswertungsverfahren 259 <?page no="260"?> durch Hervorhebung einzelner Wörter oder Wortgruppen (in Figuren- oder Er‐ zählerrede). Zudem ist die Variation von Tonlage, Lautstärke und Lesetempo zu nennen (vgl. dazu Kruse 2010). Als weiteren Punkt ist die Wahl unterschiedlicher „Figurenstimmen“ (Isler et al. 2018, S.-9) aufzuführen. Die dritte Gruppe bezieht sich auf die nonverbalen Mittel Mimik und Gestik. Als Kategorien lassen sich hier Blickkontakt zur Zuhörerin oder zum Zuhörer wäh‐ rend des „Vorlesens“ nennen, das Zeigen auf Bilder oder Text im Bilderbuch zur Blickführung der Zuhörerin oder des Zuhörers (Zeigegesten) und begleitende Mimik beim „Vorlesen“. - Veränderte, neue und ausgelassene Inhalte Die Begriffe neue, veränderte und ausgelassene Inhalte beziehen sich dabei auf den Text des Bilderbuches und nehmen diesen als Bezugspunkt. So werden unter neuen Inhalten solche Inhalte verstanden, die im zugehörigen Kindertext enthalten sind, im Bilderbuchtext jedoch nicht. Neue Inhalte können somit entweder im Bild dargestellt sein oder im Bilderbuch gar nicht enthalten sein. Unter veränderten Inhalten werden im Rahmen der vorliegenden Studie dementsprechend Inhalte verstanden, die im Kindertext enthalten sind und vom Inhalt des Bilderbuchtextes abweichen. Um als veränderter Inhalt bezeichnet zu werden, muss eine Ähnlichkeit zu einem Inhalt des Bilderbuchtextes erkennbar sein. Unter ausgelassenen Inhalten werden Inhalte verstanden, die im Bilder‐ buchtext vorhanden sind, im Kindertext jedoch nicht. Auch diese Inhalte können zudem im Bild dargestellt sein oder allein über die Textebene des Bilderbuches vermittelt werden. Bei der Betrachtung neuer Inhalte in der Textproduktion des Kindes im Ver‐ gleich zum vorgelesenen Bilderbuchtext kristallisierten sich drei Fragen heraus. Erstens ist die Frage nach der Wahl der sprachlichen Mittel zur Darstellung der neuen Inhalte zu nennen. Die zweite Frage bezieht sich auf die Funktion neuer Inhalte für den Text, während die dritte Frage nach möglichen Auslösern für den Einbau neuer Inhalte in die Geschichte fragt. Bei der Beantwortung der dritten Frage findet eine Fokussierung auf den möglichen Einfluss der Bilder des Bilderbuches statt. Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass die Übergänge zwischen Antworten auf die zweite und die dritte Frage fließend sind. Zur näheren Beschreibung neuer, veränderter und ausgelassener Inhalte in Textpro‐ duktionen von Kindern im Vergleich zum Bilderbuchtext wurden die folgenden drei Analyseinstrumente entwickelt. Dabei dient das erste Analyseinstrument dazu, Funktionen, die neue Inhalte in den Textproduktionen der Kinder haben, zu beschreiben. 260 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="261"?> Instrument zur Beschreibung von Funktionen neuer Inhalte 1. Versprachlichung von nur im Bild dargestellten Inhalten a. Ergänzen einer Handlung, die auf einer Doppelseite ausschließlich durch ein Bild erzählt wird b. Ergänzen von im Bilderbuchtext nicht erzählter Handlungen innerhalb eines Bildes c. Spezifizierung 2. Schließen inhaltlicher Leerstellen im Bilderbuchtext 3. Erweitern von direkter Rede zu einem Dialog 4. Direkte Rede zur Darstellung von Emotionen 5. Übergänge zwischen Bildern bzw. Doppelseiten schaffen 6. Realisierung eines Baumusters Mit dem zweiten Analyseinstrument lassen sich veränderte Inhalte klassifi‐ zieren, indem sie näher beschrieben werden. Mit Hilfe des Instrumentes können zum einen Bezüge zwischen der bildlichen Darstellung im Bilderbuch und den veränderten Inhalten (im Vergleich zum Bilderbuchtext) im Kindertext heraus‐ arbeitet werden. Auf diese Weise wird der mögliche Einfluss von bildlichen Darstellungen auf die Textproduktion des Kindes untersucht. Zum anderen ent‐ hält das Instrument weitere Unterkategorien, die zur Beschreibung veränderter Inhalte herangezogen werden können. Instrument zur Beschreibung veränderter Inhalte 1. Der Einfluss der bildlichen Darstellung auf die Textproduktion a. Diskrepanz zwischen Text und Bild b. Bildinterpretation und Weltwissen 2. Weitere Beobachtungen zu veränderten Inhalten a. Abweichende Interpretation von Inhalten des Bilderbuchtextes b. Allgemeiner statt spezifischer c. Leerstellen, die sich mit Hilfe der Abbildung schließen d. Veränderte Inhalte - identische Funktion e. Weitere veränderte Inhalte Im Zusammenhang mit der Analyse neuer und veränderter Inhalte wird im Rahmen der vorliegenden Studie die Wahl der sprachlichen Mittel durch das Kind (mit Blick auf seine komplette Textproduktion und die Sprache des Bilderbuchtextes) analysiert. Diese Stellen haben eine besondere Bedeutung für die Analyse der kindlichen Textproduktionen mit Blick auf Musterhaftigkeit und den Gebrauch von Elementen konzeptioneller Schriftlichkeit, da hier eine 2.3 Auswertungsverfahren 261 <?page no="262"?> sprachliche Form für Inhalte gesucht werden muss, für die im Bilderbuch nicht unbedingt im gleichen Kontext Formulierungen angeboten werden. Das dritte Analyseinstrument bezieht sich auf ausgelassene Inhalte im Vergleich zum Bilderbuchtext. Dabei lassen sich zwei Fälle unterscheiden: Zum einen können Inhalte weggelassen werden, die nicht relevant für das Verständnis der Handlung der erzählten Geschichte sind. Dabei werden Unterkategorien gebildet, um die ausgelassenen Inhalte in ihrer Funktion oder Beschaffenheit näher zu beschreiben. Es kann sich zum anderen aber auch um Inhalte handeln, deren Auslassen dazu führt, dass Leerstellen entstehen. Das Raster versucht hier, Unterkategorien bereitzustellen, um beispielsweise aufzuzeigen, welche sprachliche Form (hier: direkte Rede) solche Inhalte haben können oder wie solche Leerstellen in Verbindung mit den für das Medium Bilderbuch zentralen Text-Bild-Interdependenzen stehen. Instrument zur Beschreibung ausgelassener inhaltlicher Elemente 1. Weglassen von für das Verständnis der Handlung der Geschichte irrelevanten Inhalten a. Auslassen von Beschreibungen von Handlungsorten und Figuren b. Komprimierung des Inhalts: Zusammenfassen von Handlungsschritten c. Komprimierung des Inhalts: Auslassen von Details d. Wahl eines exemplarischen Elements aus mehreren äquivalenten e. Auslassen kompletter Inhalte f. Auslassen von Inhalten, die im Bilderbuchtext in Form von direkter Rede vorliegen 2. Herstellen von Leerstellen a. Auslassen von für das Verständnis der Geschichte relevanter direkter Rede b. Auslassen von für das Verständnis der Geschichte relevanter Erzählerrede c. Leerstellen, die sich mit Hilfe der Abbildung schließen - Bild und Text erzählen die Geschichte gemeinsam d. Geschichte an einer anderen Stelle beginnen Das folgende Kapitel dient der stilisierten Darstellung des Forschungsprozesses, bei der das Vorgehen bei der Entwicklung der Kategorien und der Analysein‐ strumente beschrieben wird. Auf einige zentrale Momente bei der Kategorien‐ entwicklung und der Entwicklung der Analyseinstrumente wird mit Bezug auf konkrete Pretend-Reading-Situationen eingegangen. 262 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="263"?> 2.3.2 Vorgehen bei der Datenauswertung und Entwicklung der Kategorien und Analyseinstrumente Vor der Datenerhebung fand eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Musterbegriff und seinen Konzeptionen sowie mit dem Erwerb und Gebrauch von Mustern bei der kindlichen Textproduktion statt. So wurden verschiedene Konzeptionen und Vorstellungen, die hinter dem Begriff Muster stehen, einander gegenübergestellt. Die in Kapitel I.5.6 erläuterte graphische Darstellung zum Musterbegriff wurde in diesem Zusammenhang entwickelt. Dieses Wissen über Musterhaftigkeit prägte somit den Blick der Forscherin auf das zu erhebende Datenmaterial. Bei der Sichtung von erstem, im Rahmen einer Pilotstudie erhobenem Material zum Pretend Reading arbeitete die Forscherin Auffälligkeiten der einzelnen kindlichen Textproduktionen heraus. Zudem wählte sie eine tabellarische Dar‐ stellung, um die jeweilige Textproduktion des Kindes (linke Spalte) dem Text des Bilderbuches (rechte Spalte), zu dem die Textproduktion entstanden war, gegen‐ überzustellen und zu vergleichen. Auf diese Weise konnten erste Kategorien auf Grundlage von theoretischem Hintergrundwissen der Forscherin am Material gebildet werden. Die dargestellte Vorgehensweise bildet den Grundstein für den weiteren Umgang mit den erhobenen Daten aus den Durchgängen A bis D. Die erhobenen Daten aus Durchgang A wurden im Hinblick auf die bereits bestehenden Kategorien aus der Pilotstudie betrachtet. Weitere Kategorien ergaben sich aus der Beschäftigung mit dem Material und bezogen sich z. B. auf die besondere sprachliche Gestaltung von Bilderbüchern und Kindertexten. Exemplarisch sei auf den Gebrauch von Adjektiven hingewiesen. Zur Beschäf‐ tigung mit den einzelnen Textproduktionen aus den Durchgängen A und B nutzte die Forscherin i. d. R. weiterhin die tabellarische Darstellung: Zum einen betrachtete die Forscherin die kindliche Textproduktion (linke Spalte) und notierte dazu Auffälligkeiten (rechte Seite). Zum anderen stellte sie Kindertext (linke Spalte) und Bilderbuchtext (mittlere Spalte) jeweils seitenweise gegenüber und notierte in der rechten Spalte stichpunktartig die „Analyse“. Zudem wurden auch Auffälligkeiten (farblich) markiert. Dabei beschäftigte sie sich mit meh‐ reren Pretend-Reading-Situationen. Ausgewählte Pretend-Reading-Situationen wurden detaillierter analysiert. Ein besonderes Augenmerk bei der Datenanalyse lag auf dem Gebrauch von Musterhaftigkeit bei der Textproduktion (mit Blick auf den Bilderbuchtext). Dabei konnte an verschiedenen Textproduktionen beobachtet werden, dass Kinder einzelne sprachliche Muster innerhalb ihrer Textproduktion mehrfach 2.3 Auswertungsverfahren 263 <?page no="264"?> verwenden. Bei der Betrachtung zahlreicher Kindertexte und zugehöriger Bilderbuchtexte, die die Forscherin seitenweise nebeneinanderstellte und im Hinblick auf Musterhaftigkeit analysierte, entwickelte sich ein Dreischritt, der ihr Vorgehen prägte: 1. Ist das im Kindertext identifizierte Muster in der entsprechenden Passage des Bilderbuches vorhanden? 2. Falls ja, kommt es in Variation vor? 3. Wird das Muster in einem anderen Kontext im Bilderbuch verwendet? In einem deduktiv-induktiven Verfahren wurde ein Analyseraster zur Beschrei‐ bung von Musterhaftigkeit in Kindertexten mit Blick auf den Bilderbuchtext entwickelt. - Zur Kategorienbildung: Entwicklung eines Analyserasters zur Beschreibung von Musterhaftigkeit im Kindertext mit Blick auf den Bilderbuchtext Anhand von Beobachtungen am Datenmaterial aus Durchgang A und auf der Grundlage ihres Hintergrundwissens entwickelte die Forscherin zunächst den Prototyp eines Rasters zur Beschreibung von Musterhaftigkeit mit Blick auf den Vorlesetext. Bei diesem wurde bei der Beschreibung von Übernahmen von Mustern aus dem Bilderbuch zwischen drei Fällen unterschieden: Wörtliche Übernahmen, Variationen wörtlicher Übernahmen und strukturelle Übernahmen (vgl. Tabellen 18 bis 20). 264 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="265"?> Analyseraster: Die Übernahme von Mustern (Bilderbuch - Kindertext) - Kategorisierung - 3 Fälle Kategorie 1. Wörtliche Übernahme Spezifizie‐ rung Phraseologismen* (feste Wortver‐ bindungen: Idiome und Kollokationen) *) Burger 2010 weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel -sich die Zähne putzen - rhetorisches Mittel -Metapher (den Nagel auf den Kopf treffen), Alliteration (fix und fertig) kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt - Neu - alt neu Alt - neu alt neu Tabelle 18: Wörtliche Übernahme Kategorie 2. Variation einer wörtlichen Übernahme Spezifizie‐ rung Phraseologismen weitere sprachliche Versatzstücke aus dem Bilderbuch Poetik kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel kein rhetori‐ sches Mittel rhetorisches Mittel Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt neu alt neu alt neu alt - neu Tabelle 19: Variation einer wörtlichen Übernahme 2.3 Auswertungsverfahren 265 <?page no="266"?> Kategorie 3. Strukturelle Übernahme (Struktur/ Konstruktionsprinzip übernommen, mit anderen Inhalten gefüllt) Spezifizie‐ rung Phraseoschablonen - weitere syntaktische Konstruk‐ tionen/ Textstrukturen aus dem Bilderbuch („Als …, …“, „Gerade + Verb …“, „um zu + Verb“ Poetik kein rhetori‐ sches Mittel […] rhetorisches Mittel Tautologie („X ist X“ → „Ein Freund ist ein Freund.“) kein rhetori‐ sches Mittel - rhetorisches Mittel Chiasmus, Wiederholung Kontext (Ge‐ brauch im gleichen Kontext (alt) oder im neuen Zu‐ sammenhang (neu)) alt neu alt neu alt - neu - alt neu Tabelle 20: Strukturelle Übernahme Während einer umfangreicheren Analyse des Mustergebrauchs in der Textpro‐ duktion eines Kindes zum Bilderbuch Die kleine Raupe Nimmersatt 1 (Durchgang B) anhand des beschriebenen Rasters sah die Forscherin die Notwendigkeit, das vorliegende Raster um weitere fünf Fälle (auf insgesamt acht Fälle) zu erweitern. Diese Modifikationen des Rasters fanden zum Teil unter Rückgriff auf Literatur zu den Bereichen Phraseologie und Werbesprache statt und werden im Folgenden benannt. Zur näheren Beschreibung der vom Kind vorgenommenen Variationen sprach‐ licher Muster wurde auf die von Janich (2010) verwendete Terminologie zur Be‐ zeichnung von Modifikationen von Phraseologismen zurückgegriffen. So wurde zwischen dem „Variationstyp“ Ersetzen (E), Hinzufügen (H) und Weglassen (W) unterschieden, die auf Elemente (ein Wort oder mehrere Wörter) bezogen sind. Am nachstehenden Beispiel wurde zudem deutlich, dass nicht nur sprachliche Muster, sondern auch strukturelle Muster aus dem Bilderbuch variiert werden (können). So kann das vom Kind gebrauchte strukturelle Muster „Sie fraß sich am [Wochentag] durch [Anzahl + Lebensmittel]“ als eine Variation des strukturellen Musters „Am [Wochentag] fraß sie sich durch [Anzahl + Lebens‐ mittel]“ bezeichnet werden. Diese Beobachtung führte dazu, dass das Raster um 266 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="267"?> den Fall Variation einer strukturellen Übernahme erweitert wurde. Um alle am Material erkennbaren Variationstypen mit Hilfe der Terminologie beschreiben zu können, fand zudem eine Erweiterung von Janichs Kategorisierung um den Modifikationstyp „Geänderte Reihenfolge (R)“ statt. Dieser Modifikationstyp bezeichnet die Variation im genannten Beispiel, da die beiden strukturellen Muster eine unterschiedliche Reihenfolge von Elementen aufweisen. Zudem wurde eine weitere Unterscheidung zwischen sprachlichen Mustern, deren Einbinden in die Textstruktur einer Anpassung bedarf, und solchen Mustern, die vom Kind nicht verändert werden müssen, getroffen. Wie Burger (2015) im Zusammenhang mit Kollokationen von verbalen Phrasemen spricht, die flektierbar sind (vgl. Burger 2015, S. 38ff.), wurde die Unterscheidung flektierbar vs. nicht flektierbar in Bezug auf wörtliche Übernahmen ins Raster integriert. Bei den flektierbaren Ausdrücken wurden wiederum die beiden Fälle unterschieden, ob die flektierte Form aus dem Bilderbuch übernommen wurde oder ob eine neue flektierte Form gebildet wurde. Im Hinblick auf Variationen wörtlicher Übernahmen wurde die gleiche Ausdifferenzierung vorgenommen. Eine weitere Modifikation am Raster wurde während des Verfassens der ersten schriftlichen Textanalyse zu einer anderen Textproduktion zum Bilderbuch Die Raupe Nimmersatt (siehe unten) vorgenommen. Da grundsätzlich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit behauptet werden kann, dass es sich bei einem Muster, das sowohl im Kindertext als auch im Bilderbuchtext verwendet wird, um eine Übernahme dieses Musters (vgl. Tabelle 18 bis 20) aus dem Bilderbuch handelt, weil dieses Muster dem Kind möglicherweise aus einem anderen Kontext bekannt ist, wurde eine Änderung der Bezeichnung für die einzelnen Fälle des Rasters vorgenommen. Während mit Hilfe des Analyserasters zunächst die Übernahme von Mustern aus dem Bilderbuch beschrieben wurde, dient es nun dazu, im Kindertext vorkommende sprachliche und strukturelle Muster im Kindertext mit Blick auf sprachliche und strukturelle Muster des vorgelesenen Bilderbuches zu beschreiben. - Zur Kategorienbildung: Elemente konzeptioneller Schriftlichkeit Im erhobenen Datenmaterial aus der Pilotstudie sowie im Datenmaterial aus Durchgang A identifizierte die Forscherin Elemente konzeptioneller Schriftlich‐ keit auf der Grundlage ihres bisherigen theoretischen Wissens über konzep‐ tionelle Schriftlichkeit (u. a. Koch/ Oesterreicher 1985, 1994), aber auch auf der Grundlage ihres bisherigen Wissens zur Identifikation von Merkmalen konzeptioneller Schriftlichkeit in Kindertexten (z. B. Merklinger 2012). Als Ori‐ entierung diente ihr zudem die exemplarische Analyse einer Textproduktion 2.3 Auswertungsverfahren 267 <?page no="268"?> 142 An dieser Stelle danke ich den Studierenden der Seminare Bilderbücher im Deutschunterricht der Grundschule (WS 2018/ 19), Textkompetenz im Vorschulalter und am Schulanfang (WS 2018/ 19) und Schreibunterricht in der Grundschule (WS 2018/ 19) für ihre Bereitschaft, an einer Datensitzung teilzunehmen. einer Erstklässlerin durch Last, Merklinger, Wittmer (2017). Die Autorinnen und Autoren untersuchten diesen Kindertext, der im Rahmen einer Pretend-Reading-Situation entstanden war, auf Elemente konzeptioneller Schriftlichkeit und bezogen sich dabei auf die Syntax, das Tempus und die Lexik (vgl. ebd., S. 19; I.4.2, Pretend Reading in der Grundschule). Im Datenmaterial ließen sich ebenfalls Elemente konzeptioneller Schriftlich‐ keit in Bezug auf Lexik, Syntax und Tempus identifizieren. Als theoretische Grundlage zur Identifikation und Beschreibung von Elementen konzeptioneller Schriftlichkeit dient das Nähe-Distanz-Modell nach Koch und Oesterreicher (1994). - Datensitzungen I-IV In den Forschungsprozess waren auch Datensitzungen zu einzelnen Pretend-Rea‐ ding-Situationen integriert. Im WS 2018/ 19 wurden mehrere Datensitzungen mit verschiedenen deutschdidaktischen Seminaren 142 zu einer Pretend-Reading-Situation zur Bilderbuchgeschichte Anton übernachtet bei Tim (Durchgang B) mit einem mehrsprachigen Kind durchgeführt. Diese fanden nach der Schulung zum Pretend Reading statt. Dazu wurde den Studierenden zunächst die Bilderbuchgeschichte vorgelesen. Anschließend wurde die Audio-Datei der Pretend-Reading-Situation vorgespielt, während die Studierenden im Transkript mitlasen. Dieses wurde - nach Doppelseiten geordnet - jeweils mit dem entsprechenden Bilderbuchtext auf einer Powerpointpräsentation gezeigt. In diesen Datensitzungen schilderten Studierende ihre Beobachtungen zur Textproduktion des Kindes und arbeiteten Bezüge zum Vorlesetext heraus. Einige Beobachtungen bezogen sich dabei auf die Rolle des Bildes bei der Textproduktion, zumal das Kind auch Aspekte thematisierte, die lediglich im Bild dargestellt waren. Eine weitere zentrale Beobachtung zur Textproduktion des Kindes bestand in der Hinzufügung eines neuen inhaltlichen Elements durch das Kind (vgl. II. 3.2.3). Dieses Element war im Bilderbuchtext nicht enthalten. Im Rahmen einer Dissertationsrunde unter der Leitung von Norbert Kruse an der Universität Kassel fand eine weitere Datensitzung zu einer ausgewählten Pretend-Reading-Situation statt. Diese Pretend-Reading-Situation wurde zur detaillierten Auswertung im Rahmen der vorliegenden Studie ausgewählt (vgl. II.3.1.6, Textanalyse VI: Apfelsaft holen von Jan) statt. Hierbei wurden in Anleh‐ nung an die Videointeraktionsanalyse (vgl. Tuma/ Schnettler/ Knoblauch 2013, 268 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="269"?> Kapitel 6) Interaktionen in den Blick genommen. Dies hatte den Grund, dass eine weitere Idee zur Datenauswertung - neben der Analyse der Textproduktionen - darin bestand, zusätzlich Interaktionen zu analysieren. Den Teilnehmenden wurden die folgenden Aufgaben an die Hand gegeben: „Wie löst das Kind das Problem, dass es zur Textproduktion herausgefordert wird? Beschreibt bitte die Interaktionen der beiden Personen. Wie wird mit dem Bilderbuch umgegangen (Materialität)? “ - Vorgehen bei den ersten (schriftlichen) Textanalyse Zu einer weiteren Textproduktion zu dem Bilderbuch Die Raupe Nimmersatt (Durchgang B) wurde eine komplette und detaillierte schriftliche Textanalyse verfasst, die als Prototyp für die Erstellung von schriftlichen Textanalysen bezeichnet werden kann. Diese wies den folgenden Aufbau auf: In einem ersten Schritt erfolgte eine detaillierte Beschreibung der Textproduktion des Kindes (mit besonderem Fokus auf Musterhaftigkeit), ohne dass Bezüge zum Vorlesetext hergestellt wurden. In einem zweiten Schritt wurde basierend auf diesen Beobachtungen der Frage nachgegangen, wie das Kind seinen Text or‐ ganisiert. In einem dritten Schritt wurden die in der Textanalyse beschriebenen Textmerkmale im Hinblick auf Ähnlichkeiten zu Formulierungen aus dem vorgelesenen Bilderbuch untersucht. Der vergleichenden Analyse lagen mit Blick auf sprachliche Muster und Strukturen folgende vier Leitfragen zugrunde: 1. Ist das sprachliche Muster, die sprachliche Struktur bzw. das Textmerkmal im gleichen Kontext auch im Bilderbuch vorhanden? Ist das Merkmal dort in der gleichen oder einer abgewandelten Form zu finden? 2. Ist das sprachliche Muster, die sprachliche Struktur bzw. das Textmerkmal in einem anderen Kontext des Bilderbuches enthalten? Ist das Merkmal dort in der gleichen oder einer abgewandelten Form zu finden? 3. Wird das Textmerkmal im Kindertext mehrfach gebraucht? 4. Wird das Textmerkmal im Text des Bilderbuches mehrfach gebraucht? Dabei kam das Analyseraster zur Beschreibung sprachlicher Muster und Struk‐ turen zum Einsatz. Neben dem Vergleich sprachlicher Mittel in Kindertext und Vorlesetext wurden auch auf inhaltlicher Ebene Unterschiede herausgearbeitet. Bei der vergleichenden Analyse wurde die Textproduktion des Kindes er‐ neut chronologisch analysiert. Am Ende des Kapitels wurden Beobachtungen beschrieben, die sich auf den Vergleich der beiden Texte als Ganzes beziehen. Im Anschluss daran wurde erneut die Frage aufgegriffen, wie das Kind seinen Text organisiert. Dabei wurde auf die Beobachtungen aus der vergleichenden Analyse Bezug genommen. 2.3 Auswertungsverfahren 269 <?page no="270"?> Das beschriebene Vorgehen, das sich durch einen sehr systematischen Ver‐ gleich von kindlicher Textproduktion und Bilderbuchtext auszeichnete, stellte sich für wenig umfangreiche Textproduktionen als realisierbar heraus, aber als für Bilderbuchtexte und Textproduktionen mit einem größeren Textumfang nicht praktikabel. Bei der zu einem späteren Zeitpunkt erfolgenden Erstellung der Textanalysen I bis VII wurde auf der Grundlage dieser Erfahrungen beim Vergleich von Kindertext und Bilderbuchtext der Fokus auf die im Kindertext enthaltenen Muster gelegt, um sie mit ähnlichen oder identischen Mustern aus dem Bilderbuchtext zu vergleichen. - Zur Kategorienbildung: Kohärenz Unter I.3.1 wurde im Hinblick auf Textbegriffsvorstellungen ausgewählter Autoren herausgestellt, dass Fix und Nussbaumer die Bedeutsamkeit des Lesers herausstellen. Überdies weisen alle drei Textbegriffsvorstellungen das Merkmal der Kohärenz auf - sei es als Synonym für Textualität wie bei Nussbaumer oder als Merkmal von Textualität wie bei den anderen beiden Konzepten. Die Kate‐ gorie Kohärenz ergibt sich somit aus der theoretischen Beschäftigung mit dem Textbegriff, da Kohärenz eines der fundamentalsten Merkmale bei Definitionen von Text ist. Im Hinblick auf die Analyse der kindlichen Textproduktionen findet eine Orientierung an der Unterscheidung zwischen thematischer, gram‐ matischer und struktureller Kohärenz statt (vgl. Fix 2006). Die Beschreibung der Kohärenz in den kindlichen Textproduktionen beschränkt sich dabei auf inhaltliche und grammatische Kohärenz, da es sich bei den zu analysierenden Textprodukten ausschließlich um Narrationen handelt. Zur Beschreibung von grammatischer Kohärenz wird auf Formen von Kohäsion nach Linke et al. (2004) zurückgegriffen. - Datensitzung V Im Februar 2020 fand eine weitere Datensitzung zu der Pretend-Reading-Si‐ tuation mit Mia (vgl. Textanalyse IV: Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten von Mia; II.3.1.4) mit den Mitgliedern der Dissertationsrunde statt. Ein Ziel bestand darin, weitere Kategorien zur Datenanalyse zu finden. Dazu wurden den Teilnehmenden zu Beginn die bereits bestehenden Kategorien vorgestellt. Die Teilnehmenden hatten Transkriptausschnitte vorliegen. Diese umfassten die Aufforderung der oder des Erwachsenen „vorzulesen“ und den „vorgelesenen“ Text von Mia. Die Teilnehmenden der Datensitzung bekamen die zugehörige Videoaufnahme vorgeführt, während sie den Auftrag hatten, das „Vorlesen“ des Kindes unter folgenden zwei Fragenstellungen zu betrachten: „Wie löst Mia das Problem, dass sie zur Textproduktion herausgefordert wird? Wie organisiert 270 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="271"?> sie ihren Text? “ Eine zentrale Beobachtung der Datensitzung bestand in der Hervorhebung des Einflusses der Bilder für die Textproduktion. - Vorgehen bei dem Erstellen der sieben (schriftlichen) Textanalysen Die ersten zwei erstellten schriftlichen Textanalysen (Phase I) bezogen sich auf die Textproduktionen von Ben (Textanalyse I) und Kira (Textanalyse II). Sie orientierten sich in ihrem Aufbau aneinander und dienten im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses als Modell für Vorgehen und Aufbau der weiteren fünf Textanalysen (Textanalysen III-VII; Phase II). Als Vorbereitung für das Verfassen der schriftlichen Textanalysen wurden Auf‐ fälligkeiten am jeweiligen Kindertext herausgearbeitet und zudem eine tabella‐ rische Gegenüberstellung von Kindertext und Bilderbuchtext vorgenommen. Das Besondere einer jeden Textproduktion wurde in den einzelnen Textanalysen schriftlich dargestellt. Zudem wurden Angleichungen vorgenommen, wenn sich im Zuge der Herstellung einer Textanalyse ein weiterer zentraler Punkt herauskristallisierte. In diesen Fällen wurden bereits erstellte Textanalysen modifiziert. Während des Prozesses, in dem die abschließende vergleichende Darstellung der Beobachtungen zu den sieben Textanalysen (vgl. II.3.2) erstellt wurde, wurden erneut Modifikationen an den bestehenden sieben schriftlichen Text‐ analysen (vgl. II.3.1) vorgenommen. Zudem erfolgte im Zuge der Erstellung des Kapitels eine systematische Überprüfung der Hypothesen, die sich während der Bearbeitung der einzelnen Textanalysen (mit dem Hintergrundwissen aus verschiedenen im Vorfeld gemachten Analysen) bereits gebildet hatten. - Zur Entwicklung des Vier-Ebenen-Modells zur Beschreibung von Musterhaftigkeit Während des Prozesses der Erstellung der schriftlichen Textanalysen I (Ben) und II (Kira) entwickelte sich das Drei-Ebenen-Modell zur Beschreibung von Musterhaftigkeit (vgl. Tabelle 21). 2.3 Auswertungsverfahren 271 <?page no="272"?> 143 An dieser Stelle danke ich Norbert Kruse. Musterhaftigkeit Ebene (E)/ Kategorie (K) in Bezug auf die Sprachgemein‐ schaft und narrative Texte (K1) in Bezug auf einen weiteren Text im Kindertext selbst -(K3) 3. Text (K2a) Vorlesetext (K2b) Konkret/ inhalt‐ lich (E1) Phraseologismen Mehrworteinheiten aus einem 3. Text Mehrworteinheiten aus dem Vor‐ lesetext sich wiederho‐ lende Mehrworteinheiten die Struktur be‐ treffend (E2) Phraseoschablonen struktu‐ relle Muster aus einem 3. Text strukturelle Muster aus dem Vorle‐ setext sich wiederho‐ lende sprach‐ liche Strukturen Abstrakt (E3) erzähltypische Muster erzähltypi‐ sche Muster aus einem 3. Text erzähltypi‐ sche Muster aus dem Vorlesetext sich wiederho‐ lende erzähltypische Muster Tabelle 21: Das Drei-Ebenen-Modell zur Beschreibung von Musterhaftigkeit Während der Anfertigung von Textanalyse III (Mia) ergab sich die Notwen‐ digkeit, das Raster zur Musterhaftigkeit zur Beschreibung eines weiteren Mustertyps um den Begriff des Mini-Baumusters zu ergänzen und somit um eine Ebene zu erweitern. Aus dem Drei-Ebenen-Modell zur Beschreibung von Musterhaftigkeit entwickelte sich dementsprechend ein Vier-Ebenen-Modell (vgl. dazu Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit, I.5.7). - Entwicklung eines Instruments zur Beschreibung von Leserorientierung Eine weitere Komponente, die zur Analyse herangezogen wird, ist die Le‐ serorientierung. Durch die Arbeit am Material (Durchgang B) und im Ge‐ spräch 143 kristallisierte sich die Komponente Leserorientierung als bedeutsamer Faktor bei der Analyse der kindlichen Textproduktionen heraus: in der Text‐ produktion eines Kindes zum Bilderbuch Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle. Das „vorlesende“ Kind formulierte im Rahmen einer Pretend-Reading-Situation folgende Textpassage: dann fraß sie sich durch ein wu: nderschönes grüne/ blatt. am [? ]/ am/ wieder an 272 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="273"?> [? ] dem sonntag fraß sie sich durch ein wunderschönes grünes blatt. da ging es ihr schon viel besser (7. DS). Der Formulierung wunderschönes grünes blatt liegt dabei das strukturelle Muster [Adjektiv + Adjektiv + Nomen] zugrunde, während in diesem Kontext im Bilderbuch von einem „grünen Blatt“ (Carle 2007, 7. DS) die Rede ist. Im Vergleich zum strukturellen Muster [Adjektiv + Nomen] ist ersichtlich, dass es sich bei dem vom Kind gewählten Muster um ein Gestaltungsmittel handelt. Diesem Gestaltungsmittel lässt sich die Funktion zuschreiben, die Attraktivität des Blattes für die Zuhörerin oder den Zuhörer deutlich zu machen. In diesem Zusammenhang kann von Hervorhebungen bzw. Akzentuierungen mit Blick auf die Zuhörerschaft bzw. die Adressatin oder den Adressaten des Textes gesprochen werden: Die „vorlesende“ Person scheint die Adressatin oder den Adressaten im Blick zu haben, was sich wiederum als Hinweis auf implizites Textwissen deuten lässt. Wie bereits im Zusammenhang mit der Komponente Kohärenz erwähnt wird auch die Bedeutsamkeit der Komponente Leserorientierung für die Analyse von kindlichen Textproduktionen aus der theoretischen Beschäftigung mit dem Textbegriff deutlich: Fix und Nussbaumer heben beide die Bedeutsamkeit des Lesers im Zusammenhang mit ihren Textbegriffsvorstellungen heraus (vgl. I.3.1). Nach Weidacher (2007) darf es der Textproduzentin oder dem Textproduzenten nicht nur darum gehen, einen kohärenten Text zu kreieren. Zudem muss sie oder er die Adressatin oder den Adressanten im Blick haben. (Vgl. Weidacher 2007, S. 45, „Überlegungen zu Textkompetenz nach Weidacher“, I.3.3). Isler et al. (2018) schreiben in Bezug auf Facette 4: Genretypische Muster ihres Instruments zur Einschätzung mündlicher Textfähigkeiten: Zur Klärung und Aufrechterhaltung der Sprachhandlung ‚Erzählen‘ sowie zur Invol‐ vierung der Zuhörerin oder des Zuhörers können einzelne Elemente mit sprachlichen Mitteln hervorgehoben und ausgestaltet werden. Dazu gehören Verstärkungen durch Wiederholung oder Nachdruck, Elemente mit besonderen narrativen Funktionen, Inszenierungen (z. B. durch Figurenstimmen oder Lautmalereien) […] (ebd., S.-9) So wird auch bei der Analyse der kindlichen Textproduktion aus Pretend-Rea‐ ding-Situationen im Rahmen der vorliegenden Studie der Blick auf verbale und non-verbale Mittel gelegt, die darauf hindeuten, dass das Kind als „Vorleserin“ oder „Vorleser“ bzw. als Textproduzentin oder Textproduzent die Adressatin oder den Adressaten bei der Textproduktion im Blick hat. Beim Verfassen der Textanalysen I (Ben) und II (Kira) wurde Leserorientierung bereits in den Blick genommen. Es bestand jedoch noch kein ausdifferenziertes Beschreibungsinstrument (vgl. II.2.3.2) für diese Kategorie. 2.3 Auswertungsverfahren 273 <?page no="274"?> 144 Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf alternative Bezeichnungen: So unterscheiden Juska-Bacher und Mollet (2021) im Unterrichtskontext zwischen „ungenauen Verben“ und „genauen Verben“ (vgl. Bacher/ Mollet 2021, S. 26ff.). Diese Ausführungen hatten jedoch keinen Einfluss auf die Überlegungen im Rahmen der vorliegenden Studie. 145 An dieser Stelle danke ich Konstantin Strozyk für seine Überlegungen und Gedanken‐ anstöße. Entwicklung der Vier-Felder-Tafel zu unspezifischen Verben in Begleitsätzen Während der Anfertigung der schriftlichen Textanalyse VII (Muriel) entstand die Idee, die vom Kind verwendeten Verben der Redebegleitsätze näher in den Blick zu nehmen. Dabei wurden die vom Kind verwendeten Verben intuitiv unterschieden zwischen gängigen und präzisen Verben. 144 Anschließend wurden alle weiteren Transkripte unter dieser Fragestellung betrachtet und bereits be‐ stehende Textanalysen um diesen Aspekt ergänzt. Während der Erstellung des Kapitels zur zusammenfassenden und vergleichenden Darstellung der Beobach‐ tungen wurden die Begrifflichkeiten für gängige und präzise Verben präzisiert und ausdifferenziert und die Beobachtungen schematisch dargestellt. 145 Die Bezeichnung gängige Verben wurde durch die Bezeichnung unspezifische Verben ersetzt. Sie können auch als allgemeine Verben bezeichnet werden. Die Liste der vormals gängigen Verben, die aus den drei in den Kindertexten enthaltenen Verben sagen, denken und fragen bestand, wurde um das vierte Verb sich fragen ergänzt, das zuvor nicht eigens aufgeführt wurde. Diese vier in den Kindertexten verwendeten Verben lassen sich als vier Oberkategorien bezeichnen und in eine Vier-Felder-Tafel einordnen, um damit alle Fälle der Kommunikation bei direkter Rede abzudecken. Den vier unspezifischen Verben wurden die in den Kindertexten und zugehörigen Bilderbüchern enthaltenen präzisen bzw. spezifischen Verben zugeordnet (vgl. II.2.3.2). Aus diesen theoretischen Überlegungen entwickelte sich wiederum eine neue, am Material zu prüfende Fragestellung: Dadurch, dass beim Gebrauch von prä‐ zisen Verben wie lachen und flüstern - anders als beim unspezifischen Verb sagen - durch gestaltendes Vorlesen eine Redundanz entsteht, da die Figurenrede ebenfalls lachend oder flüsternd vorgetragen wird, stellte sich die Frage, ob Kinder, die auf präzise Verben verzichten, den Inhalt mit Hilfe des gestaltenden Vorlesens transportieren. - Entwicklung von drei Instrumenten zu veränderten, neuen und ausgelassenen Inhalten Die Frage nach der Wahl der sprachlichen Mittel zur Darstellung veränderter und neuer Inhalte sowie ihren Funktionen für den Text ergab sich durch die 274 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="275"?> 146 Staiger veröffentlichte im Jahr 2022 ein sechsdimensionales Modell zur Bilderbuchana‐ lyse. Dabei handelt es sich um „eine überarbeitete und um eine zusätzliche Dimension erweiterte Fassung des fünfdimensionalen Modells zur Bilderbuchanalyse“ (Staiger 2022, S.-6). Beschäftigung mit dem Material, das den sieben Textanalysen zugrunde liegt. Diese Fragestellung wurde anschließend auf alle sieben Textanalysen bezogen. Bei der Betrachtung neuer Inhalte in der Textproduktion des Kindes im Vergleich zum vorgelesenen Bilderbuchtext kristallisierte sich zudem die Frage nach möglichen Auslösern für den Einbau neuer Inhalte in die Geschichte heraus. Bei der Beantwortung der dritten Frage fand eine Fokussierung auf den möglichen Einfluss der Bilder des Bilderbuches statt. Die vollständigen Analyseinstru‐ mente zur Darstellung entwickelten sich erst während der vergleichenden Zusammenstellung der Beobachtungen anhand der sieben Textanalysen. Dies führte zu einer weiteren Überarbeitung der Textanalysen. - Beschreibung des Aufbaus der sieben Textanalysen Es folgt die Darstellung des Aufbaus, dem die sieben unter Kapitel II.3.1 aufgeführten Textanalysen in ihrer aktuellen Form folgen. In jeder Textanalyse wird der Frage nachgegangen, wie das jeweilige Kind seinen Text organisiert und welche Bezüge zwischen der sprachlichen Gestaltung von Kindertext und Bilderbuchtext erkennbar sind. Diese Darstellung dient dem Zweck, exem‐ plarisch zu zeigen, welches praktische Können sich durch das Setting zum Pretend Reading herausfordern lässt (Forschungsfrage 1). Das Vorgehen erfolgt in mehreren Schritten, die im Folgenden beschrieben werden. Um bei der Analyse der kindlichen Textproduktionen sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene Bezüge zu dem jeweils vorgelesenen Bilderbuch herstellen zu können, waren Analysen dieser Bilderbücher erforderlich. Der Analyse des Kindertextes geht aus diesem Grund eine Analyse des vorgele‐ senen Bilderbuches voraus. Diese orientiert sich am Bilderbuchanalyseraster von Staiger (2014). 146 Dabei findet eine Beschränkung auf jene Aspekte des Analyserasters statt, die für die genannte Leitfrage relevant sind. Ein besonderer Fokus liegt daher auf Musterhaftigkeit und Elementen konzeptioneller Schrift‐ lichkeit. Es wird entsprechend auf jeweils relevante Aspekte der narrativen, sprachlichen, bildlichen und der intermodalen Dimension (vgl. Staiger 2014, S. 14f.) eingegangen. Bei der sprachlichen Dimension wird als Zusatzpunkt Musterhaftigkeit im Bilderbuch in den Blick genommen. Die Analyse bezieht sich auf sprachliche Muster, zu denen auch Phraseologismen zählen, strukturelle Muster, die Phraseoschablonen beinhalten sowie erzähltypische Muster und 2.3 Auswertungsverfahren 275 <?page no="276"?> weitere Muster der dritten Ebene (zum Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit vgl. Kapitel I.5.7). An dieser Stelle weicht das Vorgehen vom Analyseraster nach Staiger ab, da in diesem der Erzählmodus, der die Aspekte „Erzähler-/ Figurenrede, Darstellung mentaler Prozesse (Gedanken, Gefühle)“ (Staiger 2014, S. 14) umfasst, der narrativen Dimension zugeordnet wird. Zur Kategorie der erzähltypischen Muster und weiteren Muster der dritten Ebene werden hingegen u. a. direkte Rede und innerer Monolog gefasst. Bei der Beschreibung der intermodalen Dimension wird auf die Unterteilung von Thiele (2002) zurückgegriffen, der zur Beschreibung von Bild-Text-Interdependenzen zwischen der Bild-Text-Parallelität, dem geflochtenen Zopf und der kontrapunk‐ tischen Beziehung von Bild und Text unterscheidet (vgl. Thiele 2002, S. 230-233). Diese Unterteilung wird bewusst gewählt, da die Kategorien trennschärfer sind als die von Nikolajeva und Scott (2000) und klarere Einteilungen zulassen. Jede Textanalyse besteht aus zwölf Schritten: Im ersten Schritt erfolgt eine Darstellung relevanter Informationen zu den Rahmenbedingungen der Pre‐ tend-Reading-Situation, die mittels der Formblätter für Eltern und Studierende erhobenen wurden. Zur Nachvollziehbarkeit der Analysen der kindlichen Text‐ produktionen im Vergleich zum Bilderbuchtext, sind die Bilderbuchtexte in die jeweilige Textanalyse integriert. In einem zweiten Schritt werden die Teile des Transkripts abgebildet, aus denen hervorgeht, wie die Aufgabe, das Buch „vorzulesen“, in der Pretend-Reading-Situation formuliert wurde. Es werden zudem Reaktionen des jeweiligen Kindes auf die Aufgabenstellung und daraus folgende Dialoge eingefügt und kommentiert. In einem dritten Schritt erfolgt eine grammatische Beschreibung der Textproduk‐ tion des Kindes, ohne dass Bezüge zum Bilderbuchtext hergestellt werden. Falls die Textproduktion mit Hilfe von Mimik und Gestik durch das Kind untermalt wird, wird dies in der Analyse berücksichtigt. Es wird chronologisch vorge‐ gangen. Dabei wird der Text des Kindes seitenweise auf inhaltlicher und sprach‐ licher Ebene beschrieben. Funktionen und Wirkungen sprachlicher Mittel werden dabei in den Blick genommen. Auf die Bilder des Bilderbuches wird an entsprechender Stelle Bezug genommen. Textmerkmale, die dem konzeptionell schriftlichen oder mündlichen Sprachgebrauch zugeordnet werden können, werden benannt. Ein besonderes Augenmerk gilt bei der Textbeschreibung der Herstellung von Kohärenz. Durch diese Betrachtungsweise des Kindertextes ohne Bezug zum Bilderbuchtext wird ersichtlich, ob die Verständlichkeit des Kindertextes ohne Kenntnis des Bilderbuchtextes für eine Leserin oder einen Leser gesichert ist. 276 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="277"?> Darauffolgend wird die Textproduktion des Kindes systematisch unter ver‐ schiedenen Aspekten und Fragestellungen betrachtet, die die entwickelten Kategorien widerspiegeln. So wird in einem vierten Schritt zusammenfassend der Frage nachgegangen, ob und - falls ja - mit welchen Mitteln Kohärenz hergestellt wird. Es wird sowohl inhaltliche als auch grammatische Kohärenz in den Blick genommen, wobei der Text auf Kohäsionsmittel (vgl. dazu Linke et al. 2004) untersucht wird. Anschließend werden in einem fünften, sechsten und siebten Schritt neue, ver‐ änderte und ausgelassene Inhalte in der Textproduktion des Kindes im Vergleich zum Bilderbuchtext aufgezeigt. Dabei wird zum einen analysiert, wie diese Inhalte vom Kind sprachlich dargestellt werden. Bezüge zum Bilderbuch in Text und Bild werden an den entsprechenden Stellen hergestellt. Zum anderen wird der Blick auf Funktionen dieser neuen und veränderten Inhalte für den Text gerichtet. Zudem werden weitere individuelle Beobachtungen zum Vergleich von Bilderbuchtext und kindlicher Textproduktion dargestellt. In einem achten Schritt wird der Frage nachgegangen, ob sich in der Textproduk‐ tion des Kindes Musterhaftigkeit erkennen lässt und worin sich diese zeigt. Dazu wird Musterhaftigkeit auf unterschiedlichen Ebenen gemäß dem Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Studie (vgl. I.5.7) in den Blick genommen. Dies dient dem Ziel, zu untersuchen, inwiefern der Gebrauch von Mustern bei der Organisation des Textes eine Rolle spielt und welche Funktionen von den Kindern verwendete Muster für den Text haben. Zudem werden im Kindertext identifizierte Muster auf allen Ebenen in Beziehung zum Mustergebrauch des Bilderbuches gesetzt. Der vergleichenden Analyse von Musterhaftigkeit (aber auch von weiteren Textmerkmalen) liegen folgende Leitfragen zugrunde: 1. Ist das Muster (bzw. Merkmal) im gleichen Kontext im Bilderbuch vor‐ handen? Ist das Muster (bzw. Merkmal) dort in der gleichen oder einer abgewandelten Form zu finden? 2. Ist das Muster (bzw. Merkmal) in einem anderen Kontext des Bilderbuches enthalten? Ist das Muster (bzw. Merkmal) dort in der gleichen oder einer abgewandelten Form zu finden? Organisiert das Kind seinen Text mit Hilfe eines Baumusters, wird dieses als erstes thematisiert, wobei in diesem Zusammenhang bereits auf sprachliche und strukturelle Muster eingegangen wird, die Bestandteile des Baumusters sind. Anschließend werden sprachliche Muster (und analog dazu strukturelle Muster) im Kindertext thematisiert: Wie unter I.5.7 dargestellt kann Musterhaftigkeit im Hinblick auf vier Kategorien unterschieden werden: in Bezug auf die Sprachge‐ 2.3 Auswertungsverfahren 277 <?page no="278"?> meinschaft und narrative Texte (K1), in Bezug auf einen weiteren Text (K2) und im Kindertext selbst (K3). Als weiterer Text kann sowohl ein dritter Text (K2a) als auch der vorgelesene Bilderbuchtext (K2b) fungieren. Der Kindertext wird somit auf Phraseologismen und geläufige Wortverbindungen (K1) untersucht, die für sich betrachtet bereits Musterhaftigkeit aufweisen. Zweitens werden Muster in den Blick genommen, die in einem dritten Text vorkommen (K2a). Ob sich das Kind tatsächlich an diesem dritten Text orientiert hat, kann jedoch nur gemutmaßt werden. In Bezug auf Musterhaftigkeit der Kategorie 2b werden die im Kindertext verwendeten Formulierungen, die Ähnlichkeiten mit Formu‐ lierungen aus dem vorgelesenen Bilderbuch aufweisen, genauer analysiert. Zur Beschreibung sowohl sprachlicher als auch struktureller Muster der Kategorie 2b wird auf das unter II.2.3.1 erläuterte Analyseraster zur Beschreibung sprachli‐ cher und struktureller Muster mit Blick auf den Bilderbuchtext zurückgegriffen. Werden nicht-identische sprachliche Muster und Strukturen in Kindertext und Bilderbuchtext identifiziert, die Ähnlichkeiten aufweisen, wird die Formulie‐ rung des Bilderbuches als Grundlage genommen und beschrieben, wie diese variiert werden muss, um daraus die im Kindertext verwendete Formulierung zu erhalten. Dabei sind des Öfteren sowohl Beschreibungen auf struktureller Ebene (strukturelle Muster) als auch Beschreibungen mit Hilfe von sprachlichen Mustern möglich. In diesen Fällen werden beide möglichen Beschreibungen aufgeführt. Darüber, ob es sich bei den sprachlichen Mustern und Strukturen, die im Kindertext sowie im Bilderbuch in gleicher oder ähnlicher Form vor‐ kommen, um wörtliche Übernahmen, Variationen von wörtlichen Übernahmen, strukturelle Übernahmen oder Variationen struktureller Übernahmen handelt, können keine abgesicherten Aussagen getroffen werden. Es handelt sich hierbei lediglich um mehr oder weniger naheliegende Hypothesen. Wiederkehrende sprachliche Strukturen und Muster werden über den ganzen Text hinweg identifiziert (Kategorie 3). Neben Baumustern, sprachlichen und strukturellen Mustern wird der Gebrauch von Mustern der dritten Ebene (u. a. erzähltypische Muster) untersucht. Die Analyse von Musterhaftigkeit schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der Beobachtungen zu Musterhaftigkeit. In einem neunten Schritt werden die Textproduktionen aus Pretend-Reading-Si‐ tuationen im Hinblick auf Leserorientierung betrachtet. Im darauffolgenden zehnten Schritt wird der Frage nachgegangen, ob die Textproduktion des Kindes Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit aufweist, um herauszufinden, ob das Kind durch das Setting zu einem dekontextuali‐ sierten Sprachgebrauch herausgefordert werden konnte. Dabei wird der Text auf Elemente konzeptioneller Schriftlichkeit in Bezug auf Tempus, Lexik und Syntax 278 2 Methodische und methodologische Überlegungen <?page no="279"?> analysiert. Um herauszufinden, ob es sich beim Gebrauch dieser Elemente mit hoher Wahrscheinlichkeit um Übernahmen aus dem Bilderbuch (im gleichen oder in einem anderen Kontext) handelt, werden die identifizierten Elemente mit der Sprache des Bilderbuches verglichen. Zudem wird das für die vorliegende Studie zentrale Merkmal konzeptionell schriftlicher Texte Monologizität (vgl. I.3.1) in den Blick genommen und der Frage nachgegangen, ob und - falls ja - wie das Kind Monologizität herstellt. Im Anschluss daran werden in einem elften Schritt die während der Pretend- Reading-Situation vom Kind am eigenen mündlichen Text vorgenommenen Überarbeitungen beschrieben, um sie in Beziehung zur Erkenntnis- und Wis‐ senstheorie Polanyis und der Übertragung dieser auf die Textproduktion (vgl. I.6.2) zu setzen. An dieser Stelle ist anzumerken, dass es für die Interpretation der Überarbeitungen Alternativerklärungen geben kann, da es sich bei den Äußerungen der Kinder des Öfteren nur um Fragmente handelt und nicht zwangsläufig um die kompletten Gedankengänge. Jede der sieben Textanalysen schließt nach dieser Analyse mit Überlegungen zum Thema implizites Wissen, Können und implizites Lernen. In diesem werden die Beobachtungen zur jeweiligen Textproduktion mit Erkenntnissen zum impliziten Lernen von Georg Hans Neuweg und der Wissenstheorie Michael Polanyis in Beziehung gesetzt. Die Textproduktionen der Kinder werden auf diese Weise im Hinblick auf die erste Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit betrachtet: „Welches implizite Textwissen bzw. welches praktische Können (Neuweg 2000) im Hinblick auf monologische Textproduktion lässt sich durch Pretend-Reading-Situationen bei Vorschulkindern herausfordern? “ 2.3 Auswertungsverfahren 279 <?page no="281"?> 3 Auswertung und Ergebnisse 3.1 Textanalysen Kapitel 3.1 enthält sieben Textanalysen, die dem unter II.2.3.2 beschriebenen zwölfschrittigen Aufbau folgen. Die analysierten Textproduktionen der Kinder (Ben, Kira, Mia, Ida, Nicole, Jan und Muriel) sowie die Analysen der Bilderbücher sind im digitalen Anhang enthalten. 3.1.1 Textanalyse I: Frosch hat Angst von Ben Ben ist zum Zeitpunkt der Durchführung der Pretend-Reading-Situation mit der oder dem Studierenden sechs Jahre und 0,5 Monate alt. Seine Familiensprache ist Deutsch. Er hat ein Geschwisterkind, das zwei Jahre alt ist. Die Herkunftsre‐ gionen der Eltern liegen in Deutschland. Ben besucht eine Kindertagesstätte. Im Haushalt gibt es nach Angaben der Eltern 40 bis 80 Bilder- oder Kinderbücher. Bens Mutter hat einen Hochschulabschluss und sein Vater ist promoviert. Ben wird vierbis sechsmal in der Woche ein Buch oder eine Geschichte vorgelesen. Dies erfolgt durch die Mutter und die Großmutter des Kindes. Zu Hause werden Ben einbis zweimal in der Woche Geschichten erzählt. Ben tut manchmal so, als würde er (jemandem) ein Buch vorlesen und bezeichnet diese Tätigkeit nach Angaben der Eltern folgendermaßen: „Ich lese“. Die oder der Studierende, die oder der mit Ben die Pretend-Reading-Situation durchführte, kannte ihn vorher nicht. Die Situation fand im Kinderzimmer des Kindes statt. Im ersten Schritt der Pretend-Reading-Situation informiert die oder der Erwachsene (E) Ben (B) über das geplante Vorgehen. E: okay, ben. [7] [E setzt sich hin] ich freu mich, dass du [.] dir [.] ZEIT genommen hast für das hier. und du hast dir [.] [B hält E das Buch hin und E nimmt es entgegen] schon n buch ausgesucht/ [.], B: / ja! E: was du mAgst. frosch hat angst. u: nd ähm [.]und zwar [.] hast du dir das buch ausgesucht und ich werde dir jetzt aus dem buch vorlesen. B: okay <?page no="282"?> E: und wenn ich das gemacht habe, dann werden wir EINmal die plätze wechseln. dann darfst du hier auf den vorlesesessel [klopft auf seine Sitzgelegenheit ab ‚auf‘] B: okay E: und ich geh dann hier [zeigt auf das Kissen, auf dem B sitzt] auf das kissen oder auf die kiste. B: okay! [hoch] E: gut, dann legen wir los. Im zweiten Schritt liest die oder der Erwachsene Ben das komplette Bilderbuch Frosch hat Angst vor. Frosch hat Angst (Max Velthuijs) Frosch hatte große Angst. Er lag im Bett und hörte überall seltsame Geräusche. Es knackte im Schrank und raschelte unter den Dielen. „Da ist jemand unter meinem Bett“, dachte Frosch. (1. DS) - Er sprang aus dem Bett und rannte durch den dunklen Wald bis zum Haus von Ente. „Wie lieb, dass du mich besuchen kommst“, sagte Ente. „Aber es ist ziem‐ lich spät. Ich wollte gerade ins Bett gehen.“ „Bitte, Ente“, sagte Frosch. „Ich hab Angst. Unter meinem Bett ist ein Gespenst.“ (2. DS) - „Unsinn“, lachte Ente. „Gespenster gibt es nicht.“ „Die gibt es wohl“, beteuerte Frosch. „Und im Wald, da spukt es auch.“ „Hab keine Angst“, sagte Ente. „Du kannst bei mir schlafen. Ich fürchte mich nicht.“ Sie krochen zusammen ins Bett. Frosch kuschelte sich an Entes warmen Körper und hatte keine Angst mehr. - Plötzlich hörten sie ein Kratzen auf dem Dach. „Was war das? “, fragte Ente, die erschrocken in die Höhe fuhr. Im nächsten Moment hörte sie ein Knacken auf der Treppe. „Hier spukt es auch! “, rief Frosch. „Machen wir, dass wir weg‐ kommen.“ Und sie rannten hinaus in den Wald. (3. DS) Zum Glück konnten sich die drei Freunde gegenseitig trösten. Sie hätten keine Angst, riefen sie laut - und sie würden sich vor nichts und niemandem fürchten. Schließlich schliefen sie er‐ schöpft ein. - Am nächsten Morgen wollte Hase Frosch besuchen. Die Tür stand weit offen, aber von Frosch war nichts zu sehen. „Merk‐ würdig“, dachte Hase. (7. DS) - Das Haus von Ente war ebenfalls leer. „Ente, Ente, wo bist du? “, rief Hase. Doch es kam keine Antwort. Hase machte sich große Sorgen. Er fürchtete, dass etwas Schlimmes passiert war. - Voller Angst lief er durch den Wald und suchte nach Frosch und Ente. Er suchte und suchte, doch es gab keine Spur von seinen Freunden. „Vielleicht weiß Schwein, wo sie sind“, überlegte er. (8. DS) - Hase klopfte an Schweins Tür. Niemand antwortete. Alles war still. Er schaute durchs Fenster und da sah er seine Freunde im Bett liegen. Sie schliefen tief und fest. Um zehn Uhr morgens! Hase klopfte ans Fenster. 282 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="283"?> Frosch und Ente liefen, so schnell sie konnten. Sie hatten das Gefühl, überall seien Gespenster und gruselige Monster. (4. DS) - Schließlich kamen sie zum Haus von Schwein und hämmerten atemlos an die Tür. „Wer ist da? “, fragte eine verschla‐ fene Stimme. „Bitte, mach auf, Schwein. Wir sind’s“, riefen Frosch und Ente. - „Was ist los? “, fragte Schwein ärgerlich. „Warum weckt ihr mich mitten in der Nacht? “ „Bitte hilf uns“, sagte Ente. „Wir haben schreckliche Angst. Der ganze Wald ist voller Gespenster und Monster.“ Schwein lachte. „So ein Unsinn. Ge‐ spenster und Monster gibt es nicht. Das wisst ihr doch.“ „Na, dann schau selber nach“, sagte Frosch. (5. DS) - Schwein sah aus dem Fenster, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen. „Bitte, Schwein, dürfen wir hier schlafen? Wir haben solche Angst.“ „Na gut“, sagte Schwein. „Mein Bett ist groß genug. Und ich fürchte mich nie. Ich glaub nicht an solchen Quatsch.“ - Da lagen sie also alle drei zusammen in Schweins Bett. „Das ist schön“, dachte Frosch. „Jetzt kann nichts mehr pas‐ sieren.“ Trotzdem konnten sie nicht ein‐ schlafen. Sie horchten auf die vielen seltsamen und Furcht erregenden Ge‐ räusche im Wald. Diesmal hörte Schwein sie auch! (6. DS) - „Hilfe! Ein Gespenst! “, schrien die drei Freunde. Dann sahen sie, dass es Hase war. (9. DS) - Schwein schloss die Tür auf und alle liefen hinaus. „Ach, Hase“, sagten sie. „Wir hatten solche Angst. Im Wald sind ganz viele Gespenster und gruselige Monster.“ „Gespenster und Monster? “, fragte Hase überrascht. „Die gibt es nicht.“ - „Woher willst du das wissen? “, fragte Frosch ungehalten. „Eins war sogar unter meinem Bett.“ „Hast du es ge‐ sehen? “, fragte Hase leise. „Äh, nein“, antwortete Frosch. Gesehen hatte er es nicht, aber gehört. Dann unterhielten sie sich lange über Gespenster und Monster und andere schreckliche Dinge. (10. DS) - Schwein machte Frühstück. „Wisst ihr“, sagte Hase, „jeder hat irgendwann mal Angst.“ „Sogar du? “, fragte Frosch über‐ rascht. - „Aber ja“, sagte Hase. „Ich hatte heute Morgen schreckliche Angst, als ich dachte, ich hätte euch verloren.“ Es wurde still. (11. DS) - Dann lachten alle drei. „Sei nicht dumm, Hase“, sagte Frosch. „Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind doch immer hier! “ (12. DS) Im dritten Schritt fordert die oder der Erwachsene Ben auf, nun das Bilderbuch „vorzulesen“. Dies geht folgendermaßen vonstatten. E: so, [.] jetzt habe ich dir [.] vom vorlesesessel einmal vorgelesen. B: ja. E: jetzt können wir gerne einmal die plätze tauschen B: ja! E: jetzt kannst du auf den vorlesesessel. [3] BItteSCHÖN. B: dan-ke. [3] 3.1 Textanalysen 283 <?page no="284"?> E: und ich setz mich neben dich. B: mh E: so [2] und JETZT kannst DU mir vorlesen. [.] tu einfach so, als ob du mir vorlesen §würdest. B: §der kleine frosch hat angst Ben beginnt seine Textproduktion mit der Formulierung der Überschrift der KLEINE frosch hat angst zur nullten Doppelseite. Durch den Ge‐ brauch des bestimmten Artikels entsteht der Eindruck, dass es sich um einen bestimmten, dem Leser bekannten Frosch handelt. Des Weiteren betont Ben das Adjektiv klein und setzt damit einen inhaltlichen Akzent. Zur ersten Doppelseite formuliert Ben die Ausgangsbeschreibung der Situation: der KLEINE frosch lag im BETT [2] und hat angst. [2] es RASCHELT und BRASCHELT. (1. DS) [blättert um] Ben greift hier die Formulierung aus seiner Überschrift auf: Der kleine Frosch. Zunächst verwendet Ben eine Präteritumform (lag), anschließend wechselt er ins Präsens (hat). Hier verwendet er die gleiche Formulierung wie in der Überschrift (hat angst), die im Präsens steht. Der zweite Satz ist ebenfalls im Präsens gehalten. An dieser Stelle bildet Ben einen Reim: es RASCHELT und BRASCHELT. (1. DS) Ben macht Gebrauch vom strukturellen Muster [Verb + „und“ + Verb], das als Paarformel bezeichnet werden kann. Hier macht Ben durch den Rückgriff auf ein Muster deutlich, dass es nicht nur einmal raschelt. Ben formuliert zur zweiten Doppelseite den folgenden Text: er RANNTE vor lauter angst durch den wald und dach-te ‚hier wimmelt’s ja nur von monstern und gespenstern.‘ da KLOPFTE er an entes tür und sagte ‚HILFE, HILFE, (ich kann nicht schlafen), der wald ist voller mo/ monstern und gespenstern.‘ da sagte ente [blättert um] Durch betontes Sprechen setzt Ben den Fokus auf das Verb rennen. Auf dem Bild ist ein schnell laufender Frosch zu sehen. Es ist nicht auszuschließen, dass die bildliche Darstellung die Betonung des Wortes rennen beeinflusst haben könnte. Ben wählt den Phraseologismus vor lauter Angst, um die Tätigkeit des Rennens näher zu beschreiben. Ein neuer Sinnabschnitt der Handlung wird von Ben durch das strukturelle Muster [„Da“ + Verb] eingeleitet: Der Frosch hat das Haus der Ente erreicht und klopft an die Tür. Ben verwendet hier das Verb klopfen, was er im weiteren Verlauf seiner Geschichte mehrfach gebraucht. Auffällig ist, dass Ben eine Satzreihe über zwei Doppelseiten bildet. Zur zweiten Doppelseite formuliert Ben einen vorangestellten Begleitsatz (da 284 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="285"?> sagte ente), während die direkte Rede erst nach dem Umblättern zur nachfolgenden Doppelseite produziert wird. Auch diesen Satz beginnt Ben mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb], das auch hier einen neuen Sinnabschnitt markiert, nämlich die Reaktion der Ente auf die Aussage des Frosches. Ben verwendet auf der ganzen Doppelseite in der Erzählerrede das Präteritum. Die direkte Rede steht im Präsens. Zur dritten und vierten Doppelseite „liest“ Ben folgenden Text vor: ‚NEIN. [.] monster und gespenster gibt es nicht.‘ da sagte frosch ‚DOCH, ich habe sie gehört. eins war sogar unter meinem bett.‘ [blättert auf die 4. DS und wieder zurück] da haben es BEIDE gehört und BEIDE hat-ten angst und sind [blättert um] durch den WALD gerannt. da haben sie [blättert um] Der Text der dritten Doppelseite beginnt mit der Aussage der Ente in Form von direkter Rede. Die Ente widerspricht dem Frosch und spricht sich gegen die Existenz von Monstern und Gespenstern aus. Daraufhin widerspricht Frosch der Ente und beharrt auf der Existenz von Gespenstern. Ben bedient sich erneut direkter Rede mit vorangestelltem Begleitsatz und leitet diesen mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] ein. Anschließend macht Ben ein weiteres Mal Gebrauch vom strukturellen Muster [„Da“ + Verb]. Er leitet damit einen neuen Sinnabschnitt ein und transportiert sprachlich, dass ein Ereignis plötzlich auftritt - nämlich das Vernehmen eines Geräuschs. Durch die Wiederholung des Indefinitpronomens beide in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen und die zusätzliche stimmliche Betonung des Pronomens beide wird dieses Wort beson‐ ders akzentuiert. Ben hebt dadurch hervor, dass plötzlich nicht nur der Frosch, sondern auch die Ente Angst hat und markiert damit ein zentrales Element der Geschichte. Auch verwendet er ein weiteres Mal die Formulierung durch den Wald rennen. Zudem findet ein Wechsel vom Präteritum zum Präsens statt. Anschließend greift Ben erneut auf das strukturelle Muster [„Da“ + Verb] zurück und markiert dadurch auch hier einen neuen Sinnabschnitt, nämlich das Klopfen an Schweins Tür. Dieses wird von Ben jedoch erst zur nächsten Doppelseite erwähnt, da sein Satz wieder über zwei Doppelseiten reicht. Bens Text zur fünften Doppelseite lautet wie folgt: an SCHWEINS tür ge-klopft und (das schwein) hat gesagt ‚warum weckt ihr mich mitten in der NACHT [.]‘, sagte schwein. da sagt der frosch ‚wir hat-ten angst, gespenster sind im wald und eins (sogar) unter meinem bett.‘ [2] da lachte schwein. ‚NEIN, monster und gespenster gibt es nicht.‘ [blättert um] 3.1 Textanalysen 285 <?page no="286"?> Ben schildert die Reaktion des Schweins auf das Klopfen: Es stellt ihnen die Frage, warum sie es nachts wecken. Zunächst bildet Ben für die direkte Rede einen Begleitsatz, der im Perfekt gehalten ist (das schwein) hat gesagt). Nach der Formulierung der direkten Rede ergänzt er einen Rede‐ begleitsatz, der im Präteritum gehalten ist (sagte schwein) und eine fast identische Information wie der zuerst formulierte Begleitsatz enthält. Anschlie‐ ßend behält Ben die Zeitform Präteritum bei und bildet erneut direkte Rede mit vorangestelltem Begleitsatz, die er mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] einleitet: ‚wir hat-ten angst, gespenster sind im wald und eins (sogar) unter meinem bett.‘ (2. DS) Der Frosch antwortet auf die Frage des Schweins und liefert als Begründung ihre Angst vor Monstern und Gespenstern. Auch das Schwein widerspricht dem Frosch und spricht sich gegen die Existenz von Monstern und Gespenstern aus. Ben behält die Zeitform Präteritum bei und bildet auch in diesem Kontext direkte Rede mit vorangestelltem Begleitsatz, die er mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] einleitet. Auch die beiden Hauptsätze, die Ben zur sechsten Doppelseite formuliert, beginnen jeweils mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb]: da waren alle drei ins/ in/ in/ im bett von schwein. da hatte auch SCHWEIN angst. [blättert um] Mit dem ersten Satz drückt Ben aus, dass sich alle drei Tiere im Bett des Schweins befinden. Auf der rechten Hälfte der Doppelseite ist genau diese Szene bildlich dargestellt. Bens Text stimmt an dieser Stelle mit der Geschichte, die das Bild erzählt, stark überein. Zwischen dem Gespräch der Tiere an der Tür des Schweins (5. DS) und der beschriebenen Szene (6. DS) findet ein abrupter Szenenwechsel statt. Mit Hilfe des zweiten Hauptsatzes vermittelt Ben, dass sich nun auch das Schwein fürchtet. Er hebt diese Tatsache durch das betonte Sprechen des Wortes Schwein hervor. Bens Text zur siebten Doppelseite beginnt mit dem sprachlichen Muster Am nächsten Morgen. Mit diesem wird ein neuer Sinnabschnitt der Ge‐ schichte eingeleitet: am nächsten morgen hat/ war/ stand die tür von schwein WEIT offen und der hase wollte schwein besuchen, aber nix war von schwein zu sehen. [blättert um] Mittlerweile ist es Morgen geworden. Nach der Zeitangabe folgt eine Be‐ schreibung der Situation: Die Tür von Schwein steht weit offen. Ben führt nun eine neue Figur, erneut in Verbindung mit dem direkten Artikel, in die Handlung ein: den Hasen. Dieser möchte Schwein besuchen, kann Schwein aber nicht erblicken. Den zweiten und dritten Satz verbindet Ben mit der Konjunktion aber 286 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="287"?> und stellt damit den Kontrast zwischen dem Wunsch des Hasen und der Realität dar. Auf der Textoberfläche stellt Ben dadurch Kohäsion her. Der Text der achten Doppelseite wird erneut mit Hilfe des strukturellen Musters [„Da“ + Verb] an den bisherigen Text angebunden: da rannte er mit lauter angst [.] zu ente, aber AUCH nix zu/ von ente zu sehen. [blättert um] Kohäsion wird auch hier mit Hilfe der Konjunktion aber hergestellt. Ben greift erneut auf das sprachliche Muster nichts ist von jemandem zu sehen zurück. Durch die Wahl der gleichen Formulierungen wie auf der vorangegangenen Doppelseite wird die sich wiederholende Handlung des Hasen, nämlich zum Haus gehen und merken, dass die Person nicht vor Ort ist, auch durch sich wiederholende Formulierungen auf der sprachlichen Ebene unterstrichen. Der Text zur neunten Doppelseite beginnt ebenfalls mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb]: da hat [.] hase an schweins TÜR ge-klopft und ans fenster ge/ da sind alle aufgewacht mit lauter angst und [.] hatten gedacht/ und haben alle laut gerufen ‚HILFE, EIN GESPENST‘. [blättert um] Der Hase erreicht nun zum zweiten Mal das Haus des Schweines. Er klopft erneut an die Tür und zusätzlich ans Fenster, was dazu führt, dass die drei Tiere erwachen und sich fürchten. Auch die Reaktion der Tiere wird mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] als neuer Sinnabschnitt gekennzeichnet. Die letzten beiden Sätze, die zum einen das Erwachen der Tiere und zum anderen die unmittelbare Reaktion der Tiere auf das Klopfen thematisieren, werden mit der Konjunktion und verknüpft. So wird der thematische Zusammenhang, der zwischen den beiden Aussagen besteht, auch auf der Textoberfläche durch den Gebrauch dieses Kohäsionsmittels sichtbar. Zur zehnten Doppelseite formuliert Ben drei Satzreihen. Diese bestehen je‐ weils aus einem vorangestellten Redebegleitsatz, der mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] eingeleitet wird, und einem Hauptsatz, der direkte Rede enthält. Dabei werden in jeder der drei Satzreihen verschiedene Sprecher ge‐ nannt: da hat-ten / ten sie gesagt [2] ‚wir hatten solche ANGST, wir dachten, du bist ein gespenst.‘ da sagte Hase ‚NEIN, GESPENSTER [.] ES NICHT UND MONSTER AUCH NICHT.‘ da sagte frosch ‚DOCH, eins war sogar unter meinem bett [.] ein gespenst‘. [blättert um] Auf inhaltlicher Ebene handelt es sich um eine Diskussion zwischen dem Hasen und den Tieren, die Angst haben. Thematisch handelt diese von der Existenz bzw. Nichtexistenz von Gespenstern. 3.1 Textanalysen 287 <?page no="288"?> Auf der elften Doppelseite wird viermal Gebrauch vom strukturellen Muster [„Da“ + Verb] gemacht: da hat schwein mit allen gefrühstückt. da hatte frosch gesagt ‚JEDER hat mal angst, sogar DU.‘ da sagte [.] hase ‚JA, SCHON.‘ da sagte frosch ‚ja, du bist hin/ da sagte hase ‚ich bin vor LAUTER angst durch den WALD / rannt und habe EUCH GESUCHT‘. [blättert um] Nach der Diskussion auf der vorangegangenen Doppelseite wird nun er‐ neut ein neuer Sinnabschnitt durch das strukturelle Muster [„Da“ + Verb] eingeleitet: das gemeinsame Frühstück. Schwein wird dadurch als Gastgeber hervorgehoben, dass explizit erwähnt wird, dass Schwein mit allen frühstückt. Dabei findet ein Dialog zwischen Frosch und Hase statt. Auf sprachlicher Ebene wird die Struktur der vorangegangenen Doppelseite aufgegriffen. Erneut ist Hase wie auf der vorangegangenen Doppelseite der zweite Sprecher. Im Unterschied zum Dialog auf der vorangegangenen Doppelseite widerspricht Hase aber diesmal nicht, sondern gibt zu, dass auch er manchmal Angst hat. Zum Ende der Geschichte hin besteht somit Konsens zwischen den Tieren. Auch auf der zwölften Doppelseite wird Gebrauch vom strukturellen Muster [„Da“ + Verb] gemacht, womit Ben erneut eine Reaktion auf ein vorangegan‐ genes Ereignis einleitet, und zwar die Reaktion der Tiere auf die vom Hasen geäußerte Befürchtung: da: lachten alle. [blättert um] en: de Ben schließt die Geschichte mit einem Happy End: Alle Figuren sitzen gemeinsam am Tisch und lachen. Das Ende der Geschichte markiert Ben sprachlich mit dem Nomen Ende, einer Schlussformel. Bens Geschichte weist überwiegend inhaltliche Kohärenz auf. Im Vergleich zur Geschichte des Bilderbuchtextes gibt es einige wenige inhaltliche Elemente, die Ben weglässt und auf diese Weise Verkürzungen vornimmt. Die einzige Leerstelle seines Textes resultiert aus dem Gebrauch eines Personalpronomens (es) ohne Bezug zu einem im vorangegangenen Satz genannten Referenzobjekt. Zur Herstellung von grammatischer Kohärenz bedient sich Ben verschiedener Kohäsionsmittel: Zum einen macht er Gebrauch von Pro-Formen, indem er erstens Personalpronomen verwendet, die sich auf ein vorangegangenes Nomen beziehen und zweitens häufig auf das Temporaladverb da zurückgreift. Zum anderen verwendet Ben Konnektive: So lassen sich in seinem Text die Konjunk‐ tionen und (4. DS) und aber (7. DS, 8. DS) finden. Nachfolgend wird der Blick auf inhaltliche Abweichungen zwischen Bens Text und dem Bilderbuchtext gerichtet. Dabei werden zunächst Inhalte thematisiert, die in Bens Text im Vergleich zum Bilderbuchtext in einer abgewandelten Form 288 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="289"?> vorkommen (veränderte Inhalte). In Bens Erzählung geht der Hase zunächst zum Haus des Schweins, wo er dieses jedoch nicht antrifft (vgl. 7. DS), läuft anschließend zum Haus der Ente, wo ebenfalls niemand zu Hause zu sein scheint (vgl. 8. DS) und kehrt daraufhin zu Schweins Haus zurück, wo er durch das Fenster schaut und die Freunde erblickt (vgl. 9. DS). Im Bilderbuch hingegen ist das erste Haus, zu dem der Hase läuft, das Haus des Frosches, während die Reihenfolge der nächsten zwei Häuser, zu denen er läuft, die gleiche ist wie in Bens Erzählung (vgl. Velthuijs 2016, 7. DS). Als neues inhaltliches Element enthält Bens Text im Vergleich zum Bilder‐ buchtext ein Klopfen an der Tür: Als Frosch Ente besucht, klopft er an ihre Tür (vgl. 2. DS), während im Bilderbuch dieses Klopfen nicht thematisiert wird. Somit realisiert Ben ein Baumuster, nach dem zwei Sequenzen seiner Geschichte ablaufen. Im Vergleich zur Geschichte, die durch den Text des Bilderbuches erzählt wird, gibt es zudem inhaltliche Elemente, die Ben in seiner Narration auslässt (ausgelassene Inhalte). Auf diese Weise nimmt er Verkürzungen vor. Drei der von Ben ausgelassenen inhaltlichen Elemente sind für das Verständnis der Handlung irrelevant, während es sich bei dem vierten ausgelassen inhaltlichen Element um eine Leerstelle handelt. In den folgenden zwei Textpassagen werden Inhalte ausgelassen, die im Bilderbuchtext in Form von direkter Rede zum Ausdruck gebracht werden. Auf der ersten Doppelseite wird sowohl im Bilderbuchtext als auch in Bens Text die Ausgangslage dargestellt: Der Frosch liegt ängstlich im Bett, während merkwürdige Geräusche zu hören sind. Im Bilderbuch heißt es: „‚Da ist jemand unter meinem Bett‘, dachte Frosch“ (Velthuijs 2016, 1. DS). Ben hingegen gibt in diesem Kontext keine Gedanken des Frosches in Form von direkter Rede wieder. Während seine Geschichte zudem mit dem Lachen der Tiere schließt (da lachten alle (12. DS)), folgt im Bilderbuch dem Lachen eine Erläuterung des Lachens in Form von direkter Rede: „Dann lachten alle drei. ‚Sei nicht dumm, Hase‘, sagte Frosch. ‚Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind doch immer hier! ‘“ (Velthuijs 2016,12. DS) In der folgenden Textpassage wird ein inhaltliches Element ausgelassen, das im Bilderbuch teilweise in Form von Erzählerrede dargestellt wird. Im Bilderbuch wird nach einem Dialog zwischen Frosch und Ente an der Haustür thematisiert, dass sie ins Bett kriechen, anschließend Geräusche hören, glauben, dass es spukt und daher in den Wald rennen (vgl. Velthuijs 2016, 3. DS). In Bens Geschichte hingegen folgt unmittelbar nach dem Gespräch an der Haustür (3. DS) das Hören von etwas nicht näher Bestimmtem und das Rennen durch den Wald (4. DS). An 3.1 Textanalysen 289 <?page no="290"?> dieser Stelle lässt Ben somit für das Verständnis der Geschichte nicht relevante komplette Handlungen aus. Ein weiteres ausgelassenes inhaltliches Element innerhalb der Erzählerrede lässt sich als Leerstelle bezeichnen. Diese resultiert aus dem Auslassen eines Inhalts (in Form von Erzählerrede) aus dem Bilderbuchtext, der für das Ver‐ ständnis der Geschichte relevant ist: das im Bilderbuch erwähnte Kratzen und Knacken (vgl. Velthuijs 2016, 3. DS). da haben es BEIde gehört (4. DS), formuliert Ben. Dabei verwendet er das Personalpronomen es, das sich auf kein im vorangegangenen Satz erwähntes Referenzobjekt bezieht. Allerdings lässt sich aus dem Kontext erahnen, dass es sich bei dem, was die beiden Tiere hören, um ein unheimliches Geräusch handeln muss, da bereits auf der ersten Doppelseite ein Rascheln und Brascheln im Zusammenhang mit einem Gefühl der Angst von Ben thematisiert wird. Im Folgenden wird Musterhaftes in Bens Textproduktion in den Blick genommen und in seiner Funktion für den Text beschrieben. Zunächst wird das Bens Narration zugrunde liegende Baumuster beschrieben. Im Bilderbuch werden zwei Sequenzen geschildert, die inhaltlich ähnlich aufgebaut sind (vgl. digitaler Anhang). In der ersten Sequenz fürchtet sich der Frosch, rennt durch den Wald und wird von der Ente in ihr Haus aufgenommen. In der zweiten Sequenz fürchten sich Frosch und Ente, laufen durch den Wald und werden von dem Schwein in sein Haus aufgenommen. Bens Textproduktion weist diese beiden Sequenzen ebenfalls auf. Das von Ben verwendete Baumuster, das beiden Se‐ quenzen zugrunde liegt, lässt sich folgendermaßen beschreiben: Zunächst haben ein bis zwei Tiere Angst und laufen durch den Wald. Zur Versprachlichung wird auf die Formulierung durch den Wald rennen zurückgegriffen. Anschließend wird an der Tür eines weiteren Tieres geklopft. In diesem Zusammenhang wird die Formulierung an jemandes Tür klopfen in Verbindung mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] verwendet. Das vor der Tür stehende Tier erwähnt Gespenster im Wald. Das Tier, das die Tür öffnet, äußert den Satz: Nein. Monster und Gespenster gibt es nicht. Der Frosch verwendet vor oder nach dieser Reaktion die Formulierung eines […] sogar unter meinem Bett in seiner Äußerung. Die sprachliche Ausgestaltung des Baumusters aus Bens Textproduktion lässt sich im Vergleich zum Bilderbuchtext wie folgt beschreiben (vgl. Tabelle 22): 290 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="291"?> Kindertext Baumuster (2 Sequenzen) (S) Bilderbuchtext Baumuster (2 Sequenzen) (S) Baustein 1 sich fürchten sich fürchten Baustein 2 durch den Wald rennen durch den Wald rennen Baustein 3a bei einem anderen Tier Unter‐ schlupf suchen a) an einer Tür klopfen [„Da“ + Verb] + „an jemandes Tür klopfen“ bei einem anderen Tier Unter‐ schlupf suchen Ähnlichkeit auf sprachlicher Ebene: S1: „‚Unsinn‘, lachte Ente. ‚Ge‐ spenster gibt es nicht.‘“ (Ebd., 3. DS) S2: „Schwein lachte. ‚So ein Un‐ sinn. Gespenster und Monster gibt es nicht.‘“ (Ebd., 5. DS) Baustein 3b b) Aussage über Gespenster im Wald Baustein 3c c) Beschwichtigung „Nein. Monster und Gespenster gibt es nicht.“ Baustein 3d d) „eines […] sogar unter meinem Bett“ Baustein 4 im Bett liegen Baustein 5 Angst bekommen Angst bekommen Tabelle 22: Baumustervergleich, Textanalyse I Beide Sequenzen in Bens Baumuster beinhalten das sprachliche Muster durch den Wald rennen: er RANNTE vor lauter angst durch den wald (2. DS) und da haben es BEIDE gehört und BEIDE hat-ten angst und sind [blättert um] durch den WALD gerannt (3./ 4. DS). Im Bilderbuch wird die Tätigkeit des Rennes in der ersten Sequenz durch die Formulierung „durch den dunklen Wald rennen“ (Velthuijs 2016, 2. DS) zum Ausdruck gebracht, während in der zweiten Sequenz die Formulierungen „in den Wald hinaus rennen“ (ebd., 3. DS) und „laufen, so schnell sie können“ (ebd., 4. DS) verwendet werden. Bens sprachliche Gestaltung weist an dieser Stelle somit eine stärkere Musterhaftigkeit und Struktur auf. Im Bilderbuch ist die jeweilige Ankunft des Tieres bzw. der Tiere sprachlich unterschiedlich gestaltet. In der ersten Sequenz wird der Frosch durch direkte Rede von der Ente begrüßt (vgl. ebd., 2. DS), während das „Sich-bemerkbar-Machen“ nicht thematisiert wird. In der zweiten Sequenz hämmern die Tiere an Schweins Tür (vgl. ebd., 5. DS). Ben hingegen thematisiert in beiden Sequenzen das Klopfen an der Tür. da KLOPFTE er an entes tür und sagte ‚HILFE, HILFE, (ich kann nicht schlafen), der wald ist 3.1 Textanalysen 291 <?page no="292"?> voller mo/ monstern und gespenstern‘ (2. DS). da haben sie [blättert um] an SCHWEINS tür ge-klopft und (das schwein) hat gesagt ‚warum weckt ihr mich mitten in der NACHT [.]‘, sagte schwein (5. DS). Ben wählt in beiden Fällen das sprachliche Muster an jemandes Tür klopfen und bildet den Satz jeweils mit Hilfe des strukturellen Musters [„Da“ + Verb]. Somit wird in Bens Text die inhaltliche Wiederholung durch die sprachliche Textgestaltung reflektiert. Auch an dieser Stelle weist Bens Text eine stärkere Musterhaftigkeit auf als das Bilderbuch. Ein weiterer Bestandteil von Bens Baumuster ist das sprachliche Muster Nein. Monster und Gespenster gibt es nicht: da sagte ente [blättert um] ‚NEIN, [.] monster und gespenster gibt es nicht. (2./ 3. DS) und da lachte schwein. ‚NEIN, monster und gespenster gibt es nicht.‘ (5. DS) Im Bilderbuch wird ebenfalls ein sprachliches Muster verwendet. Dieses wird aber im Gegensatz zu Bens Text in der zweiten Sequenz leicht variiert: „‚Unsinn‘, lachte Ente. ‚Gespenster gibt es nicht.‘“ (Velthuijs 2016, 3. DS) und „Schwein lachte. ‚So ein Unsinn. Gespenster und Monster gibt es nicht. Das wisst ihr doch.‘“ (Ebd., 5. DS) Erneut weist Bens Text eine stärkere Musterhaftigkeit auf. Bens Baumuster beinhaltet zudem die Formulie‐ rung eines […] sogar unter meinem Bett: eines war sogar unter meinem bett (3. DS) und da sagt der frosch ‚wir hat-ten angst, gespenster sind im wald und eines (sogar) unter meinem bett.‘ (5. DS) Im Bilderbuch wird in der ersten Sequenz die Formulierung Unter meinem Bett ist ein Gespenst verwendet: „‚Bitte, Ente‘, sagte Frosch. ‚Ich hab Angst. Unter meinem Bett ist ein Gespenst.‘“ (Velthuijs 2016, 2. DS) In der zweiten Sequenz wird das Gespenst unter dem Bett nicht erwähnt. Auch hier weist Bens Baumuster eine stärkere Struktur als das im Bilderbuch verwendete Baumuster auf. Der inhaltliche Baustein des Im-Bett-Liegens ist in Bens Baumuster im Gegensatz zum Baumuster des Bilderbuches nicht vorhanden, da diese Handlung lediglich in der zweiten Sequenz vorkommt. Während im Bilderbuch ein sprachlich recht offenes Baumuster verwendet wird (vgl. digitaler Anhang), konstruiert Ben ein sprachlich stärker struktu‐ riertes Baumuster, indem er inhaltliche Wiederholungen sprachlich mit den gleichen Formulierungen darstellt. Daher weisen die beiden Sequenzen in Bens Textproduktion im Allgemeinen eine stärkere Musterhaftigkeit auf als die im Bilderbuch. Die von Ben gewählten sich wiederholenden sprachlichen Muster zur Versprachlichung der beiden Sequenzen passen auch zur Ähnlichkeit, die die Bilder der beiden Sequenzen aufweisen (vgl. digitaler Anhang). Auch diese Parallelität auf bildlicher Ebene kann den Gebrauch wiederkehrender Muster herausgefordert haben. Das Bilderbuch und Bens Text beinhalten neben den 292 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="293"?> zwei beschriebenen Sequenzen, die einem Baumuster folgen, noch eine dritte Sequenz, die Ähnlichkeit zu den bereits beschriebenen Baumustern hat, sich aber inhaltlich teilweise davon unterscheidet. Die dritte Sequenz enthält in Bens Textproduktion folgende Bausteine seines Baumusters: Der Hase läuft - hier wird erneut das Verb rennen (schnell laufen) verwendet. Er klopft an die Tür - hier wird wieder die Formulierung an jemandes Tür klopfen gebraucht. Im Bilderbuch werden die Formulierungen „durch den Wald laufen“ (Velthuijs 2016, 8. DS) und „an jemandes Tür klopfen“ (ebd., 9. DS) verwendet. Neben den bereits erwähnten Formulierungen, die Bestandteil des Baumusters sind, weist Bens Text verschiedene Ausdrücke und Formulierungen (sprachliche Muster) auf, die mehrfach verwendet werden und somit ebenfalls maßgeblich an der Textstrukturierung und Textgestaltung beteiligt sind. Dabei ist zwischen mehrfach verwendeten sprachlichen Mustern, die im Bilderbuch vorkommen, und solchen, die in ähnlicher Form im Bilderbuch enthalten sind, zu unter‐ scheiden. Sprachliche Muster, die in keiner Form im Bilderbuch zu finden sind, werden von Ben hingegen nicht verwendet. Zu den von Ben mehrfach gebrauchten sprachlichen Mustern, die im Bilder‐ buch vorkommen, gehören nichts von jemandem zu sehen sein, an jemandes Tür klopfen und durch den Wald rennen. So weist Bens Text erstens zweimal das sprachliche Muster nichts von jemandem zu sehen sein auf: am nächsten morgen hat/ war/ stand die tür von schwein WEIT offen und der hase wollte schwein besuchen, aber nix war von schwein zu sehen (7. DS). Im Bilderbuch heißt es auf der gleichen Doppelseite: „Am nächsten Morgen wollte Hase Frosch besuchen. Die Tür stand weit offen, aber von Frosch war nichts zu sehen.“ (Velthuijs 2016, 7. DS) Ben bindet die Formulierung dabei auf eine andere Art in die syntaktische Struktur ein als im Bilderbuch. Durch die andere Reihenfolge der Satzglieder liegt in Bens Text die Betonung auf dem Wort nichts, während sie im Bilderbuch auf dem Tier liegt. Dieses sprachliche Muster gebraucht Ben ein zweites Mal, während es im Bilderbuch lediglich einmal auftaucht. So formuliert Ben zur achten Doppelseite Folgendes: da rannte er mit lauter angst [.] zu ente, aber AUCH nix zu/ von ente zu sehen (8. DS). Erneut verwendet Ben die‐ selbe Reihenfolge der Satzglieder wie auf der siebten Doppelseite. Im Bilderbuch wird die Abwesenheit der Ente im Vergleich zu Bens Text durch das Ausbleiben eines akustischen Signals verstärkt: „Das Haus von Ente war ebenfalls leer. ‚Ente, Ente, wo bist du? ‘, rief Hase. Doch es kam keine Antwort.“ (Velthuijs 2016, 8. DS) Der Inhalt wird im Bilderbuch somit durch ein anderes sprachliches Mittel vermittelt. Die Formulierung nichts von jemandem zu sehen sein kann als sprachliches Muster im neuen Kontext bezeichnet werden. Auffällig ist, dass 3.1 Textanalysen 293 <?page no="294"?> die beiden Textabschnitte, in denen Ben auf diese Formulierung zurückgreift, inhaltlich ähnliche Situationen beschreiben. Folglich liegt die Vermutung nahe, dass implizites Wissen über die Formulierung nichts von jemandem zu sehen sein vorliegt, da Ben sie zweimal passend in ähnlichen Kontexten verwendet. Zweitens gebraucht Ben dreimal die als Bestandteil des Baumusters bezeich‐ nete Formulierung an jemandes Tür klopfen. Im Bilderbuch wird im gleichen Kontext einmal die gleiche Formulierung verwendet und einmal die Formulie‐ rung an die Tür hämmern. Drittens macht Ben insgesamt dreimal von der Formulierung durch den Wald rennen (2. DS, 4. DS, 11. DS) Gebrauch. Im Bilderbuch hingegen wird diese Formulierung nur einmal verwendet (Velthuijs 2016, 2. DS, gleicher Kontext). An einer weiteren Stelle ist eine Variation des sprachlichen Musters zu finden: „durch den Wald laufen“ (ebd., 8. DS). Dadurch, dass Ben in diesem Zusammenhang dreimal das Verb rennen - im Gegensatz zum Verb laufen - verwendet, wird indirekt die Angst, die die Tiere haben, betont, da diese Angst sie nicht nur laufen, sondern sehr schnell laufen (rennen) lässt. Auffällig ist die Tendenz, dass Ben bestimmte sprachliche Mittel, die im Bilderbuch vorkommen, aufzugreifen scheint und diese verwendet, um ähnliche Inhalte sprachlich darzustellen. Neben dem beschriebenen mehrfachen Gebrauch von sprachlichen Mustern ist in Bens Textproduktion auch der mehrfache Gebrauch einer Variation eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, zu finden. Dies lässt sich beim Gebrauch der Formulierungen ein(e)s […] sogar unter meinem Bett, Monster und Gespenster und vor/ mit lauter Angst beobachten. Das sprachliche Muster ein(e)s […] sogar unter meinem Bett wird von Ben ins‐ gesamt dreimal gebraucht (3. DS, 5. DS, 10. DS). Im Vergleich zum Bilderbuchtext fällt auf, dass diese Formulierung hier lediglich auf der zehnten Doppelseite verwendet wird: „Eins war sogar unter meinem Bett“ (Velthuijs 2016, 10. DS). Eine ähnliche Formulierung wird im Bilderbuch lediglich in Kontexten gebraucht, in denen Ben keinen Gebrauch von dieser Formulierung macht: „‚Da ist jemand unter meinem Bett‘, dachte Frosch“ (Velthuijs 2016, 1. DS) und „‚Ich hab Angst. Unter meinem Bett ist ein Gespenst.‘“ (Ebd., 2. DS) Viermal gebraucht Ben die Formulierung Monster und Gespenster. Das Bilder‐ buch selbst weist sogar sechsmal eine ähnliche Formulierung auf: „Gespenster und gruselige Monster“ (Velthuijs 2016, 4. DS), „voller Gespenster und Monster“ (ebd., 5. DS), „Gespenster und Monster“ (ebd., 5. DS), „Gespenster und gruse‐ lige Monster“ (ebd., 10. DS), „Gespenster und Monster“ (ebd.), „Gespenster und Monster“ (ebd.). Bens Formulierung lässt sich beschreiben als Variation des sprachlichen Musters Gespenster und Monster (Typ „Reihenfolge“) - es 294 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="295"?> handelt sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um eine Übernahme aus dem Bilderbuch. Auffällig ist, dass im Bilderbuch das Muster zweimal in Variation gebraucht wird, indem ein Adjektiv ergänzt wird. Bei Bens Text ist dies nicht der Fall. Somit weist Bens Gebrauch von Mustern auch in diesem Zusammenhang eine stärkere Musterhaftigkeit als der Bilderbuchtext auf. Insgesamt verwendet Ben nur einmal (vgl. 5. DS) das Muster im gleichen Kontext, wie es im Bilderbuch verwendet wird. Auffällig ist ebenfalls die vierfache Verwendung des sprachlichen Musters vor/ mit lauter Angst. Im Bilderbuch ist diese Formulierung nicht enthalten. Lediglich einmal wird im gleichen Kontext das sprachliche Muster voller Angst verwendet: „Voller Angst lief er durch den Wald und suchte nach Frosch und Ente“ (Velthuijs 2016, 8. DS). Es könnte sich somit bei der Formulierung vor/ mit lauter Angst um eine Variation dieser Wendung einmal im gleichen Kontext und mehrfach in neuen Kontexten handeln. Alternativ kann das sprachliche Muster auch als Bestandteil des strukturellen Musters etwas vor/ mit lauter Angst tun bezeichnet werden. Dieses Muster lässt sich als Variation des sprachlichen Musters etwas voller Angst tun (vgl. ebd., 8. DS) beschreiben. Zum ersten Mal verwendet Ben das sprachliche Muster vor lauter Angst im Text zur zweiten Doppelseite. Dort heißt es: er RANNTE vor lauter angst durch den wald und dach-te ‚hier wimmelt’s ja nur von monstern und gespenstern.‘ (2. DS) Der Satz des Bilder‐ buches, der einen ähnlichen Inhalt transportiert, lautet folgendermaßen: „Er sprang aus dem Bett und rannte durch den dunklen Wald bis zum Haus von Ente“ (Velthuijs 2016, 2. DS). Auffällig ist, dass zwar wie in Bens Satz das Rennen durch den Wald thematisiert wird, der Grund dafür - nämlich die Angst des Frosches - im Satz des Bilderbuches jedoch unerwähnt bleibt. Diese Thematik wird lediglich auf der ersten Doppelseite behandelt: „Frosch hatte Angst“ (ebd., 1. DS). Die inhaltliche Botschaft, die das sprachliche Muster vor lauter Angst beinhaltet, könnte auch mit Hilfe des kausalen Nebensatzes weil er Angst hatte vermittelt werden. Ben bindet also das sprachliche Muster in die syntaktische Organisation seines Satzes ein und vermittelt der Zuhörerin oder dem Zuhörer auf diese Weise in komprimierter Form den Grund für die Handlung des Frosches. Auf der achten Doppelseite verwendet Ben erstmals das sprachliche Muster mit lauter Angst: da rannte er mit lauter angst [.] zu ente, aber AUCH nix zu/ von ente zu sehen (8. DS). Im inhaltlich äqui‐ valenten Satz des Bilderbuches wird die Formulierung voller Angst verwendet, die Ben in variierter Form viermal nutzt: „Voller Angst lief er durch den Wald und suchte nach Frosch und Ente“ (Velthuijs 2016, 8. DS). Die Inhalte, die die Formulierungen voller Angst und mit lauter Angst vermitteln, sind ähnlich. Sie 3.1 Textanalysen 295 <?page no="296"?> beschreiben in komprimierter Form den Zustand einer Person, die große Angst hat. Die Formulierung würde in etwa dem Satz „Er hatte große Angst und …“ entsprechen. Im Vergleich zum Satz im Bilderbuch kann festgestellt werden, dass Ben das sprachliche Muster an einer anderen Position im Satz einbaut. Zum zweiten Mal gebraucht Ben den Ausdruck mit lauter Angst auf der neunten Doppelseite, indem er folgenden Satz formuliert: da sind alle aufgewacht mit lauter angst und [.] hatten gedacht/ und haben alle laut gerufen ‚HILFE, EIN GESPENST‘ (9. DS). Die inhaltlich äquivalente Passage auf der gleichen Doppelseite des Bilderbuches lautet: „‚Hilfe! Ein Gespenst! ‘, schrien die drei Freunde“ (Velthuijs 2016, 9. DS). Auffällig ist, dass im Bilderbuch an dieser Stelle im Gegensatz zu Bens Formulierung nicht explizit erwähnt wird, dass die Tiere Angst haben. Dies lässt sich nur aus dem Hilferuf schließen. Ben greift somit auf ein anderes, ihm bereits bekanntes sprachliches Mittel zurück, um einen ähnlichen Inhalt wie im Bilderbuch zu vermitteln. Zum zweiten Mal verwendet Ben das sprachliche Muster vor lauter Angst in folgendem Textabschnitt: da sagte frosch ‚ja, du bist hin/ da sagte hase ‚ich bin vor LAUTER angst durch den WALD / rannt und habe EUCH GESUCHT‘. (11. DS) Auffällig ist, dass Ben zum zweiten Mal die Wendung vor lauter Angst durch den Wald rennen verwendet. Die inhaltlich äquivalente Passage des Buches lautet: „‚Aber ja‘, sagte Hase. ‚Ich hatte heute Morgen schreckliche Angst, als ich dachte, ich hätte euch verloren.‘“ (Velthuijs 2016, 11. DS) Mit Hilfe der von Ben gewählten Formulierung vor lauter Angst lässt sich verdichtet darstellen, was im Bilderbuch in einem Satz ausgedrückt wird: „Ich hatte […] schreckliche Angst“ (ebd., 11. DS). Neben der Bedeutung, dass die handelnde Person große Angst hat, transportiert das von Ben gewählte Muster jedoch zusätzlich noch den Grund für die Handlung. In allen vier Fällen erfüllt das verwendete sprachliche Muster vor/ mit lauter Angst entweder die Funktion, in komprimierter Form den Grund einer Handlung zu benennen oder bzw. und den Gefühlszustand der handelnden Person zu charakterisieren. Durch die Wiederholung des sprachlichen Musters jeweils in Kombination mit einem Verb zur Beschreibung der angstbesetzen Handlungen wird der Fokus auf den zentralen Begriff der Geschichte gelegt, der bereits in der Überschrift genannt ist: Angst. Neben den sprachlichen Mustern, die mehrfach in Bens Textproduktion zu finden sind, weist Bens Text auch sprachliche Muster auf, die nur einmal auftauchen. Zwei dieser Muster (am nächsten Morgen und alle drei) sind dabei im Bilderbuch enthalten, eins (von etwas wimmeln) nicht. 296 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="297"?> 147 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ wimmeln So verwendet Ben einmal ein sprachliches Muster mit Zeitangabe: Am nächsten Morgen (7. DS). Das gleiche sprachliche Muster wird im Bilderbuch auf der gleichen Doppelseite in einem anderen Kontext verwendet. Es kann somit als Gebrauch eines sprachlichen Musters in einem neuen Kontext gesprochen werden. Seine Funktion ist die zeitliche Strukturierung des Textes - es handelt sich um ein Gliederungssignal. Das Muster hat ebenfalls eine Textstrukturie‐ rungsfunktion, da es einen neuen Sinnabschnitt einleitet. An einer anderen Stelle verwendet Ben die Formulierung alle drei: da waren alle drei ins/ in/ im bett von schwein (6. DS). Im Bilderbuchtext kommt dieser Ausdruck im gleichen Kontext vor: „Da lagen sie also alle drei zusammen in Schweins Bett“ (Velthuijs 2016, 6. DS). Obwohl ein ähnlicher Inhalt vermittelt wird, integriert Ben die Formulierung in eine neue syntaktische Struktur. Des Weiteren weist der Text den einmaligen Gebrauch des sprachlichen Musters von etwas wimmeln auf, das im Bilderbuch nicht enthalten ist: er RANNTE vor lauter angst durch den Wald und dach-te ‚hier wimmelt’s ja nur von monstern und gespenstern‘ (2. DS). Im Bilderbuch wird in diesem Kontext vom Spuken gesprochen: „‚Und im Wald, da spukt es auch‘“ (Velthuijs 2016, 3. DS). An anderen Stellen werden im Bilderbuch folgende Formulierungen gewählt, um die Situation im Wald zu beschreiben: „Sie hatten das Gefühl, überall seien Gespenster und gruselige Monster“ (ebd., 4. DS), „Der ganze Wald ist voller Gespenster und Monster“ (ebd., 5. DS) und „Im Wald sind ganz viele Gespenster und gruselige Monster“ (ebd., 10. DS). Ben wählt somit ein anderes sprachliches Mittel als im Bilderbuch, um zu versprachlichen, dass sich sehr viele Monster und Gespenster im Wald befinden (vgl. 10. DS) bzw. dass sie sich überall im Wald befinden (vgl. 4. DS). Die Bedeutung von wimmeln lässt sich nach Duden folgendermaßen beschreiben: „voll, erfüllt sein von einer sich rasch, lebhaft durcheinanderbewegenden Menge“ (Dudenredaktion o. J.c). 147 Ein sprachliches Muster, das Ben früher bereits begegnet sein muss, wurde funktional eingesetzt. Ben macht zudem einmalig Gebrauch von einer Variation eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt: Er wählt die Überschrift der KLEINE frosch hat angst (0. DS). Sie kann als Variation des sprachlichen Musters „Frosch hat Angst“ (Velthuijs 2016, 0. DS) (Typ „Ergänzen“) aus dem Bilderbuch bezeichnet werden. Während im Bilderbuch die Tierbezeichnung Frosch wie ein Name verwendet wird, wählt Ben die mehr verbreitete Konstruktion mit einem 3.1 Textanalysen 297 <?page no="298"?> bestimmten Artikel. Er transportiert dadurch die Botschaft, dass es sich um einen dem Leser bekannten Frosch handelt. Zusätzlich beinhaltet Bens Über‐ schrift die Information, dass der Frosch klein ist. Auch allein der Gebrauch einer Überschrift an sich kann bereits als musterhafter Sprachgebrauch bezeichnet werden (Muster der dritten Ebene). Nachfolgend wird der Gebrauch struktureller Muster in den Blick genommen. Bens Text weist den mehrfachen Gebrauch eines strukturellen Musters auf, das im Bilderbuch vorkommt. Dies gilt für die Muster [„Da“ + Verb], [„Und“ + Satz] und [Adjektiv + Nomen]. So ist ein weiteres von Ben häufig gewähltes Mittel zur Textstrukturierung das strukturelle Muster [„Da“ + Verb], auf das er insgesamt 21-mal zurückgreift. Beim Adverb da handelt es sich dabei 20-mal um ein Temporaladverb. In einem Fall ist eine eindeutige Klassifizierung als Temporal- oder Lokaladverb nicht möglich. Im Gegensatz zum häufigen Gebrauch des Adverbs da in Bens Text, das stets Bestandteil des Musters [„Da“ + Verb] ist, wird das Adverb da im Bilderbuch insgesamt nur fünfmal gebraucht (vgl. Velthuijs 2016, 1. DS, 3. DS, 5. DS, 6. DS, 9. DS). Dabei ist es viermal Bestandteil des Musters [„Da“ + Verb]. Viermal wird das Adverb da im Bilderbuch als Lokaladverb gebraucht: „‚Da ist jemand unter meinem Bett‘, dachte Frosch“ (Velthuijs 2016, 1. DS). „‚Und im Wald, da spukt es auch‘“ (ebd., 3. DS). „‚Wer ist da? ‘, fragte eine verschlafene Stimme“ (ebd., 5. DS). „Da lagen sie also alle drei zusammen in Schweins Bett“ (ebd., 6. DS). In einer weiteren Textpassage lässt sich das Adverb da sowohl als Lokalad‐ verb als auch als Temporaladverb bezeichnen, wobei die erste Interpretation naheliegender ist: „Er schaute durchs Fenster und da sah er seine Freunde im Bett liegen“ (ebd., 9. DS). Somit fungiert das Adverb da innerhalb des strukturellen Musters [„Da“ + Verb] im Bilderbuch höchstens in einem einzigen Fall als Temporaladverb, während diese Funktion des Adverbs da in Bens Text die vorherrschende ist. Zudem wird das Adverb da von Ben nur an einer Stelle im gleichen Kontext wie im Bilderbuch verwendet: „Da lagen sie also alle drei zusammen in Schweins Bett […]“ (ebd., 6. DS). da waren alle drei ins/ in/ in/ im bett von schwein (6. DS). In diesem Fall ist es uneindeutig, ob es sich in Bens Text beim Adverb da um ein Lokaladverb wie im Bilderbuchtext handelt, oder um ein Temporaladverb wie in den anderen 20 Fällen. Häufig markiert Ben mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] neue Sinnabschnitte. Teilweise nutzt er es, um die Reaktion einer Figur auf ein Ereignis einzuleiten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Funktion, die das Muster [„Da“ + Verb] in Bens Text erfüllt (zeitliche Gliederung), sich von der Funktion, die es im Bilderbuch innehat, unterscheidet. 298 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="299"?> Ben macht zudem dreimal Gebrauch vom strukturellen Muster [„Und“ + Satz]: da haben es BEIDE gehört und BEIDE hat-ten angst (3. DS). da haben sie [blättert um] an SCHWEINS tür ge-klopft und (das schwein) hat gesagt ‚warum weckt ihr mich mitten in der NACHT [.]‘ (4./ 5. DS). am nächsten morgen hat/ war/ stand die tür von schwein WEIT offen und der hase wollte schwein besuchen (7. DS). Im Bilderbuch wird dieses strukturelle Muster in zwei anderen Kontexten verwendet: „‚Die gibt’s wohl‘, beteuerte Frosch. ‚Und im Wald, da spukt es auch.‘“ (Velthuijs 2016, 3. DS) „‚Machen wir, dass wir wegkommen.‘ Und sie rannten hinaus in den Wald.“ (Ebd., 3. DS) Des Weiteren verwendet Ben dieses strukturelle Muster, um jeweils zwei Aussagen der Erzählerrede zu verbinden, während es im Bilderbuch immer zwischen einer Aussage in Erzählerrede und einer in Form von direkter Rede verwendet wird. Hinsichtlich des Gebrauchs des strukturellen Musters [Adjektiv + Nomen/ Verb/ Adjektiv] ist an Bens Textproduktion Folgendes zu beobachten: Obwohl im Bilderbuchtext zwölfmal das strukturelle Muster [Adjektiv + Nomen] vorkommt (vgl. digitaler Anhang), verwendet Ben dieses nur zweimal. Dabei bildet er zweimal die Formulierung „der kleine Frosch“ (0. DS, 1. DS), die im Bilderbuch nicht vorkommt. Einmal verwendet Ben die Formulierung weit offen stehen - eine Formulierung, die auch im Bilderbuchtext im gleichen Kontext genutzt wird. Ihr liegt das strukturelle Muster [Adjektiv + Adjektiv + Verb] zugrunde. Obwohl das Bilderbuch das Muster [Adjektiv + Verb] und zwei Variationen dieses Musters zehnmal beinhaltet (vgl. digitaler Anhang), wird es von Ben lediglich einmal verwendet. Des Weiteren weist Bens Text den einmaligen Gebrauch eines strukturellen Musters auf, das im Bilderbuch vorkommt. Ben macht einmal Gebrauch vom strukturellen Muster [Verb + „und“ + Verb], das als Paarformel bezeichnet werden kann: der KLEINE frosch lag im BETT [2] und hat angst. [2] es RASCHELT und BRASCHELT. [blättert um] (1. DS). Mit Hilfe dieses Musters verdeutlicht Ben, dass es nicht nur einmal raschelt. Im Bilderbuch wird eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Geräusche gemacht: „Er lag im Bett und hörte überall seltsame Geräusche. Es knackte im Schrank und raschelte unter den Dielen.“ (Velthuijs 2016, 1. DS) Ben gelingt es, die ganze Situation mit Hilfe einer einzigen sprachlichen Struktur komprimiert darzustellen. Die Funktion, die dieses sprachliche Muster in Bens Text erfüllt, besteht somit darin, in komprimierter Form zum Ausdruck zu bringen, dass viele Geräusche zu hören sind. Zusätzlich erfüllt das sprachliche Muster durch den 3.1 Textanalysen 299 <?page no="300"?> 148 Alternativ könnte der Satz da lachte schwein auch als vorangestellter Redebegleitsatz gelesen werden. Die zuerst genannte Interpretation erscheint jedoch plausi‐ bler, da die äquivalente Passage des Bilderbuches folgendermaßen lautet: „Schwein lachte. ‚So ein Unsinn. Gespenster und Monster gibt es nicht. Das wisst ihr doch.‘“ (Velthuijs 2016, 5. DS) Reim eine poetische Funktion und wirkt dadurch attraktiver auf die Zuhörerin oder den Zuhörer. Im Bilderbuchtext selbst werden keine Reime verwendet. Ben baut somit das ihm bereits bekannte Stilmittel in den Text ein, wodurch sich Leserorientierung zeigt. Das strukturelle Muster [Verb + „und“ + Verb] wird auf der achten Doppelseite im Bilderbuch in einem anderen Kontext verwendet: „Er suchte und suchte“ (Velthuijs 2016, 8. DS). In der verallgemeinerten Form [Wort einer Wortart + „und“ + Wort der gleichen Wortart] ist das strukturelle Muster auch auf der neunten Doppelseite in der Form [Adjektiv + „und“ + Adjektiv] zu finden: „Sie schliefen tief und fest“ (Velthuijs 2016, 9. DS). Das von Ben gebrauchte Muster kann somit als Gebrauch eines strukturellen Musters in einem neuen Kontext bezeichnet werden. Nachfolgend wird der Gebrauch erzähltypischer Muster (direkte Rede) sowie wei‐ terer Muster der dritten Ebene (Wiederholung als rhetorisches Mittel) beschrieben. Während im Bilderbuch auf jeder Doppelseite direkte Rede vorkommt, macht Ben lediglich auf sechs der zwölf Doppelseiten von diesem Textgestal‐ tungsmittel Gebrauch. Dabei wählt er fast ausschließlich direkte Rede mit vorangestelltem Begleitsatz - und zwar zwölfmal. Lediglich zweimal greift er auf andere Formen direkter Rede zurück: Einmal wird die gleiche Aussage von Ben sowohl im vorangestellten als auch im nachgestellten Begleitsatz vermittelt - die Information ist redundant: und (das schwein) hat gesagt ‚warum weckt ihr mich mitten in der NACHT [.]‘, sagte SCHwein (5. DS). In der folgenden Passage wird direkte Rede ohne Begleitsatz genutzt: da lachte schwein. ‚NEIN, monster und gespenster gibt es nicht.‘ (5. DS) 148 Im Bilderbuchtext wird ausschließlich direkte Rede mit nachgestelltem, ein‐ geschobenem und ohne Begleitsatz verwendet, aber nicht mit vorangestelltem Begleitsatz. Die von Ben gewählte Form der direkten Rede, von der er in seiner gesamten Textproduktion insgesamt elfmal Gebrauch macht, besteht aus einem vorangestellten Redebegleitsatz, der mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] eingeleitet wird, und einem Hauptsatz, der direkte Rede enthält: [„Da“ + Redebegleitsatz + Direkte Rede]. Zehnmal verwendet Ben dabei das Verb sagen, einmal das Verb lachen, gebraucht dieses aber auf die gleiche Art und Weise wie das Wort sagen. Im Bilderbuchtext ist das Muster [„Da“ + Redebegleitsatz 300 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="301"?> 149 Zur Unterscheidung der vier Funktionen (Fall 1 bis 4), den der Gebrauch von direkter Rede mit Blick auf den Bilderbuchtext haben kann, vgl. Kapitel II.3.2 (Vergleichende Darstellung der Beobachtungen zu den sieben Textanalysen). + Direkte Rede] nicht enthalten. Ben scheint die von ihm gewählte Form der direkten Rede somit bereits durch vorangegangene Erfahrungen mit Texten erworben zu haben. Im Bilderbuchtext rennt Frosch zum Haus der Ente. Daraufhin sagt Ente: „Wie lieb, dass du mich besuchen kommst“ (Velthuijs 2016, 2. DS). Ben hingegen beginnt den Dialog zwischen Ente und Frosch mit einem Hilfeschrei des Frosches: HILFE, HILFE (2. DS). Er gebraucht hier das Mittel der direkten Rede, um die Emotionen des Frosches zum Ausdruck zu bringen. Der Hilfeschrei taucht im Bilderbuch in einem anderen Kontext auf: „‚Hilfe! Ein Gespenst! ‘, schrien die drei Freunde“ (Velthuijs 2016, 9. DS). Im gleichen Kontext nutzt Ben den Hilferuf ebenfalls: da hat [.] hase an schweins TÜR ge-klopft und ans fenster ge/ da sind alle aufgewacht mit lauter angst und [.] hatten gedacht/ und haben alle laut gerufen ‚HILFE, EIN GESPENST‘. (9. DS) Der Hilferuf als direkte Rede kann somit als Gebrauch eines Musters im gleichen und im neuen Kontext bezeichnet werden. Direkte Rede wird von Ben ausschließlich dazu verwendet, um Inhalte zu vermitteln, die auch im Bilderbuch in Form von direkter Rede dargestellt werden (Fall 1 149 ). Die zwei von Ben genutzten unspezifischen Verben sagen und lachen sind im Bilderbuch jeweils mehrfach in Redebegleitsätzen enthalten (vgl. Tabelle 10 im digitalen Anhang). An einer Stelle verwendet Ben das unspezifische Verb sagen, während im Bilderbuch ein ähnlicher Inhalt mittels direkter Rede in Kombination mit dem spezifischen Verb beteuern transportiert wird. Ben liefert eine Zusatzinformation, indem er die Antwortpartikel DOCH innerhalb der direkten Rede durch eine besondere Betonung hervorhebt. Auf diese Weise verstärkt er den Eindruck, dass die Figur Frosch seiner Aussage Nachdruck verleiht. Die Bedeutung des Verbs sagen in Kombination mit dieser Betonung entspricht in etwa der Bedeutung des Verbes beteuern (vgl. Tabelle 11 im digitalen Anhang). Ben macht Gebrauch vom rhetorischen Mittel der Wiederholung. da haben es BEIDE gehört und BEIDE hat-ten angst und sind [blättert um] durch den WALD gerannt (3./ 4. DS). Durch die Wiederholung des Indefinitpronomens beide wird dieses betont. So wird durch ein sprachliches Mittel hervorgehoben, dass nun auch die Ente, die zuvor noch behauptete, es gäbe keine Monster und Gespenster (vgl. 3. DS), genauso wie der Frosch 3.1 Textanalysen 301 <?page no="302"?> Angst hat. Das rhetorische Mittel hat somit eine Wirkung, die den Inhalt der Geschichte sprachlich unterstützt. Durch die besondere Betonung des Indefinit‐ pronomens BEIDE verstärkt Ben diese Wirkung zusätzlich. Im Bilderbuchtext findet im Gegensatz zu Bens Text keine besondere (sprachliche) Hervorhebung der Information statt, dass nun auch Ente Geräusche vernimmt und Angst hat. So wird das Personalpronomen sie bei der Schilderung des Wahrnehmens eines Geräusches und des Gefühls der Anwesenheit von Gespenstern und Monstern im Plural gewählt: „Plötzlich hörten sie ein Kratzen auf dem Dach. ‚Was ist das? ‘, fragte Ente, die erschrocken in die Höhe fuhr.“ (Velthuijs 2016, 3. DS) „Sie hatten das Gefühl, überall seien Gespenster und gruselige Monster“ (ebd., 4. DS). Dass die Ente die Geräusche hört, wird auch mittels direkter Rede und des Thematisierens ihres Erschreckens über das Wahrnehmen der Geräusche dargestellt (vgl. ebd., 3. DS). Von den im Bilderbuch gebrauchten Phraseologismen und gängigen Formulie‐ rungen der deutschen Sprache verwendet Ben neben der bereits erwähnten Formulierung weit offen stehen noch dreimal die Formulierung an jemandes Tür klopfen. Während im Bilderbuch auch die Variation des Phraseologismus an jemandes Tür hämmern verwendet wird, nutzt Ben durchgängig die gleiche Formulierung. Er macht somit mehr Gebrauch von sich wiederholenden Ele‐ menten, als der Text des Bilderbuches enthält. Auffällig ist des Weiteren, dass Ben das weit verbreitete und im Bilderbuchtext enthaltene strukturelle Muster [„Plötzlich“ + Verb] nicht in seinen Text übernimmt. Zudem macht Ben im Vergleich zum Bilderbuchttext, das 22-mal ein strukturelles Muster enthält, welches ein Wort mit Hilfe eines Adjektivs näher beschreibt, lediglich dreimal Gebrauch von einem Muster dieser Art. Zweimal handelt es sich dabei um das sprachliche Muster der kleine Frosch (vgl. Tabelle 12 im digitalen Anhang). Es konnte festgestellt werden, dass das von Ben gebildete Baumuster mehr Struktur aufweist als das dem Bilderbuch zugrundeliegende Baumuster. Dabei besteht Bens Baumuster zum Großteil aus sich wiederholenden sprachlichen Mustern. Nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Baumusters verwendet Ben auch im Bilderbuch enthaltene sprachliche Muster mehrfach, wenn ein ähnlicher Inhalt zum Ausdruck gebracht werden soll. Im Bilderbuch werden ähnliche Inhalte nicht immer mit den gleichen sprachlichen Mitteln zum Ausdruck gebracht. Auch durch diese Wiederholungen weist Bens Text eine stärkere Struktur auf als der Bilderbuchtext. Die von Ben mehrfach verwendeten Formulierungen kommen im Bilderbuch einmal oder mehrmals vor oder liegen 302 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="303"?> teilweise im Bilderbuchtext in einer ähnlichen Form vor. So verwendet Ben mehrfach das sprachliche Muster Monster und Gespenster, das eine Variation eines sprachlichen Musters aus dem Bilderbuch darstellt. Auffällig dabei ist, dass Ben stets auf diese variierte Formulierung zurückgreift, aber nie auf eine der Originalformulierungen aus dem Bilderbuch. Ähnliche Beobachtungen lassen sich zum Gebrauch des sprachlichen Musters vor/ aus lauter Angst machen: Auch hier verwendet Ben nur eine Variation einer Formulierung des Bilderbuchtextes. Indem Ben sich wiederholende Handlungen mit Hilfe von sich wiederho‐ lenden sprachlichen Formulierungen zum Ausdruck bringt, hebt er die Wie‐ derholung der Handlungen zusätzlich auf einer sprachlichen Ebene hervor. Bens Tendenz zum Schaffen von mehr Struktur entspricht dem episodenhaften Aufbau der Geschichte mit sich wiederholenden inhaltlichen Elementen, der sich zum Teil auch in der Gestaltung der Bilder zeigt. Ben bindet einige der sprachlichen Muster, die auch im Bilderbuch vor‐ kommen, in neue syntaktische Strukturen ein. Einmal macht Ben Gebrauch von einem sprachlichen Muster, das im Bilderbuch nicht enthalten ist: Er transportiert den gleichen Inhalt wie im Bilderbuch, wählt jedoch im Gegensatz zum Bilderbuch eine feststehende Wendung (von etwas wimmeln). Im Hinblick auf Bens Mustergebrauch lässt sich eine Tendenz zur Komprimierung des Inhalts mit Hilfe einer sprachlichen Form erkennen (mit/ voller Angst/ von etwas wimmeln/ es raschelt und braschelt). Als zeitliche Gliederung verwendet Ben sehr häufig das strukturelle Muster [„Da“ + Verb], das im Bilderbuch nur vereinzelt enthalten ist. Während es sich in Bens Text beim Adverb da überwiegend um ein Temporaladverb handelt, enthält das strukturelle Muster [„Da“ + Verb] im Bilderbuch hingegen in den meisten Fällen ein Lokaladverb. Ein weiteres Mittel zur zeitlichen Gliederung, dessen sich Ben bedient, ist ein sprachliches Muster mit Zeitangabe (Am nächsten Morgen), das im Bilderbuch ebenfalls in einem anderen Kontext verwendet wird. Auch verwendet Ben dreimal das strukturelle Muster [„Und“ + Satz] zur Verknüpfung von Inhalten. Mit Blick auf den Gebrauch direkter Rede als erzähltypisches Mittel ist zum einen die Beobachtung festzuhalten, dass Ben wesentlich weniger direkte Rede verwendet als im Bilderbuch enthalten ist - er nutzt direkte Rede auf halb so vielen Doppelseiten. Des Weiteren ist auffällig, dass er fast ausschließlich direkte Rede mit vorangegangenem Begleitsatz gebraucht - eine Form, die im Bilderbuch gar nicht enthalten ist. Überdies greift Ben bei der Versprachlichung der direkten Rede fast immer auf das nicht im Bilderbuch enthaltene strukturelle Muster [„Da“ + Redebegleitsatz + Verb] zurück. Er macht des Weiteren Gebrauch vom 3.1 Textanalysen 303 <?page no="304"?> rhetorischen Mittel der Wiederholung (beide) zur Betonung eines Sachverhaltes, der im Bilderbuch in der äquivalenten Textpassage nicht betont wird. Zusammenfassend lässt sich erstens Bens Tendenz hervorheben, zur Ver‐ sprachlichung ähnlicher Inhalte mehrfach Gebrauch vom gleichen sprachlichen Muster zu machen. Zweitens dient der häufige Gebrauch des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb] der Textorganisation. Drittens sei auf Bens Tendenz zur Komprimierung von Inhalten durch den Gebrauch eines sprachlichen Musters hingewiesen. Leserorientierung zeigt sich in Bens Textproduktion erstens anhand verbaler Mittel, die im Textprodukt abgelesen werden können (Gebrauch rhetorischer Mittel). So macht Ben in seiner Textproduktion Gebrauch der bereits erwähnten rhetorischen Mittel Reim und Wiederholung. Dies zeigt sich an den zwei Text‐ passagen es RASCHELT und BRASCHELT (1. DS) und da haben es BEIDE gehört und BEIDE hat-ten angst (3. DS). Zweitens nimmt Ben Akzentuierungen von Inhalten durch Intonation vor. Ben hebt bestimmte Wörter und Ausdrücke in seiner Textproduktion durch eine besondere Intonation hervor - und zwar sowohl in der Erzählerrede als auch in der Figurenrede. Zu‐ nächst werden Textpassagen in den Blick genommen, in denen Hervorhebungen innerhalb der Erzählerrede stattfinden. Dabei ist die sprachliche Hervorhebung stets passend zum Inhalt gewählt. In den aufeinander folgenden Sätzen der KLEINE frosch hat angst (0. DS) und der KLEINE frosch lag im BETT [2] und hat angst (1. DS) wird eine Eigenschaft des Frosches betont: Er ist klein. Hier ist die Interpretation möglich, dass es sich beim Frosch um ein Kind handelt, das sich eines Nachts vor unheimlichen Geräuschen fürchtet. In den Sätzen er RANNTE vor lauter angst durch den wald (2. DS) und da KLOPFTE er an entes tür (2. DS) werden die Verben (rennen, klopfen) betont, die die Tätigkeiten des mit Angst erfüllten Frosches beschreiben. Diese Betonungen können den Eindruck verstärken, dass es sich bei diesen Handlungen um schnelle und kraftvolle Aktionen handelt, die durch Angst ausgelöst worden sind. In der nächsten Textpassage wird durch Betonung hervorhoben, dass es sich um Schweins Tür handelt, an die geklopft wird. Auch diese Hervorhebung ist funktional, da hier betont wird, dass zunächst an die Tür eines Tieres und nun an die Tür eines weiteren Tieres geklopft wird: da haben sie [blättert um] an SCHWEINS tür ge-klopft (5./ 6. DS). Die Hervorhebung Bens im folgenden Satz bewirkt, dass sich die Zuhörerin oder der Zuhörer die Situa‐ tion besser vorstellen kann: am nächsten morgen hat/ war/ stand die tür von schwein WEIT offen (7. DS). Auch in der folgenden Textpassage ist die besondere Betonung eines Wortes (und zwar des Adverbs 304 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="305"?> auch) funktional: da rannte er mit lauter angst [.] zu ente, aber AUCH nix zu/ von ente zu sehen (8. DS). Zunächst war von Schwein nichts zu sehen und nun wiederholt sich die Situation für den Hasen: Auch von Ente ist nichts zu sehen. da hatte auch SCHWEIN angst (6. DS). Die funktionale Betonung des Wortes Schwein hebt hervor, dass sich nun auch Schwein, das vorher noch lachte (vgl. 5. DS), fürchtet. Im Folgenden wird der Blick auf die Hervorhebungen durch Intonation in der Figurenrede gelegt. In der Figurenrede setzt Ben Betonungen in den folgenden Textpassagen situationsgerecht. Ben trägt Hilferufe von Tieren mit besonderer Betonung vor: und sagte ‚HILFE, HILFE […]‘ (2. DS) und ‚HILFE, EIN GESPENST‘ (9. DS). Auch das Widersprechen der Ente, des Schweins und des Hasen wird von Ben betont vorgetragen. Dabei wird stets die Antwortpartikel nein besonders akzentuiert: • ‚NEIN. [.] monster und gespenster gibt es nicht.‘ (3. DS) • ‚NEIN, monster und gespenster gibt es nicht.‘ (5. DS) • da sagte Hase ‚NEIN, GESPENSTER [.] ES NICHT UND MONSTER AUCH NICHT.‘ (10. DS) Beim Widersprechen des Frosches erfährt analog dazu die Antwortartikel doch eine besondere Akzentuierung: da sagte frosch ‚DOCH, eins war sogar unter meinem bett [.] ein gespenst‘ (10. DS). In den folgenden Textpassagen werden für die jeweilige Aussage zentrale Begriffe durch eine besondere Intonation von Ben hervorgehoben: • und haben alle laut gerufen ‚wir hatten solche ANGST, wir dachten, du bist ein gespenst.‘ (10. DS) • da hatte frosch gesagt ‚JEDER hat mal angst, sogar DU.‘ (11. DS) • ‚ich bin vor LAUTER angst durch den WALD / rannt und habe EUCH GESUCHT‘ (11. DS). Im letztgenannten Satz wird die Größe der Angst gleich auf zwei verschiedene Weisen hervorgehoben: durch das Hinzufügen des Adjektivs lauter und durch die besondere Intonation dieses Wortes. Bens Text weist folgende Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit auf: In der Erzählerrede verwendet Ben überwiegend das Präteritum (21-mal), aber auch achtmal das Perfekt, viermal das Präsens und dreimal das Plusquamperfekt. Im Bilderbuch ist die Erzählerrede fast durchgängig im Präteritum gehalten. Die 3.1 Textanalysen 305 <?page no="306"?> Ausnahme bildet hier die Überschrift Frosch hat Angst, die im Präsens steht. Hy‐ potaktische Satzkonstruktionen, die charakteristisch für konzeptionelle Schrift‐ lichkeit sind, weist die Textproduktion von Ben nicht auf. Stattdessen verwendet Ben zahlreiche Satzreihen. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass das Bilderbuch Frosch hat Angst, das Ben vor seiner Textproduktion vorgelesen wurde, selbst lediglich zwei hypotaktische Satzkonstruktionen enthält. Bens Text weist keine Ausdrücke auf, die eindeutig dem schriftsprachlichen Register zugeordnet werden können. Ben stellt Monologizität her. Seine Text‐ produktion wird nicht durch Dialoge mit der Zuhörerin oder dem Zuhörer unterbrochen. Während des ganzen Textproduktionsprozesses ist Bens Blick auf die Bilderbuchseiten gerichtet. Des Weiteren bildet Ben mehrere Sätze, die auf einer Doppelseite beginnen und erst auf der darauffolgenden Doppelseite enden. Auf diese Weise sichert er an diesen Stellen die monologische Textproduktion über eine Bilderbuchdoppelseite hinaus. Im Bilderbuch ist dieses Gestaltungs‐ mittel nicht vorhanden. Ben gliedert zudem seinen Text in verschiedene Sinn‐ abschnitte. Hierbei macht er häufig Gebrauch vom strukturellen Muster [„Da“ + Verb], das zur zeitlichen Gliederung dient. An einer weiteren Stelle verwendet er zu diesem Zweck das sprachliche Muster Am nächsten Morgen (7. DS). Im Folgenden werden von Ben vorgenommene Überarbeitungen, die sich am Transkript zeigen lassen, näher betrachtet. Zunächst bildet Ben für die direkte Rede einen Begleitsatz, der im Perfekt gehalten ist, und ergänzt die direkte Rede anschließend mit einem Redebegleitsatz, der im Präteritum gehalten ist: da haben sie [blättert um] an SCHWEINS tür ge-klopft und (das schwein) hat gesagt ‚warum weckt ihr mich mitten in der NACHT [.]‘, sagte schwein (4./ 5. DS). Es findet somit einmal eine Annäherung an konzeptionelle Schriftlichkeit statt, indem Ben die Zeitform Perfekt durch das Präteritum ersetzt. Die inhaltliche Information der beiden Begleitsätze ist beinahe identisch. Das Ersetzen der aus einem Artikel und einem Nomen bestehenden Formulierung das schwein durch das ähnlich wie ein Name gebrauchte Nomen schwein kann als Annäherung an die Formulierung aus dem Bilderbuch verstanden werden, in dem stets von Schwein, niemals aber von dem Schwein die Rede ist. An dem folgenden Satzgefüge werden zwei Überarbeitungen sichtbar: am nächsten morgen hat/ war/ stand die tür von schwein WEIT offen und der hase wollte schwein besuchen, aber nix war von schwein zu sehen (7. DS). Als erstes ersetzt Ben das Hilfsverb hat durch das Kopulaverb war. Vermutlich sollte das Hilfsverb hat den ersten Teil einer Perfektkonstruktion bilden. Diese wird zunächst durch eine Präteritumkonstruktion (war) ersetzt. Hier scheint Ben eine Korrektur 306 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="307"?> in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit vorzunehmen. Anschließend ersetzt Ben das Verb war durch das Verb stand. Das erzähltypische Tempus Präteritum bleibt erhalten. Bei dieser stilistischen Korrektur scheint sich Ben gegen die Konstruktion offen sein und für die Konstruktion offen stehen zu entscheiden. Hierdurch erhält seine Textproduktion eine stärkere Orientierung am Bilder‐ buchtext: „Die Tür stand weit offen, aber von Frosch war nichts zu sehen“ (Velthuijs 2016, 7. DS). Durch Bens Überarbeitung wird die Formulierung somit einerseits schriftsprachlicher und zusätzlich nähert sich der Text auf der sprachlichen Ebene stärker dem des Bilderbuches an. Bei der folgenden Überarbeitung handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine syntaktische Korrektur: da rannte er mit lauter angst [.] zu ente, aber AUCH nix zu/ von ente zu sehen (8. DS). Ohne die Überarbeitung hätte Ben vermutlich die Formulierung nichts von Ente zu sehen gebildet. So formuliert er stattdessen nichts zu sehen von Ente. Der Bilder‐ buchtext selbst weist eine von beiden Formulierungen abweichende Syntax auf: „Die Tür stand weit offen, aber von Frosch war nichts zu sehen“ (Velthuijs 2016, 7. DS). Möglicherweise wirkte hier Bens Sprachgefühl, das ihn zu dieser Überarbeitung veranlasste, subsidiär. Eine inhaltliche Überarbeitung, die durch die Orientierung am Bilderbuchtext ausgelöst zu sein scheint, ist am folgenden Auszug des Transkripts zu erkennen: da hat schwein mit allen gefrühstückt. da hatte frosch gesagt ‚JEDER hat mal angst, sogar DU.‘ da sagte [.] hase ‚JA, SCHON.‘ da sagte frosch ‚ja, du bist hin/ da sagte hase ‚ich bin vor LAUTER angst durch den WALD / rannt und habe EUCH GESUCHT‘. (11. DS) Im Bilderbuchtext gibt der Hase, wie in Bens Überarbeitung, selbst Auskunft: „‚Aber ja‘, sagte Hase. ‚Ich hatte heute Morgen schreckliche Angst, als ich dachte, ich hätte euch verloren.‘“ (Velthuijs 2016, 11. DS) Ben scheint folglich darum bemüht zu sein, die ihm bekannte Geschichte so nah wie möglich am Inhalt der Bilderbuchgeschichte wiederzugeben (vgl. 11. DS) und (teilweise) Formulierungen möglichst auf die gleiche Weise zu bilden wie im Bilderbuchtext. Diese beiden Beobachtungen lassen darauf schließen, dass Bens Schreibidee, die dem distalen Term zugeordnet wird, inhaltlich sowie sprachlich möglicherweise identisch mit dem Bilderbuchtext ist. Die beschriebenen Überarbeitungen, die Ben bei der Textproduktion vornimmt, weisen auf ein Pendeln zwischen dem distalen und dem proximalen Term hin. In Anlehnung an Neuwegs Definition von implizitem Wissen als Wissen, „das in der praktischen Kompetenz einer Person […] zum Ausdruck kommt, das aber nicht oder nicht angemessen verbalisiert werden kann“ (Neuweg 2000, S. 198), 3.1 Textanalysen 307 <?page no="308"?> zeigt sich in Bens Textproduktion seine Textkompetenz bzw. sein Können. Wie das Transkript verdeutlicht, ist Ben in der Lage, einen monologischen Text zu produzieren. Ben wurde durch die Pretend-Reading-Situation zur Produktion eines monologischen Textes herausgefordert, der - bis auf eine Leerstelle - aus sich heraus verständlich ist. Es zeigt sich, dass Ben überwiegend Kohärenz herstellt und somit in seiner Textproduktion eines der zentralsten Merkmale von Textualität (vgl. I.3.1) berücksichtigt. Bens implizite Textkompetenz wird insbesondere an den Stellen deutlich, an denen Ben ein scheinbar aus dem Bilderbuch stammendes Muster funktional in anderen Kontexten einsetzt oder dieses in eine neue syntaktische Struktur einbindet. Diese Fähigkeit des Einbindens von Mustern in neue Zusammenhänge kann nach Kruse und Kruse (2007) als Textkompetenz bezeichnet werden (vgl. ebd., S.-31). Der mehrfache funktionale Gebrauch eines Musters in verschiedenen Kon‐ texten der Geschichte - insbesondere, wenn es sich um andere Kontexte als im Bilderbuchtext selbst handelt - ist in Bens Textproduktionen häufig zu beobachten. Entsprechend der Wissenstheorie Polanyis (vgl. I.6; Neuweg 2004; Polanyi 1985) kann dies als Hinweis darauf gedeutet werden, dass jeweils eine implizite Beziehung zwischen dem Muster (p) und seiner Funktion (d) besteht. 3.1.2 Textanalyse II: Clown Beppo von Kira Kira ist zum Zeitpunkt der Durchführung der Pretend-Reading-Situation mit der oder dem Studierenden vier Jahre und elf Monate alt. Ihre Familiensprache ist Deutsch. Sie hat zwei ältere Geschwister, die 18 und 14 Jahre alt sind sowie ein jüngeres Geschwisterkind, das zwei Jahre alt ist. Die Herkunftsregionen der Eltern liegen in Deutschland. Die Eltern des Kindes haben beide einen Hoch‐ schulabschluss. Kira besucht eine Kindertagesstätte. Im Haushalt gibt es nach Angaben der Eltern über 80 Bilder- oder Kinderbücher. Dem Kind wird mehr als zehnmal in der Woche ein Buch oder eine Geschichte vorgelesen. Kira tut manchmal so, als würde sie (jemandem) ein Buch vorlesen. Sie bezeichnet diese Tätigkeit nach Angaben der Eltern als vorlesen. Die oder der Studierende kannte Kira seit zwei Monaten. Die Pretend-Reading-Situation fand im Wohnzimmer der Familie statt. Bei der zu analysierenden Pretend-Reading-Situation handelt es sich um den zweiten Versuch, mit Kira (K) eine Pretend-Reading-Situation durchzuführen. Der Vollständigkeit halber werden auch die Instruktionen, die Kira beim ersten Versuch erhalten hat, aufgeführt. Im ersten Schritt der Pretend-Reading-Situa‐ tion informiert die oder der Erwachsene (E) Kira über das geplante Vorgehen. 308 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="309"?> 150 Erlbruch, Wolf (2000): Die fürchterlichen Fünf. Peter Hammer. E: so, du hast dir ja hier das buch hier ausgesucht, die fürchterlichen fünf, ne? und als allererstes les ich dir das vor und danach tauschen wir mal und dann liest du mir das vor, okay? K: jaja E: jaja? / K: - / ich weiß es eh. E: okay. Im zweiten Schritt liest die oder der Erwachsene Kira das komplette Bilderbuch Die fürchterlichen Fünf von Wolf Erlbruch 150 vor. Im dritten Schritt fordert die oder der Erwachsene Kira auf, das Bilderbuch „vorzulesen“. Dies geht folgendermaßen vonstatten. E: ende. [3] so, [3] jetzt hab ich dir ja das buch vorgelesen, ne [? ] [K nickt] , das du dir ausgesucht hast aus meinem vorlesesessel hier [E klopft mit der Hand auf die Sessellehne] und jetzt tauschen wir mal den platz, [K gleitet langsam vom Stuhl herunter] dafür geb ich dir mal das buch und du setzt dich auf den vorlesesessel und ich setz mich auf deinen platz, okay? E: okay. K: [lacht leise] mh. E: tu einfach mal so, als würdest du‘s mir jetzt vorlesen, das buch, ja? K: ich überleg nur, wa/ wa/ was ich vorlesen soll als erstes. [K sieht in die andere Richtung, hat die Hand an den Mund gelegt] [2] mh [28] E: was ist denn am anfang passiert? K: das will ich nicht sagen, aber ich weiß es. [50] [K blättert während der Pause im Buch herum, atmet hörbar ein und aus und atmet hörbar aus] E: kannst nichts falsch machen. was du vorliest, ist richtig. es geht nicht darum, dass du jetzt die geschichte eins zu eins nacherzählst. ich möchte einfach nur, dass du so tust, als würdest du vorlesen. 3.1 Textanalysen 309 <?page no="310"?> K: kei/ E: du hast ja eben gesehen und gehört, wie ich vorgelesen habe. [K lacht leise] und da hab ich vorgelesen und du hast mir zugehört. und jetzt tust du mal so, als würdest DU vorlesen und ich hör dir zu, okay? K: [nickt] [103] [klappt während der Pause das Buch zu und betrachtet das Cover, öffnet das Buch und blättert zur 1. Doppelseite, schaut in die Kamera] also ö: h [E lacht kurz] [13] E: willst du, dass ich’s dir nochmal vorlese? K: nö. [7] E: dann lies du mal vor jetzt. K: o: kay. [3] öh. [schaut in die Kamera] [8] [lacht leise] [31] E: sag mir mal, was grad los ist. weißt du nicht, was du machen sollst, oder/ K: doch, das weiß ich. [blättert währenddessen im Buch herum] E: ja? E: hast du keine lust? K: doch. E: ja? - […] Der folgende Transkriptausschnitt enthält Kiras Textproduktion: K: […] (unverständlich) dann kam die ratte [leise] [5] E: kannst du n bisschen lauter sprechen [flüstert] K: da kam die fledermaus a: lso äh [10] a: lso äh [5] also [4] was? [lauter, schaut in eine andere Richtung] [5] okay. äh[? ] K: nö. also äh. also [lacht leise] E: magst du nochmal von vorne anfangen? E: was passiert denn jetzt? [12] K: also äh [101] [lacht leise vor sich hin, äußert etwas Unverständliches, seufzt, blättert im Buch während der Pause] a: lso [17] [blättert während der Pause im Buch] a: lso, die kröte glotzte [2] auf/ auf/ äh auf die ratte. [blättert um] also d a n n t a n z t e s i e [? ] (unverständlich) [lacht leise, schlägt mit der flachen Hand auf die Seite des Buches] mit der [.] fledermaus. [blättert um] was dann [? ] äh, 310 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="311"?> dann gucken die alle in n himmel [spricht etwas lauter und schneller ab ‚dann gucken‘] [blättert um] , dann/ dann/ dann kochte die kröte/ dann kochte/ dann [blättert um] kochte die kröte pfannkuchen, da/ dann/ dann guckt [blättert um] sie a/ a/ auf die uhr, da [blättert um] machen sie musik, und dann KAMen die ganzen [spricht noch lauter ab ‚dann‘] [blättert um] , und da/ da/ dann äh dann fragt der hase, fertig [schlägt Buch zu, sitzt ruhig im Sessel und lächelt] . Wie im aufgeführten Transkriptausschnitt ersichtlich sitzt Kira zunächst die meiste Zeit schweigend auf ihrem Platz, blättert im Buch herum, atmet hörbar, lacht leise und äußert mehrfach das Wort also. Schließlich „liest“ sie eine sehr kurze Geschichte „vor“. Dabei spricht sie zunächst relativ langsam, erhöht dann Tempo und Lautstärke und blättert währenddessen zügig die Seiten um. Darauf folgt das folgende Gespräch: E: [lacht leicht, lächelt] kira [.], hör mir mal kurz zu, ja? hab ich einfach, als ich vorgelesen hab, die seiten so ganz quer hin und her gemacht? K: ja! E: ne. ich hab doch hier vorne angefangen, oder? K: ja. [leiser, gedämpfter Klang] E: und dann hab ich immer eine seite genommen und umgeblättert. und hab zu jeder seite was gesagt. und ich hab auch nicht so schnell vorgelesen. oder hab ich so schnell vorgelesen? ne? [K schüttelt den Kopf] wolln wir’s nochmal probieren? [K nickt] von ANfang an. du musst gar nicht [.] AUFgeregt sein, es passiert nichts schlimmes, §okay? K: §ja: ja. Der zweite Versuch findet am selben Tag mit einem anderen Bilderbuch statt. Im ersten Schritt der Pretend-Reading-Situation informiert die oder der Erwachsene Kira erneut über das geplante Vorgehen. E: so, kira. du hast dir das buch ausgesucht, ne [? ] [2] u: nd ich werd dir das jetzt vorlesen [? ] [.] und danach tauschen wir mal die plätze [? ] und dann liest du mir das buch vor, ja? K: ja, immer das glei: che. 3.1 Textanalysen 311 <?page no="312"?> Im zweiten Schritt liest die oder der Erwachsene Kira das komplette Bilderbuch Clown Beppo vor. Clown Beppo (Katrin Schwarz/ Tanja Wenisch) Clown Beppo wohnt mit seinem kleinen Drachen in einem kunterbunten Zirkus‐ wagen. Der Drache Zick-Zack schaut Beppo zu, wie er seine Kunststücke übt. „Wann darf ich endlich auch Kunststücke vorführen? “, fragt er, „den ganzen Abend auf dich warten ist so langweilig.“ - „Du bist noch zu klein, Zick-Zack“, antwortet Beppo und übt weiter. (1. DS) - Als Beppo in die Vorstellung geht, legt Zick-Zack sich unter den Zirkuswagen. Er sieht Aurelia, die Seiltänzerin, aus ihrem Wohnwagen herauskommen und in das Zelt hüpfen. Er sieht die großen Füße vom Feuerschlucker Arnold am Zirkuswagen vorbeigehen. „Wenn doch nur jemand mit mir spielen würde“, denkt der kleine Drache und lässt traurig seine Zacken hängen. (2. DS) - Zick-Zack hört die Zuschauer lachen, wenn Beppo in die Manege stolpert. Sie lachen, wenn er Purzelbäume durch eine Reihe von Reifen schlägt. Und am lau‐ testen lachen sie, wenn das rohe Ei, das Beppo in die Luft geworfen hat, mitten auf seinem Hut landet und dann langsam heruntertropft. (3. DS) - „Zick-Zack“, ruft Beppo nach der Vorstel‐ lung, „ich komme! “ Doch niemand ant‐ wortet ihm. Beppo schaut unter dem Zir‐ kuswagen. Zick-Zack ist nicht an seinem Platz. „Hast du meinen kleinen Drachen gesehen? “, fragt Beppo die Seiltänzerin. - „Nein“, sagt sie und hüpft davon. - „Und du vielleicht, Arnold? “ Aber der schüttelt nur den Kopf und dabei lodert eine leuch‐ tend rote Flamme aus seinem Mund. (4. DS) - Zick-Zack ist nicht aufzufinden. Auch nicht am nächsten Tag. Die Vorstellung ist heute genauso traurig wie Beppo selbst. Die Zuschauer rufen „Wir wollen keinen An einer Bushaltestelle sieht Beppo ein paar Männer und Frauen. „Die haben es nicht so eilig“, denkt er, „die kann ich nach Zick-Zack fragen.“ Als die Leute ihn sehen, fangen sie an zu la‐ chen. Doch dieses Lachen klingt an‐ ders als im Zirkus, gar nicht fröhlich. Die Leute machen sich lustig über seine dicke rote Nase und die tränen‐ verschmierte Clownschminke. (7. DS) - Beppo fühlt sich auf einmal ganz klein und traut sich nicht mehr nach Zick-Zack zu fragen. „Wo soll ich nur als Nächstes suchen? “, fragt er sich. Da hört er plötzlich Kinder lachen. Neu‐ gierig geht er in die Richtung, aus der das Lachen kommt. Da traut er seinen Augen nicht! (8. DS) - In einer Gruppe von Kindern steht Zick-Zack und balanciert ein Stöckchen auf seiner Drachennase. „Zick-Zack“, ruft Beppo glücklich, „da bist du ja endlich! “ Der Drache spitzt die Ohren, als er Beppos Stimme hört. Und da rennt er auch schon zu ihm, dass seine Zacken nur so im Wind flat‐ tern. (9. DS) - „Du bist ja ein echter Clown! Warum bist du denn nicht im Zirkus“, fragen die Kinder. Und Beppo erzählt ihnen von seiner Suche nach Zick-Zack. „Ich habe mir solche Sorgen um ihn gemacht. Wie konnte ich da eine fröh‐ liche Vorstellung geben und die Leute zum Lachen bringen? “ (10. DS) - Beppo und Zick-Zack verabschieden sich von ihren neuen Freunden. Sie machen sich auf den Weg zurück zum Zirkus. Der Direktor freut sich, dass die beiden Freunde wieder zusammen sind. „Schön, dass ihr wieder da seid“, begrüßt er Zick-Zack und Beppo. „Und, 312 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="313"?> traurigen Clown, wir wollen etwas zum Lachen haben! “ Doch wie soll Beppo ohne Zick-Zack fröhlich sein? „Ich gehe ihn suchen“, denkt er. „In der Stadt wohnen so viele Menschen, vielleicht hat jemand von ihnen Zick-Zack gesehen.“ (5. DS) - Doch in der Stadt eilen die Leute hastig an Beppo vorbei. „Oje“, denkt er, „wo soll ich Zick-Zack nur suchen? “ Da sieht er ein großes buntes Haus. KAUF‐ HAUS steht dort in bunten Leuchtbuchs‐ taben. „Dort könnte Zick-Zack sein.“ Aber drinnen herrscht ein schreckliches Gewühl. Beppo wird hin und her ge‐ schubst. „Puh, hier ist Zick-Zack nicht“, denkt Beppo und drängelt sich wieder nach draußen. (6. DS) Beppo, es tut mir Leid, dass ich mit dir geschimpft habe, nur weil du einmal nicht fröhlich sein konntest“, sagt er noch. (11. DS) - Am Abend gibt es eine neue Attrak‐ tion im Zirkus: Zick-Zack und sein Nasen-Kunststück! (12. DS) Im dritten Schritt fordert die oder der Erwachsene Kira auf, nun das Bilderbuch „vorzulesen“. Dies geht beim zweiten Versuch folgendermaßen vonstatten: E: so, kira/ E: warte, moment, ich muss es dir noch sagen kurz. [.] ich hab dir das buch jetzt vorgelesen [? ] und du hast mir zugehört und jetzt liest du mir das buch vor [? ] und hörst mir z/ und ich hör dir zu, okay? K: [greift nach dem Buch] K: mh. E: und du setzt dich hier auf den vorlesesessel. [klopft auf die Stuhllehne] K: was eben du gesagt hast. Kiras Textproduktion zur ersten Doppelseite lautet: äh, der [leise ab ‚äh‘] clown beppo ü b t e [? ] äh, kunststücke. ah dann/ dann fragte der drache äh, zickzack ihn, weil er auch kunststücke. was da: nn? [K schaut währenddessen ins Bilderbuch, blättert um, schaut weiterhin ins Bilderbuch] [2] Kira beginnt ihren ersten Satz mit dem Protagonisten der Geschichte, Clown Beppo. Dabei führt sie diesen mit dem bestimmten Artikel ein und bewirkt so beim Zuhörer den Eindruck, dass dieser Clown Beppo bereits bekannt ist. Sie bildet einen Hauptsatz sowie eine hypotaktische Satzkonstruktion, bestehend 3.1 Textanalysen 313 <?page no="314"?> aus einem Haupt- und einem kausalen Nebensatz, wobei sie das Verb des Nebensatzes auslässt. Kira verwendet die Personalpronomen er und ihn und stellt so durch den Gebrauch von Pro-Formen Kohäsion her. Beide von Kira verwendeten Verben stehen im Präteritum. Als textstrukturierendes Element verwendet sie das strukturelle Muster [„Dann“ + Verb]. Kiras Text enthält eine Leerstelle: Es wird zwar berichtet, dass Zick-Zack Beppo eine Frage stellt, wie die Frage genau lautet und wie die Antwort lautet, wird allerdings nicht erwähnt. Zur zweiten Doppelseite „liest“ Kira folgenden Text „vor“: [K blickt direkt in die Kamera bis ‚zirkusze: lt‘] dann kam die seiltänzerin. äh [.] und/ und tanzt (ins) z/ zirkusze: lt. [blättert um] [2] Kira macht erneut Gebrauch vom strukturellen Muster [„Dann“ + Verb] und stellt die beiden Ereignisse somit in einen zeitlichen Zusammenhang. Es liegt eine Anapher vor. Eine zweite Person, eine weitere Angestellte aus dem Zirkus - und zwar die Seiltänzerin - erscheint. Auch hier verwendet Kira den bestimmten Artikel. Nach einer kurzen Pause ergänzt Kira, dass die Seiltänzerin ins Zirkuszelt tanzt - hier verwendet sie ein passendes Verb (tanzen) zum Nomen (Seiltänzerin). Kira beginnt ihren Satz im Präteritum und wechselt dann ins Präsens. Auf dem zugehörigen Bild sind im Hintergrund eine Seiltänzerin und ein Mann vor einem Zirkuszelt zu sehen. Vermutlich bezieht sich Kira beim „Vorlesen“ auf diese Szene - möglicherweise bildet die abgebildete Szene die Ausgangssituation für Kiras Textproduktion zu dieser Doppelseite, da Kira „vorliest“, dass die Seiltänzerin in das Zirkuszelt hineintanzt. Zur dritten Doppelseite „liest“ Kira folgenden Satz „vor“: und er ha/ da/ dann/ dann hängte der zickzack seine/ seine/ äh seine stacheln [? ] [blättert um] Erneut macht Kira Gebrauch vom strukturellen Muster [„Dann“ + Verb] und ordnet das Geschehen in den zeitlichen Zusammenhang ein. Auf der dritten Doppelseite erwähnt sie nun die dritte Figur der Geschichte: Den Zick-Zack. Zum dritten Mal wird die Figur mit dem bestimmten Artikel eingeführt. Es folgt keine Erklärung, um was für ein Tier es sich bei Zick-Zack handelt. Aus Kiras Text geht hervor, dass Zick-Zack seine Stacheln hängt. Vermutlich zielt Kira auf die Bedeutung von hängen lassen ab. Auf dem zugehörigen Bild des Bilderbuches ist ein Drache mit einem traurigen Gesichtsausdruck zu sehen, der seine Ohren hängenlässt. Auch zeigen einige der Stachelspitzen nach unten. Kira wählt als Zeitform erneut das Präteritum. Zur vierten Doppelseite bildet Kira den Satz: und da: nn/ dann/ dann suchte der clown BEPPO den zickzack. [blättert um] 314 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="315"?> Auch diesen Satz bildet Kira mit Hilfe des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb]. Erneut verwendet Kira den bestimmten Artikel für beide Figuren. An dieser Stelle enthält Kiras Text eine Leerstelle: Nachdem Zick-Zack seine Stacheln hängen gelassen wird, sucht Clown Beppo ihn. Dass er verschwunden ist, wird von Kira nicht explizit erwähnt. Kira verwendet das Präteritum. Zur fünften Doppelseite „liest“ Kira einen Satz „vor“: da/ da/ da/ dann/ da wollte er den suchen in der stadt. [blättert um] Durch die Verwendung des Personalpronomens er stellt Kira eine Verbindung zur vorangegangenen Seite her. Sie bezieht sich auf das zuletzt genannte Subjekt, Clown Beppo. Hierdurch wird Kohäsion hergestellt. Auf den Drachen Zick-Zack bezieht sich das Demonstrativpronomen der. Durch den Gebrauch eines deiktischen Mittels wirkt Kiras Text an dieser Stelle leicht konzeptionell mündlich. Kira verwendet das sprachliche Muster in der Stadt. Kiras Text zur sechsten Doppelseite lautet wie folgt: und die menschen in der stadt eilten vor ihm vorbei. [blättert um] Durch die Wiederaufnahme der Formulierung in der Stadt des vorangegan‐ genen Satzes stellt Kira erneut Kohärenz zwischen den beiden aufeinanderfol‐ genden Doppelseiten her. Des Weiteren stellt sie Kohäsion durch den Gebrauch der Konjunktion und her. Sie spezifiziert die Menschen, indem sie sie mit der Formulierung in der Stadt näher beschreibt. Kira greift auf die konzeptionell schriftliche Formulierung vorbeieilen zurück. Das Personalpronomen ihm be‐ zieht sich wieder auf das Referenzobjekt Clown Beppo. Zur siebten Doppelseite produziert Kira drei grammatische Sätze: DA/ da/ da hörte e/ er paar MÄNNER lachen [.] und fragte er a/ a/ aber/ aber/ aber sie lachten nur. [blättert um] Kira greift zum zweiten Mal auf das strukturelle Muster [„Da“ + Verb] zurück und leitet somit eine neue Handlung ein. Erneut verwendet Kira das Personal‐ pronomen er, das sich erneut auf das Referenzobjekt Clown Beppo bezieht. Kira gebraucht die sprachliche Wendung jemanden lachen hören. Inhaltlich erzählt Kira, dass Clown Beppo Männer lachen hört und eine Frage stellt. Die Männer aber lachen nur. Den Inhalt der Frage des Clowns und den Grund des Lachens der Männer (vor und nach der Frage) erfährt die Zuhörerschaft nicht. Dass Beppo die Männer nach Zick-Zack fragt, lässt sich allerdings aufgrund des Kontextes vermuten, da er seinen Drachen sucht. Dieser Abschnitt enthält somit zwei Leerstellen. 3.1 Textanalysen 315 <?page no="316"?> Folgende zwei Sätze „liest“ Kira zur achten Doppelseite „vor“: da hörte clown beppo [? ] [.] kinder lachen. in die richtung laufte/ l ä u f t e [.] clown beppo. [blättert um] Auch die nächste Handlung leitet Kira mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb] ein. Sie greift ein zweites Mal auf den Ausdruck jemanden lachen hören zurück. Kira verwendet den Ausdruck in die Richtung als Satzanfang und stellt dadurch einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden „vorgelesenen“ Sätzen her. Auch stellt sie mit Hilfe von der Wiederholung des Subjekts Clown Beppo (Rekurrenz) Kohäsion zwischen dem ersten und dem zweiten Satz zur achten Doppelseite her. Im Textabschnitt, den Kira zur achten Doppelseite „vorliest“, lässt sich eine Überarbeitung erkennen: Kira bildet zuerst die Präteri‐ tumform laufte und korrigiert diese zu der Form l ä u f t e . Die folgenden zwei Sätze formuliert Kira zur neunten Doppelseite: da traute er seinen augen nicht. da/ da/ da stand zickzack und balancierte n ho: lzstück. [blättert um] Mit dem erneuten Gebrauch des strukturellen Musters [„Da“ + Verb] führt Kira Clown Beppos nächste Handlung ein: Er traut seinen Augen nicht. Dadurch dass Kira zuerst die Reaktion des Clowns beschreibt und erst im nachfolgenden Satz den Grund für diese Reaktion nennt, erzeugt Kira Spannung. Auch der zweite Satz beginnt mit dem strukturellen Muster [„Da“ + Verb]. Durch den Gebrauch dieser Anapher stellt Kira zwischen den beiden inhaltlich zusammen‐ hängenden Sätzen auch auf sprachlicher Ebene eine Verbindung her. Kira verwendet den Phraseologismus seinen Augen nicht trauen. Der Text der zehnten Doppelseite besteht aus direkter Rede mit nachgestelltem Begleitsatz: äh [4] ‚warum bist du nicht im/ warum bist du nicht im zirkuszelt? ‘, fra/ fragten die KINder. [blättert um] Wieder führt Kira neue Figuren, die Kinder, mit einem bestimmten Artikel ein. Die Kinder richten eine Frage an Clown Beppo. Auch diesmal wird jedoch keine Antwort auf die Frage durch den Erzähler übermittelt. Zur elften Doppelseite produziert Kira ein hypotaktisches Satzgefüge, be‐ stehend aus einem Haupt- und einem Nebensatz: Und u/ u/ und der zirkusdirektor [.] freute sich wieder, dass zickzack und clown beppo [? ] wieder da sind. [blättert um] Als Kohäsionsmittel verwendet sie die Konjunktion und und verbindet das Satzgefüge auf diese Weise mit dem vorangegangenen Satz auf der zehnten Doppelseite. Durch die Verwendung des Adverbs wieder wird ein Rückbezug zu einem vorherigen Zustand hergestellt. Auch dadurch wird Kohärenz erzeugt. 316 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="317"?> Außerdem stellt Kira durch den zweifachen Gebrauch des strukturellen Musters [„wieder“ + Verb] in Verbindung mit einem (in diesem Kontext) positiv konno‐ tierten Verb (sich freuen, da sein) eine Happy End-Atmosphäre her. Auf der zwölften Doppelseite endet Kiras Textproduktion mit folgendem Hauptsatz: da: nn/ äh da: nn/ dann führte zickzack und clown beppo seine kunststück vor. Auch hier greift Kira auf das bereits mehrfach verwendete strukturelle Muster [Dann + Verb] zurück und ordnet damit die Handlung des Kunststücke‐ vorführens in den zeitlichen Zusammenhang ein. Kira macht Gebrauch vom sprachlichen Muster Kunststücke vorführen. Im Hinblick auf inhaltliche Kohärenz enthält Kiras Text vier Leerstellen (vgl. 1. DS, 4. DS, 7. DS, 7. DS). Grammatische Kohärenz stellt Kira in ihrem Text durch verschiedene Kohäsionsmittel her. Erstens macht sie Gebrauch von Pro-Formen. Zum einen verwendet sie Personalpronomen, die sich auf das Subjekt des vorangegangenen Satzes beziehen. Zum anderen verwendet sie einmal ein Demonstrativpronomen, das sich auf ein Lexem des vorangegangenen Satzes bezieht. Auch der Gebrauch der Temporaladverbien da und dann dient der Herstellung von grammatischer Kohärenz. Zweitens wird Kohäsion durch die fast durchgängige Verwendung des Präteritums in der Erzählerrede erzeugt (Tempus). Ein drittes Kohäsionsmittel, dessen sich Kira bedient, ist der Gebrauch von Konnektoren. So verwendet Kira als Bindeglieder folgende Konjunktionen: Die von Linke et al. als „Prototyp“ bezeichnete Konjunktion und (vgl. Linke et al. 2004, S. 253), die kausale Konjunktion weil und die adversative Konjunktion aber. Des Weiteren gebraucht sie einmal die Konjunktion dass. Viertens zeigt sich Rekurrenz in der Wiederholung von Nomen, insbesondere von Namen in aufeinander folgenden Sätzen (Zick-Zack, Clown Beppo, Stadt). Fünftens stellt Kira Kohärenz durch die Wiederaufnahme eines sprachlichen Musters des vorangegangenen Satzes (in der Stadt (6. DS)) her. Im Folgenden wird der Blick auf inhaltliche Abweichungen zwischen Kiras Text und dem Bilderbuchtext gerichtet. Kiras Text weist zum einen veränderte Inhalte auf, die möglicherweise durch Bilder des Bilderbuches beeinflusst worden sind. Ein veränderter Inhalt lässt sich dabei der Unterkategorie Bildinterpretation und Weltwissen zuordnen: Kira spricht anstatt von Zick-Zacks Zacken, wie sie im Bilderbuch bezeichnet werden (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS), von seinen Stacheln: dann hängte der zickzack seine/ seine äh seine stacheln [? ] (3. DS). Hier ist ein möglicher Bezug zu den entsprechenden Abbildungen des Bilderbuches annehmbar. Insbesondere die hängenden Zacken auf der zweiten und dritten Doppelseite des Bilderbuches erinnern ein wenig 3.1 Textanalysen 317 <?page no="318"?> an Stacheln einer Rose. Diese Assoziation kann zum einen durch die Form der hängenden Zacken und zum anderen durch die Farbgebung zustande kommen: Rote Zacken an einem grünen, länglichen Objekt können an die rötlichen Stacheln einer Rose an einem grünen Stiehl erinnern. Zudem ist anzumerken, dass das Nomen Stacheln auch in Kombination mit Tieren vorkommt. Zu nennen wären hier beispielsweise das Stachelschwein oder die Stacheln eines Igels. Möglicherweise entspricht die Wortwahl Stacheln in Kombination mit einem Tier (Drache) somit eher dem Weltwissen eines Kindes als das Wort Zacken. Zwei weitere veränderte Inhalte entsprechen der Kategorie Diskrepanz zwischen Text und Bild. In Kiras Text spricht Beppo bei seiner Suche nach Zick-Zack lachende Männer an einer Bushaltestelle an, worauf diese jedoch nur lachen: DA/ da/ da hörte e/ er paar MÄNNER lachen [.] und fragte er a/ a/ aber/ aber/ aber sie lachten nur. [blättert um] (7. DS). Im Bilderbuch traut sich Beppo hingegen erst gar nicht, die Männer und Frauen anzusprechen, weil sie ihn auslachen: „An einer Bushaltestelle sieht Beppo ein paar Männer und Frauen. […] Als die Leute ihn sehen, fangen sie an zu lachen.“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 7. DS) Auf dem zughörigen Bild der siebten Doppelseite sind lediglich Clown Beppo und drei Männer zu sehen, jedoch nicht die im Text erwähnten Frauen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen diesem Bild und Kiras Wahl des Wortes MÄNNER. Zudem ist Beppo auf dem Bild von den drei lachenden Männern umringt, während diese ihn ansehen (vgl. ebd.). Diese bildliche Darstellung könnte einen Einfluss darauf gehabt haben, dass Clown Beppo in Kiras Text in Kontakt mit den Männern tritt und eine Frage an sie richtet, während er in der Szene des Bilderbuches hingegen nur überlegt, ob er die Männer anspricht, sich jedoch aufgrund ihres Lachens dagegen entscheidet. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Überlegungen lediglich um (naheliegende) Interpretationen handelt. Kiras Text enthält zudem eine weitere kleine inhaltliche Änderung im Vergleich zum Bilderbuchtext. Während im Bilderbuch das Verb „hüpfen“ mit dem Nomen Seiltänzerin kombiniert wird („Er sieht Aurelia, die Seiltänzerin, aus ihrem Wohnwagen herauskommen und in das Zelt hüpfen.“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS)), kombiniert Kira das Verb tanzen mit dem genannten Nomen: dann kam die seiltänzerin. äh [.] und/ und tanzt (ins) z/ zirkusze: lt. (2. DS) Das Verb tanzen und das Nomen Tänzerin gehören zur gleichen Wortfamilie. In Bezug auf neue Inhalte ist die Funktion Versprachlichung von nur im Bild dar‐ gestellten Inhalten erkennbar: Zur zwölften Doppelseite „liest“ Kira folgenden Satz vor: da: nn/ äh da: nn/ dann führte zickzack und clown 318 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="319"?> beppo seine kunststück vor (12. DS). Der Text auf der entspre‐ chenden Doppelseite des Bilderbuches lautet hingegen: „Am Abend gibt es eine neue Attraktion im Zirkus: Zick-Zack und sein Nasen-Kunststück! “ (Schwarz/ Wenisch 2002, 12. DS) Im Text des Bilderbuches wird somit ausschließlich Zick-Zacks Auftritt erwähnt, nicht aber der des Clowns. Auf dem zugehörigen Bild sind jedoch beide Figuren nebeneinanderstehend im Rampenlicht zu sehen: Clown Beppo, der mit Kegeln jongliert, und der Drache Zick-Zack, der einen blühenden Ast oder Rosenzweig auf der Schnauze balanciert. An dieser Stelle scheint das Bild die Textproduktion von Kira folglich stark beeinflusst zu haben. Zur Versprachlichung des neuen Inhalts (vgl. Tabelle 13 im digitalen Anhang) bedient sich Kira des von ihr insgesamt zweimal verwendeten sprach‐ lichen Musters Zick-Zack und Clown Beppo, das sich - wie die Ausführungen zu Musterhaftigkeit zeigen werden - als Variation eines Musters aus dem Bilderbuch bezeichnen lässt. Zudem wählt sie die konzeptionell schriftliche Zeitform Präteritum, in der ihre Textproduktion überwiegend gehalten ist, sowie das im Bilderbuch in einem anderen Kontext enthaltene sprachliche Muster Kunststücke vorführen. Es ist somit erkennbar, dass sich Kira zur Darstellung eines neuen Inhalts zweier sprachlicher Muster bedient, die auch im Bilderbuch (in Variation) enthalten sind und die sie teilweise in ihrer Textproduktion mehrfach gebraucht (vgl. Tabelle 13 im digitalen Anhang). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine weitere Beobachtung zu einer möglichen Orientierung Kiras an einem Bild bei ihrer Textproduktion: Auf dem Bild zur dritten Doppelseite ist der Drache Zick-Zack abgebildet, der auf einem Koffer sitzt. Er stützt seinen Kopf auf die Pfoten, hat einen traurigen Gesichtsausdruck, seine Ohren hängen herunter und seine roten Drachenzacken zeigen ebenfalls teilweise nach unten. Kira formuliert dazu folgenden Satz: und er ha/ da/ dann/ dann hängte der zickzack seine/ seine/ äh seine stacheln [? ] [blättert um] (3. DS). Hier scheint Kira in Worte zu fassen, was im Bild abgebildet ist. Ein äquivalenter Inhalt wird mit Hilfe einer ähnlichen sprachlichen Form im Bilderbuchtext bereits auf der zweiten Doppelseite zum Ausdruck gebracht: „Wenn doch nur jemand mit mir spielen würde“, denkt der kleine Drache und lässt traurig seine Zacken hängen“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS). Auch auf dem zugehörigen Bild der zweiten Doppelseite ist Zick-Zack mit herunterhängenden Stacheln abgebildet, was von Kira an dieser Stelle jedoch nicht thematisiert wird. Anhand der geschilderten Beobachtung wird erneut die bedeutsame Funktion von Bil‐ dern für die Textproduktion deutlich. Kira scheint durch das Bild des Drachens mit hängenden Zacken dazu herausgefordert zu werden, einen Inhalt mit Hilfe 3.1 Textanalysen 319 <?page no="320"?> einer ähnlichen sprachlichen Form wie sie im Bilderbuch an einer anderen Stelle enthalten ist, zum Ausdruck zu bringen. Im Vergleich zum Bilderbuchtext lässt Kira zahlreiche inhaltliche Elemente in ihrer Geschichte von Clown Beppo und Zick-Zack aus (ausgelassene Inhalte). Bei den folgenden Elementen handelt es sich um für das Verständnis der Handlung der Geschichte irrelevante Inhalte (Fall 1). Erstens findet ein Auslassen von Beschreibungen von Handlungsorten und Figuren (Fall 1a) statt. Während die Bilderbuchgeschichte mit einem Einleitungssatz beginnt, in dem die beiden Figuren Beppo und Zick-Zack vorgestellt werden und ihr Wohnort, ein kunterbunter Zirkuswagen, genannt wird (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 1. DS), steigt Kira direkt in die Handlung ein: äh, der [leise ab ‚äh‘] clown beppo ü b t e [? ] äh, kunststücke (1. DS). Zweitens findet eine Komprimierung des Inhalts durch Auslassen von Details (Fall 1c) statt. Kira verzichtet auf mehrere inhaltliche Elemente (Details), die für das Verständnis ihrer Geschichte nicht relevant sind. Dazu zählt erstens das Benennen von Gründen, zweitens das Nennen von Emotionen und drittens das Auslassen genauerer Orts- und Zeitangaben. An drei Stellen verzichtet sie auf das Benennen von Gründen. So nennt Kira im Gegensatz zum Bilderbuch nicht den Grund, weshalb der Drache Zick-Zack wie Clown Beppo Kunststücke aufführen möchte: Langweile (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS). Des Weiteren fasst Kira Clown Beppos Entschluss, seinen Drachen in der Stadt zu suchen, mit einem prägnanten Satz zusammen: da/ da/ da/ dann/ da wollte er den suchen in der stadt (5. DS). Das Anführen von Gründen für diesen Entschluss lässt Kira weg. Es findet stattdessen eine Konzentration auf die zentrale Aussage statt. Im Bilderbuch wird vor Clown Beppos Entschluss gezeigt, dass dieser ohne seinen Drachen die Zuschauer im Zirkus vor Traurig‐ keit nicht zum Lachen bringen kann (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 5. DS). Zudem wird eine Begründung dafür geliefert, warum Beppo die Stadt wählt (vgl. ebd., 5. DS). An einer dritten Stelle nennt Kira nicht den im Bilderbuch angeführten Grund für das Lachen der Leute, die Clown Beppo in der Stadt trifft: Sie machen sich über sein Aussehen lustig (vgl. ebd., 7. DS). An zwei Stellen lässt sich im Vergleich zum Bilderbuchtext in Kiras Text der Verzicht auf das Nennen von Emotionen beobachten. An einer Stelle verzichtet Kira auf das Nennen einer eine Tätigkeit begleitende Emotion (Traurigkeit): Während die Emotion von Zick-Zack, die die Handlung des Herunterhängenlassen der Zacken be‐ gleitet, im Bilderbuchtext explizit genannt wird („und lässt traurig seine Zacken hängen“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS)), beschränkt Kira ihre Narration auf den folgenden Inhalt: dann hängte der zickzack seine/ seine/ äh, seine stacheln (3. DS). An einer zweiten Stelle geht Kira nicht auf die 320 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="321"?> negativen Gefühle des Clowns ein, die das Lachen der Menschen in der Stadt bei ihm auslösen. Im Bilderbuchtext heißt es: „Beppo fühlt sich auf einmal ganz klein und traut sich nicht mehr nach Zick-Zack zu fragen“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 7. DS). Relevant für das Finden von Zick-Zack sind diese Gefühle nicht. Zudem kann beobachtet werden, dass Kira genauere Orts- und Zeitangaben auslässt: Im Gegensatz zum Bilderbuchtext verzichtet Kira sowohl auf die Information, dass die lachenden Leute an der Bushaltestelle stehen (vgl. ebd., 7. DS) als auch auf die Information, dass die Zirkusvorführung am Abend stattfindet (vgl. ebd., 12. DS). Drittens lässt sich Fall 1b (Komprimierung des Inhalts: Zusammenfassen von Handlungsschritten) identifizieren: Kira fasst die Darstellung der Suche Clown Beppos nach seinem Drachen Zick-Zack treffend mit Hilfe des Verbes suchen zusammen: dann suchte der clown BEPPO den zickzack (4. DS). Im Bilderbuchtext besteht die Suche aus verschiedenen Handlungen: Unter dem Zirkuswagen schauen (Schwarz/ Wenisch 2002, 4. DS), bei der Seiltänzerin nachfragen (ebd.) und beim Feuerschlucker nachfragen (ebd.). Des Weiteren geht aus dem Bilderbuchtext hervor, dass die Suche nach Zick-zack auch am darauffolgenden Tag erfolglos ist: „Zick-Zack ist nicht aufzufinden. Auch nicht am nächsten Tag.“ (Ebd., 5. DS) Zudem zeigt das Bild der vierten Doppelseite einen Clown, der auf dem Boden sitzt und den Blick unter ein Bett richtet. Dieses Bild zeigt die Handlung „Suchen“. Viertens findet die Wahl eines exemplarischen Elements aus mehreren äquiva‐ lenten (Fall 1d) statt: Im Bilderbuch werden die Wahrnehmungen von Zick-Zack dargestellt, die er hat, während Clown Beppo zur Vorstellung geht: Visuelle Wahrnehmungen (Seiltänzerin, Feuerschlucker (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS)) und auditive Wahrnehmungen (Lachen der Zuschauer (vgl. ebd., 3. DS)). Kira beschränkt sich im Gegensatz dazu auf das Erwähnen der Seiltänzerin, die ins Zirkuszelt tanzt. Bei diesem Element handelt es sich um das einzige, das auch bildlich dargestellt ist. Auch diese Beobachtung verdeutlicht die zentrale Funktion der Bilder als Stütze für die Wahl von Inhalten bei der Textproduktion. Fünftens ist das Auslassen kompletter Inhalte (Fall 1e) bzw. Handlungen erkennbar: Während im Bilderbuch Clown Beppos Suche auch im Inneren eines Kaufhauses stattfindet, wird diese Handlung von Kira nicht erwähnt. Eine Szene, die Clown Beppo in einem Kaufhaus zeigt, ist im Bilderbuch nicht vorhanden (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 6. DS). Zudem wird von Kira im Gegensatz zum Bilderbuchtext nicht berichtet, dass Zick-Zack zu Clown Beppo rennt, als dieser ihn gefunden hat (vgl. 9. DS). Auch die Tätigkeit des Rennens ist nicht im Bild dargestellt. Zwei weitere komplette Handlungen, die Kira im Gegensatz zum Bilderbuchtext nicht berichtet, sind die Verabschiedung 3.1 Textanalysen 321 <?page no="322"?> der Protagonisten von den Kindern und ihr Weg zurück zum Zirkus (vgl. 11. DS). Auch diese beiden Szenen werden lediglich im Bilderbuchtext, aber nicht im Bild dargestellt. Sechstens lässt sich zudem das Auslassen von Inhalten, die im Bilderbuchtext in Form von direkter Rede vorliegen (Fall 1f) identifizieren: Kira lässt sechs für das Verständnis ihrer Geschichte nicht notwendige Inhalte aus, die im Bilderbuch in Form von direkter Rede dargestellt werden. Erstens lässt sie die Aussagen des Zirkusdirektors (Freude, Entschuldigung) aus, die er an die Protagonisten richtet, als sie wieder im Zirkus sind (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 11. DS). Die Kernbotschaft, dass der Direktor sich freut, ist jedoch in Kiras Text enthalten (vgl. 11. DS). Zweitens gibt sie nicht die direkte Rede der Zuschauer wieder, die ihre Unzufriedenheit mit Clown Beppos traurigem Gefühlszustand während der Vorführung zum Ausdruck bringen (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 5. DS). Drittens lässt Kira Clown Beppos Aussagen, die er nach der erfolgreichen Suche an Zick-Zack richtet, weg: „‚Ich habe mir solche Sorgen um ihn gemacht. Wie konnte ich da eine fröhliche Vorstellung geben und die Leute zum Lachen bringen? ‘“ (Ebd., 10. DS). Im Bilderbuch wird an dieser Stelle Bezug auf einen Inhalt genommen, der in Kiras Text nicht enthalten ist - und zwar seine Unfähigkeit, ohne die Anwesenheit von Zick-Zack fröhliche Aufführungen zu geben (vgl. ebd., 5. DS). Viertens enthält Kiras Text ebenso wenig Clown Beppos freudigen Ausruf, dass er Zick-Zack gefunden hat (vgl. ebd., 9. DS). Aus Kiras Text geht jedoch hervor, dass Clown Beppo Zick-Zack sieht: da traute er seinen augen nicht. da/ da/ da stand zickzack und balancierte n ho: lzstück. (9. DS) Fünftens werden bei der Suche nach Zick-Zack im Gegensatz zum Bilderbuchtext keine Fragen von Clown Beppo an die Kolleginnen und Kollegen gerichtet (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 4. DS). Kira stellt hingegen in Form von Erzählerrede dar, dass Clown Beppo auf der Suche nach Zick-Zack ist. Sechstens lässt Kira vier Selbstgespräche des Protagonisten aus, die die Suche nach Zick-Zack thematisieren (vgl. ebd. 5./ 6./ 7./ 8. DS). Kira lässt auch einige im Bilderbuch enthaltene Inhalte aus, was zur Entstehung von Leerstellen führt (Fall 2). Das Auslassen des ersten Inhalts führt dazu, dass die entstandene Leerstelle mit Hilfe des Bildes geschlossen werden muss - Bild und Text erzählen somit gemeinsam (Fall 2c): Im Bilderbuch findet die Kindergruppe, in der Zick-Zack steht, explizit Erwähnung: „In einer Gruppe von Kindern steht Zick-Zack und balanciert ein Stöckchen auf seiner Drachennase“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 9. DS). Kira erwähnt die Kinder jedoch nicht, die sowohl auf dem zugehörigen Bild der achten Doppelseite als auch auf der siebten und neunten Doppelseite zu sehen sind: da stand zickzack und balancierte `n holzstück [blättert um] äh [4] ‚warum bist 322 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="323"?> du nicht im/ warum bist du nicht im zirkuszelt? ‘, fra/ fragten die kinder (8./ 9. DS). Auf der neunten Seite werden die Kinder ohne Einführung von Kira in Kombination mit dem bestimmten Artikel erwähnt und tauchen bei Betrachtung des reinen Textes wie aus dem Nichts auf. Durch die zugehörigen Bilder wird jedoch klar, dass es sich bei den von Kira erwähnten Kindern um jene Kinder handeln muss, die sich auf dem zugehörigen Bild in der Nähe von Zick-Zack befinden. Die zweite Leerstelle entsteht durch das Auslassen für das Verständnis der Geschichte relevanter direkter Rede (Fall 2a): Während aus Kiras Text nicht hervorgeht, was Zick-Zack Clown-Beppo fragt (dann fragte der drache äh, zickzack ihn, weil er auch kunststücke (1. DS)) ist dieser Inhalt im Bilderbuch in Form von direkter Rede dargestellt: „‚Wann darf ich endlich auch Kunststücke vorführen? ‘, fragt er, ‚den ganzen Abend auf dich warten ist so langweilig.‘“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 1. DS) Es geht aus Kiras Text im Gegensatz zum Bilderbuchtext auch nicht hervor, dass Zick-Zacks keine Kunststücke vorführen darf. „‚Du bist noch zu klein, Zick-Zack‘“ (ebd., 1. DS), heißt es im Bilderbuch. Diese aufgezeigten Elemente sind zentrale Elemente der Geschichte und mitunter Grund für Zick-Zacks Verschwinden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kira teilweise Inhalte auslässt, die im Bilderbuch nicht mittels eines Bildes erzählt werden. Somit findet zum Großteil eine Beschränkung auf im Bild dargestellte Inhalte statt. Insgesamt ist eine starke Orientierung an den Bildern bei Kiras Textproduktion erkennbar. Teilweise bleiben auch Inhalte des Bilderbuches von Kira unerwähnt, die jeweils dem zugehörigen Bild des Bilderbuches entnommen werden können und deren Erwähnung somit nicht notwendig zum Verständnis der „vorgelesenen“ Geschichte ist. Nachfolgend werden Beobachtungen zum Gebrauch indirekter Rede geschildert, die zur Darstellung von Inhalten verwendet wird, welche im Bilderbuch mit Hilfe von direkter Rede zum Ausdruck gebracht werden. Kira vermittelt an zwei Stellen mit Hilfe von indirekter Rede einen Inhalt, der starke Ähnlichkeiten zu einem Inhalt des Bilderbuches aufweist und dort in Form von direkter Rede wiedergegeben wird. An einer dritten Stelle bindet sie eine Information, die im Bilderbuch in Form von direkter Rede zum Ausdruck gebracht wird, in eine hypotaktische Satzkonstruktion ein. Nach Koch und Oesterreicher (1994) ist es ein Merkmal von konzeptioneller Schriftlichkeit, indirekte anstatt direkter Rede zu verwenden (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994, S.-590). Bei der ersten Stelle heißt es im Bilderbuch: „‚Wann darf ich endlich auch Kunststücke vorführen‘, fragt er, ‚den ganzen Abend auf dich warten ist so langweilig.‘“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 1. DS) Kira hingegen formuliert folgenden 3.1 Textanalysen 323 <?page no="324"?> Satz ohne Figurenrede: dann fragte der drache äh zickzack ihn, weil er auch kunststücke (1. DS). Sie verwendet hier eine hypotaktische Satzkonstruktion. Mit einem Kausalsatz, der mit der Konjunktion weil eingeleitet wird, liefert sie eine Begründung für die Frage des Drachens (Kunststücke (üben oder vorführen)). Im Bilderbuchtext wird nur an einer Stelle ein mit der Konjunktion weil eingeleiteter kausaler Nebensatz verwendet: „‚Und, Beppo, es tut mir Leid, dass ich mit dir geschimpft habe, nur weil du einmal nicht fröhlich sein konntest‘, sagt er noch“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 11. DS). Ob es sich bei dem von Kira verwendeten strukturellen Muster [„weil“ + Verb] um eine Übernahme dieses strukturellen Musters in einem neuen Kontext handelt, ist wegen der auch im mündlichen Sprachgebrauch weit verbreiteten grammatischen Struktur nicht sehr wahrscheinlich. Jedoch greift Kira auf dieses ihr bekannte strukturelle Muster zurück, um damit einen Inhalt, der im Buch in Form von Figurenrede angedeutet wird, sprachlich zu vermitteln. Sie verwendet das strukturelle Muster funktional. Bei der zweiten Stelle steht im Bilderbuchtext: „‚Ich gehe ihn suchen‘, denkt er. ‚In der Stadt wohnen so viele Menschen, vielleicht hat jemand von ihnen Zick-Zack gesehen.‘“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 5. DS) Den Plan des Clowns, in die Stadt zu gehen, um seinen Drachen zu suchen, drückt Kira mit Hilfe von indirekter Rede und dem Verb wollen aus: da/ da/ da/ dann/ da wollte er den suchen in der stadt. (5. DS) Kira greift auf das sprachliche Muster etwas tun wollen zurück, um den gleichen Inhalt zu transportieren, der im Bilderbuch mit Hilfe von direkter Rede vermittelt wird. Im Bilderbuch wird ein ähnliches sprachliches Muster in einem anderen Kontext - aber auf der gleichen Doppelseite - verwendet (etwas zum Lachen haben wollen): „Die Zuschauer rufen ‚Wir wollen keinen traurigen Clown, wir wollen etwas zum Lachen haben! ‘“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 5. DS) Auch an dieser Stelle ist unklar, ob diese Formulierung Kiras Wahl beeinflusst hat. An einer weiteren Stelle bildet Kira eine hypotaktische Satzkonstruktion, um einen ähnlichen Inhalt wie im Bilderbuch zu vermitteln. Kira formuliert und der zirkusdirektor [.] freute sich wieder, dass zickzack und clown beppo [? ] wieder da sind. (11. DS) Der Bilderbuchtext lautet: „Der Direktor freut sich, dass die beiden Freunde wieder zusammen sind. ‚Schön, dass ihr wieder da seid‘, begrüßt er Zick-Zack und Beppo.“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 11. DS) In ihre hypotaktische Satzkonstruk‐ tion fügt Kira jedoch im Gegensatz zum Bilderbuchtext anstatt der Information, dass der Direktor über das erneute Zusammensein der beiden Figuren erfreut ist, eine Information ein, die im Bilderbuchtext mittels direkter Rede vermittelt 324 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="325"?> wird: Die Freude des Zirkusdirektors darüber, dass die beiden Figuren wieder im Zirkus sind. Im Folgenden wird Musterhaftes dargestellt, das in Kiras Textproduktion identifiziert werden konnte. Dabei wird zunächst der Gebrauch sprachlicher Muster in den Blick genommen. Einmaliger Gebrauch sprachlicher Muster, die im Bilderbuch vorkommen, lässt sich in Kiras Text bezüglich des Gebrauchs der Formulierungen seinen Augen nicht trauen und an jemandem vorbeieilen identifizieren. Kira verwendet den Phraseologismus seinen Augen nicht trauen, der im Bilderbuch im gleichen Kontext verwendet wird. Abgesehen davon, dass Kira ihre Geschichte fast komplett im Präteritum „vorliest“, bildet sie genau den gleichen Satz wie im Bilderbuch, der allerdings dort im Präsens verfasst ist: da traute er seinen augen nicht (9. DS). „Da traut er seinen Augen nicht! “ (Schwarz/ Wenisch 2002, S.-9. DS) Des Weiteren macht Kira Gebrauch von der Formulierung an jemandem vor‐ beieilen, die ebenfalls im Bilderbuchtext vorkommt: „Doch in der Stadt eilen die Leute hastig an Beppo vorbei“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 6. DS). Kira verwendet diese Formulierung im gleichen Kontext wie im Bilderbuch und verwendet dabei anstatt der Präposition an die Präposition vor: und die menschen in der stadt eilten vor ihm vorbei (6. DS). Obwohl Kiras Satz einen ähnlichen Inhalt wie der äquivalente Satz des Bilderbuchtextes transportiert, bindet sie den Phraseologismus in eine neue syntaktische Struktur ein: Während im Satz des Bilderbuches das Prädikat dem Subjekt vorangeht, geht in Kiras Satz das Subjekt dem Prädikat voran. Dabei wählt Kira die üblichere Satzstellung. Im Bilderbuch findet eine Variation des Phraseologismus durch das Adjektiv hastig statt, während Kira den Phraseologismus nicht näher spezifiziert. Das Nomen Leute wird durch das semantisch ähnliche Nomen Menschen ersetzt. Des Weiteren wird das Objekt Beppo in Kiras Satz durch ein Personalpronomen ersetzt. Mehrmaligen Gebrauch eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, weist Kiras Text in Bezug auf die drei sprachlichen Muster jemanden lachen hören, in der Stadt und Clown Beppo auf. Auffällig ist, dass Kira an zwei Stellen ihres Textes Gebrauch vom Ausdruck jemanden lachen hören macht: DA/ da/ da hörte e/ er paar MÄNNER lachen [.] und fragte er a/ a/ aber/ aber/ aber sie lachten nur (7. DS). da hörte clown beppo [? ] [.] kinder lachen (8. DS). Das sprachliche Muster jemanden lachen hören wird auch zweimal im Bilderbuchtext verwendet. Das erste Mal wird der Ausdruck in einem anderen Kontext als in Kiras Textproduktion verwendet: „Zick-Zack hört die Zuschauer lachen, wenn Beppo 3.1 Textanalysen 325 <?page no="326"?> in die Manege stolpert“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 3. DS). Hier hört der Drache Zuschauer lachen. Das zweite Mal taucht es im gleichen Kontext wie in Kiras Textproduktion auf: „Da hört er plötzlich Kinder lachen“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 8. DS). Beppo hört Kinder lachen. Auf der siebten Doppelseite hingegen, auf der Kira Gebrauch von diesem sprachlichen Muster macht, ist Folgendes zu lesen: „An einer Bushaltestelle sieht Beppo ein paar Männer und Frauen. ‚Die haben es nicht so eilig‘, denkt er, ‚die kann ich nach Zick-Zack fragen.‘“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 7. DS) Folglich wird Beppo dadurch auf die Leute aufmerksam, dass er sie sieht. Im Vergleich dazu wird im Text von Kira Clown Beppo auf die Leute aufmerksam, weil er sie hört. Kira verwendet somit das sprachliche Muster jemanden lachen hören, das im Bilderbuch zweimal vorkommt, in beiden Fällen, um auszudrücken, dass jemand durch ein Lachen auf jemand anderen aufmerksam wird. Sie gebraucht das sprachliche Muster in derselben Funktion, die es im Bilderbuch auf der achten Doppelseite hat. Zweimal verwendet Kira die Formulierung in der Stadt. In beiden Fällen wird auch im gleichen Kontext im Bilderbuch Gebrauch von dieser Formulierung gemacht. Obwohl sich die Sätze auf einer inhaltlichen Ebene ähnlich sind, baut Kira die Formulierung jedoch in beiden Fällen in eine neue syntaktische Struktur ein. Im Bilderbuch wird die Formulierung auf der fünften Doppelseite als Be‐ standteil von direkter Rede verwendet: „In der Stadt wohnen so viele Menschen, vielleicht hat jemand von ihnen Zick-Zack gesehen“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 5. DS). Kira drückt einen ähnlichen Inhalt in Form von indirekter Rede aus: da/ da/ da/ dann/ da wollte er den suchen in der stadt (5. DS). Während im Bilderbuch das sprachliche Muster in den Ausdruck in der Stadt wohnen eingebaut wurde, taucht das sprachliche Muster in Kiras Text der Formulierung jemanden in der Stadt suchen auf. Während das sprachliche Muster im Bilderbuch als Satzanfang verwendet wird, beendet Kira ihren Satz mit diesem sprachlichen Muster. Das zweite Mal wird das sprachliche Muster in Kiras Textproduktion sowie im Bilderbuchtext auf der sechsten Doppelseite jeweils im gleichen Kontext verwendet. Im Bilderbuchtext steht: „Doch in der Stadt eilen die Leute hastig an Beppo vorbei“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 6. DS). Kira produziert folgenden Satz: und die menschen in der stadt eilten vor ihm vorbei (6. DS). Auch hier verwendet Kira das sprachliche Muster in der Stadt in einem neuen syntaktischen Zusammenhang. Während die Formulierung in der Stadt im Bilderbuch gebraucht wird, um die Handlung zu lokalisieren, verwendet Kira die gleiche Formulierung, um die Menschen näher zu beschreiben. 326 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="327"?> Kira verwendet sechsmal das sprachliche Muster Clown Beppo, wenn sie auf die Figur des Clowns eingeht. äh der [leise ab ‚äh‘] clown beppo ü b t e [? ] äh kunststücke (1. DS). und da: nn/ dann/ dann suchte der clown BEPPO den zickzack (4. DS). da hörte clown beppo [? ] [.] kinder lachen (8. DS). in die richtung laufte/ l ä u f t e [.] clown beppo (8. DS). und u/ u/ und der zirkusdirektor [.] freute sich wieder, dass zickzack und clown beppo [? ] wieder da sind (11. DS). da: nn/ äh da: nn/ dann führte zickzack und clown beppo seine kunststück vor (12. DS). Im Bilderbuchtext kommt dieser Ausdruck lediglich zweimal vor: Einmal als Überschrift der Geschichte (Clown Beppo) und einmal in folgendem Satz: „Clown Beppo wohnt mit seinem kleinen Drachen in einem kunterbunten Zirkuswagen.“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 1. DS) Der Gebrauch der Formulierung Clown Beppo in Kiras Text kann somit einmal als Gebrauch eines sprachlichen Musters aus dem Bilderbuch im gleichen Kontext (Schwarz/ Wenisch 2002, 1. DS) und fünfmal als Gebrauch eines sprachlichen Musters des Bilderbuchtextes in einem neuen Kontext bezeichnet werden. Im Bilderbuch wird auf das Referenzobjekt Clown Beppo häufig mit Hilfe des Namens Beppo oder eines Personalpronomens verwiesen. Durch die häufige Nennung des Protagonisten Clown Beppo wird seine zentrale Rolle als durchgängig Handelnder in der Geschichte hervorgehoben. Dies trägt zur Kohärenzbildung bei. Einmaliger Gebrauch einer Variation eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, lässt sich einmal identifizieren: Kira verwendet das sprachliche Muster seine Stacheln hängen: und er ha/ da/ dann/ dann hängte der zickzack seine/ seine/ äh seine stacheln [? ] [blättert um] (3. DS). Diese Formulierung lässt sich als Variation des sprachlichen Musters, Typ „Ersetzen“/ „Weglassen“, aus dem Bilderbuch seine Zacken hängen lassen bezeichnen. Es wird im gleichen Kontext, jedoch auf einer anderen Doppelseite verwendet: „Wenn doch nur jemand mit mir spielen würde“, denkt der kleine Drache und lässt traurig seine Zacken hängen“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS). Das Nomen Zacken wird dabei durch das semantisch ähnliche Wort Stacheln ersetzt, während das Verb lassen von Kira weggelassen wird. Der Ausdruck wird von Kira in eine neue syntaktische Struktur eingebunden und im gleichen Kontext verwendet. Mehrmaliger Gebrauch einer Variation eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, lässt sich hinsichtlich des sprachlichen Musters 3.1 Textanalysen 327 <?page no="328"?> Zick-Zack und Clown Beppo feststellen, von dem Kira zweimal Gebrauch macht: und/ u/ u/ und der zirkusdirektor [.] freute sich wieder, dass zickzack und clown beppo [? ] wieder da sind (11. DS). da: nn/ äh da: nn/ dann führte zickzack und clown beppo seine kunststück vor (12. DS). Die Formulierung lässt sich zum einen als Variation des sprachlichen Musters Beppo und Zick-Zack (Typ „Reihenfolge“/ Typ „Weglassen“) in einem neuen Kontext bezeichnen: „Beppo und Zick-Zack verabschieden sich von ihren neuen Freunden“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 11. DS). Zum anderen kann auch von einer Variation des sprachlichen Musters (Typ „Weglassen“) in einem neuen Kontext gesprochen werden: „‚Schön, dass ihr wieder da seid‘, begrüßt er Zick-Zack und Beppo“ (ebd.). Während im Bilderbuch somit auf unterschiedliche Formulierungen zurückgegriffen wird, wählt Kira zweimal den gleichen Ausdruck. Zum Gebrauch struktureller Muster sind folgende Beobachtungen zu machen. Mehrmaliger Gebrauch eines strukturellen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, lässt sich bezüglich der strukturellen Muster [„wieder“ + Verb], [„Da“ + Verb], [„und“ + Satz] und [bestimmter Artikel + Subjekt] feststellen. In einem Satzgefüge macht Kira zweimal Gebrauch vom strukturellen Muster [„wieder“ + Verb]: und u/ u/ und der zirkusdirektor [.] freute sich wieder, dass zickzack und clown beppo [? ] wieder da sind. [blättert um] (11. DS). Es nimmt dabei einmal die Form sich wieder freuen und einmal die Form wieder da sein an. Im Bilderbuchtext sind die Formen sich wieder nach draußen drängeln, wieder zusammen sein und wieder da sein zu finden: „‚Puh, hier ist Zick-Zack nicht‘, denkt Beppo und drängelt sich wieder nach draußen“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 6. DS). „Der Direktor freut sich, dass die beiden Freunde wieder zusammen sind. ‚Schön, dass ihr wieder da seid“, begrüßt er Zick-Zack und Beppo.“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 11. DS) Die von Kira gebrauchten Muster können somit als Gebrauch struktureller Muster aus dem Bilderbuch in anderen Kontexten bezeichnet werden. Kira strukturiert ihre Textproduktion u. a. durch den fünffachen Gebrauch des strukturellen Musters [„Da“ + Verb]. Dieses strukturelle Muster ist nur ein einziges Mal im Bilderbuchtext enthalten: „Da traut er seinen Augen nicht! “ (8. DS) Nach Dehn, Merklinger und Schüler (2011) lässt sich dieses Muster mit Blick auf seine Funktion als Muster zur zeitlichen Gliederung (Dehn/ Merk‐ linger/ Schüler 2011, S. 9) bezeichnen. Dieses Muster lässt sich als strukturelles Muster im gleichen und in anderen Kontexten verwendetes Muster aus dem Bilderbuchtext beschreiben. Da es sich jedoch nicht um ein buchspezifisches, sondern um ein im Sprachgebrauch weit verbreitetes Muster handelt, ist es nicht 328 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="329"?> sehr wahrscheinlich, dass es sich hierbei um eine Übernahme des Musters aus dem Bilderbuchtext handelt. Auszuschließen ist es allerdings auch nicht. Dreimal greift Kira auf das strukturelle Muster [„und“ + Satz] zurück. In allen drei Fällen verwendet sie diesen Satzanfang zu Beginn einer Doppelseite und stellt somit grammatische Kohärenz her: und/ und er ha/ da/ dann/ dann hängte der zickzack seine/ seine/ äh seine Stacheln [? ] (3. DS). und die menschen in der stadt eilten vor ihm vorbei. [blättert um] (6. DS) und fragte er a/ a/ aber/ aber/ aber sie lachten nur (7. DS). und/ u/ u/ und der Zirkusdirektor [.] freute sich wieder, dass zickzack und clown beppo [? ] wieder da sind. [blättert um] (11. DS). Das strukturelle Muster [„und“ + Hauptsatz] wird ihm Bilderbuch viermal in anderen Kontexten verwendet: „Und am lautesten lachen sie, wenn das rohe Ei, das Beppo in die Luft geworfen hat, mitten auf seinem Hut landet und dann langsam heruntertropft“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 3. DS). „‚Und du vielleicht, Arnold? ‘“ (ebd., 4. DS) „Und da rennt er auch schon zu ihm, dass seine Zacken nur so im Wind flattern“ (ebd., 9. DS). „‚Und, Beppo, es tut mir Leid, dass ich mit dir geschimpft habe, nur weil du einmal nicht fröhlich sein konntest‘, sagt er noch“ (ebd., 11. DS). Da es sich allerdings um ein sehr bekanntes strukturelles Muster handelt, ist es fraglich, ob es sich hierbei um eine Übernahme aus dem Bilderbuchtext in anderen Kontexten handelt. Ein weiteres strukturelles Muster, von dem Kira in ihrer Textproduktion mehr‐ fach Gebrauch macht (und zwar achtmal), ist die Kombination aus einem Nomen und einem bestimmten Artikel ([bestimmter Artikel + Subjekt]). Kira greift auf dieses Muster jedes Mal zurück, wenn sie eine einzelne neue Person in den Text einführt, bzw. wenn diese zum ersten Mal in der Geschichte vorkommt: der […] clown beppo (1. DS), der drache […] zickzack (1. DS), die seiltänzerin (2. DS), der zirkusdirektor (11. DS). Der Gebrauch des Musters in diesem Zusammenhang bewirkt, dass beim Leser die Vorstellung erzeugt wird, ihm seien die Figuren bereits bekannt. Bei der ersten Erwähnung von Personengruppen gebraucht Kira die Muster die menschen in der stadt (6. DS) und die kinder (10. DS), nicht aber bei paar männer (7. DS). Bis zur achten Doppelseite verwendet Kira immer den bestimmten Artikel, wenn sie einen der beiden Protagonisten erwähnt, außer wenn sie ein Personalpronomen oder ein Demonstrativpronomen verwendet. Auf der achten Doppelseite verwendet sie zum ersten Mal die Formulierung Clown Beppo ohne Artikel und auf der neunten Doppelseite den Namen Zick-Zack ohne Artikel. Die 3.1 Textanalysen 329 <?page no="330"?> weiteren zwei Nennungen von Clown Beppo sowie die weiteren Nennungen von Zick-Zack bleiben ebenfalls artikellos. Auffällig ist, dass Kira kein einziges Mal einen unbestimmten Artikel verwendet. Im Bilderbuchtext wird der bestimmte Artikel ebenfalls verwendet bei der ersten Nennung der folgenden Figuren: „Aurelia, die Seiltänzerin“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 2. DS), „die Zuschauer“ (ebd., 5. DS), „die Leute“ (ebd., 6. DS, 7. DS), „der Direktor“ (ebd., 11. DS). Clown Beppo und Zick-Zack werden hingegen im Gegensatz zu Kiras Text nicht mit dem bestimmten Artikel eingeführt. Auch wird im Bilderbuchtext an keiner Stelle ein Artikel vor den Ausdruck Clown Beppo oder den Namen Beppo gesetzt. Der Drache wird im Bilderbuchtext dreimal in Kombination mit einem bestimmten Artikel genannt: „Der Drache Zick-Zack“ (ebd., 1. DS), „der kleine Drache“ (ebd., 2. DS), „der Drache“ (ebd., 9. DS). Die häufige Verwendung des strukturellen Musters [bestimmter Artikel + Nomen], durch die Kiras Text geprägt ist, ist somit kein Stilmittel des Bilderbuchtextes. Im Bilderbuchtext wird dieses strukturelle Muster zehnmal verwendet. Dreimal wird die Konstruktion dabei von Kira im gleichen Kontext verwendet: die Seiltänzerin (2. DS), die Kinder (10. DS), der Zirkusdirektor (11. DS). Von einmaligem Gebrauch eines strukturellen Musters, das im Bilderbuch vor‐ kommt, kann in folgendem Fall gesprochen werden: Das strukturelle Muster [„aber“ + Hauptsatz] verwendet Kira einmal in folgender Satzkonstruktion: DA/ da/ da hörte e/ er paar MÄNNER lachen [.] und fragte er a/ a/ aber/ aber/ aber sie lachten nur. [blättert um] (7. DS). Durch den Gebrauch der Konjunktion aber macht Kira den Gegensatz zwischen Clown Beppos Erwartungen und der Realität deutlich. Das Muster lässt sich im Bilderbuch in zwei anderen Kontexten finden. Dabei fällt auf, dass dieses jedoch in Kiras Text jeweils in eine andere Satzkonstruktion eingebettet ist als im Bilderbuchtext. Dort folgt das Muster stets auf direkte Rede. „‚Und du vielleicht, Arnold? ‘ Aber der schüttelt nur den Kopf und dabei lodert eine leuchtend rote Flamme aus seinem Mund.“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 4. DS) „‚Dort könnte Zick-Zack sein.‘ Aber drinnen herrscht ein schreckliches Gewühl.“ (Ebd., 6. DS) Da es sich nicht um eine für das Buch charakteristische sprachliche Struktur handelt, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass hier eine Übernahme aus dem Bilderbuch im neuen Kontext stattfand. Mehrmaliger Gebrauch einer Variation eines strukturellen Musters, das im Bil‐ derbuch vorkommt, lässt sich einmal identifizieren. Kira strukturiert ihre Text‐ produktion auch durch den fünffachen Gebrauch des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb]. Dieses lässt sich in der Terminologie Dehns, Merklingers 330 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="331"?> und Schülers (2011) ebenfalls als „Muster zur zeitlichen Gliederung“ (Dehn/ Merklinger/ Schüler, S. 9) beschreiben. Das Temporaladverb dann wird im Bil‐ derbuchtext lediglich einmal in einer anderen sprachlichen Struktur gebraucht: „Und am lautesten lachen sie, wenn das rohe Ei, das Beppo in die Luft geworfen hat, mitten auf seinem Hut landet und dann langsam heruntertropft“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 3. DS). Anders als in Kiras Textproduktion wird es im Bilderbuch‐ text nicht am Satzanfang gebraucht. Hinsichtlich des Gebrauchs sprachlicher und struktureller Muster in Kiras Text im Vergleich zum Bilderbuchtext sind zwei weitere Beobachtungen auffällig: Erstens verwendet Kira in ihrer Textproduktion kein einziges Adjektiv, obwohl der Bilderbuchtext mehrfach, nämlich 17-mal, die strukturellen Muster [Ad‐ jektiv + Nomen] und [Adjektiv + Verb] aufweist (vgl. digitaler Anhang). Zweitens verwendet Kira von den zahlreichen (21) im Bilderbuch enthaltenen Phraseologismen und üblichen sprachlichen Wendungen (vgl. digitaler Anhang) lediglich die folgenden sechs sprachlichen Muster bzw. Variationen dieser: „Kunststücke üben“ (1. DS), „Kunststücke vorführen“ (1. DS, 11. DS), „jemanden lachen hören“ (3. DS), „seinen Augen nicht trauen“ (8. DS), „ein Stöckchen (Holzstück) balancieren“ (8. DS) und „an jemanden vorbeieilen“ (6. DS). Als erzähltypisches Muster konnte in Kiras Textproduktion der Gebrauch direkter Rede identifiziert werden. Kira macht lediglich an einer einzigen Stelle Gebrauch von direkter Rede. Sie greift dabei auf direkte Rede mit nachgestelltem Begleit‐ satz zurück, die im Bilderbuch am häufigsten enthaltene Form von direkter Rede: ‚warum bist du nicht im/ warum bist du nicht im zirkuszelt‘, fragten die KINder (10. DS). Der Anteil an direkter Rede ist in Kiras Textproduktion im Vergleich zum Bilderbuchtext deutlich geringer. Mit Hilfe der direkten Rede vermittelt Kira ähnliche Inhalte wie im Bilder‐ buch, die im Bilderbuch ebenfalls als direkte Rede formuliert sind (Fall 1). Auffällig ist, dass sie hier fast wortwörtlich die Formulierung aus dem Bilder‐ buch übernimmt. Im Bilderbuchtext steht: „‚Du bist ja ein echter Clown! Warum bist du denn nicht im Zirkus‘, fragen die Kinder.‘“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 10. DS). Die Unterschiede zwischen Kiras Satz und dem des Bilderbuches liegen darin, dass Kira anstelle des Nomens Zirkus das zusammengesetzte Nomen Zirkuszelt verwendet, bei dem es sich zusätzlich um eine Alliteration handelt, und anstatt des Präsens Gebrauch vom Präteritum macht. Im Begleitsatz verwendet Kira lediglich einmal das unspezifische Verb fragen, das im Bilderbuch mehrfach in Begleitsätzen vorkommt (vgl. Tabelle 14 im digitalen Anhang). 3.1 Textanalysen 331 <?page no="332"?> Ein weiteres Muster der dritten Ebene ist das Stellen von Fragen, die un‐ beantwortet bleiben. Zweimal bildet Kira eine Frage (einmal in Form von indirekter, einmal in Form von direkter Rede), auf die keine Antwort folgt - weder als direkte noch indirekte Rede: dann fragte der drache äh zickzack ihn, weil er auch kunststücke (1. DS). warum bist du nicht im/ warum bist du nicht im zirkuszelt [? ]‘, fra/ fragten die KINder (10. DS). Da dieses Element mehrfach im Kindertext auftritt, jedoch weder ein sprachliches, strukturelles oder erzähltypi‐ sches Muster ist, wird es der Gruppe weitere Muster der dritten Ebene zugeordnet. Im Bilderbuchtext hingegen bleiben Fragen nicht unbeantwortet. Kiras Text enthält verschiedene strukturelle Muster, von denen sie mehrfach Gebrauch macht. Sehr auffällig an Kiras Text ist der häufige Gebrauch von zwei strukturellen Mustern zur zeitlichen Gliederung: [„Dann“ + Verb] und [„Da“ + Verb]. Das erste kommt im Bilderbuchtext einmal in variierter Form vor (vgl. Schwarz/ Wenisch 2002, 3. DS), während das zweite im Bilderbuchtext dreimal in der gleichen Form und einmal in Variation enthalten ist (vgl. ebd. 6., 8., 8., 9. DS). Außerdem verwendet Kira mehrfach das strukturelle Muster [„Und“ + Verb] zur Verknüpfung von Aussagen, das im Bilderbuch mehrfach in anderen Kontexten vorkommt. Neben dem mehrfachen Gebrauch dieser drei strukturellen Muster, die den Text gliedern bzw. Aussagen miteinander verknüpfen, weist Kiras Text zum einen zweimal das strukturelle Muster [„wieder“ + Verb] auf. Dieses wird in anderen Kontexten verwendet als im Bilderbuchtext. Zum anderen wird die Struktur [bestimmter Artikel + Nomen] von Kira bis zur achten Doppelseite durchgängig für Figuren verwendet - außer beim Gebrauch von Personalpronomen oder Demonstrativpronomen. Im Bilderbuchtext wird dieses strukturelle Muster in viel geringerem Maße verwendet. Die Beobachtungen zum Gebrauch sprachlicher Muster lassen sich wie folgt zusammenfassen. Kiras Textproduktion weist den mehrfachen Gebrauch ver‐ schiedener sprachlicher Muster auf, die im Bilderbuchtext vorkommen. Das Muster jemanden lachen hören wird von Kira im gleichen Kontext wie im Bilderbuchtext gebraucht und zusätzlich in einem neuen Kontext verwendet. Das sprachliche Muster in der Stadt wird zwar zweimal im gleichen Kontext wie im Bilderbuch gebraucht, wird von Kira aber in beiden Fällen in eine neue syntaktische Struktur eingebunden. Den Ausdruck Clown Beppo, der im Bilder‐ buch lediglich zweimal vorkommt, wird von Kira sechsmal in neuen Kontexten verwendet und wird somit weitaus häufiger als im Bilderbuch verwendet. Der mehrfache Gebrauch einer Variation eines sprachlichen Musters aus dem Bilderbuchtext ist in Kiras Textproduktion beim Ausdruck Zick-Zack und Clown Beppo zu beobachten. Dabei ist auffällig, dass der variierte Ausdruck von Kira 332 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="333"?> gleich zweimal verwendet wird, während sie auf die Formulierung aus dem Bilderbuch „Zick-Zack und Beppo“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 11. DS) hingegen nicht zurückgreift. Auffällig ist ebenfalls der einmalige Gebrauch des Phraseologismus seinen Augen nicht trauen, der auch im Bilderbuch im gleichen Kontext enthalten ist und von Kira nicht in eine neue syntaktische Struktur eingebaut wird. Zudem verwendet Kira einmalig die im Bilderbuch enthaltene übliche Wortverbindung an jemandem vorbeieilen, die von Kira in eine neue syntaktische Struktur einge‐ bunden wird. Mit Blick auf erzähltypische Muster fällt auf, dass der Bilderbuchtext einen sehr viel höheren Anteil an direkter Rede aufweist als der Text von Kira. Dreimal greift Kira auf andere sprachliche Mittel zurück, um den im Bilderbuch mit Hilfe von direkter Rede dargestellten Inhalt zum Ausdruck zu bringen. Bei der einzigen Stelle, an der Kira direkte Rede verwendet, scheint es sich um eine fast wörtliche Übernahme aus dem Bilderbuchtext zu handeln. Zusammenfassend lässt sich in Kiras Textproduktion eine starke Tendenz zur mehrfachen Verwendung struktureller und sprachlicher Muster erkennen. Diese sind zum Großteil auch im ihr zuvor vorgelesenen Bilderbuch Clown Beppo enthalten. Sie werden von Kira in gleichen und neuen Kontexten verwendet, selten variiert und teilweise in neue syntaktische Strukturen eingebunden. Kiras Text enthält einige wenige Hinweise, die auf Leserorientierung hindeuten. So hebt sie ein paar einzelne Wörter durch besondere Betonung hervor. Jedoch scheinen die meisten Betonungen für den Text nicht funktional zu sein. In der folgenden Textpassage wird durch besondere Betonung des Namens BEPPO betont, dass dieser den Drachen sucht: und da: nn/ dann/ dann suchte der clown BEPPO den zickzack. [blättert um] (4. DS) Bei Clown Beppo handelt es sich um den Protagonisten der Handlung und bei der Suchak‐ tion um eine zentrale Handlung der Geschichte. Zudem setzt Kira eine Anapher beginnend mit dem Adverb da funktional ein: Durch den Gebrauch dieser Anapher stellt sie die beiden inhaltlich zusammenhängenden Sätze auch auf sprachlicher Ebene in einen Zusammenhang. Es lassen sich verschiedene Elemente konzeptioneller Schriftlichkeit in Kiras Textproduktion identifizieren. Obwohl der Text des Bilderbuches komplett im Präsens verfasst ist, stehen 17 der 18 von Kira verwendeten Verben der Erzählerrede im Präteritum. Nur ein einziges Verb der Erzählerrede steht im Präsens. Kira wird durch das Setting somit herausgefordert, überwiegend die typische Erzählzeit Präteritum zur Wiedergabe von Erzählerrede zu gebrauchen. Konzeptionelle Schriftlichkeit wird an dieser Stelle herausgefordert. 3.1 Textanalysen 333 <?page no="334"?> Auffällig sind die bereits erwähnten sprachlichen Muster an jemandem vor‐ beieilen und seinen Augen nicht trauen, die sowohl im Kindertext als auch im Bilderbuchtext vorkommen. Sie sind dem gehobenen Sprachregister zuzu‐ ordnen. Der bereits beschriebene Wechsel vom Gebrauch der bestimmten Artikel in Kombination mit den Namen bzw. Berufsbezeichnungen (Clown) der Protagonisten hin zum artikellosen Gebrauch dieser, lässt sich als eine stärkere Verschiebung in die konzeptionelle Schriftlichkeit bezeichnen. Kiras Geschichte besteht aus 17 Hauptsätzen und zwei Nebensätzen. Beim Vergleich der beiden von Kira verwendeten hypotaktischen Satzkonstruktionen mit den inhaltlich äquivalenten Passagen des Bilderbuchtextes lassen sich die im Folgenden beschriebenen Beobachtungen machen (vgl. Tabelle 15 im digitalen Anhang). Die erste von Kira gebildete hypotaktische Satzkonstruktion besteht aus einem Hauptsatz und einem durch die Konjunktion weil eingeleiteten Kausalsatz: äh dann/ dann fragte der drache äh zickzack ihn, weil er auch kunststücke (1. DS). Im Bilderbuchtext wird ein ähnlicher Inhalt hingegen mit Hilfe einer parataktischen Satzkonstruktion vermittelt: „‚Wann darf ich endlich auch Kunststücke vorführen? ‘, fragt er, „den ganzen Abend auf dich warten ist so langweilig“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 1. DS). An dieser Stelle ist die von Kira gewählte Satzkonstruktion somit in einem stärkeren Maße kon‐ zeptionell schriftlich als die des Bilderbuchtextes. Ein mit der Konjunktion weil eingeleiteter Kausalsatz ist im Bilderbuch in einem anderen Kontext enthalten (vgl. Tabelle 15 im digitalen Anhang): „‚Und, Beppo, es tut mir Leid, dass ich mit dir geschimpft habe, nur weil du einmal nicht fröhlich sein konntest‘, sagt er noch“ (ebd., 11. DS). Aufgrund der fehlenden inhaltlichen und sprachlichen Nähe der beiden Satzkonstruktionen scheint es jedoch unwahrscheinlich zu sein, dass es sich bei Idas Satzkonstruktion um eine Übernahme eines strukturellen Musters aus einem anderen Kontext aus dem Bilderbuch handelt. Dagegen spricht zudem die Tatsache, dass es sich bei mit weil eingeleiteten Kausalsätzen um ein im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch weit verbreitetes sprachliches Mittel handelt. An der zweiten Stelle (und/ u/ u/ und der zirkusdirektor [.] freute sich wieder, dass zickzack und clown beppo [? ] wieder da sind. (11. DS)) handelt es sich sowohl in Kiras Text als auch im Bilderbuchtext um eine hypotaktische Satzkonstruktion bestehend aus einem Hauptsatz und einem mit der Konjunktion dass eingeleiteten Konsekutivsatz: „Der Direktor freut sich, dass die beiden Freunde wieder zusammen sind“ (Schwarz/ Wenisch 2002, 11. DS). An dieser Stelle ist aufgrund der starken 334 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="335"?> (strukturellen und inhaltlichen) Ähnlichkeit der beiden Satzkonstruktionen eine Orientierung Kiras an der Satzkonstruktion des Bilderbuches zu vermuten. Kira hält die Monologizität während des ganzen „Vorleseprozesses“ aufrecht. Sie wechselt lediglich nach dem „Vorlesen“ des Textes zur ersten Doppelseite aus dem Vorlesemodus in den Dialogmodus, indem sie die Frage was da: nn? [blättert um] stellt. Dabei richtet Kira den Blick jedoch nicht zu der Zuhörerin oder dem Zuhörer, sondern richtet ihren Blick weiterhin auf das Bilderbuch. Sie blättert um, schaut die zweite Doppelseite an, blickt in die Kamera und formuliert den nächsten Satz, während ihre Augen weiterhin in die Kamera blicken. Die Pause zwischen ihrer Frage und ihrem nächsten geäußerten Satz beträgt nur zwei Sekunden. Aus diesen Gründen ist anzunehmen, dass Kira zwar für einen kurzen Moment aus der Vorlesesituation heraustritt, aber nicht in einen Dialog mit der Zuhörerin tritt, sondern die Frage eher an sich selbst richtet. Ihre Äußerung könnte somit als lautes Denken interpretiert werden. Kira strukturiert ihre Textproduktion durch den fünffachen Gebrauch des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb] sowie den fünffachen Gebrauch des strukturellen Musters [„Da“ + Verb]. So sichert sie die Monologizität ihres Textes ab. An Kiras Äußerungen im Zusammenhang mit ihrer Textproduktion zeigen sich Textüberarbeitungsspuren. Das Verwerfen von bereits formulierten Textteilen und Formulierungen deutet auf ein Pendeln zwischen dem distalen und dem proximalen Term hin (vgl. I.6.2). Zuerst liegt der Fokus auf d, der Schreibidee, dem auszudrückenden Gedanken, der zu erzielenden Wirkung, der zu erfüllenden Funktion. Dies führt dazu, dass eine Formulierung hervorgebracht wird. An‐ schließend wird die Formulierung im Lichte von d geprüft. Dies führt in den folgenden Fällen zu Überarbeitungen - zum Hervorbringen eines neuen proxi‐ malen Terms. Bei Kiras Textproduktion zeigen sich folgende Überarbeitungen, die nacheinander beschrieben und kategorisiert werden. Beim Formulieren der folgenden Textpassage nimmt Kira gleich mehrere Überarbeitungen vor: und er ha/ da/ dann/ dann hängte der zickzack seine/ seine/ äh seine stacheln [? ] (3. DS). Erstens verändert Kira den Satzanfang. Zuerst beginnt sie den Satz mit der Konjunktion und, schließlich greift sie auf das bereits mehrfach verwen‐ dete strukturelle Muster [„Dann“ + Verb] zurück. Auf diese Weise ordnet sie die Geschehnisse in den zeitlichen Zusammenhang - nämlich ein zeitliches Nacheinander - ein. Der Gebrauch der Konjunktion und hingegen hätte offen gelassen, ob die Ereignisse nacheinander oder zeitgleich stattfinden. Hier findet durch die Überarbeitung somit eine Spezifizierung statt. Hintergrundbewusst 3.1 Textanalysen 335 <?page no="336"?> 151 Es ist jedoch nicht komplett auszuschließen, dass es sich bei dem von Kira gebrauchten Wort da/ auch um den Anfang des Wortes dann handeln könnte. scheinen hier vorangegangene Texterfahrungen gewirkt zu haben - vielleicht sogar der bereits verfasste Text, da Kira bis zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal auf das Muster [„Dann“ + Verb] zurückgegriffen hat. Die Überarbeitung des Satzanfanges lässt sich als inhaltliche Überarbeitung bezeichnen. Auffällig bei der Überarbeitung des Satzanfanges ist zudem, dass Kira zu‐ nächst das Adverb da gebraucht, dieses dann verwirft und durch das Temporal‐ adverb dann ersetzt. 151 Unklar ist an dieser Stelle, ob es sich beim Adverb da um ein Temporaladverb oder ein Lokaladverb handelt. Im Falle eines Lokalad‐ verbs hätte Kira es durch einen anderen Ausdruck ersetzt, der eine ähnliche Funktion erfüllt, jedoch nicht dieselbe Bedeutung hat. In diesem Fall hätte die Überarbeitung zu einer kleinen Bedeutungsverschiebung geführt. Handelte es sich hingegen um ein Lokaladverb, wäre da ein deiktischer Ausdruck. Damit wäre es nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine stilistische Überarbeitung in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit. Da jedoch keine Zeigegesten von Kira in der Situation beobachtet werden können, kann nur die Vermutung geäußert werden, dass es sich bei dem Ausdruck da um ein Temporaladverb handelt, weil es noch mehrere Male in der Textproduktion ähnlich wie das strukturelle Muster [„Dann“ + Verb] verwendet wird. Zweitens scheint Kira zunächst dabei zu sein, eine Perfektkonstruktion zu bilden: Es ist naheliegend, dass es sich bei der Äußerung und er ha/ (3. DS) ursprünglich um die Äußerung „und er hat“ handeln sollte, die Kira jedoch im Wort abgebrochen hat. Im zweiten Versuch, den Satz zu bilden, wählt Kira stattdessen die Präteritumform des Verbes hängen. Es handelt sich um eine stilistische Überarbeitung. Auf diese Weise weist der überarbeitete Textausschnitt eine stärkere konzeptionelle Schriftlichkeit auf als der erste Formulierungsversuch. Drittens verwendet Kira in ihrer überarbeiteten Formulierung anstatt des Personalpronomens er die Formulierung der Zick-Zack. Mit Blick auf das Subjekt des vorangegangenen Satzes (die Seiltänzerin), wird deutlich, dass Kiras Über‐ arbeitung dem besseren Verständnis der Zuhörerin oder des Zuhörers dient. Durch diese Überarbeitung wirkt sie (implizit) möglichen Mehrdeutigkeiten entgegen. Es handelt sich somit um eine Überarbeitung zur Erleichterung des Verstehensprozesses und könnte auch als Hinweis auf eine vorhandene Leserori‐ entierung gedeutet werden. Bei der Korrektur der Präteritumform laufte zur Präteritumform läufte handelt es sich um eine grammatische Überarbeitung: da hörte clown 336 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="337"?> beppo [? ] [.] kinder lachen. in die richtung laufte/ l ä u f t e [.] clown beppo. (7. DS) Die Bildung der Präteritum‐ form ist nun regelmäßiger, da die dritte Person Singular Präsens läuft und nicht lauft lautet. Kira wurde durch die Pretend-Reading-Situation zur Produktion eines monolo‐ gischen Textes herausgefordert, der - bis auf zwei Leerstellen - aus sich heraus verständlich ist. Es wurde deutlich, dass Kira - zwar nicht durchgängig, aber überwiegend - Kohärenz herstellt, die ein wichtiges Merkmal von Textualität darstellt (vgl. Fix 2008). Kiras Können zeigt sich nicht nur in der Reproduktion von Mustern im gleichen Zusammenhang wie im Bilderbuch. Es wird insbeson‐ dere an den Stellen deutlich, an denen Kira ein (mit hoher Wahrscheinlichkeit) aus dem Bilderbuch stammendes Muster funktional in anderen Kontexten einsetzt oder dieses in eine neue syntaktische Struktur einbindet. Der mehrfache funktionale Gebrauch eines Musters in verschiedenen Kontexten der Geschichte - insbesondere, wenn es sich um andere Kontexte als im Bilderbuchtext selbst handelt - deutet darauf hin, dass bei Kira im Sinne von Polanyi (vgl. I.6; Neuweg 2004; Polanyi 1985) eine implizite Verbindung zwischen dem Muster (p) und seiner Funktion (d) besteht. Dass Kira die Erzählerrede ihres Textes fast aus‐ schließlich im Präteritum gestaltet, während das Bilderbuch selbst im Präsens geschrieben ist, lässt darauf schließen, dass Kira durch ihre vorangegangene Erfahrung mit Texten über ein implizites Wissen über das typische Tempus bei Erzählungen verfügt. Dieses zeigt sich in ihrem Können. 3.1.3 Textanalyse III: He Duda von Ida Ida ist zum Zeitpunkt der Durchführung der Pretend-Reading-Situation mit der oder dem Erwachsenen fünf Jahre und vier Monate alt. Ihre Familiensprache ist Deutsch. Sie hat ein Geschwisterkind, das elf Jahre alt ist. Die Herkunftsregionen der Eltern liegen in Deutschland. Ida besucht eine Kindertagesstätte. Im Haus‐ halt gibt es nach Angaben der Eltern 20 bis 40 Bilder- oder Kinderbücher. Idas Mutter hat Fachabitur und ihr Vater einen Realschulabschluss. Nach Angaben der Eltern wird dem Kind fünfbis sechsmal in der Woche ein Buch oder eine Geschichte vorgelesen, und zwar überwiegend durch den Vater. Einmal im Monat wird Ida eine Geschichte erzählt. Ida tut manchmal so, als würde sie (jemandem) ein Buch vorlesen und bezeichnet diese Tätigkeit nach Angaben der Eltern als vorlesen. Sie tut manchmal so, als würde sie ihren Kuscheltieren Bilderbücher vorlesen. Die oder der Studierende kannte Ida seit vier Jahren, hatte aber vor Durchführung der Pretend-Reading-Situation keinen Kontakt zu ihr. Die Pretend-Reading-Situation fand im Wohnzimmer der Familie statt. 3.1 Textanalysen 337 <?page no="338"?> Im ersten Schritt der Pretend-Reading-Situation informiert die oder der Erwachsene Ida über das geplante Vorgehen. E: super. also, du setzt dich jetzt erst mal auf unseren kleinen äh zuhörerplatz und ich bin jetzt dein vorleser. ich sitze jetzt auf unserem vorlesesessel. und du hast dir ja jetzt das buch he duda ausgesucht und ICH lese dir das jetzt vor. und wenn ich das vorgelesen hab/ , DANN versuchst du mir das vorzulesen. okay [? ] dann darf ich das buch haben? dankeschön. I: [überreicht E das Bilderbuch] bitte. Im zweiten Schritt liest die oder der Erwachsene Ida das komplette Bilderbuch He Duda vor. He Duda (Jon Blake/ Axel Scheffler) He Duda wusste nicht, was er war. - „Bin ich ein Affe? “, dachte er. „Bin ich ein Koala-Bär? “ „Bin ich ein Stachel‐ schwein? “ (1. DS) - He Duda wusste nicht, wo er wohnen sollte. „Soll ich in einer Höhle wohnen? “, dachte er. „Oder in einem Nest? “ „Oder in einem Spinnennetz? “ - He Duda wusste nicht, was er essen sollte. „Soll ich Fisch essen? “, dachte er. „Oder Kartoffeln“? „Oder Würmer? “ (2. DS) - He Duda wusste nicht, warum er so große Füße hatte. „Vielleicht zum Was‐ serskifahren? “, dachte er. - „Vielleicht als Sitz für Mäuse? “ „Vielleicht als Regenschutz? “ (3. DS) - He Duda sah die Vögel im Baum und beschloss, auf einem Baum zu wohnen. - He Duda sah, dass die Eichhörnchen Ei‐ cheln aßen, und beschloss, Eicheln zu essen. Aber warum er so große Füße hatte, wusste er immer noch nicht. (4. DS) Lange Luda sah nach oben. He Duda winkte. - Lange Luda begann den Baum hin‐ aufzuklettern. Die anderen Kaninchen streckten die Nasen aus ihren Löchern und zitterten. (7. DS) - „Hallo! “, sagte He Duda zu Lange Luda. „Bist du ein Dachs? “ „Oder ein Elefant? “ „Oder ein schnabliges Schnabeltier? “ - Lange Luda kam näher. „Nein, mein Freund! “, flüsterte sie. „Ich bin ein Wiesel.“ „Wohnst du in einem Teich? “, fragte He Duda. „Oder auf einem Damm? “ „Oder in einer Hundehütte? “ (8. DS) - Lange Luda kam noch näher. „Nein mein Freund“, zischte sie. „Ich wohne in der dunkelsten Ecke des Waldes.“ „Frisst du Kohl? “, fragte He Duda. „Frisst du Insekten? “ „Frisst du Obst? “ - Lange Luda kam direkt auf He Duda zu. „Nein mein Freund“, fauchte sie. „Ich fresse Kaninchen! Kaninchen wie dich! “ He Duda wurde blass. „Bin ich … ein Kaninchen? “, stotterte er. (9. DS) 338 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="339"?> Eines Tages war auf der Waldlichtung alles in heller Aufregung. Alle Kanin‐ chen versammelten sich unter He Dudas Baum. „He Duda! Du musst so‐ fort runterkommen! “, riefen sie. „Da‐ hinten kommt das lange Luder! “ „Lange Luda? “, frage He Duda. „Wer ist denn das? “ Aber die Kaninchen waren viel zu aufgeregt, um zu antworten. Sie rannten in alle Richtungen davon und verschwanden in ihren Löchern. (5. DS) - He Duda blieb auf seinem Baum sitzen, knabberte noch eine Eichel und dachte über seine großen Füße nach. - Lange Luda kroch aus dem Gebüsch. Ihre Zähne waren so scharf wie Glas‐ splitter und ihre Augen waren so schnell wie Flöhe. Lange Luda schlich um die Löcher, aber kein Kaninchen ließ sich blicken. (6. DS) - Lange Luda nickte … und leckte sich die Lippen … und sprang! (10. DS) - He Duda musste nicht lange über‐ legen. Blitzschnell dreht er sich um und schlug mit seinen Riesenfüßen aus. Lange Luda segelte durch die Luft, weit weit weg, dahin zurück, wo sie herge‐ kommen war. (11. DS) - Die anderen Kaninchen hüpften herum und schrien Hurra und umarmten sich. „He Duda, du bist ein Held! “, riefen sie. - „Wie komisch“, überlegte He Duda. „Ich dachte, ich wäre ein Kaninchen.“ (12. DS) Im dritten Schritt fordert die oder der Erwachsene Ida auf, nun das Bilderbuch „vorzulesen“. Dies geht folgendermaßen vonstatten. E: so, das war jetzt einmal die geschichte von he duda, die hab/ ich dir ja jetzt vorgelesen. und jetzt bist du an der reihe. jetzt tauschen wir die plätze. jetzt bist du unser vorleser. und jetzt tust du so, als ob du das buch vorlesen würdest. I: mhm E: genau I: [schlägt das Buch auf] [7] ich weiß es nicht. E: tu/ einfach so, als ob du das vorlesen würdest. als ob du das könntest. Ida äußert zunächst, dass sie „es“ nicht wisse. „Es“ bezieht sich offenbar auf die vorgelesene Bilderbuchgeschichte. Ob sich Ida in dem Moment nicht an den (genauen) Inhalt der ersten Doppelseite, den (genauen) Inhalt des ganzen Buches oder aber die exakten sprachlichen Formulierungen erinnern kann, bleibt offen. Nachdem die oder der Erwachsene Ida jedoch auffordert, sie solle so tun, als würde sie „das“ (vermutlich das Bilderbuch) vorlesen und im Nachsatz ergänzt als ob du das könntest, beginnt Ida mit der Textproduktion. 3.1 Textanalysen 339 <?page no="340"?> Der grammatischen Analyse von Idas Textproduktion geht eine kurze Zusam‐ menfassung des Inhalts ihrer Narration voraus, da diese zum Teil vom Inhalt des Bilderbuches He Duda abweicht. Ida „liest“ die Geschichte von He Duda „vor“, der sich fragt, ob er ein Affe, ein Stachelschwein oder ein Koalabär sei. Des Weiteren überlegt er, ob er in einer Höhle, in einem Nest oder einem Spinnennetz wohnen soll. Als Drittes fragt er sich, was er essen sollte - Fisch, Regenwürmer oder Kartoffeln. Anschließend überlegt er, wofür er so lange Beine benötigt. He Duda sieht Vögel in einem Baum sitzen und Eichhörnchen Haselnüsse knabbern und überlegt, ob er auf einem Baum wohnen möchte. Dann geht He Duda in sein Hasendorf. Die Hasen dort sind aufgeregt, lassen ihn wissen, dass das lange Tier wieder da ist und verstecken sich in ihren Höhlen. Das lange Tier kommt aus einem Gebüsch. He Duda hingegen isst weiter Haselnuss. Dann klettert das lange Tier den Baum hinauf und He Duda winkt ihm zu. Er denkt erneut darüber nach, was für ein Tier er ist und wo er wohnt. Anschließend fragt das lange Tier He Duda, was er gerne isst. Dann springen sowohl das lange Tier als auch He Duda. Die Geschichte endet damit, dass He Duda fort ist. Ida verwendet keine Überschrift. Sie startet mit der Textproduktion auf der ersten Doppelseite: [3] ich/ als ich ein/ [deutet mit dem Zeigefinger auf das Bild des Koalabären und zieht den Finger wieder weg] [.] als ich ein AFFE wä: r? [I platziert den Daumen auf dem Bild des Affen] oder ob ich ein stachel [.] schwein wär? [zeigt auf Bild] oder ein koalabär? [hoch ab ‚Ich‘, zeigt auf das Bild des Koalabären, lacht kurz, während sie ‚ala‘ sagt, schaut E an] [2] denkte he duda [blättert um ab ‚denkte‘] Ida beginnt ihre Geschichte mit drei Fragen, die in direkter Rede formuliert sind. Zwei dieser Fragen weisen durch den Gebrauch der subordinierenden Konjunktion ob und des Verbes sein im Konjunktivs II (wär) sowie durch die Satzstellung Merkmale von indirekter Rede auf. Die dritte Frage ist mit einem nachgestelltem Redebegleitsatz verbunden, aus dem hervorgeht, dass es sich bei den drei geäußerten Fragen um Gedanken von He Duda handelt. Der Protagonist He Duda wird nicht näher beschrieben. Auf der aufgeschlagenen Bilderbuchseite, zu der Ida den Text produziert, ist auf der linken Seite das Kaninchen He Duda mit einem fragenden Gesichtsausdruck abgebildet. Auf der rechten Seite sind ein Koalabär an einem Baumstamm, ein Affe an einem Ast und ein Stachelschwein zu sehen, auf die Ida jeweils beim Nennen der entsprechenden Tiere deutet. Während Ida die Wörter denkte he duda (1. DS) spricht, blättert sie die Seite um. Idas Textproduktion zur zweiten Doppelseite lautet folgendermaßen: [2] und wusste nicht, wo er wohnen sollte. in einer dunklen 340 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="341"?> höhle? [deutet auf das Bild der Höhle] in einem/ oder in einem NEst? [zeigt auf das Bild des Nestes] oder in einem spinnennetz [zeigt auf das Bild des Spinnennetzes] ? oder/ [2] oder was er essen sollte. ‚fisch [zeigt auf das Bild mit Fisch] oder regenwürmer [zeigt auf das Bild mit Regenwürmern] oder kartoffeln [zeigt auf das Bild mit Kartoffeln] ‘, sagte er. [blättert um] [4] Ida bildet den Satz, den sie zur ersten Doppelseite produziert hat, nun über die Seitengrenze hinaus und bindet die erste Formulierung, die sie zur zweiten Doppelseite formuliert, mit der Konjunktion und an den vorangehenden Inhalt an. Durch den Gebrauch des Personalpronomens er, das sich auf das Subjekt des vorangegangenen Satzes (He Duda) bezieht, stellt sie Kohäsion her. Ida bildet eine hypotaktische Satzkonstruktion mit einem durch das Interrogativadverb wo eingeleiteten Interrogativsatz. Inhaltlich thematisiert sie He Dudas Frage nach einem geeigneten Wohnort für sich. Sie nennt drei Alternativen und deutet dabei jeweils mit dem Finger auf das genannte Objekt. Die Frage nach geeigneter Nahrung von He Duda schließt Ida mit einer Ellipse an. oder was er essen sollte (2. DS). Auch hier nennt sie anschließend drei Alternativen und deutet jeweils mit dem Finger auf die entsprechende Abbildung auf der Bilderbuchseite. Ida „liest“ zur dritten Doppelseite den folgenden Text „vor“: nun [.] dachte er, für was er so lange BEINE bräuchte. zum ski: wasserfahrn? zum regenmacher? oder z/ zum hinsetzen. [schaut E an] [blättert um] [3] Diesen Sinnabschnitt bindet Ida mit dem Temporaladverb nun an den voran‐ gegangenen Teil der Geschichte an und ordnet ihn auf diese Weise in einen zeitlichen Zusammenhang ein. Auch hier nennt Ida drei Alternativen. Zur vierten Doppelseite formuliert Ida folgenden Text: dann siehtete he duda, wie die vögel auf dem baum schön sitzen. der eine ha/ , eine eule [zeigt auf das Bild der Eule im Baum] , da/ . und dann ging er weiter. dann siehte he duda die eich [.] hörnchen HASELNUSS knabberten. [2] also denkte er sich vor, ob er vielleicht auf einem BAUM wohnen will/ [.] wollte. [blättert um] [4] Ida markiert durch den Gebrauch des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb] einen neuen Sinnabschnitt und ordnet das neue Geschehen somit in einen zeitlichen Zusammenhang ein. He Duda sieht die Vögel schön auf dem Baum sitzen. Das sprachliche Muster schön sitzen ist im deutschen Sprachgebrauch nicht üblich. Ida stellt mit dem Gebrauch dieser Formulierung die Attraktivität der Aktivität des „Auf-dem-Baum-Sitzens“ heraus. Sie beendet den Abschnitt 3.1 Textanalysen 341 <?page no="342"?> mit He Dudas Überlegung, ob er auch auf dem Baum wohnen will. Das „schön Sitzen“, das ihm offenbar gefällt, könnte somit als Grund für seine Überlegung gedeutet werden. Nachdem Ida die Vögel im Baum erwähnt hat, nennt sie explizit die im Baum abgebildete Eule beim Namen, während sie auf die Abbildung zeigt. Eine weitere Formulierung bricht sie ab. Ida bedient sich danach erneut des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb] und erwähnt, dass He Duda (mehrere) Eichhörnchen Nüsse knabbern sieht. Die bereits erwähnte Konsequenz aus den Beobachtungen - nämlich ob He Duda auch auf dem Baum wohnen möchte - leitet Ida mit dem strukturellen Muster [„Also“ + Verb] ein. Zur fünften Doppelseite formuliert Ida folgenden Text: dann ging er weiter [.] in sein hasendorf. DANN erblickte [.] der/ sind die hasen so aufgeregt. sagte ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ [laut ab ‚he duda‘] [.] der lange duda (hin). ALLE sind aufgeregt. alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. [blättert um] [3] Hier wird ein neuer Sinnabschnitt erneut mit dem strukturellen Muster [„Dann“ + Verb] eingeleitet. He Duda geht weiter in sein Hasendorf. An dieser Stelle wird zum ersten Mal die Tierbezeichnung Hase erwähnt. Mit einem weiteren Gebrauch des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb] leitet Ida eine weitere neue Handlung ein: Die Hasen sind sehr aufgeregt. Hier markiert Ida durch betontes Sprechen das Temporaladverb dann, was der Spannung des „vorgelesenen“ Inhalts entspricht. Des Weiteren markiert Ida die Stärke der Aufregung der Hasen durch den Gebrauch der Intensitätspartikel so in Kombination mit dem Adjektiv aufgeregt. He Duda wird aufgefordert, von etwas herunterzukommen. Diese Aufforderung als direkte Rede „liest“ Ida mit einer etwas lauteren Stimme vor. In Idas Text wird nicht erwähnt, dass er in diesem Moment auf einem Baum sitzt. So enthält der Text an dieser Stelle eine Leerstelle. Auf dem entsprechenden Bild des Bilderbuches ist He Duda jedoch auf dem Baum sitzend dargestellt, während im Gras um den Baum herum u. a. laufende Hasen abgebildet sind. Vier Hasen sind mit offenem Maul abgebildet, vier Hasen strecken die Arme in die Höhe und die meisten Hasen sind mit aufgerissen wirkenden Augen gezeichnet, was den Eindruck von Aufregung und Unruhe erweckt. Die Gefahr bezeichnet Ida zuerst als das lange Tier. Anschließend nennt sie in einem elliptischen Satz seinen Namen: Der lange Duda. Hier sei auf die sprachliche Nähe zwischen dem Namen des Protagonisten (He Duda) und dem Namen des Antagonisten (der lange duda) hingewiesen. Durch den Gebrauch des bestimmten Artikels entsteht der Eindruck, dass den Hasen das Tier bereits bekannt ist. Dies entspricht auch der Aussage, dass das lange Tier 342 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="343"?> wieder da (5. DS) ist. Nach der Nennung des Tiernamens erwähnt Ida zum zweiten Mal die Aufregung der Tiere. Des Weiteren hebt sie das Wort ALLE mittels sprachlicher Betonung hervor. Zusätzlich wird das Wort alle durch den Gebrauch einer Anapher hervorgehoben: ALLE sind aufgeregt. alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. (5. DS) Außerdem nutzt Ida das Verb rennen, was eine Steigerung des Verbs laufen darstellt, und kombiniert dieses mit dem sprachlichen Muster vor lauter Schreck, was das Rennen als Reaktion auf einen Schrecken kennzeichnet. Durch den Gebrauch all dieser sprachlichen Mittel zeichnet Ida das Bild einer aufgeregten Menge. Auffällig ist auch der mehrmalige Tempuswechsel in diesem Textabschnitt. Als erstes findet ein zweifacher Tempuswechsel statt. Ida wechselt vom Prä‐ teritum ins Präsens und zurück ins Präteritum: dann ging er weiter [.] in sein hasendorf. DANN erblickte [.] der/ sind die hasen so aufgeregt. sagte ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ (5. DS) Der Tempuswechsel ins Präsens kann als funktional bezeichnet werden. Das Präsens wird an der Stelle genutzt, als etwas Ungewöhnliches geschieht: Die Hasen sind aufgeregt. Auch diese plötzliche Aufregung kann durch den plötzlichen Tempuswechsel markiert werden. Anschließend findet ein weiterer zweifacher Tempuswechsel statt, der sich auch über den Übergang zwischen der fünften und der sechsten Doppelseite erstreckt: sagte ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ [laut ab ‚he duda‘] [.] der lange duda (hin). ALLE sind aufgeregt. alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. [blättert um] [3] (5. DS) dann kam es weiter. (6. DS) Hier wechselt Ida zunächst von der in ihrer Geschichte vorherrschenden Erzählzeit, dem Präteritum, ins Präsens. Erneut ist dieser Wechsel funktional: Es wird auch hier die Aufregung der Tiere thematisiert und das durch den Schrecken ausgelöste Rennen in ihre Höhlen. Anschließend wird zurück ins Präteritum gewechselt, um nun wieder den Blick auf das Wiesel zu richten, das immer näherkommt. Zur sechsten Doppelseite „liest“ Ida folgenden Text „vor“: dann kam es weiter. das langtier kommt aus dem gebüsch raus. hey duda isst einfach noch en bisschen HAselnuss. [2] da n n [blättert um] [2] Da die beiden vorangegangenen Sätze von den aufgeregten und flüchtenden Hasen handeln, wird deutlich, dass es sich beim durch das Personalpronomen es bezeichneten Subjekt um das auf der vorangegangenen Doppelseite erwähnte 3.1 Textanalysen 343 <?page no="344"?> lange Tier handeln muss. Die Formulierung weiterkommen (6. DS) wird norma‐ lerweise in anderen Kontexten mit einer anderen Bedeutung verwendet. In dem hier gebrauchten Kontext könnte die Formulierung bedeuten, dass das Tier sich weiter vorwärtsbewegt und sich auf diese Weise immer mehr dem Aufenthaltsort von He Duda nähert, sodass es bald gesichtet werden kann. Auch dieses Geschehen wird durch das strukturelle Muster [„Dann“ + Verb] eingeleitet. Das lange Tier bzw. der lange Duda wird im nächsten Satz als Langtier bezeichnet. Das Langtier kommt nun aus dem Gebüsch heraus. Auf dem zugehörigen Bild ist ein Stück eines Busches abgebildet, der einen Teil des Schwanzes des Wiesels bedeckt, das sich leicht geduckt über einen Rasen bewegt. Der Körper des Tieres ist auf dem Bild relativ lang dargestellt. Nachdem Ida das Erscheinen des Langtieres erwähnt hat, produziert sie folgenden Satz: he duda isst einfach noch en bisschen haselnuss. (6. DS) Durch den Gebrauch der Partikel einfach steht das Handeln des Hasen im Kontrast zur erwarteten Reaktion auf die herannahende Gefahr. Auch in diesem Textabschnitt ist ein funktionaler Tempuswechsel vom Präte‐ ritum ins Präsens zu beobachten: dann kam es weiter. das langtier kommt aus dem gebüsch raus. Das Präsens wird von Ida eingesetzt, um das Erscheinen des Wiesels aus dem Gebüsch in Sprache zu fassen. Die sich herannahende Gefahr wird plötzlich sichtbar. Auf der sechsten Doppelseite ist das Wiesel zum ersten Mal auf einem Bild abgebildet, und zwar beim Verlassen eines Busches. Den nächsten Satz bildet Ida erneut im Präsens und wechselt im darauffolgenden Satz zurück ins Präteritum. Zur siebten Doppelseite formuliert Ida: ging er weiter. dann [.] fängte das lange tier an hochzukommen. dann ähm hatte hey duda die ohren runtergemacht. [.] er hatte das gesehen, dass das langtier schon wieder hier war. [blättert um] [3] Der Satz da n n [.] ging er weiter. (6./ 7. DS) könnte durch das Personalpronomen er auf den Hasen bezogen sein. Allerdings sitzt dieser im Baum, während sich das Wiesel nähert. Daher ist es wahrscheinlicher, dass Ida hier auf das Wiesel Bezug nimmt. Anschließend leitet Ida mit Hilfe des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb] ein neues Geschehen ein: Das Tier beginnt, den Baum hochzuklettern. Ida nutzt eine übergeneralisierte Präteri‐ tumform. Das darauffolgende Geschehen wird erneut mit dem strukturellen Muster [„Dann“ + Verb] eingeleitet: Es wird erwähnt, dass He Duda die ohren runtergemacht (7. DS) hatte. Die Formulierung runtergemacht kann dem konzeptionell mündlichen Register zugeordnet werden. Auf dem dazugehörigen Bild sitzt He Duda lächelnd auf einem Ast, während seine Ohren 344 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="345"?> in einem 100-Grad-Winkel zueinanderstehen. Ida scheint sich stark an diesem Bild zu orientieren. Der darauffolgende Satz könnte als Grund für die Handlung des Hasen interpretiert werden: er hatte das gesehen, dass das langtier schon wieder hier war. (7. DS) Die Formulierung schon wieder lässt darauf schließen, dass das Langtier des Öfteren bei den Hasen auftaucht. Dies deckt sich mit der Aussage eines anderen Hasen auf der fünften Doppelseite, aus der dies ebenfalls hervorgeht: sagte ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ (5. DS) Folgenden Text formuliert Ida zur achten Doppelseite: dann kam das tier hoch. er winkte dem tier ZU. [4] ob/ und dann fragte er sich, wo er jetzt/ was er sein sollte [leise ab ‚sollte‘] . ein [.] wuschelbär? ein elefant? ein brummeliges nashier? oder in einem teich wohnte vielleicht? oder in/ o/ oder in (stämme) oder bei ner hundehütte? [blättert um] Während zur siebten Doppelseite „vorgelesen“ wird, dass das Langtier beginnt „hochzukommen“, wird nun zum Ausdruck gebracht, dass es hinauf‐ kommt. Dabei wird nicht erwähnt, dass das Tier den Baum hochklettert. Diese Information liefert das zugehörige Bild. Erneut wird auf das strukturelle Muster [„Dann“ + Verb] zurückgegriffen. Als nächstes fragt sich He Duda - wie am Anfang der Geschichte -, was für ein Tier er ist. Hierzu nutzt Ida erneut eine hypotaktische Satzkonstruktion bestehend aus einem Hauptsatz und einem mit dem Interrogativpronomen was eingeleiteten Interrogativsatz. Anschließend nennt Ida drei Möglichkeiten. Während sie den auf dem zugehörigen Bild abgebildeten Elefanten als Elefanten bezeichnet, spricht sie nicht von einem Dachs, sondern von einem Wuschelbären. Das dritte abgebildete Tier ist ein Schnabeltier. Ida verwendet die Formulierung Nashier, womit sie vermutlich Nastier meint. Möglicherweise könnte der abgebildete Schnabel bei ihr die Assoziation Nase ausgelöst haben. Anschließend nennt Ida drei Möglichkeiten, wo He Duda wohnen könnte. Mit der Formulierung oder in (stämme) (9. DS) bezieht sie sich höchstwahrscheinlich auf das Bild, auf dem ein Stapel Holz und ein darauf hockender Biber zu sehen sind. Idas Text zur neunten Doppelseite lautet: [2] dann ging er noch ein wenig weiter he duda. dann kam das tier vor laut/ dann fragte das tier, was er gerne isst. rotkohl? oder insekten? oder g e m ü: s e: ? [2] dann ging er noch ein wenig weiter. [blättert um] [2] Auch dieser Textabschnitt beginnt mit dem strukturellen Muster [„Dann“ + Verb]: dann ging er noch ein wenig weiter (9. DS). Aus dem 3.1 Textanalysen 345 <?page no="346"?> Kontext ist zu schließen, dass sich das Personalpronomen er vermutlich auf das lange Tier bezieht. Auf dem zugehörigen Bild hat das Wiesel eine größere Höhe auf dem Baumstamm erreicht als im vorangegangenen. Auch das nächste Geschehen wird mit dem strukturellen Muster [„Dann“ + Verb] eingeleitet: Das Tier fragt He Duda nach Nahrung, die er gerne zu sich nimmt. Auf dem Bild sind drei grüne Kohlköpfe abgebildet. Ida wählt den Ausdruck rotkohl (9. DS). Anstatt des abgebildeten Obstes wählt Ida vermutlich den Ausdruck g e m ü : / s e ? , den sie sprachlich akzentuiert. Auf der neunten Doppel‐ seite ist nur ein Verb in der Erzählerrede im Präsens gehalten: dann fragte das tier, was er gerne isst. (9. DS) Zur zehnten Doppelseite formuliert Ida: dann vor lauter schreck springt das tier und he duda springt weg. [blättert um] [3] Es folgt keine Antwort auf die drei formulierten Fragen. Stattdessen er‐ schrickt sich das Tier und springt. An dieser Stelle enthält der Text eine Leerstelle: Der Grund für das Erschrecken wird nicht genannt. Mit der Kon‐ junktion und wird die Information ergänzt, dass He Duda wegspringt. Auf dem dazugehörigen Bild sind sowohl das Wiesel als auch das Kaninchen in der Luft über dem Ast abgebildet. Ida bedient sich erneut des strukturellen Musters [„Dann“ + Verb], um das Geschehen einzuleiten. Während der letzte Satz zur vorangehenden Doppelseite (dann ging er noch ein wenig weiter. (9. DS)) im Präteritum verfasst ist, findet mit dem Umblättern auf die zehnte Doppelseite ein Zeitsprung ins Präsens statt. Auch dieser Tempuswechsel kann als funktional bezeichnet werden. Eine plötzliche, schnell ablaufende und durch einen Schrecken hervorgerufene Aktion wird „vorgelesen“: Das Tier fängt plötzlich an zu springen. Als Reaktion springt auch He Duda weg. Die von Ida „vorgelesene“ Geschichte endet auf der elften Doppelseite: und vor lauter schreck fängt he duda an zu springen und weg is er. [Bilderbuch fällt zu, I schlägt eine Seite mit dem Bild einer Blumenwiese auf, klappt das Buch zu]. zu ende. Ida „liest“ das Ende der Geschichte erneut im Präsens vor. Auch hier wird eine durch einen Schrecken hervorgerufene, schnell ablaufende Handlung erzählt. Den letzten Satz, das Ergebnis der Handlung, bildet Ida ebenfalls im Präsens. Mit der Konjunktion und bindet Ida den letzten Satz an den Text auf der vorangegangenen Doppelseite an: He Duda beginnt zu springen. Diese Aussage kann als Wiederholung der Aussage auf der zehnten Doppelseite gedeutet werden oder als zweiter Sprung He Dudas. Ida nutzt erneut das sprachliche Muster vor lauter Schreck. Nun springt jedoch nicht das Tier vor lauter Schreck 346 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="347"?> wie auf der zehnten Doppelseite, sondern He Duda. Nach der Konjunktion und wird die Folge des Springens genannt: und weg is er (11. DS). Bei dieser Formulierung wird durch die ungewöhnliche Satzstellung das Lokaladverb weg betont. Somit endet die Geschichte von He Duda mit der Erwähnung des Protagonisten He Duda mittels des Personalpronomens er. Nach dem Satz und weg is er fällt das Bilderbuch zu und Ida öffnet es auf einer Doppelseite, die lediglich eine Blumenwiese zeigt. Die zwölfte Doppelseite des Bilderbuches, die jubelnde Hasen und He Duda mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zeigt, wird somit von Ida während ihres „Vorlesens“ weder angeschaut noch kommentiert. Das Ende ihrer Geschichte markiert sie mit der Formulierung zu ende. Zur Herstellung von grammatischer Kohärenz bedient sich Ida verschiedener Kohäsionsmittel (vgl. dazu Linke et al. 2004). Zum einen macht sie Gebrauch von Pro-Formen. Sie verwendet Personalpronomen, die sich auf ein vorange‐ gangenes Nomen beziehen. Ihr Text weist auch wenige Stellen auf, an denen der Bezug zwischen Personalpronomen und Bezugswort unklar ist, was den Text mehrdeutig macht: So scheint sich das Personalpronomen er auf der neunten Doppelseite auf das Bezugswort Tier zu beziehen. Zudem formuliert Ida zur sechsten Doppelseite den Satz dann kam es weiter. Hier ist lediglich aus dem Kontext zu schließen, dass sich das Personalpronomen es auf das einige Sätze zuvor erwähnte lange tier (5. DS), den langen Duda (vgl. dazu 5. DS), beziehen muss. Ein weiteres Kohäsionsmittel, das zu den Pro-Formen gerechnet wird und von Ida mehrfach in ihrer Textproduktion genutzt wird, ist der Gebrauch der Temporaladverbien dann und da. Als weiteres Kohäsionsmittel nutzt Ida in ihrer Textproduktion Konnektive: Ihr Text enthält die Konjunktionen und, aber und dass. Außerdem weist Idas Text mehrfach den sogenannten „elliptischen Anschluss“ (Linke et al. 2004, S. 251) als Form der Textverknüpfung auf. Hier wird der „Textverweis durch Leerstellen erzeugt“ (ebd.). Als Beispiel sei hier auf folgende Textpassage verwiesen: und wusste nicht, wo er wohnen sollte. in einer dunklen höhle? […] in einem/ oder in einem NEst? […] oder in einem spinnennetz […]? (2. DS) Inhaltliche Kohärenz ist in Idas Geschichte zum Großteil vorhanden: He Duda versucht herauszufinden, wer er ist (was ihm allerdings nicht gelingt) und entkommt einer Gefahr, sodass die Geschichte mit einem Happy End schließt. Idas Text enthält dabei zwei Leerstellen. Zum einen bleibt unklar, warum das Langtier sich erschrickt (vgl. 10. DS). Des Weiteren wird nicht erläutert, warum He Duda zunächst wegspringt (vgl. 10. DS) und anschließend erneut anfängt zu springen (vgl. 11. DS). 3.1 Textanalysen 347 <?page no="348"?> Es werden Inhalte betrachtet, die in Idas Text im Vergleich zum Bilderbuchtext in abgewandelter Form vorkommen (veränderte Inhalte). Die im Folgenden beschriebenen inhaltlichen Änderungen gehen scheinbar auf eine alternative Interpretation einzelner Bilder durch Ida zurück. Während He Duda dem Wiesel im Bilderbuch einen Tritt gibt, was dazu führt, dass es weit wegfliegt, springen in Idas Textproduktion beide Tiere und He Duda ist am Ende „weg“. Mit einem Sprung konnte He Duda somit der Gefahr entkommen. In Idas Text wird hier das Thema Flucht thematisiert, während im Bilderbuch das Thema Kampf zu finden ist. Dieser Unterschied könnte in Idas Interpretation der zugehörigen Bilder begründet sein: Auf der zehnten Doppelseite sind Kaninchen und Wiesel so dargestellt, dass sie sich in der Luft befinden und keinen Kontakt mehr zum Ast haben. Dies könnte als Sprung beider Tiere interpretiert werden. Auf der darauffolgenden Doppelseite berühren die Pfoten des Kaninchens den Ast, während seine Füße in die Höhe gereckt sind. Dieses Bild scheint Ida als Beginn eines Sprunges zu deuten: und vor lauter schreck fängt he duda an zu springen und weg is er (11. DS). In Kombination mit dem Bilderbuchtext lässt sich das Bild als Ausschlagen des Kaninchens mit den Füßen deuten: „Blitzschnell drehte er sich um und schlug mit seinen Riesenfüßen aus“ (Blake/ Scheffler 2017, 11. DS). Beide von Ida „vorgelesenen“ Sprünge werden durch das sprachliche Muster vor lauter Schreck springen (10. DS, 11. DS) in Sprache gefasst, obgleich im Bilderbuch selbst im Zusammenhang mit einem Sprung lediglich das Verb springen genutzt wird: „Lange Luda nickte und leckte sich die Lippen … und sprang! “ (Blake/ Scheffler 2017, 10. DS) Hier wird deutlich, dass Ida auf das gleiche sprachliche Muster zurückgreift, um einen ähnlichen Inhalt sprachlich zu transportieren. Auch die von Ida gebildete Tierbezeichnung Nastier (nashier (8. DS)), die Ida anstatt des Begriffes Schnabeltier verwendet, könnte auf die Interpretation der Abbildung zurückzuführen sein. Gleiches gilt für Idas Wahl der Bezeichnung Stämme (oder in (stämme) (8. DS)) für ein Objekt, das im Bilderbuch als Damm bezeichnet wird: „Oder auf einem Damm? “ (Blake/ Scheffler 2017, 8. DS) Auf dem dazugehörigen Bild ist ein aus einem Stapel Holz bestehender Damm und ein darauf hockender Biber zu sehen. An zwei Stellen verwendet Ida anstatt den im Bilderbuch gebrauchten Begriff Eicheln den Begriff Haselnuss. Der zugehörige Bilderbuchtext an der ersten Stelle lautet: „He Duda sah, dass die Eichhörnchen Eicheln aßen, und beschloss, Eicheln zu essen“ (Blake/ Scheffler 2017, 4. DS). Ida formuliert in diesem Zusammenhang den folgenden Satz: dann siehte he duda die eich [.] hörnchen HASELNUSS knabberten (4. DS). Die zweite Textpassage des Bilderbuches lautet: „He Duda blieb auf seinem Baum sitzen, 348 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="349"?> knabberte eine Eichel und dachte über seine großen Füße nach“ (Blake/ Scheffler 2017, 6. DS). Der äquivalente Satz, den Ida formuliert, heißt: hey duda isst einfach noch en bisschen HAselnuss (6. DS). Ida scheint somit die auf den zugehörigen Bildern dargestellten, teilweise angeknabberten Eicheln, die einen grünlichen Farbton haben, als Haselnüsse zu interpretieren. Idas Text weist weitere veränderte Inhalte auf. Im Vergleich zum Bilderbuch fragt sich He Duda in Idas Textproduktion nicht nur an einer Stelle (Blake/ Scheffler 2017, 1. DS/ 2. DS), sondern an zwei Stellen (1. DS/ 2. DS, 8. DS), was für ein Tier er ist und wo er wohnen soll. Die zweite Textpassage weist dabei Ähnlichkeiten zu der Textpassage des Bilderbuches (Blake/ Scheffler 2017, 8./ 9. DS) auf, in der - umgekehrt - He Duda sich nach der Tierart des Wiesels erkundigt und ihm die Frage stellt, was es gerne esse. Diese Beobachtung lässt sich zum einen als Hinweis deuten, dass Ida im Vergleich zum Bilderbuch den Schwerpunkt stärker auf die Identitätssuche He Dudas setzt. Im Gegensatz zum Bilderbuch erfährt He Duda in Idas Geschichte am Ende jedoch nicht, was für ein Tier er ist. Die Identitätssuche wird somit nicht zum Abschluss gebracht. Zudem verleiht Ida ihrer Geschichte durch die Wiederholung dieses inhaltlichen Elements (He Dudas stellt sich Fragen zu seinem Wohnort und seiner Nahrung), das im Bilderbuch nicht wiederholt wird, eine stärkere Struktur als die, die das Bilderbuch aufweist. Des Weiteren verwendet Ida anstatt der Formulierung so große Füße die Formu‐ lierung so lange Beine. Dabei greift sie auf das gleiche strukturelle Muster zurück, das im Bilderbuch in diesem Kontext enthalten ist: [„so“ + Adjektiv + Nomen]. Im Bilderbuchtext heißt es: „He Duda wusste nicht, warum er so große Füße hatte“ (Blake/ Scheffler 2017, 3. DS). Ida formuliert folgenden Satz: nun [.] dachte er, für was er so lange beine bräuchte (3. DS). Somit vermittelt Ida einen ähnlichen Inhalt, indem sie das strukturelle Muster mit anderen, aber ähnlichen Inhalten zu füllen scheint. Zudem stellt Ida nicht wie im Bilderbuch die Frage nach dem „Warum“, sondern nach dem „Wozu“. Auch geht nur aus Idas Text explizit hervor, dass das Langtier „wieder“ da ist: sagte ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ (5. DS) dann ähm hatte hey duda die ohren runtergemacht. [.] er hatte das gesehen, dass das langtier schon wieder hier war. (7. DS) Aus dem Bilderbuchtext lässt sich lediglich erahnen, dass das Tier schon mehr als einmal bei den Kanin‐ chen aufgetaucht sein muss, da die Kaninchen He Duda vor dem Tier warnen und es mit Hilfe des bestimmten Artikels nennen: „‚Dahinten kommt das lange Luder! ‘“ (Blake/ Scheffler 2017, 5. DS) Ein weiterer inhaltlicher Unterschied 3.1 Textanalysen 349 <?page no="350"?> zwischen der Geschichte des Bilderbuches und Idas Geschichte besteht im Wissen He Dudas über das Wiesel. Im Bilderbuchtext steht: „‚Lange Luda? ‘, frage He Duda. ‚Wer ist denn das? ‘“ (Ebd., 5. DS). In Idas Geschichte ist diese Frage nicht enthalten. Die bereits zitierte Passage lässt durch die Formulierung schon wieder (7. DS) den Eindruck entstehen, dass He Duda das Wiesel bereits des Öfteren gesehen hat. Mit der zuletzt genannten Satzkonstruktion wird von Ida ein weiteres Inhaltselement zum Ausdruck gebracht, das im Bilderbuch nicht enthalten ist. Hierfür bedient sie sich einer hypotaktischen Satzkonstruktion, die einen mit der Konjunktion dass eingeleiteten Nebensatz enthält. Nachfolgend werden Inhalte aus Idas Textproduktion thematisiert, die im Bilderbuchtext nicht enthalten sind (neue Inhalte). Zunächst werden neue Inhalte in den Blick genommen, die ihren Ursprung vermutlich in der Versprachli‐ chung zusätzlicher Informationen aus einem Bild haben (vgl. Tabelle 16 im digitalen Anhang). So vermittelt Ida der Zuhörerin oder dem Zuhörer, dass He Duda seine Ohren herunterklappt: dann [.] fängte das lange tier an hochzukommen. dann ähm hatte he duda die ohren runtergemacht. (7. DS) Ida scheint sich auf das Bild der aufgeschlagenen Doppelseite zu beziehen, auf dem das Kaninchen He Duda seine Ohren hängen lässt. Diese höchstwahrscheinlich aus dem Bild entnommene Information bindet Ida in einen Satz ihrer Geschichte ein, indem sie das von ihr in der Textproduk‐ tion bereits mehrfach genutzte strukturelle Muster [„Dann“ + Verb] verwendet und die Zeitform Plusquamperfekt wählt, die der konzeptionellen Schriftlichkeit entspricht und somit passend zu der in ihrem Text vorherrschenden Zeitform des Präteritums gewählt ist. Die Formulierung runtergemacht entspricht der konzeptionellen Mündlichkeit (vgl. dazu Tabelle 16). Der neue Inhalt erfüllt die Funktion, im Bilderbuchtext nicht erzählte Handlungen innerhalb eines Bildes zu ergänzen. Während sich He Duda im Bilderbuch die Frage stellt, ob er „in einer Höhle“ (Blake/ Scheffler 2017, 2. DS) wohnt, nutzt Ida in diesem Zusammenhang die Formulierung in einer dunklen höhle? (2. DS) Hier macht sie Gebrauch vom strukturellen Muster [Adjektiv + Nomen], das in diesem Kontext im Bilderbuch nicht verwendet wird. Im Bilderbuch selbst wird dieses Muster 18-mal in anderen Kontexten genutzt und ist dort mit anderen Inhalten gefüllt. Ob es sich hier um eine Übernahme des Musters in einem neuen Kontext handelt, ist unklar, da es sich bei dem Muster [Adjektiv + Nomen] sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Sprachgebrauch um ein weit verbreitetes Muster handelt. Ausgelöst wurde der Gebrauch dieser Formulierung möglicherweise durch das zugehörige Bild: Es zeigt eine graue Höhle, in der das Kaninchen sitzt, eine brennende Kerze, deren Licht einen Schatten an die Felswand wirft, 350 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="351"?> 152 Vgl. hierzu die Ausführungen zu lernförderlichen Rückmeldungen zu Kindertexten von Kerstin Maaß (2012) zur sprachlichen Angemessenheit. Maaß entwickelt ein Analyseraster für Kindertexte in Anlehnung an das Zürcher Textanalyseraster. und Fledermäuse. Da Fledermäuse nachtaktiv sind, können sie mit Dunkelheit assoziiert werden. Auf dem Boden der Höhle sind ein Totenkopf und ein Knochen zu sehen. Durch diese Gegenstände, die Fledermäuse und die grauen Farbtöne vermittelt das Bild eine leicht unheimliche und düstere Stimmung. Möglicherweise haben diese Aspekte einen Einfluss darauf, dass Ida - anders als im Bilderbuch - die Formulierung dunkle Höhle anstatt Höhle wählt. Der neue Inhalt erfüllt die Funktion der Spezifizierung. Ferner weist Idas Text neue Inhalte auf, die sich als mögliche Bezüge zu einem dritten Text deuten lassen. So gebraucht Ida das im Bilderbuch nicht enthaltene zusammengesetzte Nomen Hasendorf: dann ging er weiter [.] in sein hasendorf (5. DS). Sie verwendet diesen Ausdruck, während sie die fünfte Doppelseite des Bilderbuches aufgeschlagen hat. Auf dem zugehörigen Bild sind viele Hasen zu sehen, die aufgeregt umherlaufen und He Duda vor dem Wiesel zu warnen scheinen. Von drei Hasen ist jeweils nur die hintere Hälfte des Körpers zu sehen. Diese schaut jeweils aus einem Erdloch heraus, in das das jeweilige Kaninchen in diesem Moment hineinspringt. Aus dem Bilderbuchtext zur sechsten Doppelseite geht hervor, dass die Kaninchen in ihren Löchern verschwinden: „Sie rannten in alle Richtungen davon und verschwanden in ihren Löchern“ (Blake/ Scheffler 2017, 6. DS). Möglicherweise führten das be‐ schriebene Bild und dieser Text bei Ida zu der Interpretation, dass es sich hier um ein Hasendorf handelt. Der Ausdruck Hasendorf könnte Ida eventuell bereits in einer anderen Geschichte, einem dritten Text, begegnet sein. So gibt es Bilderbücher, in denen der Ausdruck Hasendorf enthalten ist, wie beispielsweise das Buch Frohe Ostern im Hasendorf von Gerti Mauser-Lichtl oder das Buch Was ist los im Hasendorf ? Lustige Suchgeschichten von Ursula Muhr. Es könnte sich somit um eine wörtliche Übernahme aus einem anderen Kontext handeln. Darüber, ob das Kind weitere (Bilder-)Bücher kennt, in denen ein Hasendorf vorkommt, liegen jedoch keine Informationen vor. Beim Kompositum Hasendorf handelt es sich um einen angemessenen Ausdruck 152 für eine Narration, bei der die Protagonisten sprechende Tiere sind. Im Hinblick auf neue Inhalte enthält Idas Textproduktion zudem eine Wort‐ neuschöpfung, die im Bilderbuch nicht enthalten ist: Langtier (6. DS). Dieser Neologismus lässt sich als eine Kombination von einem Adjektiv und einem Nomen beschreiben. Auch an dieser Stelle ist ein Einfluss der Bilder auf die Formulierung nicht auszuschließen: Das Wiesel mit Namen Lange Luda ist 3.1 Textanalysen 351 <?page no="352"?> mit einem sehr langen, schmalen Körper dargestellt. Als weiterer Neologismus ist das Kompositum Nastier zu nennen, dessen Bildung durch eine Abbildung beeinflusst sein könnte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in mehreren Fällen der Einfluss der Bilder und die Interpretation des Gesehenen durch das Kind auf die Generierung neuer oder veränderte Inhalte eine Rolle zu spielen scheint. Im Vergleich zum Bilderbuch He Duda gibt es Inhalte, die Idas Textproduktion nicht enthält (ausgelassene Inhalte). So verfügt das Bilderbuch über Passagen, die in direkter Rede gehalten sind und deren Inhalte in Idas Textproduktion nicht vorhanden sind. Dazu gehört der Dialog zwischen dem Wiesel Lange Luda und He Duda, in dem He Duda erfährt, dass er ein Kaninchen ist (vgl. Blake/ Scheffler 2017, 9. DS). Diese zentrale Erkenntnis der Bilderbuchgeschichte He Duda ist in Idas Text nicht enthalten. Des Weiteren bleiben sowohl der Jubel der Kaninchen („‚He Duda, du bist ein Held‘, riefen sie.“ (Blake/ Scheffler 2017, 12. DS)) als auch He Dudas Verwunderung über die Bezeichnung Held durch die anderen Kaninchen („Ich dachte, ich wäre ein Kaninchen.“ (Ebd., 11. DS)) in Idas Text unerwähnt. Da jedoch in Idas Text auch nicht über die Erkenntnis He Dudas berichtet wird, dass er ein Kaninchen ist, wäre der Witz, mit dem das Bilderbuch schließt, als Ende für Idas Geschichte nicht passend. Idas Text endet hingegen mit dem erfolgreichen Abwehren der Gefahr, dem Wiesel. Zudem überblätterte Ida das entsprechende Bild während der Pretend-Reading-Situation. Eine weitere in Idas Text nicht enthaltene Information ist die Tatsache, dass das Wiesel ein Wiesel ist. Auch diese Information geht im Bilderbuch lediglich aus einer Formulierung in Form von direkter Rede hervor: „Ich bin ein Wiesel.“ (Ebd., 8. DS) Zu den ausgelassenen inhaltlichen Elementen in Idas Text ist des Weiteren die sich wiederholende Aussage des Wiesels „Nein, mein Freund“ (Blake/ Scheffler 2017, 8. DS, 9. DS, 9. DS) zu rechnen, die für die Handlung des Bilderbuches jedoch irrelevant ist. Diese Antwort gibt das Wiesel He Duda auf seine Fragen nach des Wiesels Tierart, seinem Wohnort und seinen Fressgewohnheiten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mehrere Inhalte, die Ida in ihrer Textproduktion auslässt, im Bilderbuch in Form von direkter Rede dargestellt werden. Dabei lässt Ida sowohl Inhalte aus, die relevant für die Handlung der Geschichte sind, als auch solche, die dafür irrelevant sind. Im Folgenden wird Idas Textproduktion auf Mustergebrauch hin analysiert. Während im Bilderbuchtext zwei Baumuster identifiziert werden können, be‐ dient sich auch Ida zur Strukturierung ihrer Geschichte zwei sich voneinander 352 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="353"?> unterscheidender Baumuster. Das erste Baumuster bezieht sich - genau wie das erste Baumuster des Bilderbuches - auf vier Sequenzen. Diese bestehen aus zwei Bausteinen (vgl. Tabelle 23). - Kindertext Baumuster 1 (4 Sequenzen) (S) Bilderbuchtext Bau‐ muster 1 (4 Sequenzen) (S) - Baustein 1 Einleitungssatz (3 von 4 S) --S1: Tierart S2: Wohnort S3: Nahrung S4: lange Beine Einleitungssatz [„He Duda wusste nicht“ + Interrogativsatz]. S1: Tierart S2: Wohnort S3: Nahrung S4: große Füße Baustein 1 Baustein 2 3 Fragen ohne Begleitsatz (2 x Anapher) S1: [„Oder“ + X] S2: [„Oder in“ + X] S3: [„Oder“ + X] S4: [„Zum“ + X] [Frage + „dachte er“] S1: Tierart S2: Wohnort S3: Nahrung S4: große Füße Baustein 2 - - Anapher (2 (elliptische) Fra‐ gesätze ohne Redebegleit‐ satz) S1: [„Bin ich ein“ + Name des Tieres] S2: [„Oder in“ + Ort] S3: [„Oder“ + Speise] S4: [„Vielleicht als“ + Funk‐ tion der Füße des Kanin‐ chens] Baustein 3 Tabelle 23: Baumustervergleich 1, Textanalyse III Baustein 1 besteht (in drei der vier Sequenzen) aus einem Einleitungssatz, der eine Aussage über He Duda enthält, und einer Frage He Dudas. Diese Frage bezieht sich in Sequenz 1 auf He Dudas Tierart, in Sequenz 2 auf seinen Wohnort, in Sequenz 3 auf seine Nahrung und in Sequenz 4 auf die Funktion seiner langen Beine. Der von Ida formulierte Einleitungssatz variiert von Sequenz zu Sequenz. Hier weist Idas Baumuster somit weniger Struktur auf als das des Bilderbuches, da dort jede Sequenz mit dem gleichen Satz („He Duda wusste nicht, …“ (Blake/ Scheffler 2017, 1. DS, 2. DS, 3. DS)) beginnt. Der zweite Baustein von Idas Baumuster besteht aus drei Fragen ohne Begleit‐ satz, die sich in Sequenz 1 erneut auf He Dudas Tierart, in Sequenz 2 auf seinen Wohnort, in Sequenz 3 auf seine Nahrung und in Sequenz 4 auf die Funktion seiner langen Beine beziehen. 3.1 Textanalysen 353 <?page no="354"?> Anders als im Bilderbuch, bei dem jede Sequenz eine Frage mit nachgestelltem Redebegleitsatz (Baustein 2) und zwei weitere Fragen ohne Redebegleitsatz (Bau‐ stein 3) aufweist, enthält jede Sequenz von Idas Baumuster drei Fragen ohne Redebegleitsatz (Baustein 2). Hier weist Idas Baumuster somit eine stärkere Struktur auf als das des Bilderbuches. Dabei können in Idas Baumuster jeweils zwei der drei Fragen pro Sequenz als Anapher bezeichnet werden. Folglich wird in jeder der vier Sequenzen jeweils zweimal ein strukturelles Muster verwendet. Diese strukturellen Muster können wie folgt beschrieben werden: • [„Oder“ + X] (1. Sequenz, 1. DS) • [„Oder in“ + X] (2. Sequenz, 2. DS) • [„Oder“ + X] (3. Sequenz, 2. DS) • [„Zum“ + X] (4. Sequenz, 3. DS) Auffällig beim Vergleich dieser vier strukturellen Muster ist, dass in drei der vier Sequenzen (S1 bis S3) auf das gleiche strukturelle Muster zurückgegriffen wird, das die Form [„Oder“ + X] aufweist (1. DS, 2. DS, 2. DS). Idas Baumuster weist aus den folgenden Gründen auch an dieser Stelle eine stärkere Struktur auf als das Baumuster des Bilderbuches: Zum einen variiert im Baumuster des Bilderbuches die Anzahl der Anaphern pro Sequenz (zwei Sequenzen enthalten zwei Anaphern und zwei Sequenzen enthalten drei Anaphern), während in Idas Baumuster die Anzahl an Anaphern pro Sequenz gleichbleibt (alle Sequenzen enthalten zwei Anaphern). Zum andern wird in drei der vier Sequenzen von Idas erstem Baumuster auf das gleiche strukturelle Muster [„Oder“ + X] zurückgegriffen, während im Bilderbuch nur in zwei der vier Sequenzen das gleiche strukturelle Muster [„Oder“ + X] verwendet wird. Die von Ida verwendete sprachliche Struktur [„Oder“ + X] kann als strukturelles Muster aus dem Bilderbuch bezeichnet werden, das von Ida im gleichen und im neuen Kontext verwendet wird. Zusammenfassend lässt sich Idas erstes Baumuster als eine Variation des ersten Baumusters des Bilderbuches bezeichnen, das insgesamt mehr Struktur aufweist als das des Bilderbuches. Wie im Bilderbuch wird auch in Idas Textproduktion das erste Baumuster noch ein weiteres Mal in einer abgewandelten Form verwendet. Dieses zweite Baumuster kann wie folgt beschrieben werden (vgl. Tabelle 24). 354 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="355"?> Kindertext Baumuster 2 (3 Sequenzen) (S) Bilderbuchtext Bau‐ muster 2 (3 Sequenzen) (S) Baustein 1 - Einleitungssatz (bei 2 der 3 Sequenzen vorhanden) [„Dann fragte“ + X + Inter‐ rogativsatz] -Jeweils 3 Fragen an He Duda zu einem Thema S1: Tierart (3x [„Ein“ + Tier‐ bezeichnung]) S2: Wohnort S3: bevorzugte Speise Jeweils 3 Fragen von He Duda zu einem Thema S1: Tierart (2x [„Oder ein“ + Tierbezeichnung]) S2: Wohnort (2x [„Oder“ + Angaben zum Ort]) S3: bevorzugte Speise (3x [„Frisst du“ + Nahrung]) Baustein 1 - - Das stückweise Näher‐ kommen des Wiesels [„Lange Luda kam“ + …] (3 Sequenzen) Baustein 2 - - Antwort des Wiesels, Teil 1 [„Nein, mein Freund“ + Verb + „sie“] S1: flüstern S2: zischen S3: fauchen Baustein 3 - - Antwort des Wiesels, Teil 2 [„Ich“ + Verb], wobei stets das Verb der ersten Frage von He Duda aufgegriffen wird S1: sein S2: wohnen S3: fressen Baustein 4 Baustein 2 Das stückweise Näher‐ kommen des Wiesels (2 Se‐ quenzen) „Dann ging er noch ein wenig weiter“ - - Tabelle 24: Baumustervergleich 2, Textanalyse III Das zweite von Ida verwendete Baumuster besteht aus zwei Bausteinen und drei Sequenzen. Baustein 1 besteht (in zwei der drei Sequenzen (S1, S3)) aus einem Einleitungs‐ satz und jeweils drei Fragen an He Duda zu einem Thema. In der ersten Sequenz lautet der Einleitungssatz: ob/ und dann fragte er sich, wo er jetzt/ was er sein sollte (8. DS). In der dritten Sequenz lautet er: dann fragte das tier, was er gerne isst. 3.1 Textanalysen 355 <?page no="356"?> (9. DS) Dem Einleitungssatz liegt stets das strukturelle Muster [„Dann fragte“ + X + Interrogativsatz] zugrunde. Beim zweiten Baumuster des Buches hingegen beginnen die Sequenzen ohne Einleitungssatz. Jedoch enthält im Bilderbuch der erste Baustein des ersten Baumusters einen Einleitungssatz. Diesem liegt das strukturelle Muster [„He Duda wusste nicht“ + Interrogativsatz] zugrunde. Somit lässt sich das von Ida verwendete Muster als Variation eines strukturellen Musters aus dem Bilderbuch bezeichnen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich Ida bei ihrer Textproduktion an dieser Stelle am ersten Baumuster des Bilderbuches orientiert hat. Baustein 1 von Idas zweitem Baumuster besteht aus drei Fragen, die sich in Sequenz 1 auf die Tierart He Dudas, in Sequenz 2 auf seinen Wohnort und in Sequenz 3 auf seine bevorzugte Speise beziehen. Dabei lassen sich mindestens zwei dieser drei Fragen pro Sequenz als Anapher bezeichnen. Allen drei Fragen der ersten Sequenz liegt das strukturelle Muster [„Ein“ + Tierbezeichnung] zugrunde. Auffällig sind in der ersten Sequenz die Tierbe‐ zeichnungen, die Ida wählt. Sie nennt in Übereinstimmung mit dem Bilderbuch lediglich den Elefanten. Während im Bilderbuchtext das Nomen Dachs bei der ersten Frage gewählt wird, formuliert Ida das Kompositum Wuschelbär. Hier wird der Bär durch diese Bezeichnung in seinem Aussehen näher beschrieben. Auf dem zugehörigen Bild ist das Fell des Daches mit Hilfe von kleinen Strichen gezeichnet, wodurch die Fellstruktur akzentuiert wird. Idas Formulierung liegt auch das gleiche strukturelle Muster wie dem im Bilderbuch verwendeten Wort „Koala-Bär“ (Blake/ Scheffler 2017, 1. DS) zugrunde: [X + „Bär“]. Ob dieses Muster die Bildung des Kompositums Wuschelbär beeinflusst hat, bleibt unklar. Im Bilderbuch werden zudem weitere Komposita in weiteren Kontexten verwendet: „Blitzschnell“ (ebd., 10. DS) und „Riesenfüße“ (ebd.). Auch hier kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob diese Komposita die Bildung des Wortes Wuschelbär beeinflusst haben könnten. Im Bilderbuchtext wird das in der dritten Frage erwähnte Tier als „schnabliges Schnabeltier“ (ebd., 8. DS) bezeichnet. Bei dieser Formulierung lässt sich sowohl von einer Alliteration als auch von einer Wortwiederholung (Schnabel) sprechen. Ida produziert in diesem Kontext den Ausdruck brummeliges nashier (8. DS). Sie scheint somit auf das dem Ausdruck „schnabliges Schnabeltier“ zugrunde liegende strukturelle Muster [Adjektiv + Bezeichnung für ein Riechorgan + „Tier“] zurückzugreifen und es mit neuen Inhalten zu füllen, die zur entsprechenden Abbildung im Bilderbuch passen. Das abgebildete Schnabeltier ist mit einem abgerundeten langen Schnabel gezeichnet. Durch diese Form und die auf den Schnabel gezeichneten „Nasenlöcher“ weist der Schnabel des Schnabeltieres 356 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="357"?> optisch Ähnlichkeiten mit einer menschlichen Nase auf. Des Weiteren wählt Ida - analog zum „schnabligen Schnabeltier“ (Blake/ Scheffler 2017, 8. DS) im Bilderbuch - außergewöhnliche Tiernamen: Die Bezeichnungen „Wuschelbär“ (ebd., 8. DS) und „brummeliges Nastier“ (ebd.) lassen sich als Neologismen bezeichnen. Alle drei Fragen der zweiten Sequenz können mit Hilfe des strukturellen Musters [„Oder“ + Ortsbestimmung] beschrieben werden. Zwei der drei Fragen der dritten Sequenz können mit dem strukturellen Muster [„Oder“ + Nahrungsmittel] beschrieben werden. Das strukturelle Muster, das jeweils mindestens zwei der drei Fragen der Sequenzen 2 und 3 zugrunde liegt, kann alternativ mit dem übergeordneten strukturellen Muster [„Oder“ + …] beschrieben werden. Im Vergleich zum zweiten Baumuster des Bilderbuches fällt auf, dass nur in der dritten Sequenz von Ida auf das gleiche strukturelle Muster zurückgegriffen wird wie im Bilderbuch ([„Oder“ + Ortsbe‐ stimmung]). Baustein 2 von Idas zweitem Baumuster besteht inhaltlich in der Thematisierung des stückweise Näherkommens des Wiesels. Dieser Inhalt wird in Idas Text an drei Stellen thematisiert - allerdings nur in zwei der drei Sequenzen des Baumusters und an einer weiteren Stelle außerhalb des Baumusters. Aus diesem Grund wird letztgenannter Inhalt nicht als Baustein des zweiten Baumusters von Ida gerechnet. Ida greift an beiden Stellen innerhalb des Baumusters auf dasselbe sprachliche Muster zurück: dann ging er noch ein wenig weiter (9. DS, 9. DS). Im zweiten Baumuster des Bilderbuches ist in allen drei Sequenzen der Baustein „Näherkommen des Wiesels“ (vgl. Tabelle 24, Baustein 2) enthalten. Hinsichtlich dieses Bausteins weist Idas Baumuster auf der einen Seite eine stärkere Struktur auf als das des Bilderbuches, da der Inhalt in Idas Text stets durch die gleiche sprachliche Form zum Ausdruck gebracht wird, während die sprachliche Form im Bilderbuch variiert. Da dieser Baustein jedoch in Idas Baumuster lediglich in zwei der drei Sequenzen enthalten ist, weist ihr Baumuster auf der anderen Seite hinsichtlich dieses Bausteins eine weniger starke Struktur auf als das des Bilderbuches. Zudem ist festzuhalten, dass Idas zweites Baumuster im Vergleich zum zweiten Baumuster, das im Bilderbuch zu finden ist, komprimierter wirkt, da es aus wenigeren sich wiederholenden Bausteinen pro Sequenz besteht (zwei Bausteine vs. vier Bausteine). Dennoch ist auch eine stärkere Vereinheitlichung beider von Ida verwendeter Baumuster erkennbar. Diese zeigt sich im Vorhan‐ densein eines Einleitungssatzes sowohl im ersten als auch im zweiten Baumuster, während im Bilderbuch lediglich das erste Baumuster über einen Einleitungssatz 3.1 Textanalysen 357 <?page no="358"?> verfügt. Es lässt sich somit einmal eine stärkere und einmal eine schwächere Struktur als im Baumuster des Bilderbuchtextes feststellen. Zusammenfassend lassen sich die Baumuster, auf die Ida zurückgreift, als Variationen der Baumuster aus dem Bilderbuch bezeichnen. Sie weisen teilweise eine stärkere, teilweise eine schwächere Struktur als die der Baumuster des Bil‐ derbuches auf. Insgesamt bestehen sie aus weniger Bausteinen als die Baumuster des Bilderbuches. Nachfolgend werden die sprachlichen und strukturellen Muster in Idas Text beschrieben, wobei nur Muster berücksichtigt werden, die kein Bestandteil der dargestellten Baumuster sind. Idas Text weist einmal den mehrmaligen Ge‐ brauch eines sprachlichen Musters auf, das im Bilderbuch selbst nicht vorkommt. Dreimal macht Ida Gebrauch vom sprachlichen Muster vor lauter Schreck. Der Blick wird nun auf die drei Verwendungssituationen gerichtet. Zunächst formuliert Ida die folgende Textpassage: ALLE sind aufgeregt. alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. (5. DS) Im äquivalenten Textabschnitt des Bilderbuches heißt es: „Aber die Kaninchen waren viel zu aufgeregt, um zu antworten. Sie rannten in alle Richtungen davon und verschwanden in ihren Löchern.“ (Blake/ Scheffler 2017, 6. DS) Die beiden Sätze des Bilderbuches transportieren ähnliche Inhalte wie die beiden von Ida formulierten Sätze. Im Gegensatz zum zweiten Satz des Bilderbuches nennt Ida in ihrem zweiten Satz noch einmal explizit den Grund bzw. den Auslöser der Reaktion der Tiere: vor lauter schreck. Dieser Phraseologismus fasst komprimiert den Inhalt des folgenden Satzes zusammen: „Weil die Hasen einen Schrecken bekommen hatten“. Ida greift somit auf ein sprachliches Versatzstück zurück, das in komprimierter Form den Inhalt eines ganzen Satzes vermitteln kann. Ein zweites Mal macht Ida von diesem sprachlichen Mittel bei der Formu‐ lierung des folgenden Satzes Gebrauch: dann vor lauter schreck springt das tier und he duda springt weg (10. DS). In diesem Kontext erfüllt das Muster die gleiche Funktion wie im bereits beschriebenen Kontext: Es transportiert in einer komprimierten Form die Botschaft, dass eine Handlung (hier: Springen) ausgeführt wird, da die oder der Handelnde einen Schrecken bekommen hat. Im äquivalenten Kontext des Bilderbuches wird ebenfalls das Verb springen genutzt, nicht aber die Formulierung vor lauter Schreck: „Lange Luda nickte und leckte sich die Lippen … und sprang! “ (Blake/ Scheffler 2017, 10. DS) Ein drittes Mal wird das sprachliche Muster von Ida in folgendem Kontext verwendet: und vor lauter schreck fängt he duda an zu springen und weg is er (11. DS). Auch hier erfüllt das Muster die gleiche 358 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="359"?> Funktion wie in den anderen beiden Kontexten. In der äquivalenten Passage des Bilderbuchtextes heißt es: „Blitzschnell drehte er sich um und schlug mit seinen Riesenfüßen aus. Lange Luda segelte durch die Luft, weit weit weg, dahin zurück, wo sie hergekommen war.“ (Blake/ Scheffler 2017, 11. DS) Im Bilderbuch wird an dieser Stelle ein anderer Inhalt erzählt. Festzuhalten sei, dass Ida dreimal in ähnlichen Situationen auf den Phra‐ seologismus vor lauter Schreck zurückgreift. Dies deutet darauf hin, dass - nach Polanyis Terminologie (vgl. I.6; Neuweg 2004; Polanyi 1985) - eine implizite Verknüpfung zwischen dem sprachlichen Ausdruck vor lauter Schreck (proximaler Term) und der Bedeutung „eine Handlung als Reaktion auf einen Schrecken durchführen“ (distaler Term) vorzuliegen scheint. Das Muster scheint von Ida in den Situationen hervorgebracht zu werden, wenn sie diese Bedeutung vermitteln möchte. Es lässt sich des Weiteren der mehrmalige Gebrauch eines sprachlichen Musters (und seiner Variation) beobachten, das nicht im Bilderbuch vorkommt. Dies trifft auf Idas Gebrauch der Formulierungen Dann ging er weiter, Dann fängte (fing) das lange Tier an hochzukommen und Dann ging er noch ein wenig weiter zu. Zweimal macht Ida Gebrauch vom sprachlichen Muster Dann ging er weiter in der folgenden Textpassage: dann siehtete he duda, wie die vögel auf dem baum schön sitzen. der eine ha/ , eine eule [zeigt auf das Bild der Eule im Baum] , da/ . und dann ging er weiter. dann siehte he duda die eich [.] hörnchen HASELNUSS knabberten. [2] also denkte er sich vor, ob er vielleicht auf einem BAUM wohnen will/ [.] wollte. [blättert um] [4] dann ging er weiter [.] in sein hasendorf. DANN erblickte [.] der/ sind die hasen so aufgeregt. sagte ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ [laut ab ‚he duda‘] [.] der lange duda (hin). ALLE sind aufgeregt. alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. [blättert um] [3] (4./ 5. DS). Der erste Sinnabschnitt dieses Textabschnittes bezieht sich auf das linke Bild der vierten Doppelseite, auf dem mehrere Vögel im Baum zu sehen sind. Der zweite Sinnabschnitt bezieht sich auf das rechte Bild der vierten Doppelseite, auf dem mehrere Eichhörnchen und He Duda in einem Baum sitzen und in den Pfoten jeweils eine Eichel halten. Der Satz und dann ging er weiter. (4. DS) dient als sprachlicher und inhaltlicher Übergang zwischen den beiden Textabschnitten, die sich jeweils auf ein Bild beziehen. Die Funktion dieser Formulierung ist es somit, einzelne (mit Hilfe von Bildern dargestellte) Szenen der Geschichte miteinander zu verbinden und dadurch Kohärenz herzustellen. 3.1 Textanalysen 359 <?page no="360"?> Die gleiche Funktion erfüllt diese Formulierung an der zweiten Stelle: Ida blättert zur nächsten Doppelseite um, blättert kurz zurück und wieder um und beginnt den Textabschnitt zur fünften Doppelseite mit der Formulierung dann ging er weiter [.] in sein hasendorf. (5. DS) Hier findet eine Variation des sprachlichen Musters durch die Ergänzung einer Ortsangabe statt. Durch den Gebrauch dieses sprachlichen Musters thematisiert Ida den Ortswechsel und schafft somit einen Übergang zwischen dem rechten Bild der fünften Doppelseite, auf dem He Duda und die Eichhörnchen auf einem Baum abgebildet sind, und dem Bild auf der sechsten Doppelseite, das viele aufgeregt wirkende Kaninchen auf einer Waldlichtung zeigt. Im weiteren Verlauf des Textproduktionsprozesses greift Ida auf Variationen des sprachlichen Musters Dann ging er weiter zurück. Die Variation da kam es weiter (6. DS) bezieht sich allerdings nicht mehr auf den Protagonisten He Duda, sondern auf den Antagonisten, das lange Tier. Anstatt des Personal‐ pronomens er wird nun das Personalpronomen es genutzt. Überdies wird das Verb gehen durch das Wort kommen ausgetauscht: alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. [blättert um] [3] dann kam es weiter. das langtier kommt aus dem gebüsch raus. (5./ 6. DS) Auch mit diesem sprachlichen Muster gestaltet Ida den Übergang zwischen zwei Bildern sprachlich: Es findet ein Szenenwechsel von den aufgeregten Hasen auf der Waldlichtung (5. DS) zum Erscheinen des Wiesels (6. DS) statt. Die Formulierung ist die erste Formulierung, die Ida zum Bild der sechsten Doppelseite äußert. Auf derselben Doppelseite macht Ida zum dritten Mal Gebrauch vom sprachlichen Muster Dann ging er weiter (7. DS). Auch diese Formulierung erfüllt eine kohärenzstiftende Funktion: hey duda isst einfach noch en bisschen HAselnuss. [2] da n n [blättert um] [2] ging er weiter. dann [.] fängte das lange tier an hochzukommen. (6./ 7. DS) Bevor Ida anfängt umzublättern, beginnt sie, das sprachliche Muster zu formulieren: da n n (6. DS). Nachdem sie auf die siebte Doppelseite umgeblättert hat, formuliert sie den zweiten Teil des sprachlichen Musters ging er weiter (7. DS). Sie schafft eine inhaltliche und sprachliche Verbindung zwischen den Bildern und zusätzlich zwischen den beiden Doppelseiten. Allerdings bleibt unklar, ob sich das Personalpronomen er auf He Duda oder das lange Tier bezieht. Es scheint implizites Wissen über die kohärenzstiftende Funktion eines sich wiederholenden sprachlichen Musters vorzuliegen, das Ida in ihrer Textproduk‐ tion zeigt. Möglicherweise hat Ida die Funktion eines wiederkehrenden Satzes als kohärenzschaffendes sprachliches Mittel durch das Bilderbuch He Duda 360 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="361"?> kennengelernt. Hier ist dieses Mittel erkennbar in der Wiederholung eines variierenden Satzes bezüglich des Näherkommens des Wiesels. Möglicherweise hat Ida dieses Mittel aber auch in einem anderen Kontext kennengelernt - beispielsweise durch ein anderes Bilderbuch, das mit Hilfe eines Baumusters strukturiert ist. Darüber lassen sich keine Aussagen treffen. Ida nutzt des Weiteren die Formulierung Dann fängte (fing) das lange Tier an hochzukommen und eine Variation (Typ „Weglassen“) dieser Formulierung (Dann kam das Tier hoch): ging er weiter. dann [.] fängte das lange tier an hochzukommen. (7. DS) dann kam das tier hoch. (8. DS) Statt der Formulierung anfangen hochzukommen wird das Verb hochkommen genutzt. Der Ausdruck das lange Tier wird auf den Ausdruck Tier reduziert. Im Bilderbuch wird dieser Inhalt durch folgende Sätze wiedergegeben: „Lange Luda begann den Baum hinaufzuklettern“ (Blake/ Scheffler 2017, 7. DS). „Lange Luda kam näher“ (ebd., 8. DS). Hier ist abgesehen vom gleichen Satzanfang (Lange Luda) keine weitere Musterhaftigkeit zwischen den beiden Sätzen zu finden. Ein weiteres sprachliches Muster, das Ida zweimal in identischer Formge‐ braucht, lautet: Dann ging er noch ein wenig weiter: [2] dann ging er noch ein wenig weiter he duda. dann kam das tier vor laut/ dann fragte das tier, was er gerne isst. rotkohl? oder insekten? oder g e m ü: s e: ? [2] dann ging er noch ein wenig weiter. [blättert um] [2] (9. DS). Diese wiederkeh‐ rende Formulierung kann als Variation des von Ida selbst mehrfach verwen‐ deten Musters Dann ging er weiter (Typ „Erweitern“) bezeichnet werden. Im Bilderbuch lauten die äquivalenten Sätze auf der gleichen Doppelseite, die einen ähnlichen Inhalt transportieren, folgendermaßen: „Lange Luda kam noch näher“ (Blake/ Scheffler 2017, 9. DS) und „Lange Luda kam direkt auf He Duda zu“ (ebd.). Diese zwei Formulierungen weisen in Kombination mit der im vorangegangenen Abschnitt erwähnten Formulierung „Lange Luda kam näher“ (ebd., 8. DS) eine starke Musterhaftigkeit auf: Allen drei Formulierungen liegt das strukturelle Muster [„Lange Luda kam“ + …] zugrunde. Idas Text zeigt an dieser Stelle eine noch stärkere Musterhaftigkeit als das Bilderbuch, da Ida in diesem Kontext zwei komplett identische Formulierungen gebraucht. Das Näherkommen des Wiesels (gleicher Inhalt) wird somit in Idas Text - anders als im Bilderbuch - zweimal durch ein und dieselbe Formulierung zum Ausdruck gebracht. Wie im Bilderbuch greift Ida auf ein sich wiederholendes sprachliches Muster zurück, um das Näherkommen des Wiesels zu thematisieren. Dieses gestaltet 3.1 Textanalysen 361 <?page no="362"?> sie jedoch sprachlich auf eine andere Weise als im Bilderbuch. Sie nutzt eine Variation eines Musters, das sie bereits an anderen Stellen im Bilderbuch verwendet hat. Somit scheint hier die Übernahme von Musterhaftigkeit auf einer abstrakteren Ebene stattzufinden. Ida greift auf das erzähltypische Muster der Wiederholung von sprachlichen Einheiten zur Darstellung von sich wieder‐ holenden Geschehnissen zurück. Auch der mehrmalige Gebrauch der Variation eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, lässt sich an Idas Textproduktion beobachten. Dies gilt für den Gebrauch der Formulierungen anfangen, etwas zu tun, etwas vielleicht tun und das lange Tier. Zweimal nutzt Ida das sprachliche Muster anfangen, etwas zu tun. dann [.] fängte das lange tier an hochzukommen. (7. DS) Die äquivalente Formulierung des Bilderbuches lautet: „Lange Luda begann, den Baum hinaufzuklettern.“ (Blake/ Scheffler 2017, 7. DS) Die von Ida verwendete Formulierung lässt sich somit als eine Variation des sprachlichen Musters beginnen, etwas zu tun im gleichen Kontext bezeichnen, das den gleichen Inhalt vermittelt, aber in einem stärkeren Maße schriftsprachlich ist als die von Ida genutzte Formulierung. Das zweite Mal benutzt Ida die Formulierung in folgendem Satz: und vor lauter schreck fängt he duda an zu springen und weg is er. (11. DS) Im Bilderbuch wird diese Formulierung im gleichen Kontext nicht verwendet. Des Weiteren wird hier auch ein anderer Inhalt erzählt: „Blitzschnell drehte er sich um und schlug mit seinen Riesenfüßen aus“ (Blake/ Scheffler 2017, 10. DS). Somit könnte es sich bei dieser Formulierung um eine Variation der Formulierung beginnen, etwas zu tun aus dem Bilderbuch handeln, die Ida nun in einem neuen Kontext verwendet. Zweimal verwendet Ida das sprachliche Muster etwas vielleicht tun: also denkte er sich vor, ob er vielleicht auf einem BAUM wohnen will/ [.] wollte. (4. DS) oder in einem teich wohnte vielleicht? oder in/ o/ oder in (stämme) oder bei ner hundehütte? (8. DS) In beiden Fällen bringt sie damit zum Ausdruck, dass He Duda nachdenkt. Im Bilderbuch wird das Modaladverb vielleicht in elliptischen Sätzen in anderen Kontexten verwendet. „‚Vielleicht zum Wasserskifahren? ‘, dachte er. ‚Vielleicht als Sitz für Mäuse? ‘ ‚Vielleicht als Regenschutz? ‘“ (Blake/ Scheffler 2017, 3. DS) Es ist Teil des strukturellen Musters [„Vielleicht“ + X]. Ida nutzt das Wort vielleicht als Bestandteil der Formulierung etwas vielleicht tun und bindet diese zweimal in neue syntaktische Strukturen ein - einmal in einen Nebensatz und einmal in einen unvollständigen Fragesatz. Zweimal bildet Ida die Formulierung das lange Tier und referiert mit dieser auf das Wiesel. In den äquivalenten Textpassagen des Bilderbuches wird das 362 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="363"?> Wiesel einmal als „langes Luder“ (Blake/ Scheffler 2017, 5. DS) und einmal als „lange Luda“ (ebd., 7. DS) bezeichnet. Lange Luda wird im Bilderbuch insgesamt elfmal verwendet. Hierbei handelt es sich scheinbar um den Namen des Wiesels, der im Gegensatz zur Bezeichnung „das lange Luder“ (ebd., 5. DS) stets ohne bestimmten Artikel gebraucht wird. Ida formuliert im ersten Kontext die Text‐ passage sagte ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ (5. DS), während im Bilderbuch der folgende Text zu finden ist: „‚He Duda! Du musst sofort runterkommen! ‘, riefen sie. ‚Dahinten kommt das lange Luder! ‘“ (Blake/ Scheffler 2017, 5. DS) Im zweiten Kontext formuliert Ida: dann [.] fängte das lange tier an hochzukommen. (7. DS) „Lange Luda begann den Baum hinaufzuklettern.“ (Blake/ Scheffler 2017, 7. DS) Idas Formulierung das lange Tier kann somit als Variation der Formulierung das lange Luder (Typ „Ersetzen“) oder des Eigennamens Lange Luda (Typ „Weglassen“/ „Ersetzen“) im gleichen oder im neuen Kontext bezeichnet werden. Idas Gebrauch der Ausdrücke der lange Duda, jemandem zuwinken und dunkle Höhle lässt sich als einmaliger Gebrauch einer Variation eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, bezeichnen. So kann die Formulierung der lange duda (5. DS) als Mischung aus den im Bilderbuch verwendeten Formulierungen „He Duda“ (z. B. Blake/ Scheffler 2017, 1. DS), dem Namen des Protagonisten, „das lange Luder“ (ebd., 5. DS) und „Lange Luda“ (ebd.), dem Namen des Wiesels, beschrieben werden. Beim Ausdruck der lange duda (5. DS) könnte es sich somit - in Anlehnung an Janichs Kombination von zwei Phraseologismen (vgl. Janich 2010, S. 207) - um eine Kombination zweier sprachlicher Muster handeln. ln der Textpassage dann kam das tier hoch. er winkte dem tier ZU. (8. DS) verwendet Ida das sprachliche Muster jemandem zuwinken. Im Bilderbuchtext wird das Verb winken im gleichen Kontext gebraucht: „Lange Luda sah nach oben. He Duda winkte. Lange Luda begann den Baum hinaufzu‐ klettern.“ (Blake/ Scheffler 2017, 7. DS) Wie im Zusammenhang mit neuen Inhalten bereits ausgeführt wurde, macht Ida einmal Gebrauch von dem sprachlichen Muster dunkle Höhle, während im Bilderbuch diese Höhle auf der sprachlichen Ebene nicht näher beschrieben wird (vgl. Blake/ Scheffler 2017, 2. DS). Das von Ida gebildete sprachliche Muster kann als Variation des im Bilderbuch in einem anderen Kontext verwendeten sprachlichen Muster dunkelste Ecke (Typ „Ersetzen“) bezeichnet werden. Mit Hilfe dieser Formulierung beschreibt das Wiesel Lange Luda seinen Wohnort, wodurch eine unheimliche Atmosphäre erzeugt wird, die auch zu der Abbildung der dunklen Höhle passt, auf die Ida Bezug nimmt: „‚Nein mein Freund‘, zischte 3.1 Textanalysen 363 <?page no="364"?> sie. „‚Ich wohne in der dunkelsten Ecke des Waldes.‘“ (Blake/ Scheffler 2017, 9. DS) Idas Textproduktion weist zudem den einmaligen Gebrauch eines sprachlichen Musters auf, das nicht im Bilderbuch vorkommt. Dazu gehören die Formulie‐ rungen sich etwas vordenken, etwas einfach tun sowie und weg ist er. Ida bildet die Formulierung sich etwas vordenken und bringt damit zum Ausdruck, dass es sich bei dem Geäußerten um die Gedanken des Kaninchens handelt: also denkte er sich vor, ob er vielleicht auf einem BAUM wohnen will/ [.] wollte. (4. DS) Ida macht während der Textproduktion keinen weiteren Gebrauch von dieser Formulierung. Ob es sich hierbei um einen Versprecher, um eine Annäherung an die Formulierung sich etwas denken oder eine Mischung aus den Formulierungen sich etwas denken und sich etwas vorstellen handelt, bleibt offen. Die Ausdrücke sich etwas denken und sich etwas vorstellen sind im Bilderbuch nicht enthalten. Das Verb denken wird hingegen sechsmal in anderen Kontexten im Bilderbuch genutzt (vgl. Blake/ Scheffler 2017, 1. DS, 2. DS, 2. DS, 3. DS, 6. DS, 12. DS). Da es sich beim Verb denken nach dem Verständnis von Musterhaftigkeit der vorliegenden Arbeit (vgl. I.5.7) jedoch nicht um ein Muster handelt, wird an dieser Stelle nicht von einer Variation eines sprachlichen Musters in einem neuen Kontext gesprochen. Des Weiteren greift Ida auf das sprachliche Muster etwas einfach tun zurück: das langtier kommt aus dem gebüsch raus. hey duda isst einfach noch en bisschen HAselnuss. (6. DS) Sie macht dadurch deutlich, dass das Handeln des Hasen im Kontrast zur erwarteten Reaktion auf das beschriebene Ereignis steht. Es erweckt den Eindruck, dass es He Duda nicht kümmert, dass das Wiesel im Anmarsch ist. He Duda scheint keine Gefahr zu wittern. Ida beendet ihre Geschichte mit der Formulierung und weg ist er, um zum Ausdruck zu bringen, dass He Duda verschwunden ist: und vor lauter schreck fängt he duda an zu springen und weg is er. (11. DS) Diese Formulierung stellt eine Variation der gängigen Wendung Und weg war er dar. Im Text des Bilderbuches wird diese Formulierung nicht verwendet. Allerdings weist das Bilderbuch eine andere gängige Formulierung auf, mit der ebenfalls zum Ausdruck gebracht wird, dass jemand verschwindet - in diesem Fall das Wiesel. Bei dieser Formulierung handelt es sich um eine Variation des sprachlichen Musters Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist: dahin zurücksegeln, wo jemand hergekommen ist. Im Bilderbuchtext heißt es: „Lange Luda segelte durch die Luft, weit weit weg, dahin zurück, wo sie hergekommen war“ (Blake/ Scheffler 2017, 11. DS). So lässt sich die von Ida verwendete 364 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="365"?> Formulierung zwar nicht als eine Variation eines Phraseologismus aus dem Buch bezeichnen. Jedoch greift Ida, um auszudrücken, dass jemand verschwindet, wie im Bilderbuch auf eine bekannte Redewendung zurück. Somit scheint hier zusätzlich Musterhaftigkeit auf einer abstrakteren Ebene vorzuliegen: das Verwenden einer für Narrationen typischen sprachlichen Wendung am Ende einer Geschichte, um zum Ausdruck zu bringen, dass eine Person verschwindet. Dies kann als erzähltypisches Muster bezeichnet werden. An Idas Textproduktion lassen sich zudem zahlreiche Beobachtungen zum Gebrauch struktureller Muster machen. Erstens weist der Text den mehrfachen Gebrauch eines strukturellen Musters auf, das nicht im Bilderbuch vorkommt. Vierzehnmal verwendet Ida das im Bilderbuch nicht enthaltene strukturelle Muster [„Dann“ + Verb]. Es dient der Textstrukturierung. Beim Füllen der Leerstellen dieses strukturellen Musters gebraucht Ida fünf Verben mehrfach: Fünfmal wird die Leerstelle von Ida mit dem Verb gehen gefüllt (vgl. 4. DS, 5. DS, 6. DS, 9, DS, 9. DS), zweimal mit dem Verb sehen (vgl. 4. DS, 4. DS), dreimal mit kommen (vgl. 6. DS, 8. DS. 9. DS), zweimal mit dem Verb fragen (vgl. 8. DS, 9. DS) und zweimal mit dem Verb anfangen (vgl. 7. DS, 9. DS). Zweitens lassen sich die folgenden Beobachtungen zum einmaligen Gebrauch eines strukturellen Musters machen, das nicht im Bilderbuch vorkommt. Sie beziehen sich auf den Gebrauch der Formulierungen [„Nun“ + Verb] und [„Also“ + Verb]. Einmalig verwendet Ida das strukturelle Muster [„Nun“ + Verb]: nun [.] dachte er, für was er so lange BEINE bräuchte. (3. DS) Dadurch markiert Ida die zeitliche Reihenfolge der Handlungen bzw. der Gedanken He Dudas. Im Bilderbuchtext findet keine zeitliche Einordnung von He Dudas Gedanken statt: „He Duda wusste nicht, warum er so große Füße hatte“ (Blake/ Scheffler 2017, 3. DS). An einer Stelle gebraucht Ida das strukturelle Muster [„Also“ + Verb]: dann siehtete he duda, wie die vögel auf dem baum schön sitzen. der eine ha/ , eine eule [zeigt auf das Bild der Eule im Baum] , da/ . und dann ging er weiter. dann siehte he duda die eich [.] hörnchen HASELNUSS knabberten. [2] also denkte er sich vor, ob er vielleicht auf einem BAUM wohnen will/ [.] wollte. (4. DS) Wie bereits beschrieben leitet Ida damit die Konsequenz von He Dudas Beobachten der Vögel und Eichhörnchen ein. Im Bilderbuch wird die Konsequenz, die He Duda aus seinen Beobachtungen zieht, durch die Konjunktion und ausgedrückt: „He Duda sah die Vögel im Baum und beschloss, auf einem Baum zu wohnen. He Duda 3.1 Textanalysen 365 <?page no="366"?> sah, dass die Eichhörnchen Eicheln aßen, und beschloss, Eicheln zu essen.“ (Blake/ Scheffler 2017, 4. DS) Ida vermittelt somit eine ähnliche Aussage wie im Bilderbuch, wählt dazu jedoch ein Konsekutivadverb, aus dem eindeutig und explizit zu schließen ist, dass nun eine Konsequenz folgt, während die im Bilderbuchtext verwendete Konjunktion und mehrere Funktionen erfüllen kann. Drittens weist Idas Text den mehrmaligen Gebrauch eines strukturellen Musters auf, das im Bilderbuch vorkommt. Dies betrifft die Formulierungen [„Alle“ + Verb] und [„Und“ + Satz]. Wie bereits im Zusammenhang mit den von Ida genutzten Baumustern beschrieben macht Ida mehrmals Gebrauch von einer Anapher, die zum einen als strukturelles Muster mit poetischer Funktion und zum anderen als Muster der dritten Ebene bezeichnet werden kann. Neben den bereits beschriebenen Textpassagen des Baumusters verwendet Ida auch in folgendem Abschnitt eine Anapher: ALLE sind aufgeregt. alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. (5. DS) Das zugrunde liegende strukturelle Muster lässt sich folgendermaßen beschreiben: [„Alle“ + Verb] oder in der abstrakten Form [Wort + X]. Im Bilderbuch wird in diesem Kontext keine Anapher verwendet. Da jedoch das Bilderbuch - insbesondere die Baumuster - stark von Anaphern geprägt ist, könnte es sich um eine (implizite) Übernahme dieses Musters in einem neuen Kontext handeln. Ob der häufige (zehnfache) Gebrauch von Anaphern im Bilderbuch das Formulieren einer Anapher an dieser Stelle beeinflusst hat, bleibt unklar. Ein weiteres von Ida viermal genutztes strukturelles Muster weist folgende Form auf: [„Und“ + Satz]. Auffällig ist, dass Ida das Muster zweimal in Verbindung mit dem Temporaladverb dann nutzt (4. DS, 8. DS): dann siehtete he duda, wie die vögel auf dem baum schön sitzen. der eine ha/ , eine eule [zeigt auf das Bild der Eule im Baum] , da/ . und dann ging er weiter. (4. DS) er winkte dem tier ZU. [4] ob/ und dann fragte er sich, wo er jetzt/ was er sein sollte [leise ab ‚sollte‘] . (8. DS) In der folgenden Textpassage wird es zweimal genutzt. Einmal scheint damit die Reaktion eines Tieres (He Duda) auf die Handlung eines anderen Tieres (das Langtier) gekennzeichnet zu werden: dann vor lauter schreck springt das tier und he duda springt weg. [blättert um] [3] und vor lauter schreck fängt he duda an zu springen und weg is er. [I schlägt eine Seite mit dem Bild einer Blumenwiese auf, klappt das Buch zu] (10./ 11. DS). Der vierte Gebrauch der Konjunktion findet nach dem Umblättern statt und kann somit als Anbinden 366 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="367"?> der Handlung an den vorangegangenen Inhalt bezeichnet werden. In drei der vier Situationen markiert die Konjunktion und ein zeitliches Nacheinander von Handlungen. In einer Situation markiert es vermutlich eine Konsequenz. Teil‐ weise verbindet Ida Sätze miteinander, die das gleiche Subjekt haben. Teilweise bindet sie auch Sätze mit anderem Subjekt an den vorangegangenen Satz oder elliptischen Satz. Im Bilderbuchtext wird das Muster [„Und“ + Satz] lediglich einmal in einem anderen Kontext verwendet: „Ihre Zähne waren so scharf wie Glassplitter und ihre Augen waren so schnell wie Flöhe“ (Blake/ Scheffler 2017, 6. DS). In diesem Kontext erfüllt es eine andere Funktion als in Idas Text: Es wird für eine Aufzählung verwendet. Da es sich bei dem strukturellen Muster [„Und“ + Satz] um ein im mündlichen Sprachgebrauch gängiges Muster handelt und es zudem im Bilderbuch nicht genau die gleiche Funktion wie in Idas Text erfüllt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass es sich bei dem Gebrauch dieses Musters in Idas Text um Übernahmen aus dem Bilderbuch handelt. Viertens lassen sich Beobachtungen zum mehrmaligen Gebrauch einer Variation eines strukturellen Musters machen, das im Bilderbuch vorkommt. In den beiden Sequenzen der vierten Doppelseite werden zuerst das Wahrnehmen der Vögel in einem Baum und anschließend He Dudas Beobachten des Verzehrs von Nüssen durch die Eichhörnchen erzählt. In jeder der beiden Sequenzen nutzt Ida das strukturelle Muster [„Dann siehte(te) He Duda, wie“ + …] (4. DS). Im Bilderbuch werden in diesem Kontext in jeder Sequenz zunächst die Formulierung He Duda sah und anschließend die Formulierung und beschloss genutzt. Dies lässt sich in folgendem strukturellen Muster zusammenfassen: [„He Duda sah“ + X + „und beschloss“ + X]. Da der zweite Teil dieser Konstruktion nicht zu Idas sprachlichem Muster gehört, weist das Bilderbuch an dieser Stelle eine stärkere Struktur auf als Idas Text. Die in Idas strukturellem Muster enthaltenen Formulierungen lassen sich als Variation des im Buch zweifach verwendeten sprachlichen Musters He Duda sah beschreiben: Die Reihenfolge der Wörter wird verändert, das Temporaladverb dann wird hinzugefügt und die Präteritumform des starken Verbs sehen wird wie die Form eines schwachen Verbes (Übergeneralisierung) gebildet. Die Häufigkeit der Verwendung dieses sprachlichen Musters und der Kontext der Verwendung sind im Bilderbuch und in Idas Text gleich. Gleiches gilt für die Funktion: Auf sprachlicher Ebene wird eine inhaltliche Wiederholung zum Ausdruck gebracht. Obgleich Ida eine Variation des sprachlichen Musters aus dem Bilderbuch wählt, so wird diese von ihr - genau wie das äquivalente sprachliche Muster im Bilderbuch - in ihrem Text wiederholt. Beide Texte weisen somit die Wiederholung einer sprachlichen Einheit auf. Auch hier kann der Gebrauch eines erzähltypischen Musters erkannt werden: die Wiederholung von sprachlichen Einheiten als rhetorisches Mittel 3.1 Textanalysen 367 <?page no="368"?> zur Darstellung einer sich wiederholenden Handlung. Dies lässt sich als Passung von Sprache und Inhalt bezeichnen. Neben sprachlichen und strukturellen Mustern weist Idas Text zudem erzähltypi‐ sche Muster auf. Zu nennen ist zunächst der Gebrauch direkter Rede, von der Ida insgesamt 21-mal Gebrauch macht: 18-mal ohne Begleitsatz (vgl. 1. DS), zweimal mit nachgestelltem Begleitsatz (vgl. 1. DS, 2. DS) und einmal mit vorangestelltem Begleitsatz, wobei diese durch ein fehlendes Subjekt unvollständig ist (sagte (6. DS)). Während die ersten beiden Formen direkter Rede auch im Bilderbuch enthalten sind, ist die dritte Form direkter Rede im Bilderbuch nicht vorhanden und muss Ida daher aus anderen Kontexten bereits bekannt gewesen sein. In ihren Redebegleitsätzen gebraucht Ida ausschließlich die zwei unspezifi‐ schen Verben denken (1. DS) und sagen (2. DS, 5. DS). Diese sind auch Bestand‐ teil von Begleitsätzen des Bilderbuchtextes, wobei das Verb denken mehrfach (dreimal) im Bilderbuchtext in Begleitsätzen enthalten ist (vgl. Tabelle 17 im digitalen Anhang). Im ersten Fall (denken) wird im Bilderbuch im gleichen Kontext auf das gleiche Verb zurückgegriffen. Allerdings verwendet Ida nicht die Form dachte, sondern denkte, was darauf hindeutet, dass Ida keinen memorierten Ausdruck aus dem Bilderbuch wiedergibt, sondern die Verbform denkte aktiv bildet. Im zweiten Fall (sagen) nutzt Ida ein anderes Verb als im Bilderbuch im gleichen Kontext verwendet wird. Während im Bilderbuch das Verb denken genutzt wird („‚Soll ich Fisch essen? ‘, dachte er. ‚Oder Kartoffeln‘? ‚Oder Würmer? ‘“ (2. DS)), formuliert Ida ‚fisch [zeigt auf das Bild mit Fisch] oder regenwürmer [zeigt auf das Bild mit Regenwürmern] oder kartoffeln [zeigt auf das Bild mit Kartoffeln] ‘, sagte er. (2. DS) Das Verb sagen kommt im Bilderbuch in einem anderen Kontext vor: „‚Hallo! ‘, sagte He Duda zu lange Luda.“ (Blake/ Scheffler 2017, 8. DS). Im dritten Fall (sagen) wird im Bilderbuch auch ein anderes Verb im gleichen Kontext verwendet: Das spezifische Verb rufen, das sich von dem von Idas gewählten Verb durch die Komponente der Lautstärke unterscheidet. Während der Bilderbuchtext das Verb rufen beinhaltet („‚He Duda! Du musst sofort runterkommen! ‘, riefen sie.“ (Ebd., 5. DS)), heißt es in Idas Text in diesem Zusammenhang: sagte: ‚he duda, komm runter, das lange TIER ist wieder da! ‘ [laut ab ‚he duda‘] (5. DS) Die Zusatzinformation, die das Verb rufen im Gegensatz zum Verb sagen enthält, wird von Ida durch eine erhöhte Lautstärke der direkten Rede ( [laut ab ‚he duda‘] ) zum Ausdruck gebracht (vgl. Tabelle 18 im digitalen Anhang). Die meisten Inhalte, die Ida mit Hilfe von direkter Rede wiedergibt, werden auch im Bilderbuch in Form von direkter Rede zum Ausdruck gebracht. Dabei sind 368 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="369"?> die kompletten Formulierungen bestehend aus direkter Rede ohne Begleitsatz oder direkter Rede mit Begleitsatz in Idas Text und im Bilderbuchtext lediglich zweimal identisch. Ida verwendet direkte Rede erstens um die gleichen oder ähnliche Inhalte wie im Bilderbuch zu vermitteln, die in diesem ebenfalls als direkte Rede formuliert sind (Fall 1) und zweitens um Inhalte zum Ausdruck zu bringen, die im Bilderbuch nicht enthalten sind (Fall 4). Weitere von Ida verwendete erzähltypische Muster wurden bereits im Zusam‐ menhang mit sprachlichen und strukturellen Mustern dargestellt. Zu nennen sind hier das erzähltypische Muster der Wiederholung sowie das Verwenden einer für Narrationen typischen sprachlichen Wendung am Ende einer Geschichte. Es folgen Beobachtungen zu Musterhaftigkeit im Kindertext im Vergleich zum Bilderbuchtext, die sich auf den Gebrauch des strukturellen Musters [Adjektiv + Nomen/ Verb] beziehen. In Idas Text sind sieben Formulierungen enthalten, mit denen ein Nomen oder Verb näher durch ein Adjektiv bestimmt wird (vgl. Tabelle 19 im digitalen Anhang). Auffällig dabei ist, dass vier dieser Formulierungen das Adjektiv lang enthalten (lange TIER (5. DS), lange BEINE (3. DS), der lange duda (5. DS), das lange tier (7. DS)). Ihnen liegt zusätzlich das strukturelle Muster [„lang“ + Nomen] zugrunde. Zudem dienen drei der vier Formulierungen zur Bezeichnung des Tieres, das im Bilderbuch den Eigennamen Lange Luda trägt. Ein Blick auf das Vorkommen des strukturellen Musters [„lang“ + Verb/ Nomen] zeigt, dass dieses Muster im Bilderbuchtext insgesamt 13-mal enthalten ist, wobei es auch hier - ähnlich wie in Idas Text - überwiegend zur Bezeichnung des Wiesels verwendet wird (vgl. Tabelle 20 im digitalen Anhang). Die drei von Ida gebildeten sprachlichen Muster, die dem strukturellen Muster [„lang“ + Nomen/ Verb] folgen, sind in keinem der Fälle vollkommen identisch mit den Formulierungen des Bilderbuches, die diesem Muster zugeordnet werden können. Weitere Ausführungen zum sprachlichen Muster lange Beine sind im Zusammenhang mit der Darstellung veränderter Inhalte zu finden, wäh‐ rend Überlegungen zu den Ausdrücken langes Tier und der lange Duda im Zu‐ sammenhang mit dem Gebrauch sprachlicher Muster nachzulesen sind. Weitere Formulierungen, die über die genannten Ausdrücke hinaus dem strukturellen Muster [Adjektiv + Nomen/ Verb] folgen, sind brummeliges Nastier, dunkle Höhle und schön sitzen. Während das sprachliche Muster brummeliges Nastier analog zum im Bilderbuch vorhandenen Ausdruck schnabliges Schnabeltier gebildet wurde, werden das Nomen Höhle und das Verb sitzen im Bilderbuch in den gleichen Kontexten jeweils ohne ein Adjektiv gebraucht. Somit wird in diesen beiden Fällen - im Gegensatz zu den übrigen dargestellten Textpassagen - das 3.1 Textanalysen 369 <?page no="370"?> strukturelle Muster [Adjektiv + Nomen/ Verb] von Ida in Kontexten gebildet, in denen es im Bilderbuch nicht enthalten ist. Während das von Ida verwendete Adjektiv dunkel in einem anderen Zusammenhang im Bilderbuch enthalten ist, gilt dies für das Adjektiv schön nicht. Zum Mustergebrauch lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Ida in ihren Text Variationen beider Baumuster, die im Bilderbuchtext enthalten sind, auf‐ nimmt. Dabei werden einige Bausteine weggelassen oder mit anderen sprachli‐ chen Strukturen oder Inhalten gefüllt. Zudem nutzt Ida Variationen sprachlicher Muster des Bilderbuches im glei‐ chen Kontext. Außerdem greift sie an mehreren Stellen auf ein und dasselbe sprachliche Muster zurück, das in komprimierter Form den Inhalt eines ganzen Satzes vermitteln kann und nicht aus dem Bilderbuchtext stammt. Dabei erfüllt das Muster jedes Mal die gleiche Funktion in ihrer Textproduktion. Ida macht zudem Gebrauch von einem sprachlichen Muster sowie von einer Variation dieses Musters, das im Bilderbuch nicht enthalten ist und die Funktion erfüllt, einzelne Szenen, die in Bildern dargestellt werden, miteinander zu verknüpfen. Zur Textstrukturierung bedient sich Ida 14-mal des im Bilderbuch nicht enthaltenen strukturellen Musters [„Dann“ + Verb] und stellt auf diese Weise verschiedene Handlungen und Ereignisse in einen zeitlichen Zusammenhang. Ferner nutzt sie einmal das strukturelle Muster [„Nun“ + Verb], das auch nicht im Bilderbuchtext enthalten ist und die gleiche Funktion für ihren Text erfüllt. Um zwei Ereignisse in einen kausalen Zusammenhang zu stellen, macht Ida Gebrauch vom strukturellen Muster [„Also“ + Verb], das ebenfalls nicht im Bilderbuchtext vorhanden ist. Des Weiteren weist Idas Text erzähltypische Muster auf. Auf das erzähltypische Muster der direkten Rede greift Ida nur in den Kontexten zurück, in denen auch der Bilderbuchtext direkte Rede enthält. Wie das Bilderbuch enthält Idas Text an mehreren Stellen direkte Rede ohne Redebegleitsatz. Diese ist in den meisten Fällen nicht komplett identisch mit der des Bilderbuches. In zwei der drei Situationen, in denen Ida von direkter Rede mit Begleitsatz Gebrauch macht, wählt sie ein anderes Verb als das im Bilderbuch im entsprechenden Kontext verwendete - und zwar in beiden Fällen das unspezifische Verb sagen. Als weiteres erzähltypisches Muster kann der Gebrauch einer formelhaften Wendung am Ende der Geschichte bezeichnet werden. Möglicherweise wurde dieser Gebrauch durch eine andere formelhafte Wendung am Ende der Ge‐ schichte des Bilderbuches beeinflusst. Überdies nutzt Ida mehrfach das erzähl‐ typische Muster der Wiederholung von sprachlichen Einheiten, das auch im Bilderbuch verwendet wird. Dabei greift sie einmal auf andere sprachliche Einheiten als die im Bilderbuch im gleichen Kontext verwendeten zurück 370 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="371"?> und einmal auf eine Variation der im Bilderbuch verwendeten sprachlichen Einheiten. Es wird deutlich, dass Ida bei der Textproduktion die Leserin oder den Leser bzw. die Zuhörerin oder den Zuhörer im Blick hat. Während Ida ihren Text produziert, stellt sie immer wieder Blickkontakt zu der oder dem Erwachsenen her. Zudem lassen sich in Idas Text sprachliche Mittel identifizieren, die eine verstärkende bzw. betonende Wirkung haben. Die Betonung bestimmter Inhalte lässt auf eine Leserorientierung schließen. Zum einen setzt Ida die Intensi‐ tätspartikel so zur Betonung von Aussagen ein: nun [.] dachte er, für was er so lange BEINE bräuchte. (3. DS) dann ging er weiter [.] in sein hasendorf. DANN erblickte [.] der/ sind die hasen so aufgeregt (5. DS). Des Weiteren macht Ida Gebrauch von dem rhetorischen Mittel der Ana‐ pher: ALLE sind aufgeregt. alle kra/ rennen vor lauter schreck in ihre höhlen. (5. DS) Diese wird funktional eingesetzt, da durch den Gebrauch der Anapher hervorgehoben wird, dass sich wirklich alle Tiere vor dem langen Tier fürchten und daher die Flucht ergreifen, während He Duda als Einziger unbekümmert auf dem Baum sitzen bleibt. An mehreren Stellen betont Ida bestimmte Wörter und lenkt dadurch die Aufmerksamkeit der Zuhörerin oder des Zuhörers auf die Bedeutungen dieser Wörter. Mehrmals betont Ida Bezeichnungen für Objekte, die im Bild dargestellt sind und in den Fragesequenzen genannt werden: als ich ein AFFE wä: r? (1. DS) oder in einem NEst? (2. DS) zum ski: wasserfahrn? (3. DS) oder g e m ü: s e: ? (9. DS) Ida hebt zwei weitere Wörter durch besondere Betonungen hervor, als sie die Aufregung der Hasen thematisiert: DANN erblickte [.] der/ sind die hasen so aufgeregt. (5. DS). ALLE sind aufgeregt. (5. DS) Idas „Vorlesen“ ist insgesamt durch den immer wieder hergestellten Blickkon‐ takt zur zuhörenden Person geprägt sowie durch das Zeigen auf Abbildungen aus dem Bilderbuch. Letzteres kann als Mittel zur Lenkung des Blickes und der Aufmerksamkeit der zuhörenden Person bezeichnet werden. Ein weiterer Hinweis auf Leserorientierung wird im Zusammenhang mit Überarbeitungen in Idas Textproduktion erläutert. Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit lässt Idas Text im Hinblick auf den Gebrauch von Präteritum und Plusquamperfekt (Tempus), den Gebrauch schrift‐ sprachlicher Ausdrücke (Lexik) und dem Gebrauch hypotaktischer Satzkonstruk‐ tionen (Syntax) erkennen. 3.1 Textanalysen 371 <?page no="372"?> In der Erzählerrede verwendet Ida zum Großteil das Präteritum (21-mal). In einigen Fällen bildet sie die Präteritumformen starker Verben auf die gleiche Weise wie die Präteritumformen schwacher Verben. Diese Übergeneralisierung zeigt sich an folgenden Präteritumformen: siehtete (4. DS), siehte (4. DS), denkte (4. DS) und fängte (7. DS). Eine weitere Zeitform, auf die sie zurückgreift, ist das Plusquamperfekt (zweimal). Auffällig ist, dass Ida in ihrer Erzählerrede überwie‐ gend Zeitformen wählt, die dem konzeptionell schriftlichen Sprachgebrauch zugeordnet werden können. Überdies nutzt Ida zweimal den Konjunktiv II: als ich ein AFFE wä: r? [I platziert den Daumen auf dem Bild des Affen] oder ob ich ein stachel [.] schwein wär? (1. DS), während im gleichen Kontext des Bilderbuches direkte Rede im Indikativ gebraucht wird. Im Bilderbuch wird lediglich an einer Stelle der Konjunktiv II verwendet - und zwar in der direkten Rede: „Ich dachte, ich wäre ein Kaninchen.“ (Blake/ Scheffler 2017, 12. DS) Möglicherweise beeinflusste diese Formulierung Idas Textproduktion in neuen Kontexten. Teilweise verwendet Ida das Präsens (elfmal). Ida verwendet in ihrer Textproduktion zweimal den Ausdruck ein wenig, der dem konzeptionell schriftlichen Register zuzuordnen ist: dann ging er noch ein wenig weiter (9. DS). dann ging er noch ein wenig weiter. (9. DS) Dieser Ausdruck ist im Bilderbuchtext nicht ent‐ halten. Einmal macht Ida Gebrauch von dem Temporaladverb nun, das ebenfalls dem konzeptionell schriftlichen Sprachgebrauch zugeordnet werden kann: nun [.] dachte er, für was er so lange BEINE bräuchte. (3. DS) Auch dieses Temporaladverb wird im Bilderbuch an keiner Stelle verwendet. Das von Ida verwendete Verb erblickten (5. DS) entspricht ebenfalls dem konzeptionell schriftlichen Register: dann ging er weiter [.] in sein hasendorf. DANN erblickte [.]/ der sind die hasen so aufgeregt. (5. DS) Der Satzanfang, der das Verb erblicken enthält, wird allerdings von Ida so überarbeitet, dass das Verb in der Neufassung des Satzes wegfällt. Im Bilderbuchtext ist das Verb erblicken nicht enthalten. Das Verb blicken hingegen, das ebenfalls dem konzeptionell schriftlichen Register zugeordnet werden kann, kommt im Bilderbuch in einem anderen Kontext vor: „aber kein Kaninchen ließ sich blicken.“ (Blake/ Scheffler 2017, 6. DS) Ida nutzt hier somit eine Variation eines konzeptionell schriftlichen Verbs in einem neuen Kontext. Diese Beobachtungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Aufgabe, das Bilderbuch vorzulesen, bei Ida den Gebrauch konzeptionell schriftlicher Formulierungen herausgefordert zu haben scheint. Es handelt sich dabei um mehrere Formulierungen, die nicht im Bilderbuch vorkommen und um eine Formulierung, die im Bilderbuch in Variation vorkommt. 372 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="373"?> Idas Text besteht aus 33 Hauptsätzen, sieben Nebensätzen und 25 elliptischen Sätzen. Im Verhältnis zum Bilderbuch ist der Anteil an hypotaktischen Satzkonst‐ ruktionen in Idas Text höher. Die von Ida verwendeten Nebensatzkonstruktionen werden im Folgenden klassifiziert. Des Weiteren wird der Blick darauf gerichtet, auf welche Weise der von Ida mit dem Nebensatz zum Ausdruck gebrachte Inhalt im Bilderbuch vermittelt wird. In einem dritten Schritt wird die Nebensatzkon‐ struktion mit ähnlichen Konstruktionen im Bilderbuch verglichen (vgl. Tabelle 21 im digitalen Anhang). Bei den meisten hypotaktischen Satzkonstruktionen, die Ida bildet, handelt es sich um Interrogativsätze. Mit diesen bringt Ida zum Ausdruck, welche Fragen He Duda sich selbst stellt oder gestellt bekommt. So nutzt Ida einmal einen Interrogativsatz, der mit dem Interrogativadverb wo eingeleitet wird: denkte he duda [blättert um ab ‚denkte‘] (2. DS) [2] und wusste nicht, wo er wohnen sollte (3. DS). In diesem Fall wird diese Konstruktion im gleichen Kontext auch im Bilderbuch gebraucht: „He Duda wusste nicht, wo er wohnen sollte“ (Blake/ Scheffler 2017, 3. DS). Sie ist ebenfalls in einem weiteren Kontext im Bilderbuch enthalten: „Lange Luda segelte durch die Luft, weit weit weg, dahin zurück, wo sie hergekommen war“ (ebd., 11. DS). Ida verwendet zudem zwei Interrogativsätze, die sie mit dem Interrogativpro‐ nomen was einleitet. Der erste Interrogativsatz lautet: und dann fragte er sich, wo er jetzt/ was er sein sollte (8. DS). Im Bilderbuch ist an dieser Stelle kein Einleitungssatz, der den drei Fragen vorausgeht, vorhanden. Idas zweiter mit dem Interrogativpronomen was eingeleiteter Interrogativsatz lautet folgendermaßen: dann fragte das tier, was er gerne isst (9. DS). Auch in diesem Kontext ist im Bilderbuch kein Einleitungssatz, der den drei folgenden Fragen vorangeht, vorhanden. Ein Interrogativsatz, der mit dem Interrogativpronomen was eingeleitet wird, ist hingegen in zwei anderen Kontexten im Bilderbuch vorhanden: Einmal dient er dazu, einen ähnlichen Inhalt (Frage nach Wohnort) wie in Idas Text zum Ausdruck zu bringen: „He Duda wusste nicht, was er war“ (Blake/ Scheffler 2017, 1. DS). Ein weiteres Mal wird damit ein sehr ähnlicher Inhalt (Frage nach der Identität) wie in Idas Text zum Ausdruck gebracht: „He Duda wusste nicht, was er essen sollte“ (ebd., 2. DS). Diese beiden Sätze sind jeweils Bestandteil des ersten im Bilderbuch genutzten Baumusters. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der Aufbau des ersten Baumusters des Bilderbuches inklusive seines Interrogativsatzes einen Einfluss auf Idas Textproduktion gehabt. Der vierte von Ida im Rahmen ihrer Textproduktion gebildete Interrogativsatz wird mit der Formulierung für was eingeleitet: nun [.] dachte er, für 3.1 Textanalysen 373 <?page no="374"?> was er so lange BEINE bräuchte (3. DS). Im Bilderbuch wird ein ähnlicher Inhalt im gleichen Kontext mit einem durch ein Interrogativadverb eingeleiteten Interrogativsatz zum Ausdruck gebracht: „He Duda wusste nicht, warum er so große Füße hatte“ (Blake/ Scheffler 2017, 3. DS). Ein mit dem Ausdruck für was eingeleiteter Nebensatz ist im Bilderbuch nicht enthalten. Einen fünften Interrogativsatz leitet Ida mit der Konjunktion ob ein: also denkte er sich vor, ob er vielleicht auf einem BAUM wohnen will/ [.] wollte (4. DS). Im Bilderbuch ist dieser Inhalt Teil eines Satzgefüges mit Infinitivsatz: „He Duda sah die Vögel im Baum und beschloss, auf einem Baum zu wohnen“ (Blake/ Scheffler 2017, 4. DS). Es werden im Bilderbuch keine Nebensätze mit ob eingeleitet. Neben Interrogativsätzen macht Ida auch Gebrauch von zwei weiteren Arten von Nebensätzen. Einmal nutzt Ida einen mit dem Modaladverb wie eingeleiteten Modalsatz: dann siehtete he duda, wie die vögel auf dem baum schön sitzen (4. DS). Im Bilderbuch wird dieser Inhalt mit Hilfe des bereits aufgeführten Infinitivsatzes in Sprache gefasst: „[…] und beschloss, auf einem Baum zu wohnen“ (Blake/ Scheffler 2017, 4. DS). Mit dem Modaladverb wie eingeleitete Nebensätze sind im Bilderbuch nicht vorhanden. Einen Konsekutivsatz leitet Ida mit der Konjunktion dass ein: er hatte das gesehen, dass das langtier schon wieder hier war (7. DS). Ida nutzt einen mit der Konjunktion dass beginnenden Nebensatz, um einen Inhalt auszudrücken, der im Bilderbuch nicht enthalten ist. Ein mit der Konjunktion dass beginnender Nebensatz ist im Bilderbuch in einem anderen Kontext vorhanden („He Duda sah, dass die Eichhörnchen Eicheln aßen, und beschloss, Eicheln zu essen“ (Blake/ Scheffler 2017, 4. DS)). Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: • Ida macht einmal Gebrauch von einem Nebensatz, der mit dem gleichen In‐ terrogativadverb (wo) eingeleitet wird wie der Nebensatz, der im Bilderbuch im gleichen Kontext verwendet wird und einen ähnlichen Inhalt vermittelt. • Einmal nutzt sie einen Interrogativsatz (eingeleitet mit für was) in dem gleichen Kontext, in dem im Bilderbuch ein durch das Interrogativadverb warum eingeleiteter Nebensatz gebraucht wird. • Zweimal bildet sie einen Nebensatz (Modalsatz, Interrogativsatz), um einen ähnlichen Inhalt auszudrücken, der im Bilderbuch durch einen Infinitivsatz vermittelt wird. • Dreimal nutzt sie einen Nebensatz, um einen im Bilderbuch nicht vorhan‐ denen Inhalt zum Ausdruck zu bringen. 374 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="375"?> Ida produziert einen monologischen Text. Währenddessen tritt sie nicht in den Dialog mit der oder dem Erwachsenen. Sie nimmt jedoch beim Vorlesen immer wieder Blickkontakt zu der oder dem Erwachsenen auf. Im Folgenden werden Überarbeitungen, die anhand des Transkripts erkennbar sind, beschrieben, interpretiert und anschließend in Bezug zur Erkenntnis- und Wissenstheorie Polanyis (vgl. I.6; Neuweg 2004; Polanyi 1985) gesetzt. Als erstes überarbeitet Ida ihren Satzanfang, indem sie das bereits geäußerte Personalpronomen ich durch die Konjunktion als ersetzt: [3] ich/ als ich ein/ [deutet mit dem Zeigefinger auf das Bild des Koalabären und zieht den Finger wieder weg] [.] als ich ein AFFE wä: r? [I platziert den Daumen auf dem Bild des Affen] (1. DS) Durch die Überarbeitung findet eine stärkere Annäherung an die sprachliche Form des Bilderbuches statt. Bei der äquivalenten Formulierung des Bilderbuches handelt es sich ebenfalls um eine Frage, bei dem das Personalpronomen ich wie in Idas überarbeiteter Formulierung an zweiter Stelle steht: „‚Bin ich ein Affe? ‘, dachte er“ (Blake/ Scheffler 2017, 1. DS). Idas zweite Überarbeitung scheint eine Überarbeitung am Prätext zu sein. Ida formuliert als ich ein/ (1. DS), während sie mit dem Finger auf das Bild des Koalabären zeigt. Dann hält sie für einen Moment inne. Dieses nonverbale Verhalten deutet darauf hin, dass Ida offenbar zuerst den Begriff Koala-Bär nennen möchte. Dann wiederholt Ida den gleichen Satzanfang jedoch und vervollständigt ihn nun mit dem Nomen Affe, während sie den Daumen auf das Bild des Affen platziert. An dieser Stelle findet sehr wahrscheinlich eine inhaltliche Überarbeitung am Prätext statt. Da sich der Koalabär links auf der Bilderbuchseite befindet, der Affe jedoch rechts, erscheint es logisch, den Text mit dem Affen zu beginnen, wenn eine Orientierung an der Leserichtung von links nach rechts stattfindet. Da im Bilderbuchtext die Sequenz jedoch mit der Nennung des Affen beginnt, liegt die Vermutung nahe, dass Ida versucht, sich so gut wie möglich am Originaltext zu orientieren und aus diesem Grund eine Überarbeitung am Prätext vornimmt. Hier wird offenbar das bereits gewählte Wort Koala (p) im Lichte von d, der Schreibidee, geprüft. Der distale Term entspricht dabei Idas mentaler Repräsentation des Bilderbuchtextes. Da im Bilderbuchtext zuerst die Frage mit dem Nomen Affe gestellt wird, überarbeitet Ida ihr scheinbar bereits im Kopf gewähltes Wort. Die von Ida vorgenommene Überarbeitung scheint der Annäherung an den Inhalt des Bilderbuches zu dienen, indem die Reihenfolge aufgezählter Elemente der des Bilderbuches angepasst wird. Die folgende Textpassage enthält mehrere inhaltliche Überarbeitungen: dann siehtete he duda, wie die vögel auf dem baum schön sitzen. der eine h/ , eine eule [zeigt auf das Bild der Eule im 3.1 Textanalysen 375 <?page no="376"?> Baum] , da/ . und dann ging er weiter. (4. DS) Zunächst scheint Ida etwas über einen der Vögel „vorlesen“ zu wollen (der eine h/ (4. DS)), bricht diese Handlung jedoch ab und zählt lediglich auf, was sie sieht: eine eule (4. DS). Dann verwendet Ida vermutlich erneut ein deiktisches „da“, bricht die Aussage jedoch ab und wechselt zurück vom beschreibenden in den narrativen Modus: und dann ging er weiter (4. DS). Mit dieser Formulierung treibt sie den Fortgang der Geschichte voran und leitet über zu He Dudas nächster Beobachtung. Im folgenden Ausschnitt des Transkripts überarbeitet Ida die Zeitform des Verbs wollen. Anstatt der Präsensform wählt sie nun die Präteritumform: also denkte er sich vor, ob er vielleicht auf einem BAUM wohnen will/ [.] wollte. (4. DS) Somit wird erstens grammatische Richtigkeit hergestellt. Zweitens passt die gewählte Zeitform besser zum bereits produzierten Text und drittens entspricht sie der typischen Erzählzeit von Narrationen. An dieser Stelle findet somit auch eine Überarbeitung in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit statt. In der folgenden Szene nimmt Ida eine inhaltliche Überarbeitung vor: dann ging er weiter [.] in sein hasendorf. DANN erblickte [.] der/ sind die hasen so aufgeregt. (5. DS) Ida beschreibt nun nicht, was He Duda sieht, sondern den Gemütszustand der Hasen. Im Bilderbuch wird zu den beiden vorangegangenen Bildern jeweils die Formulierung „He Duda sah, …“ verwendet, jedoch nicht zur fünften Doppelseite. Möglicherweise versucht Ida hier sich (inhaltlich) möglichst nah am Bilderbuchtext zu halten und nimmt aus diesem Grund die Überarbeitung vor. In der nächsten Szene beginnt Ida zunächst, einen Nebensatz mit der Kon‐ junktion ob einzuleiten: er winkte dem tier ZU. [4] ob/ und dann fragte er sich, wo er jetzt/ was er sein sollte [leise ab ‚sollte‘] . (8. DS) Die Vermutung liegt nahe, dass Ida anschließend eine Frage He Dudas formuliert hätte. Eine ähnliche Formulierung verwendet sie auf der ersten Doppelseite bereits: oder ob ich ein stachel [.] schwein wär? (1. DS) Ida bricht den Satz jedoch ab und beginnt erneut mit der Formulierung eines Satzes, der mehr Kontextinformationen für die Zuhörende oder den Zuhörenden liefert, indem er die Figur nennt, die sich die anschließend formulierte Frage stellt: und dann fragte er sich (8. DS). Auch bei der Formulierung der Frage, die sich die Figur stellt, nimmt Ida erneut eine inhaltliche Überarbeitung vor: und dann fragte er sich, wo er jetzt/ was er sein sollte (8. DS). Zunächst scheint Ida eine indirekte Frage zum Wohnort der Figur zu formulieren, bricht diese jedoch ab und formuliert eine indirekte Frage zur Tierart. Ida entscheidet sich entsprechend 376 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="377"?> der Anordnung der Abbildungen auf der achten Doppelseite dafür, zunächst die Fragen zu den unterschiedlichen Tieren (linke Seite) zu formulieren und anschließend die Wohnorte (rechte Seite) zu benennen, die auf der rechten Seite der achten Doppelseite abgebildet sind. Hier scheint sie sich entweder an der Leserichtung von links nach rechts zu orientieren oder an der gewählten Reihenfolge des Bilderbuches. Die nächste von Ida vorgenommene Überarbeitung bezieht sich erneut auf den Inhalt der Geschichte. Sie formuliert: dann kam das tier vor laut/ dann fragte das tier, was er gerne isst (9. DS). Zunächst scheint sich Ida auf die Abbildung der rechten Seite der neunten Doppelseite zu beziehen, auf der der Körper des Wiesels in Richtung des auf dem Baum sitzenden Kaninchens gerichtet ist. Idas abgebrochene Äußerung legt die Vermutung nahe, dass Ida im Begriff ist, das sprachliche Muster etwas vor lauter Schreck tun zu bilden, das sie insgesamt dreimal verwendet. Dieses wird auf der darauffolgenden Doppelseite im Zusammenhang mit dem Wiesel (tier) verwendet: dann vor lauter schreck springt das tier (10. DS). Möglicherweise wurde die von Ida vorgenommene Überarbeitung durch die ab‐ gebildete Tiernahrung auf der linken Hälfte der neunten Doppelseite ausgelöst. Auch diese Überarbeitung lässt sich als Hinweis auf Idas mögliche Bestrebung deuten, den Inhalt des Bilderbuches möglichst genau wiedergeben zu wollen: Sie fügt nämlich einen zuvor ausgelassenen Inhalt aus dem Bilderbuch, der auch im Bild dargestellt ist, nachträglich in ihre Textproduktion ein. Bei den meisten von Idas wahrnehmbaren Überarbeitungen handelt es sich um inhaltliche Überarbeitungen. Ida scheint mehrfach die bereits produzierte (oder gedachte) Formulierung (p) im Lichte von d, ihrer Schreibidee, zu prüfen. Ihre Schreibidee scheint dabei vermutlich sehr stark ihrer mentalen Repräsen‐ tation des Bilderbuchtextes zu entsprechen. Hervorzuheben im Hinblick auf die Entwicklung von Textkompetenz ist eine Überarbeitung in Richtung konzeptio‐ nelle Schriftlichkeit (Tempus) sowie eine Überarbeitung, die Kontextinformation für die zuhörende Person liefert und somit auf Leserorientierung schließen lässt. Wie das Transkript verdeutlich, ist Ida in der Lage, einen monologischen Text zu produzieren. Ida wurde durch die Pretend-Reading-Situation zur Produktion eines monologischen Textes herausgefordert, der zum Großteil aus sich heraus verständlich ist. Es zeigt, dass Ida überwiegend Kohärenz herstellt. Zudem ist Leserorientierung erkennbar. Somit werden bei ihrer Textproduktion zwei der zentralsten Merkmale von Textualität (vgl. dazu I, 3.1) berücksichtigt. Idas implizite Textkompetenz wird insbesondere an den Stellen deutlich, an denen sie ein nicht aus dem Bilderbuch stammendes sprachliches oder strukturelles Muster funktional gebraucht. Dazu gehören Muster zur Textstruk‐ 3.1 Textanalysen 377 <?page no="378"?> 153 Der Name des Kindes wurde aus Datenschutzgründen geändert. turierung wie [„Dann“ + Verb] und [„Nun“ + Verb]. Dies lässt sich als Hinweis darauf deuten, dass jeweils eine implizite Beziehung zwischen dem Muster (p) und seiner Funktion (d) besteht. In Idas Textproduktionen ist auch der mehr‐ fache funktionale Gebrauch eines solchen Musters, nämlich vor lauter Schreck, in verschiedenen Kontexten zu beobachten. Bei diesem Beispiel ist die implizite Verbindung zwischen dem Muster und seiner Funktion noch offensichtlicher, da das Muster von Ida in Kombination mit plötzlich ausgeführten Handlungen von Tieren verwendet wird. Des Weiteren scheint Ida über implizites Wissen zur Verbindung von ein‐ zelnen bildlich dargestellten Szenen durch ein wiederkehrendes sprachliches Muster (Dann ging er weiter) zu verfügen, da sie dies mehrfach erfolgreich in ihrer Textproduktion zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus scheint Ida auch über implizites erzähltypisches Muster‐ wissen zu verfügen. Mehrfach gebraucht sie in ihrer Textproduktion Wieder‐ holungen von sprachlichen Einheiten funktional, nämlich wenn sich wieder‐ holende Inhalte (Handlungen) in Sprache gebracht werden müssen. Dieses Muster, das auch im Bilderbuch mehrfach genutzt wird, wird von Ida mit vom Bilderbuchtext abweichenden Formulierungen verwendet. 3.1.4 Textanalyse IV: Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten von Mia Mia ist zum Zeitpunkt der Durchführung der Pretend-Reading-Situation mit der oder dem Studierenden sechs Jahre und drei Monate alt. Ihre Familiensprache ist Deutsch. Sie hat keine Geschwister. Die Herkunftsregionen der Eltern liegen in Deutschland. Beide Eltern haben einen Realschulabschluss. Mia besucht einen Kindergarten. Im Haushalt gibt es nach Angaben der Eltern 20 bis 40 Bilder- oder Kinderbücher. Ein Buch oder eine Geschichte bekommt Mia fünfbis sechsmal pro Woche vorgelesen, und zwar von ihrer Mutter. Mia werden zudem einbis zweimal pro Woche Geschichten erzählt. Mia tut nach Angaben der Eltern nicht so, als würde sie (jemandem) ein Buch vorlesen. Die oder der Studierende kannte Mia eine Woche, bevor sie oder er mit ihr die Pretend-Reading-Situation durchführte. Diese fand im Wohnzimmer von Mias Eltern statt. Im ersten Schritt der Pretend-Reading-Situation informiert die oder der Erwachsene Mia 153 über das geplante Vorgehen. E: ja [? ] gut, so. also. du hast dir ja diese geschichte ausgesucht. 378 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="379"?> M: mh. E: und jetzt als erstes lese ich dir die geschichte vor und sitze hier auf dem vorlesestuhl [zeigt mit dem Finger auf den Stuhl] und danach tauschen wir, du sitzt hier und dann liest du die geschichte vor. M: ja. E: gut [2] Im Anschluss daran liest die oder der Erwachsene Mia die Geschichte Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten vor. Weihnachten mit Astrid Lindgren. Die schönsten Geschichten von Pippi Langstrumpf, Michel, Madita, den Kindern aus Bullerbü u.a. (Astrid Lindgren) Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten. (1. DS) - Hast du schon mal von Pippi Lang‐ strumpf gehört, dem stärksten Mäd‐ chen der Welt? Dem Mädchen, das ganz allein mit einem Pferd und einem Affen in der Villa Kunterbunt wohnt? Dem Mädchen, das einen ganzen Koffer voller Goldstücke be‐ sitzt? Jetzt erzähl ich dir, was Pippi einmal gemacht hat. Es war an einem Heiligabend. In allen Fenstern der kleinen Stadt leuchteten die Weih‐ nachtslichter, und an den Weihnachts‐ bäumen brannten die Kerzen. (2. DS) - Alle Kinder waren sehr froh. Nein, nicht alle Kinder waren froh. In einem Haus in der Winkelstraße saßen im ersten Stock drei kleine arme Wesen in der Küche und weinten. Das waren Frau Larssons Kinder. Pelle, Bosse und die kleine Inga. Sie weinten, weil ihre Mama ins Krankenhaus ge‐ kommen war. Ausgerechnet an Heilig‐ abend, das stelle man sich einmal vor! Ihr Papa war Seemann und weit draußen auf dem Meer. Und sie hatten auch keinen Tannenbaum! Keine Weih‐ nachtsgeschenke! Nichts Gutes zu essen! Denn ihre Mama hatte es nicht Sie warf einen Sack auf den Fußboden, und aus dem Sack holte sie viele Pa‐ kete und viele Beutel hervor. In den Beu‐ teln waren Apfelsinen und Äpfel, Feigen, Nüsse, Rosinen, Bonbons und Marzipan‐ schweine. Und in den Paketen waren Weihnachtsgeschenke für Pelle, Bosse und die kleine Inga. Pippi stapelte all die Pakete auf der Küchenbank. (6. DS) - „Noch kriegt ihr keine Weihnachtsge‐ schenke“, sagte sie. „Erst wollen wir mit dem Baum tanzen.“ „Du meinst wohl, dass wir um den Baum herumtanzen wollen“, sagte Pelle. „Genau das meine ich nicht“, sagte Pippi. „Könnt ihr mir erklären, warum Weihnachtsbäume nie‐ mals auch ein bisschen Spaß haben dürfen? Nie dürfen sie mittanzen. Sie müssen bloß stocksteif dastehen und glotzen, während die Leute um sie herumhüpfen und Spaß haben. Die armen, armen kleinen Weihnachts‐ bäume! “-Pippi verdrehte die Augen, um den Tannenbaum auf ihrem Kopf sehen zu können. „Dieser Weihnachtsbaum soll jedenfalls mitmachen und sich amüsieren dürfen, das hab ich mir in den Kopf ge‐ setzt“, sagte sie. (7. DS) - Wenn eine Weile später jemand in Frau Larssons Fenster geschaut hätte, dann hätte er einen merkwürdigen Anblick ge‐ 3.1 Textanalysen 379 <?page no="380"?> geschafft, etwas einzukaufen, bevor sie krank wurde. Kein Wunder, dass die Kinder weinten! Alles war furchtbar traurig, wie es manchmal sein kann. „Das ist der traurigste Heiligabend, den ich jemals erlebt habe“, sagte Pelle. (3. DS) - Genau in dem Augenblick, als er das gesagt hatte, ertönte ein entsetzliches Getrampel im Treppenhaus. „Was ist denn das? “, rief Bosse. „Das klingt aber komisch! “ Es war jedoch kein biss‐ chen komisch. Schließlich ist es nicht komisch, dass es klappert, wenn ein Pferd eine Treppe hinaufsteigen soll! Es war Pippis Pferd, das da angetrampelt kam. Und auf dem Pferd saß Pippi. Und auf Pippi saß ein Tannenbaum. Er saß in ihren Haaren. Er war voller brennender Kerzen und Fähnchen und Bonbons. Es sah aus, als sei er direkt aus ihrem Kopf gewachsen. Vielleicht war er das auch, wer weiß? Herr Nilsson, Pippis kleiner Affe, war auch dabei. Er flitzte vorneweg und öffnete die Tür. (4. DS) - Pelle, Bosse und die kleine Inga sprangen von der Küchenbank und starrten ihn an. „Warum guckt ihr so? “, fragte Pippi. „Habt ihr noch nie einen Tannenbaum gesehen? “ „Doch, aber noch nie …“, stotterte Pelle. „Na also“, sagte Pippi und sprang vom Pferd. „Die Tanne ist einer der Bäume, die es in Schweden am häufigsten gibt. Und jetzt wollen wir tanzen, dass sich die Balken biegen. Aber zuerst …“ (5. DS) - habt. Er hätte gesehen, wie Pelle, Bosse und die kleine Inga umherhüpften und tanzten. Er hätte auch Pippi tanzen ge‐ sehen, Pippi mit dem Tannenbaum im Haar. Pippi stampfte mit ihren großen Schuhen, Pippi sang mit kräftiger und fröhlicher Stimme: „Hier tanze ich mit meinem kleinen Tannenbaum, ich tanze, so lange ich kann! “ (8. DS) - „Noch niemals hat ein Weihnachtsbaum solchen Spaß gehabt wie dieser“, sagte Pippi zufrieden, als sie, Pelle, Bosse und die kleine Inga eine Weile später um den Weihnachtstisch herumsaßen. „Nein, das glaub ich auch nicht“, sagte Pelle und steckte sich eine Feige in den Mund. „Und noch nie haben wir Heiligabend solchen Spaß gehabt“, sagte die kleine Inga und verschluckte ein ganzes Marzi‐ panschwein in einem Rutsch. (9. DS) - Ja, und dann war es Zeit für die Weih‐ nachtsgeschenke! Was für eine Freude, als Pelle seine Pakete öffnete und ein Flugzeug und eine Eisenbahn fand, und Bosse bekam eine Dampfmaschine und ein Auto, das auf dem Fußboden herum‐ fahren konnte, wenn man es aufzog, und Inga eine Puppe und ein kleines Herz aus Gold! Das Licht der Weihnachts‐ baumkerzen schimmerte so sanft auf den fröhlichen Gesichtern der Kinder und allen Weihnachtsgeschenken. Bestimmt war auch der Tannenbaum froh. Er war ja der erste Weihnachtsbaum, der mit‐ tanzen durfte! (10. DS) - Im dritten Schritt fordert die oder der Erwachsene Mia auf, nun das Bilderbuch „vorzulesen“. Dies geht folgendermaßen vonstatten. E: so, jetzt hab ich die geschichte vorgelesen und jetzt wechseln wir einmal die plätze. und dann liest du vor. M: mh. E: okay? [.] gut. [E und M wechseln die Plätze] [5] 380 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="381"?> E: die geschichte ist es, (genau). [2] Nach einer Pause von zwei Sekunden beginnt Mia sofort mit dem „Vorlesen“ der Geschichte. Ihre Geschichte handelt von Kindern, die an Heiligabend allein, hungrig und traurig in ihrer Wohnung sitzen, da ihre Mutter ins Krankenhaus musste und nicht mehr einkaufen gehen konnte. Diese Kinder werden von Pippi besucht, die ihnen schöne Geschenke und einen Weihnachtsbaum mitbringt und mit ihnen Weihnachten feiert. Mia beginnt ihren Text auf der Titelseite (erste Doppelseite) mit der Überschrift pippi feiert weihnachten. In dieser wird die Hauptperson Pippi erwähnt sowie ihre Tätigkeit, nämlich Weihnachten feiern. Während Mia die Überschrift „vorliest“, fährt sie mit ihrem Zeigefinger entlang der abgedruckten Überschrift im Bilderbuch. Als Nächstes richtet Mia zur zweiten Doppelseite eine Frage an die Leserschaft: kennst du die pippi, die es in den win-kel-baum gibt? Dadurch stellt sie Nähe her. Zur Vorstellung der Protagonistin Pippi wählt Mia den bestimmten Artikel, wodurch der Eindruck entsteht, dass Pippi eine dem Erzähler bekannte Figur ist. Mia verwendet eine hypotaktische Satzkon‐ struktion, indem sie Pippi mit Hilfe eines Relativsatzes näher beschreibt. Bei Winkelbaum scheint es sich um einen Ort zu handeln, an dem Pippi des Öfteren anzutreffen ist - vielleicht um einen Baum, der sich in der Winkelstraße befindet, die Mia auf der gleichen Doppelseite erwähnt. In ihrem nächsten Satz erwähnt Mia eine neue Person: Pelle. Dieser wird im weiteren Verlauf ihrer Geschichte kein weiteres Mal erwähnt. PElle drehte seine augen. er wusste gar nicht, was das SEIN sollte. [2] Mia scheint hier auf den Phraseologismus die Augen verdrehen zurückzugreifen, verwendet ihn allerdings in einer variierten Form (seine Augen drehen). Anschließend folgt eine Begründung für das Augenrollen: er wusste gar nicht, was das sein sollte. Vermutlich bezieht sich das das auf den Winkelbaum. Mia bedient sich einer hypotaktischen Satzkonstruktion, bestehend aus einem Hauptsatz und einem Relativsatz. Anschließend konzentriert sich Mia wieder auf die Person Pippi, über die „alles“ erzählt wird: ähm, sie erzählten alles über pippi. Un‐ klar bleibt, wer „alles“ über Pippi erzählt, da Mia das Personalpronomen sie verwendet. Nach diesem einleitenden Satz wird nun im Detail berichtet, was genau über Pippi erzählt wird. pippi [.], wo sie ein tannenbaum hatte. [.] pippi, dass sie mal mit’m pferd so: schnell geritten ist. [.] 3.1 Textanalysen 381 <?page no="382"?> pippi, die mal auf’n DACH geklettert is, wo sie gar nicht herUNTergefallen is. und die pippi [.], DIE [.] [zieht Augenbrauen nach oben, öffnet Augen weiter] auf’n SCHORN[? ]stein [kräuselt die Nase während der Silbe ‚SCHORN‘] war. und hier runtergerutscht ist. (2. DS) Mia bedient sich hier einer Aufzählung, wobei jeder der drei elliptischen Sätze mit dem Wort Pippi beginnt. Nach dem Nomen Pippi folgt jeweils mindestens ein Nebensatz. Dieser Aufbau lässt sich mit Hilfe des strukturellen Musters [„Pippi“ + Nebensatz] beschreiben. Mia nutzt das rhetorische Mittel der Anapher. Der vierte elliptische Satz ist ebenfalls nach dem gleichen Muster gebaut, wird allerdings mit der Konjunktion und angeknüpft. Dadurch wird deutlich, dass die Aufzählung nun beendet wird. pippi, die mal auf’n DACH geklettert is, wo sie gar nicht herUNTergefallen is. Durch diesen Satz wird deutlich, dass es besonders bzw. ungewöhnlich ist, auf ein Dach zu klettern und nicht herunterzufallen. Dies wird auch durch die Bekräftigung gar nicht anstatt nicht unterstrichen. Dadurch wird dem Leser schon etwas von Pippis Charakter verraten. Eine besondere Betonung erfährt auch das Wort Dach. Während Mia das Wort Schornstein ausspricht, kräuselt sie die Nase. Auch wirkt ihre Betonung an dieser Stelle etwas überrascht. Somit vermittelt sie auch hier den Eindruck, dass Pippi durch ungewöhnliche Taten auffällt. Das von Mia verwendete Verb herunterfallen lässt sich der konzeptionellen Schriftlichkeit zuordnen. Auch beim „Vorlesen“ des Textes zu dieser Doppelseite fährt Mia mit dem Zeigefinger auf dem Text entlang. Nach der allgemeinen Vorstellung der Person Pippi, beginnt Mia zur dritten Doppelseite, die eigentliche Geschichte „vorzulesen“. Der erste Teil kann als Einleitung oder als Orientierung (vgl. Labov/ Waletzky 1973, S. 111) bezeichnet werden: in der winkelstraße gibt es von einer frau die kinder, die wein/ weinten an heiligabend. ausgerechnet an HEILIGabend musste ihre mama ins krankenhaus [atmet] . [2] die kinder weinten. ja, die mama von den, die hat es nicht mehr rechtzeitig geschafft, nochmal EINkaufen zu fahren. es war alles alle. sie hatten so: ein hunger, als bosse das gesagt hat. [blättert um] [2] Mia nennt als Erstes den Ort, an dem das Geschehen stattfindet, nämlich in der winkelstraße. Als Nächstes erwähnt Mia die weiteren Personen der Geschichte (von einer frau die kinder) und beschreibt diese näher (die wein/ weinten). Der Satz endet mit der Zeitangabe (an 382 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="383"?> 154 An dieser Stelle danke ich den Teilnehmenden der Dissertationsrunde für Ihre Beobachtungen und Interpretationen (Datensitzung, Dissertationsrunde 02/ 2020). heiligabend). Diese Formulierung wird zu Beginn des nächsten Satzes kombiniert mit dem Adverb ausgerechnet wieder aufgegriffen, wodurch Mia Kohärenz herstellt. Des Weiteren wird der Zeitpunkt an Heiligabend durch diese Wiederholung von Mia betont. In dem Satz ausgerechnet an HEILIGabend musste ihre mama ins krankenhaus liefert Mia eine Erklärung für das Weinen der Kinder: Ihre Mutter musste ins Krankenhaus. Nach dieser Erklärung erwähnt Mia ein zweites Mal das Weinen der Kinder und betont den negativen Gefühlszustand der Kinder dadurch. Im darauffol‐ genden Satz (ja, die mama von den, die hat es nicht mehr rechtzeitig geschafft, nochmal EINkaufen zu fahren.) tritt der Erzähler durch den Satzanfang ja erneut hervor, indem er mit dem Leser stärker in Verbindung tritt. Mia bedient sich hier der Wortverbindung einkaufen fahren und eines Satzgefüges mit einem Infinitivsatz. Im folgenden Satz nennt Mia die Folge des fehlenden Einkaufs: es war alles alle . Auch davon wird die Folge im darauffolgenden Satz genannt: sie hatten so: ein hunger, als bosse das gesagt hat. Mia stellt somit eine logische Kette von kausalen Zusammenhängen dar und somit einen kohärenten Textabschnitt. Die Wörter ausgerechnet und rechtzeitig lassen sich der konzeptionellen Schriftlichkeit zuordnen. Zur vierten Doppelseite produziert Mia folgenden Text: als bosse das gesagt hat, ähm war ein komis geräusch bei seiner oma und bei seiner opa. was soll DAS denn sein? [2] die guckten. [.] pippi gingte mit sein pfer: d [.], gingte die treppe hoch mit herr nilsson, pippis affe. [blättert um] [5] Zuerst stellt Mia mit Hilfe einer hypotaktischen Satzkonstruktion eingeleitet mit der Konjunktion als das zeitliche Nebeneinander von Bosses Aussage und dem Ertönen eines merkwürdigen Geräusches her. Bosses Aussage bleibt allerdings unausgesprochen. Hier enthält Mias Textproduktion eine Leerstelle. Die Frage was soll das denn sein? lässt sich als innerer Monolog der Figuren deuten. Mit dem sehr kurzen Satz die guckten beschreibt Mia die Reaktion der Figuren auf das ertönende Geräusch. An dieser Stelle ist allerdings auch eine andere Deutung 154 möglich. Betrachtet man das zugehörige Bild, sieht man einen älteren Herrn und eine ältere Dame im Treppenhaus, die zu Pippi Langstrumpf schauen. Die Frage was soll DAS denn sein? kann auch als Frage der älteren Leute interpretiert werden, da sie keinen Begleitsatz hat. 3.1 Textanalysen 383 <?page no="384"?> Mia scheint das Bild hier an in die Geschichte einzubinden und in Sprache zu fassen. Diesem Satz folgt wiederum eine Erklärung für das Geräusch: Pippi geht mit ihrem Pferd und ihrem Affen die Treppe hoch. Auffällig ist die zweifache Bildung der Präteritumform gingte. Zur fünften Doppelseite entsteht folgender Text: als sie/ [.] und denn ist sie hereingekommen (mit)/ [.] pippi ist denn runtergesprungen und hat den sack runtergeworfen. herr nilsson sitzt auf dem sack und herr nilsson ist genau runtergesprungen. [blättert um] [5] Durch den Gebrauch der Konjunktion denn, die umgangssprachlich anstelle der Konjunktion dann verwendet werden kann (vgl. Merklinger 2012), stellt Mia das zeitliche Nacheinander der Handlungen dar: Nachdem Pippi die Treppe hochgegangen ist, betritt sie die Wohnung, in der sich die Kinder befinden. Im nächsten Satz befindet sich die Konjunktion denn (dann) nicht am Satzan‐ fang. Hier markiert Mia auch ein zeitliches Nacheinander: Nachdem Pippi die Wohnung betreten hat, springt sie herunter und wirft den Sack herunter. Mia er‐ wähnt nicht, wo Pippi herunterspringt, wodurch ihr Text eine weitere Leerstelle aufweist, die mit Hilfe der Bilder des Bilderbuches geschlossen werden kann, da Pippi einmal auf dem Pferderücken sitzt und auf dem darauffolgenden Bild neben dem Pferd steht. Auch verwendet Mia das Nomen Sack in Kombination mit dem bestimmten Artikel, obwohl er an dieser Stelle von Mia zum ersten Mal erwähnt wird. Auf den Bildern war er hingegen schon vorher zu sehen. Auffällig sind Mias konzeptionell schriftliche Formulierung hereingekommen und die konzeptionell mündliche Formulierung runtergeworfen. Zur sechsten Doppelseite produziert Mia folgenden Text: pipa/ pippi bringte aus den sack GANZ viele geschenke raus. le: bkuchen, MANdeln, tz/ rosi: nen und marziPANschweine. und in den geschenken waren auch noch für [.] INga und der bosse und der große ganz [laut] schöne geschenke. [2] isa packte auch eins aus. [blättert um] [3] Der Textabschnitt beginnt mit einem einleitenden Satz, aus dem hervorgeht, dass Pippi Geschenke aus dem mitgebrachten Sack holt. Mia betont die große Menge an Geschenken, in dem sie das das Nomen Geschenke mit den Wörtern ganz und viel verbindet. Sie verwendet die sprachliche Struktur [„ganz“ + „Adjektiv“ + „Nomen“]. Mia gebraucht das Verb bringen in Kombination mit dem Wort (he)raus, was im Deutschen nicht üblich ist. Es wirkt wie eine Kombination 384 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="385"?> der Ausdrücke mitbringen und herausholen - zwei Verben, die Pippis Tätigkeiten sehr treffend beschreiben. Nun folgt das Nennen der einzelnen Geschenke in Form einer Aufzählung von vier Lebensmitteln ohne Artikel, wobei das letzte Nomen mit der Konjunktion und angehängt wird. Die zweite Silbe des Wortes rosi: nen spricht Mia dabei langgezogen aus, wodurch die Attraktivität dieses Lebensmittels für den Zu‐ hörer erhöht wird. Auf dem zugehörigen Bild ist keines der von Mia genannten Lebensmittel zu sehen. Auf der achten Doppelseite ist ein Marzipanschweinchen zu sehen und auf der neunten ein Lebkuchenherz. Nach der Aufzählung der essbaren Geschenke nennt Mia weitere Geschenke, die die Kinder von Pippi erhalten. Durch die Verwendung der Wörter auch noch wird dem Leser der Eindruck vermittelt, dass Pippi den Kindern sehr viel schenkt. Der Satz wird mit der Konjunktion und an den vorangehenden ange‐ hängt und vermittelt eine inhaltliche Zusammengehörigkeit. Mia bezeichnet die Geschenke als ganz schön. Erneut greift sie zur Betonung auf die sprachliche Struktur [„ganz“ + „Adjektiv“ + „Nomen“] zurück. Das Wort ganz erfährt durch Mias laute Aussprache eine zusätzliche Hervorhebung. Mia spricht davon, dass Geschenke in den Geschenken sind. Das erste Wort Geschenk verwendet sie dabei als Synonym des Wortes Päckchen, das zweite als Synonym für das Wort Gabe. Zwei der Kinder nennt Inga namentlich, ein Kind wird als der Große bezeichnet (für [.] INga und der bosse und der große). Auf dem Bild ist einer der Jungen einen halben Kopf größer als der andere Junge und wesentlich größer als das Mädchen. Im Gegensatz zu den beiden Jungen wird erwähnt, dass Ida auch ein Geschenk auspackt. Dieser Satz impliziert, dass andere offensichtlich ebenfalls Geschenke auspacken. Der Text, den Mia zur siebten Doppelseite produziert, lautet: sie tanzten um den weihnachtsbaum wie hin und her, das war gar nicht so: schwer, wie es nur sein konnte [liest gereimten Text singend vor, ab ‚wie hin…‘] . [blättert um] [4] Mia bedient sich eines Reimes, indem sie auf das Wort her da Wort schwer reimt. Bei der Formulierung hin und her handelt es sich um einen Phraseolo‐ gismus (und zwar eine Paarformel (Burger 2015)), der gleichzeitig eine Allitera‐ tion ist. Zusätzlich trägt Mia den gereimten Text singend vor. Der Text zur achten Doppelseite lautet: pippi tanzte mit den weihnachtbaum, so ein weihnachtsbaum hat es noch nie gega/ [.] gegeben, weil [.] so ein schöne tannenbaum gab es noch nie mit GANZ viel süßigkeiten drinne und GANZ schöne kerzen. [.] sie tanzten. [blättert um] [5] 3.1 Textanalysen 385 <?page no="386"?> Inhaltlich beginnt Mia damit „vorzulesen“, dass Pippi mit dem Weihnachts‐ baum tanzt. Nachdem sie die Schönheit des Weihnachtsbaums deutlich gemacht hat, beendet sie die Textpassage damit, dass sie erwähnt, dass sie tanzen, womit vermutlich Pippi und die Kinder gemeint sind, da es sich um eine Pluralform handelt. Mia verwendet in zwei aufeinander folgenden Sätzen das strukturelle Muster [„so ein“ + Nomen]. Der zweite Satz, der mit der Konjunktion weil beginnt, liefert die Begründung dafür, warum es „so einen Weihnachtbaum“, noch nie gegeben hat. Die beiden Sätze weisen noch mehr Ähnlichkeiten in ihrem Aufbau auf. Im ersten Satz ist das Akkusativobjekt ein Weihnachtbaum, im zweiten Satz ist es ein schöner Tannenbaum. Im zweiten Satz verwendet Mia folglich zusätzlich das strukturelle Muster [„schön“ + Nomen], was an sich schon eine Begründung sein kann: Der Tannenbaum ist schön. Der zweite Satz wird von Mia auch ergänzt durch die Formulierung mit GANZ viel süßigkeiten drinne und ganz schöne kerzen. Dies lässt sich als weitere Begründung lesen, weshalb der Tannenbaum so besonders ist. Mia bedient sich hier erneut des strukturellen Musters [„ganz“ + Adjektiv + Nomen] zur Verstärkung der Menge der Süßigkeiten und der Schönheit der Kerzen. Zur neunten Doppelseite „liest“ Mia folgenden Text „vor“: die kleine inga verschluckte ein GANzes marziPAN[.]schweinchen und sie freute sich, dass es so: ein schönes heiligabend gibte. [blättert um] [3] Inga wird in diesem Satz durch die Bezeichnung klein näher beschrieben. Mia beschreibt, dass Inga ein ganzes Marzipanschweinchen verschluckt und sich über den schönen Heiligabend freut. Dass die beiden Hauptsätze mit der Konjunktion und verbunden sind, lässt darauf schließen, dass es sich beim Marzipanschweinchenverschlucken um etwas Positives handelt. Mia verwendet die sprachliche Struktur [„so“ + Artikel + „schön“ + Nomen] zur Beschreibung von Heiligabend aus Idas Perspektive. Dabei betont sie das Wort so. Mia bedient sich einer hypotaktischen Satzkonstruktion bestehend aus zwei Hauptsätzen und einem Nebensatz. Zur zehnten Doppelseite produziert Mia folgenden Textabschnitt: die klein/ [2] bosse packte sein geschenk aus. ein schönes auto [.] mit [.] ein schöne station, (wo)/ wo das auto immer tanken kann [4]. die kleine inga packte ihre puppe aus [? ], das war ne SCHÖne puppe. und ne/ noch ein schönes, goldenes herz aus lebkuchen. [.] und pippi [.] winkte auch noch. [blättert um] [2] 386 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="387"?> Der Text weist eine inhaltliche Überarbeitung auf: Mia bricht nach der Formulierung die klein/ ab, was voraussichtlich Die kleine Ida heißen sollte, da sie diese Formulierung insgesamt zwei weitere Male in ihrer Text‐ produktion verwendet, und beginnt den Satz anschließend mit bosse. Mia erwähnt, dass Bosse sein Geschenk auspackt. Danach nennt sie in einem elliptischen Satz, was der Inhalt des Geschenkes ist: ein schönes Auto [.] mit [.] ein schöne station, (wo)/ wo das auto immer tanken kann [4]. Auffällig ist, dass Mia alle zwei Nomen mit dem Adjektiv schön kombiniert und somit auf die sprachliche Struktur [„schön“ + „Nomen“] zurückgreift. Mia bedient sich zur näheren Beschreibung auch einer Nebensatzkonstruktion: (wo)/ wo das auto immer tanken kann [4]. Die Wahl des Temporaladverbs immer in Kombination mit dem Verb auftanken verstärkt den Eindruck, dass es sich um ein gutes Geschenk handelt, da es eine lange Nutzbarkeit des Geschenkes verspricht. Überdies ist das Wort auftanken positiv konnotiert. Anschließend „liest“ Mia „vor“, dass Inga ihre Puppe auspackt. Im nächsten Satz erfolgt eine Spezifizierung der Puppe: das war eine SCHÖne puppe. Erneut nutzt Mia die sprachliche Struktur [„schön“ + Nomen]. Sie hebt auch durch die Betonung der ersten Silbe des Adjektivs schön die Attraktivität der Puppe bzw. des Geschenkes hervor. Durch die Konjunktion und schließt Mia einen elliptischen Satz an: und ne/ noch ein schönes, goldenes herz aus lebkuchen. Dies betont erneut die große Anzahl der Geschenke, die die Kinder von Pippi erhalten. Auch hier gebraucht Mia das Adjektiv schön. Auf der Doppelseite ist ein braunes Lebkuchenherz abgebildet. Ein kleines, goldenes Herz ist an Ingas Hals in Form einer Kette zu sehen. Auf welches Herz sich Mia bezieht, ist an dieser Stelle unklar. Der letzte Satz von Mias Geschichte lautet: und pippi [.] winkte auch noch. Durch die Formulierung auch noch verstärkt Mia beim Leser wieder den Eindruck, dass Pippi sehr viel für die Kinder tut. Mia versprachlicht nicht explizit, dass Pippi nach der Bescherung die Wohnung der Kinder verlässt, aber das Verb winken lässt darauf schließen, da Winken zum Grüßen sowie zum Abschied eingesetzt wird. Auf dem Bild ist allerdings keine winkende oder gehende Pippi Langstrumpf zu erkennen, sondern eine Pippi Langstrumpf, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hat. Eine winkende Pippi Langstrumpf ist auf der nächsten Seite zu sehen, die keinen Text enthält und von Mia zum Zeitpunkt der Formulierung und pippi [.] winkte auch noch noch nicht aufgeschlagen ist. Die Geschichte, die Mia „vorliest“, ist rund: Sie beginnt mit dem Besuch von Pippi und endet mit ihrem Verschwinden. Das Ende ihrer Geschichte markiert Mia nach dem Blättern auf die elfte Doppelseite zusätzlich mit den Worten zu ende. 3.1 Textanalysen 387 <?page no="388"?> 155 An dieser Stelle danke ich den Teilnehmenden der Dissertationsrunde für ihre Beobachtungen und Interpretationen (Datensitzung, Dissertationsrunde 02/ 2020). Die von Mia „vorgelesene“ Geschichte weist zum Großteil inhaltliche Kohärenz auf. Sie enthält eine Leerstelle im Zusammenhang mit dem Erwähnen einer Aussage der Figur Bosse, deren Inhalt jedoch nicht genannt wird (sie hatten so: ein hunger, als bosse das gesagt hat. [blättert um] [2] (3. DS) als bosse das gesagt hat, ähm war ein komis geräusch bei seiner oma und bei seiner opa (4. DS).). Kohä‐ sion wird mit Hilfe von folgenden Kohäsionsmitteln hergestellt. Zum einen weist Mias Text Rekurrenz auf durch die Wiederholung sprachlicher Ausdrücke in aufeinanderfolgenden Sätzen, wie beispielsweise des sprachlichen Musters an Heiligabend (2. DS). Gleiches gilt für die Wiederaufnahme des Namens Pippi in Folgesätzen (z. B. 1. DS und 2. DS, 2. DS) oder für die Wiederaufnahme des Ausdrucks Herr Nilsson (5. DS). Des Weiteren macht Mia Gebrauch von Pro-Formen. Zum einen verwendet sie Personalpronomen, die sich auf das Subjekt des vorangegangenen Satzes beziehen. Oft verwendet Mia Relativpro‐ nomen, die auf ein Nomen im vorangegangenen Satz Bezug nehmen. Zum anderen verwendet sie einmal ein Demonstrativpronomen, das sich auf ein Lexem des vorangegangenen Satzes bezieht (vgl. 4. DS). Zweimal macht Mia zur Herstellung von Kohäsion auch Gebrauch der Konjunktion denn (5. DS, 5. DS), die sie wie das Temporaladverb dann nutzt. Kohäsion wird auch durch die größtenteils durchgängige Verwendung des Präteritums in der Erzählerrede erzeugt (Tempus). Des Weiteren macht Mia Gebrauch von Konnektiven. Sie nutzt als Bindeglieder folgende Konjunktionen: Mehrfach nutzt sie die von Linke et al. (2004) als „Prototyp“ bezeichnete Konjunktion und (vgl. Linke et al. 2004, S. 253), zweimal die Konjunktion dass. Rekurrenz zeigt sich in der Wiederholung der Namen Pippi (vgl. 2. DS) und Herr Nilsson (vgl. 5. DS) in aufeinander folgenden Sätzen. Mias Text weist Inhalte auf, die im Bilderbuch nicht vorhanden sind (neue Inhalte). Es wird analysiert, wie diese Inhalte sprachlich transportiert werden und, falls darüber Aussagen gemacht werden können, welche Funktion diese neuen Inhalte in Mias Text erfüllen. Erstens enthält Mias Text Inhalte, die als Versprachlichung zusätzlicher Informationen aus einem Bild (Funktion 1) bezeichnet werden können. Während im Bilderbuchtext die auf dem Bild der vierten Doppelseite äl‐ teren Personen im Treppenhaus im Bilderbuchtext nicht erwähnt werden, 155 formuliert Mia hingegen in diesem Kontext folgenden Satz: als bosse das gesagt hat, ähm war ein komis geräusch bei seiner 388 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="389"?> oma und bei seiner opa (4. DS). Sie scheint die Zeichnung so zu interpretieren, dass es sich bei den Personen um die Großeltern der Kinder handelt. Es wird deutlich, dass das Bild die Textproduktion von Mia beeinflusst hat. Bei der Formulierung des neuen Inhalts nutzt Mia die konzeptionell schriftliche Zeitform Präteritum. Die Nomen Oma und Opa können eher dem konzeptionell mündlichen Sprachgebrauch zugeordnet werden. Die Wahl des Adjektivs komisch zur Spezifizierung des Nomens Geräusch passt zur weiteren Textgestaltung von Mia: was soll DAS denn sein? (4. DS) Ein merkwürdiges Geräusch kann gut eine solche Frage auslösen. Zusätzlich wird das Demonstrativpronomen das, welches sich auf das erwähnte komische Geräusch bezieht, von Mia sprachlich hervorgehoben. Im Bilderbuch wird im Zusammenhang mit den Geräuschen im Treppenhaus („Genau in dem Augenblick, als er das gesagt hatte, ertönte ein entsetzliches Getrampel im Treppenhaus.“ (Lindgren 2013, 4. DS)) dreimal das Adjektiv komisch verwendet: „‚Was ist denn das? ‘, rief Bosse. ‚Das klingt aber komisch! ‘“ (Ebd., 4. DS) „Es war jedoch kein bisschen komisch. Schließlich ist es nicht komisch, dass es klappert, wenn ein Pferd eine Treppe hinaufsteigen soll! “ (Ebd.) Möglicherweise ist das Adjektiv komisch aus Mias Formulierung eine Übernahme eines Wortes aus dem Bilderbuch, das sie in eine neue syntaktische Struktur einbindet und hier mit einem Nomen kombiniert. Die Formulierung komisches Geräusch kann dabei als Komprimierung des Inhalts des Satzes „‚Das klingt aber komisch! ‘“ (4. DS) aus dem Bilderbuch bezeichnet werden. Bei dem Satz als bosse das gesagt hat handelt es sich um ein sprachliches Muster aus dem Bilderbuch. Also bildet Mia eine hypotaktische Satzkonstruktion, indem sie einen neuen Inhalt (bei seiner oma und bei seiner opa (4. DS)) mit der Variation einer Formulierung aus dem Bilderbuchtext („als er das gesagt hatte“ (Lindgren 2013, 4. DS)) und dem im Bilderbuch enthaltenen Inhalt (etwas klingt komisch) kombiniert. Diesen bringt Mia dabei durch eine andere sprachliche Form zum Ausdruck (war ein komis geräusch). Bei der Formulierung die guckten (4. DS) handelt es sich um einen weiteren Inhalt, der nicht im Bilderbuchtext enthalten ist. Dieser bezieht sich vermutlich auf die zwei älteren Personen im Treppenhaus, die ihren Blick in Richtung der Besucher richten. Um den neuen Inhalt in Sprache zu fassen, verwendet Mia den deiktischen, konzeptionell mündlichen Ausdruck die und eine Präteritumform. Im folgenden Satz wird der Tannenbaum, den Pippi mitbringt, beschrieben: so ein schöne tannenbaum gab es noch nie mit GANZ viel süßigkeiten drinne und GANZ schöne kerzen. (8. DS) Im Text der achten Doppelseite ist jedoch keine Beschreibung des Tannenbaums zu finden. Diese befindet sich bereits auf der vierten Doppelseite: „Er war voller 3.1 Textanalysen 389 <?page no="390"?> brennender Kerzen und Fähnchen und Bonbons.“ (Lindgren 2013, 4. DS) Die Attraktivität des Baumes oder der Kerzen wird nicht explizit hervorgehoben wie in Mias Text. Auf dem Bild der achten Doppelseite ist der Tannenbaum auf dem Kopf der tanzenden Pippi zu sehen: Er ist mit kleinen schwedischen Flaggen, sieben brennenden Kerzen, gelben Bonbons und einem Stern geschmückt. Die Kerzen sind rot und ihre Flammen sind als große, gelbe Punkte dargestellt. Das Bild könnte an dieser Stelle die Produktion der Textpassage zum Tannenbaum beeinflusst haben. Der folgende Textabschnitt beschreibt die Geschenke, die Bosse von Pippi erhält: bosse packte sein geschenk aus. ein schönes auto [.] mit [.] ein schöne station, (wo)/ wo das auto immer tanken kann (10. DS) Im Bilderbuch wird keine Station zum Tanken erwähnt: „[…] Bosse bekam eine Dampfmaschine und ein Auto, das auf dem Fußboden herumfahren konnte, wenn man es aufzog […]“ (Lindgren 2013, 10. DS). Die beiden Beschreibungen der Geschenke haben gemeinsam, dass jeweils „etwas“ erwähnt wird, was das Auto immer wieder zum Fahren antreibt. Auf dem zugehörigen Bild ist Folgendes abgebildet: In einem Geschenkkarton liegt ein Auto, das eine Kurbel zum Aufziehen hat. Vor diesem Karton sitzt ein Junge, der eine Dampfmaschine in den Händen hält. Möglicherweise wurde diese Abbildung von Mia als Tankstelle interpretiert. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass Mia die im Bilderbuch erwähnte Dampfmaschine in ihrem Text nicht erwähnt. An dieser Stelle scheint das Bild Mias Textproduktion beeinflusst zu haben. Zur Darstellung des veränderten Inhalts bedient sich Mia eines Nebensatzes. Der Text der Bilderbuchgeschichte endet mit einer Thematisierung der glückli‐ chen Kinder und der Vermutung, dass auch der Tannenbaum froh ist: „Bestimmt war auch der Tannenbaum froh. Er war ja der erste Weihnachtsbaum, der mittanzen durfte! “ (Lindgren 2013, 10. DS) Pippi Langstrumpf wird am Ende der Geschichte nicht erwähnt. Auf dem Bild der zehnten Doppelseite ist sie abgebildet: Sie räkelt sich lächelnd in einem Sessel. Das Ende der Geschichte selbst ist lediglich auf der nächsten Seite im Bild dargestellt, das eine auf dem Pferd reitende, winkende Pippi neben einem Haus zeigt, aus dem winkende Kinder durch eine Fensterscheibe schauen. Mias Geschichte hingegen endet nach der Beschreibung der Geschenke mit dem folgenden Satz: und pippi [.] winkte auch noch (10. DS). Erneut scheint hier die Textproduktion durch ein Bild angeregt worden zu sein. Sprachlich gestaltet Mia diesen neuen Inhalt erneut, indem sie auf das Präteritum zurückgreift. Zudem wird Mias Text durch diesen sprachlichen Zusatz rund: Der Gast, der die Kinder nach der 390 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="391"?> Einleitung der Geschichte besucht, geht am Ende der Geschichte wieder fort. Mia wählt somit ein typisches Ende einer Geschichte: Eine Figur, die andere besucht hat, geht wieder fort. Zweitens sind in Mias Text im Vergleich zum Bilderbuchtext neue Informa‐ tionen enthalten, um inhaltliche Leerstellen zu füllen (Funktion 2). Die folgende Textpassage, die sich über drei Doppelseiten erstreckt, enthält die sprachliche Darstellung zweier Inhalte, die im Bilderbuchtext nicht vorhanden sind: pippi gingte mit sein pfer: d [.], gingte die treppe hoch mit herr nilsson, pippis affe. [blättert um] [5] (4. DS) und denn ist sie hereingekommen (mit)/ [.] (5. DS) pippi ist denn runtergesprungen und hat den sack runtergeworfen. herr nilsson sitzt auf dem sack und herr nilsson ist genau runtergesprungen. [blättert um] [5] (6. DS) pipa/ pippi bringte aus den sack GANZ viele geschenke raus. (7. DS) Zunächst thematisiert Mia das Betreten der Wohnung durch Pippi Lang‐ strumpf. Dazu bedient sie sich der Formulierung und denn ist sie hereingekommen (mit)/ [.] (5. DS) Im Bilderbuch wird das Betreten der Wohnung durch Pippi Langstrumpf nicht thematisiert. Hier füllt Mia folglich eine Leerstelle im Text des Bilderbuches mit einem neuen Inhalt. Es scheint Mia möglicherweise ein Anliegen zu sein, die Handlung lückenlos und logisch darzustellen. Zur Darstellung des neuen Inhalts verwendet Mia das Perfekt, das dem konzeptionell mündlichen Register zugeordnet werden kann. Ihre Formulierung beinhaltet jedoch auch das Verb hereinkommen mit dem konzeptionell schriftlichen Präfix herein. Dass Pippi vom Pferd springt und einen Sack herunterwirft, wird auch im Bilderbuchtext thematisiert - wenn auch nicht beides an der gleichen Stelle wie in Mias Text: „[…] sagte Pippi und sprang vom Pferd“ (Lindgren 2013, 5. DS). „Sie warf einen Sack auf den Fußboden […]“ (ebd., 6. DS). Zur Formulierung dieser beiden Inhalte behält Mia das Perfekt bei. Der darauffolgende Inhalt ist wiederum kein Bestandteil des Bilderbuchtextes und lautet: herr nilsson sitzt auf dem sack und herr nilsson ist genau runtergesprungen (5. DS). Die einzige Textpassage des Bilderbuchtextes, in der Herr Nilsson Erwähnung findet, befindet sich auf der vierten Doppelseite und lautet: „Herr Nilsson, Pippis kleiner Affe, war auch dabei. Er flitzte vorneweg und öffnete die Tür.“ (Lindgren 2013, 4. DS) Hier ist ein starker Einfluss des Bildes auf die Textproduktion Mias erkennbar: Auf der fünften Doppelseite steht das Pferd im Türrahmen. Auf dem Pferderücken ist ein Sack abgebildet und auf diesem Sack sitzt ein Affe. Mia scheint hier das Bild in ihre Textproduktion einzuarbeiten: Wenn Pippi den Sack herunterwirft, ist es eine logische Konsequenz, dass Herr Nilsson, der auf 3.1 Textanalysen 391 <?page no="392"?> dem Bild noch auf diesem Sack sitzt, herunterspringt. Auch in diesem Fall greift Mia zur Darstellung des neuen Inhalts erneut auf das Perfekt zurück, das dem konzeptionell mündlichen Register zugeordnet werden kann. An dieser Stelle wählt Mia auch im Gegensatz zur vorangegangenen Formulierung den eher konzeptionell mündlichen Ausdruck runtergesprungen. Es folgt eine Darstellung von Inhalten, die in Mias Text im Vergleich zum Bilderbuchtext leicht verändert vorkommen (veränderte Inhalte), je‐ doch mit ähnlichen sprachlichen Mitteln dargestellt werden und für den Text die gleiche Funktion erfüllen. Die Textpassage in Mias Text lautet: kennst du die pippi, die es in den win-kel-baum gibt? [.]pelle drehte seine augen. er wusste gar nicht, was das SEIN sollte. [2] ähm, sie erzählten alles über pippi. pippi [.], wo sie ein tannenbaum hatte. [.] pippi, dass sie mal mit’m pferd so: schnell geritten ist. [.] pippi, die mal auf’n DACH geklettert is, wo sie gar nicht herUNTergefallen is. und die pippi [.], DIE [.] [zieht Augenbrauen nach oben, öffnet Augen weiter] auf’n SCHORN[? ]stein [kräuselt die Nase während der Silbe ‚SCHORN‘] war. und hier runtergerutscht ist. [fährt mit dem Zeigefinger den Text entlang ab ‚pippi‘] [blättert um] [5] (1. DS). Die äquivalente Textpassage des Bilderbuchtextes lautet: „Hast du schon mal von Pippi Langstrumpf gehört, dem stärksten Mädchen der Welt? Dem Mädchen, das ganz allein mit einem Pferd und einem Affen in der Villa Kunterbunt wohnt? Dem Mädchen, das einen ganzen Koffer voller Goldstücke besitzt? Jetzt erzähl ich dir, was Pippi einmal gemacht hat.“ (Abedi 2011, 1. DS) Die Funktion der Textpassage ist in beiden Texten identisch: Sie dient dazu, eine Nähe zur Leserin oder zum Leser aufzubauen und die Protagonistin der Geschichte in ihrer Besonderheit vorzustellen. Die Form ist in groben Zügen identisch, der Inhalt variiert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Mia in mehreren Fällen scheinbar durch Bilder des Bilderbuches zur Formulierung neuer oder verän‐ derter Inhalte herausgefordert wird. Funktionen, die neue Inhalte erfüllen, sind beispielsweise das Erzählen einer logischen und lückenlosen Darstellung der Handlung sowie das Herstellen eines typischen Endes für eine Geschichte. Bei der Formulierung neuer und veränderter Inhalte nutzt Mia sowohl Elemente konzeptioneller Mündlichkeit als auch Elemente konzeptioneller Schriftlichkeit. 392 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="393"?> Im Vergleich zum Bilderbuchtext kommen einige inhaltliche Elemente in Mias Text nicht vor (ausgelassene Inhalte). So enthält ihr Text eine Einleitung, die sich in zwei Sinnabschnitte mit verschiedenen Funktionen einteilen lässt. Im ersten Teil stellt sie die Hauptperson Pippi vor. Der zweite Teil beginnt mit einem sprachlichen Muster zur Textorganisation mit Ortsangabe: in der winkelstraße (2. DS). Hierdurch markiert Mia den Beginn der Geschichte sprachlich. Anschließend stellt sie die Ausgangssituation bzw. die Problemlage dar. Diese Einteilung wird von Mia analog zur Einteilung im Bilderbuchtext vor‐ genommen. Die sprachliche Gestaltung der Abschnitte variiert etwas. Im ersten Abschnitt der Einleitung lässt sich in Mias Text im Vergleich zum Bilderbuchtext ein Mini-Baumuster identifizieren, bei dem in Mias Text sprachliche Strukturen mit anderen Inhalten als im Bilderbuch gefüllt werden, die jedoch die gleiche Funktion erfüllen. Im Bilderbuch wird der zweite Teil der Einleitung, der sich auf die Darstellung der Problemlage bezieht, mit Hilfe von Erzählerrede eingeleitet: „Jetzt erzähl ich dir, was Pippi einmal gemacht hat“ (Lindgren 2013, 2. DS). Der darauffolgende Satz wird mit dem sprachlichen Muster Es war eingeleitet: „Es war an einem Heiligabend“ (ebd., 2. DS). Erst nach einer allgemeinen Darstellung der Situation (Heiligabend, beleuchtete Fenster, fröhliche Kinder) wird erwähnt, dass nicht alle Kinder fröhlich sind und der Blick auf Pelle, Bosse und die kleine Inga gerichtet: „In einem Haus in der Winkelstraße saßen im ersten Stock drei kleine arme Wesen in der Küche und weinten“ (Ebd., 2. DS). Mia lässt somit eine weitere Leseransprache und die Lieferung weiteren Wissens, das für die eigentliche Geschichte von Pelle, Bosse, Inga und Pippi irrelevant ist, in ihrer Geschichte aus und beschränkt sich hier auf die Figuren, von denen die Geschichte handelt. Mias Text enthält eine Reihe von funktional gebrauchten rhetorischen Mitteln. In Mias Textproduktion steht die Schönheit des Ausgangs der Geschichte im starken Kontrast zur traurigen Situation der Kinder am Angang der Geschichte. Der Eindruck von der Traurigkeit der Situation am Anfang und der Eindruck von der Schönheit des Abends für die einst traurigen Kinder am Ende der Geschichte werden von Mia mit Hilfe von sprachlichen Mitteln verstärkt. Auch im Bilderbuch ist ein Kontrast zwischen den beiden Gefühlszuständen der Kinder zu Beginn und am Ende der Geschichte auf einer sprachlichen Ebene erkennbar. Wie im Bilderbuch und in Mias Text diese Verstärkungen durch sprachliche Mittel (u. a. rhetorische Mittel) aussehen, wird im Folgenden gegenübergestellt. In der Bilderbuchgeschichte wird die traurige Ausgangssituation auf der dritten Doppelseite dargestellt, z. B. durch rhetorische Mittel: Dreimal wird hier 3.1 Textanalysen 393 <?page no="394"?> das Verb weinen verwendet. Die Situation wird explizit als furchtbar traurig bezeichnet: „Alles war furchtbar traurig, wie es manchmal sein kann“ (Lindgren 2013, 3. DS). Des Weiteren wird durch zwei elliptische Satzkonstruktionen, die einem Aussagesatz folgen, der Mangel der Kinder aufgezählt: „Und sie hatten auch keinen Tannenbaum! Keine Weihnachtsgeschenke! Nichts Gutes zu essen! “ (Ebd., 3. DS) Mia wiederholt zweimal das Verb weinen und greift hierbei auf das gleiche sprachliche Mittel wie im Bilderbuch zurück. Des Weiteren verwendet sie das sprachliche Muster an Heiligabend in zwei aufeinander folgenden Sätzen und erweitert es beim zweiten Gebrauch durch das Adverb ausge‐ rechnet: in der winkelstraße gibt es von einer frau die kinder, die wein/ weinten an heiligabend. ausgerechnet an HEILIGabend musste ihre mama ins krankenhaus [atmet] . (3. DS) Auch die Alliteration alles alle im Satz es war alles alle (3. DS) verstärkt den Eindruck der negativen Situation, in der die Kinder sich befinden. Das rhetorische Mittel der Alliteration ist im Bilderbuchtext nicht enthalten. Zusätzlich bekräftigt Mia die traurige Situation der Kinder durch ein hörbares Ausatmen. Am Ende des Bilderbuches wird die positive Stimmung ebenfalls durch folgende sprachliche Mittel zum Ausdruck gebracht bzw. verstärkt: Neunmal wird das Verb tanzen (Lindgren 2013, 5. DS, 7. DS, 8. DS, 8. DS, 8. DS, 8. DS) oder eine Variation des Verbs (herumtanzen (ebd., 7. DS), mittanzen (ebd., 7. DS, 10. DS)) verwendet, viermal das sprachliche Muster solchen Spaß haben (ebd., 7. DS, 7. DS, 9. DS, 9. DS) und einmal der Ausdruck sich amüsieren (ebd., 7. DS). In Mias Text wird durch den wiederholten Gebrauch der Wörter ganz, so und schön die Stärke der Schönheit des Abends zum Ausdruck gebracht. Verstärkt wird diese Wirkung noch durch die besondere Intonation der Wörter schön (in SCHÖne puppe), so (in so: ein schöne tannenbaum) und GANZ (in GANZ schöne geschenke). Auch greift Mia mehrfach (dreimal) auf das Verb tanzen zurück. Mia greift somit neben den im Bilderbuch vorkommenden sprachlichen Mitteln zur Verstärkung der beiden Eindrücke auch auf weitere sprachliche Gestaltungsmittel zurück. Mias Textproduktionen weist des Weiteren einige Stellen auf, in denen ein Inhalt durch ein anderes sprachliches Mittel als im Bilderbuchtext ausgedrückt wird. Im Folgenden wird lediglich auf solche Textstellen eingegangen, die nicht in den Ausführungen zum Musterhaften in Mias Textproduktion im Detail behandelt werden. 394 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="395"?> An drei Stellen gibt Mia den Inhalt, der im Buch durch direkte Rede dargestellt wird, als Erzählerrede wieder. Die Information, dass das Geräusch im Treppen‐ haus merkwürdig klingt, ist im Bilderbuchtext in der Figurenrede enthalten: „‚Das klingt aber komisch! ‘“ (Lindgren 2013, 4. DS) Mia nutzt das Adjektiv komisch in Kombination mit dem Nomen Geräusch und bildet ein Satzgefüge als Erzählerrede: als bosse das gesagt hat, ähm war ein komis geräusch bei seiner oma und bei seiner opa (4. DS). Des Weiteren lässt Mia Pippi kein Lied singen wie im Bilderbuchtext, sondern bindet ein Stück eines Liedtextes in die Erzählrede ein. Die Figur äußert sich im Bilderbuchtext sehr positiv zu Heiligabend: „‚Und noch nie haben wir Heiligabend solchen Spaß gehabt‘, sagte die kleine Inga und verschluckte ein ganzes Marzipanschwein in einem Rutsch“ (Lindgren 2013, 9. DS). Mia bindet hingegen eine positive Äußerung zu Heiligabend in die Er‐ zählerrede ein: ‚und noch nie haben wir heiligabend solchen spaß gehabt‘, sagte die kleine inga und verschluckte ein ganzes marzipanschwein in einem rutsch (9. DS). Diese Beobachtungen zeigen, dass Mia teilweise Informationen durch andere sprach‐ liche Mittel ausdrückt, als die, die im Bilderbuchtext an der entsprechenden Stelle enthalten sind. Musterhaftigkeit zeigt sich in Mias Textproduktion in Form von Mini-Baumus‐ tern, sprachlichen und strukturellen Mustern sowie von erzähltypischen und wei‐ teren Mustern der dritten Ebene. Mias Textproduktion weist ein Mini-Baumuster auf, das nur im direkten Vergleich mit dem Text des Bilderbuches identifiziert werden kann. Dieses besteht aus Bausteinen, die sich auf Muster verschiedener Ebenen beziehen. Das Mini-Baumuster dient sowohl im Bilderbuchtext als auch in Mias Textproduktion der Einführung der Figur Pippi Langstrumpf. Mia formuliert folgenden Text: kennst du die pippi, die es in den win-kel-baum gibt? [.] pelle drehte seine augen. er wusste gar nicht, was das SEIN sollte. [2] ähm, sie erzählten alles über pippi. pippi [.], wo sie ein tannenbaum hatte. [.] pippi, dass sie mal mit’m pferd so: schnell geritten ist. [.] pippi, die mal auf’n DACH geklettert is, wo sie gar nicht herUNTergefallen is. und die pippi [.], DIE [.] auf’n SCHORN[? ]stein war. und hier runtergerutscht ist. 3.1 Textanalysen 395 <?page no="396"?> Auch der Bilderbuchtext beginnt mit der Vorstellung der Figur Pippi Lang‐ strumpf. Sprachlich wird die Figureneinführung folgendermaßen gestaltet: „Hast du schon mal von Pippi Langstrumpf gehört, dem stärksten Mädchen der Welt? Dem Mädchen, das ganz allein mit einem Pferd und einem Affen in der Villa Kunterbunt wohnt? Dem Mädchen, das einen ganzen Koffer voller Goldstücke besitzt? Jetzt erzähl ich dir, was Pippi einmal gemacht hat.“ (Lindgren 2013, 2. DS) Folgende Bausteine liegen beiden Textpassagen zugrunde, die das Mini-Bau‐ muster bilden: Das Mini-Baumuster beginnt mit einem Satz, dem folgendes strukturelle Muster zugrunde liegt: [Anrede des Lesers und Frage, ob ihm Pippi Langstrumpf bekannt ist + Relativsatz]. Hierbei findet eine direkte Ansprache des Lesers statt. Ein weiterer Baustein ist der mehrmalige Gebrauch des struk‐ turellen Musters [Person + Nebensatz, der etwas über die Person aussagt]. Mia orientiert sich beim Formulieren der Figurenvorstellung somit am Aufbau des Bilderbuches und füllt strukturelle Muster mit eigenen, aber ähnlichen Inhalten. Eine detaillierte Beschreibung der von Mia gebildeten strukturellen Muster, die Bestandteil des Mini-Baumusters sind, erfolgt im Zusammenhang mit dem Gebrauch struktureller Muster. Es folgen Beobachtungen zum einmaligen Gebrauch sprachlicher Muster. Zweimal lässt sich der einmalige Gebrauch eines sprachlichen Musters fest‐ stellen, das im Bilderbuch vorkommt. Dies betrifft die Formulierungen in der Winkelstraße und die Augen drehen. Das sprachliche Muster in der Winkelstraße verwendet Mia in folgendem Satz: in der winkelstraße gibt es von einer frau die kinder, die wein/ weinten an heiligabend (3. DS). Dieses Muster ist im Bilderbuchtext im gleichen Kontext enthalten: „In einem Haus in der Winkelstraße saßen im ersten Stock drei kleine arme Wesen in der Küche und weinten“ (Lindgren 2013, 3. DS). Das Muster wird von Mia folg‐ lich in eine neue syntaktische Struktur eingebunden, obwohl durch den Satz ein ähnlicher Inhalt wie im Bilderbuchtext vermittelt wird. Das sprachliche Muster in der Winkelstraße erfüllt in Mias Text sowie im Bilderbuch die Funktion, das Geschehen örtlich einzuordnen. Eine zweite Funktion, die dieses Muster in Mias Text hat, ist die sprachliche Einleitung des zweiten Abschnitts der Einleitung: Die Darstellung der problematischen Ausgangslage. Im Bilderbuch wird die problematische Ausgangslage bereits im vorangegangenen Satz mit folgender Formulierung eingeleitet: „Nein, nicht alle Kinder waren froh“ (Lindgren 2013, 3. DS). Zudem verwendet Mia die Formulierung die Augen drehen, die höchstwahr‐ scheinlich an den Phraseologismus bzw. das verbale Phrasem die Augen 396 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="397"?> 156 Ich danke an diese Stelle den Mitgliedern der Dissertationsrunde für den Hinweis auf ein existierendes Lied. verdrehen angelehnt ist: kennst du die pippi, die es in den win-kel-baum gibt? [.] pelle drehte seine augen. er wusste gar nicht, was das sein sollte. [2] (1. DS) In diesem Zusammenhang scheint das Augen drehen im Zusammenhang mit Unverständnis zu stehen. Eventuell lässt sich der Gebrauch dieser Formulierung als Verwenden eines sprachlichen Musters des Bilderbuches in einem neuen Kontext beschreiben: „Pippi verdrehte die Augen, um den Tannenbaum auf ihrem Kopf sehen zu können“ (Lindgren 2013, 7. DS). In diesem Kontext wird der Phraseologismus die Augen verdrehen jedoch nicht in seiner übertragenen, sondern in seiner wörtlichen Bedeutung verwendet sein. Mia macht des Weiteren einmalig Gebrauch von einer Variation eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vorkommt. Sie verwendet die Überschrift pippi feiert weihnachten (1. DS). Im Vergleich zur Überschrift des Bilderbuch‐ textes („Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten“ (Lindgren 2013, 1. DS)) lässt sich diese Formulierung als Variation eines sprachlichen Musters im gleichen Kontext, Typ „Weglassen“, bezeichnen. Mia vermittelt mit ihrer Formulierung den gleichen Inhalt, lässt jedoch den Nachnamen der Protagonistin weg. Mia verwendet das sprachliche Muster hin und her, das nicht im Bilderbuch vorkommt: sie tanzten um den weihnachtsbaum wie hin und her, das war gar nicht so: schwer, wie es nur sein konnte [liest gereimten Text singend vor, ab ‚wie hin…‘] . (7. DS) Dieses Muster lässt sich gleichzeitig als Paarformel und Alliteration bezeichnen und wird im Text der Bilderbuchgeschichte nicht verwendet. Im Bilderbuchtext singt Pippi Langstrumpf im gleichen Kontext auch ein Lied mit einem ähnlichen Inhalt (tanzen), das die Paarformel jedoch nicht enthält: „Pippi stampfte mit ihren großen Schuhen, Pippi sang mit kräftiger und fröhlicher Stimme: ‚Hier tanze ich mit meinem kleinen Tannenbaum, ich tanze, so lange ich kann! ‘“ (Lindgren 2013, 8. DS) Zudem ist der einmalige Gebrauch eines sprachlichen Musters erkennbar, das sowohl als Variation einer im Bilderbuch enthaltenen Formulierung als auch als Variation einer Formulierung aus einem dritten Text beschreibbar ist. Das bereits erwähnte sprachliche Muster hin und her kann auch als Bestandteil eines größeren sprachlichen Musters identifiziert werden. 156 Das Muster hin und her, das war gar nicht so: schwer (7. DS) enthält einen Reim (her - schwer). Es weist Ähnlichkeiten zu der Formulierung „einmal hin, 3.1 Textanalysen 397 <?page no="398"?> 157 https: / / www.lieder-archiv.de/ bruederchen_komm_tanz_mit_mir-notenblatt_100037.h tml [Zugriff am 13.08.2020] einmal her, rundherum, das ist nicht schwer 157 “ des Kinderliedes Brüderchen, komm, tanz mit mir auf, die in jeder der fünf Strophen des Kinderlieds enthalten ist. Der Reim her - schwer und die Wörter hin und her sind auch in diesem Lied vorhanden. Zusätzlich behandeln sowohl das von Mia formulierte Lied als auch das Lied Brüderchen, komm, tanz mit mir das gleiche Thema: Tanzen. Bei der Betrachtung des ganzen Liedes, das Mia formuliert, kann ein weiteres sprachliches Muster (schwer, wie es nur sein konnte), das im Bilderbuchtext in einem anderen Kontext verwendet wird, identifiziert werden. In der Geschichte wird folgende Formulierung verwendet: „Alles war furchtbar traurig, wie es manchmal sein kann“ (Lindgren 2013, 3. DS). Mias Muster lässt sich somit als Variation der Formulierung „traurig, wie es manchmal sein kann“ (ebd.) bezeichnen. Vermutlich passt sie es an den neuen Kontext an, indem sie das Adjektiv traurig durch das Adjektiv schwer ersetzt und die Partikel nur durch das Adverb manchmal. Folglich lässt sich Mias Formulierung in Anlehnung an Janichs Terminologie, die sich auf Phraseologismen bezieht, als Kombination zweier sprachlicher Muster bezeichnen, die beide zusätzlich in einer variierten Form von Mia genutzt werden. Hinsichtlich des mehrmaligen Gebrauchs eines sprachlichen Musters weist Mias Text sowohl den Fall auf, dass das Muster nicht im Bilderbuch vorkommt - dies gilt für die Formulierung gar nicht - als auch den Fall, dass das Muster im Bilderbuch vorkommt. Dies gilt für das Muster an Heiligabend. Dreimal verwendet Mia das sprachliche Muster gar nicht. kennst du die pippi, die es in den win-kel-baum gibt? [.]pelle drehte seine augen. er wusste gar nicht, was das SEIN sollte. (2. DS) Dieser Inhalt ist kein Bestandteil der Geschichte Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten. Mit der Formulierung gar verstärkt Mia den Eindruck von Pelles Ahnungslosigkeit. Auch der folgende Inhalt ist kein Bestandteil der eingangs vorgelesenen Geschichte: pippi, die mal auf’n DACH geklettert is, wo sie gar nicht herUNTergefallen is (2. DS). Die For‐ mulierung erfüllt die Funktion, die Besonderheit des Nichtherunterfallens zu verdeutlichen. Ein drittes Mal greift Mia auf dieses Muster in folgendem Kontext zurück: sie tanzten um den weihnachtsbaum wie hin und her, das war gar nicht so: schwer, wie es nur sein konnte (7. DS). Wie bereits erwähnt, wird im Lied lediglich die Formulierung das ist nicht schwer 158 genutzt. 398 3 Auswertung und Ergebnisse <?page no="399"?> 158 https: / / www.lieder-archiv.de/ bruederchen_komm_tanz_mit_mir-notenblatt_100037.h tml [Zugriff am 13.08.2020] Zweimal nutzt Mia das sprachliche Muster an Heiligabend und macht somit mehrmaligen Gebrauch eines sprachlichen Musters, das im Bilderbuch vor‐ kommt. Sie formuliert: in der winkelstraße gibt es von einer frau die kinder, die wein/ weinten an heiligabend. ausgerechnet an heiligabend musste ihre mama ins krankenhaus. (3. DS) Im Bilderbuch wird die Formulierung lediglich einmal im gleichen Kontext verwendet: „Sie weinten, weil ihre Mama ins Krankenhaus gekommen war. Ausgerechnet an Heiligabend, das stelle man sich einmal vor! “ (3. DS) Mia bindet die Formulierung zweimal in eine neue syntaktische Struktur ein - und zwar in einen kompletten Satz, während dies im Bilderbuch nicht der Fall ist. Nachfolgend wird der Blick auf den einmaligen Gebrauch struktureller Muster gelegt. Dabei lässt sich der einmalige Gebrauch eines strukturellen Musters, das im Bilderbuch vorkommt, viermal beobachten - und zwar hinsichtlich der Muster [„Ja/ Nein“+ Hauptsatz], [Anrede des Lesers und Frage, ob ihm Pippi Langstrumpf bekannt ist + Relativsatz], [Satz 1 (enthält