Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser
Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration
0826
2024
978-3-7720-5792-2
978-3-7720-8792-9
A. Francke Verlag
Björn Klaus Buschbeckhttps://orcid.org/0009-0002-2363-5634
10.24053/9783772057922
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Gebete und Andachtsübungen zählen zu den am zahlreichsten überlieferten Texten des Spätmittelalters, wobei große Teile dieses vielfältigen Korpus bislang weitgehend unerforscht bleiben. Björn Buschbeck versucht, hier eine Lücke zu schließen, indem er schlaglichtartig drei Untergattungen aus diesem Feld in den Fokus rückt: Nacheinander werden mittelalterliche Rosenkranztexte, Gebetskleider für Maria und frömmigkeitspraktisch herzustellende innere Häuser sowohl literaturhistorisch als auch in Bezug auf ihre Rezeptionsangebote für ein zeitgenössisches Publikum untersucht. Dabei arbeitet der Autor hervor, wie diese Texte ein Programm sprachlicher Heilsvermittlung entfalten, das Strategien der Bildrede, immersive Wirkungsästhetiken sowie vom Text angeleitete Dynamiken der Figuration kombiniert. Ersteditionen einer Auswahl zentraler Primärtexte sind der Studie als Anhang beigegeben.
Schweizerischer Nationalfonds10.13039/501100001711
<?page no="0"?> Gebete und Andachtsübungen zählen zu den am zahlreichsten überlieferten Texten des Spätmittelalters, wobei große Teile dieses vielfältigen Korpus bislang weitgehend unerforscht bleiben. Björn Buschbeck versucht, hier eine Lücke zu schließen, indem er schlaglichtartig drei Untergattungen aus diesem Feld in den Fokus rückt: Nacheinander werden mittelalterliche Rosenkranztexte, Gebetskleider für Maria und frömmigkeitspraktisch herzustellende innere Häuser sowohl literaturhistorisch als auch in Bezug auf ihre Rezeptionsangebote für ein zeitgenössisches Publikum untersucht. Dabei arbeitet der Autor hervor, wie diese Texte ein Programm sprachlicher Heilsvermittlung entfalten, das Strategien der Bildrede, immersive Wirkungsästhetiken sowie vom Text angeleitete Dynamiken der Figuration kombiniert. Ersteditionen einer Auswahl zentraler Primärtexte sind der Studie als Anhang beigegeben. ISBN 978-3-7720-8792-9 Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser BIBL. GERM. 79 Björn Klaus Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, SUSANNE KÖBELE UND HENRIKE MANUWALD 79 <?page no="3"?> Björn Klaus Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Dr. Björn Klaus Buschbeck Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich bjoern.buschbeck@ds.uzh.ch https: / / orcid.org/ 0009-0002-2363-5634 DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057922 © 2024 · Björn Klaus Buschbeck Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. 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KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8792-9 (Print) ISBN 978-3-7720-5792-2 (ePDF) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall . . . 11 I Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug: Wirkungsästhetische Dimensionen von Hinkehr, Eintauchen und Nachbildung 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes: Facetten eines mittelalterlichen Begriffs von Gebet und Andacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott . . . . . . . . 44 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität . . . . 59 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 72 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 II Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen: Der Rosenkranz im Spätmittelalter 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur 99 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit . . . . 105 2.1 Ein Wunder als Ursprungserzählung: Gebetsblumen im Mirakel Marien Rosenkranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.2 Nachahmung und Gebrauch: Die Rezeption von Marien Rosenkranz im 15. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 129 3.1 Quellenlage und Forschungssituation zum Trierer Rosenkranzkorpus . . . . 131 3.2 Das Vorbild des geläuterten Sünders? Dominikus von Preußen als Autorfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.3 Heilsereignisse als Blumen der Betrachtung: Die Trierer Rosenkranzklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.4 Blumenfigurationen des Betens: Der Rosengertlin-Traktat . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.1 Feste Form und freie Imagination: Alanus ’ Marienpsalter . . . . . . . . . . . . . . . . 160 <?page no="6"?> 4.2 Traditionskonstruktion und Visionsberichte im Tractatus apologeticus . . . . 169 4.3 Vergemeinschaftetes Beten: Alanus ’ Schilderung seiner fraternitas . . . . . . . 176 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.1 Übernahme oder Modifikation eines Gemeinschaftsmodells? Die Kölner Bezüge zu Alanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.2 Die Bruderschaft als Organisationsform der gegenseitigen Fürbitte . . . . . . . 187 5.3 Mitgliedschaft und Entwicklung der Kölner Rosenkranzbruderschaft . . . . . 193 6 Ausblick: Basisaspekte › handwerklichen Betens ‹ im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 198 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners . . 203 1.1 Lebens- und Blumenkleider: Geistliche Textilien in der Helftaer Mystik . . 209 1.2 Anspruchsvolle Fertigungen: Gebetskleider in Mirakeln des 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1.3 Das Bildmotiv der Schutzmantelmadonna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel . . . . . . . . . . . 223 2.1 Mit Worten weben: Der Marienmantel als geistliches Werkstück . . . . . . . . 227 2.2 Zählendes Beten als Herstellungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2.3 Geistliche Arbeitsteilung: Partizipationsangebote des Mantelgebets . . . . . . . 234 2.4 Zählen und Erinnern: Strategien der Vermittlung von Glaubensinhalten . 238 2.5 Allegorische Dimensionen des Mantelgebets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2.6 Marias Tempelgang im Gebetsornat: Eine innere Prozession als Reinszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3.1 Sublime Arbeiten und die überstoffliche Materialität der Gebete . . . . . . . . . 259 3.2 Fertigungsdynamiken: Göttliche Werkmeisterschaft und menschliches Unvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3.3 Egalisierte Frömmigkeit? Die Gebetsgemeinschaft des Pallium . . . . . . . . . . . 266 3.4 Autorisierung durch Typologie: Das Bundeszelt als Präfiguration des Marienmantels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3.5 Erhoffte Heilswirkungen: Der Marienmantel als Instrument der Gnade . . 271 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild . . . . . 276 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 6 Inhaltsverzeichnis <?page no="7"?> 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik . . . . . . . . . . . . . . . 291 2.1 Visionen göttlicher Einwohnung: Herzenshäuser im Liber specialis gratiae 291 2.2 Wörtliche › Erbauung ‹ : Die Konstruktion einer inneren Arche bei Gertrud von Helfta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2.3 Grunddynamiken geistlicher Architekturtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel . . . . . . . . . . . . . . . . 304 3.1 Am Beginn einer Allegorietradition: Der Tempelbau in der Psychomachie des Prudentius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 3.2 Mnemotechnik und Tugendlehre: Innere Bauarbeiten in der lateinischen Traktatliteratur des Hochmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3.3 Ein Vorbild für das eigene Innere: Die volkssprachigen Herzkloster-Texte. 315 3.4 Herzklosterallegorien im Kontext von Predigt- und Offenbarungsliteratur 328 3.5 Programme der Erbauung: Traktate und allegorische Erzählungen vom Herzkloster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 3.6 Strenge Klausur des Inneren: Die Herzklosterallegorie in Johannes Meyers Buch der Ersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 3.7 Geistliches Haus und Geistliche Klause: Die Vielfalt innerer Architekturen in der volkssprachigen Traktatliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 4.1 Gebetete Architekturen im Verbund: Die Straßburger Ursulabruderschaft . 359 4.2 Ein Gebetsgebäude zur Sündenreinigung: Die Geistliche Padstube der Birgitten von Altomünster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 4.3 Sublime Stofflichkeit und Mehrdimensionalität allegorischer Betrachtung: Die Constructio domus sive aule Marie des Dominikus von Preußen . . . . . . 369 4.4 Adventsvorbereitung auf die Eingeburt Christi: Das Geistliche Weihnachtshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4.5 Eucharistievorbereitung als Inneneinrichtung der Seele: Der Geistliche Herzensempfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 5 Ausblick: Architektonische Interiorität und die Vielfalt des Erbaulichen . . . . . . . 394 Zusammenfassende Schlussbemerkungen Editionsanhang Vorbemerkung: Allgemeine Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 1 Alemannischer Marienmantel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Inhaltsverzeichnis 7 <?page no="8"?> 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 3 Dominikus von Preußen: Lateinischer Mantelpreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum . 446 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 5 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln . . . . . . . . . . . 458 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 6 Herzkloster mit Kommentartraktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 8 Geistliches Weihnachtshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 9 Geistlicher Herzensempfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Autoren- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 8 Inhaltsverzeichnis <?page no="9"?> Vorbemerkung Die Grundlage der vorliegenden Studie bildet eine Dissertation, die ich im Sommer 2021 am German Department der Stanford University einreichte. Mein großer Dank gilt zunächst meiner Doktormutter Kathryn Starkey sowie meiner Zweitbetreuerin Fiona Griffiths, ohne deren anhaltende Unterstützung diese Arbeit wohl nie zustande gekommen wäre. Zudem möchte ich mich sehr herzlich bei Susanne Köbele, Henrike Manuwald und Udo Friedrich bedanken, die nicht nur einwilligten, dieses Buch in die Bibliotheca Germanica aufzunehmen, sondern auch mit wertvollen Anmerkungen zu seiner Überarbeitung für den Druck beitrugen. In Stanford bot mir während meiner Promotionszeit das interdisziplinäre Center for Medieval and Early Modern Studies (CMEMS) das inspirierendste akademische Umfeld, das ich mir nur hätte wünschen können. Insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen Robert Forke, Chris Hutchinson, Courtney Hodrick, Mae Lyons-Penner, Leonardo Grao Velloso Damato Oliveira, Landon Reitz, Andrea Capra, Emily Goodling, Victoria Zurita und Johannes Junge Ruhland prägten das Forschen unter der kalifornischen Sonne fachlich ebenso wie menschlich. Wichtige intellektuelle Impulse gab (oft sehr früh am Morgen) Hans Ulrich Gumbrecht. Amir Eshel übernahm die Drittbegutachtung und regte an, gelegentlich auch übers Mittelalter hinaus Brücken zu schlagen. Kathleen Smith und John Mustain teilten großzügig ihre buchgeschichtliche Expertise. Für die Zwischenverteidigung der Dissertation stellte sich als externer Gutachter freundlicherweise Niklaus Largier zur Verfügung, dessen Hinweise diese Arbeit entscheidend prägten. Gespräche mit Burkhard Hasebrink, der während meines Studiums mein Interesse an geistlicher Literatur erst geweckt hatte, gaben immer wieder den Anstoß zu Gedanken, die sich schließlich in den folgenden Kapiteln niederschlugen. Almut Suerbaum, Annette Volfing und Nigel F. Palmer eröffneten mir in Oxford ungeahnte Perspektiven auf die mittelalterliche Gebetbuchliteratur. In einer von Johanna Thali kundig betreuten Freiburger Masterarbeit konnte ich Grundvektoren, die hin zu der vorliegenden Untersuchung führten, erstmalig ausprobieren. Während einer Vertretung in Freiburg im schwierigen Pandemiewinter 2020/ 21 schufen Martina Backes und Racha Kirakosian den nötigen Freiraum, um diese Studie fertigzustellen. Ihnen sei hierfür ebenso gedankt wie auch Christian Kiening und meinen Zürcher Kolleginnen und Kollegen, die mir bei der Überarbeitung stets mit fachlichem Rat zur Seite standen. Der Schweizerische Nationalfond (SNF) ermöglichte finanziell großzügig die Drucklegung dieses Buches. Mareike Elisa Reisch schließlich korrigierte nicht bloß neben ihrer eigenen Forschung auch noch meine Manuskriptseiten, sondern begleitete scharfsinnig jeden Schritt hin zu diesem Buch. Nicht nur hierfür bin ich ihr zutiefst dankbar. Zürich, im Mai 2024 <?page no="11"?> Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall »Ich sehe den Tag kommen, an dem wir nur noch Telegramme und Gebete lesen werden.« 1 Diese Worte finden sich an recht unwahrscheinlicher und unmittelalterlicher Stelle, in der Schlusspassage eines geschichtsphilosophischen Aufsatzes des rumänischen Kulturkritikers Emil M. Cioran (1911 - 1995), der in den 1950er Jahren unter dem Eindruck der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts entstand. Sowohl Ciorans Unbehagen angesichts der ideologischen Expansionsbestrebungen des Sowjetkommunismus, dem die zeitgenössischen Intellektuellenzirkel im Pariser Exil des Autors oftmals blinde Begeisterung entgegenbrachten, als auch eine bereuende Reflexion der eigenen Verstrickungen in die rumänische politische Rechte, von der Cioran sich als Student zeitweilig hatte enthusiasmieren lassen, bilden die Hintergrundfolie des dichten Textes. 2 Gebet und Telegramm werden in dem zitierten Schlüsselsatz des Essays gleichermaßen parallelisiert wie als komplementäre Gegensätze begriffen. Denn als direkte Hinwendungen zum entweder Immanenten oder Transzendenten verkörpern, so Cioran, diese beiden Textformen sich ergänzende Pole eines kulturellen Spannungszustands, an dem »nur noch die Fragen der Strategie und der Metaphysik Interesse« verdienten, also »diejenigen, die uns in die Geschichte einfügen, und diejenigen, die uns ihr entreißen: die Aktualität und das Absolute, die Zeitung und die Evangelien«. 3 Der Bezug auf das nie begreifliche, stets unverfügbare Überweltliche, den das Gebet herstellt, erweist sich in diesem Zusammenspiel als reflektierendes Heraustreten aus dem Geschichtlichen, als zumindest partieller Ausweg aus dem Zugriff der immer unbedingteren Geltungsansprüche innerweltlicher Utopien, jener »Groteske[n] i n R o s a «, 4 an deren totalitäre Neigungen Cioran inständig mahnte. Dabei erscheint ihm das auf den Sog dieser immanenzfokussierten Ideologien reagierende, stets aber wiederum selbst unter Absolutierungsgefahr stehende »Bedürfnis, uns auf die Gegenseite zu stellen, so daß wir innerhalb des gleichen Augenblicks in der Welt und außerhalb der Welt leben«, 5 beinahe als Hoffnungsmoment - denn das »Unzerstörbare, das Anderswo, bleibt denkmöglich« allein im Aufrechterhalten dieser Bindung ans je unwissbare Heilige. 6 Es darf erstaunen, dass diese ambivalente Prognose, die angesichts der Wirkmächtigkeit von Tweets und Posts auch nach dem Aussterben des Telegramms als Kommunikationsmedium einen Aktualitätsbezug bewahrt, sich in prominenter Position im Werk eines vehement skeptizistischen Denkers der späten Moderne findet, dessen Verhältnis zum 1 E. M. Cioran: Russland und das Virus der Freiheit [zuerst 1958], in: Ders: Geschichte und Utopie, aus dem Französischen übers. v. Kurt Leonhard, Stuttgart 1965, S. 28 - 45, hier S. 45. 2 Siehe zu diesem Hintergrund Patrice Bollon: Cioran, der Ketzer, aus dem Französischen v. Ferdinand Leopold, Frankfurt a. M. 2006, S. 161 - 183. Bollon fasst Geschichte und Utopie als Ciorans politische Einsicht auf, »daß ein seines Namens würdiges Denken genau das Gegenteil dessen darstellt, woran er in seiner Jugend geglaubt hatte« (ebd., S. 136). 3 Cioran 1965, S. 45. 4 Ebd., S. 38. Hervorhebung im Original. 5 Ebd., S. 45. 6 Ebd., S. 44 f. <?page no="12"?> christlichen Glauben als hochgradig widersprüchlich gelten muss. 7 Ausdruck gab Cioran, zugleich Bewunderer Nietzsches und der spätmittelalterlichen Mystik, 8 seiner zwiespältigen Haltung zur Religion zumeist nur durch die negatio negationis, die er in seiner etwas früheren Lehre vom Zerfall in aufschlussreicher Weise eben gerade als Gebet formuliert: »Herr, verleihe mir die Gabe, niemals zu beten, bewahre mich vor der Unsinnigkeit der Anbetungen, wende sie von mir ab, jene Versuchung zur Liebe, die mich dir ausliefern würde auf immer und ewig.« 9 Ihre sprachliche Form, ohne die es scheinbar nicht geht, verneint die durch diese Zeilen vorgebrachte Verneinung - was stehen bleibt, ist das Gebet als Text und die Faszination angesichts der von ihm gebotenen Potentiale der Entfaltung und Erzeugung von Sinn, Affekt, Bindung, Ausdruck und Eindruck. »Die Hölle,« so bringt es der Autor an anderer Stelle auf die Spitze, »das ist die Unvorstellbarkeit des Gebets.« 10 Mit diesen Rückgriffen auf das Gebet stand Cioran unter seinen Zeitgenossen nicht allein. Auch sein erster Übersetzer aus dem Französischen, der jüdisch-deutschsprachige Dichter Paul Celan (1920 - 1970), verlieh mit dem programmatisch betitelten Gedicht Psalm einem nach den Katastrophen von Zweitem Weltkrieg und Schoah gebrochenen Neubezug auf das Sakrale eine prägnante Gestalt, die Lobgebet und moderne Lyrik eindrücklich engführt: Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unseren Staub. Niemand. Gelobt seist du, Niemand. Dir zulieb wollen wir blühn. Dir entgegen. 11 Auch diese Verse ziehen einen beträchtlichen Teil ihrer poetischen Wucht aus dem Kontrast zwischen der Haltung des Betens, die in ihnen eingenommen wird, und der Negation des Angebeteten als › Niemand ‹ , der durch seine Ansprache als Gegenüber jedoch gleichsam wieder positiviert wird. Selbst wenn das Transzendente unter den Bedingungen der Moderne und nach den Schreckenserfahrungen des 20. Jahrhunderts immer unnennbarer erscheint, so ließe sich Celan hier lesen, birgt die hergebrachte Sprachform des Gebets doch das Potential einer erhofften Erneuerung der Nähe des Menschen zu diesem Unnennbaren. 7 Vgl. dazu Bollon 2006, S. 184 - 203. Bollon sieht Cioran »hin- und hergerissen zwischen Achtung vor dem Göttlichen und mystischem Aufschwung einerseits und Atheismus, ja dem Willen zur Gotteslästerung andererseits« (ebd., S. 150). Gerade darin liege ein charakteristischer Zug im Denken dieses »Mystiker[s] ohne Absolutes« (ebd, S. 184). 8 Zu Ciorans Eckhartrezeption vgl. ebd., S. 193 - 198. 9 E. M. Cioran: Lehre vom Zerfall [zuerst 1949], übertr. v. Paul Celan, Stuttgart 1978, S. 111. 10 E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung [zuerst 1969], übers. v. François Bondy, Frankfurt a. M. 14 2017 (suhrkamp taschenbuch 550), S. 17. 11 Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange, hg. u. kommentiert v. Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2020 (suhrkamp taschenbuch 5105), S. 136. Viele Gedankenanstöße zu diesem Text verdanke ich der Lektüre von Amir Eshel: Dichterisch denken. Ein Essay, übers. v. Ursula Kömen, Stuttgart 2020. 12 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="13"?> Die Liste derartiger Neuanknüpfungen an das Gebet in der jüngeren und jüngsten Literatur ließe sich nun fast beliebig erweitern. Ihre vertiefende Untersuchung böte mehr als genug Material für ein ganz eigenes literaturwissenschaftliche Forschungsunterfangen - hier jedoch seien die angesprochenen Rückgriffe und Referenzen auf das Gebet bei Celan und Cioran in erster Linie exemplarisch angeführt: Sie illustrieren die nachhaltige Wirkmacht und Faszinationskraft einer religiösen Textgattung, deren formenvielfältige Entwicklung und Ausfächerung im ausgehenden Mittelalter ebenso wie die damit verbundenen Ausprägungen und Reflektionen ihrer rezeptionsästhetische Potentiale im Interessenzentrum der vorliegenden Studie stehen. Denn auch dort, so versuche ich in den untenstehenden Kapiteln nachzuzeichnen, entfalten sich Gebet und Andacht vielfach als komplexe Formen religiösen Schreibens und Sprechens, die sowohl vertikal zwischen Transzendenz und Immanenz als auch horizontal zwischen Text und Leser vermitteln sowie letztlich auf die figurative Herstellung einer innerlich geschauten, über Sprache und Sprechen entworfenen Wirklichkeit zielen. Wie nun kann sich einem solchen Gegenstand literaturwissenschaftlich angenähert werden? Zunächst scheint hier ein forschungsgeschichtlicher Blick nötig, ist doch der moderne Rückbezug auf das Gebet als literarische Form kein Proprium von Poesie und Essayistik. Vielmehr rückte es ab 1900 auch in den Fokus der sozialwissenschaftlichen und philologischen Forschung. Als beispielsweise Marcel Mauss (1872 - 1950), der später durch sein Essai sur le don zu einer Gründerfigur der modernen Soziologie werden sollte, 12 im Jahr 1897 an der Pariser École Pratique des Hautes Études damit begann, eine Doktorarbeit mit dem schlichten Titel La prière zu schreiben, plante er eine vollumfängliche Studie zum Gebet als sozialem, kulturellem und religiösem Phänomen. 13 Ihm muss schnell klargeworden sein, welch enormen historischen, philologischen, theologischen, ethnographischen, anthropologischen und religionswissenschaftlichen Umfang dieses Unterfangen hatte. In der Einleitung seiner geplanten Dissertation schildert Mauss sein ursprüngliches Vorhaben, sich in vier Einzelstudien von der in den »elementaren Religionen« 14 der australischen Indigenen angeblich noch sichtbaren Ursprungsform des Gebets über eine genaue philologische Analyse altindischer Ritualtexte bis zu den Entwicklungslinien von Liturgie und privatem Beten in Juden- und Christentum vorzuarbeiten, um abschließend Fragen nach Formalisierung und materieller Kultur des Gebets vom Mittelalter bis zur Gegenwart in den Fokus zu rücken. Angesichts dieser gigantischen Themenspanne wundert es nicht, dass Marcel Mauss seine Doktorarbeit nie beendete. 1909, zwölf Jahre nach Beginn des Projekts, hatte er trotz großzügiger Förderung durch seinen Onkel und Mentor Émile Durkheim bloß den ersten der geplanten vier Teile halbwegs fertiggeschrieben und sah sich nun in Anbetracht der Zeit dazu gezwungen, das Dissertations- 12 Siehe zu Marcel Mauss ’ soziologischem Werk überblickshaft Claude Lévi-Strauss: Introduction to the Work of Marcel Mauss, London 1987. 13 Zur Entstehungsgeschichte von La prière vgl. Marcel Fournier: Marcel Mauss. A Biography, übers. v. Jane Marie Todd, Princeton/ Oxford 2006, S. 37 - 55; sowie die Einleitung des Herausgebers in Marcel Mauss: On Prayer, hg. u. eingel. v. W. S. F. Pickering, übers. v. Susan Leslie, New York/ Oxford 3 2008, S. 1 - 15. In deutscher Übersetzung liegt diese Arbeit vor als Marcel Mauss: Das Gebet (1909), in: Schriften zur Religionssoziologie, hg. u. eingel. v. Stephan Moebius, Frithjof Nungesser u. Christian Papilloud, mit einem Nachwort v. Stephan Moebius, übers. v. Eva Moldenhauer u. Henning Ritter, Berlin 2012 (stw 2032), S. 463 - 598. 14 Ebd., S. 474. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 13 <?page no="14"?> vorhaben abzubrechen. Die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Teile der Studie wurden als Privatdruck veröffentlicht. Sie gehören allgemein nicht zu Mauss ’ vielgelesenen Schriften. Für die folgenden Untersuchungen nun ist diese fragmentarisch gebliebene Arbeit vor allem in jenen einleitenden Passagen aufschlussreich, in denen Mauss über den Doppelcharakter des Gebets als religiöse Praktik und literarische Form reflektiert: »Das Gebet ist ein Wort,« führt er aus, und mittels dieses Wortes »handelt und denkt der Gläubige«. 15 Definiert als »oraler religiöser Ritus, der sich unmittelbar auf die sakralen Dinge bezieht«, 16 kombiniert das Gebet in seiner Hinwendung zum Heiligen Mythos und Ritual, oder, Mauss ’ Terminologie etwas abwandelnd und entfrachtend, Text und performative Handlung. 17 Die sprachlich-literarische Gestalt des Gebets, so eine Kernthese des Dissertationsfragments, ist mit seiner operationalen Qualität, also seinen Angeboten eines Vollzugs in Form von Frömmigkeitspraxis, unauflöslich verbunden. Dieser Doppelcharakter mag ein Grund dafür sein, warum die volkssprachige Gebets- und Andachtsliteratur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis heute literaturwissenschaftlich eine Landkarte voll weißer Flecken bleibt. Denn obgleich Gebetbücher und geistliche Sammelhandschriften, die unter anderem auch Texte für den frömmigkeitspraktischen Gebrauch enthalten, die wohl meistüberlieferten Handschriftentypen des 15. und 16. Jahrhunderts darstellen und weit darüber hinaus kulturell bedeutsam bleiben, 18 spielen die in ihnen enthaltenen Texte in der germanistischen Mediävistik eine bloß marginale Rolle. Innerhalb der Literatur des Mittelalters ist, trotz entscheidender Fortschritte in den letzten Jahren, 19 immer noch »kaum ein Bereich so wenig erforscht und noch so weitgehend literaturhistorisches Niemandsland wie das kaum übersehbare Feld der Gebets- und Andachtstexte« 20 - diese Diagnose Peter Ochsenbeins gilt auch mehr als dreißig Jahre nach ihrer Aufstellung noch. Dass sprachliche Form und religiöse Praxis, wie schon Mauss hervorstrich, in diesen Texten untrennbar verquickt sind, plausibilisiert dies teilweise, stellt diese Verbindung den literaturwissenschaftlichen Blick doch vor ein Problem. Denn auf der einen Seite entziehen sich Gebete und Andachten einem hermeneutisch orientierten Literaturzugang, der nach dem Sinngehalt des Textes und seiner interpretierenden Erschließung fragt, oder erscheinen aus einem solchen Blickwinkel schlichtweg als wenig reizvoll. Der Versuch, solche Texte interpretativ auf ihre Aussage hin zu › entschlüsseln ‹ , führt zu verzerrenden Reduktionen - so ließe sich beispielsweise eine komplexe Passionsandacht nur sehr 15 Ebd., S. 469. 16 Ebd., S. 525. Im Original hervorgehoben. 17 Wie sehr Mauss mit seinem Begriff des › Mythos ‹ hier auf die sinnvermittelnden wie ästhetisch evokativen Effekte sprachlicher Darstellung zielt und unter › Ritus ‹ das in seinem Ablauf festgelegte, realitätsstiftende Handeln des Menschen fasst, verdeutlicht z. B. folgende Charakterisierung des Gebets: »Es ist voller Sinn wie ein Mythos und oft ebenso reich an Ideen und Bildern wie eine religiöse Erzählung. Es ist voller Kraft und Wirksamkeit wie ein Ritus, und es ist häufig ebenso schöpferisch wie eine sympathetische Zeremonie«, ebd., S. 470. 18 Vgl. zu späteren Gebetbüchern die aufschluss- und materialreiche Dissertation von Sebastian Eck: Katholische Gebetbücher im Bistum Münster (1850 - 1914): Heilsmediale Analysen und historische Kontextualisierungen, Münster 2017 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 108). 19 Siehe dazu den Forschungsüberblick unten in dieser Einleitung. 20 Peter Ochsenbein: Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400, in: Deutsche Handschriften 1100 - 1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. v. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 379 - 398, hier S. 379. 14 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="15"?> unbefriedigend auf die Deutung herunterbrechen, der Text besage, dass Christi Tod die Menschheit erlöst habe. Denn dies wäre zunächst selbst für Leser, die nur oberflächlich mit der christlichen Kultur des Mittelalters vertraut sind, eine bloß wenig überraschende Schlussfolgerung und ließe zudem jene auf Stimulation von Affekt, Wahrnehmung und ästhetischem Empfinden der Gegenwärtigkeit des Heiligen zielenden Rezeptionsangebote, die für Gebets-und Andachtstexte von konstitutiver Bedeutung sind, ebenso aus dem Blick wie die Modi ihres zeitgenössischen Gebrauchs und Vollzugs. Andererseits jedoch geraten, wird unabhängig von den dabei verwendeten Gebetstexten nach der Frömmigkeitspraxis des Betens gefragt, die zentrale Stellung der Schrift und damit des enormen Korpus der Gebetbuchliteratur für dieses Feld der religiösen Kultur des Mittelalters aus dem Blickfeld. Das Gebet als Praxis ist kaum von dem Textmedium zu trennen, von dem es wesentlich angeregt, instruiert und zumindest in Teilen auch vorgegeben wird. Forschungsgeschichtlich ist die Trennung dieser beiden Perspektiven auf das Gebet als Text auf der einen und Handlung auf der anderen Seite jedoch tief verwurzelt. So klammerte beispielsweise Friedrich Heiler, der sich zehn Jahre nach Marcel Mauss in einer großangelegten Monographie diesem Thema widmete, die literarische Tradition der Gebetbuchliteratur bewusst aus. Stattdessen rückte Heiler ein »[e]chtes, persönliches Beten« im Sinne einer spontanen Äußerung des religiösen Menschen in den Mittelpunkt. 21 Schriftlich festgehaltene Gebetstexte interessierten ihn hauptsächlich dort, wo er durch die »poetische Hülle hindurch [ … ] das leidenschaftliche und sehnsüchtige Beten« des Autors oder der Autorin zu erkennen vermeinte, 22 den Text also als Artefakt einer individuellen Frömmigkeitspraxis lesen konnte. Die für das späte Mittelalter typischen Formen des Abschreibens, Überarbeitens und Redigierens von Gebets- und Andachtstexten dahingegen wertete Heiler mit entschiedenem Gestus ab, denn »die meisten dieser künstlich gemachten Gebete« seien »nicht einmal das selbstständige Werk der Gebetbuchautoren«, sondern zeugten von einer »kompilatorische[n], bisweilen sogar plagiathafte[n] Abfassung von Gebetbüchern«. 23 Friedrich Heilers Auffassung des Gebets als persönliche, performative und erlebnishafte Frömmigkeitsübung, von der der geschriebene Gebetstext höchstens ein sekundäres Zeugnis abzulegen vermag, wirkte vor allem in der religionswissenschaftlichen Forschung noch lange nach. 24 Auf der anderen Seite entwickelte sich ebenfalls eine Forschungstradition, die das Gebet primär bis ausschließlich als schriftlichen Text und darin zumeist als religionsgeschichtliche Quelle begriff. So beabsichtigte beispielsweise Franz Xaver Haimerl in seiner 1952 veröffentlichten Habilitation, »durch das Gebetbuch ein Bild zu gewinnen von der 21 Friedrich Heiler: Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 3 1921, S. 26. 22 Ebd., S. 30. 23 Ebd., S. 32. Heiler forschte selbst nicht an der handschriftlichen Gebetbuchüberlieferung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, sondern übernahm seine Beurteilung in erster Linie von Paul Althaus: Zur Charakteristik der evangelischen Gebetsliteratur im Reformationsjahrhundert, Leipzig 1914. Die dortigen allgemeinen Beobachtungen zu den Überlieferungscharakteristika dieses Textgenres sind, obzwar Althaus ’ Abwertung sich nur unter dem Vorzeichen eines heute so nicht mehr vertretbaren Autor- und Originalitätsbegriffs plausibilisiert, insgesamt dennoch nachvollziehbar. 24 Für eine neuere, stark auf Heilers Überlegungen rekurrierende theologische Arbeit vgl. beispielsweise Gerda Riedl: Modell Assisi. Christliches Gebet und interreligiöser Dialog in heilsgeschichtlichem Kontext, Berlin/ New York 1998 (Theologische Bibliothek Töpelmann 88). Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 15 <?page no="16"?> G e i s t e s w e l t , in der es geworden ist und auf die es eingewirkt hat«. 25 Unter dieser Prämisse legte er einen frühen Versuch einer systematisierenden Untersuchung der deutschsprachigen Privatgebetbücher des Mittelalters vor, wobei dieses Textkorpus ihm nicht als Literaturgattung galt, die in einem historisch entfernten, alteritären Umfeld spezifische Formen des Vollzugs und Wirkungen auf ihre Leser entfaltete, sondern vielmehr als auf seine historische Aussagekraft hin auszuwertendes Quellengut. Die den untersuchten Gebetbüchern eingeschriebenen Rezeptionsangebote standen außerhalb von Haimerls Blickfeld. Für die frühe Forschung zu Gebetbüchern des Spätmittelalters stellt sich dies als durchaus charakteristisch dar. Aus ähnlicher Perspektive heraus wurden beispielsweise schon früh vereinzelt Gebetstexte und -sammlungen abgedruckt, wobei der philologische Anspruch dieser Ausgaben stark variiert und in ihrem Hintergrund oftmals zusätzlich verschiedenste sprach- und religionsgeschichtliche, heimatkundliche oder persönlich-religiöse Interessen standen. 26 Dass hingegen im Kontext der Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters, in die sich die überlieferten Gebets- und Andachtstexte einbetten, Vollzug und sprachliche Gestalt von Gebet und Andacht nicht getrennt voneinander zu denken sind, sondern sich vielmehr in gegenseitiger Bedingtheit und Verschränkung zeigen, wird in der mediävistischen Forschung wesentlich erst seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts diskutiert. Denn obwohl die Erschließung der mittelalterlichen Gebetbuchliteratur in vielen Bereichen immer noch erst am Beginn steht, erfährt dieses Textkorpus doch seit dieser Zeit verstärkte und in vielen Fällen auch erstmalige wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Insbesondere vier jüngere Paradigmenwechsel und Neuorientierungen innerhalb der mediävistischen Forschungsdisziplinen stehen mit diesem neuen Augenmerk auf Gebet und Andacht als Frömmigkeitspraktiken wie auch als Texte im Zusammenhang: die Entwicklung der germanistischen Mediävistik von der Philologie hin zur Kulturwissenschaft, die Etablierung eines überlieferungsgeschichtlichen Zugangs zu mittelalterlicher Literatur, die Debatte um die Literarizität geistlicher Texte sowie schließlich ein neues Interesse an Medialität und den Medialisierungspotentialen religiöser Schriftlichkeit. Erstens erweiterte sich der Fokus der akademischen Beschäftigung mit der geistlichen Literatur des europäischen Mittelalters zunehmend über das Studium einzelner prominenter Autoren und spezifischer theologischer Denkschulen hinaus und hin zu einer 25 Franz Xaver Haimerl: Mittelalterliche Frömmigkeit im Spiegel der Gebetbuchliteratur Süddeutschlands, München 1952 (Münchener theologische Studien I,4), S. 1. Hervorhebung im Original. 26 Hier sind vor allem zwei große, frühe Ausgaben zu nennen: Wilhelm Wackernagel (Hg.): Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1876, S. 213 - 248; sowie Joseph Klapper (Hg.): Schriften Johanns von Neumarkt, 4 Bd.e, Berlin 1930 - 1939 (Vom Mittelalter zur Reformation 6,1 - 4). Daneben finden sich Abdrucke einzelner Handschriften, so beispielsweise A. Puls (Hg.): Niederdeutsches Gebetbuch aus der Pergamenthandschrift des Königlichen Christianeums zu Altona, Tl. 1: Einleitung und Text, Altona 1898; oder Josef Pfanner (Hg): Das Gebetbuch der Caritas Pirckheimer, Landshut 1961 (Caritas Pirckheimer-Quellensammlung 1). Zudem kam es um 1900 im Bereich der katholischen Privatfrömmigkeit zu einer regelrechten Rückbesinnungsmode, die auch spätmittelalterliche Gebetstexte wiederentdeckte und in neuhochdeutscher Übertragung zumeist ohne philologischen Anspruch in den Druck brachte. Beispielhaft seien aus diesem Bereich genannt: P. Macherl: Schüsserlbrunner Gebetbuch. Nach einer alten Handschrift herausgegeben, Graz 1890; sowie die umfangreiche und mehrfach aufgelegte Sammlung Seelen-Gärtlein. Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, aus vielen der schönsten deutschen Gebete des Mittelalters zusammengestellt, 3., vermehrte Aufl., Augsburg/ München 1882. 16 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="17"?> umfänglicheren kulturwissenschaftlichen Perspektive. Dabei rückten neben den Höhenkämmen des gelehrten Diskurses und des mystischen Schrifttums seit den 1980er Jahren auch Fragen nach milieu- und zeittypischen Frömmigkeitsformen zunehmend ins Blickfeld der Forschung. 27 In Überschneidung mit dieser Entwicklung und zumeist inspiriert durch kulturtheoretische Anstöße von außerhalb der Mediävistik eröffnete sich eine Reihe neuer Untersuchungsansätze, die z. B. auf Performativität, Körperlichkeit, Emotionsgeschichte oder die Genderaspekte mittelalterlicher Religiosität besonderes Gewicht legen. 28 Auch Gebet und Andacht als Praktiken wie als Literaturformen des ausgehenden Mittelalters gerieten unter derartigen Vorzeichen mehrfach in den Fokus. Beispielsweise widmete sich Thomas Lentes 1996 in einer ebenso aufschlusswie umfangreichen Dissertation den Gebetbuchhandschriften des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis. Dabei verfolgte er explizit das Ziel, eine Studie »des religiösen Ausdrucksverhaltens, seiner Funktionen und Ziele« zu betreiben und ausgehend von diesem Erkenntnisinteresse, das heute wohl unter den Schlagworten von Performanz und Kulturtechnik zusammenzufassen wäre, die »Frömmigkeit, wie sie sich in den Gebetbüchern spiegelt«, zu beleuchten. 29 In den verdienstvollen Arbeiten Peter Ochsenbeins werden Orationalien und ihr Inhalt ebenfalls in erster Linie in Hinblick auf die mit ihnen verknüpften zeitgenössische Frömmigkeitsvorstellungen und -praktiken untersucht, wobei der Autor in diesem Zuge auch wichtige literaturgeschichtliche Entwicklungslinien der Gebetbuchliteratur rekonstruierte. 30 Einem etwas stärker auf die Texte selbst abzielenden kulturwissenschaftlichen Ansatz folgte Johanna Thali in einer 2003 erschienenen 27 Vgl. z. B. grundlegend Arnold Angenendt: Formen der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 2 2000; Ders.: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter, München 2004 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 68); Peter Dinzelbacher (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter, Paderborn u. a. 2000; Klaus Schreiner (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002. 28 Forschungsgeschichtlich einflussreiche Interventionen in derartige Richtungen finden sich z. B. bei Otto Langer: Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München/ Zürich 1987; Caroline Walker Bynum: Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley 1982; Dies.: Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992; Dies.: Why all the Fuss about the Body? A Medievalist ’ s Perspective, in: Critical Inquiry 22.1 (1995), 1 - 33; Peter Dinzelbacher: Über die Körperlichkeit in der mittelalterlichen Frömmigkeit, in: Bild und Abbild vom Menschen im Mittelalter. Akten der Akademie Friesach »Stadt und Kultur im Mittelalter«, Friesach (Kärnten), 9. - 13. September 1998, hg. v. Elisabeth Vavra, Klagenfurt 1999, S. 49 - 87; Niklaus Largier: Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001. 29 Thomas Lentes: Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg (1350 - 1550), Münster 1996 [Dissertation], S. 12 u. 17. 30 Siehe v. a. Peter Ochsenbein: Lateinische Liturgie im Spiegel deutscher Texte oder von der Schwierigkeit vieler St. Andreas-Frauen im Umgang mit der Kirchensprache im Mittelalter, in: Bewegung in der Beständigkeit. Zu Geschichte und Wirken der Benediktinerinnen von St. Andreas/ Sarnen Obwalden, hg. v. Rolf De Kegel, Alpnach 2000, S. 121 - 130; insb. S. 125 - 127; Ders.: Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form. Notizen zur Geschichte der abendländischen Frömmigkeit, in: Vox viva et ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters, hg. v. Clemens M. Kasper u. Klaus Schreiner, Münster 1997 (Vita regularis 5), S. 135 - 155; Ders.: Mystische Spuren im › Engelberger Gebetbuch ‹ , in: Homo Medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag, hg. v. Claudia Brinker-von der Heyde u. Niklaus Largier, Bern u. a. 1999, S. 275 - 283. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 17 <?page no="18"?> Monographie zur literarischen Aktivität des spätmittelalterlichen Frauenklosters Engelthal, die sich auch dem Konnex von Frömmigkeitspraxis und entsprechendem Schriftgut genauer widmet. 31 Während diese und vergleichbare deutschsprachige Forschungsbeiträge zumeist aus einem übergreifenden kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Interesse heraus einzelne Schreib- und Leseorte oder Handschriftenverbünde in den Blick nehmen, entstand in der englischsprachigen Mediävistik eine Reihe von Arbeiten, die mit teils enormer Spannweite kulturwissenschaftliche Modellperspektiven auf Andacht und Gebet im Mittelalter zu entwickeln und zu applizieren suchen. So schlägt Mary Carruthers in einer einflussreichen Monographie ein Verständnis monastischer Meditationspraxis des Früh- und Hochmittelalters vor, das diese durch ein Verfahren des »making [of] mental images or cognitive › pictures ‹ for thinking and composing« fundiert sieht, in dem sich rhetorische Sprachlichkeit, Mnemotechnik und imaginative Verbildlichung verbinden. 32 Sarah McNamer hingegen fasst aus einer Kombination von emotions- und geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten heraus das Korpus der lateinischen Passionsandachten des späteren Mittelalters als › Emotive ‹ auf, das heißt als »instruments for directly changing, building, hiding, intensifying emotions« und als »scripts for the performance of feeling«, die an den spezifisch mit der zeitgenössischen Frauenfrömmigkeit verbundenen »origins of affective devotion« ständen und darin geradezu eine › Erfindung ‹ des Mitleids bedeuteten. 33 Eine weit ausgreifende Kulturgeschichte des Mariengebets schließlich zeichnet Rachel Fulton Brown nach, die dabei auch detailliert und mitunter auf experimentelle Weise auf sprachliche und visuelle Prozesse der Herstellung affektiver und ästhetischer Effekte des Betens eingeht, das sie als »craft«, also als lehr- und lernbare Praxis versteht. 34 Diese Auswahl neuerer Studien, die sich der Gebetbuchliteratur aus einer im Spannungsfeld von Kulturwissenschaft und Frömmigkeitsgeschichte angesiedelten Perspektive nähern, ließe sich nun ausweiten und fortsetzen. 35 Die genannten Arbeiten seien dementsprechend nur als orientierungsgebende Ecksteine erwähnt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Gegensatz zu vielen älteren Forschungsstandpunkten Gebets- und Andachtsliteratur als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses für vollwertig nehmen, die Texte dabei freilich in erster Linie als Quellen und Artefakte einer zeitgenössischen, im sozialen 31 Johanna Thali: Beten - Schreiben - Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal, Tübingen/ Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 42). 32 Mary Carruthers: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400 - 1200, Cambridge 1998, S. 3. 33 Sarah McNamer: Affective Meditation and the Invention of Medieval Compassion, Philadelphia 2009, S. 12 u. S. 60. 34 Rachel Fulton Brown: Mary and the Art of Prayer. The Hours of the Virgin in Medieval Christian Life and Thought, New York 2018. 35 Frömmigkeitskulturelle Einzelaspekte von Gebet und Andacht im Spätmittelalter werden z. B. behandelt bei Arnold Angenendt u. Thomas Lentes: Gezählte Frömmigkeit, in: Florilegien, Kompilationen, Kollektionen. Literarische Formen des Mittelalters, hg. v. Kaspar Elm, Wiesbaden 2000, S. 107 - 114; Helmut Dworschak: Der Gebrauch des Körpers beim Gebet, in: Schwierige Frauen - Schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Alois Maria Haas u. Ingrid Kasten, Bern 1999, S. 177 - 199; Anne Bollmann: Bedehuis, spinhuis, kerk. Räume für Arbeit und Gebet in Frauengemeinschaften der Devotio moderna, in: Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter, hg. v. Nikolaus Staubach u. Vera Johanterwage, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 353 - 384. 18 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="19"?> Rahmen verankerten Kultur religiösen Denkens und Handelns fassen, auf deren Verständnis abgezielt wird. 36 Im Kontrast dazu stehen zweitens vor allem in der germanistischen Mediävistik entwickelte und verbreitete Neuansätze, die sich primär auf den Text und seine handschriftliche Überlieferung fokussieren. Den methodologischen Anstoß hierzu gab oftmals die in den 1970er Jahren von der Würzburger Forschergruppe um Kurt Ruh eingeleitete Wende hin zu einem überlieferungsgeschichtlichen Blick auf mittelalterliche Literatur, die programmatisch »das › Werk ‹ und seine › Wirkung ‹ und nicht allein die › Autoren ‹ und › Denkmäler ‹ in den Mittelpunkt [des] literarhistorischen Interesses« stellte. 37 Neben der handschriftlichen Überlieferung mittelalterlicher Texte, ihrer Varianz und ihren jeweiligen pragmatischen Funktionen wurden dabei auch die Dynamiken von Adaptation und Redaktion stärker ins Blickfeld gerückt. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit geistlicher Prosa im Allgemeinen und mit Gebets- und Andachtsliteratur im Besonderen fand dieser Vorschlag starke Resonanz. So behandelt beispielsweise bereits Gerhard Achtens 1980 im Rahmen eines Ausstellungskatalogs entworfener, wertvoller Überblick zur Geschichte des christlichen Gebetbuchs nicht nur einzelne Autoren, Texte und Handschriften, sondern berücksichtigt insbesondere für das Spätmittelalter auch überlieferungsbestimmende Dynamiken von »Sammel- und Exzerpiertätigkeit« im jeweiligen historischen Umfeld. 38 Neben einem wegweisenden Vorschlag Peter Ochsenbeins zur Typologie volkssprachiger Gebetbücher, den der Autor anhand einer ordnenden Sichtung der frühen Handschriftenüberlieferung entwickelte, 39 entstanden im gleichen Jahrzehnt auch einige überlieferungsgeschichtlich orientierte Studien, die weniger prominente Texte aus dem weiteren Umfeld der Gebets- und Andachtsliteratur beleuchteten. 1982 legte Dietrich Schmidtke eine materialreiche Monographie zu geistlichen Gartenallegorien vor, während André Schnyder 1986 das Schrifttum der Ursulabruderschaften des Spätmittelalters erschloss und edierte. 40 36 Dass kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Gebets- und Andachtsliteratur in diesem Rückschluss auf historische Frömmigkeitspraktiken des Spätmittelalters trotz ihres oft stark betonten Novitätsanspruchs methodisch teils sehr nah bei frühen Forschungen wie der Studie von Haimerl 1952 stehen, ist bemerkenswert und wäre stärker zu reflektieren. 37 Georg Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hg. v. Kurt Ruh, Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte 19), S. 5 - 36, hier S. 7. Richtungsweisend war auch der Aufriss von Klaus Grubmüller u. a.: Spätmittelalterliche Prosaforschung. DFG-Forschergruppe am Seminar für deutsche Philologie der Universität Würzburg, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 5 (1973), S. 156 - 175. Vgl. hierzu auch Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25.2 (2000), S. 1 - 21. 38 Gerhard Achten: Das christliche Gebetbuch im Mittelalter. Andachts- und Stundenbücher in Handschrift und Frühdruck, 2 Berlin 1987 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ausstellungskataloge 13), S. 39 [zuerst 1980]. 39 Ochsenbein 1988. 40 Dietrich Schmidtke: Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters. Am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982 (Hermaea. NF 43); André Schnyder: Die Ursulabruderschaften des Spätmittelalters. Ein Beitrag zur Erforschung der deutschsprachigen religiösen Literatur des 15. Jahrhunderts, Bern/ Stuttgart 1986 (Sprache und Dichtung 34). Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 19 <?page no="20"?> Nach wie vor bleibt die Methodik der Untersuchung religiöser Schriftlichkeit in ihren jeweiligen Kontexten der handschriftlichen Überlieferung, des Lesens und Benutzens, Schreibens und Abschreibens, Redigierens und Archivierens in je verschiedenen Ausprägungen wirksam. So entstanden in den letzten Jahren neben Studien bedeutsamer Gebetbuchkorpora, so z. B. Henrike Lähnemanns Arbeiten zu den Handschriftenbeständen des Lüneklosters Medingen, 41 auch maßgebliche Editionen und Untersuchungen einzelner Handschriften und Textverbünde, die diese je spezifisch im Überlieferungskontext situieren. So machte Ruth Wiederkehr mit ihrer Ausgabe des Hermetschwiler Gebetbuchs eine wichtige, frauenklosterspezifische Sammlung von Gebeten und mitüberlieferten Texten des Spätmittelalters erstmals einem weiteren Fachpublikum zugänglich. 42 Nigel F. Palmer und Jeffrey Hamburger gaben das auch kunsthistorisch aufschlussreiche Straßburger Gebetbuch der Ursula Begerin heraus und fügten ihrer Edition zudem die bislang wohl verlässlichste literaturgeschichtliche Einordnung zu diesem Bereich des religiösen Schrifttums bei. 43 Wertvoll ist auch die von Kathrin Chlench-Priber vorgelegte Untersuchung der Gebete des Prager Hofkanzlers Johannes von Neumarkt (ca. 1310 - 1380), die ein Schlaglicht auf die Entstehung, Verbreitung und zeitgenössische Rezeption eines zusammengehörigen, noch recht frühen Korpus volkssprachiger Gebete wirft. 44 Mit den Vierzig Myrrhenbüscheln vom Leiden Christi ediert und analysiert Richard Fasching Inhalt und Dissemination eines zur Passionsandacht anleitenden Traktats, dessen breite Überlieferung auch auf die Gebetbuchliteratur Einfluss nahm. 45 Zwar bleibt eine umfängliche Erschließung der volkssprachlichen Gebetbuchliteratur des ausgehenden Mittelalters und ihrer Überlieferung, die ein sicheres Zurechtfinden im Vielfaltsdickicht der entsprechenden Texte sowie ihrer Formen und Motive ermöglichte, nach wie vor ein Desiderat der Forschung - dennoch aber geben die genannten Arbeiten hierzu verlässliche Orientierungspunkte. Drittens schlägt sich in diesen Untersuchungen vielfach die Diskussion um die Literarizität geistlicher Texte nieder: Schriftliche Gebete und Andachten werden in der jüngeren Forschung zumeist nicht mehr als Aufzeichnungen spontaner Glaubensäußerungen oder als schlichte Gebrauchstexte begriffen, sondern vielmehr als eigener Gattungskomplex, der spezifischen sprachlichen Formen, Konventionen und Traditionen folgt. Entscheidend für diesen neuen Blick waren neben dem Paradigmenwechsel hin 41 Henrike Lähnemann: Bilingual Devotion in Northern Germany. Prayer Books from the Lüneburg Convents, in: A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages, hg. v. Elizabeth Andersen, Henrike Lähnemann u. Anne Simon, Leiden/ Boston 2014 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 44), S. 317 - 341. Von besonderer Bedeutung ist hier auch das von Lähnemann geleitete digitale Erschließungsprojekt »Medingen Manuscripts« (http: / / medingen.seh. ox.ac.uk/ , abgerufen 15.08.2023). 42 Ruth Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch. Studien zur deutschsprachigen Gebetbuchliteratur der Nord- und Zentralschweiz. Mit einer Edition, Berlin/ Boston 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 5). 43 Jeffrey F. Hamburger u. Nigel F. Palmer: The Prayer Book of Ursula Begerin, 2 Bd.e, Dietikon-Zurich 2016. Vgl. besonders ebd., Bd. 1, S. 401 - 458. 44 Kathrin Chlench-Priber: Die Gebete Johanns von Neumarkt und die deutschsprachige Gebetbuchkultur des Spätmittelalters, Wiesbaden 2020 (MTU 150). 45 Richard F. Fasching: Die Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi. Untersuchungen, Überlieferung und Edition, 2 Bd.e, Wiesbaden 2020 (Scrinium Friburgense 47). Vgl. insbesondere Faschings Ausführungen zu einer von diesem Text abhängigen Sammlung von Passionsgebeten ebd., S. 115 - 119. 20 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="21"?> zu einem › erweiterten Literaturbegriff ‹ 46 auch Ursula Peters ’ Interventionen zum Verständnis der sogenannten Frauenmystik. In ihrer Kritik an einem biographisch-kulturgeschichtlichen Zugang insbesondere zu Gnadenviten und Offenbarungsschriften zeigt Peters auf, wie sehr sich diese Texte als »eingespannt in hagiographische Deutungsmuster« darstellen und somit »nur bedingt als kulturhistorisch relevante Aussagen zu verwerten« sind. 47 Stattdessen seien sie als »literarisch konzipierte und intentional ausgerichtete Texte« zu verstehen, »die eine Unterscheidung hinsichtlich ihrer Nähe zu einem möglichen religiösen Erfahrungssubstrat nicht zulassen«. 48 Mit einigen Anpassungen lässt sich dieser Befund, der zu einigen der oben erwähnten kulturwissenschaftlichen Perspektiven in Spannung steht, auch insofern auf Gebets- und Andachtstexte übertragen, als dass diese zu befreien sind von den Annahmen einer Verankerung im persönlichen religiösen Erleben eines Autors oder einer Autorin oder einer direkten Reflexion historisch-sozialer Geschehnisse. Dies erlaubt einen wertungsfrei-analytischen Blick sowohl auf ihre sprachliche Gestalt als auch auf die dadurch aufgeworfenen Lektüre- und Vollzugsangebote. Dass ein derartiger Perspektivwechsel in der deutschsprachigen Forschung zu Gebets- und Andachtstexten inzwischen weitgehend stattgefunden hat, illustriert ein diachron-vergleichender Blick auf entsprechend einschlägige Publikationen: 49 Zwei Monographien von Eckart Conrad Lutz und Christian Thelen aus den 1980er Jahren, die wichtige Erkenntnisse vor allem zur rhetorischen Struktur schriftlicher Gebete erbrachten, stützten sich noch in erster Linie auf gebethafte Einschübe in der mittelhochdeutschen weltlichen Dichtung. 50 Die spezifische Einbettung dieser Einsprengsel insbesondere in den höfischen Roman ermöglichte es hier auch, eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Gebetstexten überhaupt zu legitimieren. Jüngste und gegenwärtige Forschungsprojekte hingegen, so z. B. die Arbeiten Stefan Matters zu Tagzeitentexten und Gebetsparodien, 51 tendieren wie selbstverständlich dazu, 46 Zu diesem Wandel erklärend Joachim Bumke: »Heute wird die Auffassung, daß Literaturgeschichte Dichtungsgeschichte sei, kaum noch vertreten. Es hat sich ein › erweiterter ‹ Literaturbegriff durchgesetzt, der der Literaturgeschichte weite Gegenstandsbereiche neu erschließt« (Joachim Bumke: Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe, Opladen 1991 [Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 309], S. 20). 47 Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea. NF 56), S. 37. 48 Ebd., S. 192. 49 Im englischsprachigen Raum dahingegen wurde die Forschungsdebatte um die Literarizität geistlicher Texte des Mittelalters bloß wenig rezipiert. Hier dominieren, wie oben angesprochen, zumeist kulturwissenschaftliche Ansätze, die mitunter auf zu hinterfragende Weise von einer Abbildungsbeziehung zwischen dem Text und einer von ihm mutmaßlich reflektierten historischen Realität ausgehen. 50 Eckart Conrad Lutz: Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin/ New York 1984 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 82); Christian Thelen: Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/ New York 1989 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 18). 51 Vgl. Stefan Matter: Tagzeitentexte des Mittelalters. Untersuchungen und Texte zur deutschen Gebetbuchliteratur, Berlin/ Boston 2021 (Liturgie und Volkssprache 4); sowie Ders: Gebetsparodien des hohen und späten Mittelalters, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 370 - 389; Ders: Die Tagzeiten von den Marienfesten im Cgm 4697, in: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven, hg. v. Eva Rothenberger u. Lydia Wegner, Berlin/ Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 47 - 64; Ders.: Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte im Spannungsfeld von Liturgie und Privatandacht. Zu Formen des Laienstundengebetes im deutschsprachigen Mittelalter, in: Lehren, Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 21 <?page no="22"?> auch bei der Untersuchung von Texten, die klar im Verbund von Gebetbüchern oder geistlichen Sammelhandschriften überliefert sind, literaturwissenschaftliche Fragen nach Form und Gattung, nach ästhetischer Wirkung und sprachbildnerischer Konvention, nach ihrer Variation, Anpassung an veränderte Kontexte und sogar nach ihrem gezielten Bruch anzugehen. Der hierbei oft zugrunde gelegte Terminus › Gebetbuchliteratur ‹ ist in der Regel trennscharf abgesetzt von den normativen Vorannahmen, die mit einem modernen Begriff von Literatur als künstlerischer Dichtung verknüpft sind. In pointiertester Form wird diese paradigmatische Abgrenzung von Peter Strohschneider und Burkhard Hasebrink vorgenommen, die vorschlagen, »die Begründungsfigur des › erweiterten Literaturbegriffs ‹ durch diejenige eines historisch ausgerichteten Textbegriffs zu ersetzen.« 52 Ein entsprechendes Verständnis der germanistischen Mediävistik als historische Textwissenschaft erlaube es, so die beiden Autoren, die »Aufspaltung in Ästhetisches auf der einen und Funktionales auf der anderen Seite« aufzuheben, der die Untersuchung religiöser Schriftlichkeit unter dem Vorzeichen des Literarischen stets unterworfen sei. 53 Im Hinblick auf Gebets- und Andachtstexte, auf die Hasebrink und Strohschneider nicht gesondert eingehen, eröffnet ein solcher Ansatz erstens fruchtbare Zugänge, die weder die Sakralqualität dieser Texte anachronistisch-entschärfend auf einen ästhetischen Kunstcharakter reduzieren, noch die Umwandlung von Schrift in Aisthesis, zu der sie den Rezipienten zu stimulieren versuchen, zugunsten einer in der postsäkularen Gegenwart unhaltbaren, rein funktionalen Bestimmung als › Gebrauchsliteratur ‹ zurückzustellen. Zweitens ermöglicht ein solches Verständnis, das unter Text vor allem »Rede mit Überlieferungsqualität« versteht, neue Blickwinkel einerseits auf die Performativität spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte und andererseits auf ihre variantenreiche »Überlieferung als Raum historischer Sinnmöglichkeiten des Textes«, vermag also neben der Textauch die Handlungsseite von schriftlichen Gebeten und Andachten zu berücksichtigen und somit ebenfalls ihre »Funktion [ … ] für die Medialisierung von Heil« in den Fokus zu rücken. 54 Hierin referiert dieser Vorschlag einer methodischen Neuperspektivierung des Literaturverständnisses der Altgermanistik hin zu einem historischen Textbegriff, dessen Impuls ich in den folgenden Untersuchungen aufzunehmen versuche, auf eine vierte Tendenz in der jüngeren Forschung, Gebet und Andacht im Mittelalter vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Medialität und besonders der Vermittlung einer Gegenwärtigkeit des Sakralen zu betrachten. Dabei rücken die zeitgenössischen Rezeptionsangebote und Wirkstrategien entsprechender Texte deutlich in den Vordergrund. Denn als »Kommunikation über die Grenze von Diesseits und Jenseits hinweg«, so werfen jüngst Christian Schmidt und Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters, XXIII. Anglo-German Colloquium Nottingham 2013, hg. v. Henrike Lähnemann, Nicola McLelland u. Nine Miedema, Tübingen 2017, S. 171 - 184. 52 Burkhard Hasebrink u. Peter Strohschneider: Religiöse Schriftkultur und säkulare Textwissenschaft. Germanistische Mediävistik im postsäkularen Kontext, in: Poetica 46.3/ 4 (2014), S. 277 - 291, hier S. 288. Meine folgenden Überlegungen und Untersuchungen wurden von diesem Vorschlag entschieden inspiriert. Wo ich dennoch in der Forschung etablierte Begriffe wie › Gebetbuchliteratur ‹ verwende, soll dies explizit weder ästhetische Auratisierung noch deskriptive Funktionsbestimmung ausdrücken. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 289. 22 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="23"?> Mirko Breitenstein auf, fundiert das Gebet auf Texten und anderen Medien, die die Aufgabe erfüllen sollen, eben diese Grenze »durchlässig zu halten« oder erst zu machen. 55 Derartige Strategien der Heilsvermittlung stehen im Mittelpunkt eines grundlegenden Beitrags von Johanna Thali, die anhand einer Untersuchung ausgewählter Text- und Bildbeispiele aus dem Frauenkonvent der Benediktinerabtei Engelberg aufzeigt, wie diese z. B. durch Anknüpfungen an die Liturgie, durch Aufforderungen zum Reihenbeten und zu Körperübungen, durch »sprachliche und rhetorische Mittel« oder gezielte »Kombination verschiedener Medien« für ihre Benutzer eine Kommunikationssituation mit dem Göttlichen evozieren. 56 Dabei jedoch sei im zeitgenössischen Verständnis des Mittelalters, so Thali, die »Wirksamkeit des Gebetstexts [ … ] an den Vollzug gebunden«, denn nicht »die Materialität der Worte [ … ] garantiere seine Heilswirkung, sondern die subjektive Verfasstheit und Intention des Betenden«. 57 Der Text des Gebets - und Vergleichbares ließe sich für schriftliche Andachten sagen 58 - kann in diesem Sinne, eine Typologisierung Berndt Hamms aufgreifend, als Hilfsmedium begriffen werden, das den Betenden eine frömmigkeitspraktische Partizipation am durch Christus in die Welt gekommenen Heil erleichtern soll. 59 Freilich erweist sich die sprachmediale Gestalt von Gebet und Andacht dabei keineswegs als unbedeutend oder willkürlich, zielt sie doch darauf ab, diese Heilsteilhabe im Vollzug zu rahmen und zu orientieren, Affekt und innere Perzeption der Betenden zu lenken sowie die Herstellung einer inneren Haltung zu forcieren, aus der heraus eine Hinkehr zum Heiligen erst möglich wird. Niklaus Largier spricht diesbezüglich in Anlehnung an Erich Auerbach von einer »Modifikation der Wahrnehmung und des Denkens«, die den mittelalterlichen Betenden vom Text angetragen werde und die in einer »Praxis des Neuwebens der Wahrnehmung mittels einer materialen, immer auch rhetorisch-strategischen Mimesis« münde. 60 Unter diesem Blickwinkel erscheinen Gebets- und Andachtstexte erstens als spezifischen Programmen ästhetischer wie semantischer 55 Mirko Breitenstein u. Christian Schmidt: Einleitung: Medialität und Praxis des Gebets, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 275 - 282, hier S. 278 f. 56 Johanna Thali: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur, in: Medialität des Heils im späten Mittelalter, hg. v. Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs u. Christian Kiening, Zürich 2009 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 10), S. 241 - 278, hier S. 248 u. S. 266. 57 Ebd., S. 268. 58 Siehe dazu den wichtigen Aufsatz von Johanna Thali: andacht und betrachtunge. Zur Semantik zweier Leitvokabeln der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transfomation, hg. v. Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt u. Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 226 - 267. 59 Vgl. Berndt Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter, in: Medialität des Heils im späten Mittelalter, hg. v. Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2009 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 10), S. 21 - 60. Dazu vgl. auch die ausführliche Diskussion unten in Kapitel I.4; sowie zudem die Beiträge in Berndt Hamm, Volker Leppin u. Gury Schneider-Ludorff (Hgg.): Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58); sowie in Johanna Haberer u. Berndt Hamm (Hgg.): Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 70). 60 Niklaus Largier: Spekulative Sinnlichkeit. Kontemplation und Spekulation im Mittelalter, Zürich 2018 (Mediävistische Perspektiven 7), S. 16. Vgl. auch Ders.: Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 23 <?page no="24"?> Wirksamkeit folgende Sprachmedien, denen zu eigen ist, was Christian Kiening als »operationale« Funktion bezeichnet, »bei der die Schrift das Programm eines Handlungsvollzuges in sich trägt«. 61 Darin sind die Bedingungen des Medialen - besonders der Schrift, sprachlichen Gestalt und textuellen Form - zumeist nicht kaschiert, sondern dienen geradezu als ausgestellte Ermöglichungselemente des je individuell zu realisierenden Mediengebrauchs. Zweitens ist diesen Texten die Hoffnung auf vermittelnde Wirksamkeit, auf die Möglichkeit der Medialisierung von Gnade eingeschrieben. Das Beten als Praxis ist entsprechend »getragen von der Annahme oder Hoffnung, die Welt lasse sich mit Hilfe der Sprache (zumindest im Kleinen) verändern.« 62 Drittens zielen schriftliche Gebete und Andachten auf die Herstellung einer Form von Gegenwärtigkeit, die sowohl die Vergegenwärtigung der vermittelten Ereignisse, Gegenstände und Figuren des Heils als auch die Präsenzentfaltung von Schrift und Sprache umfasst. Die vermittelnde Herstellung einer persönlichen Nähe zum Sakralen, die am Fluchtpunkt von Gebet und Andacht in Text und Frömmigkeitspraxis steht, erweist sich dementsprechend als besonders spannungsreich eingebettet in jene »Matrix aus dem medialen Aspekt von Gegenwärtigkeit und dem präsentischen Aspekt des Medialen«, die als allgemeines Charakteristikum medialer Vergegenwärtigung nicht nur in der geistlichen Literatur des Mittelalters gelten darf und, so Kiening, mit der grundlegenden Einsicht verbunden ist, »dass aus ontologischer Sicht nichts › bloß ‹ mittelbar wie aus epistemologischer nichts schlechterdings unmittelbar sei«. 63 Anknüpfend an diese vier Forschungsperspektivierungen von Gebet und Andacht als im kulturellen Kontext verankerte religiöse Praktiken, als überlieferte Schrift, als gestalteter Text sowie als Medium der Hinkehr zum Sakralen fragen die folgenden vier Kapitel einerseits nach der textuell angelegten Wirkungs- und Rezeptionsästhetik sowie den sich daraus ableitenden Lektüre- und Vollzugsangeboten ausgewählter, motivisch und formal zusammengehöriger Korpora aus der Gebetbuchliteratur vor allem des 15. Jahrhunderts. Andererseits versuchen sie, mit Rosenkränzen, aus Frömmigkeitsleistungen hergestellten Marienmänteln sowie inneren Architekturen, die ein Lesepublikum durch Andacht und Gebet in sich errichten soll, drei im ausgehenden Mittelalter verbreitete Formen geistlicher Übungen sowohl literaturgeschichtlich als auch in ihrer Bindung an historischkulturelle Kontexte zu erschließen. Hierbei rücken neben den entsprechenden Schriften selbst auch immer wieder zeitgenössische Texte in den Blick, die sich instruierend und kommentierend auf sie beziehen oder über die von ihnen vorgezeichneten Akte der Devotion narrativ reflektieren. In einem ersten Kapitel versuche ich, im Anschluss an eine überblickshafte Bestimmung des Gegenstands dieser Studie und seiner Position in der religiösen Kultur des Spätmittelalters zunächst ein methodisch-begriffliches Analyseinstrumentarium zu entwickeln, das es ermöglicht, sich derartigen Texten unter besonderem Augenmerk auf und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009, S. 953 - 969. 61 Christian Kiening: Mystische Bücher, Zürich 2011 (Mediävistische Perspektiven 2), S. 13. 62 Christian Kiening: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter, Zürich 2016, S. 132. 63 Christian Kiening: Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen - Semantiken - Effekte, in: Mediale Gegenwärtigkeit, hg. v. Dems., Zürich 2007 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 1), S. 9 - 70, hier S. 22 f. 24 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="25"?> die ihnen eingeschriebenen Modi der Entfaltung von Effekt und Vollzug im Rahmen der Lektüre zu nähern. Um einen dergestalt rezeptionsästhetischen Zugang zu ermöglichen, schlage ich vor, schriftliche Gebete und Andachten unter drei eng miteinander verflochtenen Aspekten zu betrachten. Erstens stellen diese Texte komplexe sprachliche Zeichengeflechte dar, die durch rhetorische Formung und darüberhinausgehende Spielarten der Bildrede, also auf dem Weg von Metapher, Allegorie und Typologie, einen ebenso deutenden wie den Leser innerlich affizierenden Bezug zum Heiligen herstellen, ja zumeist sogar eine Kommunikationssituation mit dem Göttlichen evozieren. In dieser Herstellung von kommunikativer und affektiver Nähe zum Transzendenten erweisen sich Gebets- und Andachtstexte nachdrücklich als Hilfsmedien der Heilsteilhabe, wird doch durch den Entwurf eines in festen sprachlichen Formen präfigurierten Gesprächs mit der Transzendenz den Betenden erlaubt, in eine vertikale Kommunikationsbeziehung mit dem Heiligen einzutreten, die mit der Erwartung bestimmter Wirkungen oder Wirkmächtigkeiten verbunden ist. Darin beruhen Gebete und Andachten zweitens auf einem Prozess der imaginativen Immersion in eine sprachlich entworfene Welt des inneren Erlebens. Dies kann als horizontale Vermittlungsdimension verstanden werden, die sich zwischen Leser und Text abspielt. Insbesondere für das Gebet ist hierbei die Identifikation des Lesers mit dem im Text sprechenden Ich ein rezeptionsästhetisches Zentralcharakteristikum. Andachtstexte dahingegen apostrophieren ihre Leser zumeist eher in direkten Aufforderungen zum inneren Aufrufen, Vorstellen und Wahrnehmen und entfalten auf diese Weise eine absorbierende Wirkung, die ein immersiv-erlebnishaftes Hineinversetzen in das sprachlich Dargestellte anregt. Grundsätzlich aber steht ein Effekt des vergegenwärtigenden Eintauchens in im jeweiligen Text dargestellte Momente oder Ereignisse einer direkten Präsenz des Heiligen, das die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz zumindest in der vom Text während der frommen Lektüre geformten Wahrnehmung überwindet, am Wirkungsziel beider Textgattungen. Drittens eignet sowohl der Erfahrung der frommen Lektüre als auch dem Faktum des geleisteten Vollzugs ein Status der Verwirklichung, der nicht als rein zeichenhaft oder ästhetisch wirksam gefasst werden kann und in dem sich horizontale und vertikale Vermittlungsdimensionen konkretisieren sowie amalgamieren. Unter Rückgriff auf eine Begriffsbildung Erich Auerbachs schlage ich deshalb vor, diese Texte als in einer Logik der Figuration verhaftet zu begreifen, die auf je eigen wirklichkeitshafte Dynamiken der verheißenden Vorbildgabe und erfüllenden Nachbildung von Text, Handlung und Effekt abhebt. › Wirklichkeit ‹ verstehe ich dabei mit Auerbach als ein »Textphänomen, bei dem der Text [ … ] als eine stabile (wenn auch nicht unveränderliche) Bezugsebene fungiert.« 64 In der Begegnung mit Texten oder anderen Medien konstruiert sich › Wirklichkeit ‹ in diesem Sinne einerseits als zumindest angenommene Faktizität des medial Vermittelten 64 Hanna Engelmeier: Die Wirklichkeit lesen. Figura und Lektüre bei Erich Auerbach, in: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des Figura-Aufsatzes von Erich Auerbach, hg. v. Friedrich Balke u. Hanna Engelmeier, Paderborn 2 2018, S. 89 - 118, hier S. 90. Vgl. zum Wirklichkeitsbegriff bei Auerbach auch den Aufsatz von Niklaus Largier: Die Figur des Realen. Zur Konvergenz von Realität und Möglichkeit, in: Die Wirklichkeit des Realismus, hg. v. Veronika Thanner, Joseph Vogl u. Dorothea Walzer, Leiden u. a. 2018, S. 41 - 56. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 25 <?page no="26"?> bzw. des durch diese Vermittlung innerlich oder äußerlich Wahrgenommenen. 65 Damit steht dieser schillernde Begriff andererseits aber auch für die Faktizität der Wirkung des auf diese Weise Erfahrenen - und hierbei gegebenenfalls durch ein Medium gezielt Evozierten - , das über den Prozess der Wahrnehmung hinausgehende Effekte auf die innere Verfasstheit der Rezipierenden oder die Realität der äußeren Welt zeitigt. 66 Frömmigkeitspraktische Texte des Mittelalters sind, so Niklaus Largier, in letzterem Sinne gekennzeichnet durch ein »Insistieren [ … ] auf dem Faktischen der Erfahrung, in der sich die Transformation der Wahrnehmung als Wirklichkeit gibt«. 67 Diese Bedeutungsebene von › Wirklichkeit ‹ steht nah am mittelalterlichen Ursprung dieses Wortes, das, wie Burkhard Hasebrink ausführt, »wohl erstmals von dominikanischen Theologen um 1300 verwendet« wird, die es »zur Bezeichnung eines Wirkens und Wirksamseins im Vollzug (in der Übersetzung von lat. actus und actualitas)« verwenden. 68 Gebets- und Andachtstexte sowie die ihnen eingeschriebenen Rezeptionsangebote partizipieren an einer auf diese Weise verstandenen »religiösen Wirklichkeitskonstruktion«, 69 indem sie, selbst oftmals z. B. durch biblische oder liturgische Modelle vorgebildet, das religiöse Sprechen, Denken, Fühlen und Handeln ihrer Rezipierenden präfigurieren sowie darüberhinausgehend vielfältige Prozesse der Vermittlung und Vergegenwärtigung von Heil anzustoßen versuchen. In dem nun anskizzierten wirkungsästhetischen Dreieck von in ihrer rhetorischen Form und Zeichenstruktur vertikal auf das Heilige orientierender Bildrede, horizontal vergegenwärtigender Immersion des Lesers in einen sprachlich konstruierten Erlebensraum sowie darauf aufruhenden Dynamiken einer wirklichkeitsstiftenden Figuration situieren sich, so versuche ich aufzuzeigen, die Rezeptionsangebote und -effekte spätmittelalterlicher Gebetbuchliteratur. Je nach Einzelfall variieren dabei Zusammenspiel und Gewichtung dieser drei Ebenen. Für die Untersuchung schriftlicher Gebete und Andachten ergibt sich daraus die Möglichkeit eines analytischen Blicks, der weder das Religiöse dieser Texte in einer Interpretation ad usum Delphini auf literarisches Kunsterleben unter vormodernen Bedingungen reduziert noch sie auf bloße Funktionalität im sozialen Gebrauchskontext verkürzt. 65 Methodisch abzutrennen ist dieser Wirklichkeitsbegriff von dem für die Begriffsverwendung in der Moderne ausschlaggebenden Kriterium einer intersubjektiven, empirischen Qualität. Insbesondere für die Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten ist dieser Punkt entscheidend. Denn, wie Linus Möllenbrink ausführt: » › Wirklich ‹ ist in mittelalterlicher, christlich fundierter Weltsicht etwas anderes als die empirische Welt: Die Wirklichkeit ist nicht in erster Linie empirisch evident, sondern garantiert von« Gott, der als Bürge für die Verlässlichkeit menschlichen Erkennens verstanden werde (Linus Möllenbrink: Person und Artefakt. Zur Figurenkonzeption im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Tübingen 2020 [Bibliotheca Germanica 72], S. 66). Vgl. hierzu grundlegend auch Hans Robert Jauß: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, hg. v. Hans Robert Jauß, München 2 1969, S. 9 - 27. 66 Zur Illustration dieses Punktes könnte eine Brücke zu den aktuellen medienwissenschaftlichen Diskussionen um › virtuelle Realitäten ‹ geschlagen werden, auf die ich in Kapitel I.4 näher eingehe. Siehe dazu unten S. 74 - 78. 67 Largier 2018, S. 18. 68 Burkhard Hasebrink: Die Ambivalenz des Erneuerns. Zur Aktualisierung des Tradierten im mittelalterlichen Erzählen, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, hg. v. Ursula Peters u. Rainer Warning, München 2009, S. 205 - 217, hier S. 209. 69 Breitenstein/ Schmidt 2019, S. 278. 26 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="27"?> Ausgehend von diesen drei wirkungsästhetischen Leitkategorien nehme ich anschließend drei Untergattungen aus dem Bereich der Gebetbuchliteratur in den Blick. In meinem zweiten Kapitel steht hierbei die vielfältige Gruppe der Rosenkranzgebete im Vordergrund, die ich vor allem im Hinblick auf das durch die jeweiligen Texte angeregte Verfahren eines quantifizierten Betens untersuchen möchte, das den Betenden einerseits das Leben und Leiden Christi innerlich präsentifiziert und andererseits als figurierendkonkretisierende Fertigung geistlicher Blumenkränze konzipiert ist, die als Gaben in der Hoffnung auf eine gnadenmächtige Gegengabe imaginativ an Maria zu überreichen sind. Neben dem Mirakel Marien Rosenkranz, das als Ursprungsnarrativ dieser Gebetsform gelten darf, rücken dabei nacheinander die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause, insbesondere der Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen, der diese Weise des Betens erklärende und propagierende Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe sowie schließlich die im Umfeld der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 entstandenen Gebetsanweisungen und -erläuterungen in den Blick. Hier lässt sich auch eine diachrone Entwicklungslinie nachzeichnen, im Laufe derer eine ursprünglich in der monastischen Privatfrömmigkeit verankerte und am Psalter orientierte Gebetsform sich über das Spätmittelalter hinweg zunehmend ebenso laikalisierte wie kollektivierte und dabei immer wieder neue Formen der Medialisierung von Heil, Verfahren der Vertiefung und figurale Verdichtungen von Frömmigkeit hervorbrachte. Verwandt mit dem Rosenkranz sind die zahlreichen vestimentären geistlichen Übungen des Spätmittelalters, die dazu anleiten, aus Gebeten und anderen Frömmigkeitsleistungen einen Ornat für Maria oder andere ausgewählte Heilige anzufertigen. Auch diese Gebetsform, die im Zentrum des dritten Kapitels der folgenden Studie steht, ist zuerst durch eine geistliche Verserzählung bezeugt und erläutert, die entsprechende Andachts- und Gebetstexte prädatiert: Das um 1300 entstandene Marienmirakel Heinrichs des Klausners erzählt von der wundersamen Fertigung eines Mariengewandes im Gebet. Mit dem Alemannischen Marienmantel und dem Pallium beate Marie virginis des Dominikus von Preußen entstehen dann gegen Mitte des 15. Jahrhunderts komplexe schriftliche Gebetsübungen und mit ihnen verknüpfte Frömmigkeitstexte, die keinen narrativen Charakter besitzen, sondern ihr Lesepublikum vielmehr dazu instruieren, aus dem Rohmaterial von Gebeten und Askeseleistungen ein geistliches Textilkunstwerk zu fertigen. Als Schutzmantel der heiligen Jungfrau verspricht dieses imaginierte Werkstück, den darunter geborgenen und an seiner Herstellung beteiligten Gläubigen die gnadenhafte Fürsprache Marias zu vermitteln. Derartige Mantelgebetsübungen, die bis in die Frühe Neuzeit in verschiedener Form verbreitet bleiben, verschmelzen, wie ich nachfolgend ausführe, erstens in einem Imaginationsverfahren des › handwerklichen Betens ‹ eine Versenkung der Betenden in überwältigende, ekphrastisch evozierte Prachtbilder des Materiellen mit komplexen Allegorisierungen dieser imaginierten Gegenstände. Darauf aufbauend konzipieren sie zweitens den Gebetstext und seinen Vollzug als Material, aus dem sich geistlich-konkrete Kunstgegenstände fertigen lassen, denen einerseits eine realitätshafte Wirkmächtigkeit eignet, die andererseits aber auch in einer zeichenhaften Kette des Figuralen stehen, in der sie sowohl biblische Präfigurationen der Vergangenheit sublimierend erfüllen sollen als auch auf das Versprechen zukünftiger göttlicher Gnade vorwegweisen. Während Rosenkränze und gebetete Kleider sowohl eine Dynamik der Verinnerlichung von Wahrnehmung und Herstellung als auch eine prinzipiell entgegengesetzte Logik der Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 27 <?page no="28"?> gabenhaften Veräußerung des dergestalt produzierten geistlichen Gegenstands anstoßen, richtet sich das an vierter und abschließender Stelle untersuchte Textkorpus denkbar eindeutig auf die Interiorität des gläubigen Menschen. Denn das weite Feld der schriftlichen Seelenhäuser und Herzklöster bedient sich der Allegorie vom inneren Gebäude, um auf diese Weise ein Ideal der Verfasstheit des christlichen homo interior zu veranschaulichen. Im gleichen Zuge entwerfen derartige Texte wiederum ein durch biblische Erzählungen oder klösterliche Lebensumstände präfiguriertes Vorbild, dem sich der individuelle Gläubige innerlich nachzubilden gefordert ist. Die Erfüllung der Figura des inneren Bauwerks ereignet sich, so der Anspruch entsprechender Gebets- und Andachtsübungen, letzthinnig im je einzelnen Leser, der sein tiefstes Selbst in Angleichung an den Vorentwurf des jeweiligen Texts zum auf die Einkehr des Heiligen harrenden Haus Gottes formt. Allegorische Bildrede erscheint demgemäß in Texten wie den unterschiedlichen Bearbeitungen des Herzklosters, Traktaten wie dem Geistlichen Haus oder Gebetsübungen wie der Constructio domus sive aule Marie des Dominikus von Preußen oder dem niederdeutschen Geistlichen Weihnachtshaus nicht als rein referentielle, konkrete Bezeichnung eines Abstrakten. Vielmehr bieten diese Texte einen Vollzug in Form einer Errichtung innerer Selbstwirklichkeit, das heißt › Erbauung ‹ im Literalsinn an. 70 Die Auswahl der in diesen drei Kapiteln untersuchten Textkorpora geschah nicht willkürlich. Rosenkränze, Marienmäntel und geistliche Häuser finden sich zunächst, wie unten genauer ausgeführt, vielfach gemeinsam überliefert und verbreiten sich oft über die gleichen klösterlichen Netzwerke. Zudem überschneiden sich auch die Abfassungsorte und sogar Verfasser der entsprechenden Texte mehrfach: Immer wieder weisen sie beispielsweise auf die Skriptorien der elsässischen Frauenklöster, entstammen der Trierer Kartause und insbesondere der Feder des Dominikus von Preußen, greifen auf Mirakel aus dem Umfeld des Alten Passional oder das Helftaer Mystikkorpus zurück, werden von den Gebetsbruderschaften des 15. Jahrhunderts an Nieder- und Oberrhein aufgenommen oder stehen im Zusammenhang mit der dominikanischen Observanzbewegung. Schließlich beruhen alle drei Textkomplexe, auf die ich hier ein Schlaglicht werfen möchte, auf dem Grundgedanken einer durch die Schrift angeleiteten Herstellung einer geistlichen Wirklichkeit, die sich bei der Lektüre vor den inneren Augen der Lesenden entfalten soll und dabei nicht bloß in einem Analogieverhältnis zur stofflichen Realität steht, sondern sie in ihrer gesteigerten Eindrücklichkeit und heilsvermittelnden Wirkung sogar zu übertreffen vermag. Auch dieser Punkt legt ihre gemeinsame Untersuchung nahe. Durch den Editionsanhang dieser Arbeit versuche ich, zumindest einige Zentraltexte aus diesem Feld einem weiteren wissenschaftlichen Publikum zugänglich zu machen. Hierbei ist nicht zu leugnen, dass sich diese Arbeit hätte weiter ausdehnen lassen. So konnte ein ursprünglich geplantes Kapitel zu Texten, die Andacht und Gebet vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Eucharistiefrömmigkeit als geistliche Speisen konzipieren, im gegebenen Rahmen nicht verwirklicht werden. Zentrale Ergebnisse der 70 Zu dem komplexen Begriff › Erbauung ‹ , auf den ich in den Kapiteln IV.1 und IV.2.2 genauer eingehe, siehe zuletzt vor allem die Beiträge in Susanne Köbele u. Claudio Notz (Hgg.): Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in › Erbauungs ‹ -Konzepten des Mittelalters, Göttingen 2019 (Historische Semantik 30). 28 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="29"?> entsprechenden Vorarbeiten habe ich jedoch inzwischen an anderer Stelle veröffentlicht. 71 Auch motivisch und strukturell angrenzende Typen geistlicher Übungen, so z. B. die zahlreichen geistlichen Gärten und Schmucktexte, 72 werden nachfolgend nur peripher angesprochen - eine detaillierte Aufarbeitung auch dieser Korpora bleibt ein Forschungsdesiderat. Zudem musste ich mich bei der Auswahl der exemplarisch einem close reading unterzogenen oder im Anhang edierten Texte aus pragmatischen Gründen beschränken. Trotzdem bleibt die doppelte Hoffnung, mit den folgenden Untersuchungen und Beispieleditionen erstens einen wenn auch begrenzten Bereich des geistlichen Schrifttums erstmalig zu erschließen, sowie zweitens eine vorsichtig auch auf andere Fälle übertragbare, rezeptionsästhetisch orientierte Perspektive auf die spätmittelalterliche Gebetbuchliteratur zu entwickeln, aus der heraus die besondere Wirk- und Faszinationsmacht dieser Texte auf ihr historisch alteritäres Umfeld auch für ein gegenwärtiges Lesepublikum greifbar wird. 71 Vgl. Björn Klaus Buschbeck: Eintauchen und Einverleiben. Die Andachtsübung Wirtschaft des Leidens Christi aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis, in: Vielfalt des Religiösen. Mittelalterliche Literatur im postsäkularen Kontext, hg. v. Susanne Bernhardt u. Bent Gebert, Berlin/ Boston 2021 (Literatur - Theorie - Geschichte 22), S. 23 - 49. 72 Zu geistlichen Gärten liegt mit Schmidtke 1982 bereits ein fundierter Überblick vor. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 29 <?page no="31"?> I Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug: Wirkungsästhetische Dimensionen von Hinkehr, Eintauchen und Nachbildung <?page no="33"?> 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes: Facetten eines mittelalterlichen Begriffs von Gebet und Andacht Es giebt im Grunde nur Gebete, so sind die Hände uns geweiht, daß sie nichts schufen, was nicht flehte; ob einer malte oder mähte, schon aus dem Ringen der Geräte entfaltete sich Frömmigkeit. 1 Diese Verse finden sich im 1899 erschienenen ersten Teil von Rainer Maria Rilkes Stunden- Buch, den der Dichter, den ursprünglichen Arbeitstitel »Die Gebete« verwerfend, mit »Das Buch vom mönchischen Leben« überschrieb. 2 Sie entwerfen eine Vorstellung des Gebets, wie sie umfassender nicht sein könnte: Alles menschliche Handeln und Schaffen wird als gebethaft verstanden, nirgendwo ist dort etwas zu finden, › was nicht flehte ‹ . Künstlerische und handwerkliche Arbeiten, ja sogar das technische › Ringen der Geräte ‹ stellen sich notwendigerweise als implizite Hinwendung zur Transzendenz dar. Dieser Gottesbezug aller Tätigkeiten erscheint im Gedicht gleichsam als anthropologische Grundkonstante, denn › so sind die Hände uns geweiht. ‹ Das Schöpfen der Geschöpfe, so will es Rilkes Gedicht, realisiert sich auf diese Weise allenthalben als Rückbezug auf den göttlichen Schöpfer. Nun gehören diese Zeilen nicht nur ihrer Form und Sprache nach der Moderne an, auch die Ubiquisierung des Gebetsbegriffs, den sie betreiben, erscheint mehr als Ausdruck einer ästhetisierten Kunstsakralisierung um 1900 denn als konzeptuelle Übernahme aus der monastischen Kultur des Spätmittelalters, auf die der Gedichtzyklus auch jenseits seines Titels immer wieder referiert. Obgleich Rilke die geistliche Literatur des Mittelalters intensiv rezipierte 3 und den Wort- und Motivschatz christlicher Religiosität immer wieder »als Stoffreservoir und als Inspirationsquelle« 4 für sein eigenes Schreiben heranzog, unterscheidet sich das Stunden-Buch in seinem historisch-literarischen Kontext, intendierten Lesepublikum und künstlerischen Anspruch augenfällig von den Gebetbüchern des ausgehenden Mittelalters, auf die es verweist und zurückgreift. Trotz dieser Vorbehalte jedoch erlaubt es Rilkes Gedicht, eine grundlegende Frage- und Problemstellung zu illustrieren, die sich bei der Betrachtung des weiten Feldes der Gebets- 1 Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch, in: Werke in sechs Bänden, eingel. v. Beda Allemann, Band I.1: Gedicht-Zyklen, Frankfurt a. M. 3 1984, S. 5 - 126, hier S. 36. 2 Siehe zur Entstehung und Einordnung des Gedichtzyklus grundlegend Wolfgang Braungart: Das Stunden-Buch, in: Rilke-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hg. v. Manfred Engel, Stuttgart/ Weimar 2004, S. 216 - 227. Mit dem gebetsähnlichen Stil des Stunden-Buchs befasst sich Aris Fioretos: Prayer and Ignorance in Rilke ’ s › Buch vom mönchischen Leben ‹ , in: The Germanic Review 65.4 (1990), S. 171 - 177. 3 Siehe dazu z. B. Georg Steer: Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts, in: › Gott ‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, hg. v. Norbert Fischer, Hamburg 2014, S. 361 - 380; sowie Martina Wagner- Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 63 - 107. 4 Sascha Löwenstein: Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch. Theologie und Ästhetik, Berlin 2005, S. 128. <?page no="34"?> und Andachtstexte des 14. bis 16. Jahrhunderts auftut und als Kernschwierigkeit der literaturwissenschaftlichen Untersuchung dieses vielfältigen Korpus gelten darf. Denn wie lassen sich Begriffe wie › Gebet ‹ oder › Andacht ‹ , deren Umfang weit über literarische Gattungsbezeichnungen hinausgeht, vor dem Hintergrund der Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters sinnvoll definieren und für ein Verständnis der mit ihnen verbundenen Texte fruchtbar machen? Insbesondere da diese Bezeichnungen zeitgenössisch sowohl spezifische Frömmigkeitspraktiken und -texte als auch mit ihnen verbundene, übergreifende Vorstellungen der unentwegten Hinwendung zum Heiligen in allen Dingen meinen können, bedarf es hier eines genaueren Blicks. Die Semantik von Gebet und Andacht oszilliert unentwegt zwischen immanentem Sitz im Leben und Ausrichtung auf die Transzendenz, zwischen den äußerlichen Aspekten des Vollzugs und der Innerlichkeit der Schau, zwischen sozialer Praxis und individueller Hinkehr zu Gott. Welche Wege der Integration dieser noch bei Rilke aufscheinenden, partiell in Spannung stehenden Augenmerke einerseits auf eine innere Hinwendung des Menschen zum Heiligen und andererseits auf eine durch diesen Bezug hergestellte Strukturierung und Sublimierung des äußeren Alltags also entwirft die geistliche Literatur des Mittelalters? Grundsätzlich begreifen christliche Autoren des Mittelalters das Gebet im engeren Sinne religiöser Praxis zumeist als absichtsvolle und kommunikative Hinwendung eines immanenten Menschen zum transzendenten Heiligen, die affektive, perzeptive und heilsvermittelnde Effekte zeitigen soll. So findet sich in der 39. Predigt des Dominikaners Johannes Tauler (ca. 1300 - 1361) als Antwort auf die Frage danach, was das Gebet als solches ausmache, eine weite und denkbar untechnische Definition: Das wesen dis gebettes das ist ein ufgang dis gemu ᵉ tes in Got. 5 Diese Formel geht zurück auf eine im Mittelalter gängige Auffassung des Gebets als ascensus mentis in Deum, die ihren Ursprung wesentlich bei Johannes von Damaskus (ca. 650 - 754) nimmt. 6 Statt z. B. den performativen Akt des Betens, die Form des Gebetstexts oder seinen Inhalt hervorzuheben, bestimmt sich das Gebet nach diesem Verständnis durch die Herstellung einer geistigen Nähe des Gläubigen zu Gott, die sich zumeist als Kommunikation mit dem Überweltlichen ausprägt. In einer Steigerung dieses Gedankens versteht auch Meister Eckhart (ca. 1260 - 1328), der sich an anderer Stelle durchaus auch als scharfer Kritiker insbesondere des mit einer weltimmanenten Wirkungserwartung verbundenen Bittgebets äußert, das Gebet als Zwiegespräch mit Gott, an dessen Fluchtpunkt ein in der Einheit aufgegangenes Mitsprechen steht: oratio est cum deo confabulatio, heißt es in seiner lateinischen Predigt 47. 7 5 »Das Wesen des Gebets ist ein Aufgehen des Gemüts in Gott« (soweit nicht anders angemerkt oder aus zweisprachigen Ausgaben zitiert stammen alle folgenden Übersetzungen von mir), Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, S. 154,16 f. Zu dieser Stelle vgl. auch die Diskussion bei Wiederkehr 2013, S. 127. 6 In der Schrift De fide orthodoxa des Johannes von Damaskus heißt es: Oratio est ascensus mentis in Deum: aut eorum quae consentanea sunt postulatio a Deo (»Das Gebet ist ein Aufstieg des Geistes zu Gott oder eine Bitte an Gott um gemäße Dinge«, Joannes Damascenus: Expositio Fidei orthodoxæ, in: Patrologia Graeca 94 [1864], Sp. 790 - Sp. 1228, hier Sp. 1090 [III,24]). 7 »Das Gebet ist ein Zwiegespräch [oder: Mitsprechen] mit Gott«, Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die lateinischen Werke, Bd. 4: Magistri Echardi Sermones, hg. u. übers. v. Ernst Benz, Bruno Decker u. Joseph Koch, Stuttgart 1956, S. 404,13. Zu dieser Stelle im Besonderen sowie allgemein zu Eckharts Gebetsverständnis vgl. ausführlich Freimut Löser: Oratio est cum deo confabulatio. Meister Eckharts Auffassung vom Beten 34 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="35"?> Obschon gerade letztere Formulierung in ihrer Hintersinnigkeit hervorsticht, sind derartige Begriffsbestimmungen keine intellektuelle Neuerung Eckharts und Taulers oder idiosynkratisch für die Autoren der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ des 14. Jahrhunderts, der die beiden Dominikanergelehrten zugerechnet werden. Bereits Evagrius Ponticus (ca. 345 - 399) umschrieb, weit vor der ascensus-Wendung des Johannes von Damaskus, in dem Traktat De oratione das Gebet als geistige Unterredung mit Gott: Oratio est colloquium intellectus cum Deo. 8 In der Religionswissenschaft und christlichen Theologie der Gegenwart finden derartige Definitionen nach wie vor Anwendung. So bestimmt beispielsweise die Theologische Realenzyklopädie das Gebet grundlegend als »Ausdruck menschlicher Zuwendung zur Gottheit«. 9 Auch Karl-Heinrich Ostmeyer geht in einer einschlägigen Studie zum Gebet im Neuen Testament in diese Richtung: »Unter Gebet sei jede Form der Kommunikation mit Gott und Christus verstanden, sei sie verbal oder nonverbal.« 10 Wie Christian Schmidt und Mirko Breitenstein aufzeigen, erweist sich eine derartige Auffassung des Gebets »als Kommunikation über die Grenze von Diesseits und Jenseits hinweg« auch für literaturwissenschaftliche Untersuchungen, die sich auf entsprechende Schriften richten, als treffend und fruchtbar - erlaubt sie es doch, die komplex-prekären heilsmedialen Ansprüche und performativen Angebote dieser Texte zu berücksichtigen, ohne dabei in ein reduktiv-anachronistisches Deutungsschema von ästhetischer Qualität und sozialer Funktion zu verfallen. 11 Dementsprechend übernehme auch ich folgend prinzipiell diese Definition, zumindest wenn es um das Beten als schrift- und sprachmedial informierte Praxis geht. In Hinblick insbesondere auf die den in den Folgekapiteln untersuchten Gebets- und Andachtstexten eingeschriebenen Programme des Vollzugs halte ich jedoch drei zusätzliche, untergeordnete Ausdifferenzierungen für notwendig, die auf die affektiven wie kontemplativen Dynamiken mittelalterlicher Gebetsbegriffe, ihre davon abhängigen Überschneidungen mit zeitgenössischen Konzeptionen von Meditation und Andacht sowie die durch sie entworfenen Verhältnissetzungen von äußerer Welt und gottsuchender Innenkehr eingehen. Erstens nämlich kann eine dergestalte Grundbestimmung nicht kaschieren, dass das westliche Mittelalter ausgehend von einem Gebetsbegriff der kommunikativen Beziehung zu Gott vielfältige definitorische Akzentuierungen vornahm, die neben deprekatorischen vor allem affektive oder meditative Aspekte des Betens hervorstreichen. So hebt beispielsweise die kurze und seit dem Hochmittelalter vielverbreitete Schrift De modo orandi des Augustinerchorherren Hugo von St. Viktor (ca. 1097 - 1141) 12 insbesondere auf die und seine Gebetspraxis, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. v. Walter Haug u. Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 283 - 316. Die Bedeutung des Begriffs confabulatio in diesem Zusammenhang analysiert Largier 2009, S. 955 - 958. 8 »Das Gebet ist eine Unterredung des Verstandes mit Gott«, [Evagrius Ponticus: ] De oratione tractatus, in: Patrologia Graeca 79 (1865), Sp. 1165 - 1200, hier Sp. 1167. 9 Carl Heinz Ratschow: Art. Gebet I: Religionsgeschichtlich, in: TRE 12 (1984), S. 31 - 34, hier S. 31. 10 Karl-Heinrich Ostmeyer: Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, Tübingen 2006 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 197), S. 32. Im Original hervorgehoben. 11 Breitenstein/ Schmidt 2019, S. 279. 12 Zur Einordnung Hugos und der zeitgenössischen Bedeutung seines Werks vgl. Paul Rorem: Hugh of Saint Victor, Oxford u. a. 2009 (Great Medieval Thinkers Series). 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 35 <?page no="36"?> Affekthaltungen ab, die einer betenden Hinkehr des individuellen Christen zu Gott eigentümlich seien: Nihil ergo aliud est oratio quam mentis devotio, id est conversio in Deum per pium et humilem affectum, fide, spe, charitate subnixa. 13 Anliegen, Form oder mediale Struktur des Betens gelten dem Viktoriner als bloß akzidentiell - sie stellen keine definierenden Eigenschaften der mit lateinisch oratio oder mittelhochdeutsch gebête umschriebenen Frömmigkeitspraxis dar. Stattdessen fasst Hugo das Beten als ebenso voraussetzungsvolle wie folgenreiche geistige Ergebenheit oder Hingabe (devotio) und Hinkehr (conversio) zu Gott auf, die weniger im sprachlichen Inhalt des vorgebrachten Texts als in der emotionalen Verfasstheit des Betenden anklingt und sich fundiert in den theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung. Vor allem Niklaus Largier ist die Aufarbeitung eines auf diese Weise affektfokussierten Gebetsverständnisses für die mediävistische Forschung zu verdanken, demzufolge das Beten »first and foremost an art of arousing affects and emotions« darstelle. 14 Für die folgenden Textanalysen ist dies insofern von besonderer Bedeutung, als dass sich im Zusammenhang geistlicher Übungen beispielsweise rhetorische Figuren und Momente der Bildrede, die auf die gefühlsmäßige Affizierung des Lesers zielen, zumeist vor dieser Folie verstehen und greifen lassen. Darüber hinaus kennt das Mittelalter zweitens auch ein oftmals damit verschränktes, meditatives Gebetsverständnis, das vor allem nach Formen der inneren Vergegenwärtigung vergangener ebenso wie künftiger Heilsereignisse sowie nach Sensibilisierung des Gläubigen für die Allgegenwart und Allmacht Gottes trachtet. Das meditative Gebet »bildet in der Acht und Betrachtung das Heilsgeschehen in die eigene Innerlichkeit ein und erweckt es zu neuer Lebenskraft«. 15 Schon Johannes Cassianus (ca. 360 - 435) bettet in seinen Collationes das Beten demgemäß in eine »Lehre von der Discretio und Contemplatio sowie der stufenweisen Verinnerlichung des Schauens« ein, wobei discretio hier das »Gespür für die göttliche Allgegenwärtigkeit und Wirksamkeit« meint, das in der kontemplativen Frömmigkeitspraxis eingeübt und geschärft werden soll. 16 In einem in seiner Grundstruktur mit Cassianus ’ Stufenweg vergleichbaren Vierschritt von der Schriftlesung (lectio divina) zur innerlichen Betrachtung des Gelesenen (meditatio), zum dieses Betrachten zurückspiegelnden Gebet (oratio) und schließlich zur in brautmystischer Bildlichkeit beschriebenen inneren Gottesbegegnung (contemplatio) fügt in der Scala claustralium achthundert Jahre später auch Guigo der Kartäuser (vor 1174 - 1193) das Beten in einen umfassenden Zusammenhang der inneren Annäherung 13 »Nichts anderes ist also das Gebet als die Andacht (devotio) des Geistes (mens), es ist die Hinwendung zu Gott durch eine fromme und demütige Leidenschaft (affectus), die sich auf Glauben, Hoffnung und Liebe stützt«, Hugo von St. Viktor: De modo orandi, in: Patrologia Latina 176 (1854), Sp. 977 - 988, hier Sp. 979. 14 Niklaus Largier: The Art of Prayer. Conversions of Interiority and Exteriority in Medieval Contemplative Practice, in: Rethinking Emotion. Interiority and Exteriority in Premodern, Modern, and Contemporary Thought, hg. v. Rüdiger Campe u. Julia Weber, Berlin/ Boston 2014 (Interdisciplinary German Studies 15), S. 58 - 71, hier S. 62 f. 15 H. M. Biedermann: Art. Gebet, in: LexMA 4 (1989), Sp. 1155 - 1158, hier Sp. 1156. Vgl. ausführlicher den Überblick über das meditative Gebet des Mittelalters bei Ratschow 1984, S. 69 f. 16 Achten 1987, S. 15 f. Die Passagen, die hier referiert werden, finden sich in Johannes Cassianus: Collationes XXIIII, hg. v. M. Petschenig, editio altera supplementis aucta curante G. Kreuz, Wien 2004 (CSEL 13) [insb. Coll. VIII - X]. Vgl. zu Cassianus ’ Gebetsauffassung auch Rachel Fulton: Praying with Anselm at Admont. A Meditation on Practice, in: Speculum 81.3 (2006), S. 700 - 733, hier S. 701 f. 36 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="37"?> ans Transzendente ein. 17 In Schriftlesung und Meditation nämlich, so Guigo, erahne die Seele die Fülle göttlicher Schau und die Süße der Gegenwart des Heiligen, ohne sie jedoch aus eigener Kraft erreichen zu können: Non enim est legentis atque meditantis hanc sentire dulcedinem, nisi data fuerit desuper. 18 Deshalb bittet die Seele anschließend im Gebet Gott um die Gewährung dessen, was sie lesend und betrachtend nur schemenhaft verspürte: Da mihi, Domine, arrham hæreditatis futuræ, saltem guttam c œ lestis pluviæ, qua refrigerem sitim meam; quia amore ardeo. 19 In der kontemplativen Gottessuche im eigenen Inneren schließlich könne auf eine derartige, das Gebet beantwortende Gnade gehofft werden. Dieser und vergleichbare Entwürfe einer Frömmigkeit, die Gebet und Andacht als Teile eines weitgreifenden, oft stufenhaft modellierten Komplexes der inneren Gottsuche begreifen, prägten die Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters entscheidend. 20 Nicht nur gründet der zeitgenössische Gebetsdiskurs, so beispielsweise die unten noch genauer angesprochenen Sieben Staffeln des Gebets des Franziskaners David von Augsburg (ca. 1200 - 1272), vielfach auf einem dergestalt meditativen Gebetsbegriff, der sich mitunter ins Ubiquitäre ausweitet. Auch das Gros der in den Folgekapiteln dieser Untersuchung behandelten Rosenkränze, Marienmäntel und inneren Häuser kombiniert in unterschiedlichen Konstellationen Gebet, Meditation und Kontemplation. Besonders, wenn wie unten die immersiven Lektüreangebote derartiger Texte in den Blick gerückt werden, wird dies augenfällig. In vielen Fällen erschwert dies eine scharfe Trennung zwischen Gebet und Andacht sowohl als religiöse Praktiken wie auch als Textgattungen. Johanna Thali, die in einem erkenntnisreichen Aufsatz die Semantik der für die spätmittelalterliche Frömmigkeit als Leitvokabeln fungierenden Begriffe andacht und betrachtung untersucht, stellt heraus, dass andacht sich in diesem Kontext »zunehmend auf die religiöse Bedeutung › Denken an Gott, innere Sammlung beim Gebet ‹ « verenge. 21 Grundsätzlich bezeichne das Wort eine »gottergebene Haltung«, die sich »auf das liturgische wie auch das private Gebet, auf den Sakramentenempfang oder auf körperliche Frömmigkeitsübungen« ebenso wie auf die zeitgenössische Meditationspraxis beziehen könne. 22 Johannes Tauler beispielsweise benennt in diesem Sinne Andacht als notwendige Vorbedingung und Bestandteil des Betens: Zu ͦ dem gebett ho ᵉ rt andacht. 23 Die anschließende Frage, was andaht denn überhaupt sei, beantwortet er wie folgt: daz ist devocio, das ist also viel gesprochen also › quasi se vovere deo ‹ , ein innewendig verbinden mit Gotte mit einer bewegunge der ewikeit. 24 Nicht nur aufgrund von Taulers Bestimmung von andacht als zugehörig zum gebett illustriert diese 17 Vgl. [Guigo der Kartäuser: ] Scala claustralium sive tractatus de modo orandi, in: Patrologia Latina 184 (1862), Sp. 475 - 484, insb. Sp. 476 - 479; sowie die deutsche Übersetzung Guigo der Kartäuser: Scala claustralium. Die Leiter der Mönche zu Gott, übers. v. Daniel Tibi, Nordhausen 3 2011. 18 Guigo der Kartäuser: Scala claustralium, Sp. 478 (»Diese Süßigkeit kann nicht durch Lesung und Meditation erlangt werden. Sie kann nur von oben geschenkt werden«, Übers. Tibi 2011, S. 7). 19 Ebd. (»Gib mir, Herr, ein Unterpfand der künftigen Herrlichkeit, wenigstens einen Tropfen des himmlischen Taus, um mein Verlangen zu stillen, denn ich brenne vor Liebe.« Übers. Tibi 2011, S. 8). 20 Vgl. Achten 1987, S. 16 f. 21 Thali 2012, S. 265. 22 Ebd. 23 »Zu dem Gebet gehört Andacht«, Tauler: Predigten, S. 419 [Pr. 78]. 24 »Das ist devotio, das heißt so viel wie › sich gewissermaßen Gott versprechen ‹ , ein innerliches Sich- Verbinden mit Gott in einer Bewegung der Ewigkeit«, ebd. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 37 <?page no="38"?> Stelle eine konzeptuelle Teilüberschneidung von Andacht und Gebet. So entspricht die Definition von andacht als devocio oder innewendig verbinden zudem recht exakt Hugos von St. Viktor oben zitierter Auffassung des Gebets als mentis devotio. Das lateinische devotio wurde dabei, wie Thomas Lentes hervorstreicht, in der volkssprachigen religiösen Terminologie des Mittelalters regelmäßig mit innecheit übersetzt. 25 Damit heben Hugos Definition des Gebets und Taulers Begriffsbestimmung von Andacht beide ab auf einen innerlichen, »wesenhafte[n] Zustand der Gottesnähe«, der durch das Beten gesucht und in der Andacht erfüllt wird. 26 Die onomasiologisch verbundene Vokabel betrachten hingegen beschreibt, wie Thali z. B. an der Vita der Gutta Mestin aus dem St. Katharinentaler Schwesternbuch aufzeigt, zumeist eine imaginative »Technik des Betens« oder der Meditation, die auf die Herstellung dieser Nähe zum Heiligen zielt, also darauf, »sich etwas innerlich so lange und intensiv vorzustellen, bis es gegenwärtig wird«. 27 Sowohl andacht als auch betrachtung stehen also als Bezeichnungen für Voraussetzungen, Imaginationstechniken und Vollzugseffekte in einem engen Wechselverhältnis mit einem breiten Gebetsbegriff, der auf einen Akt der Hinkehr zur Transzendenz abhebt. An diesen semantischen Überschneidungen scheitert notwendigerweise der Versuch einer trennscharfen Differenzierung zwischen Gebet und Andacht. Denn »Meditation bildet bei den Exponenten der monastischen Theologie mit lectio und oratio eine Einheit. Es geht um geistliche Auslegung und affektive Aneignung des Textes, und sie ist dadurch bereits Gebet.« 28 Auch entsprechende Texte lassen sich oft bloß sehr formal abgrenzen. Heuristisch darf dabei dennoch gelten, dass Gebete stärker die kommunikativen Aspekte der in direkter Apostrophierung des Heiligen gesuchten Gottesgegenwart, Andachten dahingegen eher ihre affektiven und imaginativen Momente hervorheben, wobei die sprachliche Adressierung der Transzendenz als Gegenüber in letzterem Fall zumeist keine oder bloß eine untergeordnete Rolle spielt. Schlussendlich stellt sich, wird das spätmittelalterliche Gebet als Hinwendung zum Heiligen begriffen, in der kommunikative, affektive und meditative Wirkprinzipien zusammenfließen, die Frage nach Verortung und Stellenwert dieses Begriffs im religiösen Leben der Zeit ebenso wie nach seiner pragmatischen Einbettung in den persönlichen und gemeinschaftlichen Alltag der Betenden. Eine konzise Antwort hierauf gestaltet sich zwingend reduktiv. Denn zunächst kann eine religiöse Überformung und Semantisierung des gesamten Tagesablaufs, der damit gleichsam als (primär durch die Liturgie getragene) Frömmigkeitsübung konzipiert wurde, durchaus etwas generalisierend als distinktes Merkmal zunächst der benediktinisch-monastischen Spiritualität des Mittelalters verstanden werden. So gliedert die Benediktsregel nicht nur den Ablauf des Jahres durch genaue Anweisungen zum jeweils zu leistenden liturgischen Gebet, sie unterteilt auch die Woche des Mönchs nach demselben Prinzip und bestimmt seinen Tag durch die sieben 25 Siehe Thomas Lentes: › Andacht ‹ und › Gebärde ‹ . Das religiöse Ausdrucksverhalten, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 - 1600, hg. v. Bernhard Jussen u. Craig Koslofsky, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), S. 29 - 67, hier S. 31 - 33. 26 Thali 2012, S. 255. 27 Ebd., S. 246. 28 Isnard W. Frank: Art. Gebet VI: Mittelalter, in: TRE 12 (1984), S. 65 - 71, hier S. 70. 38 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="39"?> Gebetszeiten von Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet und Matutin. 29 Auf diese Weise erlangen Gottesdienst und Psalmodie des Offiziums den Charakter einer allumfassenden Rahmenstruktur, die den Gottesbezug sämtlicher Aspekte des mönchischen Lebens hervorkehrt: Ubique credimus divinam esse praesentiam, führt die Regel aus. 30 Die vita religiosa, mit Gert Melville verstanden als »geregelte und gemeinschaftlich geführte Lebensform zur Selbstheiligung des Einzelnen in Begegnung und Verähnlichung mit Gott«, 31 begriff sich zumeist als Abkehr von der Welt, in der jede äußere Tätigkeit die Qualität einer inneren Hinwendung zum Heiligen erlangen sollte. Das Gebet in Chor und Zelle, das je nach Kloster- und später Ordenstradition in qualitativ und quantitativ unterschiedlicher Form gepflegt wurde, bildete dazu einen Überbau. Im weitesten Sinne gab es also für die Religiosen des Mittelalters, zumindest im metaphorischen Wortgebrauch des eingangs zitierten Gedichts von Rilke, › im Grunde nur Gebete ‹ . Zugleich jedoch verschränkte sich dieses Verständnis des (vor allem liturgischen oder paraliturgischen) Gebets als gesamtumfängliches Ordnungsprinzip des äußeren Lebens mit dem Anspruch auf tiefste Versenkung des Betenden ins eigene Innere. Letzteres, also die Betonung der je persönlichen Interiorität des (auch privaten) Betens, begründet sich in der frühen Exegese des Neuen Testaments, die vor allem ein Herrenwort aus dem Matthäusevangelium entsprechend verstand: »wenn du beten wirst, geh in dein Zimmer und bete, nachdem du deine Tür geschlossen hast, im Verborgenen zu deinem Vater! « (Mt 6,6). 32 Dieses Zimmer (cubiculum) wurde bereits in patristischer Zeit tropologisch als das Innere des individuellen Gläubigen gedeutet, in das dieser sich im Gebet zurückziehen solle: Cum ergo intras cubiculum tuum, intras cor tuum, legte dieses Logion beispielsweise Augustinus (354 - 430) aus, dessen Confessiones entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung eines Gebetsverständnisses nahmen, das dergestalt die Innerlichkeit der gesuchten Gottesnähe betont. 33 »Die Gebetspraxis des Mittelalters kannte« daher, wie Gerhard Achten treffend zusammenfasst, »zwei einander ergänzende und beeinflussende Richtungen: das ordnende benediktinische Prinzip, das den Tag in die liturgischen Gebetszeiten einteilt, und das emotionale augustinische Prinzip der Zwiesprache mit Gott.« 34 In den Texten des späteren Mittelalters, die unten im Zentrum stehen, sind diese beiden Gebetsverständnisse zumeist in verschiedener Gemengelage und Gewichtung amalgamiert. Die Ansprüche einer Strukturierung des äußeren Lebens und der nach innen gerichteten Weltabkehr werden hier zumeist nicht getrennt, sondern treten in beinahe kaleidoskopischen Konstellationen gemeinsam auf. Dabei darf eine Verallgegenwärtigung von Gebet und Andacht, in welcher die gottbezogene Versenkung zum stetigen Alltag und 29 Vgl. Die Benediktsregel. Lateinisch/ Deutsch, mit der Übersetzung der Salzburger Äbtekonferenz, hg. v. P. Ulrich Faust OSB, Stuttgart 2009 (RUB 18600), S. 57 - 75. 30 »Überall ist Gott gegenwärtig, so glauben wir«, ebd, S. 74 f. 31 Gert Melville: Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012, S. 272. 32 tu autem cum orabis intra in cubiculum tuum et cluso ostio tuo ora Patrem tuum in abscondito. Hier und im Folgenden zitiere ich die lateinische Vulgata und die deutschen Übertragungen der entsprechenden Stellen nach der Ausgabe Hieronymus: Biblia sacra vulgata, hg. v. Andreas Beriger, Widu-Wolfgang Ehlers u. Michael Fieger, 5 Bd.e, Berlin/ Boston 2018 (Sammlung Tusculum). 33 »Wenn du also in dein Zimmer eintrittst, so trittst du ein in dein Herz«, Aurelius Augustinus: Enarrationes in Psalmos, hg. v. E. Dekkers u. J. Fraipont, 3 Bd.e, Turnhout 1990 (CCSL 38 - 40), hier Bd. 1, S. 287 [XXXIII, sermo 2.8]. 34 Achten 1987, S. 7. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 39 <?page no="40"?> das Alltägliche zum Rahmen des Sich-Versenkens gedeiht, mitunter geradezu als Grunddynamik gelten. Dies begründet sich einerseits in generellen Veränderungen der religiösen Landschaft: So war ein besonderes Augenmerk auf das individuelle, über die Formvorgaben der Liturgie hinausgehende Ausgerichtet-Sein auf Gott zunächst charakteristisch für die Spiritualität der ab dem 13. Jahrhundert florierenden Mendikantenorden und intensivierte sich im Zuge der Devotio moderna sowie der Observanzbewegungen des 15. Jahrhunderts noch. 35 Damit hängt zusammen, dass im Zuge dieser Entwicklung hin zum Spätmittelalter das Privatgebet, zunehmend auch in der Volkssprache, stetig an Gewicht gewann und die diesbezüglichen Gebetbücher »immer stärker von der Liturgie gelöst« erscheinen, 36 so dass, wie Stefan Matter aufzeigt, bei der Kompilation der in ihnen enthaltenen Texte »in viel stärkerem Maße individuelle Vorlieben« der jeweiligen Betenden Berücksichtigung fanden. 37 Diese neue, individualisiertere Gebetskultur fand zudem neue Trägergruppen auch außerhalb des Mönchtums: Geistliche Frauen treten schon vor 1400 als »wichtigste Rezipientengruppe früher deutscher Privatgebetbücher« hervor und behalten diese Stellung bis in die Frühe Neuzeit inne. 38 Auch in der Laienfrömmigkeit, die oft monastische Gebets- und Andachtsformen adaptierte oder imitierte, wurde »das innere Beten in der Volkssprache im vollen Verständnis des Wortlauts« zum Zentrum persönlicher religiöser Praxis. 39 Die ihrer Form nach nun offenere geistige Hinwendung des Einzelnen zur Transzendenz war hierbei grundlegende Absicht einer Gebetsfrömmigkeit, die zugleich in verschiedene Alltagsumstände integriert werden konnte und, zumindest dem Ideal nach, einen Permanenzzustand des Gottesbezugs anvisierte. Dass dieser Wandel auch mit Ausweitungen des zeitgenössischen Gebetsbegriff koinzidierte, verdeutlichen die vielrezipierten Sieben Staffeln des Gebets des frühen Franziskanergelehrten David von Augsburg. 40 Die Wahl seines Gegenstands begründet dieser Text zunächst in Anlehnung an die oben skizzierten Gebetsauffassungen. Zunächst, so David, sei das Gebet heilbringender als andere religiöse Handlungen, denn es ʒ úhit das gemv ᵉ te mere vber ſ ich ʒ e gotte vnd ze himel ſ chen dingen. 41 Hier klingt Johannes ’ von Damaskus bekannte Wendung vom geistlichen Aufschwung (ascensus mentis in Deum) an. In dieser Hinwendung zu Gott nun erkenne der Mensch einerseits sich selbst al ſ e in eime ſ piegil, andererseits werde er auch wider braht ze der erkantnv ſſ e gottis vnde ſ iner 35 Vgl. dazu Achten 1987, S. 27 - 30; S. 36 - 44. 36 Lentes 1996, S. 83. 37 Matter 2017, S. 174. 38 Ochsenbein 1988, S. 392. 39 Andreas Erhard: Laien und Liturgie. Zur liturgischen Seite des volkssprachigen Gebetbuches Cgm 4701 aus der Bibliothek der Laienbrüder des Regensburger Benediktinerklosters St. Emmeram im 15. Jahrhundert, in: Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien, hg. v. Cornelia Herberichs, Norbert Kössinger u. Stephanie Seidl, Berlin 2015 (Lingua historica germanica 10), S. 287 - 321, hier S. 289. 40 Zu David von Augsburg vgl. einführend Kurt Ruh: Art. David von Augsburg, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 47 - 58. Hier findet sich auch ein kurzer Abriss der Forschungsdiskussion um die Autorzuschreibung und die verschiedenen Fassungen der Sieben Staffeln und ihr komplexes Verhältnis zur lateinischen Fassung des Texts (Septem gradus orationis). 41 »zieht den Geist mehr über sich hinüber zu Gott und zu den himmlischen Dingen«, David von Augsburg: Die Sieben Staffeln des Gebets, hg. v. Kurt Ruh, München 1965 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1), S. 49. 40 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="41"?> gelichnv ſ te vnde ze der enphindvnge siner minne. 42 Das Gebet, verstanden als Herstellung eines Zustands der Gottesnähe, sei somit geradezu ein auf Transzendenzbegegnung ausgerichteter inganc [ … ] ze gottis biwonunge. 43 Dieses Verständnis darf noch als Variation auf die Definition des Betens als kommunikativ bestimmte Hinkehr zur Transzendenz gelten, wobei die Sieben Staffeln neben Heilsvermittlung und der affektiven enphindvnge von Gottesliebe insbesondere Potentiale der mystischen Schau und Erkenntnis hervorheben. Wie breit der Gebetsbegriff hier allerdings gedacht ist, verdeutlicht sich in dem Bild des Stufenwegs, eines verbreiteten Strukturmodells geistlicher Texte, 44 das David anschließend entwirft. Anders als z. B. Guigo der Kartäuser bettet der Franziskaner dabei das Gebet nicht in einen frömmigkeitspraktischen Großzusammenhang ein, sondern schildert sieben fortschreitende Formen des Betens. Bloß die ersten beiden dieser Typen, das geno ᵉ te gebet mit dem munde und das lustvoll-ungebundene Beten von eime eigenem vr ſ prvnge des andehtigen hercen entsprechen einer Vorstellung des Gebets als mündliche Apostrophierung des Heiligen. 45 Bereits auf der dritten Stufe bedarf der Gläubige keiner sprachlichen Äußerung mehr, denn mit begirde me denne mit worten v ᵉ bit er ſ ich mit gotte inneclichen. 46 Die wortlose und affektiv geleitete innere Vergegenwärtigung des Heiligen, die ein moderner Leser wohl zumeist als Meditationsübung bezeichnen würde, stellt für David von Augsburg also schlicht eine Steigerungsstufe des lauten Betens dar. Auf dem vierten Grad schließlich verwirklicht sich diese geistige Hinkehr in lvterre irkantni ſ te gottis vnde in frvntlicher heinlichi mit gotte, auf dem fünften wirt das herce al ſ o be ſ offen in der andaht, das es ane alle arbeit mit gotte rv ͦ wit und ihm die äußere Sinneswahrnehmung schwindet. 47 Schon letztere, in der Metaphorik von Trunkenheit und Beilager an die brautmystische Hoheliedexegese angelehnte Formulierung verdeutlicht, wie Johanna Thali hervorhebt, die Stoßrichtung des Gebetsbegriffs der Sieben Staffeln: »Ziel der Einübung ins Beten ist bei David die unmittelbare Gottesbegegnung im Einssein mit Gott«. 48 Die letzten beiden Stufen schließlich bedeuten diesbezügliche Erfüllung, zuerst im gnadenhaft gewährten raptus, 49 in dem der für einen Moment verzückten Seele ein blich des go ᵉ tlichen liehtes gewährt wird, und schlussendlich auf der allerhöchsten Stufe in einer mystischen Schau 42 »wie in einem Spiegel«; »zurückgebracht zum Erkennen Gottes und zu seiner Gleichheit und zum Verspüren seiner Liebe«, ebd., S. 50 f. Zur hier angespielten Idee der speculatio im Gebet vgl. Largier 2018. 43 »Weg zum Beiwohnen Gottes«, ebd., S. 51. 44 Dazu führt Susanne Bernhardt unter Verweis auf zahlreiche mittelalterliche Textbeispiele aus: »Stufenmodelle in Kombination mit Zahlen erfreuen sich insgesamt großer Beliebtheit [ … ]. Die Vorstellung vom zählbaren Aufstieg, der letztlich die Zählung transzendieren muss und die letzten Staffeln im Durchbruch › überspringt ‹ , erweist sich als fruchtbares Strukturmodell« (Susanne Bernhardt: Figur im Vollzug. Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses, Tübingen 2016 [Bibliotheca Germanica 64], S. 56f). 45 »das mündliche Pflichtgebet«, »aus einem eigenen Ursprung des andächtigen Herzens«, David von Augsburg: Sieben Staffeln, S. 52 u. 54 46 »mit Begehren mehr als mit Worten betätigt er sich innerlich mit Gott«, ebd., S. 57. 47 »in reinem Erkennen Gottes und in inniger Vertrautheit mit Gott«, »wird das Herz derart trunken in der Andacht, dass es ohne jede Anstrengung mit Gott ruht«, ebd., S. 59 u. 61. 48 Thali 2009, S. 268. 49 Dazu vgl. die Diskussion bei Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 535 - 537. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 41 <?page no="42"?> Gottes von antlútze ze antlúze. 50 Diese Auffassung des Gebets als Aufstiegsweg, der vom pflichtgemäßen lauten Beten über innere Meditation bis zu einem letzten Punkt reicht, an dem der Mensch al ſ o in got virwandelt wirt, das er das i ſ t von genaden, da ʒ got i ſ t in ſ iner wi ſ e von nature, 51 ist denkbar ausgreifend und umfassend. Sie versteht das Gebet grundsätzlich als Stufenpfad zur Transzendenz, der von äußerer Frömmigkeitspraxis ausgeht, in der inneren Vergegenwärtigung des Heiligen seinen Lauf nimmt und in der mystischen unio mündet. Religiöse Überformung des Äußeren und Versenkung ins Innere sind hier schlussendlich verschmolzen. Freilich steht David von Augsburg hiermit an der Spitze einer zeitgenössischen Tendenz zur Ausweitung des Gebetsbegriffs - in den unten untersuchten Texten des Spätmittelalters aber schlägt sich ein solches Verständnis des Betens immer wieder nieder. Die späteren Kapitel dieser Studie nun fokussieren sich auf Texte, die dazu anleiten, Handlungen wie das Flechten von Blumenkränzen, das Nähen eines Kleidungsstücks oder den Bau eines Hauses im und durch das Gebet innerlich zu vollbringen. Auch diesen › handwerklichen Gebetsübungen ‹ liegt grundsätzlich eine Auffassung des Betens als ascensus mentis in Deum, als geistige Hinwendung zu Gott zugrunde, die affektive und meditative Effekte zeitigt und Bildern des Äußeren durch die Wendung nach innen einen Rahmen und eine Verankerung für den Bezug auf das Transzendente verleiht. 52 Sie verbinden dies mit einer mitunter komplex theoretisierten Vorstellung von einer, in den Worten Jeffrey F. Hamburgers, »interchangeability of objects and prayers«, die diesem Aufschwung des Geistes imaginative Gestalt verleiht. 53 Immer wieder führen diese Texte auch heilsgeschichtliche Ereignisse, vor allem die Passion Christi, ausgehend von einem derartigen Gebets- und Andachtsbegriff mit weltlichen Tätigkeiten wie dem Pflücken von Blumen, Näharbeiten oder der Errichtung eines Gebäudes eng und evozieren somit eine spezifische Nähebeziehung zwischen ganz profanen Dingen und dem Heilsgeschehen. Dabei unterstützen sie Praktiken von Gebet und Andacht als kommunikative oder mental vergegenwärtigende Hinkehr zum Heiligen durch Verfahren der sprachlichrhetorischen Stimulation, durch ein imaginatives Eintauchen in textuell evozierte Räume der inneren Wahrnehmung sowie durch eine Dynamik der Figuration, durch welche die Frömmigkeitshandlungen der Gläubigen als wirklichkeitsmächtige Erfüllungen des Textes ebenso wie als Verheißungen des künftigen Heils aufscheinen. Dies lässt eine gebethafte Neudeutung verschiedenster Tätigkeiten zu und eröffnet Möglichkeiten für ein geistliches Verständnis selbst weltlicher Gegenstände und Sachverhalte. In der Religiosität des Spätmittelalters › entfaltete sich Frömmigkeit ‹ , wie in Rilkes Stunden-Buch poetisch umschrieben, nicht exklusiv in von der profanen Wirklichkeit separierten Sakralhandlungen und -ritualen. Vielmehr darf eine spirituelle Semantisierung des Alltags geradezu als spezifisches Kennzeichen dieser religiösen Kultur gelten. In den › handwerklichen Gebets- und Andachtsübungen ‹ werden, so kann auf 50 »ein Augenblick des göttlichen Lichtes«; »von Angesicht zu Angesicht«, David von Augsburg: Sieben Staffeln, S. 63 u. 67. David lehnt sich hier deutlich an das berühmte Bibelwort I Cor 13,12 an. 51 »so in Gott gewandelt wird, dass er von Gnaden her das ist, was Gott auf seine Weise von Natur aus ist«, ebd., S. 65. 52 Die Bezeichnung › handwerkliches Beten ‹ für solche Übungen wird zuerst aufgeworfen von Schnyder 1986, S. 412. 53 Jeffrey F. Hamburger: Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent, Berkeley/ Los Angeles 1997, S. 75. 42 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="43"?> den Punkt gebracht werden, Gebete zu allem und alles zum Gebet. Dass schließlich diese Texte und die mit ihnen verbundenen Frömmigkeitspraktiken zwar grundsätzlich dem klösterlichen Bereich entstammen, sich zunehmend aber auch an ein laikales Publikum richten, illustriert, wie sehr vormals vornehmlich monastische Leitbilder einer Unentwegtheit und Ubiquität der inneren Hinkehr zum Heiligen am Ausgang des Mittelalters auch außerhalb der Klostermauern virulent wurden. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 43 <?page no="44"?> 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott Die obigen Ausführungen bezogen sich auf semantische Facetten des Gebetsbegriffs im Mittelalter, während der Großteil der folgenden Studie Gebete und Andachten als Texte in den Blick nimmt. Nun aber stehen sowohl diese Texte als auch die ihnen zugehörigen Begriffsbildungen im Rahmen einer Frömmigkeitskultur, die auf inneren ebenso wie äußeren Vollzug abhob. Ein knapp einleitender Blick auf das mittelalterliche Gebet als religiöse Praxis und seine hauptsächlichen Entwicklungslinien scheint daher an dieser Stelle nötig, um anschließend den Lektüre- und Vollzugsangeboten, die in entsprechenden Texten angelegt sind, gerecht werden zu können. Zunächst stellt sich das Gebet, wie schon z. B. in Eckharts oben erwähnter Definition als cum deo confabulatio anklingt, 54 als zumindest an ihrem Ausgangspunkt an das Medium der Sprache gebundene religiöse Handlung dar. Bereits etymologisch ist dieser sprachliche Charakter erkennbar sowohl an dem Wort › Gebet ‹ , abgeleitet von › bitten ‹ , 55 als auch an dem lateinischen oratio, einer Substantivform zum wiederum auf os, › der Mund ‹ , zurückgehenden Verb orare, › reden, sprechen, ansprechen, bitten ‹ 56 . Sprachlichkeit dient auf zumeist konstitutive Weise der Herstellung einer inneren Gottesnähe der Betenden. Das Gebet ist auf seiner Handlungsebene somit »kommunikative Praxis, in der sich Einzelne, Gruppen oder kultische Gemeinschaften an eine Gottheit wenden«. 57 Wie Christian Kiening formuliert, vollzieht sich auf diese Weise eine »besonders intensive wortbezogene Vermittlung zwischen Menschlichem und Göttlichem«. 58 Das Medium der Sprache stellt eine Brücke zwischen Immanentem und Transzendentem her, denn in einem verbalen Akt der Hinkehr adressiert der Mensch das, was jenseits der irdischen Welt liegt, der das Sprechen ebenso wie seine Sprecher zugehören. Sprachpragmatisch kann diese Überbrückung als performativer Sprechakt verstanden werden, das heißt als »Äußerung, durch die [eine] Handlung vollzogen wird« 59 . Insofern 54 Vgl. oben, S. 34 f. 55 Siehe Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Straßburg 6 1899, S. 41. 56 Vgl. zum lateinischen oratio, das ursprünglich allgemein › das Reden ‹ , › die Sprache ‹ oder › der Ausdruck ‹ meint und erst im nachklassischen Latein eine Bedeutungserweiterung hin zu › das Gebet ‹ erfährt, den ausführlichen Eintrag bei Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. Unveränderter Nachdruck der achten vermehrten und verbesserten Auflage von Heinrich Georges, 2 Bd.e, Bd. 2, Darmstadt 1998, Sp. 1384 - 1386. 57 Birgit Weyel: Art. Gebet, in: Handbuch Literatur und Religion, hg. v. Daniel Weidner, Stuttgart 2016, S. 236 - 240, hier S. 236. 58 Kiening 2016, S. 131. 59 Jörg Meibauer u. a.: Einführung in die germanistische Linguistik, Stuttgart/ Weimar 2 2007, S. 234. Funktional gesprochen handelt es sich beim Gebet, insbesondere beim Bittgebet, zumindest oberflächlich oft um ein Direktiv, also einen Sprechakt, mit dem »der Sprecher [versucht], den Adressaten dazu zu bekommen, etwas zu tun« (ebd., S. 238). Dass das Gebet in der Theologie des Mittelalters jedoch deutlich komplexer theoretisiert ist, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels aufgezeigt. Vgl. zur Diskussion des Gebets als performativem Sprechakt auch Johanna Thali: Qui vult cum Deo semper esse, frequenter debet orare, frequenter et legere. Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen <?page no="45"?> lässt sich das Gebet, wie Andreas Kraß ausführt, als eine »Sonderform der Apostrophe definieren, die sich durch ihre besondere Sprechsituation auszeichnet: Ein Mensch appelliert an ein übermenschliches - oder als übermenschlich vorgestelltes - Wesen«. 60 Die hierbei grundlegend entworfene Kommunikationssituation entfaltet sich je nach Gebetstyp als Anrede, Bitte, Lobe, Appell, Geständnis oder Darlegung. Dass mittelalterliche Reflexionen über das Gebet als Textgattung, wie unten ausgeführt, meist Rekurs auf Begriffe und Modelle aus dem Bereich der Rhetorik nehmen, verwundert daher kaum. Als religiöse Praxis ist das in diesem Sinne als »sprechender Vollzug des Glaubens« verstandene Gebet im Christentum zentral verankert und besitzt eine weitaus ältere Tradition als die im Zentrum dieser Studie stehenden Texte. 61 Das Paternoster des Matthäusevangeliums mit seinen sieben Bitten, das Jesus in der Bergpredigt seinen Anhängern lehrt (vgl. Mt 6,9 - 13), diente auch im Mittelalter zusammen mit dem Credo als neutestamentlich fundiertes »Grundgebet«, durch dessen repetitives Aufsagen, wie z. B. die vielfältig bezeugten Ersatzoffizien oder folgend besprochenen Rosenkränze illustrieren, selbst »Laien die klerikale Gebetsverpflichtung bewusst und reflektiert, wenn auch vereinfacht, nachahmen.« 62 Weitere neutestamentliche Gebetsformeln, so beispielsweise die Cantica Magnificat (vgl. Lc 1,46 - 55), Benedictus (Lc 1,68 - 79) und Nunc dimittis (Lc 2,29 - 32), fanden vergleichbare Verwendung, wenn auch weniger häufig und oft eher im klerikalen Bereich. Eine besondere Stellung nahm im Kanon der Basisgebete das Ave Maria ein, das neben dem Paternoster die wohl bekannteste christliche Orationsformel darstellt. Obgleich zusammengesetzt aus den biblischen Worten des Engels Gabriel und der Elisabeth (Lc 1,28; Lc 1,42) ist der Mariengruß wesentlich eine mittelalterliche Innovation. »Vor dem 12. Jahrhundert wurde das Ave Maria weder allgemein noch häufig als Gebet benutzt«, verbreitete sich anschließend jedoch rasend und wurde, allerdings noch ohne die erst im 16. Jahrhundert ergänzte Abschlussbitte um Interzession und Beistand in der Sterbestunde, zum verbreitetsten Gebetstext des späteren Mittelalters. 63 Zusammen mit dem Paternoster und dem Credo bildete es im für diese Untersuchung wesentlichen Zeitraum eine Trias, deren Kenntnis auch bei lateinunkundigen Laien angenommen werden kann. Eine normative Vorgabe zum stetigen Gebet, die sich vielfach als zählend-meditatives Reihenbeten dieser Standardtexte realisierte, 64 konnten mittelalterliche Gläubige biblisch Frömmigkeitskultur, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. v. Eckart Conrad Lutz, Martina Backes u. Stefan Matter, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 11), S. 421 - 457, hier S. 430 f. 60 Andreas Kraß: Art. Gebet, in: RLW 1 (1997), S. 662 - 664, hier S. 662. 61 Schnyder 1986, S. 404. 62 Matter 2019, S. 380. Zur Stellung des Vaterunsers im mittelalterlichen Gebetsleben siehe auch Manfred Seitz: Art. Vaterunser III. Kirchengeschichtlich und praktisch-theologisch, in: TRE 34 (2002), S. 515 - 529, hier S. 517 - 519. 63 Stephan Beissel S. J.: Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Religionswissenschaft und Kunstgeschichte, Freiburg i. Brsg. 1909, S. 228. Vgl. auch ebd., S. 228 - 251; sowie die ausführlichere Diskussion des Ave Maria im Kontext des Rosenkranzes unten, Kap. II.2.1. 64 Vgl. zu dieser, für die folgend betrachteten Texte entscheidenden Gebetspraxis den material- und einsichtsreichen Beitrag von Arnold Angenendt u. a.: Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1 - 71. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 45 <?page no="46"?> herleiten. So findet sich beispielsweise im Brief des Paulus an die Epheser folgende Aufforderung: »Durch jedes Gebet und 〈 jede 〉 Beschwörung betet jederzeit im Geist und seid in ihm selbst wachsam bei jeder Bitte und Beschwörung für alle Gesegneten« (Eph 6,18). 65 Bereits Tertullian (ca. 155 - 240) trug den frühen Christen daher an, mindestens dreimal am Tag nichtöffentlich und ohne äußeren Prunk auf Basis des Vaterunsers zu beten. 66 Der Rückgriff auf die Heilige Schrift erschöpfte sich freilich nicht in den genannten Standardgebeten. Besonders im monastischen Stundengebet und darüberhinausgehend im überaus komplexen Bereich der lateinischen Liturgie des Mittelalters, die verschiedene Formen des Betens integrierte, deren eingängigere Betrachtung diesen Rahmen sprengen würde, 67 entwickelte sich ein ausgefeiltes Repertoire an zum Gebet adaptierten biblischen Textbeständen. Oftmals wurden dabei, um eine Formulierung Felix Heinzers aufzugreifen, aus der Heiligen Schrift entnommene Stücke durch › dichterische Erweiterungen ‹ ergänzt. 68 Vor allem ein biblisches Buch diente dazu als Hauptquelle und Gerüst: »Grundlegender Träger des christlichen Gebets ist«, wie Ruth Wiederkehr feststellt, »bis heute der Psalter«. 69 Die Psalmen des Alten Testaments spielten nicht nur im monastischen Leseunterricht des Mittelalters eine entscheidende Rolle und mussten vor der den endgültigen Klostereintritt markierenden Profess in der Regel auswendig gelernt werden, 70 sie entfalteten auch eine »alles beherrschende Präsenz [ … ] in der christlichen Liturgie.« 71 Neben ihrer Nutzung in der Messliturgie bildete die Psalmodie »geradezu das Rückgrat des Offiziums, also des Chorgebets in Klöstern und Kathedralen«. 72 65 per omnem orationem et obsecrationem orantes omni tempore in Spiritu et in ipso vigilantes in omni instantia et obsecratione pro omnibus sanctis; vgl. zu dieser Bibelstelle und zum Gebetsbegriff des Epheserbriefs ausführlich Ostmeyer 2006, S. 128 - 135. Daneben siehe zum neutestamentlichen Gebet im Allgemeinen auch Oscar Cullmann: Das Gebet im Neuen Testament. Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen, Tübingen 2 1997. Eine an literaturwissenschaftlichen Kriterien orientierte Typologie des neutestamentlichen Gebets entwirft Angel González: La oración en la biblia, Madrid 1968 (Teología y siglo XX 9), dazu siehe die zusammenfassende Diskussion bei Lutz 1984, S. 109 - 114. 66 Vgl. Tertullian: De baptismo. De oratione. Von der Taufe. Vom Gebet, übers. u. eingel. v. Dietrich Schleyer, Turnhout 2006 (Fontes Christiani 76). 67 Vgl. einleitend Friedrich Kalb: Art. Liturgie I: Christliche Liturgie, in: TRE 21 (1991), S. 359 - 377. Besonders sind hier die Einzelgebete des Canon Missae hervorzuheben. Mit dem aufschlussreichen Beispiel der Apologien, also priesterlicher Gebete um Sündenvergebung, die im Hochmittelalter während der Messe geleistet wurden und davon ausgehend auch Einfluss auf die Entwicklung des Privatgebets nahmen, befasst sich Sebastian Eck: Die Apologien. Zur Prägekraft einer christlichen Gebetsform für die mittelalterliche Religiosität, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 337 - 369. 68 Vgl. Felix Heinzer: Figura zwischen Präsenz und Diskurs. Das Verhältnis des › gregorianischen ‹ Messgesangs zu seiner dichterischen Erweiterung (Tropus und Sequenz), in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013 (Philologie der Kultur 8), S. 71 - 90. 69 Wiederkehr 2013, S. 125. 70 Vgl. Franz Anton Specht: Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1885, Wiesbaden 1967, S. 60 - 63. 71 Felix Heinzer: › Wondrous Machine ‹ . Rollen und Funktionen des Psalters in der mittelalterlichen Kultur, in: Der Albani-Psalter. Stand und Perspektiven der Forschung, hg. v. Jochen Bepler u. Christian Heitzmann, Hildesheim 2013 (Hildesheimer Forschungen 4), S. 15 - 32, hier S. 18. 72 Ebd. 46 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="47"?> Während der › kathedrale ‹ Typ des Offiziums sich generell durch morgendliches und abendliches Beten sowie anlassbezogene Vigilien auszeichnete, also am natürlichen Tagesablauf orientiert war, kannte das › monastische ‹ Offizium sieben über Tag und Nacht verteilte Gebetszeiten oder Horen, in denen die neutestamentliche Aufforderung »Betet ohne Unterlass! « (I Th 5,17) Erfüllung finden sollte. 73 Bereits im spätantiken Mönchtum des Westens wurde auf diese Weise wöchentlich der komplette Psalter gebetet, wobei die 150 Psalmen nach je nach Regel variierendem Muster auf die einzelnen Wochentage und täglichen Gebetszeiten aufgeteilt wurden. 74 Diese Tradition entfaltete eine ungebrochene Kontinuität und wurde in den Klöstern des Mittelalters mit ordensspezifischen Besonderheiten weitergeführt. So entwickelten sich schon im Hochmittelalter in einzelnen monastischen Zusammenhängen Tendenzen zu einer Vermehrung und Ausweitung des Offiziums. Beispielsweise erhöhten die Benediktiner von Cluny Ende des 11. Jahrhunderts die in der Benediktsregel vorgeschriebene Zahl zeitweilig von 37 täglich zu betenden Psalmen auf bis zu 216 - einer der Gründe dafür, dass »die Abtei Cluny mit ihren zweihundert Psalmen als gnadenmächtigster Ort der Christenheit galt«. 75 Neben dem Umfang des Stundengebets changierte auch sein Text je nach Ordenstradition und -regel, wurden doch den Psalmen je nach Hore unterschiedliche Hymnen, Cantica, Responsorien und weitere Ergänzungstexte beigefügt. 76 Unbesehen all dieser Varianz aber gestaltete sich das monastische Offizium als verbindliches Beten, das trotz einer »Entwickung zur Privatisierung des Stundengebets«, 77 die auch durch die 1213 von Innozenz III. erlassene Brevierordnung begünstigt wurde, in seinem Textsubstrat weitgehend fixiert war. Bereits in frühchristlicher Zeit wurde die Psalmodie hierbei als Entfaltung eines Dialogs begriffen. So führt Augustinus (ca. 354 - 430) aus, dass der gelesene Psalmentext das Wort Gottes und das Nachbeten dieses Texts eine Erwiderung des betenden Menschen darstelle: Oratio tua locutio est ad deum: quando legis, deus tibi loquitur; quando oras, deo loqueris. 78 73 sine intermissione orate. Siehe dazu Albert Gerhards: Art. Stundengebet I. Geschichte, in: TRE 32 (2001), S. 268 - 276. Gerhards wendet ein, dass es sich bei der verbreiteten Unterscheidung zwischen kathedralem und monastischem Stundengebet »eher um ein Konstrukt« (ebd., S. 271) handele, das genauerer Differenzierung bedürfte. An dieser Stelle ist eine solche jedoch nicht zu leisten, weshalb auf dieses verbreitete aber grobe Unterscheidungsschema zurückgegriffen wird. 74 Siehe dazu die Erläuterung der Psalmodiesysteme von Magisterregel und Benediktsregel ebd., S. 273. Vgl. weiterführend Lutz 1984, S. 114 - 117; sowie Theresa Gross-Diaz: The Latin Psalter, in: The New Cambridge History of the Bible, hg. v. James Charleton Page u. Joachim Schaper, Bd. 2: From 600 to 1450, Cambridge 2012, S. 427 - 445. Eine tabellarische Übersicht über die Struktur des monastischen Offiziums für die einzelnen Tagzeiten nach der Benediktsregel findet sich zudem bei Matter 2021, S. 21 f. 75 Angenendt 2004, S. 37. 76 Zur Entwicklung der Organisation spätmittelalterlicher Psalterhandschriften für die Wochentage und zur Aufteilung der einzelnen Psalmen vgl. Andrew Hughes: Medieval Manuscripts for Mass and Office. A Guide to Their Organization and Terminology, Toronto u. a. 1982, S. 50 - 52 und S. 224 - 236. Mit dem Gebrauch des Psalters im Kontext der Devotio moderna beschäftigt sich exemplarisch Youri Desplenter: Programming Women ’ s Prayer. Textual and Pictorial Components in Middle Dutch Psalters, in: Speaking to the Eye. Sight and Insight through Text and Image (1150 - 1650), hg. v. Thérèse de Hemptinne, Veerle Fraeters u. María Eugenia Góngora, Turnhout 2013 (Medieval Identities: Socio- Cultural Spaces 2), S. 153 - 172. 77 Gerhards 2001, S. 274. 78 »Dein Gebet ist ein Gespräch mit Gott: Wenn du liest, spricht Gott zu dir; wenn du betest, sprichst du zu Gott«; Augustinus: Enarrationes in Psalmos, Bd. 2, S. 1181 f. Das vorliegende Zitat bezieht sich auf 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 47 <?page no="48"?> Wie sehr jedoch ein auf diese Weise als geregelte innere Kommunikation mit dem Transzendenten verstandenes Psalmenbeten das monastische Leben des Mittelalters auch äußerlich prägte und formte, lässt sich beispielsweise an der in der Benediktsregel festgehaltenen Verpflichtung zur Einhaltung der sieben Gebetszeiten ablesen: 79 Ut ait propheta: septies in die laudem dixi tibi. Qui septenarius sacratus numerus a nobis sic implebitur, si matutino, primae, tertiae, sextae, nonae, vesperae completoriique tempore nostrae servitutis officia persolvamus, quia de his diurnis horis dixit: Septies in die laudem dixi tibi. Nam de nocturnis vigiliis idem ipse propheta ait: Media nocte surgebam ad confitendum tibi. Ergo his temporibus referamus laudes Creatori nostro super iudicia iustitiae suae, id est matutinis, prima, tertia, sexta, nona, vespera, completorios, et nocte surgamus ad confitendum ei. 80 Das gemeinsame Chorgebet strukturierte und rhythmisierte auf diese Weise das klösterliche Leben. Siebenmal pro Tag und Nacht trafen sich nach dieser Regel lebende Klostergemeinschaften zum Stundengebet, in dessen Rahmen jeweils festgeschriebene Teile des Psalters gesungen und rezitiert wurden. Dadurch ordnete das monastische Offizium einerseits den Tagesablauf im Kloster in genau festgelegte Abschnitte und nahm andererseits viel Zeit in Anspruch: Bis zu fünf Stunden täglich dauerte das reguläre gemeinschaftliche Gebet in benediktinischen Klöstern. 81 Hinzu kam die Zeit, die für das private Beten der Klostermitglieder aufgewendet wurde. Wie Peter Ochsenbein ausführt, wurde dabei im Frühmittelalter allerdings noch »kaum ein Unterschied zwischen Gemeinschafts- und Privatgebet gemacht«: 82 Sowohl im Rahmen der gemeinschaftlichen Gebetszeiten als auch beim als religiöse Praxis schon früh gut belegten Beten für sich alleine wurden zunächst die gleichen Texte, das heißt vor allem Psalmen und Hymnen, verwendet. 83 Nicht nur deshalb ist es bei der Kategorisierung von Gebets- und Andachtstexten, wie Kathrin Chlench-Priber aufzeigt, oftmals »schwierig, eine genaue Trennlinie zwischen liturgischen und privaten Stücken zu ziehen«. 84 Liturgische Formen wie Messe und Stundengebet konnten gelegentlich um sehr offene, › privat ‹ erscheinende Zusatzoffizien und Messandachten ergänzt werden, Texte liturgischen Ursprungs wie die priesterlichen Apologien fanden Gebrauch in individualisierten Frömmigkeitspraktiken und volkssprachige Texte boten an, »liturgische Situationen im per- Ps 85,7. Zu dieser Stelle im Psalmenkommentar und zu damit verbundenen christlichen Vorstellungen des Gebets als Dialogform vgl. Lentes 1996, S. 28 - 30; sowie Thali 2009, insbesondere S. 242. 79 Zur im 6. Jahrhundert beginnenden Textgeschichte und zum Stellenwert der Benediktsregel für die Klöster des Mittelalters siehe Melville 2012, S. 31 - 52. 80 »Es gelte, was der Prophet sagt: › Siebenmal am Tag singe ich dein Lob ‹ [Ps 119,164]. Diese geheiligte Siebenzahl wird von uns dann erfüllt, wenn wir unseren schuldigen Dienst leisten zur Zeit von Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet; denn von diesen Gebetsstunden am Tag sagt der Prophet: › Siebenmal am Tag singe ich dein Lob ‹ [Ps 119,164]. Von den nächtlichen Vigilien sagt derselbe Prophet: › Um Mitternacht stehe ich auf, um dich zu preisen ‹ [Ps 119,62]. Zu diesen Zeiten lasst uns also unserem Schöpfer den Lobpreis darbringen wegen seiner gerechten Entscheide, nämlich in Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Auch in der Nacht lasst uns aufstehen, um ihn zu preisen«, Benediktsregel, S. 66 - 69. 81 Vgl. Peter Ochsenbein: Latein und Deutsch im Alltag oberrheinischer Dominikanerinnenklöster des Spätmittelalters, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100 - 1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. v. Nikolaus Henkel u. Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 42 - 51, hier S. 42. 82 Ochsenbein 1997, S. 138. 83 Vgl. ebd., S. 138 f. 84 Chlench-Priber 2020, S. 14. 48 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="49"?> sönlichen, freiwilligen Gebet nachzubilden«. 85 Eine liturgische Ästhetik, so Caroline Emmelius und Hartmut Bleumer, die »Modelle spiritueller Devotion« umfasst, in denen die intermedialen, intertextuellen und performativen Dynamiken der Liturgie auch jenseits der festen Formen des officium divinum zum Tragen kommen, durchzieht die Frömmigkeitskultur des ausgehenden Mittelalters weitreichend. 86 Die von Ochsenbein vorgeschlagene Trennung der mittelalterlichen Gebetspraxis in › privates ‹ Beten zur freiwilligen und individuellen Andacht auf der einen und › liturgisches ‹ Beten im formal festgelegten und pflichtgemäßen Rahmen auf der anderen Seite darf daher, wie ihr Urheber selbst hervorstreicht, bloß als heuristisch verstanden werden. 87 Freilich tut dies dem Befund keinen Abbruch, dass über das Mittelalter hinweg Gebets- und Andachtstexte überliefert sind, die nicht an liturgische Kontexte gebunden sind und einem Beten im Rahmen einer persönlichen Frömmigkeitspraxis dienen. Entsprechend soll hier, trotz aller Vorbehalte und Grauzonen, diese Heuristik vorsichtig beibehalten werden. Wann genau eine dergestalt › private ‹ Form des Betens in der Volkssprache in den Klöstern des Mittelalters als Ergänzung zum Chorgebet gängig wurde, lässt sich schwer bestimmen. Das Einsetzen einer handschriftlichen Überlieferung von Gebetstexten bildet hier das ausschlaggebende Indiz. Zunächst finden sich bereits in der althochdeutschen Sprachperiode Texte wie das Wessobrunner Gebet, das Fränkische Gebet, das St. Galler Paternoster und Credo oder Sigiharts Gebete. 88 Diese Zeugnisse belegen zwar eine vereinzelte volkssprachige Gebetspraxis und -schriftlichkeit schon im Frühmittelalter, stellen dabei aber herausstechende Ausnahmefälle dar. So sind sie beinahe ausschließlich unikal als Nachträge oder › Inserate ‹ in lateinischen Handschriften verschiedenster Art überliefert. 89 Lateinische Privatgebetbücher, die sich oftmals an der Liturgie orientierenden libelli precum, waren dahingegen schon in karolingischer Zeit recht verbreitet. 90 Zusammenhängende Gebetbuchhandschriften mit erwähnenswerten deutschsprachigen Textanteilen jedoch lassen sich erst ab dem 12. Jahrhundert vereinzelt belegen - Nigel Palmer zählt »some thirteen manuscripts with German vernacular prose prayers that are datable to before about 1250«. 91 Dabei ist auffällig, dass bis zum 13. Jahrhundert »die Überlieferung von deutschsprachigen Gebeten in lateinischen Gebetshandschriften den Regelfall darstellt, lateinische und volkssprachige Gebetsfrömmigkeit aufs Engste mit- 85 Ebd., S. 15. Vgl. auch Eck 2019; Erhard 2016. 86 Caroline Emmelius u. Hartmut Bleumer: Liturgische Ästhetik - Umrisse eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas zur Beschreibung, Analyse und Funktion geistlicher Literatur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 52.2 (2022), S. 191 - 208, hier S. 202. 87 Vgl. Ochsenbein 1988, S. 380 f.; Ochsenbein 1997, S. 138 f. 88 Vgl. die Liste von Gebetstexten bei Rolf Bergmann (Hg.): Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin/ Boston 2013, S. 124; sowie die dort referenzierten einzelnen Einträge. 89 Vgl. Ernst Hellgardt: Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8 - 12 Jh.), in: Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien, hg. v. Cornelia Herberichs, Norbert Kössinger u. Stephanie Seidl, Berlin 2015 (Lingua historica germanica 10), S. 23 - 46. 90 Vgl. ausführlich Susan Boynton: Libelli Precum in the Central Middle Ages, in: A History of Prayer: The First to Fifteenth Century, hg. v. Roy Hammerling, Leiden 2008 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 13), S. 255 - 318. Eine Auswahledition früher karolingischer libelli precum ist erschienen als Precum libelli quattuor aevi Karolini, hg. v. André Wilmart, Rom 1940. 91 Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 410. Vgl. grundlegend den Überblick ebd., S. 408 - 415 mit einer Auflistung und kurzen Beschreibung der entsprechenden Handschriften; sowie die Ausführungen bei Chlench-Priber 2020, S. 16 - 21. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 49 <?page no="50"?> einander verzahnt sind.« 92 Zumeist sind einzelne deutsche Textgruppen in größere lateinische Verbünde eingebettet. Mit seinem hohen volkssprachigen Anteil stellt das um 1150 entstandene deutsch-lateinische Gebetbuch von Muri hier einen aufsehenerregenden Sonderfall dar. 93 Vielfach leiten sich die in dieser Periode überlieferten mittelhochdeutschen Gebets- und Andachtstexte von vorgängigen lateinischen Werken ab. 94 Großen Einfluss nahmen beispielsweise die wohl noch vor 1028 verfasste Confessio theologica des Benediktiners Johannes von Fécamp (Ende 10. Jh. - 1078) oder die Orationes sive meditationes des Anselm von Canterbury (ca 1033 - 1109). 95 In der ersten Hälfte des 14. Jahrhundert schließlich entstand eine Reihe originär deutschsprachiger Passionsandachten und -gebetsübungen, darunter die Hundert Betrachtungen aus dem Büchlein der ewigen Weisheit des Dominikaners Heinrich Seuse (1295/ 7 - 1366) oder die anonymen Christi Leiden in einer Vision geschaut, 96 die teils enorme Verbreitung fanden. Diese Werke und ihre umfangreiche Überlieferung illustrieren erstens, dass die Benutzung deutscher Texte in der persönlichen Gebets- und Andachtspraxis im 14. Jahrhundert keineswegs mehr ein Randphänomen darstellte. Zweitens weisen sie auf neue soziale Trägergruppen der Frömmigkeit, die z. B. im Dominikaner- und Franziskanerorden, im weiblichen Religiosentum oder sogar in laikalen oder semireligiosen Milieus zu verorten sind. Obwohl einzelne entsprechende Texte auch davor relativ breit überliefert sind, bleiben zusammenhängende deutsche Gebetbuchhandschriften bis ins ausgehende Mittelalter die Ausnahme. Nach einer Auflistung Kathrin Chlench-Pribers sind für das 14. Jahrhundert bloß 29 vollständige deutschsprachige Gebetbücher und acht Fragmente erhalten, während ihre Zahl für das 15. Jahrhundert bei weitem vierstellig sein dürfte. 97 Ein auf Schriftlichkeit zurückgreifendes individuelles Beten in der Volkssprache muss dement- 92 Ebd., S. 17. 93 Sarnen, Bibliothek des Benediktinerkollegiums, Cod. membr. 96. Vgl. zu dieser Textsammlung Achim Masser: Art. Gebete und Benediktionen von Muri, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 1110 - 1112. Überaus aufschlussreich ist die Analyse der Handschrift auf ihre medialen Vollzugsangebote bei Christian Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (um 1150/ 1180), in: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. v. Cornelia Herberichs u. Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 3), S. 100 - 118; sowie der Wiederaufgriff dieses Themas bei Kiening 2016, S. 134 - 141. 94 Erkenntnisreich ist dazu der Aufsatz von Nigel F. Palmer: Manuscripts of the Earliest Middle High German Prayers, c. 1150 - 1250, in: Vernacular Manuscript Culture 1000 - 1500, hg. v. Erik Kwakkel, Leiden 2018 (Studies in medieval and Renaissance book culture), S. 51 - 104. 95 Vgl. Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 415 - 418. Anselms Gebetswerk wird in Hinblick auf seine Rezeptionsangebote untersucht bei Fulton 2006. Johannes ’ Werk dahingegen ist ediert und ins Französische übersetzt als Jean de Fécamp: La confession théologique, eingeleitet u. übers. v. Philippe de Vial OSB, Paris 1992. Zum Autor der Confessio theologica, dem Text selbst und seiner entscheidenden Bedeutung für die Entwicklung des Privatgebets vgl. die Diskussion des Werks bei Hugh Feiss OSB: John of Fécamp ’ s Longing for Heaven, in: Imagining Heaven in the Middle Ages. A Book of Essays, hg. v. Jan Swango Emerson u. Hugh Feiss OSB, New York/ London 2000, S. 65 - 82. 96 Siehe zum Thema der deutschsprachigen Passionsliteratur des Spätmittelalters grundsätzlich Tobias A. Kemper: Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006 (MTU 131). Ein Überblick zum Einfluss der genannten Texte findet sich bei Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 424 - 447; vgl. auch die etwas ausführlichere Diskussion unten, Kap. II.3.3. 97 Chlench-Priber 2020, S. 21 - 24. Dies bestätigt unter Ergänzung wichtiger weiterer Handschriften den Befund bei Ochsenbein 1988, S. 379 - 398. 50 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="51"?> sprechend vor allem als Phänomen des Spätmittelalters gelten, das erst nach 1400 den Höhepunkt seiner Verbreitung erreichte. Im Verlauf dieser Entwicklung erlangte das Privatgebet auch im Vergleich mit dem Offizium eine zunehmend zentrale Position. Besonders in den Mendikantenorden entwickelte sich schnell eine auf Subjektivierung und Verinnerlichung des religiösen Erlebens abzielende Spiritualität, die Privatgebet und -andacht gegenüber der pflichtmäßigen Erfüllung des liturgischen Ritus aufwertete. 98 So zeichnen sich in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts »[h]eiligmäßige Schwestern [ … ] dadurch aus, daß sie täglich über Stunden für sich allein beten und meditieren«, wobei gleichzeitig auch »das Chorgebet immer mehr verpersönlicht wird«. 99 Johanna Thali stellt für die Dominikanerinnen des Spätmittelalters fest: »Hauptaufgabe einer Ordensfrau, ihr Lebensinhalt und Lebenssinn, ist das Gebet, die vita contemplativa,« 100 während Claudia Höhle auch für die Gebetskultur der Devotio moderna zusammenfasst, dass hier »Individualität, Innerlichkeit, Emotionalität gegen Formalisierung, Routine und Äußerlichkeit gesetzt« wurden. 101 Mit dieser Aufwertung des individualisierten Betens ging die Erwartung einer persönlich heilsvermittelnden Wirkung einher. Obgleich gerade im Spätmittelalter, wie ich an anderer Stelle am Beispiel eines Texts aus dem Engelberger Gebetbuch dargelegt habe, 102 auch Gebete aufkommen, die in erster Linie um die beim Beten hergestellte Nähe zum Göttlichen bitten, ihre Absicht also im Vollzug selbst erfüllen sollen, visieren Gebets- und Andachtstexte dieser Zeit zumeist doch einen spezifischen Effekt außerhalb des von ihnen hergestellten Sprachgeschehens an. In der Regel verknüpft der Betende seine »verbale Kommunikation mit einer wie auch immer gearteten Unverfügbarkeit« 103 mit einer spezifischen Intentionsäußerung. Bitte und Fürbitte, Lob und Dank dürfen dabei, oft auch in Vermischung, als Grundformen gelten. 104 Das Bittgebet stellt den in der Gebetbuchliteratur des 14. bis 16. Jahrhunderts wohl verbreitetsten Typus dar. Grundsätzlich wurde eine solche absichtsvolle Hinwendung zu Gott als unabgeschlossener Sprechakt mit offenem Ausgang begriffen, bei der das Eintreten des erbetenen Ereignisses nicht in der Macht des Betenden lag, sondern gnadenhaft vom göttlichen Dialogpartner erteilt werden konnte - oder eben auch nicht. Das deprekatorische Gebet 98 Beobachtungen zu spirituellen Subjektivierungstendenzen in den Mendikantenorden finden sich bereits in der frühen Forschung zur Gebetsliteratur, so stellte beispielsweise Franz Xaver Haimerl fest: »Das Frömmigkeitsleben dieser Zeit trägt ein ganz individualistisches Gepräge. Die Lockerung und Durchbrechung der strengen Formen des traditionellen kirchlichen Lebens zeitigte persönliches Gebetsleben. Zeugin dafür ist uns auch die Gebetbuchliteratur« (Haimerl 1952, S. 34). 99 Ochsenbein 1992, S. 48. 100 Thali 2003, S. 102. 101 Claudia Höhle: Aspekte der Gebetskultur der Devotio moderna, in: Sprechen, Schreiben, Handeln. Interdisziplinäre Beiträge zur Performativität mittelalterlicher Texte, hg. v. Annika Bostelmann, Doreen Brandt u. Kristin Skottki, Münster/ New York 2017, S. 141 - 161, hier S. 141. 102 Björn Klaus Buschbeck: Sprechen mit dem Heiligen und Eintauchen in den Text. Zur Wirkungsästhetik eines Passionsgebets aus dem Engelberger Gebetbuch, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 390 - 408. 103 Rainer Flasche: Art. Gebet, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, unter Mitarbeit von Günter Kehrer u. Hans G. Kippenberg hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow u. Matthias Laubscher, Bd. 2: Apokalyptik - Geschichte, Stuttgart u. a. 1990, S. 456 - 468, hier S. 461. 104 Vgl. dazu Angenendt 2004, S. 36. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 51 <?page no="52"?> des Mittelalters verstand sich, obwohl teils in diese Richtung gehende Gebetsanweisungen, beispielsweise in Form von Ablassversprechen, durchaus auch überliefert sind, gerade nicht als magischer Sprechakt, bei dem auf das Aufsagen einer bestimmten Formel automatisch ein mit ihr korrelierender Effekt folgen sollte. Vielmehr gestaltete es sich, mit Christian Kiening gesprochen, als »vorläufig und unvollkommen, angewiesen auf die konstituierende Instanz, an die der Betende sich richtet und der die eigentliche Macht der Veränderung zugeschrieben wird.« 105 Obgleich also untrennbar mit einer Absicht verbunden, deren Erfüllung durch das Beten vorbereitet oder ermöglicht werden sollte, begriff sich das Bittgebet nicht als selbstwirkend. Die Absichtsgebundenheit des Betens und der zugrundeliegende Glaube an seine heilsvermittelnde Kraft wurden über das gesamte Mittelalter hinweg vielfach und kontrovers diskutiert. Besonders die Art und Weise, auf die gebetet werden sollte, um eine gnadenmäßige Erhörung des so geäußerten Wunsches zu begünstigen, war Gegenstand ständiger Debatte. In der sich im 10. Jahrhundert formierenden und im Hochmittelalter ihren Bedeutungshöhepunkt erreichenden cluniazensischen Tradition beispielsweise wurde dem vorgegebenen Text eine intrinsische Wirkmächtigkeit beigemessen, ganz gleich ob der Betende die lateinischen Worte des Gebets verstand oder sie intensiv durchdachte. Mit dem Argument, »dass ein Edelstein seinen Wert auch in der Hand des Nichtkenners behalte«, 106 wurde dabei auch das Beten der Lateinunkundigen begründet. Die Verpflichtung der Mönche von Cluny, für verstorbene Mitbrüder und Gönner mit dem Ziel zu beten, ihre Zeit im Fegefeuer zu verkürzen, konnte dementsprechend quantifiziert werden. Das Gebetswesen der Cluniacensis ecclesia besaß beinahe den Charakter eines heilsökonomischen Wirtschaftens. Die zu leistenden und geleisteten Pensa an Memorialgebeten wurden in den Totenrotuli des Klosterverbands mit buchhalterischer Präzision aufgezeichnet und gegeneinander aufgerechnet. 107 Verwandte Formen einer › gezählten Frömmigkeit ‹ wie das in Rosenkränze und Marienmäntel integrierte zählende Beten enormer Mengen von Paternoster und Ave Maria oder die Institution der Gebetsbruderschaften überdauerten bis ins Spätmittelalter und darüber hinaus. 108 Teils im Kontrast, teils in Verschränkung hierzu steht die bereits angesprochene, sich ab dem 13. Jahrhundert entfaltende und besonders von den Mendikantenorden angestoßene Tendenz zu einer verinnerlichten Form der Hinwendung zum Heiligen, die nicht in der Anzahl der rezitierten Gebete, sondern in der Intensität der über das Gebet hergestellten geistigen Haltung die Vervollkommnung dieser religiösen Praxis suchte. Otto Langer spricht in diesem Kontext von »Tendenzen einer Verpersönlichung und einer dadurch bedingten partiellen Auflösung des liturgischen Gebets durch subjektive Erfahrungen und Betrachtungen«. 109 Einerseits erfuhren so die Messe und das Offizium einen Rezeptionswandel, andererseits gewann eine die Liturgie komplementierende individuelle Frömmig- 105 Kiening 2016, S. 132. 106 Angenendt 2004, S. 37. 107 Siehe dazu Volker Leppin: Geschichte des mittelalterlichen Christentums, Tübingen 2012, S. 176 f.; Melville 2012, S. 56 f. und S. 70 - 72; sowie Jean Leclercq: Prayer at Cluny, in: Journal of the American Academy of Religion 51.4 (1983), S. 651 - 665. 108 Siehe dazu Angenendt u. a. 1995; sowie Lentes/ Angenendt 2000. Mit den Ursulabruderschaften des Spätmittelalters beleuchtet Schnyder 1986 eine vielfach auf Quantifizierung ausgerichtete Gruppe von Gebetsbruderschaften. 109 Langer 1987, S. 115. 52 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="53"?> keitspraxis zunehmend an Bedeutung: »Nicht mehr das liturgische, sondern das private Gebet gilt vielen wenigstens implizit als die höhere Stufe des geistigen Lebens.« 110 Freilich aber lehnten sich auch diese Praktiken des privaten Betens, die von den Klöstern ausstrahlend auch die Laienfrömmigkeit des Spätmittelalters erfassten, vielfach an das vorgängige Offizium an. Hier sind insbesondere die zahlreichen Tagzeitentexte zu nennen, »die ihrem Inhalt und teilweise auch ihrer äußeren Form nach auf die kanonischen Gebetsstunden der Geistlichen Bezug nehmen.« 111 Auch das lateinische oder volkssprachige Stundenbuch für Laien, das aufgrund der oft prächtig illuminierten Handschriften besonders bekannt ist und im deutschsprachigen Raum weniger verbreitet war als in Frankreich, Italien, den Niederlanden und England, gehört diesem Bereich an. 112 So stellt Stefan Matter fest: »Das lateinische Stundengebet des regulierten Klerus [ … ] breitete sich schon im 14. Jahrhundert in paraliturgischen Formen in weitere Kreise aus und fand hauptsächlich im Stundenbuch seinen Niederschlag«. 113 In der Welt lebende Gläubige adaptierten, so könnte generalisiert werden, mithilfe derartiger Handschriften und Textzusammenstellungen Techniken und Ordnungen der Frömmigkeit, die aus dem Chorgebet der Mönche und Nonnen stammten. Seine Nachahmung und Ausbreitung über die Klostermauern hinaus minderten den Status des klösterlichen Betens nicht, sondern unterstrichen ihn vielmehr. So galt das persönliche Gebet heiligmäßiger Klosterbrüder und -schwestern als besonders heilskräftig, was sich in Einrichtungen wie dem Seelgerät widerspiegelte, einer Art Stiftung, mit der sich der Wohltäter den Einschluss in die Fürbitte einer Klostergemeinschaft erwerben konnte. 114 Betonungen der Heilswirksamkeit innigen und oft privaten Betens finden sich in der Viten- und Offenbarungsliteratur des Spätmittelalters zuhauf. Die Gnadenvita der Engelthaler Dominikanerin Adelheid Langmann (1306 - 1375) beispielweise erzählt davon, wie Christus Adelheid in einer Vision zur Fürbitte auffordert, autorisiert und sie der gnadenmäßigen Erhörung ihrer Gebete versichert: do sprach unser herre: › mein libe, meine zarte, mein traute, pit mich swes du wilt, des wil ich dich geweren. du solt mich piten, wan ich kum nit allein dor umb daz du geseligt werdest, ich kum dor umb daz ander leut auch geseligt werden. alle di menschen do du mich für pitest, der sol keiner von mir nimmer gescheiden werden, und ob si uf der stat nit bekert werden von iren sünden, so wil ich si doch an iren letzten zeiten behalten. 115 110 Ebd. 111 Matter 2017, S. 171. 112 Vgl. Achten 1987, S. 30 - 36; Matter 2017; sowie in Bezug auf das Stundengebet in der Devotio moderna Höhle 2017. Eine maßstabsetzende Studie über das Stundenbuch in England findet sich bei Eamon Duffy: Marking the Hours. English People and Their Prayers, 1240 - 1570, New Haven 2006. 113 Matter 2021, S. 7. 114 Vgl. Karl Kroeschell: Art. Seelgerät, in: LexMA 7 (2002), Sp. 1680. 115 »Da sprach unser Herr: Meine Liebe, meine Teure, meine Traute, bitte mich, um was du willst, und ich will es dir erfüllen. Du sollst mich bitten, denn ich komme nicht allein aus dem Grund, dass du selig werden sollst, sondern auch aus dem Grund, dass andere Leute ebenfalls selig werden sollen. Von allen Menschen, für die du mich bittest, soll keiner von mir getrennt werden und auch wenn sie nicht sofort von ihren Sünden bekehrt werden, so will ich sie doch in ihrer Sterbestunde erretten«, Die Offenbarungen der Adelheid Langmann, Klosterfrau zu Engelthal, hg. v. Philipp Strauch, Straßburg/ London 1878 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 26), S. 20. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 53 <?page no="54"?> Im Verlauf der Vita wird diese Versicherung dann in einer iterativen Reihung visionsartiger Offenbarungen der außergewöhnlichen Wirkmächtigkeit von Adelheids Frömmigkeitshandeln noch bestätigt. Immer wieder wird betont, wie viele arme Seelen durch ihr Beten aus dem Fegefeuer befreit, wie viele Heiden bekehrt und wie viele Sünder zur gottgefälligen Umkehr bewegt worden seien: So erlöst ihre Fürbitte, nachdem sie Pfingsten 1331 die Kommunion empfangen hat und im Anschluss zu Gott betet, 30.000 Seelen, bei einer anderen Gelegenheit sogar 100.000 Seelen. 116 Adelheid Langmann ist dabei kein Ausnahmefall. In den Gnadenviten anderer Dominikanerinnen dieser Zeit wie der ebenfalls im Kloster Engelthal aktiven Christine Ebner (1277 - 1356) oder Margareta Ebner (1291 - 1351) aus dem Kloster Maria Medingen sowie in den zahlreichen Schwesternbüchern der Zeit finden sich vergleichbare Schilderungen: »Mystisch begabte Frauen wurden zu Expertinnen im Losbeten von armen Seelen«. 117 Als entscheidend für die Effizienz ihrer Fürbitten wird dabei immer wieder das besondere Näheverhältnis einzelner Klosterschwestern zu Gott oder Christus hervorgestrichen, mit dem sie im Gebet in ein Zwiegespräch treten, das ihre Viten zumeist als Visionserfahrung schildern. »Mit Gottvater, Jesus Christus, Maria, den Engeln und allen Heiligen wurde geradezu face-to-face kommuniziert«, charakterisiert Thomas Lentes die in derartigen Texten beschriebene religiöse Praxis. 118 Doch mit Gott konnte auch außerhalb der Vorschriften der Liturgie nicht form- und regellos geredet werden. Bereits Tertullians De oratione oder die Benediktsregel enthalten Anweisungen für den beim Gebet angemessenen Tonfall und die vom Betenden einzunehmende innere Haltung, von denen eine Traditionslinie hin zur individualisierten Auffassung und Praxis des Privatgebets im Spätmittelalter gezogen werden darf. Unter der Überschrift De reverentia orationis ( › Über die Ehrfurcht beim Gebet ‹ ) findet sich in letzterer Schrift folgende Ermahnung: Si, cum hominibus potentibus volumus aliqua suggerere, son praesuminus nisi cum humilitate et reverentia, quanto magis domino deo universorum cum omni humilitate et puritatis devotione supplicandum est. Et non in multiloquio, sed in puritate cordis et conpunctione lacrimarum nos exaudiri sciamus. Et ideo brevis debet esse et pura oratio, nisi forte ex affectu inspirationis divinae gratiae protendatur. 119 Aufschlussreich an dieser Passage ist neben der einleitend aufgezeigten Analogie zwischen dem Gebet und der Bittstellung an einen weltlichen Herrn sowie der Aufforderung zur Kürze vor allem, dass die richtige Haltung, zu der hier angeleitet wird, sowohl 116 Ebd., S. 8 u. 14. 117 Berndt Hamm: Iudicium particulare. Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vorstellung vom Individualgericht, in: Paradigmen personaler Identität. Bd. 1: Paradigmen und Medialität der Geschichtsschreibung, hg. v. Ludger Grenzmann, Burkhard Hasebrink u. Frank Rexroth, Berlin/ Boston 2016 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen NF 41,1), S. 287 - 319, hier S. 315. 118 Lentes 1996, S. 11. 119 »Wenn wir mächtigen Menschen etwas unterbreiten wollen, wagen wir es nur in Demut und Ehrfurcht. Um wieviel mehr müssen wir zum Herrn, dem Gott des Weltalls, mit aller Demut und lauterer Hingabe flehen. Wir sollen wissen, dass wir nicht erhört werden, wenn wir viele Worte machen, sondern wenn wir in Lauterkeit des Herzens und mit Tränen der Reue beten. Deshalb sei das Gebet kurz und lauter; nur wenn die göttliche Gnade uns erfasst und bewegt, soll es länger dauern«, Benediktsregel, S. 74 - 77. 54 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="55"?> innerlich als auch äußerlich eingenommen werden muss. › Demut ‹ (humilitas), › Lauterkeit des Herzens ‹ (puritas cordis) und › lautere Hingabe ‹ (puritatis devotio) beschreiben mentale bzw. affektive Zustände. Die Stimulation von Affekt und innerer Erfahrung, deren Rolle für die mittelalterliche Gebetskultur beispielsweise Niklaus Largier hervorhebt, ist bereits hier angelegt. 120 Dahingegen verweisen die › Tränen der Reue ‹ (conpunctio lacrimarum) sowie das › Flehen ‹ (suggerere), zu dem die Benediktsregel an dieser Stelle auffordert, auf äußere Handlungen, in denen die innere Verfassung des Betenden ihren Ausdruck findet - im ersten Fall in Form einer körperlichen Reaktion, im anderen in der eines Sprechakts oder, spezifischer, eines dem Sprechakt zugehörigen Tonfalls. Das mittelalterliche Beten war demgemäß »immer mit einer je und je unterschiedlichen G e s t i k verbunden«, 121 die einerseits dem gesprochenen Wort besonderen Nachdruck verleihen und andererseits die innere Haltung der Betenden zugleich unterstützen, amplifizieren und äußerlich manifestieren sollte. Die Formen einer solchen Gebetsgestik gestalteten sich vielfältig. Unter anderem gehörten Venien, d. h. spezifische Demutsgesten, die je nach Orden als Kniefall, Kniebeuge oder Prostration vollzogen wurden, 122 Weinen, Disziplinen, d. h. ritualisierte Selbstgeißelung, das Berühren, Betrachten oder Küssen von Kruzifixen und Andachtsbildern, die Verwendung einer Perlenschnur beim gezählten Reihengebet oder das Abgehen des klösterlichen Kreuzgangs zum Repertoire der empfohlenen gebetsunterstützenden Handlungen. 123 Nach Thomas Lentes kann spätmittelalterliches Beten dementsprechend als zentraler Teil eines »religiösen Ausdrucksverhaltens« 124 verstanden werden. In seinem Zentrum stand ein die Wahrnehmung und den Affekt der Betenden stimulierender, laut aufgesagter oder auch leise gedachter Sprechakt der Hinkehr zum Heiligen, der jedoch unter Zuhilfenahme diverser Zusatzmedien und -handlungen erweitert werden konnte. Der inneren Haltung, die durch eine derartige Frömmigkeitspraxis sowohl stimuliert, eingenommen als auch performativ verwirklicht und kommuniziert wird, kam auch in späteren Gebetslehren des Mittelalters eine zentrale Stellung zu. So entwickelt beispielsweise Bernhard von Clairvaux (ca. 1090 - 1153) ein detailliertes Modell, in dem unterschiedliche Gefühlszustände mit verschiedenen Typen des Betens korrelieren. 125 Die 120 Vgl. Largier 2014. 121 Flasche 1990, S. 461. Hervorhebung im Original. 122 Nach dem Zeremoniale des Dominikanerordens beispielsweise besteht eine Venia darin, sich nach bestimmten einstudierten Bewegungsabläufen mit dem gesamten Körper auf den Boden zu legen und wieder aufzurichten: Venia est extensio totius corporis in terram, non super ventrem, sed super latus dextrum, tibiam unam super aliam tenendo (»Die Venia ist das Ausstrecken des ganzen Körpers auf der Erde, nicht über den Bauch, sondern über die linke Seite, wobei das eine Bein über das andere zu schlagen ist«, C ӕ remoniale juxta ritum S. Ordinis Pr ӕ dicatorum, rev. Patris Fr. Alexandri Vincentii Jandel, ejusdem Ordinis Generalis Magistri, jussu editum, Mechliniae [Mechelen] 1869, S. 224). Zum genau vorgeschriebenen Bewegungsablauf siehe ebd., S. 224 - 226. 123 Vgl. z. B. Dworschak 1999 mit weiteren Angaben. 124 Lentes 1996, S. 12; ausführlicher dazu ebd., S. 38 - 55. 125 Bernhard führt dazu aus: obsecrationes verecundo, orationes puro, postulationes amplo, gratiarum affectiones [sic! ] fiunt affectu devoto (»Anflehungen sollen aus einen bescheidenen, (Bitt-)Gebete aus einem reinen, Fürbitten aus einem großmütigen und Danksagungen aus einem hingebungsvollen Affekt heraus erfolgen«, Bernhard von Clairvaux: Sermones de diversis, Sermo CVII: De affectionibus orantium, in: Patrologia Latina 183 [1862], Sp. 733 f., hier Sp. 734). Das unter Anrufung z. B. von Heiligen indirekt an Gott gerichtete flehentliche Gebet (obsecratio) solle aus einem › mäßigen ‹ oder › bescheidenen ‹ Affekt (affectus verecundus) heraus erfolgen, während das Gott direkt adressierende 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 55 <?page no="56"?> Affekte, in die der gläubige Mensch sich beim Beten hineinversetzt, bilden hierbei geradezu das Fundament eines Sprechens mit Gott. Vergleichbares findet sich auch in der oben bereits erwähnten Schrift De modo orandi des Hugo von St. Viktor (ca. 1097 - 1141), der zunächst zwischen drei Gebetstypen unterscheidet: Tres sunt species orationis, supplicatio, postulatio, insinuatio. Supplicatio est sine determinatione petitionis humilis et devota precatio. Postulatio est determinatæ petitioni incerta narratio. Insinuatio est sine petitione per solam narrationem, voluntatis facta significatio. 126 Diese drei Basisformen des Gebets werden anschließend weiter unterteilt und ausdifferenziert. Entscheidend ist, dass Hugo betont, diese unterschiedlichen Weisen des Betens dienten eben nicht dazu, dem allwissenden Gott etwas mitzuteilen - denn dieses Vorhaben wäre absurd - , sondern dazu, das Potential eines gnadenhaften Beistands zu kreieren, der quasi als Antwort gedacht ist: Deus non necesse habet doceri ut sciat, sed supplicandus est ut annuat. 127 Das Ziel des Gebets sei dabei in erster Linie, bestimmte Affekte oder Emotionen (affectus) zu wecken und diese auszudrücken, 128 wodurch eine innere Hinwendung zu Gott vollzogen und eine Gnadenwirkung des Betens ermöglicht werde: Sed nullo alio modo citius Deus ad annuendum flectitur, quam si precantis animus toto devotionis affectu ad ipsum convertatur. Quæcunque ergo sunt verba orantis, absurda non sunt, si tantummodo ad hoc competenter proferri possint, ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent, vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat, excitatum demonstrent. 129 Bittgebet (oratio) aus einer › reinen ‹ oder › gerechten ‹ inneren Verfassung (affectus purus) gesprochen werden müsse. Die Fürbitte (postulatio) dahingegen erfordere eine › großmütige ‹ Haltung (affectus amplus) und zum dankenden Gotteslob (gratiarum actio), für Bernhard die sublimste Form des Betens, sei besondere innere Hingabe (affectus devotus) nötig. Den Affektzustand des Betenden vergleicht der Zisterzienser dabei mit einem Licht, das entweder fehlen und so die Erkenntnis der Dinge verunmöglichen oder zu stark aufstrahlen und somit blenden könne. Eine Kultivierung und Regulierung der Gemütshaltung beim Beten sei aus diesem Grund notwendig. Temperanda est lux, ut peccata sua videat peccator et confiteatur, ac pro ipsis oret, ut remittantur (»Das Licht muss in die richtige Ordnung gebracht werden, auf dass der Sünder seine Sünden sehe und bekenne und für sie bete, damit sie vergeben werden«, ebd., Sp. 733). Vgl. zu der entsprechenden Predigt Bernhards von Clairvaux auch Thelen 1989, S. 1 - 7. 126 »Es gibt drei Arten des Gebets: supplicatio, postulatio und insinuatio. Die supplicatio ist das demütige und hingebungsvolle Gebet ohne eine Festsetzung der Bitte. Die postulatio besteht aus einer unspezifischen Erzählung zum Zweck einer bestimmten Bitte. Die insinuatio ist das ohne eine Bitte und allein durch die Erzählung verwirklichte Vorbringen eines Wunsches«, Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 979. 127 »Gott hat es nicht nötig, belehrt zu werden, damit er wisse, sondern er ist darum anzuflehen, dass er beistimme«, ebd., Sp. 982. 128 Siehe dazu ausführlich Anselm Rau u. Johanna Scheel: Meditation und Gebet - A ffektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der mittelalterlichen Devotionspraxis, in: Theologisches Wissen und die Kunst. Festschrift für Martin Büchsel, hg. v. Rebecca Müller, Anselm Rau u. Johanna Scheel, Berlin 2015, S. 267 - 290, insb. S. 271 - 274. 129 »Aber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht, als wenn die Seele des Betenden in gänzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird. Wie auch immer die Worte des Gebets sind, so sind sie nicht nutzlos, wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden könnten, damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder, was besser ist, wenn die Liebe schon brennt, sie die Erregung zeigten« (Übersetzung Rau/ Scheel 2015, S. 272), Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 982. Hugo listet in De modo orandi verschiedenste Formen dieses › Gebetsaffekts ‹ (affectus orantis) auf. Zuneigung (affectus dilectionis), Bewunderung (affectus admirationis), Mitfreude (affectus congratulationis), Demut (affectus humilitatis), Trauer (affectus moeroris), Furcht (affectus timoris), 56 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="57"?> Die Praxis der Stimulation persönlichen Fühlens, die Hugo hier theoretisiert, weist direkt auf die schriftmediale Seite des Betens, nämlich den Text. Denn der Viktoriner verknüpft mit einzelnen genannten Affekten spezifische Textgattungen, die wiederum jeweils jedem der vorher von ihm unterschiedenen Gebetstypen zugehören können. So ist beispielsweise das Lobgebet mit Zuneigung, Bewunderung und Beglückwünschung verbunden. Gebete, die »zur Erinnerung des Unglücks bzw. der eigenen Fehler« anregen, 130 erzeugen und äußern Demut, Furcht und Trauer, und Gebete, die eine erlittene Bedrängnis beklagen, führen zu Empörung, Ereiferung sowie der Erwartung der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und bringen diese inneren Zustände zum Ausdruck. 131 Anhand einzelner Psalmen exemplifiziert Hugo die so zu nutzenden Texttypen, die zudem jeweils im performativen Vollzug auf die Vergegenwärtigung bestimmter Teile des Heilsgeschehens und damit verknüpfte Resonanzen in Form einer Gnadenteilhabe abzielen. Das Gebet wird in De modo orandi somit als religiöser Kommunikationsakt aufgefasst, der deprekatorische, meditative und affektive Momente vereint. Vergleichbare Typologisierungen des Gebets und der beim Beten eingenommenen, erzeugten und zum Ausdruck gebrachten Haltungen und Affekte finden sich in der mittellateinischen geistlichen Literatur vielfach. Es wäre an dieser Stelle rahmensprengend, sämtliche dieser teils durchaus zueinander im Kontrast stehenden Gebetstheorien ausführlich zu behandeln - eine entsprechende Studie bleibt ein Forschungsdesiderat. Zur Illustration des hier entscheidenden Punkts jedoch genügen die Beispiele Bernhards von Clairvaux und Hugos von St. Viktor allemal: Mittelalterliche Typologien des persönlichen Gebets als religiöser Praxis verstehen es zumeist als auf Gott gerichtete kommunikative Handlung, die laut oder leise erfolgen und verschiedene Zusatzmedien zur Hilfe nehmen kann, vor allem aber den Betenden innerlich affiziert und sein Denken und Fühlen auf das Heilige hin ausrichtet. Sie klassifizieren Gebete dementsprechend nach ihrem Anlass und den mit ihnen verbundenen Affekten. Dabei verfolgen schriftliche Texte für Gebet und Andacht, mit denen eine derartige Praxis vielfach verknüpft ist, neben Affekterzeugung und -steuerung auch Programme der Strukturierung und Lenkung des Vollzugs, der inneren Wahrnehmungsformung und der erleichternden Medialisierung eines Kontakts zum Heiligen. Hierin dienen sie pragmatisch der persönlichen Hinkehr zu Gott und folgen dabei eigenen sprachlichen Gattungs- und Formtraditionen ebenso wie einer idiosynkratischen Rezeptions- und Wirkungsästhetik, die in der sprachlichen Gestalt und den historisch-alteritären Lektüreangeboten Empörung (affectus indignationis), Ereiferung (affectus zeli) und die freudige Erwartung einer Wohltat (affectus bonae praesumptionis) sind nur einige der zahllosen Haltungen der Ergriffenheit, die beim Beten wachgerufen und zum Ausdruck gebracht werden können: infiniti enim sunt affectus (»Denn unendlich sind die Affekte«, ebd., Sp. 985). Ebd. findet sich auch eine Definition und Aufzählung der genannten Affektbeispiele. Das Gebet als Praxis wird in dieser Weise bei Hugo als Entfaltungsraum von auf das Heilige orientierenden Affekten entworfen, die der Betende gleichzeitig in Form einer inneren Verfasstheit in sich erzeugt und kommunizierend nach außen trägt. 130 Rau/ Scheel 2015, S. 273. 131 Vgl. dazu Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 985 f. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 57 <?page no="58"?> dieser Texte angelegt ist. In den folgenden Abschnitten entwickle ich daher unter den drei Leitbegriffen Bildrede, Immersion und Figuration eine Perspektive, die eine methodisch fundierte Annäherung an die Lektüreeffekte spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte erlauben soll. 58 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="59"?> 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität Mit gebêt oder oratio kann, wie z. B. die in Gebetbuchhandschriften des 15. Jahrhunderts zahlreichen Rubriken zeigen, neben einer Frömmigkeitspraxis des Betens auch der Text gemeint sein, auf den hierbei zurückgegriffen wird. Im Falle einer Rubrik wie Das sind gebett z ů unserm herren jhesu cristi 132 dürfte ein zeitgenössischer Leser dementsprechend unter gebett sowohl den Vollzug des Betens als auch die ihm vorliegende Schrift verstanden haben. In den folgenden Abschnitten versuche ich, anhand einzelner Textbeispiele auf die charakteristischen Formmerkmale und Wirkstrategien einzugehen, die spätmittelalterlichen Gebets- und Andachtstexten eingeschrieben sind. Obschon ihre Vollzugsaufforderungen dabei stets mitreflektiert werden müssen - denn schließlich gilt: »it is the purpose of prayers to draw their readers in and stimulate them to pray« 133 - , fokussiere ich mich hierbei primär auf die Schrift und die in ihr angelegten wirkungsästhetischen Programme. Zunächst steht das mittelalterliche Gebet in enger Verbindung zur rhetorischen Tradition. Eckart Conrad Lutz arbeitet diese Verbindung zwischen Rhetorik und Gebet unter Rückgriff vor allem auf zwei Schriften zur Gebetspoetik heraus, zum einen den Traktat De oratione des frühchristlichen Philosophen Origenes (185 - ca. 254) und zum anderen die um 1240 entstandene Rhetorica divina seu ars oratoria eloquentiae divinae des Pariser Bischofs Wilhelm von Auvergne (ca. 1180 - 1249). 134 »Rede und Gebet gleichen sich [ … ] in wesentlichen Punkten«, 135 fasst Lutz die Kernthese dieser beiden Werke zusammen, die vor allem auf der Annahme einer Struktur- und Funktionsnähe beider Textgattungen fußt: Wie die in der antiken Rhetorik entworfene öffentliche Rede, die im Mittelalter unter anderem auch als Vorbild für die ars dictandi, also die Vorgaben der Epistolographie, und die ars praedicandi, das heißt die Predigtlehre, fungierte, besteht das Gebet aus einer mehr oder minder fest vorgegebenen Anordnung von spezifischen, an einen Adressaten gerichteten Textbestandteilen, die jeweils eigenen Regeln folgen und bestimmte Funktionen erfüllen sollen. Beginnend mit der Einleitung (exordium), die eine Anrede oder Anrufung (invocatio) sowie die Bitte um freundliche Aufnahme des Vorgetragenen (captatio benevolentiae) umfasst, fahren sowohl Rede als auch Gebet mit der Erzählung oder Darlegung eines Sachverhalts (narratio) fort, aus der eine Bitte oder 132 »Dies sind Gebete von unserem Herren Jesu Christi«, Stanford, University Libraries, MSS CODEX 1209 T, fol. 108r (Gebet- und Andachtsbuch für Dominikanerinnen oder Franziskanerinnen, alemannischer Sprachraum, 2. Hälfte 15. Jh.). 133 Fulton 2006, S. 707. 134 Einen detaillierten Vergleich beider Schriften und eine tabellarische Darstellung der dort vorgestellten Gebetsschemata liefert Lutz 1984, S. 118 - 137. Siehe zu De oratione auch Wilhelm Gessel: Die Theologie des Gebets nach De Oratione von Origenes, München u. a. 1975; sowie Eric George Jay: Origen ’ s Treatise on Prayer: Translation and Notes with an Account of the Practice and Doctrine of Prayer from New Testament Times to Origen, Eugene, OR 1954. Die Rhetorica Divina zitiere ich nach William of Auvergne: Rhetorica divina, seu ars oratoria eloquentiae divinae, hg., eingel., übers. u. kommentiert v. Roland J. Teske SJ, Paris/ Leuven/ Walpole, MA 2013 (Dallas Medieval Texts and Translations 17). 135 Lutz 1984, S. 124. <?page no="60"?> Aufforderung (petitio) folgt. Im Anschluss kann diese Bitte durch das Anführen weiterer Argumente unterstützt (confirmatio) oder, für das Gebet eher untypisch, der gegenteilige Standpunkt angegriffen (infirmatio) werden, bevor eine abschließende Zusammenfassung, Wiederholung der Bitte oder Schlussfloskel den Text bekräftigend enden lässt (conclusio). 136 Der Gebetstext folgt also, so die in der mittelalterlichen Theologie verbreitete Lehre, weitgehend den gleichen, durch die Rhetorik beschriebenen Strukturen wie die Rede. In der Gebetbuchliteratur des Mittelalters schlägt sich diese Parallelisierung eindrücklich nieder und begünstigt die Entwicklung von Textformen, die durch rhetorisch elaborierte und oftmals bildliche Sprachlichkeit einerseits theologische Lehre zeichenhaft vermitteln und veranschaulichen, andererseits den Betenden selbst affizieren und schlussendlich im Sinne eines Hilfsmediums zu einer Teilhabe am durch Christus in die Welt geflossenen Heil hinleiten sollen. Letzterer Punkt einer Hinkehr des immanenten Gläubigen zum transzendenten Heiligen kann als v e r t i k a l e V e r m i t t l u n g s e b e n e verstanden werden, auf der sich eine »dialogisch angelegte Kommunikation des Menschen mit einem höheren Wesen« ergibt. 137 Während einer dazu komplementären horizontalen Medialisierungsdynamik von Andacht und Gebet, die primär zwischen Text und Leser vermittelt, im Folgeabschnitt unter dem Stichwort der Immersion nachgegangen wird, steht im Fokus dieses Unterkapitels eine dergestalt vertikale Dimension, die Momente der affektiven ebenso wie der kommunikativen Hinorientierung des Rezipienten auf ein jenseitiges Gegenüber verschmilzt. Exemplifiziert sei dies an einem recht frühen volkssprachigen Kommuniongebet, das ursprünglich aus dem Büchlein der ewigen Weisheit des Dominikaners Heinrich Seuse stammt, jedoch im Gebetbuchkontext vielfach auch als exzerpierter Einzeltext überliefert ist. 138 Seuse, ein Schüler Meister Eckharts, der in Konstanz vor allem im Bereich der cura monialium, das heißt der seelsorgerischen Betreuung geistlicher Frauen, tätig war, 139 schrieb mit dem Büchlein der ewigen Weisheit um 1330 einen wahren »Bestseller« 140 des Spätmittelalters, der nahezu alle für die zeitgenössische Frömmigkeit entscheidenden Themen kursorisch abhandelte und mit Anweisungen für ein geistliches Leben verband. Mehr als 260 erhaltene deutschsprachige Handschriften 141 , über 400 Textzeugen der als 136 Eine tabellarische Übersicht über diese Teile des Gebets und der Rede bei Origenes und Wilhelm von Auvergne findet sich bei Wiederkehr 2013, S. 126 f. Für eine detailliertere Diskussion der Behandlung dieses Schemas durch Wilhelm von Auvergne siehe Lutz 1984, S. 131 - 137. 137 Chlench-Priber 2020, S. 131. 138 Ediert in Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte hg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 196 - 325. Eine vollständige Erschließung der enormen Streuüberlieferung dieses Gebets fehlt bislang leider, einschlägige Datenbanken wie http: / / www.manuscripta-mediaevalia.de/ (Abruf 15.08.2023) liefern jedoch bei einer Suche ein hohes zweistelliges Ergebnis an Textzeugen. 139 Zu Seuse und seinem literarischen Werk siehe Alois M. Haas u. Kurt Ruh: Art. Seuse, Heinrich OP, in: 2 VL 8 (1992), Sp. 1109 - 1129. 140 So wird die außergewöhnlich hohe Verbreitung dieser Schrift charakterisiert bei Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle. Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300 - 1500), übers. v. Bernardin Schellenberger, Freiburg i. Brsg. u. a. 2010, S. 351. 141 So fasst Antje Willing in ihrer editionsvorbereitenden Untersuchung der Überlieferung des Büchleins der ewigen Weisheit zusammen: »Es ist in mindestens 121 Textzeugen vollständig überliefert, in mindestens 145 Textzeugen ist das Werk auszugsweise überliefert. Hinzu kommt eine umfangreiche Überlieferung der Hundert Betrachtungen«, Antje Willing: Heinrich Seuses Büchlein der ewigen 60 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="61"?> Horologium sapientiae bekannten lateinischen Adaptation sowie zeitgenössische Übersetzungen in acht europäische Volkssprachen 142 zeugen vom einschlagenden Erfolg dieses Werks, dessen Einfluss auf die Entwicklung der geistlichen Literatur im deutschsprachigen Mittelalter kaum überschätzt werden kann. In dieser Schrift nun findet sich als Abschluss des 23. Kapitels, das sich mit der richtigen Vorbereitung auf und dem Verhalten während der Messfeier befasst, ein Gebet, das von den einzelnen Gläubigen beim Kommunionempfang gesprochen werden soll. Im Hintergrund steht hierbei die zeitgenössische Eucharistiefrömmigkeit, die zusätzlich zum liturgischen Geschehen, das vornehmlich vom zelebrierenden Priester getragen wurde, vielfältige individualisierte Formen des eucharistischen Betens und der Andacht für den empfangenden Gläubigen entwickelte. 143 Seuses Text, der demnach als privates Kommuniongebet verstanden werden kann, beginnt wie folgt: Eya, du lebendú vruht, du su ᵉ zú gimme, du wunneklicher paradiso ᵉ phel dez geblu ᵉ mten vetterlichen herzen, du su ᵉ zer trubel von Cyper in den wingarten Engaddi, wer git mir, daz ich dich hútte als wirdeklich enphahe, daz dich geluste zu ͦ mir ze komen, bi mir ze blibenne und von mir niemer ze scheidenne? Eya, grundloses gu ͦ t, daz da himelrich und ertrich erfúllet, neige dich hút gnedeklich zu ͦ mir und versmahe nit din armen kreature! Herr, bin ich din nit wirdig, so bin ich din aber notdúrftig. 144 Diese ersten Zeilen bilden ein inhaltlich komplexes exordium. Ins Auge fällt zunächst die dreifache invocatio, die hintereinander die trinitarischen Personen adressiert. Das grundlose gu ͦ t, an das sich wohl in Anlehnung an die seit Augustinus als Gottesbezeichnung gebräuchliche lateinische Formulierung summum bonum gerichtet wird, meint dabei den allgegenwärtigen Heiligen Geist. Als herr wird Gottvater angesprochen, während sich die Bezeichnungen lebendú vruht und su ᵉ zú gimme, wunneklicher paradiso ᵉ phel und su ᵉ zer trubel auf den Sohn Jesus Christus beziehen. In ihrer textlichen Einheit, die den wesenhaft selben Gott dreimal nacheinander in der Form der drei relational verschiedenen Hypostasen Weisheit. Vorstudien zu einer kritischen Neuausgabe. Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen 272), S. 13. Siehe auch die noch unvollständige Liste des Handschriftencensus: http: / / www.handschriftencensus.de/ werke/ 512 (abgerufen am 15.08.2023). 142 Zu den Textzeugen des Horologium sapientiae sowie seinen Übersetzungen findet sich eine äußerst umfangreiche und detaillierte, wenn auch ob der Fülle der Überlieferung unvermeidbar unvollständige Liste bei Pius Künzle OP (Hg.): Heinrich Seuses Horologium Sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benützung der Vorarbeiten von Dominikus Pflanzer OP, Freiburg/ Schweiz 1977 (Spicilegium Friburgense 23), S. 195 - 276. 143 Vgl. z. B. Andreas Odenthal: Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung. Studien zur Geschichte des Gottesdienstes, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 61), insb. S. 172 - 182; sowie Thomas Lentes: Dem Entsinnlichten Sinne verleihen. Vom produktiven Paradox der Eucharistie im späten Mittelalter, in: Trotz Natur und Augenschein. Eucharistie - Wandlung und Weltsicht, hg. v. Ulrike Surmann u. Johannes Schröer, Köln 2013, S. 267 - 276. 144 »Ach, du lebendige Frucht, kostbarer Edelstein, köstliche Paradiesfrucht des verherrlichten väterlichen Herzens, süße Traube Zyperns im Weingarten Engedi, wer gibt mir, daß ich dich heute so würdig aufnehme, daß du daran Wohlgefallen findest, zu mir zu kommen, bei mir zu bleiben, nie mehr von mir zu scheiden? O du unermeßliches Gut, das Himmel und Erde erfüllt, neige dich heute gnadenvoll zu mir und verachte nicht dein armes Geschöpf. Würdig bin ich deiner nicht, Herr, wohl aber bedarf ich deiner.« (Übersetzung aus Heinrich Seuse: Deutsche mystische Schriften, hg. u. übers. v. Georg Hofmann, Darmstadt 1966, S. 306); Seuse: Deutsche Schriften, S. 303,2 - 9. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 61 <?page no="62"?> anruft, reflektiert diese invocatio die christliche Dreifaltigkeitslehre. Dabei schließt an jede der drei Apostrophen ein Teil der captatio benevolentiae an: Christus wird in einer rhetorischen Frage darauf hingewiesen, wie sein Kreuzestod und dessen Erlösungswirkung im Eucharistiegeschehen vergegenwärtigt, erinnert und den Gläubigen zugänglich gemacht werden. Der Heilige Geist wird um gnadenhafte Zuwendung gebeten. An Gottvater gerichtet wird beteuert, das Bedürfnis nach göttlicher Nähe sei unbesehen des eigenen Unverdienstes groß. Auffällig ist bereits an diesen ersten Gebetssätzen die Aneinanderreihung von sprachlichen Bildern, die, einen von Susanne Köbele vorgeschlagenen Bildbegriff hier und für die folgende Untersuchung im Ganzen übernehmend, »als Modus übertragenen Sprechens, als Überschreitung des proprie-Raums« etwas anderes meinen als sie konkret bezeichnen. 145 Mit Wolfgang Iser können sie als »Muster strukturierter Anweisung für die Vorstellung des Lesers« begriffen werden, die zugleich konkret visualisierbare Gegenstände evozieren als auch intensiv zeichenhafte Qualität besitzen. 146 Vielfach entlehnen sich die Formulierungen, mit denen Christus hier angesprochen wird, der Liebessprache des alttestamentlichen Hohelieds. 147 Dabei verweisen die aufgerufenen Bilder der Süße, der Speisefrüchte und der Weintrauben gleichzeitig auf die Transsubstantiation von Brot und Wein im Rahmen der Eucharistie und damit auch auf den Empfang von Christi Leib und Blut bei der Kommunion, zu deren Anlass der Text gebetet werden soll. Sie nehmen Rekurs auf Traditionen der Exegese des Hohelieds hin auf die Beziehung der Einzelseele zu Gott, die ihren Ausgang wesentlich bei Bernhard von Clairvaux nehmen und über das Mittelalter hinweg bestimmend bleiben. 148 Diese Bilder konstituieren, einer Charakterisierung Paul Michels folgend, zumindest partiell »Pseudometaphern«, die nicht vorrangig »ein in einem Satz schief verwendetes Wort« mit Übertragungsfunktion darstellen. 149 Vielmehr beruhen ihre Verstehensmöglichkeiten grundsätzlich auf der »Kenntnis von Geschichten« und in diesem speziellen Fall auf der Vertrautheit des Lesers mit dem von Seuse angespielten vorgängigen Bibeltext und seinen zeitgenössischen Deutungen, insbesondere dem typologischen Bezug alttestamentlicher Erwähnungen von Wein auf das Blut Christi und damit auf die Eucharistie. 150 Während also Metaphern im eigentlichen Sinne, so Udo Friedrich, durch »Ersetzungen auf der Wortebene« eine »auf Similaritätsrelationen« aufbauende Form des Bedeutungstrans- 145 Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen/ Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 55. 146 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, Stuttgart 1994 (UTB 636), S. 20. 147 So greift das Gebet hier z. B. die Formulierung botrus cypri dilectus meus mihi in vineis Engaddi (Ct 1,13), die Rede vom paradisus malorum punicorum (Ct 4,13) oder die Bezeichnung des Geliebten als malum inter ligna silvarum (Ct 2,3) auf. Speziell zur Darstellung Christi als Weintraube und zu entsprechenden Bibelauslegungen und Bilddarstellungen siehe Alfred Weckwerth: Christus in der Kelter. Ursprung und Wandlung eines Bildmotivs, in: Beiträge zur Kunstgeschichte. Eine Festgabe für Heinz Rudolf Rosemann zum 9. Oktober 1960, hg. v. Ernst Guldan, München 1960, S. 95 - 108. 148 Vgl. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung der Mystik durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 234 - 268. 149 Paul Michel: Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede, Bern 1987 (Zürcher Germanistische Studien 3), S. 157. 150 Michel 1987, S. 158. Michels Beispiel hierfür ist die altnordische Kenning, seine Charakterisierung lässt sich aber, so meine ich, auch auf biblische Bildübernahmen übertragen. 62 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="63"?> fers leisten, 151 entfaltet sich bildhafte Rede in Seuses Kommuniongebet primär über die Referenzierung und Relationierung vorgewusster Narrative und ihrer Sinndimensionen. Aufgrund dieser Komplexität bereits der Zeichen, die sich im Erkennen der dahinterstehenden Schrift- und Auslegungstradition erschließt, können Seuses Sprachbilder auch als knappe Allegorien gelesen werden, d. h. als »fortlaufender Übertragungsvorgang mit konsistenter Bildgrundlage«. 152 Im Sinne eines Gleichnisses, in dem eine Metapher bereits zu einem mehrteiligen bildgebenden »Modell« ausgebaut ist, das »ein Explanandum erhellt«, führen die Bilder der Früchte und Weintrauben in der obigen Passage die Anwesenheit und Bedeutung Christi in der Kommunion vor. 153 Solche Sinnbilder ragen, stehen sie doch zeichenhaft für das letztlich unsag- und unbezeichenbare Heilige, in den Bereich des Symbolischen als »Form des Ausdrucks« hinein, deren Trennung von allegorischer und gleichnishafter Rede »als einer bloßen Weise der Bezeichnung« für die Literatur des Mittelalters, so Hans Robert Jauss, kaum sinnvoll vorzunehmen ist. 154 Mittels bildhafter Zeichen wird somit, wie Susanne Köbele für die Helftaer Mystik herausarbeitet, ein durch direkte Referenz nicht fassbarer Gegenstand erstens »überhaupt zugänglich«, damit zweitens fasslich mitteilbar und drittens ästhetisch wirksam »umkleidet«. 155 Ein dergestalt fluider Umgang mit veranschaulichender Sprache lässt sich in verschiedenen Ausprägungen in sämtlichen auch der folgend betrachteten Gebets- und Andachtstexte ausmachen. Vielfach werden hierbei die Grenzen zwischen unterschiedlichen Typen bildhafter Rede verwischt. So lassen sich beispielsweise die Bilder floraler Gebinde oder prächtiger Textilien, mit denen die unten untersuchten Texte die von ihnen angeregte Frömmigkeitspraxis bzw. ihre Produkte bezeichnen, einerseits als Symbole verstehen, bei denen das »Zeichen [ … ] in einer synekdochischen Beziehung zum metaphysisch Bezeichneten steht«. 156 Zugleich eignen ihnen andererseits ebenfalls metaphorische und dingallegorische Dimensionen, wenn die Einzelelemente des geistlichen Gegenstands auf bestimmte Glaubensinhalte oder Heilsereignisse verweisen, also, mit Friedrich Ohly gesprochen, das »in die Sprache gerufene Ding [ … ] weiter auf einen 151 Udo Friedrich: Historische Metaphorologie, in: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch, hg. v. Christiane Ackermann u. Michael Egerding, Berlin/ Boston 2015, S. 169 - 211, hier S. 169 f. 152 Köbele 1993, S. 55. 153 Michel 1987, S. 197. 154 Hans Robert Jauss: Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia, in: Medium Aevum Vivum. Festschrift für Walther Bulst, hg. v. Hans Robert Jauss u. Dieter Schaller, Heidelberg 1960, S. 197 - 206, hier S. 183. In eine ähnliche Richtung bezüglich des Verhältnisses von Allegorie und Symbol geht die Argumentation von David A. Wells: Die Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte. Möglichkeiten und Grenzen, in: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg. v. Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach in Verbindung mit Herfried Vogel, Tübingen 1992, S. 1 - 23. 155 Köbele 1993, S. 57 f. Köbele bezieht sich in der zitierten Passage auf Ausführungen zur »Funktion der Bild- und Gleichnisrede« (ebd., S. 56) bei Gertrud von Helfta, wobei mir die aufgezeigten Funktionsdimensionen jedoch auch auf frömmigkeitspraktische Texttypen übertragbar scheinen. 156 Bernhard Huss u. David Nelting: Zur Einführung: Schriftsinn und Epochalität, in: Schriftsinn und Epochalität. Zur historischen Prägnanz allegorischer und symbolischer Sinnstiftung, hg. v. Bernhard Huss u. David Nelting, Heidelberg 2017 (GRM-Beiheft 81), S. 9 - 18, hier S. 14. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 63 <?page no="64"?> höheren Sinn« deutet und damit »Zeichen von etwas Geistigem« ist. 157 Auch Allegorie und Typologie können »infolge gewisser innerer Verwandtschaften gleichsam › endogen ‹ ineinander übergehen«. 158 Unten wird je nach Einzelfall genauer zu präzisieren und auszudifferenzieren sein, wie und in welchen Spielarten und Kombinationen übertragenes Sprechen zum Einsatz kommt. Übergreifend kann aber dennoch mit Paul Michel von verschiedenen rhetorischen Strategien der Bildrede gesprochen werden, mit denen unter Anführung eines anschaulichen Konkretums »etwas anderes geäussert [wird] als gemeint ist«. 159 Auf diese Weise evozieren Gebete und geistliche Übungen komplex-zeichenhafte Bildvorstellungen, die den Leser erläuternd und vermittelnd auf ein Transzendentes orientieren, das jenseits von Bild und Sprache angesiedelt ist. 160 Im weiteren Sinne lässt sich auch die rhetorische Gestaltung von Gebetstexten in Analogie zur öffentlichen Rede dahingehend als bildgebendes rhetorisches Verfahren begreifen, erzeugt sie doch den anschaulichen Eindruck eines Gesprächs, in dem ein anwesendes Gegenüber adressiert wird. Im Dialog mit der Transzendenz dienen, wie Walter Haug für mystische Gesprächsszenen bei Mechthild von Magdeburg feststellt, »die Heilsgeschichte [ … ] sowie das metaphorisch-allegorische Bildarsenal, das die Exegese im Laufe der Jahrhunderte aufgebaut« hat, als »Elemente des Mediums, über das sich die Begegnung zwischen Mensch und Gott vollzieht.« 161 Im Falle von Gebet und Andacht ist hierbei mitzureflektieren, dass dort die sprachliche Gesprächssituation, die als selbst schon bildlicher Rahmen für entsprechende Verwendungen bildhafter Rede entworfen wird, vornehmlich als Instrument zur Vermittlung einer Hinkehr der Betenden zu Gott, d. h. des ascensus mentis in Deum dient. Das exordium von Seuses Kommuniongebet apostrophiert also mittels der invocatio erstens Gott in seiner Dreifaltigkeit und entwirft so eine rhetorisch strukturierten Kommunikationssituation zwischen dem Betenden und der Transzendenz, in deren Rahmen das Gebet als »vornehmlich › personhafte ‹ , dialogische Zuwendung eines Men- 157 Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (1958), in: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1 - 31, hier S. 5. Zu Problemen der scharfen Abgrenzung von Symbol und Allegorie vgl. auch Huss/ Nelting 2017. 158 Paul Michel: Übergangsformen zwischen Typologie und anderen Gestalten des Textbezugs. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg. v. Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach in Verbindung mit Herfried Vogel, Tübingen 1992, S. 43 - 72, hier S. 60. 159 Michel 1987, S. 13. 160 Hierbei klingen oftmals, so z. B. in den Hoheliedreferenzen von Seuses Kommuniongebet, auch typologische Bezugnahmen oder gar ein Figuralverständnis der referierten Bibelstellen ebenso wie des Gebets selbst an, auf das ich in Kap. I.5 näher eingehe. Dabei überführt ein dergestalt indirektes Sprechen in Bildern die Sprachlichkeit von Gebet und Andacht in imaginierende Wahrnehmung und je persönliche religiöse Erfahrung des Betenden. Niklaus Largier spricht diesbezüglich von »experiential events [that] are produced with the help of rhetorical stimuli and artifacts« (Largier 2014, S. 58), während Thomas Lentes hevorhebt, wie der visuelle ebenso wie sprachliche Bildgebrauch im Spätmittelalter »dem Verschluss der äußeren Sinne dient und einen inneren Bildraum öffnet« (Thomas Lentes: Der mediale Status des Bildes. Bildlichkeit bei Heinrich Seuse - statt einer Einleitung, in: Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, hg. v. David Ganz u. Thomas Lentes, unter redakt. Mitarbeit v. Georg Henkel, Berlin 2004 [KultBild 1], S. 12 - 73, hier S. 31). 161 Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur, in: Das Gespräch, hg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 2 1996 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 251 - 279, hier S. 269 f. 64 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="65"?> schen zu seinem Gott« erscheint. 162 In diesem Zuge ruft es zweitens eine Vielzahl komplexer Bilder auf, die im Rahmen des übergreifenden Bilds des Gesprächsvorgangs angebracht werden und gleichzeitig intensiv zeichenhaft wie in ihrer sinnlichen Konkretheit eindrücklich erscheinen. Hierauf aufbauend weist es drittens als captatio benevolentiae demütig auf die gnadenhafte Heilswirkung des bevorstehenden Kommunionempfangs hin, die trotz der beteuerten eigenen Unwürdigkeit erbeten und erhofft wird. Letzteres konvergiert eng mit den Ausführungen Wilhelms von Auvergne zur rhetorischen Zielsetzung der Gebetseinleitung. In der weltlichen Rede nämlich, so stellt Wilhelm fest, sei es der Zweck des exordium, das Wohlwollen des Publikums zu gewinnen (per ipsum captetur benevolentia judicis ac favor astantium sive audientium). 163 Im Falle des Gebets hingegen sei aufgrund der Ungleichheit des Sprechers und seines göttlichen Gegenübers zunächst ein Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit notwendig, das den Betenden in eine dankbar-demütige Haltung versetze, aus welcher heraus ein Flehen um göttliche Erhörung und gnadenhafte Zuwendung erst möglich sei. 164 Nachdem nun eine solche Demutsbeteuerung erfolgt ist, fährt Seuses Gebet mit einer kurzen narratio fort, in die bereits eine erste Bitte eingestreut ist: Herr, bin ich din nit wirdig, so bin ich din aber notdúrftig. Ach, zarter herr, bist du nit der, der himelrich und ertrich mit eime einigen worte geschephet hat? Herr, mit einem einigen worte macht du min siechen sele gesunt machen. Owe, zarter herr, tu ͦ mir nach diner gnade, nach diner grundlosen erbermde, und nit nach minem verdienenne. Du bist doch daz unschuldig osterlembli, daz hút vúr aller menschen súnde wirt geophert. 165 Auch in diesem kurzen erzählenden Teil richtet sich der Text in direkten Apostrophen an Gott und Christus. Im Unterschied zu den einleitenden Sätzen jedoch werden nun in aufzeigender Weise, die beinahe wie ein Memento-Gebet funktioniert, 166 mit dem Schöpfungsakt und der Passion Christi heilsgeschichtlich bedeutsame Ereignisse aufgerufen und auf die Eucharistiefeier in der Gegenwart des Betenden bezogen. Die Feststellung, Christus werde hút vúr aller menschen súnde [ … ] geophert, verdeutlicht die Vergegenwärtigung und Erneuerung des Ostergeschehens bei der Kommunion und verweist so auf die situative Verankerung des vom Text angeleiteten Betens. Wieder wird sich dabei komplexer Formen übertragenen Sprechens bedient. Nicht nur wird das neutestamentlich fundierte Sinnbild von Jesus als Opferlamm, als agnus Dei qui 162 Carl Heinz Ratschow: Art. Gebet I: Religionsgeschichtlich, in: TRE 12 (1984), S. 31 - 34, hier S. 31. 163 »mit ihnen werde das Wohlwollen der Richter und die Gunst der Anwesenden und Zuhörenden erlangt«, Wilhelm von Auvergne: Rhetorica divina, S. 36. 164 Ein exemplarisch-selbstreflexives exordium im Sinne des Erbittens einer solchen Gebetshaltung liefert Wilhelm gleich mit: Da, Domine misericordie mihi miserrimo peccatori vilissimo, mihi omni boni indignissimo, omni damnatione et morte dignissimo, orationis tibi acceptae exordium (»Gib, Gott der Barmherzigkeit, mir elendem und wertlosestem Sünder, mir alles Gutem unwürdigem und aller Verdammnis und des Todes würdigem [Menschen] einen dir angenehmen Anfang des Gebets«, ebd.) 165 »Würdig bin ich deiner nicht, Herr, wohl aber bedarf ich deiner. Ach, teurer Herr, hast du nicht Himmel und Erde mit einem einzigen Wort geschaffen? Mit einem einzigen Wort vermagst du meine kranke Seele zu heilen. Ja, Herr, verfahre mit mir nach deiner Gnade, deinem unergründlichen Erbarmen, nicht aber nach meinem Verdienste. Du bist doch das unschuldige Osterlamm, dass heute für aller Menschen Sünde geopfert wird« (Übersetzung Hofmann 1966, S. 306); Seuse: Deutsche Schriften, S. 303,9 - 15. 166 Diesen verbreiteten Gebetstyp charakterisiert Gerhard Achten treffend: »Der Betende bringt vor Gott, Christus oder Maria das Heilsgeschehen in Erinnerung, um sich der Bedeutung dieser Heilstaten Gottes für seine eigene Person bewußt zu werden« (Achten 1987, S. 38). 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 65 <?page no="66"?> tollit peccatum mundi (Io 1,29) aufgerufen - der Text lehnt sich auch beinahe wörtlich an die Evangelienepisode an (Mt 8,5 - 13, Lc 7,1 - 10), in welcher der Hauptmann von Kafarnaum sich demütig an Jesus richtet und dabei beteuert: »Herr, ich bin es nicht wert, dass du unter mein Dach eintrittst. Aber sag es nur mit einem Wort, und mein Diener wird geheilt werden.« (Mt 8,8). 167 In abgewandelter, auf die individuelle Seele bezogener Form bilden diese Bibelworte in der Messliturgie das Gebet der Gläubigen vor dem Kommunionempfang. Seuses Gebet nun ruft zugleich die neutestamentliche Erzählung, die liturgische Gebetsformel und das Bild von Christus als Lamm Gottes auf, um zeichenhaft auf das erlösende Selbstopfer der Passion zu referieren, das sich in der Eucharistie gnadenhaft aufs Neue ereignet. Die bildlichen Vorstellungen, die der Text hier evoziert, verweisen die Betenden so auf Glaubenswahrheiten, die jenseits von Sprache und Zeichen liegen. 168 Gleichzeitig stellen die Erwähnungen des Schöpfungsakts und der Passion Christi, wie Eckart Conrad Lutz als gattungstypisch für Gebetstexte hervorstreicht, eine »mahnende Aufzählung der früheren Wohltaten Gottes (Anamnese)« dar, »die als Zeichen größerer (jenseitiger) Gnaden verstanden werden müssen.« 169 Der Verweis auf die grundlose erbermde Gottes, dessen Gegenwart in der Eucharistie den Gläubigen allein durch die Gnade zuteil werde, entspricht hierbei der auch bei Wilhelm von Auvergne ausgeführten Idee, die narratio des Gebets müsse auf die Barmherzigkeit und den Großmut Gottes hinweisen, durch die eine Erhörung der anschließenden petitio des betenden Sünders erst ermöglicht werde: Nec praetereundem est quam diu, quam benigne, quam misericorditer, quam dulciter, in tot et in tantis malis sustinet peccatores, quod utique facit ut det eis locum et spatium poenitentiae. 170 Im Vergleich zum exordium und zu den nachfolgenden Bitten ist der narrative Teil von Seuses Komuniongebet vergleichsweise kurz. Er dient vor allem dazu, den Betenden auf bildhaft-evokative Weise die Allmacht des göttlichen Schöpfers vor Augen zu führen und die gnadenhafte Präsenz Christi bei der Kommunionfeier zu verdeutlichen. Damit skizziert er die Ausgangslage, aus der heraus ein motivisch und inhaltlich voraussetzungsreicher Katalog an Bitten angeschlossen werden kann: Ach, su ᵉ zes wolgesmackes himelbrot, daz da allen su ᵉ zen smak in im hat nach iedez herzen begirde, mache hút lústig in dir den túrren munt miner sele; spise und trenke, sterke und ziere und vereine dich minneklich mit mir! Ach, Ewigú Wisheit, nu kum húte als krefteklich in min sele, daz du alle mine viende vertribest, alle mine gebresten versmelzest und alle mine súnde 167 Domine non sum dignus ut intres sub tectum meum sed tantum dic verbo et sanabitur puer meus. 168 Zugleich jedoch resultieren die vom Gebetstext aufgerufenen Bilder, mit Erich Auerbach gesprochen, auch in einer »Evidenz des Dargestellten«, die jenseits des referentiellen Bezeichnens Dynamiken der Vergegenwärtigung und der Überführung von Sprache in Aisthesis, der Vorbildnahme und Nachbildung anstößt (Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. 2. Aufl. mit einem Nachwort v. Kurt Flasch, Berlin/ New York 2001, S. 6). Im Folgekapitel wird auf diese Aspekte der Konkretheit des Zeichens und der absorbierenden »Versinnlichung der Schrift«, die ich unter den Schlagworten von Immersion und Figuration zu fassen versuche, genauer eingegangen (Niklaus Largier: Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Manuel Braun u. Christopher Young, Berlin 2007 [Trends in Medieval Philology 12], S. 43 - 60, hier S. 44). 169 Lutz 1984, S. 133. 170 »Es ist hierbei nicht zu übergehen, wie lange, wie gütig, wie barmherzig und wie lieblich er [d. i. Gott] die Sünder in so großem und so vielem Unheil unterstützt, was er insbesondere tut, um ihnen einen Ort und einen Zeitraum zur Buße zu geben«, Wilhelm von Auvergne: Rhetorica divina, S. 54. 66 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="67"?> vergebest. Erlúhte min verstentnússe mit dem liechte dins waren gelo ᵛ ben, enbrenne minen willen mit diner su ᵉ zen minne, erklere min húgnisse mit diner vro ᵉ lichen gegenwúrtikeit, und gib allen minen kreften tugent und volkomenheit. Bewar mich an minem to ᵛ de, daz ich dich offenbarlich werd niessende in ewiger selikeit. Amen. 171 Verschiedene Anliegen werden in dieser petitio vorgebracht, die sich allgemein als Bitte um verschiedene Formen göttlicher Präsenz charakterisieren lässt. Erkenntnis und Bestärkung im Glauben, Sündenvergebung, Unterstützung im Willen und Handeln, Tugendhaftigkeit und allem voraus die über die Kommunion vermittelte Nähe Gottes zählen zu den so erflehten Momenten der Heilsvermittlung. Anknüpfend an die Verweise auf die sich in der Eucharistiefeier manifestierende Gnade und Barmherzigkeit Gottes in der vorangegangenen narratio gipfelt der Text im Ausdruck des Wunsches nach einem göttlichen Eingriff in die Lebensrealität der Betenden. Aufs Neue entspannt sich dabei ein dichtes Netz von Sprachbildern und Schriftreferenzen. So verweist die Bezeichnung wolgesmackes himelbrot für Christus auf das Manna des Alten Testaments, das Gott den Israeliten auf dem Weg durch die Wüste als Nahrung sendet (vgl. Ex 16) und das die mittelalterlichen Bibelexegese zumeist eucharistisch deutet. In Seuses Kommuniongebet folgt diese Anrede des in der Eucharistie präsenten göttlichen Gegenübers als Himmelsbrot einerseits einem Programm der Veranschaulichung des prinzipiell Unvorstellbaren durch die biblisch informierte Dingmetapher. Andererseits aber bewegt sie sich in einer Logik des Typologischen, wird doch durch den Bezug des alttestamentlichen Manna auf den Kommunionempfang das »Sakrament der Eucharistie [ … ] durch Präfiguration bestätigt«. 172 Ähnliches ließe sich beispielsweise für die in den Weisheitsbüchern des Alten Testaments fundierende Bezeichnung Ewigú Wisheit für Christus ausführen oder auch für die Ballung von imperativisch verwendeten Verben aus dem Wortfeld von Feuer und Licht (erlúhte, enbrenne, erklere), die auf eine zeitgenössisch verbreitete, z. B. bei Bonaventura prominente Vorstellung von Christus als lumen gratiae abheben. 173 Im Kontext des Gebetstextes sind solche Formen des übertragenen Sprechens zunächst als theologisch voraussetzungsreiche, rhetorische Strategie zu verstehen, die Glaubenslehre vermittelt und sie durch Rückgriff auf die Schrift untermauert, das Gebet in Verbindung zu den biblisch bezeugten Heilsereignissen setzt, Affekte stimuliert und vor den inneren Augen der Betenden Bilder heraufbeschwört, die 171 »Ach du angenehmes, wohlschmeckendes Himmelsbrot, das allen lieblichen Geschmack in sich hat nach jedes Herzens Verlangen, laß heute den dürren Mund meiner Seele dich verkosten; speise, tränke, stärke, schmücke und vereinige dich liebevoll mit mir. Komm, ewige Weisheit, so kraftvoll in meine Seele, daß du all meine Feinde vertreibest, meine Fehler schmilzest, all meine Sünden vergibst. Erleuchte meinen Verstand mit dem Lichte des wahren Glaubens an dich, entzünde meinen Willen mit deiner gütigen Liebe, erhelle meine Gedanken durch deine frohe Gegenwart und schenke all meinen Kräften Tugend und Vollkommenheit. Bewahre mich in der Stunde meines Todes, damit ich dich von Angesicht zu Angesicht verkoste in Seligkeit. Amen« (Übersetzung Hofmann 1966, S. 306 f.); Seuse: Deutsche Schriften, S. 303,15 - 25. 172 Hennig Brinkmann: Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 430. Brinkmann bezieht sich hier auf die Sequenz Ave praeclara maris stella, in der dieses Motiv ebenfalls vorkommt. 173 So führt z. B. Werner Detloff aus: »Die Vorstellung von Christus als dem Licht schlechthin wird bei Bonaventura zur Grundlage für eine Gnadentheorie, in der die Gnade selbst als eine Lichtwirkung angesehen wird, die von Christus, dem Licht schlechthin, ausgeht« (Werner Detloff: Licht und Erleuchtung in der christlichen Theologie, besonders bei Bonaventura, in: Wissenschaft und Weisheit 49 [1986], S. 140 - 149, hier S. 147). 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 67 <?page no="68"?> gleichzeitig zeichenhaft auf das Heilige verweisen wie auch die Unmöglichkeit des adäquaten Zeichens illustrieren. Mit einer formelhaften und zeittypischen Bitte um Beistand in der Sterbestunde schlussendlich schließt die petitio des Kommuniongebets. In der Gebetsrhetorik des Mittelalters konnte »[s]chon das einfache Amen [ … ] als Bekräftigung und Zusammenfassung des vorangegangenen Gebets gelten«. 174 Das › Amen ‹ bildet so auch an dieser Stelle die conclusio. An diesem Textbeispiel verdeutlicht sich also, wie sehr sich Gliederung und Struktur mittelalterlicher Gebetstexte an den Vorgaben der klassischen Rhetorik orientieren, die im Mittelalter auch in Predigt, Epistolographie, Poetik und Kanzleiwesen ihren Niederschlag fanden. Gebetstexte dürfen folglich als rhetorisch durchgeformte Textgattung verstanden werden. Die Regeln des Redens vor einem weltlichen Publikum standen dabei Pate für die sprachliche Form des Redens mit Gott: Neben biblischen und liturgischen Modellen, vor allem den Psalmen, dürfte »die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Anwendungsgebiete der Rhetorik [ … ] die Ausbildung traditioneller Gebetsstrukturen entscheidend mitbestimmt haben«. 175 Dieser Befund gilt für das Gros der folgend in den Fokus rückenden Gebete und Gebetsübungen des Spätmittelalters, und auch im weiten Feld der Andachtstexte lassen sich entsprechende Einflüsse oft ausmachen. Dabei ist die rhetorische Gestalt der Texte durch vielfältige Techniken der Bildrede geprägt, die sich als Formen übertragenen Sprechens fassen lassen, die innerhalb des Feldes von Metapher, Allegorie, Metonymie, Symbol und Gleichnis weiter ausdifferenziert werden können. Wozu jedoch dienten die rhetorische Form spätmittelalterlicher Gebetstexte und die mit ihr verbundenen Strategien der bildgebenden Bezeichnung und Apostrophierung des Heiligen? Diese Frage weist in den Bereich der Rezeptionsästhetik im Sinne der Untersuchung von an ein zeitgenössisches Lesepublikum gerichteten Angeboten von Vermittlung und Gebrauch, die entsprechenden Texten eingeschrieben sind. In der Terminologie Wolfgang Isers hebt dies ab auf die › Funktionen ‹ der Rezeption, die Gebets- und Andachtstexte zu erfüllen suchen - und »eine Funktion repräsentiert keine Bedeutung, sondern bewirkt etwas.« 176 Gebetstexte wie das oben in den Blick genommene Beispiel, so könnte geantwortet werden, erlauben ihrem Publikum zunächst eine vertikale Hinwendung zum Heiligen. Hierbei ist von besonderer Bedeutung, dass ein von der Schrift angeleitetes Beten sich analog zum rhetorisch durchgeformten Gespräch zwischen menschlichen Kommunikationspartnern gestaltet. Dass dies allerdings eine unzulängliche Analogie darstellte, da Gott, anders als ein menschliches Redepublikum, nicht durch rhetorische Kniffe manipuliert, belehrt und überzeugt werden konnte oder musste, wurde, wie oben am Beispiel Hugos von St. Viktor ausgeführt, in der Gebetstheologie des Mittelalters meist nachdrücklich betont. 177 Die rhetorische Struktur des Gebets vermittelt den Gläubigen also eine kommunikative Nähebeziehung zum Heiligen, ist hierin jedoch primär darauf ausgelegt, nicht beim göttlichen Adressaten, sondern auf Seiten der Betenden spezifische Effekte zu 174 Lutz 1984, S. 136. 175 Ebd., S. 125. 176 Iser 1994, S. 32. 177 Vgl. dazu oben, Kap. I.2. 68 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="69"?> zeitigen. So stimuliert der Gebetstext gezielt Affekte und Emotionen, innere Haltungen und imaginierte Bilder, Sprechsituation, Eindrücke und Erfahrungen, die eine Ausrichtung des persönlichen Denkens und Fühlens auf Gott anregen und erleichtern. 178 Damit gliedert sich das Gebet als Text zumindest pragmatisch in eine religiöse Medienkultur ein, die der evangelische Theologe Berndt Hamm unter dem Stichwort einer › Medialität der nahen Gnade ‹ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zusammenfasst. 179 In einem dreigeteilten Typologisierungsvorschlag versteht Hamm erstens das »grundlegende Kommunikations- und Kontaktgeschehen zwischen Gott und der sündigen Menschheit«, das heißt maßgeblich die Inkarnation und Passion Christi aber auch die »gnadenreiche Mitwirkung Marias, der Heiligen und der Engel«, als »Basismedialität des Heils«. 180 Zweitens charakterisiert er Handlungen, Rituale und Gegenstände, die eine Teilhabe an dieser Heilsvermittlung erster Ordnung ermöglichen, als »Partizipationsmedien«. Dazu zählen »z. B. die Heilige Schrift, die Sakramente und Sakramentalien, die Predigt, Ablässe, Gnadenbilder und Reliquien«, aber auch die religiösen Praktiken der Meditation und insbesondere des Gebets. 181 Drittens jedoch gestaltete sich der Gebrauch vieler dieser Partizipationsmedien so voraussetzungsreich, dass sie »durchaus Aspekte eines schwierigen und sogar elitären Heilserwerbs enthalten« konnten. 182 Eine vertiefende und verstehende Bibellektüre beispielsweise setzte Lateinkenntnisse und Literarisierung voraus, Pilgerfahrten zu bestimmten Reliquien und Wallfahrtsstätten die Verfügbarkeit ausreichender finanzieller Mittel, und auch die innerliche Herstellung einer kommunikativen Gottesnähe im Rahmen des Gebets ist als religiöse Kulturpraxis vorzustellen, die geübt und gelernt werden musste. Denn wie Rachel Fulton-Brown ausführt, begriff das Spätmittelalter die innere Versenkung ins Gebet meist als »end product of the practice of a particular skill, a craft that one might learn and that was believed to require tools.« 183 Die Herstellung einer intensiven inneren Bezogenheit auf das Transzendente, die aktualisierende Vergegenwärtigung des vergangenen Heilsgeschehens und die Einnahme einer dem angemessenen Affekthaltung bilden eine mühsame Geistestätigkeit, die Übung, Zeit, Hilfsmittel und Instruktion erfordert. Um also die Partizipation am göttlichen Gnadenwirken und am vergangenen Heilsgeschehen zu erleichtern, verbreitete sich vor allem im Spätmittelalter ein »dritte[r] Medientyp der erleichternden und unterstützenden Medialität«. 184 Am Beispiel von Einblattdrucken und gemalten Miniaturen, die Anleitungen zur Meditation des Abgebildeten enthalten, illustriert Hamm die Rezeptionsangebote und -dynamiken solcher Hilfsmedien des Heils: 178 Durch ihre vorgegebene Gesprächsstruktur und zumeist unter Rückgriff auf biblisch fundierte Sprachbilder bieten Gebets- und Andachtstexte somit auch an, »Wahrnehmungsmomente, Erfahrungsmöglichkeiten und -intensitäten [ … ] im Rekurs auf die Verwendung der Schrift artifiziell herzustellen und als Möglichkeitsformen des Lebens der Seele und einer virtuellen Sinnlichkeit zu verstehen« (Largier 2007, S. 51). Derartige erfahrungshafte Effekte des Umgangs mit evokativer, auf die Transzendenz gerichteter Sprachlichkeit, die ich als horizontale Medialisierung zwischen Text und Leser begreife, werden in den beiden Folgekapiteln in den Vordergrund treten. 179 Hamm 2009, S. 21. 180 Ebd., S. 36. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 41. 183 Fulton 2006, S. 707. 184 Hamm 2009, S. 41. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 69 <?page no="70"?> Indem sie den Betrachterinnen und Betrachtern ein Bild des kindlichen und leidenden Erlösers, seines geöffneten Herzens, seiner Wunden, seines Bluts und seiner umarmenden Nähe vor Augen stellten und ihnen auf den Bildinschriften in deutscher Sprache eine einprägsam belehrende, appellierende und anleitende Botschaft nahebrachten, wollten sie die meditative Andacht des Herzens, sein erinnerndes, innerlich betrachtendes und liebendes Sich-Versenken in die Gnadenschätze Christi befördern und erleichtern. 185 Ähnlich sind auch die Vermittlungs- und Rezeptionsangebote volkssprachiger Texte wie Seuses Kommuniongebet zu verstehen. Dabei wird hier jedoch statt visueller Medien eine elaborierte, rhetorisch geformte und imaginative Bildlichkeit evozierende Sprache benutzt, um den andächtigen Lesenden eine Vergegenwärtigung des vergangenen Heilsgeschehens zu vereinfachen, zentrale Glaubenswahrheiten über imperfekte Zeichenverbünde zu vermitteln und im vom Text informierten Akt des Betens eine Dimension der über sich hinausgreifenden Hinwendung zu Gott zu entfalten. Der Gebet und Andacht definierende ascensus mentis in Deum oder, in der Übertragung Taulers, der ufgang dis gemu ᵉ tes in Got 186 wird, so könnte der Funktionsanspruch entsprechender Textmedien auf eine Formel gebracht werden, dadurch erleichtert, dass die Hinkehr zur Transzendenz in ihrer sinn- und erfahrungsvermittelnden Sprachgestalt vorgebildet ist und den Gläubigen so ein anleitendes Programm des Vollzugs an die Hand gibt. Auf diese Weise unterstützen und strukturieren die rhetorische Form des Gebets als Gespräch mit Gott ebenso wie evokative Verfahren des Redens in Bildern einen Prozess der Hinwendung zum Heiligen in der lesenden Verwirklichung des Textes. Im Hinblick auf Heinrich Seuses Kommuniongebet sind hier beispielsweise die oben skizzierte Bildfülle des Textes, seine wiederholten Apostrophen, die parataktisch aneinandergereihten Bittformeln und sein rhetorisch durchgeformter Aufbau zu nennen. In ihrer Wirkung bilden diese Textmerkmale Mittel, die es den Rezipienten ermöglichen, sich aus der richtigen inneren Haltung heraus und im - so menschenmöglichen - Verstehen der eucharistischen Gebetssituation in eine intensive Nähebeziehung zur Transzendenz zu setzen. In diesem Sinne stellen spätmittelalterliche Gebetstexte religiöse Hilfsmedien dar, die darauf ausgerichtet sind, die Herstellung und Aufrechterhaltung eines vertikalen Bezugs zum Überweltlichen zu erleichtern, der sich mit der Hoffnung auf Partizipation am göttlichen Gnaden- und Heilswirken verbindet. Ein eingehenderer Blick auf die Wirkungsästhetik von Gebets- und Andachtstexten, der ergänzend zu den vorangegangenen Überlegungen zu einer vertikalen Vermittlung zwischen immanentem Rezipienten und transzendentem Adressaten die vom Text gewissermaßen horizontal offerierten Modi religiösen Lesens sowie ihre Effekte fokussiert, verspricht eine Präzisierung dieser Überlegungen. Zunächst werde ich hierzu die immersiv-partizipativen Rollenangebote ins Zentrum stellen, die derartige Texte für ihre Rezipienten entwerfen. Ein erfahrungsstiftendes Eintauchen in eine sprachlich vorentworfene Welt der Bilder und Vorstellungen stellt, so versuche ich zu zeigen, geradezu den Kern eines im Spätmittelalter vornehmlich durch Gebet und Andacht realisierten Umgangs mit geistlicher Schriftlichkeit dar. Die im Rahmen einer solchen Lektüreimmersion präsentische Qualität erlangenden, vielfach durch Bildrede heraufbeschworenen Gegen- 185 Ebd. 186 Vgl. oben, S. 34. 70 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="71"?> stände, Ereignisse und Personen werden erstens für den Leser gegenwärtig und verlieren zweitens hierbei ihre semantische Qualität nicht, sondern intensivieren sie eher noch. Drittens schreiben sie sich in typologische Entsprechungslinien ein, die vom Alten Testament bis zum Gebetstext und seinem heilsvermittelnden Wirkanspruch reichen. Ein derartiges, sich in Logiken von Vor- und Nachbildung plausibilisierendes Aufbrechen der Unterscheidung zwischen dem im Text Dargestellten, seiner Zeichen- und Repräsentationsqualität sowie seiner Verwirklichung und Wirklichkeit im und durch den Leser kann, so schlage ich abschließend vor, als für Gebets- und Andachtstexte charakteristisches Verfahren der über den Text hinausweisenden Figuration gefasst werden. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 71 <?page no="72"?> 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung Gebet und Andacht sind, zumindest primär, keine narrativen Textgattungen. Die verknüpfende Darlegung von Informationen über einen »zeitlich vorausliegenden Vorgang [ … ], der als › Geschehnis ‹ oder › Begebenheit ‹ bestimmt werden kann«, 187 steht nicht in ihrem Zentrum. Zwar beinhalten Gebetstexte meist, wie oben besprochen, mit der narratio einen erzählenden Abschnitt, stellen als Ganzes aber dennoch keine Erzählungen dar. Vielmehr sind erzählerische Passagen für gewöhnlich bloß als knappe Vorbereitung oder Plausibilisierung des vorgebrachten Anliegens angelegt. Auch umfangreichere geistliche Übungen, wie unten z. B. am Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen oder am Geistlichen Herzensempfang aus dem Dominikanerinnenkloster Unterlinden illustriert wird, realisieren narrative Elemente in der Regel versatzstückhaft zur Entfaltung oder Untermalung einzelner Meditationspunkte. 188 Wenn Narration also in Gebet und Andacht bloß eine sekundäre Rolle spielt, wie lassen sich die horizontalen, also zwischen Schrift und Leser ansetzenden Wirk- und Medialisierungsstrategien dieser Textgattungen jenseits des Erzählbegriffs analytisch fassen? Ein kurzer Blick auf zeitgenössische Theoriebildungen ist hier aufschlussreich. So dient, wie oben bereits erwähnt, für Hugo von St. Viktor der Gebetstext mit Ausnahme der gegen Ende vorgetragenen Bitte vornehmlich dazu, den Betenden selbst das eigene Anliegen sowie die Gnadenmächtigkeit Gottes vor Augen zu führen, um sie dadurch schließlich in eine Affekthaltung zu versetzen, die der Gebetsabsicht angemessen ist: Homo igitur, qui rogatur, per narrationem nostram edocetur, ut sciat quid velimus; per supplicationem nostram pulsatur, ut annuat quod petimus. Sed in illa, quae ad Deum fit, oratione narratio necessaria non est, nisi forte homo ad hoc narret, ut ipse suam petitionem melius intelligat, ut et per narrationem suam admonitus quid petat consideret, et per considerationem petitionis suæ excitatus devotius oret. Sane quantum ad Deum pertinet, sola supplicatio sufficit, quia, ut diximus, Deus non necesse habet doceri ut sciat, sed supplicandus est ut annuat. 189 187 Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 8 2009, S. 9. 188 Zudem sind, wenn beispielsweise Texte wie das oben behandelte Kommuniongebet Heinrich Seuses kurz auf heilsgeschichtliche Zusammenhänge referieren, narrative Elemente oft aufs Verweishafte verkürzt. Dabei wird in der Regel vorausgesetzt, dass ein frommes Lesepublikum mit den biblischen Geschichten, die hier den Referenzhorizont bilden, bereits so vertraut ist, dass entsprechende Anspielungen und Motivaufgriffe sinnvoll eingeordnet werden können. Ohne ein solches Vorwissen gestalten sich die reduziert-narrativen Bestandteile spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte zumeist unzugänglich. 189 »Es soll also der Mensch, der gebeten wird, durch unsere Erzählung belehrt werden, damit er wisse, was wir wollen, und durch unsere Bitte [supplicatio] wird er angeregt, so dass er erhöre, was wir bitten. Aber in jenem Gebet [oratio], das an Gott gerichtet ist, ist die Erzählung nicht nötig, wenn nicht gerade der Mensch zu dem Zweck erzähle, dass er selbst sein Anliegen [petitio] besser verstehe, und dazu, dass er durch seine Erzählung ermahnt das, was er erbitte, bedenke, und so durch das Bedenken seines Anliegens begeistert hingebungsvoller bete. Soweit es freilich Gott betrifft, genügt die Bitte, da, wie wir gesagt haben, Gott es nicht nötig hat, belehrt zu werden, damit er wisse, sondern anzuflehen [supplicandus] ist, damit er erhöre«, Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 982. <?page no="73"?> Insbesondere die narrativen Elemente des vorgetragenen Gebets haben also für Hugo zum Zweck, auf den Betenden und nicht etwa auf Gott einzuwirken. Sie affizieren auf der einen Seite (wie im vorangegangenen Kapitel besprochen) die Betenden innerlich, um eine andächtige Hinkehr zum Heiligen zu intensivieren und begeistert (excitatus) zu gestalten. Auf der anderen Seite vermitteln sie aber auch ein besseres Verstehen (intellegere) der betend an Gott gerichteten Bitte und der dabei aufgerufenen Gegenstände. Dem Gebetstext kommt somit neben der Herstellung einer vertikalen Kommunikationsbeziehung zur Transzendenz auch das zu, was Kathrin Chlench-Priber als horizontale, »autokommunikative Qualität« benennt. 190 Wie nun freilich lässt sich das Modell von Lektüre verstehen, das Hugos Schilderung der Wirkung des Gebetstextes impliziert und voraussetzt? Ein grundsätzliches Charakteristikum von Gebeten besteht darin, dass ihre in der Regel in der ersten Person auftretende Sprecherinstanz weder als Erzähler noch als lyrisches Ich zu fassen ist, das sich an ein Lesepublikum richtete, sondern vielmehr eine Rolle darstellt, in die der betende Mensch hineinschlüpfen kann. Wird mit Wolfang Iser davon ausgegangen, dass jeder »Text ein bestimmtes Rollenangebot für seine möglichen Empfänger parat« hält, 191 so gestaltet sich diese Rolle des › impliziten Lesers ‹ im Falle von Gebetstexten als Aufforderung zum Eintauchen und Aneignen der vorgängigen Worte. Denn die Rezipierenden werden vom Gebetstext nicht angesprochen, sondern sind vielmehr aufgefordert, sich selbst jeweils als dessen Sprecher wahrzunehmen. Die Aussagen, Haltungen und Erzählungen des im Gebet zu Wort kommenden und literarisch vorentworfenen Ichs sind demgemäß darauf angelegt, als eigene Positionierungen angenommen zu werden. Entsprechend setzt das Gebet den extradiegetischen Leser und die intradiegetische Sprecherinstanz nicht, wie es narrative Textgattungen gemeinhin tun, in eine Kommunikationsbeziehung, sondern lässt sie sich identisch werden. 192 Andachtsübungen und -anweisungen dahingegen apostrophieren den Rezipienten zumeist in der zweiten Person. Sie kreieren auf diese Weise eine Du-Rolle, in die ein Lesepublikum ähnlich wie in die Ich- Rolle eines Gebetstextes hineinversetzt wird und die oftmals mit exakten Instruktionen verbunden ist, wie der vorgegebene Text in innere Wahrnehmung, Affekthaltung und Frömmigkeitshandeln umgesetzt werden soll. 193 Um dieses implizite Rollenangebot, das auf die Einfügung der Lesenden in eine sprachlich vorentworfene Position abhebt, 194 zu greifen, scheint mir das Modell einer 190 Chlench-Priber 2020, S. 132. Mit dieser Wendung reflektiert Chlench-Prieber, eine Formulierung Paul Ingwers aufgreifend, dass der Betende »häufig selbst der wichtigste Empfänger der [ … ] übermittelten Botschaft ist« (Paul Ingwer: Rituelle Kommunikation. Sprachliche Verfahren zur Konstitution ritueller Bedeutung und zur Organisation des Rituals. Tübingen 1990 [Kommunikation und Institution 18], S. 37). Die besprochenen Ausführungen Hugos zeigen, wie sich ein vergleichbares Gebetsverständnis bereits im Mittelalter entwickelte. 191 Iser 1994, S. 61. 192 Vorüberlegungen hierzu habe ich am Beispiel eines Passionsgebets aus dem Engelberger Gebetbuch veröffentlicht in Buschbeck 2019. 193 Siehe dazu z. B. die zahlreichen aufschlussreichen Beispiele bei Henrike Lähnemann: Also do du ok. Andachtsanweisungen in den Medinger Orationalien, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, hg. v. Elke Brüggen u. a., Berlin/ New York 2012, S. 437 - 452. 194 Bloß wenige andere Textgattungen, so z. B. Eidformeln oder politische Parolen, scheinen eine ähnliche Rezipientenhaltung zu fordern. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 73 <?page no="74"?> immersiven Medienrezeption vorsichtig auf die mittelalterliche Gebetbuchliteratur übertragbar zu sein. › Immersion ‹ wird als Analyseterminus gegenwärtig vor allem in den Medienwissenschaften benutzt (und gelegentlich auch übernutzt), um die Effekte visueller Medien vom Panoramabild bis hin zu Videospielen zu beschreiben. 195 Der Begriff bezeichnet dabei grundsätzlich die Wirkung verschiedener Medien, ihrem Publikum den Eindruck zu vermitteln, bei Benutzung des Mediums in eine von diesem entworfene Umgebung überzuwechseln. Diese Umgebung kann als › virtuelle Realität ‹ begriffen werden, das heißt als wahrgenommene »Objektwelt, die Wirklichkeit zu sein verspricht, ohne sie sein zu müssen«. 196 Den Betrachtenden präsentiert sich diese Welt somit nicht als Repräsentation eines Zusammenspiels von Raum, Zeit, Personen, Dingen, Stimmen und Ereignissen, sondern kann (zumindest für den Moment) als eben dieses Repräsentierte selbst erfahren werden. Wenn auf diese Weise unter den Bedingungen von Virtualität › Wirklichkeit ‹ konstruiert wird, dann ist dieser schillernde Begriff zweifach zu verstehen. Erstens referiert er auf den durch Verfahren z. B. von Simulation oder Mimesis erzeugten Eindruck einer tatsächlichen Gegenwart des Dargestellten. 197 Zweitens meint er zudem die Tatsächlichkeit der ästhetischen Erfahrung von Rezipierenden, denen, eingetaucht in virtuelle Welten, diese ungeachtet ihres Faktizitätsgehalts als evident entgegentreten. 198 195 Mit der Geschichte immersiver Bildlichkeit beschäftigt sich aus kunsthistorischer Perspektive Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2001. Vgl. auch die ergänzte und übersetzte Version dieser Monographie Ders.: Virtual Art: From Illusion to Immersion, übers. v. Gloria Custance, Cambridge, MA 2003; sowie Ders.: Immersion and Interaction: From Circular Frescoes to Interactive Image Spaces, in: Medien Kunst Netz 1. Medienkunst im Überblick, hg. v. Rudolf Frieling u. Dieter Daniels, Wien 2004, S. 292 - 313. Einen guten Überblick über die Geschichte des Immersionsbegriffs bei der Betrachtung von Videospielen bietet Anja Kühn: Computerspiel und Immersion. Eckpunkte eines Verständnisrahmens, in: Jahrbuch immersiver Medien 2011, S. 50 - 62; siehe zudem Laura Ermi u. Frans Mäyrä: Fundamental Components of the Gameplay Experience: Analyzing Immersion, in: Worlds in Play: International Perspectives on Digital Games Research, hg. v. Suzanne de Castell u. Jennifer Jenson, New York 2007 (New Literacies and Digital Epistemologies 21), S. 37 - 54. 196 Dirk Vaihinger: Virtualität und Realität. Die Fiktionalisierung der Wirklichkeit und die unendliche Information, in: Künstliche Paradiese, virtuelle Realitäten. Künstliche Räume in Literatur-, Sozial-, und Naturwissenschaften, hg. v. Holger Krapp u. Thomas Wägenbauer, München 1997, S. 19 - 43, hier S. 21. 197 Auf der Seite der Produktion eines solchen Eindrucks lässt sich dies verstehen als besonders durchschlagende und medial voraussetzungsvolle Form der »Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung oder › Nachahmung ‹ «, die Erich Auerbach unter dem Schlagwort › Mimesis ‹ fasst (Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, S. 515). Auf der Seite der Rezeption hingegen ereignet sich hierbei jene › willing suspension of disbelief ‹ , mit der Samuel Taylor Coleridge den Effekt bestimmter Texte benennt, ihrem Publikum für den Moment der Rezeption zu ermöglichen, das von ihnen Dargestellte als tatsächliche Gegebenheit zu betrachten. Am Beispiel der romantischen Ballade führt Coleridge aus, wie solche Texte es anbieten »to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith« (Samuel Taylor Coleridge: The Collected Works, Bd. 7: Biographia Literaria, or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions II, hg. v. James Engell u. W. Jackson Bate, New York 1983 [Bollingen Series 75], S. 6). 198 In diesem Sinne betreiben virtuelle Welten, mit Hans Ulrich Gumbrecht gesprochen, eine besonders intensive Form der »Produktion von Präsenz« (Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2004 [edition suhrkamp 2364], S. 33). 74 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="75"?> Auf beiden Ebenen verweist › wirklich ‹ dabei »auf das Moment des Wirkens (lat. actus)«, 199 meint also ein weitreichend effekthaltiges Phänomen, für das nicht ausschlaggebend ist, ob es sich auf dem Wege der (ebenfalls nicht unvermittelten) Empirie als Erfahrung einer faktisch gegebenen Sache oder als Produkt geschickter medialer Evokationsverfahren ergibt. 200 Immersion ist in diesem Kontext als spezifische Form des Zugangs zu auf letztere Weise erzeugten Wirklichkeitsphänomenen zu verstehen. Abgeleitet vom lateinischen Verb immergere ( › in etwas eintauchen, untertauchen, versenken ‹ ) 201 bildet dabei die Metapher des Untertauchens unter eine Wasseroberfläche, die bereits im religiösen Kontext des Mitelalters begegnet und auch dort auf absorptive Formen von religiöser Erfahrung, Frömmigkeitspraxis oder geistlichem Lesen referiert, 202 199 Gottfried Gabriel: Die Wirklichkeitserkenntnis der Literatur. Überlegungen im Ausgang von Erich Auerbachs Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, in: Scientia Poetica 19 (2015), S. 172 - 180, hier S. 173. Wie Hasebrink 2009, S. 209 herausstellt, konvergiert dieser Begriff von Wirklichkeit mit der mittelalterlichen Bedeutung des Wortes, das sich vom lateinischen actualitas ableitet. Siehe dazu auch die Diskussion des Wirklichkeitsbegriffs oben, S. 24 f. 200 Dabei ist begrifflich zu trennen zwischen › Wirklichkeit ‹ in diesem Sinne und (nicht bloß virtueller) › Realität ‹ . Denn im Gegensatz zu einem auf Wirken und Wirksamkeit von Phänomenen abzielenden Wirklichkeitsbegriff verweist der von lateinisch res abgeleitete Ausdruck › Realität ‹ »auf eine Sache und meint daher › Sachhaltigkeit ‹ « (Gabriel 2015, S. 173). Auch empirische Zugänge zu dieser Realität der faktischen Sachen, deren Bestehen jenseits von Betrachter und Vermittlung anzunehmen ist, verlassen sich jedoch auf Formen medialer Vermittlung (z. B. durch den menschlichen Sinnesapparat, technische Verfahren der Bildgebung oder Aufzeichnung usw.). Insofern ist das Mediale grundsätzlich »als ein formales › Dazwischen ‹ aufzufassen, das nicht das Reale verbirgt oder verstellt, sondern Bedingung der Möglichkeit von dessen Erscheinen ist - insofern mit diesem untrennbar verknüpft und doch nicht identisch« (Kiening 2007, S. 22). 201 vgl. Georges 1998, Bd. 2, Sp. 69 f. 202 Beispielsweise spricht der der um 1475 entstandene Bibliothekskatalog der Kartause Erfurt in der Zusammenfassung einer volkssprachigen Taulerpredigt davon, dieser Text spreche de resignatione sui et immersione proprii spiritus in Deum per unionem (»von der Aufgabe seiner selbst und dem Eintauchen des eigenen Geistes in Gott durch die Einheit«, zitiert nach: Marieke Abram, Susanne Bernhardt u. Gilbert Fournier (Hgg.): Mystische Bücher in der Bibliothek der Kartause Erfurt. Digitale Edition, Freiburg: Universitätsbibliothek, Version 1.0 [https: / / making-mysticism.org/ edition/ 1.0/ html/ codex.html, abgerufen am 10.03.2023]). Der Katalog benutzt immersio hier als Begriff für das am Fluchtpunkt eines geistlichen Lebens stehende Eingehen in die mystische unio. Verwiesen wird dabei konkret auf die Signatur D 3 primo (heute Berlin, SBB-PKB, mgf 1257); zusammengefasst wird an der zitierten Stelle die Predigt 21 der Edition Vetter 1910. Für den Hinweis auf diesen Beleg danke ich sehr herzlich Burkhard Hasebrink. In den auch frömmigkeitsdidaktischen Vierzig Myrrhenbüscheln vom Leiden Christi dagegen wird versencken geradezu zum Schlüsselbegriff eines meditativen Umgangs mit den Passionsereignissen. Nicht nur charakterisiert sich der Text mehrfach selbst als ler und ermanung an die als Identifikationsfiguren für das Lesepublikum gezeichneten geistlichen Kinder, wie sy sich andechtiklich söltend in das bitter liden Cristi versencken (»Lehre und Erinnerung«, »wie sie sich andachtsvoll in das bittere Leiden Christi versenken sollten«, Fasching 2020, S. 427 [Prolog II, 2 f.]). Auf ihrem Weg hin zur gelingenden Passionsbetrachtung beklagen diese geistlichen Kinder auch all jene, die sich gaistlich tragent, aber von innan die edlen tugent Cristi nit erlebent und sich in sin edels liden nit recht und enpfintlich senckent (»die sich geistlich geben, die edlen Tugenden Cristi jedoch nicht innerlich erleben und nicht richtig und empfindend in sein edles Leiden eintauchen«, Fasching 2020, S. 546 [39. Büschel, 50 - 52]). Zwar wird versencken, das hier die intentionale und intensive innere Zuwendung des Menschen zur Passion Christi meint, auch in diesen Beispielen nicht völlig deckungsgleich mit einem Begriff von Immersion als absorbierender Wirkung medialer Darstellungen verwendet. Dennoch aber zeigen diese Belegstellen schon für das Spätmittelalter eine Produktivität der zugrundeliegenden Metapher bei der Beschreibung eines frömmigkeitspraktischen Umgangs mit entsprechenden Texten und ihren Gegenständen. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 75 <?page no="76"?> die Grundlage des Begriffs › Immersion ‹ . Die Medienwissenschaftlerin Janet H. Murray beschreibt das Verhältnis zwischen der Erfahrung einer virtuellen Umgebung und einem Tauchgang wie folgt: Immersion is a metaphorical term derived from the physical experience of being submerged in water. We seek the same feeling from a psychologically immersive experience that we do from a plunge in the ocean or swimming pool: the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water is from air, that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus. 203 Entscheidend ist hieran zunächst der von Murray betonte und durch die Metapher unterstrichene Totalitätscharakter von Immersionserfahrungen. Im Rahmen dieses Modus der Rezeption fordert ein Medium, gleich ob es sich dabei z. B. um ein Bild, einen Film, einen Text oder ein Computerprogramm handelt, »die völlige Hingabe der Geistes- und Sinneskräfte [ … ], die in einer Konzentration mündet, die das [ … ] Ich neu zu konstituieren vermag«. 204 Leser, Betrachter und Nutzer werden auf diese Weise zum Bestandteil und oft auch zu Akteuren innerhalb einer vom immersiven Medium entworfenen Welt, deren Bestandteile zugleich bedeutsam wie auch ästhetisch präsent erscheinen. 205 Dabei beruht das Bild des Eintauchens stets auf der Vorstellung des Überschreitens einer Grenze: Immersion impliziert stets einen Übertritt von einer faktisch realen in eine virtuelle, von den sich darin Bewegenden jedoch als im oben ausgeführten Sinn › wirklich ‹ erlebte Umgebung. In der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung wurde mehrfach versucht, die von bestimmten Texten und Texttypen erzeugten immersiven Effekte zu theoretisieren. So charakterisiert Marie-Laure Ryan aus narratologischer Perspektive ein immersives Leseerlebnis betont katechrestisch als Betreten einer › Textwelt ‹ : »For immersion to take place, the text must offer an expanse to be immersed within, and this expanse, in a blatantly mixed metaphor, is not an ocean but a textual world«. 206 Die Funktion von Sprache bei dieser Erschaffung einer virtuellen Umgebung bestehe, so Ryan, darin, 203 Janet H. Murray: Hamlet on a Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace, New York, NY 1997, S. 98 f. Zur Begriffsentstehung führt Robin Curtis aus: »Die Bezeichnung immersive für die Erfahrung einer gefühlten Präsenz in künstlichen oder digital erzeugten Räumen hat sich in der englischen Sprache erst zögerlich ab den 1960er Jahren eingebürgert« (Robin Curtis: Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 17.2 [2008], S. 89 - 107, hier S. 89 f). 204 Martin Baisch: Immersion und Faszination im höfischen Roman, in: Immersion im Mittelalter, unter Mitarbeit v. Susanne Kaplan hg. v. Hartmut Bleumer, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167), S. 63 - 81, hier S. 65. 205 Zu Interaktivität als häufigem Merkmal immersiver Medien vgl. ausführlich Florian Nieser: Immersion, Virtualität und Affizierung in mittelalterlicher Literatur und digitalem Spiel, in: PAIDIA - Zeitschrift für Computerspielforschung (2021) (https: / / paidia.de/ immersion-virtualitaet-und-affizierung-in-mittelalterlicher-literatur-und-digitalem-spiel/ , abgerufen am 18.05.2023). 206 Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore, MD/ London 2001 (Parallax: Re-Visions of Culture and Society), S. 90. Siehe zu dem von Ryan angesetzten, sehr breiten Erzählbegriff auch die Beiträge in Dies. (Hg.): Narratives across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln/ London 2004 (Frontiers of Narrative). Zwar ist das Gros der von Ryan betrachteten immersiven Texte modernen Datums, jedoch betont sie dabei, Immersionsstrategien seien bereits z. B. in den Exerzitien des Ignatius ausgeprägt zu beobachten (vgl. Ryan 2001, S. 115 - 119). Die Brücke zu geistlichen Übungen der Vormoderne wird von ihr also angeboten, wenn auch oft unter einem auf diese Texte nicht recht passenden Paradigma des Erzählens. 76 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="77"?> Gegenstände, Personen und Situationen imaginativ präsent werden zu lassen 207 Mit der Imagination spricht sie dabei jene »cognitive faculty« an, der im Verständnis des Mittelalters die Rolle zukommt, eine innere Gegenwart nicht-anwesender Gegenstände zu erzeugen. 208 Der immersive Text wird somit als eine Art Anleitung zur Konstruktion eines inneren Erfahrungsraums verstanden: »texts invite the reader to imagine a world, and to imagine it as a physical, autonomous reality furnished with palpable objects and populated by flesh and blood individuals«. 209 Dieser Gedanke besitzt in der Narratologie eine gewisse Tradition. Werner Wolf beispielsweise benennt das »Prinzip anschaulicher Welthaftigkeit«, das heißt die »Simulierung einer konkreten Außenwelt«, als zentrales Charakteristikum narrativen Illusionsaufbaus im Allgemeinen. 210 Überlegungen und Debatten zur Anwendbarkeit des Immersionsbegriffs bei der Analyse mittelalterlicher Texte wurden in der jüngeren Forschung in erster Linie durch eine von Hartmut Bleumer herausgegebene Sammlung von Beiträgen angeregt, die versuchen, Konzepte des Immersiven für die Untersuchung verschiedener Werke und Literaturgattungen vom höfischen Roman bis zum geistlichen Spiel fruchtbar zu machen. 211 Immersion, so Bleumer in der Einleitung dieses Bandes, müsse hierbei verstanden werden als »Metapher einer spezifischen Möglichkeit ästhetischer Erfahrung [ … ], die eine intensive Verbindung von Konstituierung, Semantisierung und Wahrnehmung erzählter oder dargestellter Räume ermöglicht«. 212 Dabei handele es sich um einen Begriff, den »nicht etwa die aktuelle technische Medienentwicklung [ … ] hervorgerufen hat«, sondern vielmehr um eine Form ästhetischen Erfahrens, die in der Gegenwart lediglich vorrangig bei der Rezeption neuer Medien zutage trete und somit auch anhand dieser verhandelt werde. 213 Prägnant weist Bleumer auf die Potentiale einer Untersuchung immersiver Rezeptionseffekte hin, ein Schlaglicht auf jene »Amalgamierung von historischer Semantik und Ästhetik« zu fassen, 214 die in der mediävistischen Forschung, angestoßen durch die Thesen Hans Ulrich Gumbrechts, vor allem entlang der Modellkategorien von › Präsenz- ‹ und › Sinnkultur ‹ diskutiert wurden. 215 Denn im Rahmen einer eintauchenden Lektüre wird in 207 »The function of language in this activity is to pick objects in the textual world, to link them with properties, to animate characters and setting - in short, to conjure their presence to the imagination«, ebd., S. 91. 208 Michelle Karnes: Imagination, Meditation, and Cognition in the Middle Ages, Chicago, IL 2011, S. 10. Ausgehend vor allem von Bonaventuras Meditationes vitae Christi arbeitet Karnes detailliert ein dergestaltes Verständnis von der Rolle der Imagination im Zusammenspiel mit dem Verstand, dem Erinnerungsvermögen und der Sinnlichkeit des Menschen hervor. 209 Ryan 2001, S. 92. 210 Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörendem Erzählen, Tübingen 1993, S. 134. Auch Erich Auerbachs Ausführungen zu literarischer Mimesis (vgl. Auerbach 1946) wären hier noch einmal prominent zu nennen. 211 Hartmut Bleumer (Hg.): Immersion im Mittelalter, unter Mitarbeit v. Susanne Kaplan, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167). 212 Hartmut Bleumer: Immersion im Mittelalter: Zur Einführung, in: Immersion im Mittelalter, unter Mitarbeit v. Susanne Kaplan hg. v. Hartmut Bleumer, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167), S. 5 - 15, hier S. 12. 213 Ebd., S. 5. 214 Ebd., S. 9. 215 Angestoßen unter anderem durch den provokanten Vorschlag Gumbrechts, das Mittelalter als eine › Präsenzkultur ‹ zu begreifen in welcher »der Leib Christi und sein Blut in den › Formen ‹ von Brot und 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 77 <?page no="78"?> der Regel ein hermeneutisch perspektivierbarer Text in ästhetische Erfahrung überführt, ohne dabei jedoch seinen Sinn- und Zeichencharakter zu verlieren. Somit bietet der Immersionsbegriff die Möglichkeit, Eindrücklichkeit und Bedeutung des Texts (zumindest auf der Rezeptionsebene) als Einheit sich gegenseitig amplifizierender Facetten zu begreifen: »Das Eintauchen in den Raum der Bilder während der Immersion wäre dann das intensive Aufgehen in Bedeutung«. 216 Für geistliche Texte und die mit ihnen verbundenen Lektüremodelle, die auf die Vermittlung und Vergegenwärtigung von Heil zielen, eröffnen, wie Balázs J. Nemes aufzeigt, solche Möglichkeiten, »die Textwelt als eine Evidenz zu erfahren«, in der Sinn und Präsenz deckungsgleich werden, tragschwere Spielräume. 217 Gebete und Andachten können dabei als Textgattungen gelten, für deren Wirkungsästhetik immersive Lektüreangebote eine besondere Schlüsselrolle spielen. So beruht z. B. die von Hugo von St. Viktor in der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Stelle vorgebrachte Auffassung, die sprachliche Gestalt des Gebets diene vornehmlich dazu, dass der betende Mensch per considerationem petitionis suæ excitatus devotius oret, grundsätzlich auf der Annahme, das Publikum eines Gebetstexts identifiziere sich mit dem dort zur Sprache kommenden Ich und fasse dessen Anliegen, Affekthaltungen und Wortäußerungen als seine eigenen auf. Dazu ist es, so Kathrin Chlench-Priber, »entscheidend, dass der Betende nicht nur in die Rolle der [ … ] Textinstanz des betenden Ich schlüpft, sondern mit dieser identisch wird, so dass idealerweise keinerlei Differenz zwischen beiden bleibt«. 218 Andachtsübungen hingegen adressieren zumeist instruierend ein Du, ebenfalls auf eine Annahme durch eine fromme Leserschaft anbietet. Das Eintauchen in eine vorentworfene Rolle, die innnerhalb einer sprachlich entworfenen Wirklichkeit verortet ist, kann folglich als rezeptionsästhetische Grunddynamik beider Textsorten aufgefasst werden. Wein substantiell greifbar wurden« (Gumbrecht 2004, S. 46), entspannte sich eine lebhafte mediävistische Kontroverse über die Präsenzeffekte mittelalterlicher Literatur, Kunst und materieller Kultur sowie deren zeitgenössische philosophische und theologische Reflexionen. Siehe dazu z. B. Burkhard Hasebrink: Diesseits? Eucharistie bei Meister Eckhart im Kontext der Debatte um › Präsenzkultur ‹ , in: Mediale Gegenwärtigkeit, hg. v. Christian Kiening, Zürich 2007 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 1), S. 193 - 206; Kiening 2007; sowie Thali 2012, insb. S. 266 f. Besonders kritisch gegenüber einer Anwendbarkeit von Gumbrechts Trennung zwischen Präsenz- und Sinnkultur auf die mittelalterliche Frömmigkeitskultur ist Chlench-Priber 2020, S. 253. 216 Bleumer 2012, S. 9. 217 Balázs J. Nemes: Der involvierte Leser. Immersive Lektürepraktiken in der spätmittelalterlichen Mystikrezeption, in: Immersion im Mittelalter, unter Mitarb. v Susanne Kaplan hg. v. Hartmut Bleumer, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167), S. 38 - 62, hier S. 41. Am Beispiel der Rezeption des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg zeigt Nemes auf, wie auch Offenbarungsschriften eine implizite Leserrolle des Eintauchens und der Partizipation entwerfen, die er als »Typus des involvierten Adressaten bzw. Lesers« bezeichnet (ebd.). Die Überführung des geschriebenen Wortes in lesergebundene Wahrnehmung gestalte sich dabei, so lässt sich Nemes ’ Argument zusammenfassen, als Eingebundenheit des Lesers in das sprachliche Dargestellte, das in der engführenden Vermittlung sowohl von Präsenz als auch von Bedeutung seine eigene Vermitteltheit punktuell zu überspielen vermag. Dem immergierten Leser erscheine der Text auf diese Weise zumindest für den Moment nicht mehr als Medium, sondern als erlebte Unmittelbarkeit. Verwandte Überlegungen zur Herstellung präsentischer Rezeptionseffekte in der weltlichen Literatur des Mittelalters, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, finden sich bei Christina Lechtermann: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005. 218 Chlench-Priber 2020, S. 134. 78 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="79"?> Kraft dessen bewirken schriftliche Gebete und Andachten »Präsenzeffekte«, deren »Reiz [ … ] in ihrer Intensität [besteht], die allerdings nicht einfach die eines äußerlichen Erscheinens ist, sondern die eines innerlichen Vollzugs«. 219 Hierbei fazilitieren sie auf der Ebene der Frömmigkeitspraxis wie oben ausgeführt eine vertikale Kommunikation mit der Transzendenz, die auf Hinkehr und Heilsmedialisierung zielt. Auf der Ebene der Lektürewirkung hingegen entfalten sie eine horizontale Medialisierungsdynamik zwischen dem Text und seinen Lesern, die auf immersive Weise »eine Realisierung, eine Vergegenwärtigung des Geschriebenen« auf Seiten der Rezipienten erleichtert, wie Mireille Schnyder sie als Grundmerkmal religiöser Lesekonzepte ausmacht. 220 Um entsprechende Effekte zu zeitigen, bedienen sich Gebets- und Andachtstexte einer Vielzahl sprachlich-rhetorischer Mittel. 221 Dazu gehören die oben angesprochenen Verfahren des rhetorischen Textaufbaus und der Apostrophierung eines transzendenten Gegenübers ebenso wie gattungsspezifische Angebote einer Ich- oder Du-Rolle und die Evokation von Bildern sowie Sinneseindrücken. Solche charakteristischen Sprachstrategien, die eine immersive Lektüre begünstigen, fasst Johanna Thali zusammen: In Gebetstexten lassen sich eine Reihe von Strategien beobachten, welche die Kommunikation mit dem absenten Göttlichen ermöglichen und die Heilsvermittlung gewährleisten sollen. Dazu gehören sprachliche und rhetorische Mittel wie Apostrophen, Anaphern und andere Wiederholungen zur Steigerung der Eindringlichkeit, die formelhafte Nennung heilswirksamer Tatsachen wie des Leibes und Blutes Christi, seiner Wunden oder der Leidenswerkzeuge. Zu nennen sind auch die Häufung von räumlichen und zeitlichen Deiktika sowie Tempuswechsel zum Ineinanderblenden von vergangener Heilszeit und Jetztzeit des Betens. 222 Zum Ziel haben diese Mittel neben der Instruktion einer, wie Almut Suerbaum formuliert, »Kunst des gefügten Sprechens« mit dem Heiligen, 223 für das Gebets- und Andachtstexte ein Skript bieten, vor allem die Herstellung einer beim Beten bereits in der Immanenz erfahrbar werdenden Gegenwärtigkeit des Transzendenten. Dabei verfolgen sie, was Niklaus Largier unter Rekurs auf das wesentlich auf Origenes zurückgehende Modell einer analog zur äußeren gedachten inneren Sinnlichkeit als »Animation der Sinne durch künstliche Mittel« oder als rhetorisch stimulierte Produktion von »spheres and events of experience in an application of the senses« umschreibt. 224 Im Prozess der Immersion nämlich erlangen sprachlich vermittelte Inhalte audiovisuelle, taktile oder sogar gusta- 219 Kiening 2007, S. 35. 220 Mireille Schnyder: Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lektürekonzepten, in: Literarische und religiöse Kommunikation im Mittelalter. DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009, S. 427 - 452, hier S. 432. 221 In der gegenwärtigen Medienwissenschaft werden zumeist »apparative Aspekte der Immersionserfahrung« (Curtis 2008, S. 90) in den Fokus gerückt, das heißt technologische Voraussetzung von Immersionsangeboten. Diese erfüllen, so meine ich, eine ähnliche Funktion wie die hier benannten sprachlichen Strategien in Gebets- und Andachtstexten. 222 Thali 2009; hier S. 248 - 250. 223 Almut Suerbaum: Schreiben, lehren, beten. Zu einer Poetik geistlicher Sammelhandschriften am Beispiel von Yale, Beinecke Library, MS. 968, in: Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters, hg. v. Franz-Josef Holznagel u. a., Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24), S. 283 - 298, hier S. 298. 224 Niklaus Largier: Präsenzeffekte. Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung, in: Poetica 37.3/ 4 (2005), S. 393 - 412, hier S. 395; Largier 2014, S. 66. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 79 <?page no="80"?> torische Qualitäten. Der innere Mensch erscheint damit, so Thomas Lentes in Bezug auf durch Gebet und Andacht evozierte Eindrücke, »geradezu als Projektionsfläche von Bildern«, 225 die in einem sprachlich angeleiteten Prozess der Imagination mit den inneren Augen geschaut werden. Wie Mark McInroy in Anknüpfung an Karl Rahner zusammenfasst, ist die von Origenes etablierte und für das Verständnis innerer Wahrnehmung im Mittelalter ausschlaggebende Lehre der geistlichen Sinne charakterisiert durch »(1) a non-metaphorical use of sensory language in which (2) all five senses are used in the spiritual perception of immaterial realities«. 226 Dem, was der gläubige Mensch innerlich sieht, hört, riecht, schmeckt oder ertastet, kommt demnach also nicht bloß der Charakter einer Simulation zu. Vielmehr erschließt sich so eine phänomenale Wirklichkeit des erkennenden ebenso wie affektiv berührenden Erlebens, die den äußeren Sinnen verschlossen bleibt. Gebets- und Andachtstexte des Spätmittelalters zielen dementsprechend, so Largier, ebenso wie die mit ihnen verknüpften Praktiken des Frömmigkeit »nicht auf eine Realpräsenz oder einen metaphysischen Begriff unmittelbarer Gegenwart [ … ], sondern auf die absorbierende Kraft eines technischen Umgangs mit der Sinnlichkeit«. 227 › Absorption ‹ in diesem Sinne darf als vom Medium ausgehende ästhetische Wirkung verstanden werden, die auf Seiten der Rezipierenden einen Immersionseffekt anregt. 228 Dieser Effekt nun erzeugt innere Sinneseindrücke, die Perzeption und Affekt gleichermaßen berühren. Kennzeichnend für eine solche »Produktion absorbierender Gegenwart« 229 ist, dass sie zumeist auch extratextuelle Realitäten und hierauf fußende Erwartungshorizonte eines immergierten Lesepublikums einbezieht, die vorgängig und unabhängig von den medial erzeugten Wirklichkeitseindrücken der Immersionserfahrung bestehen. So regen gattungstypische Textelemente wie z. B. der Ausdruck von Reue angesichts der eigenen Sünden, die Bitte um Besserung oder Fürbitten für Eltern und Wohltäter dazu an, Erinnerungen an die eigenen Verfehlungen, Familienmitglieder oder sonstige je persönliche Wirklichkeitserfahrungen in den vorgegebenen Rahmen des Textes hineinzuprojizieren. In der Terminologie Wolfgang Isers integrieren Gebete und Andachten hier gezielt »Leerstellen«, die für die »Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellungsakte des Lesers frei« gehalten werden. 230 Derartige Leerstellen erlauben einerseits gerade 225 Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner in Zusammenarbeit mit Marc Müntz, München 2002, S. 179 - 220, hier S. 185. 226 Mark J. McInroy: Origen of Alexandria, in: The Spiritual Senses. Perceiving God in Western Christianity, hg. v. Paul L. Gavrilyuk u. Sarah Coakley, Cambridge 2011, S. 20 - 35, hier S. 22. Siehe dazu ausführlich Karl Rahner: Die › geistlichen Sinne ‹ nach Origenes, in: Ders.: Schriften zur Theologie, Bd. 12, Zürich 1975, S. 111 - 136, auf den McIroy sich hier bezieht. 227 Largier 2005, S. 409. 228 Ich danke Niklaus Largier für ein aufschlussreiches Kolloquiumsgespräch zum Thema › Absorption ‹ , das diesen Überlegungen seinen Stempel aufprägte. 229 Largier 2005, S. 393. 230 Iser 1994, S. 284. Isers Diskussion fokussiert auf Leerstellen in narrativen Texten, an denen der Leser einen Teil der Handlung imaginativ ergänzen muss. Im Falle von Gebets- und Andachtstexten dahingegen müssen derartige Positionen viel eher durch eigenbiographische Projektionen gefüllt werden - hier wäre Isers Konzept entsprechend zu differenzieren. Zur Funktion derartiger Leerstellen im Kontext geistlicher Übungen siehe auch Buschbeck 2019, S. 400, sowie Buschbeck 2021, S. 44 f. 80 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="81"?> eine immersive Lektüre, indem sie einen intradiegetischen Rahmen für extradiegetische Einfügungen schaffen. Andererseits stellen sie auch einen Rückbezug der immersiven Texterfahrung auf die Lebensrealität der Gläubigen her, der handlungsleitenden oder geschehensmächtigen Anspruch trägt. Während die Stimulation der inneren Sinne durch geistliche Übungen einerseits also Wirkungen auf ihr immanentes Publikum anzielt, richtet sich diese »mit Affekten und Sinnlichkeit Hand in Hand gehende kritische Neuformung der Wahrnehmung« jedoch zugleich auf ein Transzendentes, das sich den Sinnen ebenso wie dem menschlichen Verstehen verschließt. 231 In letzter Instanz ist eine horizontal zwischen Text und Lesenden vermittelte, sprachlich erzeugte Immersionserfahrung damit wiederum Mittel zur vertikalen Ausrichtung dieser Lesenden auf das, was Sprache nicht fassen kann. 232 Somit bieten Gebets- und Andachtstexte einen Prozess der lesenden Immersion an, der den Betenden intensive Momente innerer Sinneswahrnehmung vermittelt - einer Wahrnehumg freilich, die ihr Ziel nicht in sich selbst erfüllt, sondern vielmehr auf ein Übersinnliches hinorientiert ist, das jenseits des Wahrnehmens liegt. Ein Textbeispiel mag dies illustrieren. In dem von Ruth Wiederkehr edierten Hermetschwiler Gebetbuch, das im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts wohl »zwischen Basel und St. Gallen im alemannischen Raum« niedergeschrieben wurde und aus der Bibliothek des Benediktinerinnenklosters Hermetschwil im Schweizer Kanton Aargau stammt, 233 findet sich ein fünfteiliges Gebet, das sich an den gekreuzigten Christus richtet und hierbei gleichzeitig einzelne Szenen der Passion, die im späteren Mittealter vielfach zum unterschiedlich perspektivierten Gegenstand von »systematically constructed prayer cycles and meditations« wurde, 234 vergegenwärtigt als auch das betende Ich darum bitten lässt, an der Erlösungswirkung des Ostergeschehens teilzuhaben. 235 Parallel überliefert ist dieser Text auch in einer etwas älteren, um 1380 datierenden Abschrift im Engelberger Gebetbuch, 236 das zum Handschriftenbestand des benediktinischen Doppelklosters St. Andreas 231 Largier 2018, S. 34. 232 Niklaus Largier betont insbesondere die Rolle der durch die von Text und Frömmigkeitspraxis hergestellte Erfahrung eines Eintauchens oder Absorbiert-Werdens ausgelösten Affekte für diesen Prozess: »the evocation of the inner senses in the practice of prayer opens up a realm of emotions, an affective life which compensates for the lack of the intellectual understanding« (Niklaus Largier: Inner Senses - Outer Senses. The Practice of Emotions in Medieval Mysticism, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter, hg. v. Ingrid Kasten u. C. Stephen Jaeger, Berlin 2003 [Trends in Medieval Philology 1], S. 3 - 15, hier S. 5). Doch auch derartige Affizierungen sind eher als medial vermittelte Formen der Hinkehr zum Unverfügbaren zu verstehen denn als Modus der Verfügung. 233 Wiederkehr 2013, S. 249. Es handelt sich hier um die Signatur Sarnen, Bibliothek des Benediktinerkollegiums, Cod. chart. 208. Ruth Wiederkehr merkt an, dass im 15. Jahrhundert Handschriften »vorwiegend als Geschenke oder mit dem Eintritt einzelner Frauen ins Kloster kamen« (ebd., S. 42) - dies ist auch für das Hermetschwiler Gebetbuch zu vermuten. Zur Handschrift siehe auch die konzise Katalogbeschreibung bei Charlotte Bretscher-Gisiger u. Rudolf Gamper: Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Klöster Muri und Hermetschwil, Dietikon-Zürich 2005, S. 331 - 335. 234 Nigel F. Palmer: › Antiseusiana ‹ : Vita Christi and Passion Meditation before the Devotio Moderna, in: Inwardness, Individualization, and Religious Agency in the Late Medieval Low Countries. Studies in the Devotio Moderna and its Contexts, hg. v. Rijcklof Hofman u. a., Turnhout 2020 (Medieval Church Studies 43), S. 87 - 119, hier S. 91. 235 Ediert bei Wiederkehr 2013, S. 357, als Nr. 61: »Gebet zu Jesus am Kreuz«. 236 Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 155, fol. 131v - 133v. Die Texte dieser Handschrift waren, so Peter Ochsenbein, »höchstwahrscheinlich für Benediktinerinnen des Klosters St. Andreas in Engelberg zur Privatandacht bestimmt, dürften aber kaum in Engelberg geschrieben worden sein«, Peter 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 81 <?page no="82"?> in Engelberg im Kanton Obwalden gehörte und »eine der umfangreichsten und aufgrund ihres Alters bedeutendsten Sammlungen deutscher Privatgebete« darstellt, die zudem »viele Gebetstexte in Erstüberlieferung bietet«. 237 Nach dem Schema eines Memento-Gebets, durch das der Betende »vor Gott, Christus oder Maria das Heilsgeschehen in Erinnerung [bringt], um sich der Bedeutung dieser Heilstaten Gottes für seine eigene Person bewußt zu werden«, 238 mahnt der Text Christus in jeweils rhetorisch geschlossenen Abschnitten an seine Inkarnation, das Gebet im Garten Gethsemane, das Paradiesversprechen an den reuigen Schächer (Lc 23,43), die Anempfehlung Marias an Johannes (Io 19,25 - 27) sowie das Herabsinken seines Kopfes beim Sterben am Kreuz (Io 19,30). Dabei taucht das Lesepublikum in die Rolle des sprechenden Ich ein, das diese Szenen im Gespräch mit Christus aufruft und sie mittels einer anschließenden doppelten Bitte auf die eigene Beziehung sowohl zu Gott als auch zu den Mitmenschen bezieht. So lautet die einleitende Gebetspassage zur Menschwerdung Christi: Herre, ich manen dich der minne, die dich betwang, daz du dich neigtest von himelrich uf ertrich in daz heil aller creaturen, und bit dich, daz du dich all stunde neigest zu ͦ aller miner notturft sel und libes und ze allen minen schaden, daz du mir die richtest und ordnest nach allen minen willen, und bit dich milter got, daz du aller menschen, der minne und liebe ich beger, ir hertze und ir gemu ͦ te neigest und twingest zu ͦ aller miner notdurft und begird und willen. 239 Erstens entwerfen diese Zeilen ein »Beten als Akt des Gesprächs«, 240 in dem der lesende und betende Mensch zum Dialogpartner wird, der sich als sprechendes Ich mit Apostrophen wie Herre oder Herre Iesu Christe 241 in einem vertikalen Akt der Kommunikation dem Gottessohn zuwendet. Zugleich immergiert er hierbei horizontal in eine vom Text vorgezeichnete Dialogsituation. Ein je persönliches Eintauchen wird dabei auch dadurch erleichtert, dass das Gebet mit Formulierungen wie min[e] notturft und mi[n] schaden oder dem Verweis auf die menschen, der minne und liebe ich beger, gezielt Leerstellen kreiert, die in der Vorstellung der Betenden individuell-biografisch gefüllt werden können. Zweitens steht die Inkarnation, an die Christus hier gemahnt wird und durch die nach christlichem Glaubensverständnis »der himmlische Erlöser unverkürzt auch die Menschennatur angenommen« hat, 242 zwar zunächst bloß als in der Vergangenheit liegender Ochsenbein: Art. Engelberger Gebetbuch, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 529 f., hier Sp. 529. Zu dieser Handschrift vgl. außerdem Buschbeck 2019; Johanna Thali: Regionalität als Paradigma literarhistorischer Forschung. Das Beispiel des Benediktinerinnenklosters St. Andreas in Engelberg, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte, hg. v. Barbara Fleith u. René Wetzel, Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 229 - 262, insb. S. 259; Ochsenbein 1988, S. 384 f.; Ochsenbein 1999; sowie Ochsenbein 1997. 237 Thali 2009b, S. 259. 238 Achten 1987, S. 38. 239 »Herr, ich erinnere dich an die Liebe, die dich dazu brachte, dass du dich vom Himmelreich auf das Erdreich herabneigtest in das Heil aller Geschöpfe, und bitte dich, dass du dich jederzeit zu allen meinen seelischen und leiblichen Bedürfnissen neigst und zu allem meinem Leiden, dass du mir dies [alles] nach meinem Willen ordnest und hinwendest, und bitte dich, großzügiger Gott, dass du allen Menschen, deren Liebe und Zuneigung ich mir wünsche, ihr Herz und ihren Sinn neigst und richtest auf all meine Bedürfnisse und Wünschen und Wollen«, Wiederkehr 2013, S. 357. 240 Suerbaum 2017, S. 298. 241 Wiederkehr 2013, S. 357. 242 Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 4 2009, S. 122. 82 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="83"?> Gesprächsgegenstand im Raum, wird allerdings durch die angefügten Bitten, die daraus eine Heilshoffnung entwickeln, in ihrer Wirkung mit der Gegenwart des Betens enggeführt. Obzwar in der entfernten Heilszeit liegend, soll sich das neigen Gottes, der in der Person Christi auf die Erde hinabstieg, fortlaufend als gnadenhaftes Zuneigen in der Jetztzeit manifestieren. 243 Der Text leitet so aus dem Hinweis auf die einstmalige Anwesenheit Christi auf Erden die Hoffnung auf eine gegenwärtige Gottesnähe ab. In der immersiven Lektüre des Gebets wird diese Nähe zu Gott bereits partiell hergestellt, indem sie in Form einer Gesprächssituation evoziert wird. Intensiviert wird diese Dynamik in den folgenden vier, je in sich abgeschlossenen Teilabschnitten, die an Christus gerichtet jeweils einzelne Szenen der Passion vor Augen führen und darin einer Strategie sprachlicher Vermittlung folgen, die Roy Hammerling beschreibt als »vividly recalling a biblical or other holy scene to produce a prayerful attitude and/ or experience«. 244 An dritter Stelle führt der Text aus dem Hermetschwiler Gebetbuch aus: Herre Iesu Christe, ich manen dich, daz du dich an dem crütz neigtest zu ͦ dem gu ͦ ten schacher und du dem din ewig rich uff det und swert, er so ᵉ lt des tages bi dir ru ͦ wen in dem paradis. Herre, also neig dich all stund zu ͦ minem ewigen heil und zu ͦ aller miner liplichen notturft und neig hüt aller miner fründen und figende minne und liebe in all min begird und willen. 245 Gemahnt wird hier zunächst an die neutestamentliche Episode vom guten Schächer, der neben Christus gekreuzigt wurde. 246 Diese Szene des Karfreitagsgeschehens nun präsentiert sich auf eine Weise, die Christian Schmidt auch für weitere Beispiele aus der zeitgenössischen Gebetbuchliteratur aufzeigt, als »Rollenmodel[l] für das betende Ich«, ja geradezu als »Dialogskript«, 247 das dem Leser erlaubt, selbst in die Position des Schächers einzutauchen und einen vergleichbaren Erweis göttlicher Gnade zu erwünschen. Dass Christus sich zu dem gekreuzigten Schächer neigte, plausibilisiert in einer derartigen Logik der Immersion in biblisch vorentworfene und erfahrungshaft entfaltete Textumgebungen und Sprecherrollen eine analoge Zuwendung an den Betenden, die 243 Im Sinne Berndt Hamms unterstützt der Text so als Hilfsmedium einen Akt der Partizipation der Betenden an einer »Gnadenmedialität erster Ordnung«, in der Gott »durch Inkarnation und Passion und damit durch das Medium der Leibhaftigkeit des Erlösers in innigste leiblich-seelische Kommunikation zu den Menschen aller Zeiten« tritt (Hamm 2009, S. 27). 244 Roy Hammerling: Introduction. Prayer - A Simply Complicated Scholarly Problem, in: A History of Prayer. The First to the Fifteenth Century, hg. v. Dems., Leiden/ Boston 2008 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 13), S. 1 - 27, hier S. 10. 245 »Herr Jesus Christus, ich erinnere dich daran, dass du dich am Kreuz zu dem guten Schächer neigtest und ihm dein ewiges Reich eröffnetest und versprachst, er solle am gleichen Tag bei dir im Paradies ruhen. Herr, genauso neige dich auch jederzeit zu meinem ewigen Heil und zu allen meinen leiblichen Bedürfnissen und neige heute die Liebe und Zuneigung aller meiner Freunde in all mein Wünschen und Wollen«, Wiederkehr 2013, S. 357. 246 Die entsprechende Stelle im Lukasevangelium berichtet: et dicebat ad Iesum Domine memento mei cum veneris in regnum tuum et dixit illi Iesus amen dico tibi hodie mecum eris in paradiso (»Und er sagte zu Jesus: › Herr, erinnere dich an mich, wenn du in dein Königreich kommst! ‹ Und Jesus sagte ihm: › Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein«, Lc 23,42 f.). 247 Christian Schmidt: Andacht und Identität. Selbstbilder in Gebetszyklen der Lüneburger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents, in: Identität und Gemeinschaft. Vier Zugänge zu Eigengeschichten und Selbstbildern institutioneller Ordnungen, hg. v. Mirko Breitenstein u. a., Berlin 2015 (Vita regularis. Abhandlungen 67), S. 125 - 148, hier S. 126 f. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 83 <?page no="84"?> gleichzeitig als »äußerliche, körperliche Nähe« des Herabbeugens wie auch als Teilhabe am durch die Passion in die Welt gekommenen Heil verstanden wird. 248 Frömmigkeitsgeschichtlich steht der Text darin im Zusammenhang einer zeitgenössischen Passionsverehrung, die ihr Augenmerk auf das Leiden des Gottessohnes und damit auf die Menschlichkeit Christi richtete. Diesbezüglich vermerkt Ulrich Köpf eine »zunehmende Praxis meditativen Umgangs mit der Passion Christi« ab dem 13. Jahrhundert, die sowohl eine ins Detail gehende »inhaltliche Erweiterung der Passionserzählung« wie auch eine »Intensivierung der durch die Meditation erzeugten Affekte« umschloss. 249 Das Jesusgebet aus dem Hermetschwiler Gebetbuch gliedert sich insofern in diese Entwicklung ein, als dass es die Schmerzen und Wunden Christi, nicht das in Früh- und Hochmittelalter noch zumeist im Vordergrund stehende Bild des richtenden Weltenherrschers evoziert. 250 Auch die Bitten des Gebetstextes sind entsprechend an den Gekreuzigten gerichtet, dessen menschliches Leiden die jeweils mit ich manen dich eingeleiteten Memento- Elemente dem Leser gegenwärtig machen. Aus dieser über den Text hergestellten Anschauung der Kreuzigung heraus scheint es möglich, einerseits für das eigene Seelenheil und um Beistand in irdischen Dingen sowie andererseits auch um eine Beziehung gegenseitiger christlicher Nächstenliebe zu den Mitmenschen zu bitten. Diese Doppelbitte wird, wenn auch in etwas abgewandelten Formulierungen, weitgehend sinngleich in allen fünf Abschnitten des Textes wiederholt. Am ausgeschmücktesten ist sie in der finalen Passage des Gebets, die zunächst an Christi Kreuzestod erinnert und dabei die Worte des Johannesevangeliums (»er neigte sein Haupt und gab seinen Geist hin«, Io 19,30) 251 in beinahe ekphrastischer Weise aufgreift: Herre Iesu Christe, ich manen dich, daz du din minneklich gotlich ho ᵘ bt neigtest uf din verwundoten achslen zu ͦ einem sicher wortzeichen eins volkomenen su ͦ ne zwüschent got dem vatter und dem ellenden sünder. Herre min, ich bit dich, daz du dich hütt und iemer neigest zu ͦ aller miner notdurft sel und libes und neig alle stund aller menschen hertz und gemu ᵉ t zu ͦ aller miner liebe und notturft, min got 248 Wiederkehr 2013, S. 156. Wiederkehr zeigt auf, wie »das Amplexus-Motiv der bernhardinischen Passionsandachten, bei der die körperliche, konkrete Nähe von Bedeutung ist« (ebd. S. 150), diesen Gebetstext informiert haben dürfte: »Jesus neigt sich dabei mit offenen Armen vom Kreuz hinunter zum betenden Bernhard und umarmt diesen« (ebd.), was der »Bitte nach dem Neigen Jesu zu der Bittenden« (ebd., S. 151) im Hermetschwiler Gebetbuch entspricht. 249 Ulrich Köpf: Art. Passionsfrömmigkeit, in: TRE 27 (1997), Sp. 722 - 764, hier Sp. 728. 250 Dazu fasst Peter Dinzelbacher zusammen: »Wollte man den Gegensatz zwischen dem dominierenden Christusbild des frühen und dem des späten Mittelalters in einem Satz formulieren, so liegt er darin, dass Christus sich vom Herrscher zum Opfer wandelte«. Peter Dinzelbacher: Christus als Schmerzensmann, in: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd. 2: Mittelalter, hg. v. Inge B. Milfull u. Michael Neumann, Regensburg 2004, S. 200 - 225, hier S. 203. Palmer 2020 zeichnet dagegen ein differenzierteres Bild des spätmittelalterlichen Spektrums an Gebeten und Andachten zu »Christ in his humanity« (ebd., S. 115), das neben einem »focus on bitterness and pain« (ebd.) auch z. B. Texte umfasst, die auf »understanding the passion in a salvation history context« (ebd., S. 104) abzielen. Grundsätzliche Stationen der sich im Hochmittelalter ereignenden Entwicklung zu einer derartigen Passionsfrömmigkeit werden aufgezeigt und untersucht bei Rachel Fulton: From Judgment to Passion. Devotion to Christ and the Virgin Mary, 800 - 1200, New York 2002. 251 inclinato capite tradidit spiritum. 84 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="85"?> und min herre, und neig din verwundetes ho ᵘ bt zu ͦ miner siglosen sele im ellenden dot und heil min sele vor allen den wunden, die an min sele ie gevielen. In gotes namen. Amen. 252 Wenn das Gebet hier in der narratio den sterbenden Menschenkörper des Gottessohns aufruft, so verweist es zugleich auf die menschheitserlösende Wirkung des Kreuzestods, der für die Gläubigen eine Wiederaussöhnung Gottes mit dem durch den Sündenfall gezeichneten Menschengeschlecht bedeutet, 253 und ruft außerdem, charakteristisch für Passionsgebete und -andachten, »das Bild des Schmerzensmannes vor den inneren Augen des Beters auf«. 254 Tatsächlich durchbricht der Text dabei drastisch die temporalen Grenzen zwischen dem geschildertem Heilsereignis der Vergangenheit, der Jetztzeit des Betens und der Zukunft des Betenden, wenn Christus aufgefordert ist, sein verwundetes ho ᵘ bt dem Betenden in dessen eigener Sterbestunde zuzuneigen. 255 Das wichtigste Ereignis der Heilsgeschichte gerät so ebenso zur inneren Gegenwärtigkeit wie zur zukünftigen Verheißung, in die der betende Mensch im vom Text entworfenen Gespräch mit Christus immergiert. Die dabei vergegenwärtigten Ereignisse sind ebenso mit den inneren Sinnen wahrnehmbar wie als sinnfällige wortzeichen zu verstehen. Jenes »intensive Aufgehen in Bedeutung«, das Hartmut Bleumer als Kernmerkmal immersiver Lektüreerlebnisse beschreibt, 256 ergibt sich hier gerade im Zusammenspiel von präsentischen und zeichenhaften Aspekten des Betens. Zusammengefasst lassen sich derartige immersive Lektüreangebote spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte als Medialisierung in zweifache Richtung fassen. Zum ersten setzt sich der betende Mensch, indem er sich mit einem spezifischen Rollenangebot des Textes identifiziert und in diesem Rahmen zum Sprecher, Betrachter oder Akteur wird, in eine kommunikative Beziehung zum Heiligen. Dies entspricht weitgehend einer Unterstützung jener vertikalen Hinkehr des Menschen zur Transzendenz, die das Gebet ob seiner rhetorischen Gestaltung wie oben ausgeführt vorformt. Hierin erscheint die Schrift als Hilfsmedium einer Frömmigkeitspraxis, die in der Hoffnung auf Partizipation an der Gnade Gottes erfolgt. 257 Zusätzlich jedoch entfaltet sich auch eine gewissermaßen horizontale Vermittlung zwischen Lesepublikum und Text. So bietet das Gebet eine immersive Lektüre an, die den betenden Menschen in eine sprachlich vorentworfene 252 »Herr Jesus Christus, ich erinnere dich daran, dass du dein liebliches göttliches Haupt auf deine verwundeten Schultern herabneigtest zu einem sicheren Wortzeichen einer vollständigen Aussöhnung zwischen Gottvater und dem armen Sünder. Mein Herr, ich bitte dich, dass du dich heute und stets zu allen meinen leiblichen und seelischen Bedürfnissen herabneigst, und neige jederzeit aller Menschen Herz und Sinn zu all meiner Liebe und meinen Bedürfnissen, mein Gott und mein Herr, und neige dein verwundetes Haupt zu meiner unterlegenen Seele im armen Tod und heile meine Seele von all den Wunden, die meine Seele je erlitt. In Gottes Namen. Amen«, Wiederkehr 2013, S. 357. 253 So versteht die typologische Bibelauslegung des Mittelalters Christus oftmals als › zweiten Adam ‹ , dessen Selbstopfer den göttlichen Zorn ob der Verfehlungen des ersten Menschen stillt und somit einen Neubeginn im Verhältnis zwischen Gott und Mensch herbeiführt; vgl. Angenendt 2009, S. 209 u. 216. 254 Thali 2009, S. 261. 255 Hier scheint wieder das aus der bernhardinischen Tradition stammende Amplexus-Motiv, in dem sich Christus vom Kreuz zu dem Gläubigen herabneigt, im Hintergrund zu stehen. Vgl. dazu die Ausführungen oben sowie das Beispiel für ein entsprechendes Andachtsbild des 15. Jahrhunderts bei Hamm 2009, S. 35. 256 Bleumer 2012, S. 9. 257 Siehe dazu Hamm 2009; sowie die Diskussion oben, Kap. I.3. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 85 <?page no="86"?> Gesprächssituation versetzt, heilswirksame Gegenstände präsent und mit den inneren Sinnen wahrnehmbar macht, die Affekte stimuliert und Glaubensinhalte durch Anschauung ebenso bezeugt wie vermittelt. Zentrale Bedeutung hierfür tragen, wie das Beispiel aus dem Hermetschwiler Gebetbuch in seinem Fokus auf die Inkarnation und Passion illustriert, Rückgriffe auf vorgängige und zumeist biblische Modelle, die im Gebet erneut zur geschauten Gegenwart werden und auf Heilswirkungen in der Seele ebenso wie in der äußeren Welt der Gläubigen vorausdeuten. So bittet der oben analysierte Text abschließend einerseits darum, dass das Erlösungswerk der Osterereignisse auch der Seele des Betenden zuteilwerde, und spiegelt dabei andererseits die zuvor aufgerufenen Wunden Christi in den inneren Wunden des sich Christus annähernden Menschen: neig din verwundetes houbt [ … ] und heil min sele vor allen den wunden, die an min sele ie gevielen, heißt es dort. Wie sehr sich dieser Text mit der Erwartung verbindet, dass sein betender Vollzug schließlich extratextuell einen Effekt zeitige, belegt die Rubrik, die ihm im Engelberger Gebetbuch vorangestellt ist. Dort ist er überschrieben mit den Worten: War v´ber man dis spricht, daz beschicht. 258 Das Verhältnis von Vorbildung und Nachbildung, von Gegenwart und Zeichenhaftigkeit, von Verheißung und Erfüllung, das Gebete und Andachten sowohl in ihrer vertikalen Bezugnahme auf das Heilige als auch horizontal in der immersiven Wirkung des Textes auf den Leser entwerfen, lässt sich, so schlage ich im folgenden Unterkapitel vor, am ehesten unter den Begriffen von Figuralität und Figuration fassen. 258 Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 155, fol. 131v. 86 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="87"?> 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration Geistliche Texte zum Beten und zur Andacht, so kann ein Kernpunkt der vorangegangenen Überlegungen zusammengefasst werden, wirken darauf hin, ihre Rezipierenden medial vermittelte Gegenstände und Ereignisse innerlich so wahrnehmen zu lassen, dass sie dabei zu einer immersiven Erfahrungswirklichkeit geraten, die sowohl sinnliche als auch zeichenhafte Qualität besitzt. Eine solche horizontale Vermittlungsebene, auf der ein Text ästhetische Erfahrung stimuliert, die sich affektiv ebenso wie perzeptiv niederschlägt, konvergiert zugleich mit einer vertikalen, oftmals rhetorisch als Apostrophe gestalteten Orientierung des frommen Lesepublikums auf eine Transzendenz, die jenseits des Verstehens, der Wahrnehmung und der Möglichkeiten sprachlicher Repräsentation liegt. Auf beiden Ebenen greifen geistliche Übungen dabei einerseits regelmäßig auf biblische Vorlagen (z. B. die Psalmen, das Hohelied oder das Herrengebet) zurück oder »beziehen [ … ] Rollenmodelle für das betende Ich aus dem biblischen Prätext«. 259 Andererseits sind sie angelegt auf eine diese Vorbilder erfüllende Frömmigkeitspraxis, an deren Fluchtpunkt eine Teilhabe an dem durch die Transzendenz gnadenhaft in die Immanenz vermittelten Heil steht. 260 Sowohl auf der horizontalen ( › Text - Leser ‹ ) als auch auf der vertikalen ( › Immanenz - Transzendenz ‹ ) Medialisierungsachse ergeben sich folglich einzeltextspezifisch je eigen konzipierte und miteinander verflochtene Verhältnisse von Verheißung und Erfüllung bzw. Vor- und Nachbildung. In Anlehnung an die vieldiskutierten Theoretisierungen Erich Auerbachs möchte ich vorschlagen, hier von Dynamiken der Figuration zu sprechen. 261 Zugrundeliegender Text, äußerer und innerer Vollzug, immersive Lektüre, apostrophische Hinkehr zum Heiligen sowie eine davon erhoffte Heilswirkung erscheinen aus dieser Perspektive als jeweils für sich reale figurae von Andacht und Gebet, die zugleich aber in komplexen Verweisbeziehungen von Vorausdeutung und Ausführung stehen. Den diese Überlegungen fundierenden Begriff des Figuralen entwickelte Auerbach zunächst ausgehend von einem Blick auf das semantische Spektrum von figura in der griechischen und lateinischen Literatur der Antike und mit besonderem ideengeschichtlichem Augenmerk auf typologische Verfahren der Schriftexegese in der Patristik. Bereits bei Varro, so Auerbach, löse sich das etymologisch vom Verb fingere ( › formen, gestalten, bilden, darstellen ‹ ) herstammende Lexem allmählich »von seinem Ursprung, dem engeren Begriff des plastischen Gebildes«. 262 Bei Cicero erweitere es sich zum »sinnlichen Gestaltbegrif[f] figura«, der sowohl all das meine, was zumindest scheinbar den Sinnen zugäng- 259 Schmidt 2015, S. 126. 260 Das heißt ein durch Partizipations- und Hilfsmedien gewährleisteter Zugang zur »nahen Gnade« nach dem Verständnis der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie (Hamm 2009, S. 21). 261 Einen wichtigen Anstoß hierzu gaben mir die in diese Richtung gehenden Ausführungen bei Largier 2018, insb. S. 55 f. 262 Erich Auerbach: Figura [zuerst 1938], in: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des Figura- Aufsatzes von Erich Auerbach, hg. v. Friedrich Balke u. Hanna Engelmeier, Paderborn 2 2018, S. 121 - 188, hier S. 122. <?page no="88"?> lich werde, als auch als »technischer Ausdruck der Rhetorik« für Verfahren der sprachlichen Veranschaulichung und Stilisierung diene. 263 In den Werken der Kirchenväter, beginnend mit Tertullian, sieht Auerbach schließlich eine »eigentümlich neue Bedeutung des Wortes« aufkommen. 264 Nun nämlich bezeichne figura vornehmlich eine sich in der historischen Realität manifestierende »Vorausdeutung zukünftiger Ereignisse«, meine also »eine Realprophetie oder vorausdeutende Gestalt des Zukünftigen«. 265 Dementsprechend läuft ein christlich-hermeneutisches Verfahren, das auf einer solchen Annahme eines realprophetischen Potentials der Phänomene des Wirklichen fußt, primär auf ein Schriftverständnis hinaus, das, wie Friedlich Ohly hervorhebt, eine »typologische Entsprechung zwischen Altem und Neuem« Testament annimmt und herauszuarbeiten sucht. 266 Anders als Ohly betont Auerbach diesbezüglich jedoch nicht vornehmlich den Zeichencharakter des Typus, der, so Hennig Brinkmann, in der Bibelexegese des Mittelalters als »ein Fall (meist der Grundfall) der Allegorie« gilt, 267 sondern legt besonderes Gewicht auf die als Phänomen einer Sache erfahrbare Wirklichkeit des Figuralen: 268 Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere hingegen das eine einschließt oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide [ … ] in dem fließenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist, und nur das Verständnis, der intellectus spiritualis [ … ], ist ein geistiger Akt; ein geistiger Akt, der sich bei jedem der beiden Pole mit dem gegebenen oder erhofften Material des vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Geschehens zu befassen hat, nicht mit Begriffen oder Abstraktionen [ … ]. 269 Figuren in diesem Sinne sind folglich zugleich aus eigener Kraft wirklichkeitsmächtig und weisen über sich hinaus auf andere, ebenfalls wirklichkeitsmächtige Gegenstände, Personen oder Ereignisse. Dabei lassen sie sich einerseits raumzeitlich als reale Begebenheiten verorten, transzendieren diese Verortung unterdessen jedoch auch in einem Zusammenspiel von Verheißung und Erfüllung. Auf die oben diskutierten Dynamiken von Gebet und Andacht, vorgängige Texte und vergangene Geschehnisse in im gegenwärtigen Vollzug wirksame Erfahrung zu überführen, die wiederum ein künftiges Wirken des Heils verspricht, scheint ein derartiger Begriff der Figuration in besonders treffender Weise applizierbar. 263 Ebd., S. 130 f. Letzteres bezieht sich auch auf jene rhetorischen Mittel von Metapher, Metonymie und Allegorie, die ich mit Michel 1987 unter dem Stichwort › Bildrede ‹ einordne, ist tendenziell aber weiter gefasst. So sei, wie Auerbach ausführt, beispielsweise bei Quintilian »Figur [ … ] jede Formung der Rede, die vom gewöhnlichen und nächstliegenden Gebrauch abweicht« (ebd., S. 136). 264 Ebd., S. 139. 265 Ebd., S. 139 f. 266 Friedrich Ohly: Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung (1966), in: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 312 - 337, hier S. 318. Siehe hierzu auch detailliert Friedrich Ohly: Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: Typologie, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a. M. 1988, S. 22 - 63. 267 Brinkmann 1980, S. 253. 268 Zu dem bei Auerbach zugrundeliegenden Wirklichkeitsbegriff siehe Gabriel 2015; Engelmeier 2018; sowie die Ausführungen oben auf S. 24 f. und 74 f. 269 Auerbach 2018, S. 164. 88 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="89"?> Dabei verspricht es weitere Klärung, einige Ebenen, die in Auerbachs Figura-Begriff enggeführt sind, etwas genauer auszudifferenzieren. Christian Kiening betont in einem Perspektivierungsvorschlag, der auch für diese Untersuchung treffend scheint, besonders eine semiotische, eine ästhetische sowie eine mediale Dimension des Begriffs. 270 So stelle sich zunächst die Frage, »inwiefern figura als Zeichen fungiert bzw. Zeichen umfasst, die komplexe Referenzen eröffnen: auf das eine Signifikat Christi, aber auch auf verschiedene in der Vergangenheit wie der Zukunft gelegene Ereignisse, Personen und Situationen«. 271 Auerbach selbst blieb in seinem Essay diesbezüglich betont ambig. Zwar rechnet er die »Figuraldeutung«, insofern sie »ein Ding für das andere setzt, indem eines das andere darstellt und bedeutet, [ … ] zu den allegorischen Darstellungsformen im weitesten Sinne«, stellt aber im gleichen Zuge auch fest, sie sei von »den meisten anderen uns sonst bekannten allegorischen Formen durch die beiderseitige Innergeschichtlichkeit sowohl des bedeutenden wie des bedeuteten Dinges klar geschieden«. 272 Die Figur stellt nach diesem Verständnis einerseits ein Zeichen dar, das auf etwas anderes referiert, besteht aber auch jenseits dieser Referenzialität als wirkmächtige (in der Regel historische) Gegebenheit. Die Rezeption des »Figura«-Aufsatzes, die sich primär im angloamerikanischen Raum abspielte, hob lange Zeit vornehmlich auf diese semiotische Dimension des Figuralen ab. Man »hatte sich darauf eingestellt«, so Niklaus Largier, »den Begriff der figura fast ausschließlich auf die Figuraltypologie zu beziehen und die Typologie primär als eine Technik der Lektüre zu sehen«, 273 die zuerst ein Verständnis des Alten Testaments als Vorausbedeutung des Neuen ermöglichte und schließlich darüberhinausgehend auch das säkulare Geschichtsverständnis des Westens prägte. 274 Frank Ankersmit beispielsweise versteht Auerbachs Essay in erster Linie als Vorschlag einer Methodik der Interpretation historischer Ereignisse, die auf der Annahme basiere, dass »only a close and detailed scrutiny of an actual, concrete historical event can give us access to the meaning of the other event to which it is › figurally ‹ related«. 275 Prominent widmete sich auch Hayden 270 Vgl. Christian Kiening: Einleitung, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013 (Philologie der Kultur 8), S. 7 - 20, hier S. 15 f. 271 Ebd., S. 16. 272 Auerbach 2018, S. 164 f. 273 Niklaus Largier: Zwischen Ereignis und Medium. Sinnlichkeit, Rhetorik und Hermeneutik in Auerbachs Konzept der figura, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013, S. 51 - 70, hier S. 52. 274 Friedrich Balke trennt deswegen bei Auerbach »zwei Dispositive, ein geschichtstheologisches und ein geschichtsphilosophisches« wobei ersteres im Figura-Aufsatz entfaltet werde, letzteres dahingegen sowohl Auerbachs späteres und bekannteres Mimesis-Buch als auch seine Rezeption geprägt habe (Friedrich Balke: Mimesis und Figura. Erich Auerbachs niederer Materialismus, in: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des Figura-Aufsatzes von Erich Auerbach, hg. v. Friedrich Balke u. Hanna Engelmeier, Paderborn 2 2018, S. 13 - 88, hier S. 16). Der Unterschied zwischen diesen beiden Dispositiven mache sich vor allem daran fest, dass für die geschichtsphilosophische Figuraldeutung eine »immanente Struktur der literarischen Sinngebung« entscheidend sei, die historische Ereignisse in ein Entwicklungsverhältnis setze, während die geschichtstheologische Figuraldeutung ein Ereignis in Zusammenhang mit der göttlichen Ordnung bringe »und sich daher um seine immanente Verknüpfung mit weiteren Ereignissen, die es auslösen und die es ermöglicht, nicht weiter kümmern muss« (ebd., S. 25). 275 Frank R. Ankersmit: Historical Representation, Stanford 2001, S. 204. Vgl. dazu auch Frank R. Ankersmit: Why Realism? Auerbach on the Representation of Reality, in: Poetics Today 20.1 (1999), S. 53 - 75. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 89 <?page no="90"?> White den geschichtsphilosophischen Implikationen der Figuraldeutung und hob dabei neben ihrer teleologischen Ausrichtung auf eine je noch kommende Erfüllung der figura ebenfalls ihre Qualität als interpretatives Verfahren der Geschichtsbetrachtung hervor, bei dem »the principal weight of meaning on the act of retrospective appropriation of an earlier event by the treatment of it as a figure of a later one« liege. 276 Für meinen Blick auf figurale Elemente und Rezeptionsangebote in der Gebetbuchliteratur sind derlei semiotische Aspekte hauptsächlich insofern von Belang, als dass sich durch sie erstens eine Vorbildungsbeziehung zwischen einer vergangenen Sache, ihrer sprachlichen Darstellung im und als Text sowie schließlich einer diese Sache in der Vorstellung eines Lesepublikums aktualisierenden Lektüre ergibt. Zweitens eröffnet die Zeichendimension des Figuralen eine Perspektive, die es erlaubt, die von Gebets- und Andachtstexten stimulierten Momente innerer Wahrnehmung und frommen Handelns als nachbildende Vergegenwärtigungen vorgängiger Verheißungen zu verstehen, die von den lesenden Gläubigen erinnert, affirmiert, und in ihrem Versprechen der Erfüllung aktualisiert werden. Als Präfigurationen künden derartige Realisierungen frömmigkeitspraktischer Texte von einem noch kommenden Heil, das wiederum seine volle Signifikanz erst im einschließenden Rückbezug auf das vom Text vergegenwärtigte Vorangegangene aufzuzeigen vermag. Freilich aber reduziert sich das Figurale hierbei nicht zur Zeichenstruktur, sondern bildet, wie Auerbach wiederholt hervorhebt, »etwas Wirkliches, Geschichtliches, welches etwas anderes, ebenfalls Wirkliches und Geschichtliches darstellt und ankündigt«. 277 John David Dawson bringt dies auf eine Formel: »Auerbach ’ s characterizations of figural reading do not distinguish things and meanings [ … ], but instead describe a relationship between things.« 278 Als Sache, die sich nicht auf ihre Referenzfunktion beschränkt, geht die figura nicht im Allegorischen auf, sondern besitzt einen »energische[n] Realismus«, 279 der als ihre ästhetische Dimension verstanden werden kann, durch die sie ein »erscheinungshafte[s] Moment« entfaltet, das als »sinnliche Darstellung« bzw. als Wirklichkeitsphänomen auftritt. 280 Insbesondere Niklaus Largier hat in der jüngeren Forschung wiederholt auf diese Seite des Figuralen aufmerksam gemacht und sie dabei auch als Verständniszugang zur geistlichen Literatur des Mittelalters angewandt. Unter dieser Nuancierung ist figura »nicht Spiegel eines historischen Ereignisses und Medium eines geistigen Sinns, sondern die Ausdrucksform, unter der das historische Ereignis in der Lektüre › realistisch ‹ - als absorbierendes Wahrnehmungsereignis - Gestalt annimmt, ohne dabei zunächst abstrahierender Spiritualisierung preisgegeben zu werden.« 281 Die horizontalen und vertikalen Vermittlungsebenen geistlicher Übungen, die ich in den beiden vorangegangenen Unterkapiteln als immersive Lektüreangebote sowie Vorzeichnungen einer inneren Hinkehr zur Transzendenz aus einer Position der Immanenz heraus beschrieben habe, 276 Hayden White: Figural Realism. Studies in the Mimesis Effect, Baltimore/ London 1999, S. 90. 277 Auerbach 2018, S. 140. 278 John David Dawson: Christian Figural Reading and the Fashioning of Identity, Berkeley/ Los Angeles/ London 2001, S. 87. 279 Auerbach 2018, S. 142. 280 Kiening 2013, S. 15. 281 Largier 2013, S. 53. In dieselbe Richtung geht auch der Aufsatz von Largier 2018b. Hier spricht Largier in Anlehnung an Auerbach von der figura als etwas › Konkretem ‹ . 90 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="91"?> können demgemäß auch als unterschiedlich orientierte Effekte einer Figurationsdynamik geistlicher Übungen begriffen werden. Diese Dynamik wird auf der einen Seite von einer figuralen Darstellung der Heilsereignisse und -gegenstände im und durch den Text angestoßen, auf der anderen Seite resultiert sie wiederum in als wirklichkeitshaft erfahrenen Figurationen, die sich sowohl in der je inneren Wahrnehmung des Lesers manifestieren als auch in der Praxis des Vollzugs und, zumindest der Hoffnung nach, in der Realität des Künftigen, d. h. von Text und Frömmigkeitshandeln Präfigurierten. Die »Figuralwahrnehmung des sprachlichen Ausdrucks« kommt, so Largier, hierbei nicht einem Erkennen des Gleichnishaften gleich, sondern bildet vielmehr bloß die » › Stütze ‹ der Allegorese« und »gewissermaßen ihr immanentes, irreduzibles und immer auch resistentes materielles Fundament«. 282 In seinem bereits 1929, also noch vor dem Figura-Aufsatz, erschienenen Buch Dante als Dichter der irdischen Welt hatte Auerbach dies als »Evidenz der poetischen Wirklichkeit« umschrieben, der eine »unerhörte Konkretheit und Intensität« eigne. 283 Sein ungleich bekannteres Hauptwerk Mimesis findet hierfür später die Titelformulierung › dargestellte Wirklichkeit ‹ . 284 Bereits der › Ausdruck ‹ - so ein Schlüsselwort Auerbachs 285 - eines Texts wird dabei nicht als Referenz oder Zeichen für etwas verstanden, sondern vielmehr als etwas beim Lesen Wahrgenommenes, das durch »Konkretheit, Intensität, Sinnlichkeit, Affekt, Partikularität, irreduzible Vielheit« ästhetische Erfahrung produziere. 286 Aus dieser Sichtweise eignet sowohl der rhetorischen Form von Gebets- und Andachtstexten mitsamt ihrer oben unter dem Stichwort der Bildrede zusammengefassten Elemente als auch ihrer Realisierung in der religiösen Praxis und dem Gegenwärtig-Werden des von ihnen Evozierten in der immersiven Lektüre eine je eigene figurale Qualität. Diese kann mit Hanna Engelmeier als eine »Eigenmächtigkeit des Gegenstandes« aufgefasst werden, 287 die durch die Signifikanz dieses Gegenstandes nicht geschmälert oder aufgelöst wird. 288 Geistliche Übungen geraten so zu etwas › Konkretem ‹ , »das sich mit partikularen Momenten nicht der Referenz, sondern der Attraktion und Absorption im Akt des Lesens verbindet«. 289 Zugleich aber ist das, was auf diese Weise konkret erscheint, zumeist als Vergegenwärtigung eines Vergangenen zu verstehen, das über den Gebrauch des Textmediums in die Gegenwart des Rezipienten vermittelt wird. Hier zeigt sich eine mediale Dimension des Figuralen, das, so Kiening, ein »Mittel [verkörpert], veritas sinnlich erscheinen zu lassen, andererseits eine Vermittlung, in der das Abwesende und Kommende schon anwesend ist«. 290 Bei Auerbach wird diese vermittelnde Wirkung des Figuralen, das dennoch nicht allein einem Medium gleichkommt, durch das etwas anderes medialisiert wird, immer wieder vor allem in Bezug auf ihre Temporalität und Historizität skizziert. Fürs Erste stelle die »prophetische Figur« des Alten Testaments bereits bei Tertullian 282 Largier 2013, S. 60. 283 Auerbach 2001, S. 212 u. 21. 284 Vgl. Auerbach 1946. 285 Vgl. dazu Largier 2018b, S. 45. 286 Ebd. 287 Engelmeier 2018, S. 110. 288 In diese Richtung gehend stellt Dawson fest: »the spiritual character of figural interpretation does not alter its concern for real, historical entities« (Dawson 2001, S. 95). 289 Largier 2018b, S. 45. Auf den Begriff des Konkreten gehe ich unten in Kap. II.1 noch genauer ein. 290 Kiening 2013, S. 16. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 91 <?page no="92"?> vorrangig eine »sinnlich-geschichtliche Tatsache« dar, die »keineswegs [ … ] als bloße Allegorie« verstanden werden dürfe, sondern »ebenso geschichtliche Wirklichkeit wie das durch sie Prophezeite« sei. 291 In seiner Verankerung in vergangenen Ereignissen, z. B. der typologisch als Präfiguration der Passion Christi gedeuteten Bindung Isaaks (Gen 22,1 - 19), erscheint das Figurale somit raumzeitlich eingebettet und fixiert. Mit Augustinus stellt sich für Auerbach jedoch eine Ausweitung der Figuraldeutung ein, die ein zweipoliges Verhältnis von Figur und Erfüllung ersetze durch einen »dreistufigen Vollzug«, der nicht nur vergangene Ereignisse in eine derartige Beziehung setze, sondern aus ihnen zudem eine »neue Verheißung« ableite, die »schließlich das künftige Eintreffen dieser Ereignisse als endgültige Erfüllung« verspreche. 292 Hier nun scheint »das Jederzeitliche der Figuren« auf, 293 in dem sie sich ausdruckshaft in Gegenwart und Zukunft vermitteln. Durch mediale Formen wie den Gebetstext oder die schriftliche Meditationsübung beispielsweise treten vergangene Heilsgeschehnisse in die Gegenwart der Lektüre über und figurieren sich darin stets neu als Verheißungen des Künftigen. Niklaus Largier verortet dementsprechend »die Figur zwischen Ereignis und Medium« und legt besonderes Gewicht auf ihre sinnlich-wahrnehmungsformende Kraft, die sich auf Seiten der Wahrnehmenden als Wirklichkeitsphänomen niederschlägt. 294 Hierdurch kommt dem Figuralen eine Dynamik zu, die über die erinnernde Betrachtung und Deutung eines zeitlich entfernten und medial repräsentierten Geschehnisses hinausgeht. Vielmehr ereignet sich hierin punktuell das, was schon immer einstmalig, ewig und kommend ist - und es sein wird. Ein Beispiel aus dem weiten Bereich der Tagzeitentexte und -gedichte des Mittelalters illustriert auf prägnante Weise, wie die Gebetbuchliteratur des ausgehenden Mittelalters auf entsprechende Prozesse der Figuration abhebt. Tagzeitentexte, so Matter, zeichnen sich zunächst dadurch aus, »dass sie nach dem temporalen Schema der kanonischen Gebetszeiten gegliedert sind«, 295 den Tagesablauf der Betenden also siebenteilig in Matutin, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet untergliedern. Bereits dies ist als Erfüllung einer biblischen Präfiguration zu verstehen, heißt es doch in den Psalmen: Septies in die laudem dixi tibi (Ps 118,164). 296 Als wirkenden Vollzug dieses Bibelworts versteht die Benediktsregel das monastische Offizium. 297 Das daran angelehnte nichtliturgische Tagzeitengebet des Mittelalters, das auch Laien zugänglich war, folgte ebenfalls den Worten des Psalmisten, die so in der Frömmigkeitspraxis immer wieder zur historischen Realität des religiösen Handelns wurden. 291 Auerbach 2018, S. 141. 292 Ebd., S. 152. 293 Ebd., S. 154. 294 Largier 2013, S. 67. Dieser Zwischenstatus begründet sich für Largier im weitesten Sinne rezeptionsästhetisch. Die Figur sei nämlich »nicht das Ereignis selbst, sondern die sinnlich-konkrete Ausdrucksform, in der sich dieses in der Erzählung in Ähnlichkeits- und Unähnlichkeitsbeziehungen niederschlägt, welche die Wahrnehmung bestimmen. Die Figur ist zunächst kein Medium, obwohl sie immer dazu zu werden vermag, da sie - als Wahrnehmungsereignis - noch ganz im Partikularen steckt. Der Begriff des Mediums würde gerade dieses Moment verschwinden lassen« (ebd.). 295 Matter 2021, S. 27. 296 »Siebenmal am Tag habe ich dir Lobpreis gesagt«. 297 Vgl. Benediktsregel, S. 66; sowie die eingehenderen Ausführungen oben, Kap. I.2. 92 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="93"?> Darüber hinaus aber regen Tagzeitentexte des Spätmittelalters auch zur Betrachtung von Heilsereignissen an, die der Gläubige über Momente der Hinkehr im Vollzug und der immersiven Lektüre mit dem eigenen Tagesablauf überblenden und somit in die je persönliche Gegenwart überführen kann. Vergangene Ereignisse finden auf diese Weise ihren figuralen Ausdruck im Text, der sich beim Lesepublikum zu konkreter Wahrnehmung kristallisiert. Unterschiedliche Geschehnisse können dergestalt medial heraufbeschworen werden. Unter den von Matter erschlossenen Texten finden sich beispielsweise Tagzeiten zu Marias Mitleiden unter dem Kreuz, zum Leben der heiligen Barbara oder zur Betrachtung der Werke Gottes. 298 Auch die unten noch genauer betrachtete Constructio des Dominikus von Preußen bietet eine die Zeitebenen von Tag, Woche und Jahr verschmelzende Betrachtung des Marienlebens, der christlichen Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen sowie des Leidens Christi an. 299 Letzterem Meditationsgegenstand ist auch ein an dieser Stelle aufschlussreicher, gereimter Text gewidmet, der sich in zwei in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrten Handschriften findet, 300 deren ältere (München, BSB, Cgm 87) nach Einschätzung von Karin Schneider wohl noch aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammt und der Schreibsprache nach im südbairischen Dialektraum entstanden ist. 301 In insgesamt sieben je als Gebet für eine der Horen gestalteten Strophen ruft dieses Tagzeitengedicht, das sich in eine zeitgenössisch sowohl auf Latein als auch in der Volkssprache verbreitete Gattungstradition eingliedert, 302 die einzelnen Stationen der Passion Christi vor dem inneren Auge des Rezipienten auf und überlagert sie mit der Temporalität der Jetztzeit des Betens. Indem der Text sowohl zu Beginn als auch im weiteren Verlauf der einzelnen Abschnitte Apostrophen an den Gekreuzigten einfügt, macht er trotz der Reimform seine Verwendbarkeit als Gebet deutlich, in dessen Ich-Rolle das Lesepublikum zu immergieren angeregt ist: ze der Tertzz Herr iesu christ, ze der tertzz du durch uns geslagen / pist: an der sawl daz ward vertragen / von dir gedultickleich. / Du santest von himelreich / den iungern deinen heiligen geist, / der aller gúten ding ist ein vollaist. / Mach in durch deiner marter chraft / in unserm hertzen wonhaft / und hilf uns von seinem suzzen trost, / daz wir von unsern sunden werden erlost. / Gib uns seine 298 Vgl. Matter 2021, S. 109 - 147; S. 155 - 154. 299 Vgl. dazu die Ausführungen unten, Kap. IV.4.3; sowie die Edition dieses Texts im Appendix. 300 Es handelt sich dabei um München, BSB, Cgm 87, fol. 53v - 56v; sowie um München, BSB, Cgm 136, 197v - 201r. Der Text ist unediert. Folgend wird nach Cgm 87 zitiert. 301 Vgl. Karin Schneider: Die datierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 1: Die deutschen Handschriften bis 1450, Stuttgart 1994 (Datierte Handschriften in Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland 4,1), S. 8. Die Datierung der Handschrift gestaltet sich insofern komplex, als dass fol. 1 - 5 sowie 148 Zusätze einer auf 1442 datierenden Hand darstellen, die deutlich jünger als die Haupthand zu sein scheint. Schneider wertet diese Teile als »Ergänzungen einer zu Anfang und Ende defekten HS. aus der Mitte des 14. Jh.s« (ebd.); die Datierung des Hauptteils dürfte aufgrund der Schrift erfolgt sein. Die kleinformatige, komplett volkssprachige Pergamenthandschrift enthält neben dem behandelten Tagzeitengedicht ein längeres Marienoffizium, die Bußpsalmen samt Litanei, das Totenoffizium sowie eine Sammlung von Messformeln. Siehe dazu auch den ansonsten durch Schneider 1994 abgelösten Katalogeintrag bei Erich Petzet: Die deutschen Pergament-Handschriften Nr. 1 - 200 der Staatsbibliothek in München, München 1920 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis 5,1), S. 155 f. 302 Vgl. Nigel F. Palmer: Art. Tagzeitengedichte, in: 2 VL 9 (1995), Sp. 577 - 588. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 93 <?page no="94"?> minne, / daz unser hertz werd inne / von seiner fewcht nas, / daz wir unser sund pas, / herr, dir mugen chunden. / Wan von augen wunne / werdent tru ᵉ be hertz liecht: / der verzeich uns herr nicht. / amen 303 Auffällig ist hier die Verquickung aus vergegenwärtigendem Bericht über die vergangenen Ereignisse der Passion und des Pfingstwunders, ihrer Bindung an die Tagzeit der Terz, zu der sich die hier referierte Geißelung Christi ereignet haben soll, und ihrem als Wirklichkeitsverheißung gestalteten Rückbezug auf die Lebensrealität des Sprechers. Hierbei folgt das Tagzeitengedicht einer wirkungsästhetischen Doppelstrategie. Zum einen lässt es den betenden Menschen in die Rolle des sprechenden Ichs eintauchen und ihn das zeitlich entfernte Heilsgeschehen aus dieser Position heraus als historische Tatsache aufrufen, an die der himmlische Gesprächspartner Christus gemahnt wird und die so als Gesprächsgegenstand präsent wird. 304 Ähnlich wie in liturgischen Texten wird dabei in der ersten Person Plural aus der Perspektive eines kollektiven Wir gesprochen. 305 Zum anderen stellt diese Strophe des Tagzeitentexts über die Bitten, welche die Vergangenheit von Passions- und Apostelgeschichte als Modell der intendierten Gebetswirkung aufrufen, eine Figuralbeziehung zwischen dem Karfreitags- und Pfingstgeschehen auf der einen und der Gegenwart des Betens auf der anderen Seite her, in der diese Ereignisse innerlich nacherlebt und eine zukünftige Teilhabe an ihrer Gnadenwirkung erbeten werden. Entscheidend hierfür gestaltet sich die temporale Überblendung, die das Tagzeitengedicht zwischen der jeweiligen Passionsstation - hier der Auspeitschung - und der dazugehörigen Gebetszeit herstellt. 306 Über diese zeitliche Überlagerung ergibt sich ein Berührungspunkt, der einen Kontakt zwischen der in der Immersion in den Gebetstext Präsenz erlangenden Zeit der Kreuzigung und dem Heute des Betens ermöglicht. Dabei 303 »Zu der Terz. Herr Jesus Christus, zur Terz wurdest du für uns geschlagen: Das wurde an der Säule geduldig von dir erlitten. Du sandtest aus dem Himmelreich den Jüngern deinen Heiligen Geist, der aller Güte übervoll ist. Lasse ihn durch deine Kraft in unserem Herzen wohnhaft werden und hilf uns, dass wir durch seinen süßen Trost von unseren Sünden erlöst werden. Gib uns seine Liebe, auf dass unser Herz innig von seiner Feuchtigkeit nass werde, so dass wir unsere Sünden dir, Herr, besser mitteilen können. Denn von freudigem Anblick klaren sich trübe Herzen auf. Herr, enthalte uns dies nicht vor. Amen«, München, BSB, Cgm 87, fol. 54v - 55r. 304 Wieder steht hier die verbreitete Form des Memento-Gebets im Hintergrund, siehe dazu Achten 1987, S. 38. 305 Dazu stellt Peter Ochsenbein fest: »Gebete liturgischer Herkunft etwa sind meist in der Wir-Form gestaltet, während der private Text das Ich des Betenden bevorzugt« (Ochsenbein 1988, S. 381). Zwar handelt es sich bei dem Tagzeitengedicht um einen für das Privatgebet bestimmten Text, der allerdings schon in seiner Aufteilung nach den kanonischen Horen an der Liturgie des Offiziums orientiert ist. Daher verwundert diese weitere Anlehnung nicht. 306 Ähnlich funktioniert neben den meisten der bei Palmer 1995 aufgezählten Tagzeitengedichten auch ein in dem Traktatbündel Von einem christlichen Leben enthaltener Text (abgedruckt bei Matter 2021, S. 102 - 105), durch den »in stichwortartig-anaphorischer Reihung die Passionsereignisse den einzelnen Horen des Stundengebetes zugeordnet« werden (Matter 2021, S. 80). Dieser Liste ist ein kurzer Paratext beigeben, der ausführt, ein jeder Christ solle diese Punkte mit fleyß und mit erenst und mit iniger andacht unnd mit inigem mitleidenn und auch mit einem nachvolgenden leben dem leben Ihesu Christi alle tag, zú yeder zeit besunder, oder auff ein zeit mit einander betrachten und bedencken (ebd., S. 104). Es wird hier also freigestellt, die Tagzeiten entweder imaginativ am Stück zu meditieren oder sie tatsächlich mit den entsprechenden Zeitpunkten des eigenen Tages zu parallelisieren. Stefan Matter sieht hierin »eine Anleitung zum Tagzeitengebet für Laien« (ebd., S. 80), die sich gerade durch ihre besondere Adaptierbarkeit auszeichnet. 94 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="95"?> werden die Leiden Christi und das Pfingstwunder nicht bloß erinnert, sondern zumindest der vom Text vorgeformten Bitte nach verwirklicht, soll doch durch der marter chraft der Heilige Geist in unserm hertzen wonhaft werden. Die aufgerufenen Heilsereignisse präfigurieren somit eine Erfüllung im Kleinen, die den Betenden zuteilwerden soll. Dass Geißelung und Ausgießung des Heiligen Geistes darin sowohl zeichenhafte Züge tragen, die auf die Möglichkeit der Erlösung weisen, als auch als sinnlich-konkrete Ereignisse aufgerufen werden, die aus der Vergangenheit heraustreten und in Gegenwart und Zukunft der Betenden hereinbrechen sollen, lässt sich als ein vom Text vermittelter Prozess der Figuration im oben geschilderten Sinn fassen. Im Abschnitt dieses Tagzeitengedichts, der zur Non gebetet werden soll und den Kreuzestod Christi behandelt, wird diese Dynamik durch wiederholte Unterstreichungen der temporalen Parallelität des Ereignisses von Christi Sterben und des sich ereignenden Betens noch intensiviert: ein gepet ze der non Do man ich 307 dich zu ͦ der selben vrist, daz du dich gaebd in den grimmigen tod / dich selben durch uns in die not: / daz geschach ze non, / da ward dein geist vil schon / gefu ᵉ rt in deines vater gewalt / mit suzzem lob manickvalt. / Herr, dein tod hat himel und erd versert, / di sunn hat iren liechten schein verchert./ Daz man ich dich, herr, durch deinen pittern tot, / daz du vns helffest auz aller not. / Geruch vns, herr, staet wesen / an deinem lob, daz wir genesen / heut vnd immer mer: / dez man ich dich, lieber herr, / durch deiner pittern marter er. 308 Dadurch, dass der nun ausdrücklich als gepet bezeichnete Text betont, zu ͦ der selben vrist den Gottessohn anzusprechen, zu der er am Kreuz gestorben sei, wird eine erste Entsprechungsbeziehung zwischen der vom Text sprachlich dargelegten vergangenen und der im Gebet hergestellten gegenwärtigen Situation etabliert. In seiner Verflechtung von intensiver Bedeutung, an die Christus in Erwartung einer Einlösung des Bedeuteten gemahnt wird, und der Evokation sinnlich-konkreter Bildvorstellungen wie der sich verdunkelnden Sonne und der bebenden Erde bei der Kreuzigung scheint der Text dabei zudem jene figurale »Mischung von Wirklichkeitssinn und Spiritualität« zu etablieren, die Auerbach als Charakteristikum des europäischen Mittelalters begriff, als »so schwer zugänglich« bezeichnete und der er mit seinem Begriff der figura beizukommen suchte. 309 Denn auf der einen Seite vergegenwärtigt der Text im Sinne einer memoria passionis das vergangene Kreuzigungsgeschehen, das im immersiven Vollzug des Textes erlebbar heraufbeschworen wird und dessen Erlösungsbedeutung, daz du uns helffest auz aller not, das Tagzeitengedicht nicht nur benennt, sondern auch erbittet. Gerade diese Bitte aber markiert auch die Jetztzeit des Betens als Moment innerhalb der Heilsgeschichte, der durch den erlösenden Tod Jesu vorgebildet ist und auf eine kommende Erfüllung hofft. 307 Bei dem Wort ich liegt in München, BSB, Cgm 87, einer Handschrift, die generell viele Flüchtigkeitsfehler aufweist, eine Haplografie vor. Da die Parallelüberlieferung in München, BSB, Cgm 136, fol. 199r es enthält, wird es hier zur Gewährleistung eines sinnvollen Texts zugefügt. 308 »Ein Gebet für die None. Nun erinnere ich dich zu derselben Zeit, dass du dich für uns in die Qual [und] dem grimmen Tod anheimgegeben hast: Dies geschah zur None, da wurde dein Geist sehr lieblich mit vielerlei süßem Lobpreis in die Gewalt deines Vaters geführt. Herr, dein Tod hat Himmel und Erde versehrt, die Sonne hat ihren hellen Schein abgewendet. Daran erinnere ich dich, Herr, durch dein bitteres Sterben, so dass du uns aus aller Not heraushelfest. Gewähre uns, Herr, dass wir in deinem Lobpreis beständig bleiben, so dass wir heute und immer erlöst werden: Daran erinnere ich dich, Herr, durch die Ehre deines bitteren Leidens«, München, BSB, Cgm 87, fol. 55v - 56r. 309 Auerbach 2018, S. 172. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 95 <?page no="96"?> Das Lesepublikum des Texts wird so zu einem Akt der Figuration angeleitet, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander überführt. Dabei gerät der betende Mensch zum zugleich erinnernden wie auch innerlich vergegenwärtigenden Zeugen des Heilsgeschehens, das seinen eigenen Tagesablauf überformt und intensiv auf die erbetene Gnadenwirkung verweist, daz wir genesen / heut und immer mer. Im Effekt vermittelt eine derartige Lektüre des Textes, die gleichsam vertikal auf Hinkehr zum Heiligen wie horizontal auf Immersion in eine sprachliche Darstellung zielt, sinnhafte Erfahrung und erfahrenen Sinn gleichermaßen. Sie ergeht sich in einem Prozess der Figuration, der über den Text hinausweist, jedoch wiederum von ihm vorgebildet ist und die historische Wirklichkeit des Vergangenen in der Gegenwart des Betens als Hoffnung für die Zukunft umsetzt. 96 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="97"?> II Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen: Der Rosenkranz im Spätmittelalter <?page no="99"?> 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur Das Rosenkranzgebet darf getrost als die am nachhaltigsten wirksame Innovation der weitverzweigten Frömmigkeitskultur des deutschsprachigen Raums im 15. Jahrhunderts bezeichnet werden. Unter den vielfältigen Formen spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtsübungen ist der Rosenkranz nicht bloß die bekannteste, sondern auch wesentlich die einzige, die in veränderter Form auch sechshundert Jahre nach ihrer Entstehung noch praktiziert wird. Die dem gleichen historischen Kontext entspringenden und dem frühen Rosenkranz eng verwandten gebeteten Marienmäntel und meditativ errichteten inneren Häuser, mit denen sich die Folgeteile dieses Buchs beschäftigen, fielen, obgleich zeitgenössisch weitverbreitet, in der Frühen Neuzeit aus dem Gebrauch und sind heute weitgehend vergessen. Das Rosenkranzbeten stellt hier folglich die große Ausnahme dar. Auch in der Forschungslage zu dieser Gebetsform spiegelt sich dieser Sonderstatus wider. Während das Gros der übrigen Gebetbuchliteratur des Mittelalters unerschlossen bleibt, geriet der Rosenkranz bereits um 1900 in den Fokus der frömmigkeitsgeschichtlichen Erforschung. Vor allem der Dominikanergelehrte Thomas Esser wies in einer Reihe von Publikationen nach, dass diese Gebetsweise als Verbindung von gezählten Standardgebeten, dem dinghaften Vorstellen eines geistlichen Blumenkranzes und meditativer Betrachtung des Lebens und Leidens Christi ihren wesentlichen Anstoß durch die unten genauer behandelten Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause nahm. 1 Esser gelang es damit nicht nur, das wesentlich durch die unten ebenfalls schlaglichthaft untersuchten Werke des Dominikaners Alanus von Rupe verbreitete Ursprungsnarrativ, der Ordensgründer Dominikus habe diese Weise des Betens entwickelt, als historisch unhaltbar zu entkräften, er wies zudem auch auf ein großes Korpus von bis dato unbekannten Rosenkranztexten vornehmlich des 15. Jahrhunderts hin. Darauf aufbauend ergänzten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Herbert Thurston, Heribert Holzapfel, Wilhelm Schmitz und Jakob Hubert Schütz das von Esser nachgezeichnete Bild. 2 1 Thomas Esser: Beitrag zur Geschichte des Rosenkranzes, in: Der Katholik 77 (1897), S. 346 - 360, 409 - 422, 515 - 528; Ders: Über die allmähliche Einführung der jetzt beim Rosenkranz üblichen Betrachtungspunkte, in: Der Katholik NF 30 (1904), S. 98 - 114, 192 - 217, 280 - 301, 351 - 373; Der Katholik NF 32 (1905), S. 201 - 216, 252 - 266, 323 - 350; Der Katholik NF 33 (1906), S. 49 - 66; Ders: Unserer lieben Frauen Rosenkranz, Paderborn 1889; Ders: Zur Archäologie der Paternoster-Schnur, Fribourg 1898. 2 Vgl. Herbert Thurston: Our Popular Devotions: II. The Rosary, in: The Month 96 (1900), S. 403 - 418, 513 - 527, 620 - 637; The Month 97 (1901), S. 67 - 97, 172 - 188, 286 - 304; P. Heribert Holzapfel OFM: St. Dominikus und der Rosenkranz, München 1903 (Veröffentlichungen aus dem Kirchenhistorischen Seminar München 12); Wilhelm Schmitz SJ: Das Rosenkranzgebet im 15. und im Anfange des 16. Jahrhunderts, Freiburg i. Brsg. 1903; Jakob Hubert Schütz: Die Geschichte des Rosenkranzes unter Berücksichtigung der Rosenkranz-Geheimnisse und der Marien-Litaneien, Paderborn 1909. Diese Arbeiten sind von sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Qualität, illustrieren aber dennoch zusammen ein frühes Interesse an der frömmigkeitsgeschichtlichen Erforschung des Rosenkranzbetens. <?page no="100"?> Modernere Versuche einer philologischen und religionshistorischen Aufarbeitung der Rosenkranzfrömmigkeit setzten vor allem ab den 1970er Jahren ein. In einer unten noch kritisch zu besprechenden Monographie machte Karl Joseph Klinkhammer auf der einen Seite eine Auswahl wichtiger Texte zugänglich, leistete durch eine Reihe tendenziöser Verzerrungen der weiteren Forschung zugleich aber auch einen nachhaltigen Bärendienst. 3 Rainer Scherschel und Andreas Heinz bemühten sich im ungefähr gleichen Zeitraum, die in der Schriftüberlieferung fassbaren Anfänge des Rosenkranzbetens herauszuarbeiten und es kulturgeschichtlich in die Entwicklungslinien christlicher Glaubenspraxis einzuordnen. Viele von Klinkhammers Irrtümern konnten dabei ausgeglättet werden. 4 Mit den in den 1990er Jahren erschienenen Studien von Thomas Lentes und Anne Winston-Allen hingegen rückten einerseits erstmalig auch volkssprachige Texte prominent in den Blick, andererseits verlagerte sich der Fokus des Forschungsinteresses hin zu Fragen von Textualität, Bildlichkeit und damit verbundener religiöser Praxis. 5 Dieser Neuansatz war ebenfalls maßgebend für drei großangelegte Ausstellungskataloge zum Rosenkranz, die in den 2000er Jahren erschienen. 6 Flankiert und ergänzt werden diese jüngeren, primär auf Rosenkranztexte sowie ihre frömmigkeitsgeschichtliche Situierung abzielenden Arbeiten von einer Reihe von sozial- und institutionshistorischen Studien zum mit dem Rosenkranzgebet seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert eng verbundenen Bruderschaftswesen. 7 3 Karl Joseph Klinkhammer S. J.: Adolf von Essen und seine Werke. Der Rosenkranz in der geschichtlichen Situation seiner Entstehung und in seinem bleibenden Anliegen. Eine Quellenforschung, Frankfurt a. M. 1972 (Frankfurter theologische Studien 13). 4 Andreas Heinz: Lob der Mysterien Christi. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Leben-Jesu- Rosenkranzes unter besonderer Berücksichtigung seiner zisterziensischen Wurzeln, in: Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, hg. v. Hansjakob Becker u. Reiner Kaczynski, Bd. 1, St. Ottilien 1983 (Pietas liturgica 1), S. 609 - 639; Ders.: Die Zisterzienser und die Anfänge des Rosenkranzes. Das bisher unveröffentlichte älteste Zeugnis für den Leben-Jesu-Rosenkranz in einem Zisterzienserinnengebetbuch aus St. Thomas a. d. Kyll (um 1300), in: Analecta Cisterciensia 33 (1977), S. 262 - 309; Rainer Scherschel: Der Rosenkranz. Das Jesusgebet des Westens, Freiburg i. Brsg. 1979 (Freiburger Theologische Studien 116). Aufschlussreich wenn auch teils überholt ist aus dieser Zeit auch der Katalog 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976]. 5 Thomas Lentes: Die Gewänder der Heiligen. Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Gebet, Bild und Imagination, in: Hagiographie und Kunst. Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, hg. v. Gottfried Kerscher, Berlin 1993, S. 120 - 151; Lentes 1996; Anne Winston-Allen: Stories of the Rose. The Making of the Rosary in the Middle Ages, University Park, PA 1997. 6 Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler (Hgg.): Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, Wabern/ Bern 2003. Im gleichen Jahr entstand zudem der Katalog Heinz Finger (Hg.): Der heilige Rosenkranz. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln zum Rosenkranzjahr 2003, Köln 2003 (Libelli Rhenani 5). In vielerlei Hinsicht bleibt der Kölner Katalog jedoch stark der älteren Forschung der 1970er Jahre verhaftet. Etwas jüngeren Datums ist der Band von Peter Keller (Hg.): Edelsteine, Himmelsschnüre. Rosenkränze & Gebetsketten, Katalog zur 33. Sonderschau des Dommuseums zu Salzburg, 9. Mai bis 26. Oktober 2008, Salzburg 2008. Die inhaltlichen Schnittmengen dieser Publikation mit dem von Frei und Bühler veranstalten Katalog sind jedoch groß. 7 Vgl. dazu zuletzt die qualitätvolle Monographie von Christian Ranacher: Heilseffizienz aus Gemeinschaftssinn. Die Rosenkranzbruderschaft als innovative Form der Jenseitsvorsorge um 1500, Berlin/ Boston 2022 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF 26). Diese aufschlussreiche Studie erschien leider erst nach der Fertigstellung des Dissertationsmanuskripts, das diesem Buch zugrunde liegt, weshalb ich ihre wichtigen Thesen bloß nachträglich und verweishaft 100 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="101"?> Damit kann für das Rosenkranzgebet auf eine vergleichsweise komfortable Forschungslage zurückgegriffen werden, wobei ein literaturwissenschaftlich informierter Blick auf die dementsprechenden Texte des Spätmittelalters und die von ihnen angebotenen Formen der gebethaften Lektüre bislang jedoch noch fehlt. Diese Lücke soll folgend zumindest teilweise geschlossen werden, indem vier Texte bzw. Textverbünde, die jeweils zentrale Evolutionsschritte dieser Gebetsform markieren, einem close reading unterzogen werden, das auf den oben angestellten Überlegungen zur Wirkungsästhetik geistlicher Übungen aufbaut. Mit dem Mirakel von Marien Rosenkranz steht dabei an erster Stelle ein Text, der nicht nur im Verlauf des Spätmittelalters zunehmend als Ursprungsnarrativ und instruktiver Paratext des Rosenkranzes gebraucht wird, sondern auch bereits sehr früh eine Praxis des zählenden Betens auserzählt, das sich als imaginierendes Kranzflechten gestaltet. Zweitens treten die Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen und die damit verbundenen Texte aus der Trierer Kartause St. Alban in den Fokus, die in für die weitere Entwicklung des Rosenkranzes entscheidender Form eine sich gegenseitig ergänzende Verbindung von zählendem Wiederholungsgebet, imaginierender Fertigung eines geistlich-konkreten Gegenstandes und durch einen Gebets- und Andachtstext geleiteter Meditation des Lebens Christi herstellen. Auf den Autor Dominikus und sein Umfeld, dem auch mehrere in den Folgekapiteln ins Blickfeld rückende Marienmanteltexte sowie eine Anleitung zur gebethaften Konstruktion eines geistlichen Palasts zuzuschreiben sind, wird in diesem Zuge genauer eingegangen. Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe hingegen, den ich im Anschluss untersuche, ist einerseits als Ideengeber für spätere Gebetsverbrüderungen sowie als Vehikel der autorisierend-charismatischen Aufladung dieser Frömmigkeitsinnovation der Trierer Kartäuser zu betrachten. Andererseits entwickelt sich hier auch die schlussendlich ausschlaggebende Textstruktur des Rosenkranzes. Abschließend wird mit der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 ein Schlaglicht auf jene religiöse Vergemeinschaftung geworfen, die wesentlichen Anteil daran hatte, das Rosenkranzgebet von einer eher obskuren geistlichen Übung des Spätmittelalters zu einem nachhaltig wirksam bleibenden katholischen Massenphänomen zu transformieren. einarbeiten konnte. Ebd. findet sich auf S. 6 - 14 auch eine ausführliche Besprechung des Forschungsstands zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen. Besonders relevant sind für den Blick auf die frühen Rosenkranzbruderschaften neben Ranachers Arbeit die Studien von Gilles Gerard Meersseman: Ordo Fraternitatis. Le antiche confraternite domenicane. Continuazione, Freiburg 1977 (Italia sacra 26); Wolfgang Kliem: Die spätmittelalterliche Frankfurter Rosenkranzbruderschaft als volkstümliche Form der Gebetsverbrüderung, Diss. Frankfurt a. M. 1963; Jean-Claude Schmitt: La Confrérie du Rosaire de Colmar (1485): Textes de fondation, exempla en Allemand d ’ Alain de Roche, liste des Prêcheurs et des Soeurs dominicaines, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 40 (1970), S. 103 - 124; Klaus Militzer: Laienbruderschaften in Köln - Eine Einführung, in: Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1563/ 63, bearb. v. Klaus Militzer, Bd. 1, Düsseldorf 1997 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 71); Henri Dominique Saffrey: La fondation de la Confrérie du Rosaire à Cologne en 1475. Histoire et iconographie, in: Gutenberg Jahrbuch 76 (2001), S. 143 - 164; Stefan Jäggi: Rosenkranzbruderschaften: Vom Spätmittelalter bis zur Konfessionalisierung, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 91 - 105; Siegfried Schmidt: Die Entstehung der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475, in: Der heilige Rosenkranz. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln zum Rosenkranzjahr 2003, hg. v. Heinz Finger, Köln 2003 (Libelli Rhenani 5), S. 45 - 62. 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur 101 <?page no="102"?> Immer wieder wird dabei der Blick auf die Texte zeigen, wie sich im Rosenkranz Momente der vertikalen Apostrophierung des Transzendenten im zählenden Wiederholungsgebet, der immersiven Lektüre, die auf die horizontal-vergegenwärtigende Herstellung einer inneren Evidenz des Heiligen zielt, sowie der imaginativen Herstellung einer dinglich-konkreten Figuration der Frömmigkeitspraxis verbinden und ergänzen. Denn das Beten einer Reihe von Ave Maria, so der Wirkanspruch früher Rosenkranzübungen, verdichtet sich zum geistlich produzierten Blumenkranz, der als Figura nicht allein ein allegorisch bedeutsames oder diagrammatisch nutzbares Bild darstellt, sondern »als konkrete Gabe vorgestellt« ist und als solche auch veräußert werden kann. 8 Zugleich stimuliert diese Gebetsform, die stets auch mit der Hoffnung auf eine gnadenhafte Gegengabe verbunden ist, ein Eintauchen in einen »innere[n] Bildraum [ … ], der mit den Bildern des historischen Geschehen der Heilsgeschichte angefüllt werden soll« und »in dem die Bilder des Heils ihre Wirkung entfalten«. 9 Geleitet und präfiguriert wird dies zumeist von schriftlichen Gebetsübungen wie dem Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen und ihren Paratexten. Diese Texte entfalten hierbei eine auratisierte Medialität, die, mit Christian Kiening gesprochen, »beansprucht, das, auf das sie sich bezieht, zugleich hervorzubringen« beziehungsweise ihm Augenscheinlichkeit zu verleihen. 10 Die Trias aus einer repetitiven Quantifizierung der rhetorisch geformten Hinkehr zum Heiligen, die gleichsam eine Immersionserfahrung anregt und darin auf die geistliche Produktion des Figuralen abhebt, stellt kein idiosynkratisches Merkmal allein der Rosenkranztradition dar. Vielmehr kann diese Gebets- und Andachtsübung zumindest in Teilen als Leitmodell auch für verwandte Frömmigkeitspraktiken und Texttraditionen wie beispielsweise die verbreiteten Marienkronen oder die unten genauer besprochenen Mantelgebete und Seelenhäuser betrachtet werden. 11 Eine Untersuchung des Rosenkranzgebets bietet in diesem Rahmen somit zweierlei Chancen: Einmal erlaubt sie, diese recht bekannte Gebetsform und die sie informierenden textuellen Wirkungsästhetiken in einen literaturebenso wie frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext einzubetten und so zu veranschaulichen, dass es sich hierbei nicht um eine singuläre Ausnahmeerscheinung, sondern vielmehr um ein Teilstück einer umfassenderen Gebetskultur des ausgehenden Mittelalters handelt. Zusätzlich kann der Rosenkranz anschließend jedoch auch als Erklärungsmuster und Vergleichsfall für die weniger bekannten Textkorpora dienen, mit denen sich die beiden Folgekapitel dieser Arbeit beschäftigen. Bevor allerdings mit diesem Unterfangen begonnen werden kann, steht zunächst eine Definitionsfrage im Raum: Was ist überhaupt ein › Rosenkranz ‹ ? Wie Anne Margreet W. As-Vijvers ausführt, erweist sich der gegenwärtige Sprachgebrauch im Deutschen ebenso wie im Englischen hierbei als mehrdeutig: »The rosary is not only a kind of prayer exercise, but the word also refers to the chain of beads used while reciting this prayer, as 8 Lentes 1993, S. 125. 9 Lentes 2002, S. 180. 10 Kiening 2007, S. 31. 11 Auch die Verbindung von mehr oder minder organisiert kollektivierender Frömmigkeit, intensivpersönlichem Privatgebet und gleichzeitiger leistungsökonomischer Quantifizierung ist kein Alleinstellungsmerkmal der Rosenkranztradition, sondern wird in den in dieser Arbeit betrachteten Texten immer wieder auftauchen. 102 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="103"?> well as a garland made of roses, which is both the factual and the symbolic result of praying the exercise.« 12 Das lateinische Wort rosarium trägt ursprünglich keine dieser drei Bedeutungen. In der Literatur der römischen Antike meint es schlicht einen Blumen- oder Rosengarten. Ovid zum Beispiel kann in diesem Sinne in den Tristia schreiben, es laste ein so bedrückendes Unglück auf ihm, wie sich litora quot conchas, quot amoena rosaria flores fänden. 13 Das lateinische Mittelalter verstand den Begriff zunächst ganz in diesem Sinn, verwendete ihn darüber hinaus jedoch auch zur Bezeichnung von Florilegien und sonstigen literarischen › Blütenlesen ‹ . 14 Als »Bezeichnung für die Gebetskumulation« hingegen erscheinen Worte wie rosarium und rosen crantz, wie Hans-Georg Richert in einer kurzen Abhandlung zur Genese dieses Lexems aufzeigt, »zum erstenmal im Ausgang des 13. Jahrhunderts« und sind eng mit dem Mirakel Marien Rosenkranz verknüpft, auf das ich im Anschluss eingehe. 15 Die Perlenschnur, die auch im Mittelalter beim Beten einer Reihe von Standardtexten regelmäßig verwendet wurde, ist deutlich älteren Ursprungs. 16 Derartige Zählgeräte kennen die meisten Weltreligionen, und auch im Christentum tritt die Gebetskette bereits früh als Hilfsinstrument für unterschiedlichste Gebets- und Meditationspraktiken auf. 17 Als › Rosenkranz ‹ wurde diese materielle Andachtshilfe in Mittelalter und Früher Neuzeit freilich kaum bezeichnet - bis ins 17. Jahrhundert hieß sie zumeist › Paternoster ‹ . 18 Dies 12 Anne Margreet W. As-Vijvers: Weaving Mary ’ s Chaplet: The Representation of the Rosary in Late Medieval Flemish Manuscript Illumination, in: Weaving, Veiling, and Dressing: Textiles and their Metaphors in the Late Middle Ages, hg. v. Kathryn M. Rudy u. Barbara Baert, Turnhout 2007 (Medieval Church Studies 12), S. 41 - 79, hier S. 46. 13 »so viele Muscheln am Strand, so viele Blumen in den lieblichen Rosengärten«, Ovid: Tristia. Ex Ponto, hg. u. übers. v. Arthur Leslie Wheeler, Harvard/ London 1939 (Loeb Classical Library), S. 214 [Tristia V. 2,23]. 14 Vgl. Robert Black: Ovid in Medieval Italy, in: Ovid in the Middle Ages, hg. v. James G. Clark, Frank T. Coulson u. Kathryn L. McKinley, Cambridge 2011, S. 123 - 42, hier S. 133. Zur Verwendung im Sinne von › Blütenlese ‹ siehe Scherschel 1979, S. 91. 15 Hans-Georg Richert: Rosenkranz, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 21 (1965), S. 153 - 159, hier S. 153. Richert kann nicht recht feststellen, wo der Begriff zuerst auftaucht, hält aber fest, dass lateinische Bezeichnungen wie rosarium, sertum, capeletum, capellus rosarum, capellus beatae virginis usw. für eine Gebetsform im 13. Jahrhundert zumindest noch nicht verbreitet waren, ebd., S. 154 f. Wahrscheinlich entstehen sie ungefähr gleichzeitig mit dem volkssprachigen Begriff. 16 Zum gezielt hergestellten Prachtgegenstand wird diese Schnur im Hochmittelalter: »Von den Anfängen einer individuellen Gebetshäufung wandelt sich das Gebet zum geregelten Reihengebet. Aus der zufälligen und persönlichen Anfertigung des Gebetszählgerätes kommt es zu einer organisierten Herstellung. Nachrichten lassen vermuten, daß im 11. und 12. Jahrhundert die Gebetszählschnur unter Umständen eine Veränderung ihrer Bedeutungsstruktur erfuhr, daß sie etwa aus Edelsteinen gefertigt, als Nachlaß vergeben werden konnte« (Gislind Ritz: Der Rosenkranz, in: 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976], S. 51 - 101, hier S. 62). Dieser Artikel ist im Sinne einer Zusammenfassung eng angelehnt an die leider nur als Typoskript erschienene Dissertation von Gislind Ritz: Die christliche Gebetszählschnur. Ihre Geschichte - ihre Erscheinung - ihre Funktion, Diss. München 1955. 17 Einen Überblick gibt, wenn auch in methodisch veralteter Form, Willibald Kirfel: Der Rosenkranz. Ursprung und Ausbreitung, Walldorf-Hessen 1949 (Beiträge zur Sprach- und Kulturgeschichte des Orients 1). 18 Vgl. Urs-Beat Frei: Der Rosenkranz/ die Andachtskette als Attribut von Heiligen. Grundsätzliche Überlegungen zur Bezeichnung des Objekts › Rosenkranz ‹ sowie drei Thesen zu Bruder Klaus, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 183 - 193, hier S. 185 - 187. 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur 103 <?page no="104"?> kreiert eine semantische Schwierigkeit, denn wenn in spätmittelalterlichen Texten vom › Rosenkranz ‹ die Rede ist, dann meint dies fast immer die Gebetspraxis, den ihr zugrundeliegenden Text oder ihr imaginiertes Produkt, zumeist aber nicht die Perlenschnur. Letztere taucht dort wenn überhaupt nur als Hilfsinstrument für die instruierte geistliche Übung auf, 19 bildet im heutigen Sprachgebrauch aber geradezu die Kernbedeutung des Wortes › Rosenkranz ‹ . Dies macht es nötig, terminologisch unmissverständlich zwischen dem Rosenkranzgebet und einem dabei optional verwendeten Objekt zu trennen. 20 Wenn daher folgend von einem › Rosenkranz ‹ die Rede ist, so bezieht sich dieses Wort ausschließlich auf die Gebetsübung oder den als ihr Produkt entstehenden geistlichen Blumenkranz. Auf derartige im Geiste figural konkretisierte Kränze und ihre Bedeutung für die entsprechenden Imaginations- und Andachtsübungen wird besonderes Augenmerk zu legen sein, insbesondere, da sie für das Rosenkranzgebet in seiner heutigen Form keine Rolle mehr spielen. Denn dieses ist, wie Andreas Heinz zusammenfasst, wie folgt definiert: Rosenkranz meint in seiner seit Pius V. (1569) kirchenamtlich geregelten Form [ … ] eine in Zehnergruppen gegliederte Reihe von 150 Ave Maria [ … ], wobei jede Dekade von einem Vaterunser eingeleitet und mit der Doxologie › Ehre sei dem Vater ‹ beschlossen wird. Wesentlich gehört zu dem so gegliederten Wiederholungsgebet die gleichzeitige Betrachtung der › Geheimnisse ‹ . Ihr Inhalt ist das in einzelne Heilsereignisse aufgefächerte Mysterium der erlösenden Menschwerdung, der Passion und der Erhöhung des Sohnes Gottes. 21 Diese Gebetsweise stellt grundsätzlich ein Artefakt der Gebetbuchliteratur und Frömmigkeitskultur des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit dar. Freilich hat sie, wie die folgenden Betrachtungen herauszeichnen, zwischen ihren ersten Erwähnungen um 1300 und ihrer Fixierung im 16. und 17. Jahrhundert sowohl formal als auch bezüglich ihrer motivischen Schwerpunktsetzungen mehrere Transformationen durchlaufen. Anders als die große und vergessene Masse vergleichbarer Übungen eignet ihr dabei jedoch eine erstaunlich widerständige und in der katholischen Gebetspraxis andauernde longue durée. Der Rosenkranz ist darin als Produkt eines langwierigen Prozesses zu begreifen, der im späteren Mittelalter seinen Ausgang nahm und aus dem das folgende Kapitel mit besonderem Augenmerk auf die dabei zur Wirkung kommenden Textmedien einige Episoden in den Blick nimmt. 19 So ist im Tractatus apologeticus häufiger von der corona die Rede, die beim Beten benutzt werden kann, und die Holzschnitte des Ulmer Rosenkranzdrucks von 1483 zeigen entsprechende Gebetsketten. Diese sind hier jedoch schlicht als Hilfsmittel einer gezählten Frömmigkeit porträtiert; vgl. dazu ausführlicher unten, Kap. II.4.3. 20 Urs-Beat Frei zeigt präzise die Notwendigkeit einer solchen Trennung auf (vgl. Frei 2003, S. 185 - 187). 21 Andreas Heinz: Art. Rosenkranz. II. Im Christentum, in: TRE 29 (1998), S. 403 - 407, hier S. 403. 104 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="105"?> 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit Dass die frühen Rosenkranzgebete und -andachten auf der Vorstellung aufbauten, »dass sich das Gebet auf Erden im Himmel zu Rosen und Kränzen für die Heiligen materialisierte«, wurde in der Forschung vor allem durch Thomas Lentes wiederholt angemerkt. 22 Hierbei ist das Motiv des Heiligenkranzes neutestamentlich begründet: Wer heiligmäßig lebe, so der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief, wetteifere ähnlich den sich körperlich anstrengenden Athleten um einen Siegespreis, »jene freilich, um einen vergänglichen Kranz zu erhalten, wir aber einen unvergänglichen« (I Cor 9,25). 23 Teils in Abgrenzung zu vorchristlichen Bräuchen und teils, da diese Ehrenkränze den Heiligen eben von Gott und nicht von menschlicher Hand verliehen werden sollten, lehnten die frühen Christen ein Bekränzen von Heiligenbildern jedoch zumeist ab. 24 Dies wandelte sich zum Mittelalter hin entscheidend. Nun wurde einerseits problemlos auch in religiösen Kontexten materieller Blumenschmuck dargebracht, 25 andererseits aber entwickelte sich zunehmend eine Frömmigkeitspraxis, in deren Rahmen die Gläubigen durch Gebete nicht nur Blumen ersetzten, sondern sie auch in sublimierter Form figurierten. Den sprachmedialen Verfahren sowie den ihnen zugrundeliegenden Narrativen, mit deren Hilfe schriftliche Gebets- und Andachtsübungen ein intensiviertes Imaginieren einer derartigen Materialisierung des Betens in Form überweltlicher Blumengebinde ermöglichten, sollen die folgenden Ausführungen nachgehen. Ein solches gebethaftes Herstellen geistlicher Gegenstände ist nicht voraussetzungslos. Vielmehr muss es als komplexe, eine Vielzahl von Hilfsmedien nutzende Technik des gleichsam immersiven wie konkretisierenden Vorstellens begriffen werden - wobei die beiden Attribute einen gewissermaßen als doppelwegig zu verstehenden Vermittlungsprozess umschreiben sollen, in dessen Rahmen sich der Betende sowohl selbst in das Heilsgeschehen hineinversetzt als auch das Heilige zu sich in die Welt hineinzuholen sucht. Dem in der Imagination angefertigten Blumenkranz kommt dabei eine Art Scharnierfunktion zu zwischen der Frömmigkeitspraxis des Betens und seiner dinglichen Manifestation im Himmel, zwischen der äußeren Umwelt der Gläubigen und ihrem inneren Bezug aufs Überweltliche, zwischen dem intendierten Eintauchen des immanen- 22 Thomas Lentes: Bildertotale des Heils. Himmlischer Rosenkranz und Gregorsmesse, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 69 - 89, hier S. 77. Wegweisend ist zu dieser These der Beitrag von Lentes 1993. 23 illi quidem ut corruptibilem coronam accipiant nos autem incorruptam. 24 Vgl. umfassend Karl Baus: Der Kranz in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung Tertullians, Bonn 1940 (Theophaneia 2); sowie mit Bezug auf Baus Lentes 1993, S. 121 f. 25 So gibt beispielsweise Johanna von Orleans in ihren Verhörprotokollen an, sie habe regelmäßig Kränze für ein Marienbild in Domrémy geflochten und dargebracht, was ihr und den Verhörführenden offenbar als gängige Frömmigkeitspraxis galt. Siehe Ruth Schirmer-Imhoff (Hg. u. Übers.): Der Prozeß der Jeanne d ’ Arc. Akten und Protokolle 1431 - 1456, München 1978, S. 26 f. Auch Henk van Os führt aus: »The custom of decorating and dressing images was unknown in the early church, but had become accepted practice in the Middle Ages« (Henk van Os: The Art of Devotion in the Late Middle Ages in Europe. 1300 - 1500, Princeton 1994, S. 170). <?page no="106"?> ten Andächtigen in die transzendente Wirklichkeit und dem Einfließen der Transzendenz ins Immanente. In dieser Grundidee des inneren Produzierens eines Welt und Himmel verbindenden geistlichen Dings fügt sich die Tradition des Rosenkranzes ein in ein großes Korpus vergleichbarer Andachtsübungen des › handwerklichen Betens ‹ , die, mit den Worten Jeffrey F. Hamburgers, auf einen für moderne Leser oftmals befremdlichen »process [ … ] of prayers crystallizing into objects« zielen. 26 Obgleich die Forschung angesichts des Sonderstatus, den der Rosenkranz innehat, oftmals dazu tendiert, ihn abgelöst von seinem Entstehungsumfeld zu betrachten, scheint eine Kontextualisierung dieser Frömmigkeitsübung in der Gebets- und Andachtskultur des Spätmittelalters gerade in Hinblick auf die ihr zugrundeliegende Vorstellung der gebethaften Gabenfertigung doch nötig. Dementsprechend gilt es erstens, einen Blick sowohl auf die frühen Texte des Rosenkranzbetens als auch auf die ihnen vorgängigen Narrativierungen einer solchen Frömmigkeitspraxis der betenden Fertigung geistlicher Dinge zu lenken. Die Verbindungen zu den unten untersuchten › handwerklichen Gebetsübungen ‹ werden so augenscheinlich. Zweitens benötigt in diesem Zuge auch die all diese Texte fundierende Vorstellung eines über die Sphäre der menschlichen Imagination hinausgehenden Realitätsstatus gebeteter Gegenstände genauere Untersuchung und Explikation. In der Binnenperspektive entsprechender geistlicher Übungen wird den im, durch und aus Gebeten imaginativ hergestellten Blumenkränzen in Abgrenzung sowohl zu materiellen Dingen der äußeren Welt als auch zu inneren Bildern, die als auf den mentalen Apparat des Denkenden begrenzt vorgestellt sind, eine dritte Wirklichkeitsform zugewiesen, die gewissermaßen zwischen den Kategorien des empirisch wie faktisch Gegebenen und des gedanklich Gegenwärtigen schwebt. In diesem Sinne stellen Blumenkränze, die in der Immersion in einen sprachlich evozierten Wahrnehmungsraum der Gegenwart Christi und Marias hergestellt werden, geistliche Figurationen des Betens dar, die zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, Gegenstand und Vorstellung, Zeichen und Bezeichnetem, ja »zwischen Ereignis und Medium« oszilllieren. 27 Dabei stehen gebethaft gefertigte Dinge nicht für sich, sondern sind Teil einer komplexen Kette von Vor- und Nachbildungen: In ihnen erfüllen sich das Frömmigkeitshandeln der Gläubigen ebenso wie die Vorgaben des Texts und die Verheißungen der Schrift, wobei sie jedoch gleichzeitig wiederum ein himmlisches Heil präfigurieren, dessen Teilhaftigkeit im Gebet gesucht wird. Aus der Außenperspektive einer wirkungsästhetisch orientierten Literaturwissenschaft hingegen ist es möglich, derartige Produkte des › handwerklichen Betens ‹ als virtuelle Gegenstände zu fassen. › Virtualität ‹ meint in diesem Kontext eine »quasi-wirkliche, nachgebildete Wirklichkeit«, die »den Schein des Bildseins verneint« und darum als identisch mit dem Abgebildeten erfahren wird. 28 Ein virtueller Gegenstand in diesem Sinne ist also phänomenal ebenso wie in Hinblick auf seine Effekte und Gebrauchsmöglichkeiten vor- und zuhanden, ohne hierbei jedoch seiner Substanz nach gegenwärtig oder überhaupt existent sein zu müssen. Die Erzeugung virtueller Wirklichkeit ist als Folge jener »Praxis des Neuwebens der Wahrnehmung mittels einer materialen, immer 26 Hamburger 1997, S. 75. 27 Largier 2013, S. 67. 28 Vaihinger 1997, S. 21. Siehe dazu auch die Diskussion des Virtualitätsbegriffs oben, S. 74. 106 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="107"?> auch rhetorisch-strategischen Mimesis« zu verstehen, 29 deren Wirkung auf die Leser von Gebets- und Andachtstexten ich als Prozess der Immersion zu fassen versuche. 30 Nun aber ergibt sich ein solches Verständnis der Produkte eines › handwerklichen Betens ‹ erst durch einen analytischen Außenblick auf entsprechende Texte und die Modalitäten ihres Vollzugs - den intendierten Rezeptionseffekten auf ihr spätmittelalterliches Publikum entspricht es nicht. Denn wie die folgenden Kapitel in unterschiedlichen Spielarten beleuchten, werden gebetete Gegenstände in der geistlichen Literatur des ausgehenden Mittelalters nicht bloß als Virtualisierungen (und damit als tendenziell defizitäres Surrogat) ihrer physischen Gegenstücke begriffen, sondern vielmehr als ins Geistige überführte und dadurch mitunter sogar höherwertige Sublimierungsstufen ihrer materiellen Präfigurationen. Theoretisiert und mit einem kennzeichnenderweise oftmals typologisch hergeleiteten theologischen Fundament versehen wird diese Vorstellung einer überstofflichen Dinglichkeit des Gebeteten vor allem bei Dominikus von Preußen. 31 Aus der Binnenperspektive mittelalterlicher Gebets- und Andachtsübungen geht dies über einen Anspruch auf › Virtualität ‹ hinaus, präsentieren diese Texte ihre Wirkungen doch nicht als Nachbildung des Realen oder als › Quasi-Realität ‹ , sondern vielmehr als Schau oder gar Schaffung eines evident werdenden Überwirklichen. Ein derart konzeptualisierter Status gebeteter Dinge kann, so möchte ich vorschlagen, am ehesten als › geistliche Konkretheit ‹ begriffen werden, die gleichsam im Kontrast wie auch in hierarchisierter Analogie zu › physischer Konkretheit ‹ oder Stofflichkeit zu denken ist. 32 Den Kern dieses Begriffs bildet dabei die dem Wort etymologisch zugrundeliegende Metapher. Abgeleitet vom lateinischen concrescere, das in ungefähr mit › verdichten, gerinnen, verhärten, erstarren ‹ zu übersetzen ist, 33 bezeichnet › Konkretheit ‹ grundlegend etwas, das sich in einem Prozess der evidenzschaffenden Figuration bis hin zur Möglichkeit des unmittelbaren oder unmittelbar scheinenden Anschauens und Verfügens verdichtet oder verfestigt hat. Für diese Metapher ist es zunächst zweitrangig, ob als Ausgangsstoff solcher Verfestigungen Blumen, Fasern und Atome oder Texte, Wörter und Gedanken dienen - auf unterschiedlich qualifizierte Weise können daher gebethaft 29 Largier 2018, S. 16. 30 Marie-Laure Ryan beispielsweise versteht immersives Lesen grundsätzlich in diesem Sinn als Herstellung virtueller Realitätserfahrung, d. h. als »mental simulation [that] goes far beyond the attribution of thought to characters; it creates a rich sensory environment, a sense of place, a landscape in the mind« (Ryan 2001, S. 112). 31 So vor allem im Pallium beate Marie virginis, siehe unten, Kap. III.3.1. 32 Ich lehne mich in dieser Formulierung an Erich Auerbach an, der eine »unerhörte Konkretheit und Intensität der eschatologischen Vorstellungen«, die sich in der »Geschichte Christi« manifestieren, gerade in jener »Evidenz des Dargestellten« sah, die durch das sprachliche Medium mimetisch evoziert werde und sich schließlich hin zu einer profanierten »Evidenz der poetischen Wirklichkeit« entwickle (Auerbach 2001, S. 21, 6 und 212). Niklaus Largier versteht das Konkrete dementsprechend mit Auerbach als »etwas, das sich mit partikularen Momenten nicht der Referenz, sondern der Attraktion und Absorption im Akt des Lesens verbindet« (Largier 2 2018, S. 45). Hierin klingen vordergründig Momente des Immersiven an, die von einer Konkretheit des Dargestellten ausgelöst werden. Zugleich ist in diesem Kontext aber auch eine Konkretheit des Wahrnehmungsereignisses und seiner wirklichkeitshaften Folgen mitzudenken, auf die ich mich folgend vornehmlich beziehe, wenn ich von geistlich-konkreten Gegenständen spreche. 33 Georges 1998, Bd. 1, Sp. 1410. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 107 <?page no="108"?> hergestellte geistliche Gegenstände im Vergleich mit materiellen Gegenständen der empirischen Welt als ebenso konkret oder sogar noch konkreter verstanden werden. 34 Was die Vorstellung des Flechtens von demgemäß geistlich-konkreten Blumenkränzen aus in Reihe dargebrachten Ave Maria betrifft, so nimmt sie, ähnlich wie die später behandelte Idee einer geistlichen Anfertigung von Kleidern für Maria und andere Heilige, zumindest ihren Ausgang nicht in der Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters. Vielmehr lässt sie sich zunächst in Mirakelerzählungen und Visionsberichten belegen, also in Textgattungen, die dem Programm einer mit in der Glaubenslehre fundiertem Wahrheitsanspruch verbundenen narrativen Darstellung folgen, für das Elke Koch zuletzt den Begriff des »fidealen Erzählens« vorgeschlagen hat. 35 So wird vom Rosenkranz als gebetetem Blumenschmuck zuerst in dem gegen Ende des 13. Jahrhunderts niedergeschriebenen Mirakel Marien Rosenkranz erzählt. 36 Derartige Mirakel stellen, wie Siegfried Ringler definiert, der Heiligenlegende verwandte Texte dar, für die allerdings nicht »die Person des Heiligen im Mittelpunkt« steht, »sondern das Wunder«. 37 Das Wunder, von dem das fragliche Mirakel, das folgend genauer analysiert wird, berichtet, besteht nun in eben jener Transformation der Gebete zum Blumenkranz, die auch die Gläubigen des Spätmittelalters, die den Rosenkranz praktizierten, innerlich forcierten. Diese in späteren Texten immer wieder betonte Herkunft aus der Sphäre des Mirakulösen ist fundamental bedeutsam für das Verständnis der Rezeptionsangebote, die Rosenkranztexte im Spätmittelalter entfalteten. 34 Vgl. dazu die Vorüberlegungen in meinem Artikel Björn Klaus Buschbeck: Producing Spiritual Concreteness: Prayed Coats for Mary in the German Late Middle Ages, in: Things and Thingness in European Literature and Visual Art, 700 - 1600, hg. v. Jutta Eming u. Kathryn Starkey, Berlin/ Boston 2022 (Sense, Matter, and Medium 7), S. 65 - 90. 35 Vgl. Elke Koch: Fideales Erzählen, in: Poetica 51.1/ 2 (2020), S. 85 - 118. Koch schlägt vor, die in der Erzähltheorie häufig angenommene Dichotomie von faktualem und fiktionalem Erzählen aufzubrechen und für religiöse Texte einen (weitere Modelle des Erzählens ausdrücklich nicht ausschließenden) Begriff des fidealen Erzählens anzusetzen: »Religiöse Texte sind weder als › faktual ‹ noch als › fiktional ‹ zu beschreiben; die Begriffsopposition ist nicht mit Blick auf solche Texte gebildet worden und sie geht an ihren Bedingungen vorbei« (ebd., S. 92). Unter › fidealem Erzählen ‹ versteht Koch dabei ein »Erzählen aus dem Glauben heraus, um Glauben zu erzeugen oder zu stärken, und zwar im Sinne einer existenziellen Vertrauenshaltung auf etwas, das man nicht wissen kann, oder über das man jedenfalls nicht so verfügen kann, wie über irgendeinen anderen Wissensbestand« (ebd., S. 100). Der eminente Wahrheitsanspruch fidealer Erzählungen begründe sich deshalb, anders als bei faktualen Texten, nicht in einer Entsprechung zur empirischen oder sonstig wissbaren Weltwirklichkeit, »sondern als Entsprechung zur Glaubenslehre, die für gültig gehalten wird, oder auch zur anderweitig (noch) nicht abgesicherten › Glaubenswirklichkeit ‹ , in der z. B. ein Wunder ein Wunder ist« (ebd., S. 105). Für die folgend betrachteten Mirakeltexte, die mit dem Rosenkranz- und Marienmantelbeten eng verknüpft sind und dabei auch narrativ mit religiösem Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch verbundene Vorbilder für eine entsprechende historische Frömmigkeitspraxis und den Horizont ihrer Heilserwartung entwerfen, scheint Kochs Begriffsbildung geradezu maßgeschneidert. 36 Siehe dazu einführend Ulla Williams: Art. Marien Rosenkranz, in: 2 VL 5 (1985), Sp. 1278 - 1280 u. 2 VL 11 (2004), Sp. 969; sowie die ausführliche Diskussion unten. 37 Siegfried Ringler: Zur Gattung Legende. Versuch einer Strukturbestimmung der christlichen Heiligenlegende des Mittelalters, in: Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, hg. v. Peter Kesting, Würzburg 1975 (Würzburger Prosastudien 2), S. 255 - 270, hier S. 269. 108 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="109"?> 2.1 Ein Wunder als Ursprungserzählung: Gebetsblumen im Mirakel Marien Rosenkranz Seinen für die Entstehung des Rosenkranzgebets ausschlaggebenden Clausulae, die unten in den Fokus rücken, fügte der Kartäuser Dominikus von Preußen zumindest in der Fassung, die dem zweiten Teil seines 1458 fertiggestellten, semiautobiografischen Liber experientiae angehängt ist, 38 eine kurze Ursprungserzählung dieser Gebetsweise bei. Diese Erzählung fungiert als erklärender Paratext zum Leben-Jesu-Rosenkranz, der im Grunde eine Passionsmeditation aus 50 Ave Maria mit je entsprechenden Betrachtungspunkten darstellt. 39 Dominikus überschreibt sie mit den Worten: Qualiter Rosarium praedictum imprimis ortum habuerit, Exemplum sequens indicat. 40 Erzählt wird in knapper lateinischer Prosa von einem Mönch, der nach seinem Eintritt ins Kloster die liebgewonnene Gewohnheit, täglich eine Marienstatue mit einem Blumenkranz zu schmücken, aufgeben muss und deshalb anfängt, ihr aus je 50 Ave Maria gefertigte imaginierte Kränze zu sprechen, die der Gottesmutter sogar super omnia materialia serta gefallen. 41 In einer Vision sehen schließlich zwei Räuber, die ihm im Wald auflauern, wie sich die von dem Mönch gesprochenen Gebete als tatsächliche Rosen manifestieren und von Maria entgegengenommen werden. Dieses Gebetswunder, ut legitur divulgato, sei der Beginn des Rosenkranzbetens gewesen, das Dominikus mit seinen Klauseln in eine neue, der Passion Christi zugewandte Form gebracht habe. 42 Die so wiedergegebene Geschichte geht zurück auf das seit dem 13. Jahrhundert in Schriftform fassbare Marienmirakel vom Mönch mit den Rosenkränzen. Wie Nancy Vine Durling feststellt, handelt es sich hier um »a story widely known in the Middle Ages: Latin, French, Galician-Portuguese, and German versions, dating from 1200 to 1600, are extant.« 43 So druckte Joseph Dobner neben zwei deutschen auch eine französische und sieben lateinische Versionen des Mirakels ab, ohne dabei jedoch eindeutige textgenetische 38 Der maßgebliche Textzeuge ist hier Trier, Stadtbibl., HS. 751/ 299, wo sich die entsprechende Mirakelerzählung auf fol. 180r findet. Der Text ist nach dieser Handschrift abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 198 - 202; sowie in zuverlässigerer Form in der leider ohne Register, Apparat oder Übersetzung erschienenen Ausgabe Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, hg. v. James Hogg, Alain Girard u. Daniel Le Blévec, Salzburg 2013 (Analecta Cartusiana 283,2), S. 355 - 363. 39 Unter einem Paratext verstehe ich in Anlehnung an Gérard Genette ein textuelles »Beiwerk«, das dem Leser hinsichtlich seines Bezugstexts »die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet«. Paratexte lassen sich dabei unterteilen in Peritexte, die in direktem Überlieferungszusammenhang mit dem Text stehen, von dem sie abhängig sind, sowie in Epitexte, die von ihm getrennt disseminieren. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, mit einem Vorwort v. Harald Weinrich, aus dem Französischen v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 7 2019, S. 10. Als Paratexte des Betens überlieferte Mirakel können beide dieser Rollen einnehmen. 40 »Wie der besagte Rosenkranz seinen ersten Anfang nahm, zeigt das folgende Exempel«, Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 361. 41 »besser als alle stofflichen Kränze«, ebd. 42 »wie wir gemeinhin [oder: in der Volkssprache] lesen«, ebd. 43 Nancy Vine Durling: Li Miracles del capiel de roses. A Heretofore Unpublished Marian Miracle, ca. 1250, in: Medievalia et Humanistica 38 (2012), S. 1 - 20, hier S. 2. Für weitere Literaturangaben zur Überlieferung der verschiedenen Versionen des Mirakels in unterschiedlichen Volkssprachen siehe ebd., S. 16 f. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 109 <?page no="110"?> Abhängigkeiten ausmachen zu können. 44 Nicole Eichenberger schlägt daher schlüssig vor, hier von der für geistliche Kleinepik häufigsten Überlieferungssituation auszugehen, in der ein Stoff zwar »allgemein bekannt und im literarischen Referenzrahmen verankert ist, aber keine engere Verwandtschaft zwischen den einzelnen Ausformungen festgestellt werden kann«. 45 In jedem Fall prädatiert diese Erzählung die Niederschrift von Rosenkranzgebeten und war im Abfassungszeitraum der Trierer Rosenkranzklauseln bereits europaweit verbreitet. Im deutschsprachigen Raum ist der Erzählstoff vom Mönch mit den Rosenkränzen für das späte 13. Jahrhundert vor allem in Form von zwei eng verwandten kleinepischen Verserzählungen fassbar. Von einer entsprechenden wunderbaren Transformation von Gebeten zu Blumen berichten erstens der zumeist eigenständig überlieferte Marien Rosenkranz II sowie zweitens eine meist schlicht als Marien Rosenkranz betitelte Fassung. Letztere ist im Kontext der Marienlegenden des Passional überliefert, der um 1300 entstandenen monumentalen Legendensammlung aus dem literarischen Dunstkreis des Deutschen Ordens. 46 Ein Vergleich mit der späteren Kurzfassung bei Dominikus von Preußen legt nahe, dass er aus dieser deutschsprachigen Tradition schöpfte und die Geschichte gemäß der Version des Passional gekannt haben dürfte, 47 die hier folglich im Zentrum steht. Seiner narrativen Struktur nach stellt Marien Rosenkranz ein gedoppeltes marianisches Konversionsmirakel dar, in dem beide Bekehrungsvorgänge jeweils mit einer wundersamen Begebenheit einhergehen, in der Gebet und Blumenkranz enggeführt werden. Ein junger Schüler, so beginnt die Geschichte, hat trotz seiner Lernfaulheit, durch die aus ihm zunächst ein ribalt / und ein tumber betschelier (MR, V. 24 f.) 48 wird, die fromme Angewohnheit, täglich eine Marienstatue mit einem Kranzgebinde zu schmücken. Schließlich entscheidet er sich konversionshaft, ins Kloster zu gehen. Dort allerdings kann er das Maria gemachte Versprechen, ihr täglich einen Kranz zu flechten, nicht mehr einhalten. 49 Ein älterer Ordensbruder empfiehlt ihm daraufhin, Maria statt der floralen Kränze täglich ein geistliches Gebinde darzubringen, das statt aus Blumen aus 50 Ave Maria bestehen 44 Vgl. Joseph Dobner: Die mittelhochdeutsche Versnovelle Marien Rosenkranz, Leipzig 1928. Dobners weitgehend noch gültige Studie lieferte mit beträchtlichem philologischem Aufwand auch einen detaillierten Fassungsvergleich der deutschen Texte. 45 Nicole Eichenberger: Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters, Berlin/ München/ Boston 2015 (Hermaea 136), S. 109. 46 Vgl. Williams 1985. Das Passional-Mirakel ist in zugänglicher Form ediert bei Hans-Georg Richert (Hg.): Marienlegenden aus dem Alten Passional, Tübingen 1965 (ATB 64), S. 115 - 130 (im Fließtext zitiert als › MR ‹ ). Weiterführend zum Passional siehe Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional, Berlin 2015 (Literatur - Theorie - Geschichte 10); sowie die Neuedition von Annegret Haase, Martin Schubert u. Jürgen Wolf (Hg.): Passional, 2 Bd.e, Berlin 2011 (Deutsche Texte des Mittelalters 91,1/ 2). Einen inhaltlichen Vergleich der beiden deutschsprachigen Verserzählungen liefert Eichenberger 2015, S. 111 f. 47 Die Formulierung ut legitur divulgato impliziert, dass der Autor der Rosenkranzklauseln diese Geschichte in einer volkssprachigen Fassung kannte. Einige Details von Dominikus ’ Zusammenfassung, z. B. das bloße Beten des Mönches im Wald ohne unterstützendes Flechten eines physischen Blumenkranzes, entsprechen dem Mirakel des Passional, unterscheiden sich aber von Marien Rosenkranz II. Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 361. 48 »ein Taugenichts / und ein dummer Jüngling«. 49 Weshalb es einem Mönch nicht möglich sein sollte, täglich Blumen zu pflücken, führt die Erzählung dabei allerdings nicht aus - dies bleibt ein schwach motiviertes oder sogar blindes Motiv. 110 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="111"?> soll. Der Protagonist folgt dieser Empfehlung und nimmt als Folge seines Betens wundersam an Tugend und Weisheit zu. Als er schließlich während einer Reise auf einer Lichtung im Wald seinen Gebetskranz spricht, wird zwei Räubern, die ihm auflauern, eine Marienerscheinung zuteil: Sie sehen, wie aus seinem Mund Rosen wachsen, die eine schöne Dame pflückt und sich zu einem Kranz bindet. Beeindruckt von dieser Vision und den frommen Erläuterungen des Mönchs, den sie um die Bedeutung des Geschauten fragen, treten schlussendlich auch die beiden Räuber in einem zweiten Konversionsereignis ins Kloster ein. Marien Rosenkranz fügt sich damit inhaltlich in ein Korpus von Marienlegenden im und um das Passional ein, deren Thema die wundersame und heilbringende Wirkung des gebeteten Ave Maria ist. Hierzu zählen unter anderem auch das im Folgekapitel genauer analysierte Marienmirakel Heinrichs des Klausners sowie die Legenden von der Rettung des gehängten Diebes oder der Ave-Maria-Lilie, die sich ebenfalls im Passional finden. 50 Im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext des ausgehenden 13. Jahrhunderts sind diese Texte insofern signifikant, als dass sie als Werbung für eine noch recht junge Praxis des Ave- Betens zu lesen sind. Denn anders als das Paternoster, das Credo oder die Psalmen gehört das Ave Maria nicht zum seit frühkirchlicher Zeit verwendeten Basisbestand christlicher Gebetstexte. 51 Der aus dem biblischen Gruß des Erzengels Gabriel in der Verkündigungserzählung (Lc 1,28), den Namenszusätzen › Maria ‹ und › Jesus ‹ sowie den Segensworten der Elisabeth (Lc 1,42) zusammengesetzte Text des Ave Maria entstand vermutlich Ende des 7. Jahrhunderts als Offertorium zum Fest Mariä Verkündigung. 52 Lange Zeit blieb er auf diesen liturgischen Kontext beschränkt. Erst ab dem 11. Jahrhundert beginnen »sich die Zeugnisse für das privat gebetete und häufig wiederholte Ave Maria zu mehren«. 53 Die früheste bischöfliche Verordnung des Ave Maria als Gebetsformel für Laien datiert auf 1198. 54 Im Verlauf des Folgejahrhunderts schließlich etabliert sich das Ave Maria als drittes christliches Standardgebet neben dem Vaterunser und dem Credo. 55 Dass daher im späteren 13. Jahrhundert eine Vielzahl von Legenden und Mirakeln aufkam, die diese Gebetsformel bewerben und ihre heilsvermittelnde Wirkmacht ausstellen, scheint zunächst wenig erstaunlich, fallen diese Texte doch gerade in den Zeitraum einer rasanten Popularisierung des Ave Maria. In diesem ursprünglichen Kontext sind Marien Rosenkranz 50 Zum Marienmirakel Heinrichs des Klausners siehe unten, Kap. III.1, zu den anderen beiden Texten vgl. Richert 1965, S. 35 - 39 u. S. 80 - 84. Allgemein stellt Hans-Georg Richert dabei fest, dass »von den 25 Marienmirakeln« des Passional »allein zehn dieser Absicht«, also dem Lob des Ave-Gebets dienen (ebd., S. 158). Vgl. zur Propagierung des Ave-Gebets in Marienmirakeln um 1300 auch meine Ausführungen in dem Beitrag Björn Klaus Buschbeck: In goldenen Lettern. Gebetete Inschriftlichkeit im Spätmittelalter, in: Literatur und Epigraphik. Phänomene der Inschriftlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Laura Velte u. Ludger Lieb, Berlin 2022 (Philologische Studien und Quellen 285), S. 27 - 52, insb. S. 36 f. 51 Siehe dazu ausführlich Scherschel 1979, S. 49 - 90; Thomas Esser: Geschichte des englischen Grußes, in: Historisches Jahrbuch 5 (1884), S. 88 - 116; sowie F. L. Cross u. E. A. Livingstone (Hgg.): The Oxford Dictionary of the Christian Church, 3. Aufl., Oxford 2005, S. 734. 52 Vgl. D. Lipphardt: Art. Ave Maria. III. Das Ave Maria in der Liturgie, in: Lexikon der Marienkunde I (1967), S. 487. 53 Scherschel 1979, S. 57. 54 Sie stammt von Bischof Odo von Paris; vgl. Beissel 1909, S. 228 f. und Scherschel 1979, S. 65. 55 Ein zuverlässiger historischer Überblick findet sich ebd., S. 56 - 68. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 111 <?page no="112"?> und vergleichbare Mirakel also zunächst als »Propaganda des Avegebetes«, 56 als narrative Vehikel zur Verbreitung der neuen marianischen Standardgebetsformel zu verstehen. Die weitere Wirkungsgeschichte der Erzählung von Marien Rosenkranz jedoch, die sich auch über den Zeitraum der Einführung des Mariengrußes hinaus weiterverbreitete, fokussierte primär auf das Motiv der Entsprechung von zählend aufgesagten Ave-Gebeten und Kränzen, die in konkreter Form vorgestellt und schließlich auf wundersame Weise in der Marienerscheinung auch für die heimlichen Beobachter zur Evidenz werden. Dieses Narrativ des wunderhaften Durchlässig-Werdens der Grenze zwischen inneren und äußeren Gegenständen sowie der Sublimierung des Materiellen durch seine überwirkliche Nachfiguration im Gebet gab ein gutes Jahrhundert nach Niederschrift des Passional einerseits dem Rosenkranzbeten seinen Namen. 57 Andererseits informierte es auch die im Hintergrund dieser Gebetsform stehenden Ideen der frommen Fertigung geistlicher Gaben und lieferte dem individuellen Leser ein narratives Skript für die eigene religiöse Praxis. 58 Wie Hildegard Elisabeth Keller ausführt, vollzieht der Protagonist von Marien Rosenkranz, wenn er der Heiligen Jungfrau als Surrogat für das stoffliche Blumengebinde einen Gebetskranz spricht, innerlich eine »Metamorphose [ … ], welche die Blume im Gebet - als eine wundersame Zeichendoppelung - präsent sein lässt.« 59 Die gebeteten Worte erscheinen dabei allerdings nicht mehr bloß als sprachliche Zeichen, sondern auch als die im Geiste gegenständlich werdende Blumengabe. Immergiert in einen Raum des inneren Wahrnehmens nehmen die eigenen Worte für den Mönch die Gestalt floraler Geschenke an. Hierbei entfalten die gebethaft hergestellten Gebinde eine gleichsam bedeutsame wie präsentische Qualität, die über ihre von Keller primär in den Blick genommene Zeichenfunktion hinausweist. Denn für den Protagonisten des Mirakels sind seine Gebetsblumen nicht allein Zeichen einer gnadenvermittelnden Hinkehr zu Maria, sondern auch der konkrete Gegenstand innerer Erfahrung. Sie besitzen dementsprechend einen Doppelcharakter gleichzeitiger Zeichenhaftigkeit und Gegenwart, der in die Sphäre des Figuralen weist. Erfahrbar für Dritte wird diese Konkretheit des Gebeteten erst dann, wenn sich in der Vision der zuschauenden Räuber wundergleich das »Wort des mit Hingabe betenden Mönchs verselbstständigt, ja materialisiert«. 60 Anstatt dass wie zuvor Blumen durch 56 Dobner 1928, S. 43. 57 Dass der Name des Rosenkranzgebets auf diese Legende zurückgeht, ist in der Forschung allgemein akzeptiert und wurde zuerst nachgewiesen bei Esser 1904 sowie ausführlich in der quellenreichen und trotz ihres historisch distanten Stils immer noch gewinnbringend zu lesenden Studie von Herbert Thurston: The Name of the Rosary II, in: The Month 111 (1908), S. 610 - 623. 58 Mit Niklaus Largier gesprochen hat diese Erzählung damit im Sinne einer exemplarischen Anleitung Teil an einer durch das Rosenkranzgebet stimulierten »Produktion affektiver und kognitiver Konstellationen, die auf zwei Dinge abhebt: das Überschreiten einer als natürlich empfundenen Wahrnehmungs- und Gefühlsordnung einerseits, die Orientierung an exemplarischen Texten und Skripts der Dramatisierung andererseits« (Niklaus Largier: Gloria passionis. Zur Affektkultur der christlichen Mystik des Mittelalters, in: Handbuch Literatur & Emotionen, hg. v. Martin von Koppenfels u. Cornelia Zumbusch, Berlin/ Boston 2016 [Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 4], S. 244 - 260, hier S. 244). 59 Hildegard Elisabeth Keller: Rosen-Metamorphosen. Von unfesten Zeichen in spätmittelalterlichen Texten: Heinrich Seuses Exemplar und das Mirakel Marien Rosenkranz, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 49 - 67, hier S. 62. 60 Ebd. 112 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="113"?> Gebete ersetzt werden, nimmt nun Maria in einer zweiten Transformation Gebete in der Gestalt von Blumen an. Die Trennung zwischen Blume und Gebet, zwischen innerer und äußerer Welt und zwischen Vorgestelltem und Vorhandenem wird in Marien Rosenkranz somit doppelt verwischt durch zwei Ersetzungsszenen, die je einen genaueren Blick erfordern. Bereits zu Beginn des Mirakels gelobt der Protagonist, gezeichnet noch als Schüler, über den es heißt, sin kunst was ungehebe / und an schonen witzen kalt (MR, V. 22 f.), 61 Maria täglich einen Blumenschmuck zu flechten. Derartige religiöse Praktiken des physischen Bekränzens von Marienstatuen sind für das 13. Jahrhundert historisch gut belegt. 62 Gleichzeitig spielt das Motiv des Kranzflechtens und Bekränzens aber auch in der Minnedichtung des deutschsprachigen Mittelalters eine große Rolle. 63 Ob der Dichter des Mirakels hier direkte Anspielungen macht oder bloß Motivähnlichkeiten vorliegen, muss spekulativ bleiben. Wenn jedoch beispielsweise in Marien Rosenkranz geschildert wird, wie der Schüler blumen unde gras / an einen crantz immer las (MR, V. 38 f.), 64 so denken mit der Literatur des Mittelalters vertraute Leser unwillkürlich an jene gebrochen bluomen unde gras aus dem Lindenlied Walthers von der Vogelweide, 65 und auch weitere Formulierungen muten wie Übernahmen aus der höfischen Minnesprache an. Wie ein Minnediener seiner Dame bringt also der Protagonist des Mirakels täglich einem bilde, / gesniten und gehouwen / nach unser lieben vrouwen (MR, V. 52 - 54) 66 prächtige Kränze dar, die er zu jeder Jahreszeit in der Natur zusammensucht. Obgleich er mit sunden vlumen / gewonlich ander sache treib (MR, V. 64 f.), 67 so bleibt er in diesem einen Dienst doch treu und beständig. Auch der genaden stoz (MR, V. 71), der einen epiphanieartigen Sinneswandel auslöst und ihn zum Eintritt in den Zisterzienserorden anspornt, scheint mit der täglichen Kranzdarbringung kausal verbunden. Nun aber kommt es zur Krise: Das Versprechen, Maria täglich einen Blumenschmuck darzubringen, kann im geistlichen Stand nicht mehr eingehalten werden. In der älteren Forschung deutete Dobner dies unter Bezug auf den verwandten Text Marien Rosenkranz II als Zeichen für »eine genaue Kenntnis des zisterziensischen Klosterlebens« beim Autor der Dichtung. 68 Jedoch kann die an Maria gerichtete Klage des Mönches, daz ich dir von tage zu tage / min loben nicht gehalden mac, / als ich hi bevor pflac (MR, V. 116 - 118) 69 auch ohne Rekurs auf die angenommene historische Realität eines von Chorgebet und Arbeit lückenlos ausgefüllten Zisterzienseralltags als final motiviertes Erzählelement gelesen werden. Zentrales Thema nämlich des ersten Teils der Mirakelerzählung ist die Kehre des Protagonisten zu einem geistlichen Leben kraft seiner Hinwendung zu Maria. Eine materialbezogene Frömmigkeitsform 61 »sein Können war grobschlächtig / und verlassen von gutem Verstand«. 62 Vgl. dazu Scherschel 1979, S. 92; sowie oben, S. 105. 63 Vgl. Lentes 1993, S. 122; sowie Winston Allen 1997, S. 82 - 88. 64 »Blumen und Gras / stets für einen Kranz pflückte«. 65 »gebrochene Blumen und Gras«, Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2: Liedlyrik: Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, hg., übers. u. komm. v. Günther Schweikle, Stuttgart 1998 (RUB 820), S. 228. 66 »einer Statue, / geschnitzt oder gemeißelt / als Bildnis Unserer Lieben Frau«. 67 »mit sündiger Geläufigkeit / gewöhnlich andere Dinge trieb«. 68 Dobner 1928, S. 12. Im Original hervorgehoben. 69 »dass ich dir von Tag zu Tag / mein Versprechen nicht halten kann, / wie ich es vorher tat«. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 113 <?page no="114"?> entspricht dabei einem Leben in der Welt - auf dem Weg zur monastischen Innerlichkeit muss sie folglich erhöhend abgelöst werden. Dennoch aber ist das Ablassen vom Kranzflechten für den jungen Mönch zunächst schmerzhaft. Erst im Gespräch mit einem älteren und erfahreneren Bruder, dem er sein Leid klagt, wird ihm ein Ausweg aus dem Dilemma aufgezeigt: Statt wie zuvor Blumen zu sammeln und physische Gebinde zu fertigen, wird dem kurz vor der Verzweiflung stehenden Protagonisten nahegelegt, Maria von nun an doch besser geistliche Kränze aus Gebeten darzubieten. Die Anweisung des alten Mönches, die gewissermaßen den Angelpunkt des Mirakels bildet, ist dabei einerseits für das Verständnis der Erzählung aufschlussreich und war andererseits für seine spätere, die Praxis des Rosenkranzbetens informierende Rezeption folgenschwer: wiltu der wandels vrien, der kunigin Marien, tegelich in edelen sachen ein rosen crentzlin machen und daz mit lobe zieren, so saltuz ordinieren, daz du uber dine tage zit, di dir din regele sprechen git, immer sprechest ie dar na vumfzic Ave Maria, da mite ist das schepil gantz. und wizze, daz si disen crantz vur lilien und vur rosen nimt, wand er ir verre baz gezimt. (MR, V. 183 - 196) 70 Die materiellen Blumenkränze sollen, so lässt sich dieser Ratschlag zusammenfassen, durch Kränze aus Gebeten ersetzt werden. Dabei stellt das geistliche Kranzflechten aus 50 Ave Maria, die hier ausdrücklich als Privatgebet außerhalb der vorgeschriebenen Gebetszeiten gefasst sind, sowohl ein Surrogat für das physische Blumenbinden als auch seine Sublimierung dar. Umschrieben wird diese Verbindung von Ersetzung und Erhöhung durch die prägnante Verwendung des polysemen mittelhochdeutschen vur, wenn es heißt, Maria nehme die Gebete vur lilien und vur rosen an. Da diese Präposition sowohl eine stellvertretende Beziehung wie auch ein Übertreffen oder eine Bevorzugung implizieren kann, 71 muss der Vers gleichzeitig in dem Sinne gelesen werden, dass Maria die Gebete anstatt der Blumen annehme, wie auch dahingehend, dass sie die 50 Ave Maria noch lieber als Lilien und Rosen empfange. Beides ist hier impliziert. Der Akt des Betens ersetzt das Pflücken materieller Blumen, subtilisiert diese ursprünglich veräußerlichend-materialitätsgebundene Frömmigkeitspraxis, indem sie in die Innerlichkeit der aus Sprache und Imagination bestehenden, geistlich-konkrete Form annehmenden Kränze überführt wird, und versteht dies nicht bloß als Entsprechung, sondern sogar als Erhöhung der täglichen 70 »Willst du der Wankellosen, / der Königin Maria, / jeden Tag aus edlem Stoff / einen Rosenkranz fertigen / und diesen mit Lobpreis schmücken, / so sollst du es so einrichten, / dass du zusätzlich zu deinem Stundengebet, / das dir die Ordensregel zu sprechen auferlegt, / im Anschluss stets / 50 Ave Maria sprichst, / damit ist das Schapel vollendet. / Und wisse, dass sie diesen Kranz / anstelle von [oder: lieber als] Lilien und Rosen annimmt, / weil er ihr viel besser ansteht.« 71 Siehe Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1878, Sp. 584. 114 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="115"?> Kranzgabe. Das nuwe schepil (MR, V. 208) 72 aus Gebeten, das der junge Mönch von nun an täglich darbringt, ist ein besserer Dienst an der Gottesmutter als die Gebinde von blumen oder von boumblaten (MR, V. 165 f.), 73 mit denen er ihr vormals aufwartete. Die hier empfohlene Gebetsform, die wie oben beschrieben als Spielart des › handwerklichen Betens ‹ , also als Herstellen einer gleichzeitig zeichenhaft wie gegenständlich imaginierten Konkretisierung des Betens zu verstehen ist, bettet sich ein in den Kontext mehrerer religiöser Diskurse des späteren Mittelalters. So bewegt sie sich im Fahrwasser einer generelleren »Kritik am äußeren Werk«, die in der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ des 14. Jahrhunderts zugespitzt wurde und im ausgehenden Mittelalter sowie der Frühen Neuzeit vielfach in der auch im Kontext der Reformation bedeutsamen Position gipfelte, dass »[r]eligiöse Erfahrung nun [ … ] im Geist, nicht mehr im Fleisch ihren Ort« habe. 74 Auf einer frömmigkeitsgeschichtlichen Ebene werden hier zudem zwei entsprechend interiorisierende Formen religiöser Praxis miteinander verbunden, die in der geistlichen Literatur um 1300 je eine gewichtige Rolle spielen: einerseits das zählende Reihenbeten einer vorgegebenen, zumeist am Psalter orientierten Zahl an Ave Maria, andererseits mentale Techniken einer immersiv wirksamen Betrachtung, das heißt eines vergegenwärtigenden Vorstellens, das hier darüberhinausgehend als Herstellungsvorgang dargestellt ist. 75 »In der spätmittelalterlichen Frömmigkeit«, so führen Arnold Angenendt und Thomas Lentes aus, »war das Zählen geradezu allgegenwärtig. Nicht nur Quantifizieren und Multiplizieren kennzeichnete das religiöse Leben, vielmehr war das Zählen wesentlicher Bestandteil der gesamten Frömmigkeitspraxis.« 76 Dabei gestaltet sich die Rolle des Zählens in Gebet und Andacht vielschichtig. Wie Niklaus Largier aufzeigt, basieren derartige Formen der Quantifizierung erstens auf der Annahme »that through the accumulation of prayers and ascetic acts humans could acquire a trove of grace«. 77 Zweitens folgen sie festen Zahlensymboliken, so dass die Anzahl der verlangten Gebete zum zeichenhaften Element wird. Drittens erlangt das zählende Beten dabei »a specific role, which is intimately connected with the emergence of images and the absorption through images«. 78 Insbesondere letztere Funktion ist für das › handwerkliche Beten ‹ ausschlaggebend, wobei das Rosenkranzgebet als besonders prominente Spielart einer derartigen Stimulation immersiver Erfahrung durch das gezählte Gebet zu begreifen ist, durch die den auf diese Weise produzierten Bildern schließlich sogar der Status geistlichkonkreter Dinge zugesprochen wird. Vertikale und horizontale Medialisierungen münden hier in der als wirklichkeitshaft behandelten Figura des geistlichen Blumengebindes. Einem solchen Rosenkranz kommt im Mittelalter, zumindest bis zur Erweiterung dieser Gebetsform durch Alanus von Rupe (ca. 1428 - ca. 1475), meist entsprechend der Ausführungen in Marien Rosenkranz eine Reihe von 50 Ave Maria gleich. Dabei ist diese Form und Zahl des Reihengebets nicht willkürlich gewählt, sondern lehnt sich an den betenden 72 »neue Schapel«. 73 »aus Blumen oder Baumblättern«. 74 Lentes 1999, S. 32 u. 53. 75 Zum Begriff betrachtung siehe grundlegend Thali 2012. 76 Angenendt u. a. 1995, S. 41. 77 Niklaus Largier: Praying by Numbers: An Essay on Medieval Aesthetics, in: Representations 104 (2008), S. 73 - 91, hier S. 86. 78 Ebd. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 115 <?page no="116"?> Gebrauch der 150 Psalmen im monastischen Offizium an. Zunächst lässt sich die Aufteilung des Psalters in drei Fünfzigergruppen bereits für das spätantike Christentum nachweisen. 79 Frühe, meist aus Paternoster und ab dem 13. Jahrhundert zunehmend auch aus Ave Maria bestehende Gebetsreihen stellten ein hieran orientiertes, vor allem unter Laien verbreitetes Surrogat für das Psalmenbeten der Mönche dar. Sie entsprangen der Notwendigkeit, die Psalmen »zu ersetzen durch ein Wiederholungsgebet, dessen Kenntnis man auch beim einfachsten Gläubigen voraussetzen konnte.« 80 Das Vaterunser oder Ave Maria »ersetzt dabei den Psalm«, dessen Text illiteraten Gläubigen nicht zugänglich war. 81 Ein Gebet aus 50 wiederholten Standardformeln ist dementsprechend als Ersatz für das Abbeten einer Reihe von 50 Psalmen zu verstehen, wie es im monastischen Bereich Tradition hatte. 82 In der Gebetbuchliteratur können »etwa Wiederholungsgebete mit dem Ave Maria als Marianischer Psalter [ … ] oder ähnlich bezeichnet werden«, wobei zumeist 50 oder 150 Gebete verlangt werden. 83 Der Psalter und die damit verbundenen Formen des aufteilenden und zählenden Betens bilden somit die Schablone für Fünfzigergruppen aus Ave Maria, wie sie in Marien Rosenkranz dem Protagonisten als geistliche Kränze empfohlen werden. Dass eine derartige Praxis, die eine vereinfachende Imitation des Stundengebets der Mönche und Kleriker darstellt, unter Laien und Semireligiosen im 13. Jahrhundert zumindest bekannt, wenn nicht gar geläufig war, belegt eine Passage aus dem Dialogus miraculorum des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (ca. 1180 - ca. 1240). Caesarius berichtet dort von einem Inklusen namens Marsilius, der in den 1160er Jahren in Köln gelebt habe und beim Aussprechen des Namens Maria stets eine himmlische Süße habe schmecken können. Gefragt, was es damit denn auf sich habe, führt Marsilius dies auf sein tägliches Beten von gezählten Englischen Grüßen zurück: Singulis diebus in honore eius quinquaginta Ave Maria, cum totidem venis dicere consuevi, per quae tantam dulcedinem merui, ut omnis oris mei saliva orationis tempore in mel videatur conversa. 84 Jenseits der 79 Vgl. Heinrich Schneider: Die Psalterteilung in Fünfziger- und Zehnergruppen, in: Universitas. Dienst an Wahrheit und Leben. Festschrift für Bischof Dr. Albert Stohr, Bd. 1, hg. v. Ludwig Lenhart, Mainz 1960, S. 36 - 47. Siehe dazu auch Andreas Heinz: Die Entstehung des Leben-Jesu-Rosenkranzes, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 23 - 47, hier S. 28 f. Heinz und Schneider können die Psalterteilung bis zu Origenes nachverfolgen und führen zusätzlich zahlreiche Belege aus der irischen Kirche des Frühmittelalters sowie, davon abgeleitet, aus der Zeit der iroschottischen und angelsächsischen Mission in Mitteleuropa an. 80 Heinz 2003, S. 29. 81 Scherschel 1979, S. 63. 82 So führt z. B. Thomas Lentes aus: »In Cluny sahen die um 1080 niedergeschriebenen Consuetudines vor, daß jeder Priester für einen verstorbenen Mitbruder einmal die Messe singen sollte. Die Nicht- Priester sollten dies durch 50 Psalmen oder ebensoviele Paternoster ersetzen« (Lentes 1996, S. 507). An derartige, festetablierte Gebetsweisen lehnt sich auch das Mirakel Marien Rosenkranz in seiner Beschreibung des aus Gebeten zu fertigenden Blumenkranzes an. 83 Lentes 1996, S. 508. Dazu auch Scherschel 1979, S. 61 f.: »das wiederholende Beten des Ave Maria bewegt sich vielfach in einem bestimmten, am Psalter orientierten Zahlensystem. 50 Ave oder 150 oder ein Vielfaches von 50 bzw. 150 bilden das verbreitetste Zahlenmaß«. 84 »Täglich bete ich für gewöhnlich zu ihrer Ehre fünfzig Ave Maria mit ebenso vielen Kniebeugen. Dafür werde ich mit einer so intensiven Süßigkeit belohnt, daß aller Speichel meines Mundes zur Zeit des Gebetes in Honig verwandelt zu sein scheint«, Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Dialog über die Wunder, Bd. 3, eingeleitet v. Horst Schneider, übers. u. kommentiert v. Nikolaus Nösges u. Horst Schneider, Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86,3), S. 1472 f. [lib. 7, cap. 49]. 116 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="117"?> erstaunlichen Sinneseffekte des Reihengebets, die hier betont werden, erwähnt Caesarius also auch die Fünfzigergruppe, die Marien Rosenkranz und den späteren Rosenkranzgebeten zugrunde liegt. Vergleichbare Quellen, die möglicherweise bereits auf den Gedanken eines geistlichen Herstellens verweisen, führt Gilles Gerard Meersseman an, der belegt, dass die »Regel der Beginen zu Gent, die um 1242 eingeführt wurde«, den geistlichen Frauen »das tägliche Beten von drei Fünfzigern« auferlegte, »die hier hoedekins, d. h. Hütchen (capelletum), heißen und zusammen einen Marienpsalter ausmachen«. 85 In eine ähnliche Richtung geht eine deutschsprachige Mariengrußdichtung, die Karl Bartsch unter dem Titel Marien Rosengarten edierte und die vermutlich gegen Anfang des 14. Jahrhunderts verfasst wurde. 86 Wird dieser recht unsicheren Datierung gefolgt, ist ein Entstehungszeitraum kurz nach dem Mirakel vom Mönch mit den Rosenkränzen anzusetzen, mit dem Marien Rosengarten auch im Verbund überliefert ist. 87 Der Text, der einer kleinen Reihe gereimter volkssprachiger Marienpsalter des Mittelalters angehört, 88 besteht aus 50 Mariengrüßen zu je vier Versen, deren Dialektstand auf den mitteldeutschen Raum verweist. 89 Formal ist Marien Rosengarten damit, genau wie auch zahlreiche ähnlich strukturierte Texte in lateinischer Sprache, 90 an die am Psalter orientierten Fünfzigergruppen aus Ave-Gebeten angelehnt. Motivisch spielt der Text zudem mit den 85 Gilles Gerard Meersseman OP: Der Hymnos Akathistos im Abendland. Bd. 2: Gruß-Psalter, Gruß- Orationen, Gaude-Andachten und Litaneien, Freiburg/ Schweiz 1960 (Spicilegium Friburgense 3), S. 26. 86 Der Text ist abgedruckt bei Karl Bartsch (Hg.): Die Erlösung. Mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen, Quedlinburg/ Leipzig 1858, S. 284 - 290. Zur Datierung aufgrund sprachlicher, stilistischer und inhaltlicher Merkmale siehe ebd., S. LVI; sowie auch Peter Appelhans: Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Mariendichtung. Die rhythmischen mittelhochdeutschen Mariengrüße, Heidelberg 1970 (Germanische Bibliothek, Dritte Reihe: Untersuchungen), S. 39. Eine genauere Datierung dieses interessanten Textes dürfte schwer möglich sein, da eine Überlieferung vor dem 15. Jahrhundert fehlt. Die Angaben zum Entstehungszeitraum müssen daher mit Vorsicht betrachtet werden - denn inhaltlich wie sprachlich würde auch eine deutlich spätere Abfassung infragekommen. 87 Beide Texte finden sich in der im Zweiten Weltkrieg entwendeten und später in einzelnen Faszikeln wieder aufgetauchten ehemaligem Handschrift Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VI, 43 v , einer Sammelhandschrift des Nürnberger Katharinenklosters aus dem 15. Jahrhundert. Das Marien Rosengarten enthaltende Bruchstück trägt heute die Signatur München, BSB, Cgm 8498. Der Faszikel mit Marien Rosenkranz II ist wohl noch Teil der Privatsammlung Gerhard Eis, Heidelberg, Cod. 108; siehe dazu Ulla Williams: Art. Marien Kranz (Nachtr.), in: 2 VL 11 (2010), Sp. 969. Andere Teile der Handschrift bleiben verschollen. 88 Vgl. dazu zunächst Burghart Wachinger: Art. Mariengrüße, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 1 - 7; sowie Karl Joseph Klinkhammer: Art. Marienpsalter und Rosenkranz, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 42 - 50, insb. Sp. 43 f. Zum Hintergrund dieser Texte merkt Beissel an: »Neben der Sitte, Maria durch wiederholte, meist durch 50 oder 150 Ave zu ehren, ging eine andere, viel zu wenig beachtete her. Sie bestand darin, Unsere Liebe Frau zu grüßen durch Gedichte, welche anfangs in jeder Strophe mit Ave begannen« (Beissel 1909, S. 241; vgl. mit vielfach jedoch neu zu bewertenden Textbeispielen auch ebd., S. 241 - 250). Im Hinblick auf den Rosenkranz werden einige frühe Mariengrüße besprochen bei Winston-Allen 1997, S. 18 - 22. Ausführliche Literaturangaben finden sich ebd., S. 166 f. 89 Zur Lokalisierung vgl. Bartsch, S. LVI; Appelhans 1970, S. 39. 90 Eine Liste von 15 derartigen, vom 12. bis ins 15. Jahrhundert datierenden gereimten Marienpsaltern in lateinischer Sprache samt weiteren Literaturangaben bietet Meersseman 1960, S. 15 - 17. Die Bezeichnung rosarium o. ä. fällt hier nicht. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 117 <?page no="118"?> vielverbreiteten geistlichen Gartenallegorien und Listen der Namen für Maria. 91 So heißt es beispielsweise unter Aufgriff der gängigen Bezeichnung Marias als Himmelsrose: 92 Ich grûze dich du hemelische rôse, ich rûfe dich an mange pôse, ich bete dich mit innicheit, hilf mir zu der êwigen sêlikeit. 93 Derartige gereimte Mariengrüße in »Einheiten von 50 bzw. 150 mit oder ohne Ave und ähnlich eingeleiteten Preis- und Bittstrophen« dürfen als gängige, zu Gebet und Andacht nutzbare Untergattung innerhalb der geistlichen Lyrik des Mittelalters gelten. 94 Für mein Untersuchungsinteresse aufsehenerregend ist an Marien Rosengarten vor allem eine Grußstrophe, in der sich der Text selbst als Rosenkranz benennt: Ich grûz dich mit disem rôsenkranze, hilf uns zu dem hemelischen tanze und in den wunneclîchen schîn, dâ alle ûzerwelten in sîn. 95 Unter der Bedingung, dass die angenommene Datierung zutrifft, würde dieser Text belegen, dass die deutsche Bezeichnung Rosenkranz für eine Reihe von 50 Mariengrüßen, anders als von Richert angenommen, 96 bereits im frühen 14. Jahrhundert in Gebrauch kam. Aufgrund der erst im 15. Jahrhundert einsetzenden Überlieferung von Marien Rosengarten ist dieser Befund allerdings mit beträchtlicher Unsicherheit verbunden. Eine Visionsepisode aus der Vita der pfälzischen Prämonstratenserin Christina von Hane (ca. 1269 - 1292) hingegen berichtet von einer zählenden Gebetspraxis, die nicht bloß mit floralen Metaphern bezeichnet wird, sondern in einem Gnadenerlebnis gipfelt, in dem die mystisch begabte Nonne ihr Beten als konkreten Blumenschmuck schaut. 97 Zu Weihnachten nämlich habe Christina für sich allein im Chor xij funffzich Pater noster gebet, 98 also eine wie oben erläutert als Psaltersurrogat entstandene Fünfzigergruppe aus Standardgebeten mit der in der christlichen Zahlensymbolik auf die Begegnung des 91 Vgl. zur Tradition der marianischen Namen z. B. Fulton Brown 2018, S. 93 - 99; zu geistlichen Gartenallegorien vgl. Schmidtke 1982. 92 Vgl. Margot Schmidt: Art. Rose, in: Marienlexikon 5 (1993), Sp. 548 - 550. 93 »Ich grüße dich, du Himmelsrose, / ich sehr geringe [Person] rufe dich an, / ich bitte dich inniglich, / hilf mir zu der ewigen Seligkeit«, Bartsch 1858, S. 285 (V. 37 - 40). 94 Dorothea Klein: › Ave Maria ‹ meisterlich. Der englische Gruß in Spruchsang und Meisterlied, in: Traditionelles und Innovatives in der geistlichen Literatur des Mittelalters, hg. v. Jens Haustein, Regina D. Schiewer, Martin J. Schubert u. Rudolf Kilian Weigand, Stuttgart 2019 (Meister-Eckhart-Jahrbuch. Beihefte 7), S. 333 - 360, hier S. 333. 95 »Ich grüße dich mit diesem Rosenkranz / hilf uns zu dem himmlischen Tanz / und in das wonnevolle Licht / in dem alle Auserwählten sind«, Bartsch 1858, S. 286 (V. 77 - 80). 96 Richert sieht in dem Mirakel Marien Rosenkranz bloß »das sehr frühe Stadium einer Herausbildung der Bezeichnung, die erst wesentlich später [d. h. im 15. Jahrhundert] allgemeine Verbreitung erfuhr« (Richert 1965, S. 155). 97 Siehe Racha Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane. Untersuchung und Edition, Berlin/ New York 2017 (Hermaea 144), S. 286 f. 98 »zwölfmal fünfzig Vaterunser gebetet«, ebd., S. 286. 118 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="119"?> transzendenten Göttlichen mit der irdischen Welt verweisenden Zwölfzahl multipliziert. 99 Daraufhin sei der Visionärin zunächst das Christkind in einem Rosenhain erschienen, von dem es heißt: Iß waren keyn yrdeschen roißen, sie waren hemelsche. 100 Diese Himmelsrosen, so teilt Christus der Beterin mit, weisen in den Bereich der Bildrede - sie betzeychen yre na komen leben, das geziert sein solle myt hemelschen roißen, daz ist myt allen doegenden. 101 Doch bleibt es nicht bei dieser Schau vornehmlich zeichenhafter Blumen. Denn als anschließend zur Mette geläutert wird, hat Christina eine zweite Vision: Da sache sie aber daz zarte aller suberlichstes kyntgen stayn vor dem elter yn eyner wegen vnd iß was gedecket myt eym dechelach van roißen vnd vff eynem yecklichen blaytde der roißen stontde geschreben › Pater noster ‹ vnd iß hait eyn crantze vff sym heubt van xij gar schonen roißen vnd got gaiffe yre so verstayn, daz iß waren die czwolff funfftzich Pater noster, die sie dem kynde Jhesu gesprochen haitte. 102 Hier nun erscheinen die Visionsrosen nicht mehr allein als Zeichen für christliche Tugenden, sondern bilden vielmehr Figurationen eines Betens, das sich im Himmel zum geistlich konkreten Blumenschmuck verdichtet und auf diese Weise eine dinglich vorstellbare und im Gnadenerlebnis geschaute Gabe an Christus darstellt. Das Reihengebet wird hier nicht nur als Rosenkranz bezeichnet, vielmehr ist es ein überwirkliches Blumengebinde bzw. wird zu diesem. Ähnlich wie das Mirakel Marien Rosenkranz stellt dieser Visionsbericht eine außergewöhnlich frühe narrative Darstellung einer Gebetspraxis dar, die in der Herstellung derartiger geistlicher Rosengaben kumuliert. Wie Racha Kirakosian anmerkt, lässt sich dabei jedoch schwerlich bestimmen, inwiefern die Episode aus Christinas Vita »Ausdruck oder Folge solcher Praktiken war«, 103 also schon um 1300 eine extratextuell reale Gebetsweise widerspiegelt, wie sie gut hundert Jahre später z. B. durch den Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen angeleitet und verbreitet wurde. Zudem ist ähnlich wie im Fall von Marien Rosengarten unklar, inwiefern im Laufe der Überlieferung deutlich spätere Frömmigkeitspraktiken in die Vita eingeflossen sein könnten. 104 Unabhängig von derlei Fragen nach der Chronologie der Gebetspraxis und Begriffsgeschichte des Rosenkranzes zeichnet sich sowohl in Christinas Vita als auch in den 99 Die Zwölf wird in diesem Sinn z. B. als Produkt der göttlichen Dreizahl (Trinität) und der irdischen Vierzahl (Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Elemente) verstanden. Zudem ist hier auch an die Zahl der Apostel, die zwölf Stämme Israel oder die zwölf Tore des himmlischen Jerusalem zu denken. Vgl. die entsprechenden Einträge bei Heinz Meyer u. Rudolf Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 56), Sp. 620 - 645. 100 »Es waren keine irdischen Rosen, sie waren himmlische«, Kirakosian 2017, S. 286. 101 »bezeichnen ihr späteres Leben«, »mit himmlischen Rosen, das ist mit allen Tugenden«, ebd. 102 »Da sah sie wieder das zarte und allerreinste Kindlein vor dem Altar in einer Wiege stehen, und es war mit einer Decke aus Rosen bedeckt, und auf einem jeden Rosenblatt stand geschrieben › Pater noster ‹ , und es hatte einen Kranz aus zwölf sehr schönen Rosen auf seinem Kopf, und Gott gab ihr zu verstehen, dass dies die zwölfmal fünfzig Vaterunser wären, die sie für das Jesuskind gesprochen hatte«, ebd., S. 287. 103 Kirakosian 2017, S. 111. 104 Der Text ist in einer einzigen Handschrift des 16. Jahrhunderts überliefert (Straßburg, BNU, ms. 324). Ein Einfluss späterer Redaktionen, die möglicherweise auch Reflexe aus der Frömmigkeitspraxis des ausgehenden Mittelalters einarbeiteten, scheint daher denkbar. Ich danke Racha Kirakosian sehr herzlich für wichtige Auskünfte hierzu. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 119 <?page no="120"?> übrigen erwähnten Texten die Idee eines handwerklichen Betens ab, das auf die Fertigung geistlicher Dinge zielt, die dem gläubigen Menschen als himmlische Figurationen seiner Frömmigkeitspraxis innerlich evident werden. Sowohl in der Gebetsempfehlung des älteren Mönches im Mirakel Marien Rosenkranz als auch in der niederländischen Bezeichnung hoedekin für 50 Ave Maria und der Selbstcharakterisierung vom Marien Rosengarten als rôsenkranze schwingt diese Vorstellung mit. »Die Gebetsübung« wird, so Thomas Lentes, »zum künstlerisch-handwerklichen Akt«, in dessen Rahmen ein innerer Kranz »Blume für Blume in der Vorstellungskraft der Beter aufgebaut« wird. 105 Hierin ist die Quantifizierung des am Psalter orientierten marianischen Reihenbetens gekoppelt an das Imaginieren eines Blumenkranzes, der sich aus den dargebrachten Ave Maria als geistliche Konkretheit manifestieren soll. Die zugrundeliegende Analogsetzung von Text und Handwerksarbeit hat um 1300 bereits eine lange Tradition. Bilder der handwerklichen Fertigung stellen ein ungemein produktives Metaphernfeld für das Verfassen von Texten und den Umgang mit ihnen dar. Ein prominentes Beispiel hierfür bietet die Goldene Schmiede Konrads von Würzburg (ca. 1220/ 1230 - 1287). Dort ist das getihte ûz golde, das der Erzähler in der Schmiede seines Herzens fertigt und als ein lop durliuhtic unde glanz Maria darbringt, als komplexe Allegorie auf den poetischen Text markiert. 106 Im weitesten Sinne gehören Texte wie Marien Rosenkranz zwar in die gleiche Vorstellungswelt des Darbringens frommer imaginierter Kunstwerke, unterscheiden sich jedoch insofern von Konrads dichterischen Juweliersarbeiten, als dass den hier dargebrachten Gebetskränzen nicht vornehmlich oder allein eine allegorisch-zeichenhafte Qualität eignet. Denn geistliche Blumengaben repräsentieren eben gerade nicht materielle Blumenkränze oder Gebetsformeln. Statt als Zeichen sind sie besser als geistliche Gegenstände zu fassen, als »make-believe gifts fashioned, not from gold, silk, or beads, but from prayer formulas reiterated so often that the words took on the character of an incantation«. 107 Eine im Vergleich mit der stofflichen Welt besonders hervorgehobene Qualität erhalten diese Gebetskränze im Mirakel Marien Rosenkranz, wenn die Erzählung darauf besteht, dass Maria diese Gaben sogar lieber als echte Blumengebinde annehme. Hier ist nicht bloß Vergleichbarkeit oder Analogie impliziert - vielmehr betreibt die Erzählung eine Erhöhung der dargebrachten Gaben durch die verinnerlichende Ersetzung stofflicher Rosen durch Frömmigkeitsübungen, die reihenhaft gebetete Worte mit einem imaginierenden Eintauchen in eine Erfahrungswelt der durch diese Worte figurierten Gegenstände zu einem Prozess des geistlichen Anfertigens verbinden. Zunächst verbleiben die auf diese Weise hergestellten Kränze in einer imaginierten Wirklichkeit, in die der junge Mönch sich beim Beten versenkt. Sie entstehen vor seinem inneren Auge und führen auf wundersame Weise dazu, daz er mit grozen vugen / wuchs an witzen clugen, / in den er wol sich halden pflac (MR, V. 215 - 217). 108 Schließlich aber lässt die Erzählung den Prozess der sublimierenden Interiorisierung wiederum in einer mirakulö- 105 Lentes 1993, S. 126. 106 »Dichtung aus Gold«, »ein funkelndes und glänzendes Lob«, Konrad von Würzburg: Goldene Schmiede, hg. v. Wilhelm Grimm, Berlin 1840, S. 1. 107 Hamburger 1997, S. 75. 108 »dass er mit großem Geschick / an klugem Verstand zunahm / worin er sich gut zu bewähren pflegte«. 120 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="121"?> sen Exteriorisierung gipfeln. So transformiert sich das imaginativ Hergestellte visionshaft ins bildlich Offenbarte, wenn Maria den Räubern erscheint. Denn zumindest vor den Augen der beiden Wegelagerer werden dann die gebeteten Kränze zu sichtbaren Rosen. In seinem Verhältnis zur Gesamterzählung ist dieser zweite Teil von Marien Rosenkranz als »strukturell[e] Doppelung« zu fassen, 109 die den Weg des Protagonisten hin zu einem geistlichen Leben affirmiert und auf andere Figuren überträgt. In Hinblick auf das Motiv des gebeteten Blumenschmucks stellt die finale Episode des Mirakels außerdem eine evidenzschaffende Potenzierung dar, durch die der aus Gebeten figurierte Ave-Kranz auch für andere Personen der Handlungen zur Evidenz wird. Die Zäsur zwischen den beiden Teilen der Erzählung ist markiert durch einen Ortswechsel: In Ordensgeschäften unterwegs verlässt der junge Mönch das Kloster und macht in der heißen Mittagssonne Rast in einem Wald oder Baumgarten, wo er üppige blumen unde gras (MR, V. 234) erblickt, die cleinen vogelin schallen (MR, V. 244) hört und ein lustic swanc / des ruches (MR, V. 246 f.) ihm entgegenweht. 110 An diesem Ort, dessen Naturschönheit einerseits rückblendend an das ursprünglich materielle Blumensammeln des Protagonisten gemahnt und andererseits sowohl eine höfisch codierte Topographie des locus amoenus wie auch Assoziationen an den marianischen hortus conclusus anklingen lässt, 111 begibt sich der Mönch zum Gebet, um wie jeden Tag aus 50 Ave Maria der vrouwen crentzelin (MR, V. 253) zu sprechen. 112 Zwei Räuber, die es auf sein Pferd abgesehen haben, beobachten ihn dabei und sehen plötzlich di aller schonsten vrouwen, / di vleischlich ouge ie vernam (MR, V. 262 f.). 113 Gekleidet in ein prächtiges Gewand aus mit Blumen bestickter blauer Seide tritt diese wunderschöne Dame zu dem Mönch, woraufhin sich eine mirakulöse Transformation ereignet: als der munch hete entsaben ein Ave Maria und sprach, secht, welch ein wunder da geschach, wand es wart zu einer rosen! (MR, V. 278 - 281) 114 Das innige Durchdenken und Aussprechen der Gebetsformeln bewirkt, dass Sprache und Gedanken sich als augenscheinliche Blumen manifestieren. »Das Wort des mit Hingabe betenden Mönches«, so Keller, »verselbstständigt, ja materialisiert sich.« 115 Zwar war dies bereits zuvor das Kernprinzip der Gebetsweise, die der Mönch pflegte, nun aber treten die dabei betend gefertigten Gegenstände aus der inneren Erfahrungswelt des Protagonisten 109 Eichenberger 2015, S. 110. 110 »Blumen und Gras«, »das Singen der kleinen Vögel«, »ein angenehm / duftender Hauch«. 111 Zu diesen Topoi des amoenen Orts, der in Marien Rosenkranz zwischen weltlichen und geistlichen Konnotationen oszilliert, vgl. Dorothea Klein: Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung, in: Projektion - Reflexion - Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, hg. v. Sonja Glauch, Susanne Köbele u. Uta Störmer-Caysa, Berlin/ Boston 2011, S. 61 - 83. 112 »den Kranz der Herrin«. 113 »die allerschönste Frau, / die je ein leibliches Auge sah«. 114 »Als dem Mönch ein Ave Maria inne ward / und er es aufsagte, / seht, welch ein Wunder da geschah, / denn es wurde zu einer Rose! « 115 Keller 2003, S. 62. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 121 <?page no="122"?> heraus. 116 Aus der Immersion in den imaginierten Raum der im Gebet heraufbeschworenen Gegenstände emergieren nun wundersam auch äußerlich evidente Dinge. Maria beginnt vor den Augen der beiden Schurken damit, im brechen von dem munde / eine rosen nach der andern (MR, V. 284 f.) 117 und flicht sie mit silbernem Draht auf einen goldenen Reif. Aus 50 Ave Maria entsteht so ein Kopfschmuck aus 50 Rosen, so daz der rosen crantz / was vollenkummen und gantz (MR, V. 299 f.). 118 Schließlich setzt Maria den dergestalt aus Gebeten gebundenen Blumenkranz auf ihr Haupt und entschwindet. Nun fragen die beiden Räuber sich, was mit dieser eindrücklichen Erscheinung anzufangen sei. Denn genau wie der Wald, in dem diese Szene sich abspielt, zwischen überweltlichem Paradiesgarten und höfischem Liebesort oszilliert, so schwankt auch die Beschreibung der wunderschönen Frau, die sie sehen, zwischen Minnedame und Gottesmutter. Die Marienvision hat somit gewissermaßen ein Evidenzproblem. Erst als die Räuber den Mönch fragen, wer di vrouwe si gewesen, / di di rosen hat gelesen / alhi von uwern munde (MR, V. 339 - 341) 119 und sogar vermuten, dies sei durch goukelvure (MR, V. 343) geschehen, 120 lüftet sich für sie die Identität der geheimnisvollen Dame. Als nämlich die Wegelagerer ihm das Geschaute mitteilen, erkennt der Protagonist sein tägliches Kranzgebet, berichtet von dieser frommen Übung und schlussfolgert: hute ist di vrouwe zu mir kumen / und hat ir crentzil genumen. / daz sahet ir und ich nicht (MR, V. 379 - 381). 121 Obgleich ihm selbst die Vision also nicht zuteilwurde, weiß der Mönch sofort, was sich abgespielt hat - ihm war die Überführung von Gebeten in Blumenkränze ja schon längst innere Wirklichkeit, an der durch das Wunder der Marienerscheinung jetzt allerdings auch die beiden Räuber partizipieren. Auf die erhöhende Ersetzung der materiellen Blumenkränze durch das geistliche Kranzflechten im Gebet folgt somit eine zweite Steigerung, durch welche die geistlichen Blumengebinde auch für die Augen Dritter sichtbar werden. An diese mirakulöse Erscheinung schließt ein weiteres Wunder an, denn Marien Rosenkranz kumuliert in einem gattungstypischen Konversionsereignis. Die beiden Kriminellen verzichten nicht nur darauf, dem Mönch Leben und Habe abzunehmen, sie folgen ihm auch ins Kloster und da munchten sie sich beide (MR, V. 457). 122 Somit resultiert die Materialisierung der vergeistlichten Kränze wiederum in einer Vergeistlichung der beiden Räuber, die, ähnlich wie zuvor der nunmehr Mönch gewordene Schüler, durch den Rosenkranz Marias in den geistlichen Stand, zum Glauben und zu einem tugendhaften Leben finden. Im Hinblick auf die weitere Geschichte des Rosenkranzgebets sind aus diesem close reading vor allem drei Schlussfolgerungen zu ziehen. Erstens erzählt Marien Rosenkranz von einer komplexen Figurationskette des Betens, in deren Verlauf sich mehrere Metamorphosen von materiellem Gegenstand und gesprochenem Gebetswort, innerlich vergegenwärtigten, geistlich konkreten und visionär geschauten Dingen ergeben. Die 116 Keller erkennt in dieser Episode zudem schlüssig eine »Analogiebeziehung zur Inkarnation Christi durch Maria: Das Wort wird - hier als Rose - aus dem menschlichen Mund geboren« (ebd.). 117 »ihm eine Rose nach der anderen / aus dem Mund zu pflücken«. 118 »dass der Rosenkranz / vollständig und ganz war«. 119 »wer die Dame gewesen sei, / die gerade hier aus Eurem Munde / die Rosen gepflückt hat«. 120 »Zaubertricks«. 121 »Heute ist die Herrin zu mir gekommen / und hat ihr Kränzlein in Empfang genommen. / Ihr habt das gesehen, ich hingegen nicht.« 122 »da wurden sie beide Mönche«. 122 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="123"?> Erzählung leitet vom physischen Blumenschmuck über zu den unsichtbaren geistlichen Kränzen, die in einem Gnadenakt wiederum als sichtbare Blumen erscheinen. Die Grenze zwischen der stofflichen Welt und der im Gebet stimulierten inneren Wahrnehmung wird immer wieder vom Motiv des zwischen diesen Sphären changierenden Rosenkranzes durchbrochen. Grundlage der geistlichen Kränze ist eine Praxis des › handwerklichen Betens ‹ , die vorgängige Traditionen der vertikalen Hinkehr zum Heiligen mittels des am Psalter orientierten zählenden Reihengebets mit Verfahren der horizontal vergegenwärtigenden Immersion in eine dabei evozierte innere Wahrnehmungswelt verbindet. Dabei werden im Gebet produzierte geistliche Gegenstände in einer wertenden Hierarchie der Dinge höher eingestuft als stoffliche Dinge. Zweitens wird den gebethaft produzierten Kränzen für Maria ein figuraler Wirklichkeitsstatus zugewiesen, der über den einer zeichenhaften Vorstellung hinausgeht. So eignet ihnen eine heilsmächtige Kraft, die in Marien Rosenkranz immer wieder durchscheint, beispielsweise wenn der junge Mönch durch dieses Gebet plötzlich immense Geisteskräfte gewinnt, oder wenn die Schau der blumengewordenen Gebete die Räuber zu einer radikalen Umkehr ihres Lebenswandels animiert. Die gebeteten Kränze sind also nicht bloß als ephemere Gedankengespinste vorgestellt, sondern bilden Dinge, die eine Geschehensmächtigkeit (agency) ausüben, die in Anlehnung an Bruno Latour zumeist bloß physisch-konkreten Objekten zugeschrieben wird - doch auch den Blumenkränzen in Marien Rosenkranz kommt jener »Typ von Kraft, Kausalität, Wirksamkeit und Hartnäckigkeit zu [ … ], den nicht-menschliche Aktanten in der Welt besitzen«. 123 Unter Betonung der diesem Wort etymologisch zugrundeliegenden Metapher des Verdichtens und Verfestigens könnten diese gebeteten Kränze daher als geistliche Konkretheiten bezeichnet werden, in denen sich Wirklichkeit und Zeichenhaftigkeit figural vereinen. Drittens, und dies entfaltete vor allem in der Rezeption dieses Mirakels prägnante Effekte, ist der dergestalt aus Gebeten figurierte Kranz als Gabe an Maria vorgestellt, das heißt als exteriorisierbares Ding. Somit gehen die gebeteten Kränze auf in einer (theologisch stets prekären) Gabenökonomie des Heils, die, wie Marcel Mauss für profane Gabenökonomien beschreibt, auf die Annahme einer »Verpflichtung zur Gegengabe« abhebt. 124 Der Mönch in Marien Rosenkranz betet aus Hingabe zur Jungfrau Maria und erhält dafür unerbetene Gnadenerweise zurück. Ihre folgend in den Blick genommenen Rezeption illustriert, wie diese Mirakelerzählung im Spätmittelalter exemplarisch verstanden und die dort geschilderte Frömmigkeitsform in der Hoffnung auf eine äquivalente oder größere Gegengabe als Skript gelesen wurde, das eine Praxis des Rosenkranzbetens anleitet und präfiguriert. 123 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk- Theorie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2007, S. 132. 124 Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, mit einem Vorwort v. E. E. Evans-Pritchard, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1968, S. 48 f. Zur Vorstellung einer Gabenökonomie des Heils vgl. auch Angenendt u. a. 1995, S. 4 - 8; sowie Angenendt 2009, S. 373 - 378. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 123 <?page no="124"?> 2.2 Nachahmung und Gebrauch: Die Rezeption von Marien Rosenkranz im 15. Jh. Im 15. Jahrhundert, also dem Zeitraum, in dem sich das Rosenkranzgebet vornehmlich entwickelte, änderte sich die Rezeption der Mirakelerzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen. Statt als Wundererzählung zur »Propagierung des Mariengrußes« 125 wurde es nun zunehmend als Vorbildgabe für eine gelingende Frömmigkeitspraxis gelesen, die vom Lesepublikum imitiert und anverwandelt werden konnte. Eindrücklich zeigt sich dies an dem bereits einleitend erwähnten Beispiel der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen, denen als erklärender Paratext eine Prosakurzfassung von Marien Rosenkranz beigefügt ist, die das erzählte Wunder als Ursprungsereignis des Rosenkranzbetens markiert: Isto miraculo [ … ] Rosarium istud a piis atque devotis MARIAE famulis primitus coepit frequentari. 126 Die voranstehende Gebets- und Andachtsübung, in der eine Reihe aus 50 Ave Maria mit der immersiven Vergegenwärtigung des Lebens Christi sowie der Fertigung eines geistlichen Kranzes für die heilige Jungfrau verbunden ist, legitimiert dieser Zusatz als direkte Übernahme aus dem Mirakel. Der einzige Verdienst, der Dominikus selbst zukomme, so betont der Text, sei, dass er den einzelnen Mariengrüßen noch kurze Passionsbetrachtungen hinzugefügt habe, 127 ansonsten aber folge das Rosenkranzgebet ganz dem Vorbild der Wundererzählung. Damit kommt, wird der exemplarischen Logik des ihm beigegebenen Mirakels gefolgt, die betende Lektüre des Leben-Jesu-Rosenkranzes einer Aneignung und Nachahmung eines diese Gebetsform präfigurierenden ebenso wie affirmierenden Wunders (oder zumindest eines Teils davon) gleich. Die in Marien Rosenkranz geschilderte Fertigung von geistlichkonkreten Blumen steht somit allen Betenden offen, die damit zumindest implizit auch auf die dem Protagonisten des Mirakels gewährten Gnadenerweise hoffen können. Im »Zuge der Rosenkranzpropagierung« wurde die Wundererzählung zum frömmigkeitspraktischen Modell. 128 Dominikus von Preußen ist nicht der einzige Autor des 15. Jahrhunderts, der die Mirakelerzählung auf diese Weise frömmigkeitsdidaktisch funktionalisiert. Ihm schließt sich beispielsweise der 1477 aufgelegte Augsburger Druck der Statuten der Kölner Rosenkranzbruderschaft an, der den Bruderschaftstexten eine deutsche Version von Dominikus ’ Klauseln sowie mehrere Mirakel beifügt, darunter die aus Marien Rosenkranz bekannte Erzählung. 129 Hier wird die Charakterisierung dieser Geschichte als imitables 125 Richert 1965, S. 158. 126 »Durch dieses Wunder [oder: Mirakel] begann dieser Rosenkranz, zum ersten Mal von frommen und hingebungsvollen Jüngern Marias praktiziert zu werden«, Dominikus von Preußen: Liber experientiae II, S. 361. Ähnliche Aussagen finden sich auch in anderen Rosenkranzschriften der Trierer Kartause. So heißt es sinngleich in Dominikus ’ Zwanzig-Exempel-Schrift: Alsus ist der rosenkrantze erste off komen und uns auch kunt worden (Klinkhammer 1972, S. 174). Im Rosengertlin-Traktat wird dies ebenfalls berichtet: also qwam eß uß und ersten uff, das man diß unser Frauwen dinst thet und eynen rosenkrancz nennet (ebd., S. 136). Stets ist hier das Mirakel Marien Rosenkranz als Ursprungserzählung und rechtfertigende Erklärung für die in der Trierer Kartause entwickelte Gebetsweise angeführt. 127 Vgl. Dominikus von Preußen: Liber experientiae II, S. 362. 128 Williams 1985, Sp. 1279. 129 Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1477 (GW M38911), fol. 7r - 10v. Konsultiert wurde das digitalisierte Exemplar Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Inc. a. 0150. Die neben Marien Rosenkranz in dem Druck enthaltenen Mirakel stammen teils aus 124 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="125"?> Vorbild zudem noch um eine Nuance erweitert, wenn es heißt, der Protagonist habe nicht nur die vorweg angeleitete Gebetsweise gepflegt, sondern underweiset auch dz ander anda ᵉ chtig menschen und also hat diser geystlicher Rosenkrancz unser lieben frawen gehabt seinen ursprung und anvang genommen. 130 Diejenigen, die das Rosenkranzgebet gemäß der Instruktionen des Drucks praktizieren, können sich somit ganz in der Nachfolge des jungen Mönchs aus Marien Rosenkranz begreifen. Da die Unterweisung in dieser Art des Betens bei ihm ihren Ausgang nahm, dürfen auch die Leser des Drucks als seine geistlichen Nachfolger und Schüler gelten, die gleich den konvertierten Räubern seine Gebetsweise übernehmen. Ähnlich hatte ein Jahr zuvor bereits ein Mitgründer der Kölner Rosenkranzbruderschaft, der Dominikaner Michael Francisci ab Insulis (1435 - 1502), das Mirakel verwendet. In seinem Quodlibet de veritate fraternitatis Rosarii, einer erklärenden Verteidigungsschrift für den frischgegründeten Gebetszusammenschluss, 131 gibt er an, er habe in quodam libello, a devotis patribus Cartusiensibus de Treveri cuidam probo sacerdoti concesso, 132 von einer Begebenheit gelesen, die erkläre, wie und weshalb aus 50 Ave Maria ein Rosenkranz entstünde. Deshalb könne sein Gebetszusammenschluss auch Kranzbruderschaft (fraternitas de serto) genannt werden. 133 Was folgt, ist eine abbreviierte lateinische Version von Marien Rosenkranz. 134 Es besteht wenig Zweifel daran, dass mit dem kartäusischen Büchlein aus Trier, auf das sich Michael Francisci bezieht, die Rosenkranzklauseln oder eine der verwandten Schriften aus St. Alban gemeint sind, die dieses Mirakel ebenfalls enthalten. 135 Besonders hervorzuheben sind hierunter einerseits die Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen, die mittels eines ausgreifenden Korpus von Wundererzählungen die Praxis und heilsvermittelnde Wirkung des Rosenkranzbetens zu illustrieren sucht, 136 sowie eine anonyme lateinische Exempelsammlung aus der Trierer Kartause, die nach der Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen, teils finden sie sich, so wie beispielweise die Geschichte von der Nonne Fulalia (ebd., fol. 15r - 16r), auch in den späteren Druckfassungen von Der Heiligen Leben wieder. Zu letzterem Sachverhalt vgl. ausführlich Anne Simon: Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung im spätmittelalterlichen Nürnberg in: Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters, XXIII. Anglo-German Colloquium Nottingham 2013, hg. v. Henrike Lähnemann, Nicola McLelland u. Nine Miedema, Tübingen 2017, S. 185 - 199, insb. S. 188 - 192. Eine mögliche Abhängigkeit der Beigabentexte des Augsburger Statutendrucks von 1477 von dem Druck Rosenkranz unserer lieben Frauen, Basel: Martin Flach ca. 1475 (GW M38913) müsste noch untersucht werden. 130 »[Er] unterwies auch andere andächtige Menschen darin, und auf diese Weise hat dieser geistliche Rosenkranz Unserer Lieben Frau seinen Ursprung gehabt und seinen Anfang genommen«, ebd., fol. 12r. 131 Abgedruckt und ausführlich besprochen ist diese Schrift bei Heribert Christian Scheeben: Michael Francisci ab Insulis O. P., Quodlibet de veritate fraternitatis Rosarii, in: Archiv der deutschen Dominikaner 4 (1951), S. 97 - 162. Zur Kölner Rosenkranzbruderschaft siehe zudem ausführlich unten, Kap. II.5. 132 »in einem gewissen Büchlein, das von den frommen Trierer Kartäuserpatern einem tüchtigen Priester überlassen wurde«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 144. 133 Vgl. dazu auch Kliem 1963, S. 78 - 81. 134 Vgl. Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 144 f. 135 Hier kommt neben dem Liber experientiae und den Rosenkranzklauseln auch Dominikus ’ Zwanzig- Exempel-Schrift infrage, siehe dazu oben, S. 125. 136 Ediert bei Klinkhammer 1972, S. 171 - 191. Das erste Mirakel dieser Sammlung ist eine Prosavariante von Marien Rosenkranz. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 125 <?page no="126"?> dem Urteil des Herausgebers Andreas Heinz »in den ausgehenden 40er oder den beginnenden 50er Jahren des 15. Jahrhunderts« 137 niedergeschrieben wurde. Letztere Sammlung diente wahrscheinlich direkt oder indirekt als Vorlage für die an den Augsburger Statutendruck von 1477 angehängten Exempla. Impliziert wird diese Abhängigkeit erstens dadurch, dass es in dem Druck heißt, die andächtigen va ᵉ tter Cartuser ordens berichteten von den folgend erzählten Wundern. Zudem stimmen fast alle der dort in der Volkssprache wiedergegebenen Erzählungen inhaltlich exakt mit ihren lateinischen Gegenstücken in der von Heinz edierten Sammlung überein. 138 Dass der Dominikaner Marcus von Weida in seinem 1515 erschienenen Spiegel hochloblicher Bruderschafft des Rosenkrantz Marie die Geschichte von Marien Rosenkranz ebenfalls wiedergibt, sie dabei nun aber Michael Francisci zuschreibt, illustriert die dominoartige Dissemination dieses Textes. 139 Wie Wolfgang Kliem aufzeigt, unterscheiden sich diese neugerahmten Nacherzählungen von den älteren Fassungen von Marien Rosenkranz insofern, als dass die Geschichte hier »nicht auf die Bekehrung der Räuber hinausläuft, sondern auf den Ursprung, den Namen und die Verbreitung des Rosenkranzes«. 140 Das Mirakel vom Mönch mit den Rosenkränzen ist somit beinahe gänzlich zum erklärenden und instruierenden Begleittext geworden, der die Rosenkranzgebete und -anweisungen des 15. und 16. Jahrhunderts in der Überlieferung regelmäßig begleitet. Das Konversionswunder dient so der Frömmigkeitsdidaxe. Neben derartigen peritextuellen Beigaben taucht Marien Rosenkranz in der Gebetbuchliteratur zum Rosenkranz auch als impliziter Referenzpunkt auf. Dies illustrieren zunächst zahlreiche Gebetsanweisungen, die sich recht genau an der Szene des Mirakels orientieren, in der Maria die Blumen aus dem Mund des Mönchs pflückt. So heißt es beispielsweise in den Statuten der Colmarer Rosenkranzbruderschaft von 1485, die Betenden sollten die verlangten Reihengebete mit einem Glaubensbekenntnis einleiten, und dieses Credo bet ů tet das reisselin dar uff man die rosen binden sol. 141 Ein Straßburger Rosenkranzdruck von 1495, der wie üblich auch eine Prosafassung von Marien Rosenkranz enthält, 142 schreibt ebenfalls ein zu Beginn der Gebetsübung aufgesagtes Credo vor und führt 137 Andreas Heinz: Eine spätmittelalterliche Exempelsammlung zur Propagierung des Trierer Kartäuser- Rosenkranzes, in: Trierer Theologische Zeitschrift 92 (1983), S. 306 - 318, hier S. 317. Eine Exempelfassung von Marien Rosenkranz findet sich ebd., S. 313 f. 138 Sprenger: Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1477 (GW M38911), fol. 11r. Die ersten fünf Erzählungen des Druckes bilden, wenn auch in veränderter Reihenfolge, recht genau übertragene volkssprachige Fassungen der fünf Exempel der Trierer Sammlung, während das etwas ungewöhnliche letzte Exempel des Statutendrucks, das von der unachtsam betenden Nonne Fulalia berichtet (ebd., fol. 14r - 15r), sich dort nicht findet (zu diesem Text vgl. Simon 2017, S. 190 f.). Einige der in diesem Druck enthaltenen Wundergeschichten finden sich zudem auch in der Zwanzig-Exempel- Schrift des Dominikus von Preußen, vgl. Klinkhammer 1972, S. 173 - 187. 139 Vgl. Marcus von Weida: Der Spiegel hochloblicher Bruderschafft des Rosenkrantz Marie, hg. u. eingel. v. Antony van der Lee, Amsterdam 1978 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit 3), fol. 40r [Faksimileausgabe des Erstdrucks von 1515]. 140 Kliem 1963, S. 81. 141 »bedeutet den Reif [oder: Zweig], auf den man die Rosen binden soll«, Schmitt 1970, S. 106. 142 Vgl. Marien Rosenkrantz und psalter. Das güldin Rosenkrentzlin. Sant Anna br ů derschafft, Straßburg: Johann Prüss 1495 (GW M38921; Nachtr. 309), fol. 14r/ v. Digital konsultiert wurde das Exemplar Gotha, Forschungsbibliothek, Mon.typ 1495 4° 00005. Hier finden sich auch zahlreiche weitere Rosenkranzexempla. 126 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="127"?> anschließend aus: Auch wirt dürch den glauben betutet das ro ᵉ ßlin oder scho ᵉ ne dar uf die rosen gebunden werden. 143 Als motivische Inspiration und Imaginationsfolie für derartige, zusätzlich zu den Blumen gebethaft gefertigte Reifen und Schienen muss wiederum die Mirakelerzählung vermutet werden, in der Maria einen schonen reif von golde mitbringt, dar uf sie setzen wolde / blumen und ein schepil haben (MR, V. 275 - 277). 144 Die instruktive Verwendung von Wundererzählungen für darauf aufbauende geistliche Übungen ist in der Gebetbuchliteratur des ausgehenden Mittelalters kein singuläres Phänomen. Tatsächlich wird ein großer Teil der frühen Rosenkranzschriften von einem mehr oder minder umfangreichen Korpus an Marienmirakeln paratextuell begleitet. Als wegweisend dürfen hier neben der erwähnten Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen auch die zahlreichen Mirakelerzählungen des Alanus von Rupe gelten. 145 In verschiedenen Rosenkranzdrucken des ausgehenden 15. Jahrhunderts finden sich Sammlungen derartiger, zumeist zum Exempel gekürzter Texte. 146 In einem vergleichbaren Verhältnis zur Mirakelliteratur stehen auch die mit dem Rosenkranz verwandten Marienmantelübungen, denen sich das Folgekapitel dieser Untersuchung widmet. So besteht der Ripuarische Marienmantel des Dominikus von Preußen wesentlich aus einer vereinfachten, volkssprachigen Kurzzusammenfassung der Kernthesen des lateinischen Traktats, die allerdings mit einer Reihe von Mirakelerzählungen angereichert und veranschaulicht werden. 147 Die Erzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen bildet dabei eine Art Leitnarrativ, dessen Rezeptionsgeschichte illustriert, auf welche Weise die Gebetbuchliteratur des späten Mittelalters sich vorgängige Mirakel als frömmigkeitsdidaktische Exempel nutzbar machte. Dabei wird die Erzählung als Modell präsentiert, das aufzeigt, wie die mit ihm verbundenen geistlichen Übungen zu vollziehen sind und welche Heilshoffnungen hiermit verknüpft werden dürfen. Somit wird der Leserschaft eine Nachfiguration des Erzählten im eigenen Beten angetragen: Auch sie sollen, genau wie der junge Mönch, innere Vergegenwärtigung und gezählte Ave-Reihen miteinander verbinden und auf diesem Weg geistlich-konkrete Blumengaben für Maria anfertigen. Die wundersamen Metamorphosen, von denen Marien Rosenkranz berichtet, rücken für die Leserschaft des ausgehenden Mittelalters somit in den Bereich des Imitablen und damit Verfügbaren. Bereits an dieser narrativen Präfigurationsnahme des Rosenkranzbetens zeigt sich, wie beim geistlichen Kranzflechten Verfahren der Quantifizierung mit Momenten intensiver 143 »Das Credo bedeutet zudem den Reif oder die Schiene, auf die die Rosen gebunden werden«, ebd., fol. 3r. 144 »einen schönen Goldreif, / auf den sie Blumen binden / und somit ein Schapel haben wollte«. 145 Wie diese Mirakel auf vergleichbare Weise frömmigkeitsdidaktisch funktionalisiert wurden, versuche ich nachzuzeichnen in Björn Klaus Buschbeck: Funktionalisierungen des Wunders und Erweiterungen zur Legende. Die Dominikus-Mirakel des Ulmer Rosenkranzdrucks von 1483, in: Mystik und Legende. Mediologische Perspektiven, hg. v. Daniela Fuhrmann u. Thomas Müller, Zürich 2023 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 45), S. 57 - 84. 146 Neben den oben bereits angesprochenen Drucken ist hier vor allem ein auf Alanus aufbauendes, umfangreiches Rosenkranzbüchlein zu nennen, das wohl auf eine Initiative der Ulmer Dominikaner zurückgeht: Psalter Marie, Ulm: Konrad Dinckmut 1483 (GW M39197). Vgl. zu diesem Druck ausführlich Sabine Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-Holz- und -Metallschnitten des 15. Jahrhunderts, Zürich 2011 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 7), S. 183 - 193; sowie Buschbeck 2023 und Buschbeck 2022b, S. 46 - 48. 147 Vgl. dazu die Edition des Ripuarischen Marienmantels im Appendix dieses Buchs. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 127 <?page no="128"?> Verinnerlichung und Andacht verschmolzen werden. Wie Anne Winston-Allen anmerkt, ist die Geschichte des Rosenkranzes stark geprägt von dieser oft prekären Vereinigung zwischen einem kontrollierten äußeren Verfahren des betenden Zählens und einer eben nicht quantifizierbaren, mental und affektiv voraussetzungsvollen Andachtspraxis. 148 Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird auf dieses komplexe Verhältnis noch genauer einzugehen sein. Zunächst rückt dabei mit den Klauseln zum Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen eine Texttradition in den Blick, die das zählende und innerlich herstellende Reihengebet als Vehikel für eine intensivierte Form der Passionsmeditation präsentiert. Denn neben Zählen und imaginative Fertigung setzt der Trierer Kartäuser erstmalig den dritten konstitutiven Bestandteil des frühen Rosenkranzbetens: die beim Sprechen der Ave-Gruppen in einzelnen Betrachtungspunkten zu meditierenden › Rosenkranzgeheimnisse ‹ . 148 Dieses Spannungsverhältnis fasst Winston-Allen als »spirituality versus calculation« zusammen (Winston-Allen 1997, S. 6). Dabei bleibt jedoch die Funktion des Zählens, eine Versenkung in betrachtete Gegenstände ebenso wie ihre Produktion gerade erst zu ermöglichen, in dieser Formel unberücksichtigt - statt von einer Dichotomie ist hier eher von einem gegenseitigen Intensivierungsverhältnis auszugehen. In dieser Überlegung folge ich vor allem Largier 2008; ähnliche Gedanken finden sich auch bei Angenendt u. a. 1995. 128 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="129"?> 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause Der Rosenkranz »im heutigen Sinn einer marianischen Leben-Jesu-Meditation« stellt nicht die Folge einer einzigen innovativen Idee oder das Werk eines einzelnen inspirierten Autors dar. 149 Vielmehr muss diese Gebetsform als Produkt einer allmählichen Entwicklung verstanden werden, die, wie das oben behandelte Rosenkranzmirakel und seine Rezeption bezeugen, ihren Ursprung im am Psalter orientierten Reihengebet nahm und ab dem späten 13. Jahrhundert auch Vorstellungen der imaginativen Vergegenwärtigung und gebethaften Herstellung geistlicher Votivgaben einschloss. Ihren frühneuzeitlichen Abschluss fand diese Evolutionslinie durch das Breve Consueverunt vom 17. September 1569, in dem Papst Pius V. die Form des Rosenkranzes kirchenamtlich bindend auf 150 Ave Maria festlegte, die durch 15 Paternoster in Zehnergruppen geteilt werden, wobei jede dieser Gruppen mit einem Betrachtungspunkt zu Leben und Passion Christi verbunden ist. 150 Zwischen der 1569 fixierten Form des Rosenkranzes, die diese Gebetsweise zuungunsten ihrer vielfältigen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sonderformen recht strikt vereinheitlichte, 151 und der gebethaften Fertigung geistlicher Blumengebinde, wie sie in Marien Rosenkranz narrativ entworfen wird, besteht eine Reihe von Unterschieden. Drei davon seien hier herausgegriffen: Erstens rückt im 16. Jahrhundert die Vorstellung eines › handwerklichen Betens ‹ zunehmend in den Hintergrund und verschwindet schließlich ganz. Das Breve Consueverunt erwähnt Ave-Kränze oder sonstige Werkstücke des Betens nicht mehr. Zweitens unterscheiden sich Zahl, Aufteilung und Charakter der Gebetsformeln, die der durch Pius V. festgelegte Rosenkranz verlangt, von der schlichten Fünfzigergruppe aus Ave Maria, die der Protagonist der Wundererzählung täglich aufsagt. Die formale Komplexität dieser Frömmigkeitspraxis hat sich also gesteigert. Drittens schlussendlich schließt die ab 1569 bindende Form des Rosenkranzes meditative Betrachtungen des Lebens und Wirkens Jesu ein, die in dem zu ihrem Ursprungsnarrativ mutierten Mirakel fehlen. Während der Befund, dass das Rosenkranzgebet im späteren 16. Jahrhundert zunehmend nicht mehr als Herstellung eines geistlich-konkreten Blumenkranzes konzipiert wird, im Kontext einer weitreichenderen Entwicklung der christlichen Frömmigkeits- 149 Heinz 1998, S. 404. 150 Vgl. Bullarium, diplomatum et privilegiorum sanctorum Romanorum pontificum Taurinensis editio, Bd. 7, hg. v. Aloysius Tomassetti, Turin 1872, S. 774 - 777 [Nr. CXXXIX], insb. S. 775. 151 Thomas Lentes, der mit dem Himmlischen Rosenkranz eine dieser Sonderformen in den Blick genommen hat, stellt fest, dass »bis weit ins 16. Jahrhundert hinein [ … ] - jedenfalls was die Inhaltsseite betraf - die unterschiedlichsten Rosenkränze« kursierten (Lentes 2003, S. 69). Anne Winston-Allen, die dieses Material kursorisch sichtet, führt diesbezüglich aus: »A look at the contents of prayer books between about 1475 and 1550 reveals a bewildering array of rosaries, forms with 200, 165, 150, 93, 63, 33, 12, and as few as 5 meditations« (Winston-Allen 1997, S. 25). Mit den bei Alanus von Rupe vorgeschlagenen verschiedenen Gebetsweisen des Rosenkranzes werden unten, Kap. II.4.1, einige dieser Sonderformen exemplarisch angesprochen, wobei eine Gesamtschau des enormen Korpus jedoch schon aus Umfangsgründen unmöglich ist. <?page no="130"?> praxis weg von ding- und bildbezogenen Imaginationsübungen wie dem › handwerklichen Beten ‹ zu verstehen ist, 152 geht der päpstlich vorgegebene Aufbau des Rosenkranzbetens aus 150 Ave Maria und 15 Paternoster in erster Linie auf den Marienpsalter des Dominikaners Alanus von Rupe zurück, auf den ich unten genauer eingehe. Die Kombination von zählendem Beten, geistlichem Blumenbinden und einer meditativen Betrachtung des Lebens und Leidens Christi dahingegen reflektiert eine frühere und auch einschneidendere Neuerung. Denn das »Rosenkranzgebet im engeren Sinn konstituiert sich in der gezielten Verknüpfung von Betrachtung und Gebet«, wobei die schriftliche Konzeption dieser Verbindung sich historisch genau situieren lässt: 153 Zumindest in der für die weitere Entwicklung des Rosenkranzes wesentlichen Form wurde sie in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Trierer Kartause St. Alban entwickelt. 154 Unter dem Prior Adolf von Essen (ca. 1350 - 1439) verfasste dort vor allem Dominikus von Preußen (ca. 1384 - 1460) eine Reihe kürzerer Schriften, die der Anleitung und Verbreitung einer neuen Frömmigkeitsübung dienten, die ein an der Mirakelerzählung orientiertes geistliches Kranzflechten mit gezählten Ave Maria und einer durch den Text stimulierten Vergegenwärtigung der Heilsereignisse des Erdendaseins Jesu und Marias vereint. Gegründet im Jahr 1331 durch den Erzbischof Balduin von Trier avancierte St. Alban schnell zu einer der bedeutendsten Kartäuserniederlassungen im deutschsprachigen Raum. 155 In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts darf dieses Ordenshaus geradezu als Innovationslabor der Frömmigkeitsliteratur gelten. Hier entstanden unter anderem Dominikus ’ von Preußen im Folgekapitel genauer besprochenes und im Appendix ediertes Pallium beate Marie virginis und die damit zusammenhängenden Marienmantelschriften, 156 eine ebenfalls aus seiner Feder stammende Andacht zur gebethaften Konstruktion eines inneren Hauses, die voluminöse marianische Dingallegorie Corona gemmaria (ca. 1432 - 1439) 157 sowie der semiautobiographische Liber experientiae (ca. 152 Vgl. dazu die Ausführungen bei Lentes 1999. 153 Albrecht Dröse: Ein newes Gedicht, das von Marie Psalter spricht. Sixt Buchsbaums Rosenkranzgedicht im Herzog-Ernst-Ton, in: Maria in Hymnus und Sequenz: Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven, hg. v. Eva Rothenberger u. Lydia Wegner, Berlin/ Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 345 - 371, hier S. 347. 154 Dass eine Verbindung von 100 Ave Maria mit gebethaft zugefügten Meditationspunkten in lateinischer Sprache bereits in einem um 1300 geschriebenen Gebetbuch der Zisterzienserinnen des Klosters St. Thomas an der Kyll (Trier, Stadtbibl., HS. 1149/ 451 8°) überliefert ist, wird ausführlich behandelt bei Heinz 1977. Diesem Text fehlt einerseits die Komponente des › handwerklichen Betens ‹ ebenso wie jeder Verweis auf das Mirakel Marien Rosenkranz - es handelt sich hier also um eine durch gezählte Mariengrüße in Betrachtungspunkte gegliederte Leben-Jesu-Andacht, die allerdings große strukturelle Ähnlichkeit zu den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen aufweist. Andererseits ist nicht bekannt, ob der unikal überlieferte Text je über St. Thomas an der Kyll hinaus Verbreitung fand. Heinz selbst geht davon aus, dass die Trierer Kartäuser »mit Sicherheit keine Kenntnis von dieser Gebetsform« hatten (Heinz 2003, S. 37). Auf die Ausformung des Rosenkranzgebets im 15. Jahrhundert nahm die zisterziensische Andachtsübung daher keinen direkten Einfluss. Vgl. dazu mit weiteren Ausführungen unten, S. 147. 155 Eine wenn auch den dortigen Schreibbetrieb nicht behandelnde Geschichte dieses Ordenshauses bietet Manfred Olding: Die Trierer Kartause St. Alban von der Gründung (1330/ 31) bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, Salzburg 1995 (Analecta Cartusiana 132). 156 Siehe dazu genauer unten, Kap. III.3. Dieses Korpus ist zudem im Appendix kritisch ediert. 157 Auszüge finden sich abgedruckt bei Anneliese Triller: Jugenderinnerungen an die Heimat im Werke des Kartäusers Dominikus von Preußen (1384 - 1460). Mit einem Quellenanhang mitgeteilt von P. Karl 130 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="131"?> 1439 - 1458). 158 Den größten Einfluss unter dem reichen und bislang nicht befriedigend erschlossenen Schrifttum dieses Ordenshauses jedoch nahm ein Komplex an schriftlichen Gebetsübungen, Exempelsammlungen und Traktatschriften, aufgrund derer die Trierer Kartause »als Ursprungsort des heutigen Leben-Jesu-Rosenkranzes angesehen werden« muss. 159 3.1 Quellenlage und Forschungssituation zum Trierer Rosenkranzkorpus Im Zentrum des Trierer Rosenkranzkorpus stehen die bereits mehrfach erwähnten, womöglich »im Advent des Jahres 1409« entstandenen Rosenkranzklauseln oder Clausulae de vita Christi des Dominikus von Preußen. 160 Diese Gebets- und Meditationsübung ist in den Folgejahrzehnten variantenreich sowohl in der Volkssprache wie auch auf Latein überliefert. Karl Joseph Klinkhammer nahm hierzu vornehmlich aus Gründen des Bauchgefühls an, es sei »unwahrscheinlich, daß die ersten Clausulae in lateinischer Sprache von Dominikus abgefaßt wurden«. 161 Allerdings muss, da Frömmigkeitsliteratur aus der Trierer Kartause regelmäßig parallel in lateinischen und deutschsprachigen Fassungen überliefert ist, ohne dass sich dabei eine klare Abhängigkeit oder chronologische Reihenfolge feststellen ließe, diese These als spekulativ gelten. 162 Vielmehr stellt eine derartige nicht-hierarchische Gleichzeitigkeit von Latein und Volkssprache geradezu ein Charakteristikum dieses Textkorpus dar, das darauf abzielte, zu Gebet und Andacht bestimmte Schriften sowohl im eigenen Ordenskontext als auch für ein lateinunkundiges Laienpublikum zugänglich zu machen. 163 Dementsprechend sind die frühen lateinischen Joseph Klinkhammer S. J., in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 31/ 32 (1967/ 1968), S. 41 - 58. 158 Ediert als Dominicus de Prussia: Liber experientiae I/ II. 159 Heinz 1983, S. 306. 160 Heinz 2003, S. 25. Der lateinische Text ist nach der dem Liber experientiae angehängten Fassung abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 198 - 202, sowie auch in der Ausgabe Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 355 - 359. Erstere Ausgabe wird folgend als › RK lat. ‹ mit Zeilenangabe im Fließtext zitiert. 161 Klinkhammer 1972, S. 225. Die deutsche Fassung aus der Handschrift Köln, Hist. Archiv, MS. Wkf 119, fol. 73r - 77r, die 1469 in der Kölner Kartause fertiggestellt wurde, entspricht inhaltlich und formell bis auf wenige kleine Abweichungen dieser lateinischen Fassung. Klinkhammer hielt sie für die älteste erhaltene Version der Rosenkranzklauseln und druckte diesen Text ab (siehe Klinkhammer 1972, S. 222 - 224). Dieser Abdruck wird folgend als › RK ‹ im Fließtext zitiert. Zur Handschrift vgl. außerdem die Angaben zur Edition des Pallium beate Marie virginis im Anhang der vorliegenden Studie. 162 Dies illustrieren z. B. die unten untersuchten Marienmantelschriften aus diesem Ordenshaus, die jeweils in lateinischen Fassungen und volkssprachigen Gegenstücken überliefert sind. Eine Ausnahme stellt hier Dominikus ’ Constructio domus sive aule Marie dar, die sich primär an das engere kartäusische Umfeld des Verfassers richtet und wohl deshalb nur auf Latein vorliegt. Siehe dazu ausführlich unten, Kap. IV.4.3. 163 Dass sich der volkssprachige Text z. B. bereits in einem 1451 fertiggestellten und von Stefan Lochner repräsentativ illustrierten Gebetbuch findet (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., HS. 70, fol. 142r - 149v), belegt, dass sich die Rosenkranzklauseln unter Laien schnell verbreiteten und zum prestigereichen Text wurden. Die Handschrift wurde vermutlich von professioneller Hand für ein Mitglied der wohlhabenden Kölner Kaufmannsfamilie Hardenrath angefertigt, siehe dazu Gerhard Achten u. Hermann Knaus: Deutsche und niederländische Gebetbuchhandschriften der Hessischen 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 131 <?page no="132"?> und volkssprachigen Rosenkranzklauseln als gleichrangige, in überschneidenden Kontexten des 15. Jahrhunderts zeitgleich zirkulierende Werke zu betrachten. Neben die Rosenkranzklauseln treten mehrere Trierer Schriften, welche die von diesem Text vorgegebene geistliche Übung bewerben, instruieren und erläutern. Hier ist zuerst der Traktat von Unser Frauwen Marien Rosengertlin zu nennen, der eine allegorische Erläuterung der Bezeichnung › Rosenkranz ‹ und des zugrundeliegenden Blumenmotivs bildet, die diese Frömmigkeitsübung in ein Figurationsverhältnis zum Leben Marias und ihres Sohnes setzt und sie dabei an die zeitgenössische Mariologie und Passionsfrömmigkeit rückbindet. 164 Dieser Text, der gegen Ende in eine Betrachtung der mit Rosenblüten verglichenen Wunden Christi übergeht, datiert wohl auf ungefähr 1430. 165 Zum Rosenkranzkorpus aus der Kartause St. Alban gehört an dritter Stelle die sogenannte Zwanzig-Exempel-Schrift, eine volkssprachige Sammlung von in Prosa gehaltenen Mirakeln und Exempla zum Rosenkranzgebet, unter denen sich auch eine Version der Erzählung von Marien Rosenkranz findet. 166 Dabei ist anzunehmen, dass diese Schrift »Dominikus von Preußen selbst zum Verfasser haben dürfte«, denn mehrere der enthaltenen Geschichten finden sich auch in seinem Liber experientiae. 167 Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist diese Kompilation identisch mit den XX a bona exempla nova et vetera, von denen ein Lütticher Benediktinermönch um 1440 schreibt, sie seien in der Abtei St. Laurent vorhanden und stammten ex scriptis carthusiensium treverensium. 168 Da der Text seinem Inhalt her nach den Rosenkranzklauseln entstanden sein muss, kann er folglich zwischen ungefähr 1410 und 1440 datiert werden. Eng verwandt und in den wiedergegebenen Erzählungen teils deckungsgleich mit der Zwanzig-Exempel-Schrift ist Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Darmstadt 1959 (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt 1), S. 138 - 144. Auch Adolfs von Essen auf kurz nach 1434 datierende Vita der lothringischen Herzogin Margaretha von der Pfalz, der er nach eigener Angabe wohl in den Jahren zwischen 1409 und 1415 die Rosenkranzklauseln in deutscher Sprache zugeschickt hatte, veranschaulicht die gezielte Dissemination des Trierer Rosenkranzkorpus in verschiedene soziale Milieus; vgl. Scherschel 1979, S. 139 - 146; sowie, mit zahlreichen Fehlangaben, Klinkhammer 1972, S. 117 - 130. 164 Abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 135 - 156. Folgend im Fließtext als »RG« zitiert. 165 Die lateinische Fassung ist unter dem irreführenden Titel De Commendatione Rosarii abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 163 - 171. Klinkhammer versucht, die beiden Traktate auf eine seiner Interpretation nach um 1400 von Adolf von Essen verfasste Schrift zurückzuführen, die vom Autor selbst 1434 ins Lateinische übertragen worden sei. Nach Adolfs Tod 1439 habe sie Dominikus von Preußen unter Heranziehung nachgelassener Papiere Adolfs zur längeren deutschen Traktatfassung ausgebaut (vgl. ebd, S. 131 - 134 u. S. 161). Diese Datierung und Zuschreibung wird von den erhaltenen Quellen der Trierer Kartause nicht gestützt und muss als fantasievoll gelten. Vor allem Dietrich Schmidtke unterzog Klinkhammers Thesen zum Rosengertlin einer Überprüfung und kam dabei erstens zu dem Ergebnis, dass für die Zuschreibung des ursprünglichen Traktats an Adolf von Essen keinerlei Belege festzumachen sind, diese Schrift jedoch von Dominikus von Preußen in der Corona gemmaria (ca. 1432 - 1439) ausdrücklich als eigenes Werk genannt wird. Diese veränderte Autorzuschreibung lässt auch Klinkhammers Datierung zusammenfallen, weshalb Schmidtke, dem sich hier angeschlossen wird, das Rosengertlin tentativ auf ca. 1430 datiert (vgl. Schmidtke 1982, S. 12 u. S. 240 - 242). 166 Abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 173 - 187; folgend im Fließtext als › ZES ‹ zitiert. 167 Heinz 1983, S. 308. Siehe dazu auch mit berechtigtem Nachdruck Scherschel 1979, S. 141 f. 168 »20 gute Exempel, darunter alte und neue«, »aus den Schriften der Trierer Kartäuser«, Klinkhammer 1972, S. 172. Die hier behauptete Zuschreibung an Adolf von Essen, aus dessen Nachlass Dominikus die Zwanzig-Exempel-Schrift zusammengestellt habe, ist irrig. Sie wird gründlich widerlegt bei Scherschel 1979, S. 141 f. 132 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="133"?> eine Zusammenstellung von fünf lateinischen Rosenkranzmirakeln aus der Trierer Kartause, die Andreas Heinz edierte und für die er schlüssig feststellt, sie dürfe »in den ausgehenden 40er oder den beginnenden 50er Jahren des 15. Jahrhunderts noch zu Lebzeiten des erst 1460 verstorbenen Dominikus niedergeschrieben worden« sein. 169 Auch hier ergibt sich also das für Gebets- und Andachtsliteratur aus St. Alban charakteristische Nebeneinander von Latein und Volkssprache. Zusätzliche Belege für die Verbreitung der Rosenkranzfrömmigkeit durch die Trierer Kartäuser finden sich im Liber experientiae des Dominikus von Preußen sowie in der Vita der lothringischen Herzogin Margarethe von der Pfalz (1376 - 1434). Letztere Schrift fasste Adolf von Essen wohl nach dem Tod der heiligmäßig lebenden Adligen ab. 170 In ihr wird erwähnt, der Dame sei aus Trier »eine Rosenkranzschrift mit Betrachtungspunkten vom Leben Jesu«, also vermutlich die Rosenkranzklauseln, zugesandt worden, die sie mit großem Eifer für ihr privates Beten genutzt habe. 171 Ein Blick auf die Editionslage dieser Werke bietet ein mindestens gemischtes Bild. Denn freilich enthält die Quellensammlung, die der Jesuit Karl Joseph Klinkhammer in den frühen 1970er Jahren herausgab, einerseits allgemein recht zuverlässige Abdrucke der Trierer Rosenkranzschriften nach den nachvollziehbar maßgeblichen und ältesten Textzeugen. 172 Andererseits jedoch entsprechen diese Abdrucke erstens nicht den Ansprüchen an eine moderne Edition und wurden zweitens oftmals unter zweifelhaften Vorannahmen zu Autorschaft und Verfasserintention konstituiert. 173 Eine kritische Ausgabe des Trierer Rosenkranzkorpus bleibt demgemäß ein Forschungsdesiderat - indessen eines, das an dieser Stelle nicht erfüllt werden kann, weshalb ich folgend trotz aller Vorbehalte auf Klinkhammers Texte zurückgreife. Schwer ins Gewicht fällt außerdem, dass von den übrigen Schriften des 15. Jahrhunderts aus der Trierer Kartause allein der zweiteilige Liber experientiae des Dominikus von Preußen in einer (wenn auch nur eingeschränkt nutzbaren) modernen Ausgabe vorliegt. 174 Die sonstigen Texte aus St. Alban blieben bislang unediert, obgleich gerade sie es erlauben, die Entwicklung des Leben-Jesu-Rosenkranzes kultur- und literaturgeschichtlich in einen vielfältigen Kontext von Schriften zu Gebet und Andacht aus diesem 169 Heinz 1983, S. 317. 170 Abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 118 - 130. Klinkhammers Vermutung, Adolf von Essen habe die Vita bereits zu Lebzeiten der Herzogin ab ca. 1423 abgefasst (vgl. ebd., S. 117 u. 130), um sie nach ihrem Tod zu veröffentlichen, scheint aufgrund der Konventionen hagiographischen Schreibens wenig plausibel. 171 Scherschel 1979, S. 141. Klinkhammers These, bei der Margarethe zugesandten Schrift habe es sich um den Rosengertlin-Traktat gehandelt (vgl. Klinkhammer 1972, S. 131), ist unbegründet und wird von Scherschel zurecht abgelehnt. 172 Vgl. Klinkhammer 1972, S. 117 - 260. In der Absatzstruktur sowie bei der Auflösung von Abbreviaturen, der Schreibung einzelner Zeichen und Worte sowie vor allem in der Interpunktion greift Klinkhammer, wie stichprobenartige Vergleiche zeigten, jedoch teils inkohärent in den Text seiner Handschriften ein. 173 Dies trifft vor allem auf jene Texte zu, darunter das Rosengertlin, bei denen Klinkhammer aus Qualitätsurteilen heraus einzelne Passagen als spätere Zufügung identifiziert und diese durch Kursivdruck ausweist. Diese Eingriffe werden von mir folgend grundsätzlich ignoriert. 174 Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I/ II. Dieser Ausgabe fehlen z. B. ein Apparat, ein Register, eine Erklärung der Editionsprinzipien sowie jegliche Kenntlichmachung der Eingriffe in den Text - von einer Übersetzung des voluminösen lateinischen Werks ganz zu schweigen. Wesentlich handelt es sich hier also um einen Abdruck der Handschrift Trier, Stadtbibl., HS. 751/ 299. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 133 <?page no="134"?> Ordenshaus einzubetten. Mit den im Appendix dieser Studie vorgelegten Editionen der Marienmanteltexte und der Constructio des Dominikus von Preußen versuche ich, zumindest einen Beitrag zur Erschließung dieses bedeutsamen Korpus zu leisten. Auf weitere Texte, darunter die auch volkssprachlich überlieferte Corona gemmaria sowie die zahlreichen an die Rosenkranzklauseln angelehnten christozentrischen Meditationsübungen aus dem Trierer Umfeld, kann in diesem Rahmen jedoch nicht ausführlich eingegangen werden. 175 In der Vergangenheit hat vor allem die Frage nach der Autorschaft dieser Schriften zu erheblichen Kontroversen geführt. Nachdem es um 1900 vor allem Thomas Esser, Herbert Thurston und Heribert Holzapfel gelang, die weitverbreitete Legende, der heilige Dominikus habe zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Kontext der Albigensermission den Rosenkranz › erfunden ‹ , als großangelegte Fiktion des Alanus von Rupe zu dekuvrieren, ist die zentrale Rolle der kartäusischen Rosenkranzklauseln für die Ausbildung dieser Gebetsform weitgehend unbestritten. 176 Eine genauere Sichtung des Trierer Rosenkranzkorpus blieb jedoch mit Ausnahme der bei Esser verstreut abgedruckten Auszüge aus, bis Karl Joseph Klinkhammer sich 1972 dieser Texte annahm. 177 Nicht umsonst aber stellt seine Monographie in der Forschung zu diesem Thema die »most controversial study to date« dar. 178 Klinkhammer nahm aus Gründen, die aus der Außenperspektive kaum begreiflich sind, an, ein Großteil der Rosenkranzschriften, die von den frühen Handschriften entweder anonym überliefert oder explizit Dominikus von Preußen zugeschrieben werden, seien in Wirklichkeit Werke des Priors Adolf von Essen. In enthusiasmiertem Duktus argumentierte er dabei immer wieder gegen die Quellen seiner Untersuchung. Schlüssig evaluierte Rainer Scherschel daher Klinkhammers Monographie und attestierte ihr eine tendenziöse Fixierung auf die historische Figur Adolfs von Essen, dessen Mitwirkung an der Abfassung der Trierer Rosenkranzschriften »nirgendwo belegt« sei. 179 Die »Argumentation Klinkhammers«, so Scherschel, sei »nicht stichhaltig [ … ], sondern [beruhe] weithin auf Vermutungen«, die fürderhin durch eine launige persönliche Verehrung für die weitgehend konstruierte Figur des genialen Priors verzerrt worden seien. 180 175 Die Corona gemmaria ist lateinisch überliefert in Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 1r - 299v; Koblenz, Landesarchiv, MS. Abt. 701, Nr. 130, fol. 1r - 235r; Köln, Hist. Archiv, MS. Wf 152, fol. 2r - 284r. Die ersten beiden Handschriften stammen noch aus der Lebenszeit des Autors und wurden in den späten 1450er Jahren für die Koblenzer Kartause sowie für das Trierer Benediktinerkloster St. Maria ad martyres abgeschrieben, während letztere 1491 für die Benediktinerabtei Maria Laach angefertigt wurde. Eine auszugshafte lateinische Fassung von 1621 ist zudem enthalten in Trier, Stadtbibl., MS. 750/ 298, fol. 41r - 137r. Die deutlich gekürzte deutschsprachige Marienkrone findet sich in der um 1460 geschriebenen Handschrift Köln, Hist. Archiv, MS. GBf 47, fol. 2r - 48r. Siehe dazu Klinkhammer 1972, S. 10 f.; sowie Triller 1967/ 1968. Was die im Anschluss an Dominikus ’ Rosenkranzklauseln entstandenen, von diesem Text abgeleiteten Meditationsübungen aus dem kartäusischen Umfeld angeht, so edierte Klinkhammer zwar eine Auswahl, blieb aber erstens eine überzeugende Genealogie dieser Texte schuldig und ließ zudem wichtiges Material nach Gutdünken aus (vgl. Klinkhammer 1972, S. 193 - 259). Bereits ein Blick in die einen Großteil des Trierer Rosenkorpus enthaltende Sammelhandschrift Köln, Hist. Archiv, Ms. Wkf 112 zeigt, dass hier noch vieles im Detail aufzuarbeiten wäre (vgl. insb. fol. 112r - 121v). 176 Vgl. v. a. Esser 1897; Thurston 1900/ 1901; Holzapfel 1903. 177 Vgl. Klinkhammer 1972. 178 Winston-Allen 1997, S. 7. 179 Scherschel 1979, S. 137. 180 Ebd., S. 146. 134 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="135"?> Die Leistung Klinkhammers, die teils sehr umfangreiche Handschriftenüberlieferung aufgearbeitet und dabei einen Großteil der Trierer Texte zum Rosenkranz erschlossen zu haben, schmälert dies nicht. Jedoch müssen insbesondere die von ihm mit großer Emphase betriebenen narrativen Schilderungen und Wertungen der Entstehungsumstände einzelner Werke cum grano salis gelesen und oftmals sogar völlig verworfen werden. 181 In den Bereich der Fantasie gehört besonders Klinkhammers rührige Rahmenerzählung vom weisen Meister Adolf und seinem treuen, wenn auch psychisch labilen Amanuensis Dominikus, der durch die Lebenslehre des Priors an Leib und Seele genest, unter Adolfs Anleitung in einer Art Selbsttherapie die Rosenkranzklauseln verfasst und sich nach dem plötzlichen Pesttod des verehrten Lehrers im Jahr 1439 gleichsam als dessen wenn auch unzuverlässiger Nachlassherausgeber betätigt. Neben Rainer Scherschel haben vor allem Andreas Heinz und Anne Winston-Allen diesbezüglich detaillierte Kritik an Klinkhammers Thesen geübt, 182 was jedoch nicht verhindert hat, dass seine Ausführungen in der Forschung bis dato mithin unkritisch weiterkolportiert werden. Insbesondere in Bezug auf Fragen nach der Datierung und Autorschaft der Trierer Rosenkranzschriften hat eine kritische Auseinandersetzung mit dem von Klinkhammer gezeichneten Bild weitreichende Konsequenzen. Seine Annahme, Adolf von Essen sei der Urheber dieser Gebets- und Andachtsübung, kippt recht schnell. Denn in seinem Liber experientiae merkt Dominikus wiederholt ausdrücklich an, er habe selbst (ipse) als erstes die christozentrischen Rosenkranzklauseln zum geistlich-konkreten Kranz des Ave-Fünfzigers hinzugefügt. 183 An Dominikus ’ Autorschaft dieses Textes besteht daher kaum Zweifel. Vergleichbares gilt für die Zwanzig-Exempel-Schrift, die sich einerseits am älteren Bestand der Ave-Maria-Mirakel sowie am Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn bedient. 184 Andererseits enthält diese Kompilation auch einige Exempel und Visionsberichte, von denen Dominikus im Liber experientiae und in der Corona gemmaria in 181 Zur Veranschaulichung sei kurz wiedergegeben, wie Klinkhammer die Abfassung der Rosenkranzklauseln darstellt: »In den ersten Monaten seines Noviziats war Dominikus zu nervös und zerfahren, als daß er es fertiggebracht hätte, das › Leben Jesu ‹ [ … ] durchzubetrachten, geschweige denn, es auf seine eigene Lebensgestaltung anzuwenden; da kam ihm der Gedanke, das › Leben Jesu ‹ in 50 Sätze aufzuteilen, um jedem der üblichen Ave eine andere › Clausula ‹ anzuhängen. So schrieb er im Advent 1409, wir würden sagen: einen Schmierzettel, den man fortwirft, wenn er seine Aufgabe erfüllt hat. Er hätte ungläubig gelacht, wenn man ihm damals gesagt hätte, dieser Schmierzettel würde sein bedeutendstes Werk sein« (Klinkhammer 1972, S. 8). Nun fehlt dieser psychologisierenden Schilderung mit Ausnahme der aus dem Liber experientiae entnommenen Rahmendaten jegliche Grundlage - sie gehört, wie viele ähnliche Passagen bei Klinkhammer, in die Sphäre der historical fiction. 182 Siehe am ausführlichsten Scherschel 1979, S. 118 - 151. Winston-Allen 1997 schließt sich Scherschels Kritik an. Andreas Heinz bezeichnet Klinkhammers Heroisierung Adolfs von Essen als › Erfinder ‹ des Rosenkranzes schlicht als »abwegig« (Heinz 2003, S. 26). 183 Z. B. schreibt er: Meditationes et clausulas vitæ I ESU ad Rosarium beatæ M ARIÆ ipse primus addidit, secundum quod nos hic dicimus et habemus. (»Die Betrachtungen und Klauseln über das Leben Jesu hat er, so wie wir sie hier wiedergeben und haben, selbst zum Rosenkranz der seligen Maria hinzugefügt«), Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 377. Dominikus spricht im Liber experientiae grundsätzlich über sich selbst in der dritten Person. Mit dem vorgängigen Rosenkranz ist hier die ihm aus der Erzählung von Marien Rosenkranz bekannte Gebetsweise von 50 imaginierend zum Kranz zusammengebundenen Ave Maria gemeint. 184 Das 19. Exempel ist Mechthild zugeschrieben. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 135 <?page no="136"?> autobiographischer Manier berichtet. 185 Wenn der Erzähler außerdem im 14. Exempel dieser Sammlung in der ersten Person von mynen zijten zu Crocaw in Polande (ZES, Z. 423 f.) spricht, dann kann diese Ich-Aussage eigentlich nur auf Dominikus ’ im Liber experientiae ausführlich behandelte Studienzeit in Krakau bezogen sein. 186 Dementsprechend darf auch hier Dominikus und nicht Adolf von Essen als Primärautor angenommen werden, wobei offenbleibt, ob auch weitere Mitglieder der Trierer Kartause an der Textzusammenstellung beteiligt gewesen sein könnten. Für den Rosengertlin-Traktat ergibt sich ein ähnliches Bild. In der Corona gemmaria merkt Dominikus an: De hoc rosario alium quendam libellum in theutonico conscripsi [ … ], qui hortulus beatae Mariae apellatur. 187 Damit ist recht sicher das Rosengertlin gemeint, 188 womit auch dieser Text ihm zuzuschreiben ist. 189 Obzwar Dominikus von Preußen folglich als Hauptautor des Trierer Rosenkranzkorpus hervortritt, kann eine mindestens mittelbare Mitwirkung anderer Ordensbrüder aus mehreren Gründen dennoch angenommen werden. So engagierte sich erstens auch Adolf von Essen, wie seine Vita Margarethae sowie eine im Liber experientiae und in der Zwanzig-Exempel-Schrift ihm zugeschriebene Rosenkranzvision belegen, bei der Verbreitung der von Dominikus von Preußen entwickelten Gebetsform. 190 Diesbezüglich listet der im 17. Jahrhundert entstandene Bibliothekskatalog der Kölner Kartause auch eine inzwischen verschollene Schrift mit dem Titel De Commendatione Rosarii auf, die er einem Ab Assindia, Adolphus, Cartusianus Trevirensis zuschreibt. 191 Obwohl Klinkhammers Identifikation dieser Schrift mit dem Rosengertlin, wie Scherschel zeigt, irreführend ist, impliziert dieser Katalogeintrag dennoch, dass auch Adolf von Essen eine (wenn auch nicht erhaltene) Propagierungsschrift zum Rosenkranzgebet geschrieben haben dürfte. Zweitens lassen sich weder die von Heinz edierte lateinische Exempelsammlung, die gewissermaßen ein Gegenstück zur volkssprachigen Zwanzig-Exempel-Schrift bildet, noch die spätere lateinische Redaktion des Rosengertlin einem bestimmten Verfasser zuwei- 185 So stammt das 12. Exempel, das von einem von Maria glücklicherweise verhinderten sexuellen Stelldichein des sechzehnjährigen Dominikus mit einer jungfraue, die wol XXX jair kusch was bleben (»Jungfrau, die wohl 30 Jahre keusch gelebt hatte«, ZES, Z. 367 f.), erzählt, aus der Corona gemmaria; die entsprechende Passage ist diskutiert und abgedruckt bei Karl Joseph Klinkhammer S. J.: Jugenderinnerungen im Werke des Kartäusers Dominikus von Preußen (1384 - 1460), 2. Teil, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 33 (1969), S. 9 - 40, hier S. 13 f. u 29 f. Inhaltlich deckungsgleich mit Passagen aus dem Liber experientiae sind z. B. die Traumvision des 5. Exempels (vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 188 f.) sowie das 18. Exempel, das Dominik als Vision Adolfs von Essen wiedergibt (vgl. ebd., S. 377 - 379). 186 »meinen Zeiten in Krakau in Polen«. 187 »Über diesen Rosenkranz habe ich zudem ein anderes Büchlein auf Deutsch verfasst, das › Garten Marias ‹ genannt wird«, Trier, Stadtbibl., HS. 622/ 1554, f. 161r; zitiert nach Schmidtke 1984, S. 241. 188 Auch die spätere lateinische Fassung spricht in Bezug auf die deutsche Vorlage von einem › Hortulum beatae Mariae virginis ‹ , libellum videlicet theutonicum (Klinkhammer 1972, S. 163). 189 Wie Schmidtke 1984, S. 240 - 242, nachweist, verzerrte Klinkhammer hier sogar den Wortlaut seiner Quelle, indem er grundlos conscripsi zu conscripsit konjektierte und den Text auf dieser Grundlage Adolf von Essen zuschrieb (vgl. Klinkhammer, S. 221 f.). 190 Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 377 - 379 und ZES, Z. 523 - 574; sowie die Passage aus Adolfs Vita Margarethae bei Klinkhammer 1972, S. 118. 191 »Von Essen, Adolf, Trierer Kartäuser«, siehe dazu Scherschel 1979, S. 138; sowie mit weiteren Angaben Klinkhammer 1972, S. 3. 136 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="137"?> sen. 192 Drittens ist schwerlich anzunehmen, dass sämtliche der zahlreichen zeitgenössischen Redaktionen und Adaptationen der Rosenkranzklauseln aus Dominikus ’ eigener Feder stammten. 193 Hier ist also nicht von der inspirierten Genieleistung eines einzelnen Autors auszugehen, sondern eher von einem eine Vielzahl von Autoren, Kopisten und Redaktoren einschließenden textuellen Ausdifferenzierungsprozess. In Anlehnung vor allem an Balázs J. Nemes ’ Überlegungen zu Autorschaftskonstituierung in geistlichen Texten, die er am Beispiel der Helftaer Mystik entwickelt, möchte ich auch das Trierer Rosenkranzkorpus als Textverbund verstehen, in dem verschiedene Autorschaftsschichten verschmelzen. 194 Denn auf der einen Seite gehen viele dieser Texte auf Dominikus von Preußen zurück und beziehen sich fundierend auf diesen Autor. Andererseits aber ist hier stets auch eine letztlich offene, anonyme und kommunitäre Schreibebene des Kompilierens, Redigierens, Ergänzens, Übersetzens und Abschreibens mitzudenken. Was bei aller Kontroverse um die Entstehungsumstände der Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause bislang weitgehend fehlt, ist ein close reading dieser Texte selbst, das aus einer wirkungsästhetischen Perspektive die von ihnen angebotenen Modi von Lektüre und Vollzug in den Blick nimmt. Ihre Strategien der Rezipienteneinbindung und -orientierung sowie die hierdurch stimulierten Effekte wurden bisher nicht beleuchtet. Zudem wäre auch ihre Einbettung in den weiteren Kontext des › handwerklichen Betens ‹ noch genauer zu untersuchen. Im Folgenden nun soll beispielhaft versucht werden, auf diese Fragen ein Schlaglicht zu werfen. Als klärende Vorbemerkung dazu steht auch ein kurzer Blick auf die Autorfigur des Dominikus von Preußen aus, der sein literarisches Werk als exemplarische Lebenslehre eines nun im heiligmäßigen Stand angelangten und geläuterten Sünders präsentiert, der mit seinen geistlichen Übungen die ihm zuteilgewordene Gnade weiterzutragen versucht. Für das Verständnis des charismatisch aufgeladenen Wirkanspruchs der Trierer Rosenkranzklauseln ist diese Selbststilisierung aufschlussreich - sie sei deshalb nun ins Sichtfeld gerückt. 192 Vgl. Heinz 1983. Die Annahme bei Klinkhammer 1972, S. 162, der Verfasser und Übersetzer des Rosengertlin sei Adolf von Essen, ist irreleitend. Tatsächlich muss es sich beim Übersetzer und Redaktor auch nicht um Dominikus von Preußen gehandelt haben. Aus dem Text geht hervor, dass der Traktat und die Rosenkranzklauseln zum Zeitpunkt der Übersetzung bereits beträchtlich verbreitet waren (vgl. ebd., S. 163), und nichts belegt, dass das Rosengertlin von Dominikus selbst und nicht von einem anonymen Redaktor übertragen wurde. 193 Die bei Esser 1904 angeführten Beispiele illustrieren die Vielfalt dieser Texte. 194 Siehe v. a. Balázs J. Nemes: Von der Schrift zum Buch, vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg, Tübingen/ Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 55); sowie Ders: Text Production and Authorship: Gertrude of Helfta ’ s Legatus divinae pietatis, in: A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages, hg. v. Elizabeth Andersen, Henrike Lähnemann u. Anne Simon, Leiden/ Boston 2014 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 44), S. 103 - 130. Im Gegensatz zu Nemes ’ Texten beansprucht das Trierer Rosenkranzkorpus jedoch nicht vornehmlich, im letzten Ursprung göttlicher Autorschaft zu sein. Hierin liegt, trotz aller Überschneidungen in Rezeption, Präsentation und Verwendung, ein entscheidender Unterschied zwischen dem meinen Texten inhärenten Autorschaftskonzept und jenem, das Nemes für die Helftaer Mystik beschreibt. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 137 <?page no="138"?> 3.2 Das Vorbild des geläuterten Sünders? Dominikus von Preußen als Autorfigur Selbstbewusst berichtet Dominikus von Preußen im Liber experientiae über den Erfolg und die Breitenwirkung, die seine Gebetsübungen und Andachtstexte entfalteten. Die von ihm bzw. seinem literarischen alter ego Bruder Rupert verfassten Schriften nämlich hätten sich in Windeseile verbreitet und brächten ihm nun nachhaltigen Ruhm ein: De fratre nostro Ruperto cum veritate utique etiam dicere possum, quod non minimam famam bonam habebat in multis locis, ad quæ vel relatu vel scripto eius exercitia pervenerant, præcipue Rosarium gloriosæ Virginis Mariæ, quod per se et per alios millesies mittens in diversas mundi partes pio devotionis affectu disseminavit. 195 Dieser Erfolg als Gebets- und Andachtsautor, dessen Behauptung durch die handschriftliche Überlieferung der Rosenkranzklauseln gedeckt wird, 196 stellt in Dominikus ’ als autobiographisch präsentierter Meistererzählung gewissermaßen den ausgleichenden Höhepunkt eines anfänglich gründlich scheiternden Lebensweges dar. Im Jahr 1384 in Ostpreußen als Sohn einer einfachen Familie geboren, so berichtet der Kartäusermönch, verweigerten ihm seine Eltern zunächst eine formale Bildung. 197 Nach dem frühen Tod seines Vaters aber lässt seine Mutter den elfjährigen Dominikus schließlich doch bei einem alten Dominikaner lesen und schreiben lernen. Dies löst in Dominikus den Wunsch aus, Priester zu werden, und täglich betet er in seiner deutschen Muttersprache: Liebe M ARIA , hilf mir, daz ich wol lere, daz ich werde ein prister ein herre. 198 Da der Junge sich als intellektuell begabt herausstellt, lenkt die Mutter schließlich ein und erlaubt ihm, an der renommierten Universität von Krakau ein Studium zu beginnen, wo er jedoch primum ad peccata et mundi vana c œ pit declinare. 199 Seine Lehrer und 195 »Über unseren Bruder Rupert kann ich im Übrigen zweifelsohne wahrheitsgetreu sagen, dass er an vielen Orten einen nicht geringen guten Ruf genoss, zu denen seine Übungen entweder durch mündliche Mitteilung oder in schriftlicher Form gelangten, insbesondere der Rosenkranz der glorreichen Jungfrau Maria, den er, ihn selbst oder mithilfe anderer tausendfach in verschiedene Teile der Welt verschickend, mit der Leidenschaft frommer Hingabe verbreitete.« Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 299. 196 Die enorme handschriftliche Überlieferung des Textes müsste noch in Gänze erschlossen werden, schon ein erster Blick belegt jedoch ihre beachtliche zeitgenössische Rezeption. Eine Auflistung von 18 beispielhaften Textzeugen bieten z. B. Gisela Kornrumpf u. Paul-Gerhard Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden 1968, S. 255. An früher volkssprachiger Überlieferung der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen sind mir außerdem u. a. bekannt: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., HS. 70, fol. 142r - 149v; Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. II 203, 104v - 112v; Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen 362, fol. 80v - 86r; München, UB, 8° Cod. MS. 266, 113r - 122r; München, UB, 8° Cod. MS. 269, fol. 95v - 107v; Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 58, fol. 311v - 313r. 197 Dominikus beschreibt seine Eltern als »einfache, rechtgläubige und gerechte Leute« (simplices et bene fideles ac iusti). Die Erwähnung, seine Heimatstadt sei von dennoch bildungsfeindlichen »wohlhabenden Kaufleuten« (divites mercatores) bevölkert gewesen, mag ein Hinweis darauf sein, dass sein Vater Händler war. Er berichtet, die Eltern hätten »ihn kein Studium aufnehmen lassen wollen wegen des verächtlichen Lebens, dass sie bei so vielen Gebildeten sahen« (nullum volebant tradere scholis propter reprobam vitam, quam videbant in quampluribus litteratis). Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 22 f. 198 »Liebe Maria, hilf mir, dass ich gut lerne, so dass ich ein Priester und ein Herr werde«, ebd., S. 23. 199 »zuerst begann, den Sünden und der Eitelkeit der Welt zu verfallen«, ebd., S. 24 f. 138 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="139"?> Kommilitonen prophezeien ihm: Si Rupertum non destruxerint mulieres et ludus, erit tam bonus clericus, sicut Cracoviæ esse poterit. 200 Genau ersteres trifft dann jedoch ein - sein Studium mündet in der persönlichen Katastrophe: Neben zahlreichen sexuellen Eskapaden vergeudet er all sein Geld in tabernis et alibi cum Christianis et Iudæis ludens taxillis. 201 Zunehmend wird er von schrecklichen Dämonen heimgesucht, 202 bleibt der Kirche fern und spottet lästerlich über die Geistlichkeit. Scheinbar ohne Universitätsabschluss beginnt Dominikus ein Vagantenleben, stürzt sich in amouröse Abenteuer 203 und verliert kurz nacheinander mehrere Anstellungen als Notarius aut Pædagogus. 204 Am Tiefpunkt angelangt, versucht er mit 21 Jahren erstmals, in Prag in ein Kartäuserkloster einzutreten, wird wegen seiner Jugend und seines Wankelmuts allerdings schleunig abgewiesen. Vier weitere Jahre der Ausschweifungen folgen. Im Zustand vollkommener moralischer und geistiger Zerrüttung kommt Dominikus schließlich in der Trierer Kartause St. Alban an und bittet verzweifelt um Aufnahme. Der Prior des Ordenshauses, also Adolf von Essen, erbarmt sich seiner und lässt ihn zunächst bei einem Mitbruder beichten: Facta itaque confessione vir ille sanctus Confessor suus, stupefactus ex magnis et multis peccatis iuvenis personæ - quia vix XXV annorum erat - , flere c œ pit et dixit: »Vellem, fili, me non audisse confessionem tuam! « Hoc cum videret ille, videlicet quod fleret Pater ille sanctus, intra se dicere c œ pit: »Ecce alius plorat crimina tua! O quid es tu, canis an homo, quod tu ipse deplorare nescis scelera tua! « Et his in corde dictis, Deus bonitate sua ineffabili aperuit in illo fontem lacrimarum, ita ut concussus tremore in lacrimas resolutus mox fuit, plorans et eiulans nullum verbum plus dicere ad Confessorem potuit. Sed divertens ad latus dextrum in magna contritione et agnitione peccatorum suorum prostratus diu iacebat et flebat. 205 200 »Wenn die Frauen und die Spielerei Rupert nicht zerstören, wird er ein so guter Kleriker, wie er es in Krakau nur sein kann«, ebd. 201 »beim Würfelspiel mit Christen und Juden in Kneipen und anderswo«, ebd. 202 Diese Dämonen suchen ihn auch später immer wieder in seiner Zelle heim und erinnern ihn an sein früheres Leben: Ipsi omnium hominum mores, voces, artes et fallacias ac tyrannorum violentias, meretricum, latronum, pessimorum hominum, sine iugo viventium, sodomitarum ac ceterarum creaturarum proprietates subtilissime in se exprimere norunt, et coram fratre isto Ruperto diversimode ostenderunt, ita ut plures et graviores iniquitates quæ fìunt in mundo cognovit iam manens in claustro, quam ante cognoverat, dum per diversas provincias vagaretur in sæculo.(»Diese [d. h. die Dämonen] verstanden es, die Sitten, Fähigkeiten und Schliche aller Menschen sowie die Gewalttätigkeiten der Tyrannen, die Eigenschaften der Huren, der Räuber, der schlechten Menschen, der zügellos Lebenden, der Sodomiten und sonstigen Geschöpfe in sich nachzuahmen und führten sie vor Bruder Rupert in verschiedenster Weise auf, so dass er dort, während er in der Zelle blieb, noch mehr und schlimmere Schlechtigkeiten, die es auf der Welt gibt, kennenlernte, als er vorher kennengelernt hatte, als er in der Welt durch verschiedene Gegenden vagabundiert war«, ebd., S. 86.) 203 Die Corona gemmaria führt dazu lapidar aus, dass Dominikus in seiner Jugend statt Maria alias saeculi huius virgines et mulieres nequiter adamavit (»leichtfertig andere Mädchen und Frauen dieser Welt liebte«, Klinkhammer 1969, S. 27). 204 »Verwalter oder Lehrer«, Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 24. 205 »Nachdem jener Mann deshalb die Beichte abgelegt hatte, begann sein heiligmäßiger Beichtvater, schockiert von den großen und vielen Sünden eines so jungen Menschen - denn er war kaum 25 Jahre alt - zu weinen, und er sprach: › Ich wollte, mein Sohn, ich hätte deine Beichte nicht gehört! ‹ Als jener dies sah, nämlich wie dieser heiligmäßige Vater weinte, begann er innerlich zu sich selbst zu sagen: › Sieh, wie ein anderer deine Frevel betrauert! Oh, was bist du, ein Hund oder ein Mensch, dass du selbst deine Verbrechen nicht beweinen kannst! ‹ Und als er dies in seinem Herzen gesagt hatte, öffnete Gott in seiner unaussprechlichen Güte in ihm den Brunnen der Tränen, so dass er bald von einem Zittern geschüttelt und in Tränen aufgelöst war, und weinend und schluchzend kein Wort mehr an seinen 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 139 <?page no="140"?> Dieser Ausbruch ehrlicher Reue beeindruckt nicht nur Dominikus ’ Beichtvater und führt schließlich dazu, dass Adolf von Essen ihn in die Trierer Kartause eintreten lässt, sie markiert auch eine Kehrtwende in der erzählten Biographie des Rosenkranzautors. Von nun an stabilisiert sich sein Leben. Dominikus übernimmt einerseits zusehends verantwortungsvolle Ämter im Orden und wird schließlich sogar Vikar, andererseits aber sind es, wie das einleitende Zitat illustriert, vor allem die von ihm verfassten Gebets- und Andachtstexte, die es dem geläuterten Sünder erlauben, auch andere zu jener frommen Umkehr zu lenken, die seinen Lebensweg prägte. Bis zu welchem Grad diese Ich-Erzählung historisch belastbare biographische Erfahrungen ihres Autors wiedergibt, ist kaum festzustellen. Sicherlich ist der Liber experientiae, der die weitgehend einzige Quelle zu Dominikus ’ Leben darstellt und auf dem auch der allergrößte Teil der Informationen zu Adolf von Essen beruht, durch hagiographische und biblisch begründete Erzählmuster überformt. So erinnert Dominikus ’ Ich-Erzählung in weiten Teilen stark an das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium (Lc 15,11 - 32). Zudem präsentiert der Liber immer wieder Einzelepisoden aus der vorgeblichen Lebenserfahrung des Autors als zu imitierende Modelle einer Läuterung des Sünders durch das Gebet und die dadurch erwirkte gnadenmächtige Intervention der Gottesmutter Maria. Ungefähr analog zu »Märtyrerleben, Heiligenviten und Erzählungen der Wüsteneremiten, die als exemplarische Modelle der Imitation und der Nachfolge Christi gelten«, 206 stellt Dominikus hier mit dem charismatischen Anspruch der Autobiographie unterfütterte Exempel einer gelingenden Frömmigkeitspraxis vor, die auch der Leser zur Besserung des eigenen Lebenswandels nachahmen kann. Hierbei scheinen die einzelnen dergestalt exemplarischen Episoden immer wieder nachträglich ausgeschmückt und durch historisch unstimmige Details ergänzt, die allerdings ihren modellhaften Charakter unterstreichen und die gnadenbringende Wirkung marianischer Frömmigkeit eindrücklich veranschaulichen. Als beispielsweise der dreiundzwanzigjährige Dominikus zu Ostern im Zustand völliger Gottesentfremdung in einer Kirche vergeblich zu beten versucht, erscheint ihm eine schöne Dame, in der er Maria erkennt, und bittet ihn um eine Spende für einen Kranken, der im Spital liege. Dominikus hat allerdings all sein Geld verspielt quam unum denarium insignis monetæ, videlicet sancti Ioannis Baptistæ capite dragmatizatum Di œ cesis Nyssensis, den er der Dame freilich sofort bereitwillig gibt und anschließend zumindest für eine Weile von Anfechtungen verschont bleibt. 207 Die Beschreibung des Geldstücks bezieht sich eindeutig auf einen sogenannten › Rempelheller ‹ , eine für ihren notorisch geringen Silbergehalt berüchtigte Kleinmünze, deren Avers den Kopf Johannes ’ des Täufers zeigt. Dieser Münztyp wurde allerdings erst ab ca. 1422 in Breslau geprägt - also mehr als zwölf Jahre nach Dominikus ’ Eintritt ins Trierer Kloster und ungefähr 14 Jahre nach dem Zeitpunkt, an dem die geschilderte Marienerscheinung des Liber dem Autor zuteilgeworden sein soll. 208 Kleinigkeiten wie diese Passage, die zudem starke Parallelen zum neutestamentlichen Münzopfer der armen Beichtvater richten konnte. Stattdessen lag er lange in großer Erschütterung und Erkenntnis seiner Sünden auf seiner linken Seite ausgestreckt da und weinte«, ebd., S. 30. 206 Largier 2016, S. 246. 207 »bis auf einen Pfennig wohlbekannten Geldes, nämlich eine von der Diözese Neisse mit dem Kopf Johannes des Täufers geprägte [Münze]«, Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 25. 208 Vgl. Ferdinand Friedensburg: Die schlesischen Münzen des Mittelalters, Breslau 1931, S. 5 (Nr. 99 - 111). 140 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="141"?> Witwe aufweist (vgl. Lc 21,1 - 4), zeigen, wie sehr die als autobiographisch präsentierten Geschichten des Liber experientiae veranschaulichend dramatisiert und in zeitgenössische Modelle geistlichen Erzählens eingepasst sind. Hier gilt, was Ursula Peters für die sogenannte Frauenmystik des deutschsprachigen Mittelalters postulierte: Auch Dominikus Liber experientiae erweist sich als »eingespannt in hagiographische Deutungsmuster« und seine Schilderungen sind deshalb »nur bedingt als kulturhistorisch relevante Aussagen zu verwerten«. 209 Eine historisch akkurate Schilderung von Dominikus ’ Lebensweg bietet dieser Text also nicht - wohl aber gibt er einen Einblick in das ausgeprägte religiöse Sendungsbewusstsein seines Autors. Mehrere Episoden aus dem Liber experientiae und der ebenfalls als autobiographisch ausgewiesene Anekdoten enthaltenden Corona gemmaria finden sich auch in der Zwanzig- Exempel-Schrift wieder. 210 So enthält diese Sammlung an zwölfter Stelle eine Wundergeschichte von der Wirksamkeit des Ave Maria witder die bosen geiste, die von einer Frau erzählt, die wol XXX jair kusch was bleben, sich nun aber in eindeutiger Absicht mit einem jongen, der kume XVI jare alt was, zu einem Stelldichein verabredet habe (ZES, Z. 366 - 370). 211 Als die beiden jedoch zusammen allein in der Schlafkammer sind, betet sie das Ave Maria und daz heilige suße wort vetreip den bosen geiste oder benam yme sine gewalt, daz her die zwey nicht mochte zu falle bringen (ZES, Z. 376 - 378). 212 Die sexuelle Begegnung bleibt dementsprechend aus und Maria hat den verhinderten Liebhabern, die beide später in ein Kloster eintreten werden, ihre Jungfräulichkeit bewahrt. In der Corona gemmaria steht eine lateinische Entsprechung dieses Gebetsmirakels, das dort eindeutig als biographische Episode gerahmt ist. 213 Indem Dominikus diese Erzählung ebenso wie andere in seinen lateinischen Werken berichtete Begebenheiten in der Zwanzig-Exempel-Schrift neben eine Version von Marien Rosenkranz (vgl. ZES, Z. 1 - 43) und andere gängige Marienmirakel stellt, präsentiert er Narrative, die mit dem Anspruch eigener Erfahrung aufgeladen sind, als Zeugnisse der Wirksamkeit einer Gebetsfrömmigkeit, wie sie seine Rosenkranzschriften anleiten. Für Heinrich Seuse, dessen Werk Dominikus von Preußen gut kannte, 214 spricht Susanne Bernhardt von einem › exemplarischen Erzählen ‹ , in dem die Figur des autobiographischen Erzählers »nicht nur zum Beispiel eines vorbildlich beschrittenen Heilsweges« werde, »sondern dem Erleben der Figur [ … ] Authentizität zugeschrieben [wird] und das von höchster, von göttlicher Seite.« 215 Von einem ähnlich ausgestellten Anspruch 209 Peters 1988, S. 192. 210 So entsprechen z. B. das 17. und 18. Exempel, die von den Rosenkranzvisionen des verstorbenen Priors Adolf handeln (vgl. ZES, S. 184 - 186), in fast wortgetreuer Übersetzung Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 377 - 379. Eine Vorlage des fünften Exempels, das von einer Traumvision des Dominikus berichtet (ZES, S. 176), findet sich ebd., S. 188 f. Das sechste und zwölfte Exempel (ZES, S. 177 u. 181) nehmen Rekurs auf die Corona gemmaria. 211 »gegen die bösen Geister«, »wohl 30 Jahre enthaltsam geblieben war«, »Jungen, der kaum 16 Jahre alt war«. 212 »das heilige Wort vertrieb den bösen Geist oder raubte ihm seine Kraft, so dass er die beiden nicht zu Fall bringen konnte.« 213 Abgedruckt bei Klinkhammer 1969, S. 29 f. 214 Im Liber experientiae wird der discipul[us] aeternae Sapientiae, qui Horologium aeternae Sapientiae compilavit (»Schüler der Ewigen Weisheit, der das Horologium sapientiae verfasste«) sogar als literarisches Vorbild genannt; Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 349. Vgl. auch Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 12. 215 Bernhardt 2016, S. 24. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 141 <?page no="142"?> des Exemplarischen, der auf der berichteten Gnadenwirkung der propagierten Frömmigkeitsübungen aufruht, könnte auch bei Dominikus von Preußen gesprochen werden. Denn in der narrativen Selbststilisierung dieses Autors gewinnen die Erlebnisse des nun geläuterten Sünders den Charakter der › authentischen ‹ Affirmation einer religiösen Praxis, die ihrem Publikum ähnliche Gnadenwirkungen verheißt. Bereits hieran zeigt sich der durchaus ambitionierte heilsvermittelnde Anspruch, den Dominikus seinen Gebets- und Andachtsschriften und besonders den Rosenkranzklauseln zudachte. 3.3 Heilsereignisse als Blumen der Betrachtung: Die Trierer Rosenkranzklauseln In erster Linie bestehen die Rosenkranzklauseln, wie durch das Mirakel Marien Rosenkranz und die Tradition des in drei Fünfzigergruppen geteilten › Ersatzpsalters ‹ aus Ave- Reihungen vorgegeben, aus fünfzig Englischen Grüßen, wobei den beiden im Ave Maria verbundenen Bibelversen der Name › Jesus Christus ‹ zugefügt wird. Letztere Beifügung geht auf die Verehrung des Namens Jesu im 13. und 14. Jahrhundert zurück und wird um 1400 mit allerdings nicht sicher bezeugten päpstlichen Ablässen in Verbindung gebracht. 216 Für Dominikus von Preußen zumindest stellte dieser Ausbau des Mariengrußes eine noch recht junge Neuerung dar - denn in der Zwanzig-Exempel-Schrift erwähnt er die heiligen namen Jesus Christus, die man nu sprechet in dem Ave-Maria, und merkt dazu an: Die man vor nicht sprach und noch by mynen zijten in Crocaw in Polande nicht sprach noch schreip den kindern in der schulen by daz Ave-Maria (ZES, Z. 421 - 425). 217 Diese neue Ausweitung des Mariengrußes zum Jesusgebet erlaubte es dem Trierer Kartäuser, mit den Rosenkranzklauseln den aus einem Ave-Fünfziger imaginativ gefertigten Blumenkranz zur Gebets- und Andachtsübung umzukonzipieren, die der Meditation des Lebens und der Passion Christi dient. Dazu fügte er jedem Ave Maria einen auf das letzte Wort vor dem › Amen ‹ , also auf den Namen › Jesus Christus ‹ bezogenen Relativsatz bei. Die ersten drei Rosenkranzklauseln lauten in der lateinischen Fassung entsprechend so: Ave, Maria, gratia plena, Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui Jesus Christus. (1) Quem Angelo nuntiante de spiritu sancto concepisti. Amen. (2) Quo concepto in montana ad Elyzabeth ivisti. Amen. (3) Quem, virgo sancta mente et corpore semper permanens, cum gaudio genuisti. Amen. (RK lat., Z. 1 - 7) 218 216 Vgl. Scherschel 1979, S. 83 - 90. 217 »heiligen Namen Jesus Christus, die man heute im Ave Maria spricht. Diese hat man vormals nicht gesprochen, und noch zu meiner Zeit in Krakau in Polen hat man sie im Schulunterricht für die Kinder weder in gesprochener noch in geschriebener Form zum Ave Maria hinzugefügt«. 218 »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus Christus. (1) Den du durch den Engelsboten vom Heiligen Geist empfangen hast. Amen. (2) Mit dem schwanger du auf den Berg zu Elisabeth gegangen bist. Amen. (3) Den du, ewig eine heilige Jungfrau an Körper und Geist bleibend, mit Freude geboren hast. Amen.« 142 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="143"?> Zunächst stellen diese drei Punkte den Anfang eines zu betrachtenden Christuslebens dar, das mit der Verkündigung beginnt und mit der Herrschaft Christi im Himmel endet. Dass die beiden ersten Klauseln die Verkündigung und den Besuch bei Elisabeth zum Thema haben, ist dabei signifikant, ist doch der Kerntext des Ave Maria den so referierten Bibelstellen (Lc 1,28 und Lc 1,42) entnommen. Hierdurch erscheint die Bezugnahme auf diese beiden Episoden des Neuen Testaments naheliegend und plausibilisiert, dass die Aneinanderreihung der Betrachtungspunkte nahtlos weitere neutestamentlich berichtete Ereignisse aufruft. So behandeln die ersten sechs Klauseln die Schwangerschaft Marias sowie die Geburt Jesu, die siebte bis 14. Klausel dienen der Meditation der Kindheitswunder, während die Klauseln 15 bis 20 das Erwachsenenleben Christi zum Gegenstand haben. Den Geschehnissen von der Taufe Jesu im Jordan bis zur Auferweckung des Lazarus wird hierbei je ein einzelner, an das Ave-Gebet angehängter Betrachtungspunkt gewidmet. Im Kontext der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit überrascht es nicht, dass der Schwerpunkt des Leben-Jesu-Rosenkranzes auf den Karfreitags- und Osterereignissen liegt, die das Thema der Klauseln 21 bis 44 bilden. 219 Beginnend mit dem Einzug in Jerusalem wird von diesen Punkten eine Passionsandacht angeleitet, die das Leiden des Gekreuzigten in der Auferstehung seinen triumphalen Abschluss finden lässt. Die letzten sechs Klauseln schließlich lenken den inneren Blick der Betenden auf das Pfingstwunder und die himmlische Herrschaft Christi. 220 219 Zum Stellenwert der Passionsfrömmigkeit siehe z. B. Kemper 2006. 220 Dies bezieht sich auf die lateinische Fassung. Die bei Klinkhammer abgedruckte frühe volkssprachige Fassung ist zwar strukturell und inhaltlich grob deckungsgleich, weist jedoch einige Varianten auf. Einzelne Klauseln stehen in anderer Reihenfolge oder akzentuieren abweichende biblische Ereignisse. Somit ergibt sich folgende Aufteilung: Klauseln 1 - 6: Verkündigung, Schwangerschaft Mariens und Geburt Christi. Es fehlt die vierte Klausel der lateinischen Clausulae, die das biblisch unbezeugte Motiv der Maria lactans zum Thema hat. Klauseln 7 - 12: Kindheitswunder. Die Prophezeiung des Simeon (Lc 2,25 - 35), in den lateinischen Rosenkranzklauseln an zehnter Stelle, bleibt unerwähnt. Klauseln 13 - 19: Wunder, Predigten und Taten Christi. Manche Klauseln sind im Vergleich mit der lateinischen Fassung leicht gekürzt. Klausel 19, die zur Betrachtung der Verklärung des Herrn auf dem Berg Tabor (Lc 9,28 - 36) anleitet, fehlt im Lateinischen. Klauseln 20 - 45: Passion und Auferstehung. Hier ergeben sich die größten Abweichungen. Vor allem Namensnennungen sind konsequent gekürzt. Ausgelassen werden im Vergleich mit der lateinischen Fassung der Weg des gefangenen Jesu zu den Hohepriestern (Lc 22, 54), das Urteil des Pilatus (Lc 23,13 - 25) und die Versiegelung des Grabes durch die Juden (Mt 27,66). Dahingegen weitet die volkssprachige Fassung die Misshandlungen Jesu durch seine Wächter (lat. Klausel 26, dt. Klauseln 24 und 25) sowie die Dornenkrönung und Verspottung (Mt 27,29; lat. Klausel 29, dt. Klauseln 27 und 28) aus. Hinzugefügt werden zudem die Klausel 37 zum Durstruf (Io 19,28) sowie die Klauseln 30 und 31 zur Kreuztragung, bei der Jesus seiner Mutter Maria und den übrigen Frauen begegnet (vgl. Lc 23,26 - 31). Diese drei Betrachtungspunkte fehlen in der lateinischen Fassung. Das Zusammentreffen mit Maria auf dem Kreuzweg ist biblisch nicht erwähnt, sondern entspringt der passionsbezogenen Marienfrömmigkeit des Mittelalters. Klauseln 46 - 51: Himmelfahrt und Herrschaft Christi. Die Klausel 48, die auf die Erwartung des Jüngsten Gericht verweist, fehlt im Lateinischen, wohingegen die volkssprachige Fassung wiederum die lateinische Klausel 49, in der die Rolle Marias als Fürbitterin betont wird, auslässt. Die Unterteilung der volkssprachigen Rosenkranzklauseln in insgesamt 51 Punkte stammt von Klinkhammer und ist wahrscheinlich irreführend. Im Vergleich mit der lateinischen Fassung scheint es wahrscheinlich, dass die von ihm getrennten Klauseln 27 und 28 eigentlich einen einzigen Betrachtungsgegenstand bilden sollen und die Zahl 50 somit gewahrt bleibt. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 143 <?page no="144"?> Die Rosenkranzklauseln sind somit als eine in Punkte gegliederte Gebets- und Andachtsübung zum Leben Christi zu verstehen, die durch je nach Betrachtungsgegenstand abgewandelte Standardgebete strukturiert wird. In der bereits durch die Grußform des Ave-Gebets vorgegebenen Hinkehr zu Maria soll der Betende ausgewählte Episoden des Neuen Testaments zusammenfassend nacherzählen und sich hierbei innerlich vergegenwärtigen. Dies impliziert erstens einen Prozess der Immersion in das vergangene Heilsgeschehen, dessen Bilder und Ereignisse durch den Text evoziert, das heißt »im Gang der Lektüre und Kontemplation in Aisthesis, also in Wahrnehmungsereignisse überführt« werden. 221 Der betende Mensch ist dabei zum inneren und im Fall eines lauten Betens auch äußeren Vollzug des Textes aufgefordert, also zu einer Form der Performanz, die sich mit Erika Fischer-Lichte generell verstehen lässt »als ein komplexes kognitives, imaginatives, affektives und energetisches Geschehen in einer liminalen Situation, das dem lesenden Subjekt neue Möglichkeiten zu fühlen, zu denken, sich zu verhalten und zu handeln« eröffnet. 222 Darin leiten die Rosenkranzklauseln zunächst an zu einer auf Christus gerichteten Praxis des Erinnerns, die den vor allem von Mary Carruthers beschriebenen »monastic traditions of memoria as the prayerful, ruminative contemplation of biblical texts« entspringt. 223 Diese Form der memoria, wie Carruthers ausführt, besteht nicht in einem schlichten mentalen Abruf von Wissen über heilsgeschichtliche Zusammenhänge oder in besonderer Bibelfestigkeit. Vielmehr meint sie einen Prozess des Vergegenwärtigens und Verfügbarmachens innerer Bilder und Ideen, die einerseits eine spezifische Wirkung auf den Erinnernden entfalten sollen und andererseits wiederum den Anstoß geben »to make new things: prayers, meditations, sermons, pictures, hymns, stories, and poems.« 224 Die durch den wiederholt gebeteten Mariengruß vertikal hergestellte kommunikative Nähe zum Heiligen, in der die Stationen des Lebens Christi im Zuge einer horizontalen Vermittlung zwischen Text und Leser als je neu und wirksam heraufbeschworen werden, besitzt hierin auch die figurative Qualität eines innerlich-realisierenden Neuvollzugs vorgängiger Geschehnisse. Wirkungsästhetisch betrachtet zielen die Rosenkranzklauseln somit auf eine Orientierung der Betenden auf die angerufene Gnadenmittlerin Maria und das zum inneren Wahrnehmungsgenstand werdende Wirken Christi. Der Text kann darin zunächst als Hilfsmedium verstanden werden, das dem Lesepublikum ein Skript für den Versuch der je eigenen Partizipation an der durch Christus und Maria vermittelten Gnade an die Hand gibt und hierbei eine Praxis des meditativen Gebets zumindest in ihrem Rahmenverlauf präfiguriert. 225 Zusätzlich aber stützt der Text sich selbst bereits auf derartige textuelle Präfigurationen - hierzu merkt Rainer Scherschel an, »wie sehr diese Klauseln an der Heiligen Schrift orientiert sind«. 226 Die in den jeweiligen 221 Largier 2014, S. 48. 222 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2 2013, S. 143. Zu rezeptionsästhetischen Charakteristika performativer Texte siehe ebd., S. 135 - 145; weiterführend vgl. auch Dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/ Basel 2001. 223 Mary Carruthers u. Jan M. Ziolkowski: General Introduction, in: The Medieval Craft of Memory. An Anthology of Texts and Pictures, hg. v. Dies., Philadelphia 2002, S. 1 - 31, hier S. 20. Siehe zu diesem Thema auch Carruthers 1998. 224 Carruthers/ Ziolkowski 2002, S. 3. 225 Vgl. Hamm 2009 und die Diskussion seiner Typologie der Heilsmedien oben, Kap. I.3. 226 Scherschel 1979, S. 128. 144 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="145"?> Betrachtungspunkten referierten Evangelienstellen sind in den meisten Fällen genau auszumachen. Auch sprachlich orientiert sich zumindest die lateinische Fassung eng an der Vulgata. Eigene literarische Ausschmückungen oder allzu präsente Rückgriffe auf apokryphe Traditionen unterlässt der Text zumeist. Die Rosenkranzklauseln präsentieren sich somit prinzipiell als zur Erfüllung in Betrachtung und Gebet aufbereitete Neu- und Rekonfiguration des biblischen Prätextes. Scherschel attestiert in Anbetracht dieser engen Gebundenheit an die Evangelien, dass Dominikus sich »hütete [ … ], nichtschriftgemäße Fakten einzuflicken«. 227 Ein genauer Blick auf die einzelnen Klauseln zwingt jedoch dazu, hier genauer zu differenzieren. Denn Dominikus paraphrasiert nicht nur die Erzählungen des Neuen Testaments, sondern rückt sie auch ins Licht ihrer im Spätmittelalter gängigen Auslegung sowie ihrer Ikonographie in der bildenden Kunst. So ist beispielweise die Vorstellung von der schmerzlosen Geburt Jesu, welche die oben zitierte dritte Klausel aufruft, nicht direkt biblischen Ursprungs, sondern stellt ein Produkt der exegetischen Tradition dar. 228 Gleiches gilt für die Episode von Christi Abstieg in die Unterwelt (vgl. RK lat., Z. 82 f.; RK, Z. 77 f.) sowie für die nur in der volkssprachigen Fassung der Rosenkranzklauseln behandelte Begegnung mit Maria auf der via dolorosa, bei der Christus syn leyff moder ind ander vrauwen ansprach (RK, Z. 52). 229 Das Motiv der Maria lactans dagegen, das aufscheint, wenn Jesus betrachtet wird, quem [ … ] virgineis tuis uberibus lactasti (RK lat., Z. 9 f.), 230 entspringt weder der Schrift noch ihrer Exegese, sondern ist eine Entwicklung der frühchristlichen Ikonographie. 231 Auch der Pietà-Szene, die ebenfalls nicht in den Evangelien beschrieben wird, sondern sich als Bildmotiv entwickelte, ist ein Betrachtungspunkt gewidmet. Allerdings relativiert die Gebetsübung hier auf aufschlussreiche Weise, wenn sie betont vorsichtig von Christus spricht, der van deme cruitze dijr in dynen schois geleget wart, als man mylde gelouvet (RK, Z. 73 f.). 232 In dem angehängten Verweis auf die Begründung des evozierten Motivs in der Glaubenstradition scheint ein reflektierendes Bewusstsein derartiger Extrapolationen mitzuschwingen. Die Rosenkranzklauseln schlicht als Paraphrasen ausgewählter Evan- 227 Ebd. 228 Die Herleitung dieser theologischen Lehrmeinung erklärt konzise Christoph Burger: »Wer annahm, dass Maria durch eine besondere Gnade Gottes von ihrer Empfängnis an von den Folgen der Erbsünde frei geblieben sei, der ging folgerichtig davon aus, dass auf sie auch der Fluch Gottes laut Genesis 3,16 nicht zutreffe: › Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. ‹ Man glaubte also, Maria habe eine schmerzlose Schwangerschaft gehabt und sie habe ihr einziges Kind, Jesus, ohne Schmerzen geboren«, Christoph Burger: › Sie ist mir lieb, die werte Magd ‹ . Martin Luthers Lied auf die Kirche - nicht auf Maria, in: Maria in Hymnus und Sequenz: Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven, hg. v. Eva Rothenberger u. Lydia Wegner, Berlin/ Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 373 - 393, hier S. 377. 229 »seine liebe Mutter und andere Frauen ansprach«. In Lc 23,26 - 31 wird lediglich von einer Gruppe anonymer Frauen berichtet, an die Christus einige Worte richtet, Marias Anwesenheit ist dabei nicht impliziert. 230 »den [ … ] du mit deinen jungfräulichen Brüsten stilltest«. 231 Vgl. Peter Morsbach: Art. Lactans (Maria lactans), in: Marienlexikon 3 (1991), S. 701. Das Bildmotiv geht wohl auf eine bereits frühchristliche Übernahme der römisch-ägyptischen Ikonographie der stillenden Isis zurück, siehe Sabrina Higgins: Divine Mothers: The Influence of Isis on the Virgin Mary in Egyptian Lactans-Iconography, in: Journal of the Canadian Society for Coptic Studies 3/ 4 (2012), S. 71 - 90. 232 »von dem Kreuz dir in den Schoß gelegt wurde, wie man großmütig glaubt«. In der lateinischen Fassung heißt es entsprechend ut pie dicitur (»wie fromm gesagt wird«, RK lat, Z. 77). 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 145 <?page no="146"?> gelienstellen aufzufassen, wirkt daher nicht ganz treffend. Eher liegt hier eine eng am Schrifttext orientierte und doch eigenständige geistliche Übung vor, die in enger Anlehnung an ihren biblischen Prätext gezielt einzelne Szenen aufruft, akzentuiert und mit Rückgriffen auf die zeitgenössische Schriftexegese sowie auf ikonographische Topoi verbindet, die in der religiösen Kunst des 15. Jahrhunderts fest verankert sind. 233 Die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens im Rosenkranzgebet bekommt dadurch auch eine hermeneutische Qualität. Sie ermöglicht nicht nur eine imaginative Immersion des Rezipienten in die biblischen Ereignisse, sondern deutet sie zudem und rahmt die einzelnen Betrachtungspunkte in einen zeitgenössischen Verstehenshorizont. Am Fluchtpunkt steht hierbei ein »Beten mit Konsequenzen im alltäglichen Leben«, das im Sinne einer inneren imitatio Christi zur »Besserung des Lebens in der Richtung des Vorbildes Christi« führen soll. 234 Vermittelt und unterstützt wird die mit dieser Wirkungshoffnung verbundene Übung vom Text. Dem Schriftmedium eignet dabei jedoch dezidiert kein › magischer ‹ Charakter, der eine Äquivalenzreaktion in Form einer Forcierung göttlicher Hilfe intendierte. Vielmehr hebt es ab auf die Vermittlung sowohl von betender Hinkehr zum Heiligen als auch sprachlich erzeugter Wahrnehmungsereignisse, also auf einen spezifischen Umgang mit rhetorischer Form und immersiv wirksamen Stimuli. Letztlich schlägt sich dies in einer inneren Gegenwart des dergestalt erfahrbar werdenden Heilsgeschehens nieder, die eine Nachfolge Christi im extratextuellen Leben der Betenden asulösen soll. Diese Effekte werden angeregt auch durch die rhetorische Gestalt des Gebetstexts. Ein diesbezüglicher Blick auf die Rosenkranzklauseln verdeutlicht, wie hier dem im Grunde eine einzige Apostrophe darstellenden exordium des Ave-Maria, das sich aus einer invocatio und den Segensworten der Elisabeth zusammensetzt, eine je variierende narratio zugefügt wird: 235 Gegroisset sistu Maria volgenaden, der Here is myt Dijr. Du bist gebenedijt in den vrauwen, gebenedijt is de vrucht dynes lyves Jesus Christus. [ … ] (20) Der up den palmdagh zo Jerusalem myt groesser eren intfangen wart. (21) Der synen jungeren gaff synen heilgen licham an den aventessen. (22) Der in dem garden bede jnd sweiste blodigen sweis. (23) Der sich leiss vangen, bynden ind voeren van eyme richter zo den ander. (RK, Z. 1 - 4; 35 - 41) 236 Ein derartiges Verfahren der mit Gebeten verbundenen und in Einzelpunkte gegliederten Betrachtung, die zwischen Anrufung des Göttlichen und mahnender Darlegung der zu 233 Wie häufig sich entsprechende Motivübernahmen aus der bildenden Kunst in geistlichen Übungen des Spätmittelalters finden, zeigt der Beitrag von Jeffrey F. Hamburger: The Visual and the Visionary: The Image in Late Medieval Monastic Devotions, in: Ders.: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 111 - 148. 234 Scherschel 1979, S. 130. 235 Vgl. dazu oben, Kap. I.3. 236 »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus Christus. (20) Der am Palmsonntag in Jerusalem mit großen Ehren empfangen wurde. (21) Der seinen Jüngern beim letzten Abendmahl seinen heiligen Leib zu essen gab. (22) Der in dem Garten betete und Schweiß und Blut schwitzte. (23) Der sich gefangen nehmen, binden und von einem Richter zum nächsten führen ließ.« 146 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="147"?> meditierenden Gegenstände oszilliert und damit sowohl eine kommunikative Nähe zur Transzendenz wie auch eine innere Gegenwärtigkeit der aufgerufenen Personen, Ereignisse und Gegenstände herstellt, hatte zu Beginn des 15. Jahrhunderts bereits eine lange Tradition. Dominikus von Preußen konnte mit dieser geistlichen Übung an ein beträchtliches Korpus vergleichbarer Texte anknüpfen. Wie Andreas Heinz im Detail nachweist, wurde die Verbindung von wiederholten Ave- Gebeten mit jeweiligen Meditationspunkten bereits mehr als hundert Jahre vor Entstehung des Trierer Rosenkranzkorpus von den Zisterzienserinnen des Klosters St. Thomas an der Kyll in der Eifel praktiziert. 237 Strukturell nämlich ähnelt eine lateinische, in einem um 1300 geschriebenen Gebetbuch dieses Ordenshauses überlieferte »rosenkranzähnliche Gebetsübung« 238 den Klauseln des Dominikus von Preußen recht stark: An insgesamt 98 Ave Maria wird dort jeweils eine mit quia ( › weil ‹ ) eingeleitete Begründung dafür angefügt, weshalb Marias Leibesfrucht gebenedeit sei. 239 Auch hier handelt es sich um eine auf erweiterten Mariengrüßen basierende, christozentrische Gebets- und Andachtsübung, die allerdings sowohl in der Zahl der verlangten Gebete als auch in ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung von Dominikus ’ Leben-Jesu-Rosenkranz abweicht. Die Betrachtungspunkte des zisterziensischen Texts beginnen mit der Schöpfung und enden beim Jüngsten Gericht, umfassen also nicht nur das Leben Christi, sondern den Gesamtverlauf der christlichen Heilsgeschichte. Dass diese unikal überlieferte geistliche Übung die Rosenkranzklauseln direkt beeinflusste, ist mindestens unwahrscheinlich. Heinz geht davon aus, dass »die Trierer Kartäuser mit Sicherheit keine Kenntnis von dieser Gebetsform« hatten. 240 Obwohl also keine textgenetische Linie zwischen der Andachtsübung der Zisterzienserinnen von St. Thomas und dem Trierer Rosenkranzkorpus anzunehmen ist, steht ersterer Text doch stellvertretend für ein vielfältiges literarisches Genre der gebethaften Passions- und Christusmeditation in Einzelpunkten, 241 mit dem Dominikus von Preußen aller Wahrscheinlichkeit nach vertraut war. Die Entwicklung einer entsprechenden lateinischen Textgattung verläuft von den um 1100 entstandenen Orationes sive meditationes des Anselm von Canterbury über die pseudo-bonaventurischen, auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datierenden Meditationes vitae Christi bis hin z. B. zu den Mitte des 15. Jahrhundert von Thomas von Kempen verfassten Orationes et meditationes de vita Christi. 242 Erste Beispiele eigenständiger volkssprachiger Passionsandachten wie die 237 Vgl. Heinz 1977; sowie Heinz 2003, S. 36 - 38. 238 Heinz 1977, S. 280. 239 Der Text ist abgedruckt ebd., S. 282 - 284. 240 Heinz 2003, S. 37. 241 Prominent gehören hierzu die bei Palmer 2020 untersuchten Texte Heinrich Seuses, Bonaventuras, Ludolfs von Sachsen und Jordans von Quedlinburg. 242 Mit großer Akribie wird dies nachgezeichntet bei Thomas H. Bestul: Texts of the Passion. Latin Devotional Literature and Medieval Society, Philadelphia, PA 1996 (Middle Ages Series), insb. S. 26 - 68. Bestuls Studie gibt nicht nur einen hilfreichen Überblick über die Entwicklungen, Besonderheiten und Abhängigkeiten im Feld der lateinischen Passionsliteratur des Mittelalters, sie handelt auch vergleichend die Herausbildung einzelner Motivkomplexe ab und stellt einen Katalog der Texte dieser Gattung zur Verfügung, der moderne Editionen, die Überlieferungslage samt der jeweils wichtigsten handschriftlichen Überlieferungszeugen, Incipits und Besonderheiten der einzelnen Texte auflistet (ebd., S. 186 - 192). 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 147 <?page no="148"?> anonym überlieferten Christi Leiden in einer Vision geschaut 243 und vor allem die in der Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters beinahe omnipräsenten Hundert Betrachtungen Heinrich Seuses 244 tauchen, wie Tobias A. Kemper aufzeigt, im Zeitraum um 1330 auf. 245 Letzterer Text ist, ähnlich wie die Rosenkranzklauseln, in einzelne Meditationspunkte gegliedert, die je von einem Paternoster, Ave Maria oder Salve regina begleitet werden sollen und, so Alois Maria Haas, »nicht in narrativer Form, sondern in bloßer Reihung der zu betrachtenden Geschehnisse« die Ereignisse der Passion von Jesu Gebet im Garten Gethsemane bis hin zur Trauer Marias bei der Grablegung wiedergeben. 246 Zwischen deutschsprachigen Texten wie Seuses Hundert Betrachtungen und der entsprechenden lateinischen Gebets- und Andachtsliteratur des Spätmittelalters bestand dabei, was Thomas H. Bestul als »relation [ … ] in terms of mutual reciprocity and interpenetrability« bezeichnet. 247 Auch Dominikus ’ Rosenkranzklauseln und die oben erwähnte zisterziensische Gebetsübung fügen sich in dieses wechselseitige Beziehungsgeflecht ein. Dabei sind jedoch kaum direkte Abhängigkeiten von einzelnen Vorläufertexten zu suchen. 248 Viel eher ist von einer im Spätmittelalter in Frömmigkeitspraxis und -literatur grundsätzlich verbreiteten Gattung und Technik des gebethaft in Punkte gegliederten meditativen Umgangs mit Christi Leben und Leiden auszugehen, auf der Dominikus seinen Rosenkranz aufbaute. 249 Was den aus einem Ave Maria und dem jeweils zugefügten Relativsatz zusammengesetzten Gebeten der Rosenkranzklauseln im Gegensatz zum Beispiel zu Seuses Hundert Betrachtungen prominent fehlt, ist eine in Hinwendung an Christus und Maria vorgebrachte Bitte. Zwar wird mit dem Mariengruß eine Kommunikationsbeziehung zwischen den in die Ich-Rolle eingetauchten Betenden und der Gottesmutter etabliert und die anschließende kurze narratio der Klausel dient der meditativen Versenkung in die neutestamentlich bezeugten Ereignisse. Mit welcher Intention dies jedoch erfolgt, lässt der Text als individuell zu füllende › Leerstelle ‹ offen. 250 Bloß wenn die Rosenkranzklauseln das betende Ich gegen Ende der Übung die Hoffnung ausdrücken lassen, dass Christus et nos famulos suos et tuos, post huius miser(a)e vitae cursum dignetur, te 243 Ediert bei Frederick P. Pickering: Christi Leiden in einer Vision geschaut. A German Mystic Text of the Fourteenth Century. A critical account of the published and unpublished manuscripts, with an edition based on the text of MS Bernkastel-Cues 115, Manchester 1952. 244 Vgl. Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 314 - 322. 245 »Eine eigenständige deutschsprachige Passionsliteratur, die nicht mehr unmittelbar von lateinischen Vorlagen abhängig ist, ist offenbar erst im 14. Jahrhundert entstanden«, Kemper 2006, S. 146. Vgl. dazu auch Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 424 - 447. 246 Alois Maria Haas: Sinn und Tragweite von Heinrich Seuses Passionsmystik, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 94 - 112, hier S. 107. 247 Bestul 1996, S. 11. 248 Scherschel 1979, S. 103 - 116, zieht zwar Parallelen zu Visionen Mechthilds von Hackeborn, Seuses Hundert Betrachtungen und der Vita Jesu Christi des Ludolf von Sachsen, deren Einfluss auf die Rosenkranzklauseln sicher anzunehmen ist, vermag dabei aber keine direkten textuellen Einflüsse zu belegen. 249 In diesem Sinne tut Klinkhammer gut daran, eine kleine Gruppe von volkssprachigen Ave-Andachten abzudrucken, die ins gleiche Umfeld gehören, vgl. Klinkhammer 1972, S. 194 - 197. 250 Zum Begriff und zur Funktion solcher › Leerstellen ‹ in narrativen Texten vgl. Iser 1994, S. 284 - 301; sowie meine Überlegungen oben, Kap. I.4. 148 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="149"?> intercedente assumere, et in regno patris sui constituere (RK lat., Z. 95 - 97), 251 klingt kurz eine petitio an. Diese allgemein und formelhaft ausgedrückte Sorge um das eigene Seelenheil, die in der volkssprachigen Fassung zudem fehlt, ist jedoch das einzige Element in den Rosenkranzklauseln, das sich als Gebetsbitte lesen lässt. Eine Erklärung für diese Intentionsoffenheit findet sich in einer knappen Erläuterung, die den Text der Rosenkranzklauseln in der von Klinkhammer edierten Fassung begleitet. Die Gebetsform des Rosenkranzes, so führt dieser Paratext aus, sei zu vielerlei Gebetsanliegen geeignet, quia [ … ] in coelis deo et sanctis eius gratum est, et homini dicenti illud utile valde, et fructuosum ad inveniendum gratiam apud dominum, ad augendam devotionem, et vitae suae emendationem. (RK lat., Z. 153 - 156) 252 Grundsätzlich kann der Rosenkranz, so implizieren diese Zeilen, in der Hoffnung auf Gnadenwirkungen aller Art gebetet werden. Er stellt somit eine Art › Universalgebet ‹ dar. In seiner Erläuterung dieses Anspruchs kommt Dominikus auf die Idee eines handwerklichen Betens zurück, dessen Produkte in der Logik einer spirituellen Gabenökonomie aufgehen, in der für geistliche Kränze äquivalente oder größere Gegengaben erhofft werden dürfen: Sic quoque laudantes et benedicentes iugiter dominum ac sanctissimam matrem eius, benedictionem etiam ex prophetica imprecatione nobis ipsis promeremur, quia de domino nostro Jesu Christo et nobis sic prophetatum est, dicente Ysaac patriarcha: Qui benedixit tibi, sit ille benedictus etc. Nam qui seminaverit in benedictionibus, ut dicit apostolus, de benedictionibus et metet vitam aeternam. Et qui coronaverit Christum regem, et reginam coeli corona hac rosea, ipse ab eis coronari merebitur, corona vitae immarcessibili in aeternum. (RK lat., Z. 165 - 174) 253 Viel deutlicher lässt sich ein für die Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters prägendes »Religionsgesetz von Gabe und Gegengabe«, in dem »ein System von absoluter Gerechtigkeit mit jeweils genauestem Ausgleich« gilt, nicht beschreiben. 254 Denn die Frömmigkeitserweise der Gläubigen, so führt diese Erklärung aus, bilden Kränze für Christus und Maria, die im Gegenzug durch die unvergleichlich höhere Gabe des ewigen Lebens vergolten werden sollen. Auch in der Zwanzig-Exempel-Schrift wird diese Idee des sich zu geistlichen Gegenständen konkretisierenden Herbeibetens von Geschenken für Maria immer wieder aufgerufen. So erläutert der Kartäuser, dass wie die Ave-Maria in guter meynunge gesprochen werden, so mogen sie nicht verloren werden. Da werden rosen da von 251 »auch uns, seine und deine Diener, nach dem Lauf dieses schlechten Lebens würdig schätzen möge, uns durch deine Fürsprache aufzunehmen und ins Reich seines Vaters einzulassen.« 252 »weil er Gott im Himmel und seinen Heiligen wohlgefällig ist sowie von großem Nutzen für die Menschen, die ihn sprechen, [weil er] fruchtbar [ist], um Gnade vor Gott zu finden, um die Andacht zu vergrößern und um sein Leben zu verbessern«. 253 »Und auf diese Weise stetig den Herrn und seine allerheiligste Mutter lobend und segnend, verdienen auch wir selbst uns durch unser vorhergesagtes Gebet einen Segen, denn es ist demgemäß über unseren Herrn Jesus Christus und uns prophezeit durch das Wort des Vaters Isaak: › Wer dich segnet, jener sei gesegnet ‹ (Nm 24,9) etc. Denn › wer mit Segen sät, ‹ wie der Apostel sagt, › wird auch mit Segen ernten ‹ im ewigen Leben (II Cor 9,6). Und wer den Herrscher Christus und die Königin des Himmels mit dieser Rosenkrone krönen wird, wird es verdienen, selbst von ihnen gekrönt zu werden mit der Krone des unvergänglichen Lebens in Ewigkeit.« Die Kommasetzung im lateinischen Text stammt von Klinkhammer. 254 Angenendt 2009, S. 374. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 149 <?page no="150"?> oder blumen oder grune edel krut (ZES, Z. 113 - 15). 255 Das Beten der Gläubigen übersetzt sich somit in das geistlich-konkrete Ding der corona rosea, die sich wiederum als Verdienst fassen lässt, der von Maria genau entlohnt werden wird. Solche Ausführungen, die ein Entsprechungsverhältnis von gesprochenem Gebet, entstehendem geistlichen Ding und zu erhoffendem Heilslohn implizieren, mögen auch deshalb erstaunen, weil Dominikus es wenige Zeilen vor der oben zitierten Passage noch freistellte, den Rosenkranz länger oder kürzer zu beten, vom Wortlaut seines Textes abzuweichen oder sogar materiam istam prolongare, breviare seu in melius commutare, sicut plures fecerunt, vitam ipsam salvatoris verbis exprimendo, vel subtili tantummodo memoria illam meditando, iam sic, iam aliter, se[c]undum quod quilibet habuerit gratiam vires et tempus. (RK lat., Z. 147 - 151) 256 Eine derartige Gestaltbarkeit der Meditationen des Rosenkranzgebets steht in einem komplexen Ergänzungs- und Spannungsverhältnis zur Quantifizierungslogik, die dem Kranzbeten zugrunde liegt. »Keine zweite Gebetsform«, so Thomas Lentes, »lebte so sehr vom Zählen und wurde dennoch nicht weniger als Versenkungsübung in die unterschiedlichen Heilsmysterien genutzt.« 257 Die Offenheit des vom Text angeregten, imaginierenden Eintauchens und ein durch quantifizierte Frömmigkeit kontrolliertes Verfahren der Hinwendung zum Heiligen sind in den Rosenkranzklauseln komplementär angelegt. Dabei oszilliert das zählende Beten des Rosenkranzes zwischen der Vorstellung eines Akkumulierens von Gnadenverdiensten und einer mentalen Technik der »iteration and reiteration of images and words«, die eine Immersion in das heilsbringende Leben und Leiden Christi stimulieren und strukturieren. 258 Ein Äquivalenzverhältnis von gesprochenen Gebeten und ihrer Figuration im geistlichen Kranz wird nämlich auch in der Adaptierbarkeit des zählenden Betens stets aufrechterhalten. In der Zwanzig-Exempel- Schrift verdeutlicht Dominikus diese Vorstellung, wenn er erwähnt, dass etliche seiner Ordensbrüder die Übung abwandelten: uber V oder X Ave-Maria sprechen sie eine antiphona oder etwaz geistliches lobes, dor mitte sie zieren iglicher nach sinem vermogen den krantze, den sie Marien machen (ZES, Z. 120 - 122). 259 Diese Zufügungen und persönlichen Anverwandlungen des Rosenkranzbetens resultierten nun darin, dass ganz unterschiedliche geistliche Kränze entstünden. In diese seien nicht alleine rosen [ … ] sonder auch ander farben als lilien, fiolen und anderley edel krut eingeflochten, denn mancherley farben by ein gesatzt machent ein ding schoner dan rosen alleine (ZES, Z. 123 - 126). 260 Im genauen Zählen ergibt sich so ein Freiraum der dinglichen Vorstellung, aus dem heraus Figurationen des Betens entstehen, denen eine geistliche Wirklichkeit und Wirksamkeit zugeschrieben wird, die über die ästhetische Erfahrung der immersiven Lektüre und die 255 »wenn die Ave Maria in guter Absicht gesprochen werden, so können sie nicht verloren gehen. Dann werden daraus Rosen oder Blumen oder edle grüne Pflanzen«. 256 »diesen Stoff zu verlängern, zu kürzen oder zu verbessern, so wie es bereits viele getan haben, um das Leben des Erlösers in Worten auszudrücken oder es bloß innerlich durch memoria zu betrachten, der eine so, der andere anders, ganz wie ein jeder Gnade, Kraft und Zeit hatte«. 257 Lentes 1996, S. 628. 258 Largier 2008, S. 87. 259 »zu fünf oder zehn Ave Maria sprechen sie eine Antiphon oder irgendein geistliches Lob, womit sie ein jeder nach seinem Vermögen den Kranz schmücken, den sie für Maria herstellen«. 260 »nicht bloß Rosen [ … ], sondern auch andere Farben so wie Lilien, Veilchen oder sonstige edle Pflanzen«, »mehrere Farben in Kombination machen ein Ding schöner als Rosen allein«. 150 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="151"?> Kommunikation mit der Transzendenz hinaus auf eine durch sie vermittelte Gnadenerfüllung weist. Der entscheidende Beitrag der Trierer Rosenkranzklauseln zur Ausbildung dieser Gebetsform liegt eben gerade in dieser Verschmelzung von betendem Zählen und imaginierendem Herstellen geistlich-konkreter Dinge, also von Gebetsweisen, die bereits z. B. im Mirakel Marien Rosenkranz narrativ verhandelt werden, mit einer in Punkte gegliederten Passionsmeditation, die eine innere Vergegenwärtigung der Heilsereignisse des Lebens Christi anregt. Die Verquickung dieser Trias - zählendes Beten, figurierendes Herstellen und immergierendes Betrachten - bildet den Kernbestand der verschiedenen, sich im Verlauf des 15. Jahrhundert rasant ausbreitenden Rosenkranzübungen. 3.4 Blumenfigurationen des Betens: Der Rosengertlin-Traktat In den Rosenkranzklauseln selbst schlägt sich das Motiv des gebethaft gefertigten Blumenkranzes für Maria nicht nieder. Erst durch paratextuelle Ergänzungen und Erläuterungen wie die angefügte Mirakelerzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen, Dominikus ’ oben angesprochenen lateinischen Zusatz oder die Zwanzig-Exempel-Schrift wird der Leben-Jesu-Rosenkranz als handwerkliches Beten charakterisiert. Dies unterscheidet die Klauseln erstens von den unten behandelten Texten, in denen Marienkleider und innere Gebäude den bildlichen Grundstock der angeleiteten Übungen darstellen. Zweitens erklärt gerade dieses Fehlen des Blumenmotivs in den eigentlichen Gebetsformeln die Vielzahl der Paratexte zu den Rosenkranzklauseln, die besonders auf die Vorstellung eines geistlichen Kranzflechtens im und durch das Beten der mit Betrachtungen verbundenen Mariengrüße eingehen. Der Rosengertlin-Traktat, der volkssprachig in vier vollständigen Textzeugen des 15. Jahrhunderts und zahlreichen Exzerpten sowie in einer davon abhängigen lateinischen Fassung überliefert ist, 261 sticht hierunter besonders hervor. Als Autor ist auch hier Dominikus von Preußen anzunehmen, der in seiner Corona gemmaria erwähnt, er habe eine entsprechende Schrift verfasst: libellum in theutonico conscripsi, qui hortulus beatae Mariae appellatur. 262 Prinzipiell stellt dieses deutsche libellum, das vermutlich um 1430 261 Köln, Hist. Archiv, Ms. GBf 47, fol. 69r - 83r; Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI. 58, fol. 292r - 311r; Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen B VI 2, fol. 30v - 42v; sowie Mainz, Stadtbibl., Ms. 322, fol. 83v - 118v. Zu diesen Handschriften sowie der breiten Exzerptüberlieferung der volkssprachigen Fassung vgl. Schmidtke 1982, S. 54 - 56. Dem Abdruck bei Klinkhammer 1972, S. 135 - 156 (folgend im Fließtext als › RG ‹ zitiert), liegt die Mainzer Handschrift zugrunde, die durch einen Schreibervermerk auf fol. 155v auf 1454 datiert wird. Eine kürzende lateinische Fassung des Rosengertlin-Traktats findet sich dagegen in der Handschrift Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 301r - 305r, nach der Klinkhammer 1972, S. 162 - 172, den Text wiedergibt. Die lateinische Fassung findet sich zudem in Mainz, Stadtbibl., Ms. 300, fol. 50v - 52r. Die Annahme, der deutsche Text habe als Vorlage für den lateinischen gedient, wird durch den in der Trierer Handschrift angehängten Vermerk bestätigt, dieser Traktat sei in theutonico geschrieben worden und läge hier nun auch in latino abbreviatus vor (Klinkhammer 1972, S. 170). 262 »Ich habe ein Büchlein auf Deutsch geschrieben, das Gärtlein der seligen Maria genannt wird«, Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 161r; zitiert nach Schmidtke 1982, S. 241. Ebd. ist auch Klinkhammers irreführende Autorzuschreibung zu Adolf von Essen schlüssig widerlegt, die bereits von Scherschel 1979, S. 141 - 143, angezweifelt worden war. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 151 <?page no="152"?> datiert, eine bewerbende Erläuterung zu der von den Rosenkranzklauseln angeleiteten Übung dar, die die Überführung von Gebet und Betrachtung in geistlich-konkreten Blumenschmuck vor allem auf dem Weg einer Rosenallegorese zu veranschaulichen sucht, in der immer wieder auch typologische und figurale Vorstellungen anklingen. Darin gehört das Rosengertlin in den Bereich der geistlichen Gartenallegorien, den Dietrich Schmidtke umfänglich erschlossen hat. 263 Der Titel des Traktats ist betont doppeldeutig. Denn einerseits bezeichnet sich der Text selbst als gertelin, dessen Leser geistlich[e] rosen [ … ] kunden brechen (RG, Z. 444 - 446), 264 verwendet den Begriff des Gartens also als metaphorischen Titel. 265 Andererseits ist sein Thema ebenfalls ein Garten. Das Rosengertlin nämlich setzt Blumen mit dem Ave Maria gleich, durch dessen Beten im Gläubigen gleichsam ein innerer Rosengarten für Christus und seine Mutter angepflanzt werde, aus dem schließlich der Rosenkranz zusammengepflückt werden könne. Dem eigentlichen Traktat vorangestellt ist eine Prosafassung des Mirakels Marien Rosenkranz, das auch hier als Ursprungserzählung des Rosenkranzbetens gekennzeichnet ist. Denn durch dieses Wunder, so der Text, qwam es uß und ersten uff, daz man diß unser Frauwen dinst thet und eynen rosenkrancz nennet (vgl. RG, Z. 52 f.). 266 Nun jedoch verlangt diese Bezeichnung und die Idee der geistlichen Gebetsblumen offenbar nach weiterer Erklärung, weshalb Dominikus ankündigt, folgend zu erläutern, weshalb es gar rechte [ … ] eyn rosenkrancze heißet, so man diesen Ave Maria spricht funffczig ader me (RG, Z. 56 f.). 267 Seine Argumentation stützt sich dabei auf typologische und auch im weiteren Sinne allegorische Verfahren, mittels derer er ein dreifaches Gleichnis aufstellt. Drei Dinge nämlich gäbe es, die yn dem rosenkrancz syn, die mit rosen große glichniße und gemeynschaft han (RG, Z. 58 f.). Sowohl der Text des Ave Maria müsse in diesem Sinne als Rose bezeichnet werden, als auch Maria, die durch diese Gebetsformel apostrophiert werde. Schließlich gleiche auch Jesus Christus, dessen Namen der Mariengruß abschließend nennt und dem die Betrachtungspunkte der Rosenkranzklauseln gewidmet sind, einer Rosenblüte. In drei unterschiedlich umfangreichen, teils bricolagehaft anmutenden Abschnitten 268 arbeitet das Rosengertlin diese Blumengleichnisse aus. Die Passagen, in denen Dominikus begründet, weshalb die Rose Christus und Maria verkörpere, kombinieren hierbei vor 263 Schmidtke 1982; zum Rosengertlin vgl. insb. S. 54 - 56, 133 f., 226, 240 - 242, 277, 287. 264 »kleiner Garten«, »geistliche Rosen [ … ] pflücken können«. 265 Dies ist in der geistlichen Literatur der Zeit eine gängige Titelmetapher, welche »die Vorstellung eines sich durch Reichhaltigkeit auszeichnenden und näherhin auch die Vorstellung eines aus flores (Terminus technicus für: Exzerpte) zusammengesetzten Textes« impliziert (Schmidtke 1982, S. 75). 266 »fing es zuerst und ursprünglich an, dass man unserer Herrin diesen Dienst erbrachte und ihn einen Rosenkranz nannte«. 267 »sehr treffend ein Rosenkranz heißt, wenn man von diesen Ave Maria fünfzig oder mehr spricht«. 268 So fügt die Mainzer Fassung mitunter Digressionen in Form von Exempeln (vgl. z. B. RG, Z. 788 - 805), speiseallegorische Passionsbetrachtungen (vgl. RG, Z. 602 - 633) oder auch eine Anweisung zum Beten des Psalters zu den Wunden Christi (vgl. RG, Z. 643 - 707) bei, die allgemein den Eindruck eines »umfangreiche[n], ja unförmige[n] Textes« hervorrufen (Schmidtke 1982, S. 277). Hier dürfte Dominikus aus verschiedenen Vorlagen kompiliert haben, darunter dem Liber experientiae, wo sich auch die in den Traktat eingearbeitete Erzählung von einem durch inniges Beten zu den Wunden der Passion ausgelösten Heilungswunder (vgl. RG, Z. 851 - 933) in zumindest ähnlicher Gestalt wiederfindet (vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 214 - 216). 152 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="153"?> allem auf dem Modell des vierfachen Schriftsinns beruhende Techniken der Bibelauslegung mit Momenten der Dingallegorese. So führt der Traktat aus, Jesus dürfe als Blume vorgestellt werden, weil: unsern Heren der propheta Isaias eyn blume nennet und spricht von Marien geburt und von yrer frucht Jesu also: Da wirt ein rode adder eyn gertte entspringen uß der worczel Jesse, und eyn blume wirt uffstigen oder wachsen uß irer worczeln. (RG, Z. 487 - 491) 269 Unter Rückgriff auf die alttestamentliche Ankündigung der Ankunft des Messias (Is 11,1 - 10), die im christlichen Mittelalter typologisch als Prophezeiung der Geburt Jesu gedeutet wurde, und die darauf basierende Ikonographie der Wurzel Jesse leitet Dominikus das Blumenbild somit zunächst aus der Schrift her. 270 Anschließend aber wechselt er das Register hin zur Dingallegorie und führt als Bildspender mit der Rose die »Struktur eines in der Natur vorkommenden komplexen Dinges« an, 271 das in einem Entsprechungs- und Referenzverhältnis zu Christus stünde. So besitze eine Rose fünf Blütenblätter, und dies ließe sich auch als Bild für Christus deuten: Die rose, unser herre Jesus Christus, [ … ] begunde ir schonen rote funff bletter ußczubreiden an dem heiligen crucze, daran Christus Jesus stund und bluete, wie eyn woilriechende, zartte rose uff eynem rosenbaume. (RG, Z. 509 - 512) 272 Die Wunden werden hier als Blütenblätter und die Blütenblätter als Wunden präsentiert. Auf diese Weise geraten Zahlenverhältnisse, Farben, Gerüche und andere Struktureigenschaften zum tertium comparationis, das die allegorische Engführung von Blume und Heiland plausibilisiert. Das Rosengertlin fächert diese sinnbildliche Überblendung von Jesus und Rosenblüte in der Folge in immer feineren Details aus, wobei der Text mehrfach zwischen Begründungsstrategien der Schriftauslegung und Dingallegorese hin und her changiert. Doch nicht nur Christus, sondern auch Maria wird dergestalt zur allegorischen Blume. Dabei kann Dominikus auf das volle Spektrum der spätmittelalterlichen marianischen Rosensymbolik zurückgreifen 273 und beispielsweise die weißen und roten Farben der Rose sowie ihren guten Duft mit den drei Tugenden Marias in Verbindung bringen. Diesen Eigenschaften der Blume entsprechen, so der Traktat, yrs herczen andechtige ynnekeit, [ … ] ir demutige kuscheyt, [ … ] ir furige mynne (RG, Z. 265 - 267). 274 Nun werden diese Tugenden, so legt der Trierer Kartäuser dar, jeweils wieder allesamt durch alttestamentliche Frauengestalten präfiguriert, die als Typen auf die himmlische Rose Maria vorausdeuten und sich 269 »der Prophet Jesaja unseren Herrn eine Blume nennt und wie folgt über die Geburt Marias und ihre Frucht Jesus spricht: Ein Reis oder Zweig wird aus der Wurzel Jesse entspringen, und eine Blume wird emporsprießen oder entwachsen aus seiner Wurzel«. 270 Vgl. zu diesem spätmittelalterlich gängigen Motiv Ursula Nilgen: Art. Wurzel Jesse, in: LexMA 9 (1998), Sp. 382. 271 So wird die Dingallegorie charakterisiert bei Michel 1987, S. 456. 272 »Die Rose, unser Herr Jesus Christus, [ … ] begann ihre schönen fünf roten Blätter zu entfalten an dem heiligen Kreuz, an dem Jesus Christus stand und blühte wie eine wohlriechende, zarte Rose an einem Rosenstock«. 273 Vgl. dazu überblickshaft Schmidt 1993. 274 »die andächtige Innigkeit ihres Herzens, [ … ] ihre demütige Keuschheit, [ … ] ihre feurige Liebe«. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 153 <?page no="154"?> in ihr erfüllen (vgl. RG, Z. 347 - 442). 275 Auch hier verspleißt das Rosengertlin also typologische Exegese und Dingallegorie. Am deutlichsten wird dies, wenn Dominikus in einer Art Glossentext zum Ave Maria die einzelnen Abschnitte dieser Gebetsformel zunächst auslegt und ihre Auslegung danach auf die gegenständlichen Qualitäten der Rose bezieht. 276 So wird beispielsweise das Wort › Ave ‹ in etwas fantasievoller Etymologie vom lateinischen ab vae ( › von Schmerz [frei] ‹ ) und gleichbedeutenden deutschen ane we (RG, Z. 180) abgeleitet. Dies wiederum legt Dominikus dahingehend aus, dass Maria hatte keyne sunde, also eyn rose in dem dorne ane dorn (RG, Z. 178). 277 Pate für diese Passage mag eine Visionsepisode bei Mechthild von Hackeborn gestanden haben, auf deren Liber specialis gratiae das Rosengertlin mehrfach verweist. Dort findet sich eine entsprechend etymologisch argumentierende Ave-Maria- Glosse, der allerdings das Rosenmotiv fehlt. 278 Bei Dominikus werden auch die folgenden Textbestandteile des Englischen Grußes im Detail interpretiert und mit dem Blumenbild verbunden. So stünden die fünf Buchstaben des Namens »Maria« einerseits für die fünf Freuden Marias, 279 andererseits entsprächen sie darin den fünf Blütenblättern der Rose. Mit den Worten › Dominus tecum ‹ dahingegen sei gemeint, daz die gotheit also in Marien was (RG, Z. 223 f.), wie die rosen han mitten czwuschen den bledern eyn geles blumelin stan (RG, Z. 213 f.). 280 Der Blütenstempel und die in Maria geborgene Gottheit werden in ein Referenzverhältnis gesetzt. Immer wieder legt Dominikus so den Text auf die Blume und die Blume auf den Text aus. Zunehmend verwischt sich dabei das Verhältnis von Zeichen und Denotat, so dass unklar wird, ob Maria eine Rose oder die Rose Maria bedeutet. Vielmehr, so legt der Text nahe, stehen Blume und Gottesmutter in einer Figurationsbeziehung, durch die sie sich gegenseitig bezeugen. Was jedoch bedeutet diese kleinteilige Engführung von Maria und Christus mit dem Motiv der Rosenblüte für die Gebetsweise, vor dessen Hintergrund der Traktat steht, der, so Schmidtke, zur »Rosenkranzandacht hinführen« sollte? 281 Ausschlaggebend ist, dass das Rosengertlin zusätzlich zu Christus und Maria auch das Ave-Gebet mit einer Rose 275 Genannt werden dabei erstens Eva, Delilah und Batseba, deren Verfehlungen von Maria übertroffen und wettgemacht worden seien, sowie zweitens Abigajil, Judith und Esther, deren gute Taten und Tugenden das Wirken Marias präfigurierten. 276 Auslegende Glossentraktate, -lieder und -gebete zum Ave Maria sind im Spätmittelalter überaus gängig, und Dominikus knüpft im Rosengertlin dementsprechend an eine umfangreiche Texttradition an. Zahlreiche lateinische Beispiele finden sich abgedruckt bei Guido Maria Dreves SJ (Hg.): Reimgebete und Leselieder des Mittelalters. Dritte Folge. Stunden- und Glossen-Lieder, Leipzig 1898 (Analecta hymnica medii aevi 30), S. 190 - 281. Ein Beispiel für ein deutschsprachiges Glossengebet auf den Englischen Gruß aus dem 14. Jahrhundert ist ediert bei Wiederkehr 2013, S. 323 f. Die einflussreiche Glossenauslegung der Einzelworte des Ave Maria durch den Franziskanertheologen Konrad von Sachsen wird diskutiert bei Fulton Brown 2018, S. 309 - 323. 277 »frei von Sünden war, wie eine Rose zwischen den Dornen [aber selbst] ohne Dornen«. 278 Vgl. Mechthild von Hackeborn, Liber specialis gratiae, in: Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae II, hg. v. Solesmensium O. S. B. Monachorum, Paris 1877, S. 1 - 421, hier S. 126 [I,42]. Dort heißt es, das › Ave ‹ bedeute, dass Maria sei immunis ab omni væ culpæ (»frei von allem Schmerz der Sünde«). Vgl. zu dieser Vision bei Mechthild auch Buschbeck 2022b, S. 27 f. 279 Das sind hier die Verkündigung, die Geburt Christi, die Auferstehung Christi, die Himmelfahrt Mariens und die Begrüßung als Himmelskönigin, vgl. RG, Z. 192 - 199. 280 »dass die Gottheit genauso in Maria war«, »die Rosen mitten zwischen ihren Blättern ein gelbes Blümlein stehen haben«. 281 Schmidtke 1982, S. 251. 154 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="155"?> gleichsetzt. Denn diese rose, daz ist diß wort, hait der erste gertener, der daz paradise in dem begintniße planczte, gesehet und geplanczt in dem erdichsen libe Marien (RG, Z. 74 - 76). 282 Das Einpflanzen des Gebetswortes in der Verkündigung, in dessen Beschreibung Dominikus von Preußen die biblische Formulierung von der Fleischwerdung des Wortes durch die Inkarnation (Io 1,14) anklingen lässt, habe sich nun in der Christusrose erfüllt, die ußgesproßen und gewaschen ist und hait ir rosenczweige so wijt gebreit, daz ir same in aller cristenheit gronet (RG, Z. 77 - 79). 283 In den Bildern vegetabiler Fortpflanzung wird hier einerseits die Verbreitung des christlichen Glaubens und seines Heilsversprechens veranschaulicht, andererseits aber auch die Weitergabe der Gebetsformel des Ave Maria. Durch die Worte des Erzengels Gabriel nämlich sei erst möglich geworden, daz unser igclichs in sinem herczen sin gertlin hait, darynne eß alle tage geet und rosen bricht und machet Marien eyn krenczelin (RG, Z. 80 - 82). 284 Die Verkündigungsszene, verstanden als Einpflanzen des göttlichen Wortes oder Rosensamens in den Leib Marias, präfiguriert eine Gebetspraxis, in der die Gläubigen durch das Wiederaufgreifen der Grußworte des Ave-Gebets in sich selbst einen Rosengarten anpflanzen, also Christus und Maria floral in sich figurieren. Aus diesen Rosen, so die Argumentationslinie der Traktatschrift, ließe sich nun auch der geistliche Kranz flechten, der im Vollzug der durch die Rosenkranzklauseln angeleiteten Übung entstünde: alle cristengleubigen, die werden alle durch diß erst wort selig, daz der engel Gabriel als ein erste rose planczte und sehette in die erde des megentlichen libes Marien, daz wir nu von ir wort entphangen han und geleret, daz wir got und ir zu lobe sprechen Ave maria, und der rosen han, die durch sinen engel got gesant hait, Marien zu eynen krancz. (RG, Z. 96 - 102) 285 Über die Beschreibung einer fortlaufenden Aussaat der Ave-Maria-Rose entwirft der Traktat das Bild einer Figurationskette des Betens, die mit der Verkündigungsszene beginnt und sich in der seligmachenden Frömmigkeitspraxis der Gläubigen immer wieder neu erfüllt. Denn ebenso wie Maria Christus empfing, empfangen auch die Gläubigen das Ave Maria, das in ihnen zu geistlichen Rosen heranwächst und sich schließlich im wiederum an Maria übereigneten Blumengebinde manifestiert. Gleichzeitig wird die Rose als Gleichnis Christi und Marias aufgezeigt, in der sich das Erdenleben, die heiligmäßigen Eigenschaften sowie die gnadenbringende Kraft der Gottesmutter und ihres Sohnes auf sinnlich anschauliche Weise widerspiegeln und die durch das Rosenkranzgebet innerlich erschaffen werden soll. Während also die Rosenkranzklauseln stärker auf Momente des zählenden Betens im Sinne eines kontrollierten Verfahrens der Hinkehr zum Heiligen sowie auf ein betrachtendes Eintauchen in die evozierten Heilsereignisse abheben, stellt Dominikus im Rosengertlin-Traktat die figuralen Qualitäten dieser Gebetsweise besonders heraus. Dabei 282 »Rose, das ist dieses Wort, hat der erste Gärtner, der am Anfang das Paradies pflanzte, gesät und gepflanzt in den irdischen Leib Marias«. 283 »ausgesprossen und gewachsen ist und ihre Rosenzweige soweit ausgebreitet hat, dass ihr Samen in der ganzen Christenheit grünt«. 284 »dass jeder von uns in seinem Herzen seinen kleinen Garten hat, in den er alle Tage hineingeht und Rosen pflückt und Maria einen kleinen Kranz macht«. 285 »Alle gläubigen Christen werden allesamt durch dieses erste Wort selig, das der Engel Gabriel als eine erste Rose in die Erde des jungfräulichen Leibs Marias pflanzte und säte, so dass wir nun von ihr Worte empfangen und gelernt haben, dass wir Gott und ihr zum Lob das Ave Maria sprechen und die Rosen für einen Kranz für Maria haben, die Gott durch seinen Engel gesandt hat.« 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 155 <?page no="156"?> changieren die geistlichen Blumenkränze, in denen die Gebete der Gläubigen sich manifestieren sollen, zwischen mehrschichtiger Allegorie, ästhetisch präsenter Konkretheit sowie den Modi einer Hinwendung, die sich im Vollzug und Nachvollzug einer Medialisierung des Heils durch sprachliche Stimuli ereignet. Gerade in diesem spannungsreichen Verhältnis liegt womöglich ein Grund für die nachhaltige Wirkung der Trierer Rosenkranzschriften auf die Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. 156 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="157"?> 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe Der nächste entscheidende Schritt in der Entwicklung des Rosenkranzgebets geht auf den Dominikaner Alanus von Rupe (1428 - 1475) zurück, der ab den 1460er Jahren zunächst im flandrischen Douai und später auch andernorts im niederländischen und niederdeutschen Sprachgebiet eine an den in der Trierer Kartause entwickelten Rosenkranz angelehnte Gebetsform bewarb, die er als Marienpsalter bezeichnete. 286 Im Kontext seiner Predigt- und Lehrtätigkeit propagierte Alanus ein Reihengebet aus 150 Ave Maria und 15 Vaterunser, das recht eng der im 16. Jahrhundert kanonisierten Ausprägung des Rosenkranzes entspricht - der Anstoß für die »definition of the prayer in the form in which it is still used today« geht damit auf ihn zurück. 287 Wie folgend ausgeführt betont Alanus ’ Marienpsalter dabei erstens eine äußere Formalisierung, die im Vergleich mit den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen ein Moment der Quantifizierung stärker betont. Gleichzeitig aber ist bei Alanus die beim Beten innerlich zu vollziehende Betrachtungsübung deutlich freier und offener gestaltet als in den Trierer Rosenkranzklauseln. Zweitens basiert die Idee einer illustren und bis in urchristliche Zeit zurückreichenden Vorgeschichte des Rosenkranzgebets, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte und in ihrer zentralen Verbindung zum heiligen Dominikus dieser Gebetsform einen spezifisch dominikanischen Beiklang gab, auf einem Ursprungsnarrativ, das seinen fantasievollen Ausgang bei Alanus nahm. Diese Auratisierung und Autorisierung durch eine erdichtete Tradition sollte dazu beitragen, dass sich der Rosenkranz zunehmend von den vielen im Ursprung vergleichbaren Gebets- und Andachtsübungen seiner Zeit abhob. Drittens beeinflussten Alanus ’ Schriften und Predigten ausschlaggebend die Entstehung von Gebetsbruderschaften, die den Rosenkranz praktizierten und sich in den Folgejahren rasant verbreiteten. 288 Alanus von Rupe regte in diesem Sinne eine bruderschaftliche Vergemeinschaftung des Rosenkranzes an, die aus der in Trier zum individuellen Gebrauch in der Privatfrömmigkeit erdachten Gebetsform ein kollektives Unterfangen werden ließ. 286 Zu Alanus siehe überblickshaft und mit weiteren Angaben Karl J. Klinkhammer: Art. Alanus de Rupe, in: 2 VL 1 (1978), Sp. 102 - 106; 2 VL 11 (2004), Sp. 34. Vgl. auch den alten aber sehr ausführlichen Abschnitt in Jacobus Quetif u. Jacobus Echard: Scriptores ordinis praedicatorum recensiti, Bd. 1, Paris 1719, S. 849 - 852. Letzterer Eintrag illustriert vor allem die Rezeption der Schriften des Alanus von Rupe im frühneuzeitlichen Predigerorden. Denn der Autor wird hier bezeichnet als Virginis per Rosarium cultus præco & promotor indefessus, der apud omnis pietatis ac sanctitatis fama inclaruit (»unermüdlicher Verkündiger und Verbreiter des Kults der Jungfrau durch den Rosenkranz«, »bei allen durch den Ruf der Frömmigkeit und Heiligkeit berühmt wurde«, ebd., S. 849). Siehe zudem die in mehreren Artikeln erschienene Studie von Bertilo de Boer: De Souter van Alanus de Rupe, in: Ons Geestelijk Erf 29 (1955), S. 358 - 388; 30 (1956), S. 156 - 190; 31 (1957), S. 187 - 204; 33 (1959), S. 145 - 193. 287 Erminia Ardissino: Literary and Visual Forms of a Domestic Devotion. The Rosary in Renaissance Italy, in: Domestic Devotions in Early Modern Italy, hg. v. Maya Corry, Marco Faini u. Alessia Meneghin, Leiden 2019, S. 341 - 371, hier S. 343. Schon Schmitz 1903, S. 100, stellt diesbezüglich fest: »Der Rosenkranz des Alanus ist im wesentlichen unser Rosekranz«. 288 Dieser Einfluss wird dargelegt bei Ranacher 2022, S. 120 - 129. <?page no="158"?> Geboren in der Bretagne und theologisch ausgebildet im Pariser Konvent Saint Jacques, engagierte sich Alanus ab ungefähr 1461 in Lille in der dominikanischen Observanzbewegung. Die Folgejahre seines Wirkens sind von der charakteristischen Mobilität der spätmittelalterlichen Predigerbrüder geprägt: »1464 kam er als Lektor nach Douai, schon 1468 nach Gent und 1470 nach Rostock«. 289 Eine Gruppe lateinischsprachiger Werke wird ihm zeitgenössisch zugeschrieben, 290 darunter eine Mirakelsammlung zum Rosenkranz, die, wie die obigen Ausführungen zu Marien Rosenkranz und der Trierer Zwanzig- Exempel-Schrift veranschaulicht haben, als typisches Vehikel zur Propagierung der neuen Gebetweise gelten kann. Viele dieser Texte werden im späten 15. Jahrhundert auch in die deutsche Volkssprache übertragen und durch den Druck verbreitet. So stellt beispielsweise der von Konrad Dinckmut ab 1483 in mehreren Auflagen produzierte Rosenkranzdruck eine Übertragung aus verschiedenen Schriften des Alanus dar. 291 An der Feststellung Meerssemans, eine »kritische Studie über das Leben, die Tätigkeit und die Schriften dieses vielumstrittenen Mannes« stehe noch aus, weshalb bis dahin »allein [ … ] sein im Juni 1475 verfaßter Liber Apologeticus«, der folgend auch im Zentrum meiner Untersuchung steht, als zuverlässig gelten dürfe, hat sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert. 292 Dabei ist insbesondere die Verbreitung des alanischen Marienpsalters und der mit ihm verbundenen Texte im norddeutschen und skandinavischen Raum noch weitgehend unaufgearbeitet. 293 Dies fällt vor allem deshalb schwer ins Gewicht, da, wie die aus dem näherem Umfeld des Autors stammenden Kieler Handschriften ebenso wie die Alanus-Drucke z. B. des Lübecker Druckers Lukas Brandis von 1478 oder des Kartäuserklosters Mariefred von 1498 zeigen, dieser Überlieferungszweig gewissermaßen als Nadelöhr für die breite Wirkung dieser Rosenkranztexte vor allem im Frühdruck fungierte. 294 Diesen Spuren nachzugehen bleibt ein Forschungs- 289 Klinkhammer 1972, S. 87. Zur Biographie des Alanus von Rupe siehe zudem Meersseman 1977, S. 1148 - 1151; sowie Klinkhammer 1978 und Ranacher 2022, S. 120 - 122. 290 Siehe die Liste von Werken bei Thomas Kaeppeli OP: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. 1: A - F, Rom 1970, S. 22 - 25 [Nr. 76 - 90]. Hierbei ist es öfters schwierig, zwischen diesem Autor zugeschriebenen eigenständigen Werken, eventuell späteren Redaktionen und Exzerpten zu unterscheiden. 291 Vgl. Psalter Marie, Ulm: Konrad Dinckmut 1483 (GW M39197). Zu diesem Druck und der darin enthaltenen Mirakelsammlung des Alanus, die bei Kaeppeli 1970 nicht erwähnt wird, siehe ausführlich und mit weiteren Angaben Buschbeck 2023 und Buschbeck 2022b, S. 46 - 48. 292 Meersseman 1960, S. 27. Einen Versuch, ein Schlaglicht zumindest auf die Überlieferung der vielverbreiteten Mirakel des Alanus von Rupe zu werfen, habe ich mit Buschbeck 2023 vorgelegt. 293 Einige Ausführungen zur Alanus-Rezeption in Dänemark, die methodisch zwar antiquiert erscheinen, wichtige Quellen und Anknüpfungspunkte hierzu jedoch benennen, finden sich bei Schmitz 1903, S. 24 - 42 sowie S. 65 - 102. 294 Es handelt sich dabei um die von dem Bordesholmer Chorherrn Johannes Nese ab ca. 1475 über mehrere Jahrzehnte hinweg angefertigten Handschriften Kiel, UB, Cod. ms. Bord. 58, 58A, 58B. In Cod. Ms. Bord. 58A findet sich der Tractatus apologeticus auf fol. 11r - 49v. Diese Überlieferungszeugen, die eine Art Gesamtschau der Alanus zugeschriebenen Texte liefern, müssten einer zukünftigen Edition seiner Werke zugrunde liegen. Sie werden buchgeschichtlich aufgearbeitet in der wertvollen Studie von Kerstin Schnabel: Liber de sanctae Mariae in Bordesholm … Geschichte einer holsteinischen Stiftsbibliothek (Wolfenbütteler Mittealter-Studien 33), Wiesbaden 2018, S. 179 - 188. Mit den in diesen Handschriften überlieferten Texten überschneiden sich die (teils vor- und teils nachgängigen) Drucke Alanus de Rupe: De psalterio Beatae Mariae Virginis, [Lübeck: Lukas Brandis, um 1478] (GW M3918420), sowie Alanus de Rupe: De utilitate Psalterii Mariae, Gripsholm: Kartäuserkloster Mariefred 1498 (GW M39205). Der niederländische Druck Alanus de Rupe: Van die nutticheyt ende edelheit des 158 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="159"?> desiderat, dessen Erfüllung das hier gezeichnete Bild womöglich ergänzen und korrigieren könnte. 295 Unter Alanus ’ Werken besonders hervorzuheben ist der Tractatus apologeticus, eine voluminöse, an den Tournaier Bischof Ferry de Clugny (ca. 1430 - 1483) adressierte Verteidigungsschrift, die Alanus im Jahr 1475 abfasste, also kurz vor seinem Tod. 296 Im Hintergrund dieser Abhandlung steht eine Kontroverse, die Alanus ausgelöst hatte, indem er in seinen Predigten exzessiv und mit teils verblüffender Vorstellungskraft eine die Rosenkranzklauseln erweiternde Gebetsform aus 150 Ave Maria und 15 Vaterunser propagierte, also eine Frömmigkeitspraxis, die, wie weiter unten ausgeführt, im gleichen Jahr in Köln als Gebetsweise der Rosenkranzbruderschaft übernommen wurde. 297 Vor dem Bischof rechtfertigte und erläuterte Alanus also die Form des Betens und der Bruderschaft, die er gepredigt hatte, um sich so gegen Vorwürfe zu verteidigen, der von ihm verbreitete marianische Psalter sei erstens eine mera nouitas. 2. Nec approbata. 3. Et Superstitiosa. 4. Et præsumptuosa. 298 Seine Gegner hatten ihn offenbar unter anderem beschuldigt, er treibe eine Spaltung der Christenheit voran, indem er die Gläubigen dazu verleite, den offiziellen Gottesdienst und die Buße zu vernachlässigen und ihren eigentlichen Gemeinden zugunsten der von den Dominikanern angeleiteten Rosenkranzbruderschaften fernzubleiben. 299 Andererseits fand sich Alanus von Rupe auch in der Verlegenheit, die zahlreichen von ihm verbreiteten Ursprungslegenden zum Marienpsalter zu erklären, die seine Widersacher nicht ohne Grund für Somnia, phantasias, anilesque Vrouwen Souter, Utrecht: t. G., nach 30.05.1480 (GW M39208) überliefert neben einer Übertragung des Tractatus apologeticus auch Alanus ’ Mirakel von der Grafentochter Benedicta (fol. 25r - 31v; zu diesem Text vgl. Buschbeck 2023, S. 70 und S. 78 - 80) sowie - in diesem Kontext sehr aufschlussreich - eine niederländische Fassung der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen (fol. 31v - 32v). Ich danke Falk Eisermann sehr herzlich dafür, dass er mir letzteren Druck digital zugänglich gemacht hat. 295 Die Schließung der Bibliotheken und Archive, die für ein entsprechendes Unterfangen zu konsultieren wären, während der Coronapandemie ab dem Jahr 2020 durchkreuzte meine Pläne zu einer längeren Archivreise auf den Spuren der Alanus-Überlieferung leider. Die Zwischenergebnisse meiner davor erfolgten Nachforschungen habe ich inzwischen in dem Artikel Buschbeck 2023 veröffentlicht. 296 Ein Kernproblem für die Untersuchung dieses Autors, dem zeitgenössisch eine Vielzahl von Werken zugeschrieben wird, liegt in der grundsätzlich schlechten Editionslage seiner Schriften, die bis heute bloß in den durch den Dominikaner und Gegenreformator Johann Andreas Coppenstein veranstalteten Druckausgaben des frühen 17. Jahrhunderts zugänglich sind. Da eine philologisch genaue Sichtung und Edition von Alanus ’ Werk bisher ein Forschungsdesiderat bleiben, dessen Erfüllung mit einem hier nicht leistbaren Aufwand verbunden wäre, muss ich auf Coppensteins Text zurückgreifen. Dies geschieht ausdrücklich unter dem warnenden Vorbehalt, dass es sich dabei nicht um eine zuverlässige kritische Ausgabe im heutigen Sinne handelt. Folgend verwende ich in diesem Sinne die Ausgabe Alanus von Rupe: Apologia B. Alani de Rvpe pro prædicatione sva de Psalterio Christi & Mariæ … , in: B. Alanvs de Rvpe redivivvs de Psalterio sev Rosario Christi ac Mariæ eivsdemque Fraternitate Rosaria, hg. v. Johann Andreas Coppenstein, Köln: Peter Henning 1624, S. 1 - 85. 297 Meersseman 1977, S. 1161 merkt dazu an, der Liber apologeticus lege nahe, dass Alanus seine Thesen zum Marienpsalter schon seit einigen Jahren verbreitet habe und dass auch die Kritik an ihnen keineswegs neu gewesen sei: »Questo scritto allude alle critiche, tutt ’ altro che recenti, di alcuni suoi avversari, donde risulta che Alano aveva propagato le sue idee già parecchi anni.« 1475 jedoch, so Ranacher, habe er sich wohl erstmals bei dem Bischof von Tournai schriftlich erklären müssen, da er »aufgrund verschiedener Äußerungen bei selbigem verklagt worden war« (Ranacher 2022, S. 121). 298 »eine bloße Neuerfindung, zweitens nicht genehmigt, drittens abergläubisch und viertens anmaßend«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 77. 299 Eine Zusammenfassung der geäußerten Vorwürfe findet sich im Kapitel 22 der Verteidigungsschrift, siehe ebd., S. 76 - 80. Vgl. dazu auch zusammenfassend Klinkhammer 1972, S. 87 - 88. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 159 <?page no="160"?> fabulas hielten. 300 Im Zuge dieser Auseinandersetzung verfasste der streitbare Dominikaner ein aus 24 umfangreichen Kapiteln zusammengesetztes, die Grenzen zwischen theologischer Erörterung, Heiligenlegende und Visionsbericht oftmals verwischendes und durchgängig mit Berufungen auf von Alanus erfundene oder gar gefälschte Quellen gespicktes Werk »per giustificare la propria predicazione nella diocesi e nelle regioni limitrofe.« 301 4.1 Feste Form und freie Imagination: Alanus ’ Marienpsalter Zunächst gibt Alanus von Rupe im Tractatus apologeticus Aufschluss über die von ihm beworbene Gebetsweise, die er ausdrücklich als Marienpsalter (psalterium Mariæ) verstanden wissen möchte. Dass alternative Bezeichnungen kursieren, räumt er zwar ein, lehnt Namen wie Rosenkranz (rosarium), Kranz (sertum) oder Krone (corona) jedoch entschieden ab: Vocabula: Corona, Rosarium, Sertum: metaphorica sunt [ … ]: Psalterium vero à psallendis Deo laudibus nomen habens, proprie est oratio. [ … ] Nomina illa vulgaria sunt, sapiuntque sæculi vanitatem: quod sic à sertis puellaribus dicantur: at Psalterium est Ecclesiasticum. Ideoque religiosius ab Ecclesiæ filiis amplectendum est, venerandum, vsurpandum, ac prædicandum. 302 Diese scharfe Abgrenzung zu den beispielsweise der oben behandelten Rosenkranzlegende entspringenden Vorstellungen des betenden Kranzflechtens muss auch als Teil von Alanus ’ Verteidigungsstrategie begriffen werden. Nicht umsonst betont der Liber apologeticus mit hohem Nachdruck, der hier vertretene Marienpsalter bestehe im Kern aus dem Aufsagen von genau 150 Ave Maria: Non cuiusquam id superstitionis est, sed imitationis Ecclesiæ, cuius Psalterium Psalmis totidem constat. 303 Durch die Hervorhebung der Analogie zwischen dem empfohlenen Reihengebet und dem Offizium präsentiert Alanus die Gebetsweise, für deren Verbreitung er angegriffen wurde, als bloße Spielart einer in der Liturgie verwurzelten und dabei über die vorgebrachten Zweifel erhabenen Gebetspraxis. Das als Laiensurrogat für das monastische Stundengebet verbreitete tägliche Reihenbeten einer festen Anzahl an Ave Maria wird so in den Vordergrund gerückt und bereits durch die Bezeichnung › Marienpsalter ‹ als Hauptelement der propagierten Gebetsform gekennzeichnet. Nun hindern derlei begriffliche Abgrenzungen Alanus jedoch keinesfalls daran, auch das Bild des aus Rosen zusammengebundenen geistlichen Blumenkranzes wiederholt 300 »Träumereien, Fantasiegespinste und Ammenmärchen«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 79. 301 Meersseman 1977, S. 1161. 302 »Die Begriffe › Krone ‹ , › Rosenkranz ‹ und › Kranz ‹ sind metaphorisch [ … ]; › Psalter ‹ dagegen hat seinen Namen von dem Lob Gottes, das gesungen werden soll, und meint im eigentlichen Sinn ein Gebet. [ … ] Jene Bezeichnungen sind volkstümlich und haben den Beigeschmack weltlicher Eitelkeit, da sie so auch für die Kränze der Mädchen verwendet werden, › Psalter ‹ dahingegen ist [ein] kirchlich[es Wort]. Und daher soll es von den Kindern der Kirche mit großer Hingabe angenommen, verehrt, gebraucht und gepredigt werden.«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 7 f. 303 »Nichts davon geschieht aus irgendeinem Aberglauben, sondern als Nachahmung der Kirche, deren Psalter aus ebenso vielen Psalmen besteht«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 11. Durch eine Reihe zahlenallegorischer und schriftexegetischer Kapriolen begründet Alanus im Anschluss diese Zahl zusätzlich, siehe ebd., S. 11 - 15. 160 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="161"?> aufzugreifen und zur Veranschaulichung und Bewerbung seiner Gebetsweise zu nutzen. So heißt es bereits im ersten Kapitel des Tractatus apologeticus: Ut sit [hoc Psalterium] velut PARADISVS voluptatis Dei, ROSIS, ac rosaceis sertis CL adornatus. Salutationes enim istæ sunt velut quædam Rosæ angelicæ: vnde quinquagena Virginis Rosarium siue Sertum nuncupatur. 304 Die Idee eines geistliche Dinge hervorbringenden › handwerklichen Betens ‹ , das Blumen und Gebete in Entsprechung treten lässt sowie dem im Gebet innerlich Entworfenen den Status einer geistlichen Konkretheit zuspricht, schwingt also auch hier mit. Zusätzlich zu den 150 Ave Maria schließt Alanus ’ Marienpsalter auch 15 Paternoster ein, so dass auf zehn Mariengrüße je ein Herrengebet folgt. Seine Gebetsweise unterteilt sich so in 15 Abschnitte. Diese Beifügung, die sich in den kartäusischen Rosarien nicht findet, 305 bringt zunächst drei Ave-Fünfziger in eine Gliederung, die weitgehend dem Rosenkranzgebet in der »version that won out and was made official by papal proclamation in 1569« entspricht. 306 Dies ist als Formalisierung zu verstehen. Aus dem recht einfachen und offenen, durch gezählte Ave Maria gegliederten Reihengebet mit beigefügten Betrachtungspunkten, wie es Dominikus von Preußen konzipiert hatte, wird so eine komplexe Form, die verschiedene Standardgebete in fester Abfolge und Zahl umfasst. Zudem aber dienen die 15 Vaterunser der Passionsmeditation in 15 Punkten. Für jeden Gebetsabschnitt nämlich gibt Alanus einen Betrachtungspunkt vor, wobei dem Verlauf der Passionsgeschichte gefolgt wird: 1. C œ na dolorosa. 2. Comprehensio p œ nosa. 3. Collaphisatio probrosa, in Annæ domo. 4. Illusio & condemnatio, in Cayphæ domo, odiosa. 5. Raptatio Christi ad Pilatum clamorosa. 6. Illusio Christi apud Herodem contumeliosa. 7. Flagellatio Christi sanguinolenta. 8. Coronatio spinosa. 9. Irrisio ab militibus blasphemosa. 10. Condemnatio flagitiosa. 11. Baiulatio Crucis ærumnosa. 12. Crucifixio vulnerosa. 13. Elocutio Christi in cruce virtuosa. 14. Mors IESV luctuosa. 15. Sepultura Domini gloriosa. 307 Beim Sprechen des Marienpsalters sollen diese Stationen des Karfreitagsgeschehens vom Betenden fromm durchmeditiert werden, sie sind cum religione contemplanda. 308 Ähnlich den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen ist also auch der Marienpsalter des Alanus von Rupe als Gebets- und Andachtsübung aufgebaut, in der das Erdenwirken 304 »Und [dieser Psalter] sei wie ein Paradies göttlicher Freuden, geziert mit 150 Rosen und aus diesen Rosen gebundenen Kränzen. Diese Grüße [d. h. die gebeteten Ave] sind nämlich wie gewisse Engelsrosen, von denen je 50 ein Rosenkranz oder Kranz der Jungfrau genannt werden«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 4. 305 Klinkhammer 1972, S. 226, spricht von einer im niederländischen Raum »übliche[n] Einfügung je eines Pater-noster nach zehn Ave«, die er jedoch nicht weiter belegt und die ich anhand der mir zugänglichen Quellen auch nicht nachweisen kann. Trotzdem scheint die Annahme naheliegend, Alanus habe sich hier an regional verbreitete Praktiken des zählenden Betens angelehnt. 306 Winston-Allen 1997, S. 25. 307 »1. Das schmerzvolle Abendmahl. 2. Die sträfliche Gefangennahme. 3. Die schändliche Ohrfeige im Haus des Hannas. 4. Die hassenswerte Verspottung und Verurteilung im Haus des Kajaphas. 5. Die lärmende Hinführung Christi zu Pilatus. 6. Die schimpfliche Verspottung Christi bei Herodes. 7. Die blutige Geißelung Christi. 8. Die Dornenkrönung. 9. Die lästerliche Verhöhnung durch die Soldaten. 10. Die niederträchtige Verurteilung. 11. Die mühselige Last des Kreuzes. 12. Die schmerzerfüllte Kreuzigung. 13. Die tugendhaften Kreuzesworte Christi. 14. Der jämmerliche Tod Jesu. 15. Die glorreiche Grablegung des Herrn«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 9 f. 308 »mit Hingabe zu betrachten«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 9. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 161 <?page no="162"?> Christi meditativ vergegenwärtigt werden soll. Im Vergleich mit der vorgängigen Gebetsform jedoch sind die Betrachtungspunkte in ihrer Zahl reduziert und auf die Passion beschränkt, die abzuleistenden Reihengebete dahingegen vervielfacht. Das Reihenbeten dient dennoch auch hier der Hinkehr zu Maria und dem Eintauchen in die Passionsereignisse, die im szenenhaften Aufrufen der Leidensstationen Christi mitleidvoll nachvollzogen werden sollen. Davon, dass Alanus das Trierer Rosenkranzkorpus zumindest in Teilen kannte und »made use of it«, 309 darf ausgegangen werden. 310 Wenn er eine Quelle für seine in Punkte unterteilte Passionsbetrachtung anführt, verweist er jedoch nicht auf den Trierer Kartäuser, sondern beruft sich auf die ungleich höhere Autorität Bernhards von Clairvaux (ca. 1090 - 1153), des »Vater[s] der Passionsliteratur« im Mittelalter: 311 Propter visionem S. Bernardo factam. Qui ex diuina didicit reuelatione: quod, qui in dies singulos, per annum totum, xv. Pater noster dixerit: is numerum Christi passi Vulnerum adæquarit. 312 Zunächst erscheint die Referenz auf Bernhard grundsätzlich schlüssig, gilt dieser Autor doch nicht nur als Begründer einer affektiven, auf das Mitleiden mit Christus abzielenden Passionsfrömmigkeit, 313 sondern auch als Urheber der im Mittelalter gängigen und auch im Rosengertlin-Traktat anklingenden Andacht zu den Wunden Christi. 314 Zudem finden sich bei Bernhard von Clairvaux mehrfach listenartige Aufzählungen der Karfreitagsereignisse für eine Lektüre im Rahmen von Gebet und Betrachtung. Beispielhaft zu nennen sind hier die Meditationspunkte zur Passion in dem vielrezipierten pseudobernhardischen Tractatus de interiori domo 315 sowie Bernhards Hoheliedpredigt 43, 316 die als Ausgangspunkt für die im Spätmittelalter florierenden, passionsfokussierten Myrrhenbüschel-Andachten diente. 317 Das tägliche Beten von 15 Vaterunser zu den 5.490 Wunden Christi, deren Zahl zumindest in Schaltjahren somit entsprochen werden kann, stammt jedoch nicht von Bernhard von Clairvaux, sondern basiert auf einer sich ab dem späten 13. Jahrhundert herauskristallisierenden Tradition der Wundenbetrachtung im Reihengebet: »Die Über- 309 Winston-Allen 1997, S. 72. 310 Zu dieser Kenntnis siehe ausführlicher unten, Kap. II.4.2. 311 Kurt Ruh: Zur Theologie des mittelalterlichen Passionstraktats, in: Theologische Zeitschrift 6.1 (1950), S. 17 - 39, hier S. 18. 312 »Infolge einer dem hl. Bernhard gewährten Vision sprach dieser aus göttlicher Offenbarung heraus, dass, wenn jemand durch das ganze Jahr hindurch jeden Tag 15 Vaterunser spreche, er dadurch die Zahl der Wunden des gekreuzigten Christus erreiche.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 9. 313 Vgl. dazu z. B. den Überblick bei Katharina Mertens Fleury: Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mitleidens im Parzival Wolframs von Eschenbach, Berlin 2006 (Scrinium Friburgense 21), S. 20 - 25. 314 »Bernhard v[on] Clairvaux empfiehlt die Meditation der Wunden Christi (Sermones in cantica canticorum 62,7), eine Form affektiver Passionsfrömmigkeit [ … ], die für die zisterziens[ische] Spir[itualität] charakteristisch bleibt«, Eva-Maria Faber: Art. Wundmale Christi. II. Historischtheologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10 (2001), Sp. 1321. 315 Vgl. Ps.-Bernhard von Clairvaux: Tractatus de interiori domo seu de conscientia aedificanda, in: Patrologia Latina 184 (1862), Sp. 508 - 552, hier Sp. 530 f. 316 Vgl. Bernard of Clairvaux: On the Song of Songs II, übers. v. Kilian Walsh OCSO, Kalamazoo, MI 1976 (Cistercian Father Series 7), S. 222. 317 Vgl. dazu die genauen Untersuchungen bei Fasching 2020, insb. S. 16 - 19; sowie Dietrich Schmidtke: Art. Myrrhenbüschel-(Fasciculus-myrrhae-)Texte, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 832 - 839. 162 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="163"?> lieferungsgeschichte dieser Gebete ist noch nicht geschrieben, doch dürfte ihre Tradition auf Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta zurückgehen.« 318 Was dahingegen die Vision betrifft, die Alanus Bernhard von Clairvaux zuschreibt, so ist sie inhaltsgetreu der Vita Christi des Ludolf von Sachsen (ca. 1300 - 1377/ 1378) übernommen. Dort wird von einer Rekluse berichtet, der Christus offenbart: Quinqe millia quadringenta nonaginta vulnera mei corporis exstiterunt; quae si venerari volueris, orationem Dominicam cum salutatione Angelica quindecies quotidie in memoria Passionis meae replicabis, sicque anno revoluto unumquodque vulnus venerabiliter salutabis. 319 Derartig verwirrende Quellenbezüge sind charakteristisch für den Tractatus apologeticus. Oftmals adaptiert Alanus z. B. legendarische Versatzstücke, Visionsberichte oder gebetsanleitende Instruktionen aus einem kaum zu überblickenden Korpus geistlicher Schriften seiner Zeit, um sie dann durch Zuschreibung an illustre Heilige oder theologische Autoritäten mit intensiviertem Gültigkeitsanspruch aufzuladen. An dieser Stelle übernimmt er eine als Wundenandacht verbreitete Praxis des täglichen Betens von 15 Vaterunser, schreibt ihre Entstehung einer angeblichen Vision Bernhards von Clairvaux zu, die allerdings mit veränderter Zuschreibung aus Ludolfs Vita Christi herausadaptiert wurde, fügt sie in seinen Marienpsalter ein und verbindet dieses tägliche Reihengebet schließlich mit Betrachtungspunkten zum Karfreitagsgeschehen. In letzterem Punkt wiederum folgt er einer Verbindung von zählendem Kranzgebet und Passionsmeditation, die auf die Rosenkranzschriften des Dominikus von Preußen zurückgeht. Für Alanus ’ 15 Betrachtungspunkte könnten zudem noch weitere Texte Pate gestanden haben. Direkt im Anschluss an die dem Betenden anempfohlenen 15 Meditationsgegenstände erwähnt der Autor, dass, sicut Dominus IESUS aliquoties reuelauit S. Bernardino, & S. Brigittæ, 320 jeder dieser Punkte von unermesslichem Wert sei. Während die Referenz auf Bernhardin von Siena (1380 - 1444) sich an dieser Stelle nicht recht erschließt, 321 scheint der Rekurs auf Birgitta von Schweden (1303 - 1373) etwas klarer motiviert. Denn der Gründerin des Erlöserordens wurde im 15. Jahrhundert ein allgemein unter dem Titel Fifteen Oes bekannter, auf Latein ebenso wie in zahlreichen Volkssprachen breit überlieferter Gebetszyklus zugeschrieben. 322 Ein Vergleich dieses Textes mit Alanus ’ Betrachtungspunkten zeigt eine zumindest strukturelle Ähnlichkeit in der Aufteilung des Karfreitagsgeschehens in 15 Einzelszenen, wobei sich die beiden auf innere Vergegenwärtigung des 318 Angenendt u. a. 1995, S. 45. 319 »5.490 Wunden fanden sich an meinem Körper; wenn du sie verehren willst, dann [wirst du] täglich 15mal das Herrengebet mit dem englischen Gruß in der Erinnerung an mein Leiden [wiederholen]; wenn das Jahr um ist, wirst du eine jede Wunde ehrwürdig gegrüßt haben«, Ludolphus de Saxonia: Vita Jesu Christi, Bd. 4, hg. v. L.-M. Rigollot, Paris/ Rom 1870, S. 458; Übersetzung nach Angenendt u. a. 1995, S. 45. 320 »wie der Herr Jesus mehrfach dem hl. Bernardin und der hl. Birgitta offenbarte«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 10. 321 Die hier referierte These von der unvergleichlichen Wirksamkeit der Passionsmeditation scheint zu allgemein, um sie auf eine bestimmte Schrift dieses Franziskaners zurückzuführen. 322 Ediert bei Claes Gejrot: The Fifteen Oes: Latin and Vernacular Versions. With an Edition of the Latin Text, in: The Translation of the Works of St. Birgitta of Sweden into the Medieval European Vernacular, hg. v. Bridget Morris u. Veronica M. O ’ Mara, Turnhout 2000 (The Medieval Translator 7), S. 213 - 238. Für die deutschsprachige Fassung vgl. ausführlicher Ulrich Montag: Das Werk der heiligen Birgitta von Schweden in oberdeutscher Überlieferung, München 1968 (MTU 18), S. 25 - 33. Zur Verbindung dieses Gebetszyklus mit der Birgitta offenbarten Zahl der Wunden Christi vgl. ebd., S. 26. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 163 <?page no="164"?> Leidens und Sterbens Christi hin angelegten Übungen in der Hervorhebung einzelner Passionsstationen allerdings unterscheiden. Trotzdem kann der namentliche Verweis auf Birgitta hier als Zeichen der Anlehnung an ihre in Alanus ’ niederländischem Wirkungsraum unter dem Titel 15 Pater noster op het lijden des Heeren stark verbreitete Schrift gelesen werden. 323 Daneben finden sich in der zeitgenössischen Gebetbuchliteratur weitere Anleitungen zum Beten von 15 Vaterunser, die je mit einzelnen Meditationspunkten zur Passion Christi verbunden werden. Exemplarisch angeführt sei hier die Gebetsunterweisung für 15 Pater noster zum Leiden Christi, die für das 14. Jahrhundert in einer Reihe früher deutschsprachiger Gebetbuchhandschriften nachweisbar ist. 324 Im Engelberger Gebetbuchs beginnt der Text: Das erst pater noster spriche und erman mich der entordenunge aller miner gelider, wie ich an das krúz geslagen wart. Das ander pater noster sprich den stunzen nageln, da mit mir hend und fu ᵉ sse durchboret wurden. Daz iii pater noster sprich der zerdennunge aller miner gelider an dem krúze. 325 Die Gebetsübung, die in vergleichbarem Duktus fortfährt, folgt wie auch Heinrich Seuses Hundert Betrachtungen oder die Rosenkranzklauseln dem Prinzip der in Punkte gegliederten Passionsbetrachtung. Ob Alanus einen dieser Texte als direkte Vorlage für die Betrachtungen zu den 15 Vaterunser im Marienpsalter nutzte, ist kaum zu eruieren. Vermutlich aber dürfte der Autor des Tractatus apologeticus zumindest aus der Masse an entsprechenden Übungen geschöpft haben, die in der zeitgenössischen Gebetbuchliteratur zirkulierten. Inwiefern Alanus ’ Marienpsalter daher tatsächlich, wie es in der Forschung mitunter geschieht, als »completely new form of prayer, never found before« bezeichnet werden kann, 326 ist fraglich. Denn »im Rosenkranz wurden«, wie die oben aufgeführten Beispiele illustrieren und Thomas Lentes hervorhebt, »die unterschiedlichsten schon Jahrhunderte zuvor praktizierten Formen von Reihengebeten gebündelt und normiert«. 327 Daher ist 323 Vgl. D. A. Stracke: De origineele tekst der XV Pater noster op het lijden des Heeren en diens latere lotgevallen, in: Ons Geestelijk Erf 17 (1943), S. 71 - 140. 324 Vgl. Ochsenbein 1988, S. 396. Es handelt sich hier vor allem um die Handschriften Engelberg, Stiftsbibl., cod. 155, fol. 204r - 206v [Engelberger Gebetbuch]; München, BSB, Cgm 73, fol. 12r - 13r; München, BSB, Cgm 139, fol. 5r - 10v; Heidelberg, UB, Cpg 350, fol. 64r; Freiburg, UB, cod. 30, fol. 188r - 191v. Der Text wurde abgedruckt nach der wohl ältesten, um 1300 datierenden Handschrift Trier, Stadtbibl., cod. 1149/ 451, fol. 233r - 234v bei Wolfgang Jungandreas: Ein moselfränkisches Zisterzienserinnengebetbuch im Trierer Raum um 1300, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 9 (1957), S. 195 - 213, hier S. 211 f. Ein weiterer Abdruck nach der etwas klareren, auf den Anfang des 14. Jahrhunderts zu datierenden Handschrift Breslau, UB, I. Q. 234, fol. 156r/ v, findet sich bei Joseph Klapper: Miszellen. Mitteldeutsche Texte aus Breslauer Handschriften, in: ZfdPh 47 (1918), S. 83 - 98, hier S. 87 f. Zu der bei Ochsenbein 1988, S. 396, angekündigten Studie zu diesem Text und seiner Überlieferung kam der Autor nicht mehr. 325 »Sprich das erste Vaterunser und mahne mich der Verrenkung aller meiner Glieder, als ich an das Kreuz geschlagen wurde. Das nächste Vaterunser sprich für die stumpfen Nägel, mit denen mir Hände und Füße durchbohrt wurden. Das dritte Vaterunser sprich der Zerdehnung aller meiner Glieder an dem Kreuz«, Engelberg, Stiftsbibl., cod. 155, fol. 205r/ v. Interpunktion von mir zur besseren Lesbarkeit zugefügt. 326 Boguslaw Kochaniewicz: The Contribution of the Dominicans to the Development of the Rosary, in: Angelicum 81.2 (2004), S. 377 - 403, hier S. 391. 327 Lentes 1996, S. 45. 164 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="165"?> wohl besser von einem Verfahren der kombinatorischen Abfassung zu sprechen, in dessen Rahmen Alanus seinen Ausgangsmodellen, also dem ans monastische Stundengebet angelehnten Marienpsalter und dem in Trier entwickelten Leben-Jesu-Rosenkranz, weitere Elemente und Motive beifügte, die er mehr oder minder frei aus anderen geistlichen Übungen und verwandten Texten des ausgehenden Mittelalters adaptierte. Trotz der Strenge der äußeren Form, die in Zahl und Abfolge der verlangten Standardgebete fixiert ist, geht Alanus mit den meditativen Betrachtungen, die er im Tractatus apologeticus vorschlägt, verhältnisweise frei um. Deutlich zeigt sich dies an den diversen Imaginationsübungen zu den 150 Ave Maria, die er anbietet. Denn während bei den 15 Paternoster die Passion innerlich vergegenwärtigt werden soll, werden für das übrige Gebet des Marienpsalters insgesamt fünf Möglichkeiten des Eintauchens in verschiedene Heilsgegenstände vorgezeichnet, aus denen derjenige, der diese Gebetsform praktiziert, auswählen könne. 328 Beim Vollzug des Marienpsalters soll der Betende dementsprechend zwischen der Passion und einer weiteren, individualisierbareren Betrachtungsebene hin- und herwechseln. Das erste der fünf bei Alanus angeführten Meditationsskripte entspricht wesentlich einer erweiterten Form des Leben-Jesu-Rosenkranzes, wie er durch Dominikus von Preußen etabliert wurde: Während der ersten 50 Ave Maria soll die Menschwerdung Christi betrachtet werden, danach folgt im zweiten Drittel des Gebets seine menschheitserlösende Passion. Das letzte Drittel dann ist der Meditation der Auferstehung und himmlischen Herrschaft Christi gewidmet. 329 Die vierte und fünfte Andachtsvariante bestehen aus Fürbitten, bei denen die einzelnen Ave Maria bestimmten Personen, Berufsgruppen oder Ständen gewidmet sind, indessen der dritte Modus zur Besinnung auf den christlichen Tugendkatalog anleitet. 330 Eine komplexe Neuerung stellt Alanus ’ zweite Betrachtungsweise dar, die das Reihengebet in drei Fünfzigergruppen teilt, die je mit einer innerlichen Ausrichtung auf Maria, Christus und die Heiligen verbunden sind. Dabei entspricht der erste Teil einer Andacht zu den Gliedern Marias, wie sie zeitgenössisch in verschiedenen Formen gängig war: 331 Et sic Prima offeratur per salutatos B. Mariæ sensus, aut membra quinque honori IESV Christi. Vt per oculos Mariæ, quæ IESVM viderunt, labia quæ osculata sunt IESVM, &c. 332 328 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Klinkhammer 1972, S. 91 - 93. 329 Vgl. Alanus von Rupe: Apologia, S. 39. Siehe dazu auch Heinz 2001, S. 38. Interessanterweise ist in der Handschrift Kiel, UB, Cod. MS. Bord. 58A, fol. 28v, die erste Andachtsübung weggelassen. Stattdessen findet sich dort die zweite Gebetsweise an erster Stelle. Statt der Leben-Jesu-Meditation enthält die Handschrift an dritter Stelle eine kurze Betrachtung der Sünden, die Coppensteins Ausgabe nicht kennt. 330 Vgl. Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 331 In diese Kategorie gehören beispielsweise die bei Lentes 1996, S. 907, aufgeführten und in Auszügen abgedruckten 24 Ave zu den Gliedern Mariens sowie das im Druck oftmals mit Bertholdus ’ Zeitglöcklein überlieferte Lob der Glieder Mariä; vgl. Bertholdus: Zeitglöcklein des Lebens und Leidens Christi; Ps.- Birgitta: 15 Gebete; Lob der Glieder Mariä, Basel: Johann Amerbach 1492 (GW 4167), fol. 214r - 224v. Letzterer Text ist auch in Gebetbüchern des ausgehenden Mittelalters breit überliefert, z. B. in Dessau, Landesbücherei, HS. Georg 70.8°, fol. 178r - 186r, und Freiburg, UB, HS 1500,30, fol. 172r - 180r. Die bei Alanus vorgeschlagene Betrachtung ist diesen Texten eng vergleichbar. 332 »Und so wird die erste [Fünfzigergruppe] zur Ehre Jesu Christi den fünf dadurch gegrüßten Sinnen oder Körperteilen der hl. Maria dargebracht, so den Augen Marias, die Jesus sahen, den Lippen, die Jesus küssten, usw.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 165 <?page no="166"?> Diese Gebetsübung zielt ausdrücklich auf die Stimulation visueller Eindrücke. Denn der Text empfiehlt, die Fünfzigergruppe entweder vor einem Marienbild zu sprechen oder sich die heilige Jungfrau dabei bildhaft vorzustellen: Quo seruit, imaginem Deiparæ obiecisse oculis mentis, aut corporis. 333 Dies kann als zeittypische Form des Gebrauchs religiöser Bilder gelten, die im 15. Jahrhundert noch nicht unter dem Verdacht der Idolatrie stand: »Spätmittelalterliche Gebetbücher etwa benennen das Bild selbstverständlich als vornehmlichen Gebetsort und behandeln es geradezu als Sakrament der Frommen.« 334 Alanus ’ Marienpsalter regt so die Herstellung eines sinnlichen Gegenwartseindrucks an, für den der Gebrauch innerer und äußerer Bilder als »stimulus of devotion« keinen Widerspruch zur eigentlichen und absoluten Bildlosigkeit dessen bildet, auf das religiöse Praktiken der Innerlichkeit letztlich abzielen. 335 Auch die zweite Fünfzigergruppe stimuliert eine imaginative Verbildlichung, die als Prozess der Immersion in ein vom Text vorgegebenes Skript der inneren Wahrnehmung gelten darf. Nun ist es allerdings nicht mehr der Körper Marias, sondern Christus als Schmerzensmann, der vergegenwärtigt werden soll: Secunda: Ad quina Christi Vulnera singula singulas in orbem, vel ad membra omnia, Salutationem Ang[elicam] dicere: Quo confert, iconem Christi intueri. Neque necesse est sensum cogitare verborum, sed Vulnerum dolorem, meritum, &c. deuote meditari. 336 Das Aufsagen der Ave Maria, deren Wortlaut hier in den Hintergrund tritt, dient nun der Evokation und Schau eines sich vor dem inneren Auge des Betenden zusammenfügenden Erbermdebilds. 337 Dazu werden die Wunden und Körperglieder des Gekreuzigten einzeln aufgerufen und mit Gebetsformeln bedacht. 338 Die Passionsgeschichte überführt sich somit durch die schriftlichen Betrachtungspunkte in ein schmerzhaftes Wahrnehmungsereignis. Der gemarterte Christus tritt, ebenso wie zuvor Maria, ins innere Sichtfeld der Betenden. Er stimuliert gleichsam Affekt und Erkennen, verkörpert also das Leiden der Passion ebenso wie seine Erlösungswirkung. Dergestalt zielt die Betrachtungsanweisung auf die »Intensivierung dieser Vergegenwärtigung des leidenden Christus und damit auf die Intensivierung des - heilswirksamen - Mitleidens des Betenden«. 339 In dieser Spielart 333 »Dazu ist es dienlich, sich ein Bild der Gottesgebärerin vor die Augen des Geistes oder des Körpers zu halten.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 334 Lentes 1999, hier S. 46. Siehe zu diesem Themenkomplex zudem auch etwas zu generalisierend Peter Dinzelbacher: Religiöses Erleben vor bildender Kunst in autobiographischen und biographischen Zeugnissen des Hoch- und Spätmittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner unter Mitarbeit v. Marc Müntz, München 2002, S. 299 - 330; sowie Elisabeth Vavra: Bildmotiv und Frauenmystik. Funktion und Rezeption, in: Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 22. - 25. Februar 1984 in Weingarten, hg. v. Peter Dinzelbacher u. Dieter R. Bauer, Ostfildern 1985, S. 201 - 230. 335 Hamburger 1998, S. 112. 336 »Zweitens: Zu den einzelnen fünf Wunden Christi jeweils einzelne [Ave Maria] in einen Kreis oder zu allen [seinen] Gliedern den Englischen Gruß sprechen. Dazu ist es hilfreich, ein Bild Christi anzusehen. Und es ist dabei weniger notwendig, über den Sinn der Worte nachzudenken, als den Schmerz der Wunden, ihre Bedeutung usw. mit Hingabe zu betrachten.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 337 Ein Verständnis zählenden Betens im Mittelalter als Technik der Öffnung eines inneren Vorstellungs- und Erfahrungsraums, wie Largier 2008 es skizziert, spiegelt sich somit auch in Alanus ’ Betrachtungsübung wider. 338 Zu dieser Tradition der Christusdarstellung vgl. Dinzelbacher 2004. 339 Thali 2009, S. 266. 166 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="167"?> kommt der Marienpsalter einem Skript zur inneren compassio gleich, das heißt zum vergegenwärtigenden Mitleiden und Nachempfinden der Passion. Ähnlich ist auch die Anweisung für die abschließenden 50 Ave Maria gestaltet. Diese sollen den persönlichen Lieblingsheiligen des Betenden gewidmet werden. Hierbei wird innerlich ein imaginierter Kirchenraum abgeschritten, in dem diesen Heiligen Altäre gewidmet sind. Dadurch werden sie, fast wie in der »Bildtotale« des später verbreiteten Himmlischen Rosenkranzes, als Gesamtheit gegenwärtig: 340 Huc conducitur per altaria Templi obire animo singula, ibique sibi imaginari Angelos, Patriarchas, Prophetas, Apostolos, Martyres, Confessores, Virgines, Viduas, Coniuges sanctos, &c., perque horum honorem ac merita Christo Deo litare preces coronarias. 341 Auf die Betrachtung Marias und ihres gekreuzigten Sohnes folgt also die meditative Hinwendung zur Gemeinschaft der Heiligen und himmlischen Heerscharen. Diese geschieht nun jedoch nicht in einer direkten Visualisierung des schönen oder gemarterten Körpers eines als anwesend erscheinenden und dennoch transzendenten Gegenübers. Vielmehr ereignet sie sich indirekt über die räumliche Immersion in einen Kirchenraum, den der Betende innerlich wahrnehmend durchschreitet und dabei von Altar zu Altar geht. In einem weiteren Vermittlungsschritt werden dabei dieser im Geiste aufgerufene Sakralort und der überweltliche Raum des von Engeln und Heiligen bevölkerten Himmel enggeführt. Denn in der eintauchenden Bewegung durch den vorgestellten Kirchenbau sollen die Betenden sich nicht nur diesen Ort, sondern auch die himmlische Gesellschaft bildhaft vorstellen (sibi imaginari). In ihrer Struktur und im Verfahren der mentalen Verschmelzung und gegenseitigen Überblendung verschiedener heilsmäßiger Räume ähnelt diese Betrachtungsübung beispielsweise der bei Heinrich Seuse beschriebenen Kreuzgangsmeditation, in der Klosterarchitektur und Passionsweg überlagert werden, 342 oder dem imaginativen Besuch der Grabeskirche beim Abschreiten der Nürnberger Sebalduskirche, zu dem der Patrizier und Heilig-Land-Pilger Hans Tucher (1428 - 1491) anleitet. 343 Grundsätzlich konstruiert diese komplexe Betrachtungsübung beim Beten des Marienpsalters also eine je unterschiedlich hergestellte Anwesenheit des Heiligen in der Wahrnehmung des betenden Menschen. Durch intensives, von den Meditationsanweisungen des Tractatus apologeticus und der apostrophischen Form der Mariengrüße vorgebildetes Vorstellen, das ästhetische ebenso wie affektive Effekte zeitigt, rücken Maria, Christus, die Engel und die Heiligen in ansprechbare Nähe. Umgekehrt jedoch kommt dies auch einem Hineinversetzen in eine gezielt evozierte Bild- und Figurenwelt gleich. Die 340 Vgl. Lentes 2003. 341 »Hierzu ist es nützlich, im Geiste die einzelnen Altäre einer Kirche zu besuchen und sich dort die Engel, Propheten, Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen, Witwen, heiligen Eheleute usw. vorzustellen und durch ihre Ehren und Verdienste dem göttlichen Christus kostbare Kronen darzubringen«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 342 Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 34 - 37. Vgl. dazu Christian Kiening: Mediating the Passion in Time and Space, in: Temporality and Mediality in Late Medieval and Early Modern Culture, hg. v. Christian Kiening u. Martina Stercken, Turnhout 2018 (Cursor mundi 32), S. 115 - 146, insb. S. 119 - 121. 343 Zu dieser Episode bei Hans Tucher vgl. Mareike Elisa Reisch: Transporting the Holy City: Hans Tucher ’ s Letter from Jerusalem as Medium and Material Object, in: Things and Thingness in European Literature and Visual Art, 700 - 1600, hg. v. Jutta Eming u. Kathryn Starkey, Berlin/ Boston 2022 (Sense, Matter, and Medium 7), S. 45 - 63. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 167 <?page no="168"?> Kombination von zählendem Beten und der Intensität visuellen und räumlichen Vorstellens stimuliert so einen Prozess der horizontalen Immersion in eine innere Wahrnehmungswirklichkeit der Gegenwart des Sakralen, zu dem mittels der Gebetsformeln auch eine vertikale Kommunikationsnähe hergestellt wird. Zugleich wird hierbei auch wieder das Bild des Fertigens geistlicher Kränze oder Kronen aufgerufen. Diese sollen, ähnlich wie in Dominikus ’ Rosengertlin-Traktat der Rosenkranz für Maria aus den im inneren Garten der Betenden wachsenden Blumen Christi und seiner Mutter zusammengebunden wird, schlussendlich aus den betrachteten Heilsgegenständen und Verdiensten der Heiligen (perque eorum honorem ac merita) geflochten und als gabenhafte Figurationen dieser Frömmigkeitsübung an Christus überreicht werden. Alanus ’ Marienpsalter verknüpft also exakte Quantifizierung des Betens mit frei ausgestaltbaren Angeboten der andächtigen Versenkung und meditativen Introspektive, die zudem wieder an Ideen des › handwerklichen Betens ‹ anschließen. Diese Verbindung ist nicht reibungslos. Sie sollte in den Folgejahrzehnten eine hohe Spannbreite in der Rezeption des Rosenkranzgebets hervorrufen. Denn wie Thomas Lentes skizziert, verstanden Teile des zeitgenössischen Lesepublikums von Texten wie dem Tractatus apologeticus den Rosenkranz offenbar »als höchst verdienstliches Gebet und notifizierten entsprechend zählend ihre Leistungen,« andere dagegen »nutzten ihn als meditatives Reihengebet, um sich in die Heilsgeheimnisse zu vertiefen«. 344 Dabei schlossen diese beiden Ausprägungen sich keineswegs gegenseitig aus. Vielmehr lagen Kombinationen und Verschmelzungen heilsökonomischen Zählens mit einer kontemplativen Praxis jenseits des Zählbaren seit den Klauseln des Dominikus von Preußen geradezu an der Wurzel des Rosenkranzbetens. In jedem Fall postulierte Alanus für die von ihm beworbene Frömmigkeitsübung eine enorme Heilswirkung. Im Rahmen einer Art Glossenauslegung dieser Gebetsformel, wie sie sich mit anderer inhaltlicher Stoßrichtung auch im Rosengertlin findet, verspricht der Tractatus apologeticus für jedes der 15 Worte des Ave Maria besondere Gnadenfrüchte, die von Erleuchtung des Geistes bis zur Sündenabsolution, von Barmherzigkeit über den › ascensus mentis in Deum ‹ bis hin zur Erlösung reichen und demjenigen, der den Marienpsalter regelmäßig praktiziert, allesamt zuteilwerden sollen. 345 Zudem beruft Alanus sich auf einen wohl von ihm selbst gefälschten päpstlichen Ablass von 60.000 Jahren für das Beten des Marienpsalters, den selbst seine späteren Nachahmer in der Kölner Rosenkranzbruderschaft für »too questionable to be endorsed« hielten. 346 Derartig eminente Behauptungen einer gnadenbringenden Wirkmächtigkeit des Marienpsalters verlangten wohl auch für Alanus ’ Zeitgenossen nach Erklärung, Begründung und Lizenz. Folgend sollen dementsprechend die Autorisierungsnarrative in den Blick rücken, die der 344 Lentes 1996, S. 45 f. 345 Vgl. Alanus von Rupe: Apologia, S. 37 - 39. Im Einzelnen werden versprochen: 1. Ave: Befreiung von Sünden; 2. Maria: Erleuchtung des Geistes; 3. Gratia: Verdienst der Gnade Christi; 4. Plena: Fülle himmlischer Güter; 5. Dominus: Sieg über feindliche Anfechtungen; 6. Tecum: Aufschwung des Geistes zu Gott; 7. Benedicta: Segnung mit geistlichen Gaben; 8. Tu: Schau der Würde Marias; 9. In mulieribus: Barmherzigkeit; 10. Et Benedictus: Segnung der eigenen Gebete; 11. Fructus: Sieben Gaben des Heiligen Geistes; 12. Ventris: Keuschheit; 13. Tui: Fähigkeit, gut zu Maria zu beten; 14. Jesus: Erlösung; 15. Christus: Hingabe an die Sakramente und die Heilige Schrift. Zum Rosengertlin sowie vergleichbaren Glossentexten zum Ave Maria vgl. oben, Kap. II.3.4. 346 Winston-Allen 1997, S. 122; vgl. auch ausführlicher Thurston 1902, S. 296 - 299. 168 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="169"?> Tractatus apologeticus für die von ihm propagierte Gebetsübung konstruiert und so in die weitere Geschichte des Rosenkranzes einspeist. 4.2 Traditionskonstruktion und Visionsberichte im Tractatus apologeticus Ungewöhnlich ist, dass Alanus die Erzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen, die für die Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause eine so zentrale Rolle spielt und auch in der weiteren Geschichte des Rosenkranzgebets im 15. Jahrhundert vielfach präsent bleibt, nicht als Ursprungserzählung anführt. Möglicherweise hängt dies mit seinem Bestreben zusammen, den Marienpsalter enger an die Tradition des Stundengebets als an derartige Marienmirakel zu binden. Trotzdem aber finden sich im Tractatus apologeticus vielfach exempelhafte Wundererzählungen und Visionsberichte, die der Autor als Belege für die Wirkung des Marienpsalters anführt. Diese hätten sich zumeist kürzlich begeben und seien ihm zugetragen worden. Ein Beispiel liefert die folgende kurze Erzählung: Vidi quoque virginem quandam, quæ post Dominicam Communionem diuino contuitu vidit Almam Matrem Virginem corona triplicata Quinquagenæ coronatam: in quarum hac Rosæ L. ista Lilia totidem, in tertia gemmæ item quinquaqinta cernere videbatur. Nec dubito Virginem hanc veram vidisse: eo, quod Deiparæ tales à Fidelibus essent oblatæ Coronariæ Quinquagenæ. 347 In ihrem Motiv einer visionshaften Schau dargebrachter Mariengrüße in Gestalt von Blumen und Edelsteinen, mit denen Maria gekrönt oder bekränzt wird, erinnert diese Episode frappierend an Mirakel wie Marien Rosenkranz. Gleichzeitig bestehen Parallelen zu jener Vision, die Dominikus von Preußen in seinem Liber experientiae Adolf von Essen zuschreibt, der in den Himmel entrückt worden sei und dort die von den Gläubigen hergestellten Blumenkronen gesehen habe. 348 Es scheint, als greife Alanus hier bekannte narrative Versatzstücke auf, um sie in abgewandelter Form zur Bekräftigung seines Anliegens ins Feld zu führen. Dabei besitzt die geschilderte Vision, deren Empfängerin Alanus persönlich zu kennen vorgibt, handlungsleitende Implikationen. Die Marienerscheinung zeige nämlich, dass auch Alanus ’ Publikum der Gottesmutter derartige Gebetskronen fertigen solle. Diese frömmigkeitspraktische Schlussfolgerung gleicht der begründenden und affirmierenden Bezugnahme auf Mirakelerzählungen und Exempla, die sich prominent in den Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause beobachten lässt. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass Alanus mit diesen Texten vertraut war. So bezieht er sich an einer Stelle sogar direkt kritisch auf Dominikus von Preußen: 349 347 »Ich sah auch eine gewisse junge Frau, die nach der sonntäglichen Kommunion in heiliger Schau die gütige Mutter und Jungfrau erblickte, die mit einer dreifachen Fünfzigerkrone gekrönt war: auf einer davon waren 50 Rosen, auf der anderen ebenso viele Lilien und auf der dritten gleichfalls 50 Edelsteine zu erkennen. Ich zweifle nicht daran, dass die junge Frau dies wirklich gesehen hat: Deshalb sollen der Gottesgebärerin von Gläubigen auf diese Weise Fünfzigerkronen dargebracht werden.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 15. 348 Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 378 f. 349 Vgl. dazu bereits Esser 1904, S. 284. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 169 <?page no="170"?> abhinc annis LXX vel LXXX per quendam, mihi bene notatum, ex deuotione ipsius singulari, diuinum hoc Psalterium fuit detruncatum, & ad solam Qinquagenam redactum. 350 Diese wohlbekannte Person, mit der der Trierer Kartäuser gemeint sein dürfte, habe den altehrwürdigen Marienpsalter aus 150 Englischen Grüßen bloß deshalb auf lediglich 50 Gebete reduziert, um die Gläubigen durch diese Vereinfachung behutsam wieder an eine zwischenzeitlich vergessene Gebetsform heranzuleiten. 351 Alanus ’ Absicht nun sei es, sie in ihre ursprüngliche Gestalt zurückzuführen und ihre Entstehungsgeschichte offenzulegen. Dominikus von Preußen wird hier also nicht als Urheber des Rosenkranzes, sondern eher als Alanus ’ etwas verfehlter Vorgänger in einem übergreifenden Projekt der restaurativen Wiedereinführung einer Gebetsübung dargestellt, deren Geschichte deutlich älter und illustrer sei. Ob die Formulierung mihi bene notatum dabei auf eine persönliche Bekanntschaft oder bloß auf Vertrautheit mit Dominikus ’ Werken weist, geht aus dem Tractatus apologeticus nicht hervor. 352 Angesichts der sich überschneidenden Lebensdaten und Wirkungsräume der beiden Rosenkranzautoren scheint beides möglich. Obzwar sein Werk »ganz auf den Schultern des Dominicus Prutenus« steht, unterlässt Alanus eine einfache Übernahme der Rosenkranzklauseln. Vielmehr erweitert und öffnet er diese Gebets- und Andachtsübung beträchtlich, wobei er sie zudem mittels einer imposanten Ursprungsgeschichte narrativ auratisiert. 353 Ein Blick auf diese Meistererzählung von der Entstehung des Marienpsalters macht zumindest nachvollziehbar, weshalb die ältere Forschung Alanus wiederholt eine »pathologische Persönlichkeit« attestierte 354 oder schockiert anmerkte, »that his extravagances as a theologian were technically › scandalous ‹ «. 355 Bereits der Apostel Bartholomäus nämlich, so führt der Tractatus aus, habe eine Vorform des Marienpsalters praktiziert. Benedikt von Nursia habe diese Gebetsweise ebenfalls gepflegt und Beda Venerabilis sie gepredigt. Auch Bernhard von Clairvaux sei ein eifriger Anhänger gewesen. Vor allen anderen jedoch sei es der Gründer von Alanus ’ eigenem Orden, der heilige Dominikus selbst gewesen, der für die Verbreitung des Marienpsalter gesorgt und dazu eine erste weltumspannende Gebetsverbrüderung gegründet habe: Iste est Apostolus ille Psalterij, de quo Alma Dei Virgo non semel ei facta reuelatione, mandatum formamque dedit eiusdem prædicandi. Et vero prædicavit, circumque tulit per omnem Hispaniam, Italiam, Galliam, Angliam, & Alamaniam. 356 350 »Vor nunmehr 70 oder 80 Jahren wurde von jemandem, der mir wohlbekannt ist, dieser heilige Psalter aus einzigartiger Hingabe heraus gekürzt und auf bloß 50 [Ave Maria] reduziert«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 25. 351 Vgl. ebd., S. 25 f. 352 Thomas Esser hält aber fest, dass Alanus »persönliche Beziehungen zu den Kartäusern« hatte und auch in seinen verschiedenen Schriften die Kartäuser lobend erwähnt (Esser 1904, S. 282, mit Textbelegen). 353 Ebd., S. 284. 354 Klinkhammer 1978, Sp. 102. 355 Herbert Thurston: Alan de Rupe and his Indulgence of 60,000 Years, in: The Month 100 (1902), S. 281 - 299, hier S. 284. 356 »Dieser ist der Apostel jenes Psalters, den zu predigen die gütige Jungfrau Gottes ihm durch mehr als einmal dazu gewährten Offenbarungen den Auftrag und die Ordnung gab. Und er predigte ihn wahrhaftig und verbreitete ihn in ganz Spanien, Italien, Frankreich, England und Deutschland«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 24. 170 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="171"?> Diesbezüglich wird Alanus auch eine Legende zugeschrieben, die berichtet, wie Dominikus während der Katharermission in Toulouse eine Marienvision empfing, in der ihm das Rosenkranzgebet beigebracht und erläutert sowie seine Verbreitung aufgetragen wurde. 357 Der Rosenkranz sei somit »gleichsam fertig vom Himmel gefallen, und sein erster Förderer wäre der grosse hl. Dominikus gewesen«. 358 Das Maß an Verklärung, das Alanus seiner Gebetsform so angedeihen lässt, ist beachtlich. Allerdings kann die Geschichte, der Rosenkranz gehe auf den Ordensgründer Dominikus zurück, als frei erdichtetes Ursprungsnarrativ gelten. Im Hintergrund steht hier wohl auch eine Absicht, diese Frömmigkeitsform als dominikanisches Proprium zu markieren. Denn Alanus »implicitly claims the inventions [d. h. den Marienpsalter und die entsprechenden Bruderschaften] for his own order, rather than the Carthusians«. 359 Dass dies Erfolg hatte, zeigt sich daran, dass spätere dominikanische Autoren geradezu ein Rosenkranzmonopol für sich in Anspruch nehmen. So schreibt beispielsweise Marcus von Weida um 1515 von der inzwischen weit verbreiteten Rosenkranzbruderschaft: diese bruderschafft / steht dem prediger orden sonderlich tzu / vnnd ist durch die vetere / desselben ordens [ … ] von newen widder auffgerichten vnnd vff des ordens anregunge / bestetiget. 360 Alanus betreibt enormen erzählerischen Aufwand, um das Rosenkranzgebet für die Dominikaner zu reklamieren. So führt er zwei angebliche Wegbegleiter des heiligen Dominikus mit Namen Thomas de Templo und Johannes de Monte an, in deren Schriften er Belege für Dominikus ’ Hingabe zum Rosenkranzgebet gefunden zu haben behauptet. 361 Diese beiden Dominikaner der ersten Generation, die anderweitig nirgendwo belegt sind, stellen »frei[e] Erfindungen des durch und durch unzuverlässigen Alanus« dar. 362 Dieser bezieht sich also auf selbsterdachte Quellen, um seiner dominikanischen Entstehungsgeschichte des Marienpsalters zusätzliche Autorität zu verleihen. Dass der Ordensgelehrte Michael Francisci ab Insulis (1435 - 1502), der die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 mitbegründete, im Erstdruck seiner 1476 gehaltenen Vorlesung über das Rosenkranzgebet anmerkt, seine Klosterbibliothek besitze sogar Exzerpte aus den die Verbindung zum heiligen Dominikus belegenden Schriften des Johannes de Monte, scheint besonders signifikant. 363 Diese Bemerkung stellt die Möglichkeit in den Raum, dass Alanus die 357 Dieser Text findet sich abgedruckt in B. Alanvs de Rvpe redivivvs de Psalterio sev Rosario Christi ac Mariæ eivsdemque Fraternitate Rosaria, hg. v. Johann Andreas Coppenstein, Köln: Peter Henning 1624, S. 98 - 105. Ob er tatsächlich aus der Feder des Alanus von Rupe stammt oder erst später in Anlehnung an Alanus ’ Schriften und Predigten verfasst wurde, bedürfte einer genaueren Untersuchung. Die frühneuzeitliche Tradition verbindet diese Erzählung jedenfalls mit dem Namen des Alanus, weshalb sie hier kurz erwähnt sei. Siehe dazu auch ausführlicher Holzapfel 1903, S. 13 - 21. 358 Heinz 2003, hier S. 23. 359 Ardissino 2019, S. 344. 360 Marcus von Weida: Der Spiegel, fol. 35v. 361 Vgl. zu dieser Ursprungserzählung ausführlich Angelia Roncelli: San Domenico e la nascita del Rosario nell ’ opera di Alano della Rupe, in: Sacra doctrina 54 (2009), S. 145 - 170. 362 Georg Grützmacher: Rezension zu P. Herbert Holzapfel: St. Dominikus und der Rosenkranz, München 1903, in: Theologische Literaturzeitung 22 (1903), S. 600. 363 Dort heißt es: ut ab ore praefati magistri Alani audivi, qui etiam se hoc legisse in quodum libello magistri Iohannis de Monte asseruit, hanc fraternitatem b. Dominicus, pater Praedicatorum, fundator instituit et praedicavit; hunc libellum habemus nunc Coloniae in conventu nostro, saltem excerptum (»wie ich aus dem Munde des bereits erwähnten Meisters Alanus gehört habe, der auch versicherte, er habe dies in 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 171 <?page no="172"?> von ihm erwähnten Quellen aus der Zeit der dominikanischen Ordensgründung nicht nur ausgedacht und referiert, sondern sogar gefälscht und verbreitet haben könnte. In jedem Fall entfaltete der zur Legitimierung der Gebetsform des Marienpsalters konstruierte Rückbezug auf den heiligen Dominikus in der Folgezeit eine Eigendynamik. So beziehen sich einige der Ablässe, die Ende des 15. Jahrhunderts den Rosenkranzbruderschaften gewährt werden, auf die Gründung einer ersten Bruderschaft durch Dominikus. 364 Zudem fand sich die Toulouse-Legende, die erzählt, wie Dominikus von Maria der Rosenkranz offenbart wurde, nicht bloß in zahlreichen populären Gebetbüchern auch der Neuzeit, 365 sondern bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 - 1965) auch im Römischen Brevier, wo das im 16. Jahrhundert eingeführte Rosenkranzfest durch diese Ursprungserzählung begründet wird. 366 Nach ersten Zweifeln der Bollandisten entkräfteten erst die Forschungen Thomas Essers und Heribert Holzapfels um 1900 Alanus ’ Geschichte von Dominikus als Rosenkranzgründer und öffneten so den Blick auf die allmähliche Entstehung dieser Gebetsform im Kontext der Frömmigkeitskultur des ausgehenden Mittelalters. 367 Abgesehen von solchen »unrichtigen geschichtlichen Nachrichten« 368 und der betonten Analogie zum psalmenbasierten Stundengebet führt Alanus zur Verteidigung seines Marienpsalters auch eine Vision ins Feld, als deren Empfänger er sich selbst impliziert. Neben den Geltungsanspruch der eigens konstruierten Tradition tritt somit die charismatische Autorität des Gnadenerlebnisses: Orator quidam Psalterij Mariæ Virginis, toto ipso septennio horrificis dæmonum tentationibus, aliquoties sensibiliter, & aliquando visibiliter tentatus fuit. Et ille pene annis istis omnibus nullam, aut paruam habuit consolationem. DEO tandem miserante apparuit ei Regina clementiæ, quæ quibusdam comitata Sanctis eum interuisens, discussa tentatione à præsenti, eum periculo liberauit: Simul suo ipsum Vbere virgineo lactauit. Adhæc eundem, annulo ex virgineis capillis suis ipsius Mariæ Virginis facto, sibi desponsauit: Mandauitque eidem, sub ineuitabilis mortis periculo, et ultionis p œ na divinæ, Psalterium hoc prædicaret. 369 einem gewissen Büchlein des Meisters Johannes de Monte gelesen, predigte und errichtete der selige Dominikus, der Vater der Prediger, als Gründer diese Bruderschaft. Dieses Büchlein haben wir zumindest in Auszügen jetzt [auch] in Köln in unserem Kloster«), Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 111. Dass die 1480 erschienene und überarbeitete zweite Ausgabe von Michael Franciscis Quodlibet diesen Hinweis wegkürzt, könnte laut Scheeben ein Hinweis darauf sein, dass Alanus ’ Quellen inzwischen als Fantasieprodukte erkannt worden waren (vgl. ebd., S. 111 - 114). Die zeitgenössisch dennoch enthusiastische Aufnahme von Alanus ’ Behauptung, Dominikus sei der Begründer der Rosenkranzbewegung gewesen, lässt eine solche Interpretation jedoch fraglich erscheinen. 364 Abgedruckt z. B. bei Schütz 1909, S. 32 - 38. 365 Stellvertretend genannt sei hier Thomas Wiser (Hg.): Himmlisches Vergißmeinnicht, oder Prachtgebetbuch … Regensburg 1858, S. 376. 366 Vgl. Breviarium Romanum, ex decreto SS. Concilii Tridentini restitutum, S. Pii V. pontificis maximi jussu editum … Pars autumnalis, Mechelen 1872, S. 372. Wie Andreas Heinz ausführt, hat erst »Papst Pius VI. [ … ] in seinem Apostolischen Schreiben über die Marienverehrung vom 2. Februar 1974 darauf verzichtet, den hl. Dominikus mit den Anfängen des Rosenkranzes in Verbindung zu bringen« (Heinz 2003, S. 23 f.). Siehe dazu auch Ranacher 2022, S. 126 f. 367 Vgl. Holzapfel 1903; Esser 1897. Zur Skepsis der Bollandisten an den Dominikuslegenden des Alanus von Rupe vgl. Ranacher 2022, S. 125. 368 Beissel 1909, S. 542. 369 »Jemand, der den Psalter der Jungfrau Maria zu beten pflegte, wurde für insgesamt sieben Jahre von den Versuchungen schrecklicher Dämonen heimgesucht, oftmals auf fühlbare, manchmal auch auf 172 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="173"?> Diese Marienvision darf als einigermaßen irritierend gelten. Esser wertete sie launisch als Beleg für »eine gewisse Überspanntheit, einen Stich ins Schwärmerische«, der Alanus als »angeborene[r] Zug« zu eigen gewesen sei. 370 Gegen diese pathologisierende Lesart kann angeführt werden, dass der obige Visionsbericht im Kontext des Tractatus apologeticus eine spezifische Lizenzierungsfunktion erfüllt. Alanus nimmt für den Marienpsalter und vor allem für seine eigene Bewerbung dieser Frömmigkeitsform einen göttlichen Auftrag in Anspruch, der Zweifel an Wirkmacht und Status der Gebetsübung zerstreuen soll. Mehrere in der Viten- und Offenbarungsliteratur der Zeit gängige Motivtraditionen werden hierzu angespielt und kombiniert. Die dämonische Anfechtung, die den Protagonisten des kurzen Offenbarungsberichts plagt und schließlich durch göttliche Mächte abgewendet wird, ist, geprägt unter anderem durch die zahlreichen Legenden und Bilddarstellungen der Versuchung des heiligen Antonius, im Spätmittelalter als hagiographischer Topos verbreitet. 371 In Alanus ’ Visionsschilderung wird ein emotionaler, sich mitunter jedoch auch visuell manifestierender Zustand der dämonischen Heimsuchung in einem Gnadenakt implizit abgelöst und ersetzt durch die geordnete und gottgefällige Erfahrung der Gebetsübung. Der Marienpsalter, der zählendes Beten, wahrnehmendes Eintauchen und geistliche Gabenfertigung verbindet, vertreibt hier gleichsam die schreckliche Unform des vom Dämonischen heimgesuchten Geistes und setzt ein kontrolliertes Verfahren innerer Figuration an die Stelle der unkontrollierten Anfechtung. 372 Dieser Umschlag hin zur gebethaft hergestellten Gottesnähe wird prononciert durch zwei marianische Topoi, die diese Episode als besondere Gnadenzuwendung markieren. Zunächst wurde das bis in frühchristliche Zeit zurückreichende Bildmotiv der Maria lactans, 373 also der das Jesuskind stillenden Maria, im Spätmittelalter zunehmend auch auf Heilige übertragen. Besonders verbreitet ist dabei die in ihrem Ursprung nicht völlig geklärte, ab ungefähr 1300 in Text und Bild belegte Legende von der › Lactatio Bernardi ‹ , in welcher Bernhard von Clairvaux von Maria gestillt wird. 374 In den Folgejahrzehnten wird diese wundersame Stillung des Heiligen durch Maria zum Topos marianischer Gnadengewährung und taucht gehäuft auf, so zum Beispiel in der Vita Heinrich Seuses, wo Maria den Protagonisten an ihrer Brust säugt und dabei betont, ihre Milch sei nit ein sichtbare Weise. Und in all diesen Jahren fand er beinahe keinen auch nur geringen Trost. Da Gott schließlich Mitleid hatte, erschien ihm die Königin der Barmherzigkeit, die ihn begleitet von einigen Heiligen besuchte und ihn dadurch, dass die Versuchung sofort vertrieben wurde, von der Gefahr befreite. Zugleich ließ sie ihn Milch aus ihrer jungfräulichen Brust trinken. Im Anschluss daran verheiratete sie sich mit ihm durch einen Ring, der aus ihren, der Jungfrau Maria, jungfräulichen Haaren gemacht war. Und sie befahl ihm unter Drohung des unausweichlichen Todes und unter der Strafe göttlicher Rache, dass er diesen Psalter predige«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 29. 370 Esser 1904, S. 280. 371 Siehe dazu Niklaus Largier: Ästhetik der Disfiguration. Ein Essay zur Versuchung des Antonius durch die Dämonen, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen u. Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 43 - 52. 372 Dies ist gewissermaßen das ins weniger komplexe Gelingen umgekehrte Gegenstück zu jenem Motiv einer »immer neue[n] Verschränkung von Figuration und Disfiguration« (ebd., S. 44), das Largier für die Antoniusfigur beschreibt, deren imitatio Christi, eben da sie nie in die völlige Identität führt, stets ein Moment des Umschlags ins Disfigurierte eignet. 373 Vgl. dazu Morsbach 1991. 374 Siehe zu dieser Bild- und Legendentradition Léon Dewez u. Albert van Iterson: La lactation de saint Bernard. Legende et iconographie, in: Cîteaux in de Nederlanden 7 (1956), S. 165 - 189. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 173 <?page no="174"?> lipliches trank, es ist ein heilsames geischliches trank warer luterkeit. 375 Wie Caroline Walker Bynum anmerkt, sind derartige Szenen der stillenden Maria oftmals analog zu Darstellungen des menschheitserlösenden Blutes Christi gestaltet: »In medieval legends like the lactation of St. Bernard [ … ], milk and blood are often interchangeable«. 376 Die Milch der Miterlöserin Maria entspricht so dem Blut ihres Sohnes. In eine derartige Motiv- und Erzähltradition schreibt sich auch Alanus ein, wenn er die Erlösung von dämonischer Heimsuchung als Lactatio-Szene gestaltet. Wohl in Adaptation der Idee einer geistlichen Ehe der Nonnen, die sich als sponsae Christi begriffen, 377 inszeniert Alanus den Visionsempfänger zudem als sponsus Mariae. Dass derartige Vorstellungen einer › geistlichen Ehe ‹ auch von männlichen Religiosen übernommen wurden, zeigt sich wiederum am Beispiel Heinrich Seuses, dessen literarisches alter ego sich mit der Ewigen Weisheit, also dem grammatikalisch als weiblich markierten Christus vermählt. 378 Auf ähnliche Weise gipfelt die obige Visionserzählung in einer Eheschließung des Protagonisten mit der Heiligen Jungfrau, die durch einen Ring aus ihren Haaren besiegelt wird. Vergleichbar dem Ring der Nonnen, der als sichtbares »Zeichen der Vermählung mit Christus« getragen wurde, dient dieses Schmuckstück als Signum der Marienehe. 379 Zugleich jedoch ist es als heilswirksame Gabe zu verstehen, die entsprechende geistliche Gegengaben erfordert - denn an das Geschenk des wunderhaften Haarrings ist, so legt der oben wiedergegebene Visionsbericht nahe, die Verpflichtung geknüpft, den Marienpsalter zu verbreiten. Quasi als Eheversprechen gelobt der Protagonist Maria, diese Gebetsform in ihrem Auftrag und als ihr geistlicher Gemahl zu predigen, und bei Nichteinhaltung dieses Gelübdes drohen ihm schreckliche Strafen. Die Visionserzählung des bretonischen Dominikaners kommt dabei einer Selbstinszenierung gleich. Denn Alanus impliziert an zahlreichen Stellen bloß wenig verhüllt, dass hinter dem Empfänger der erzählten Marienerscheinung er selbst zu erkennen sei. Mehrfach verfällt der Erzähler zum Beispiel in die erste Person, so wenn er beteuert, er habe beim Tragen des Rings aus Marias Haaren eine unvergleichliche himmlische Freude verspürt. 380 Der Befehl der Heiligen Jungfrau, den Marienpsalter zu predigen, ist 375 »kein leiblicher Trunk, sondern ein heilbringender geistlicher Trunk wahrer Reinheit«, Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 50,8 - 9. Vgl. zu dieser Szene die kundige Analyse bei Bernhardt 2016, S. 165 f. 376 Bynum 1982, S. 132 f. Bynum kann sich dabei nicht nur schlüssig auf Entsprechungen in Erzählweise und Bildkomposition berufen, sondern auch auf zeitgenössische medizinische Theorien, nach denen Milch eine umgewandelte Form von Blut darstellte, und christologisch gedeutete Motive wie den Pelikan, der seine Jungen mit dem Blut aus der eigens dazu aufgerissenen Brust nährt. 377 Vgl. dazu ausführlich den Sammelband von Susanna Elm u. Barbara Vinken (Hgg.): Braut Christi. Familienformen in Europa, München u. a. 2016. 378 Vgl. Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 11 - 15. 379 Nicolas Heutger: 800 Jahre Kloster Mariensee, in: Ders.: Niedersächsische Ordenshäuser und Stifte. Geschichte und Gegenwart. Vorträge und Forschungen, hg. v. Viola Heutger, Berlin 2009, S. 73 - 86, hier S. 76. Zudem dürften hier auch entsprechende, zeitgenössisch intensiv verehrte marianische Ringreliquien wie beispielsweise der in Perugia aufbewahrte »Brautring Marias« eine Rolle gespielt haben; vgl. dazu Maria Duranti: Il S. Anello della cattedrale di Perugia tra leggenda e devozione, in: Una città e la sua cattedrale. Il Duomo di Perugia. Atti del Convegno di studio, Perugia, 26 - 29 settembre 1988, hg. v. Maria Luisa Cianini Pierotti, Perugia 1992, S. 363 - 372. 380 Et quantum ad me, hunc Annulum tetigi, non sine magno gaudio, nec humano, sed longe altius maiore. (»Und wie sehr ich diesen Ring an mich drückte, [und zwar] nicht ohne eine große Freude, die nicht menschlich war, sondern weiter, höher und größer.«) Alanus von Rupe: Apologia, S. 33. 174 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="175"?> entsprechend als himmlische Anordnung an den sich rechtfertigenden Verfasser des Tractatus apologeticus markiert. Auch die zeitgenössische Leserschaft identifizierte den sponsus Mariae des Visionsberichts offenbar mit dem Autor Alanus. Noch ein Rezeptionszeugnis des 17. Jahrhundert berichtet, daß die seeligste Jungfrau einsmahls von ihrem Finger einen auß ihren eignen Haaren geflochtenen Ring abgezogen / und an Alani Finger gesteckt habe zum Zeichen der Geistlichen Hochzeit / so sie mit ihm hielte. 381 Dennoch weigert sich Alanus, obgleich er beteuert, den Empfänger dieser Vision sehr gut zu kennen, diesen beim Namen zu nennen. Dies begründet er mit den Gefahren, denen sich diese Person ansonsten ausgesetzt sähe: Verum quia persona hæc viuit adhuc, non possum eam nominatim manifestare, ob pericula vanæ gloriæ, mundanæ varietatis, ac etiam tribulationis. Talia enim abscondi debent in vita, & post mortem laudari. 382 Zwar betont Alanus immer wieder seine besondere Nähe und Vertrautheit mit diesem anonymen Marienverehrer, lässt intimes und kaum erklärbares Wissen über dessen Person durchscheinen und behauptet mit keinem Wort, es handele sich hier nicht um ihn selbst. Den letztlichen Schritt, sich in voller Eindeutigkeit mit dem Protagonisten des Visionsberichts zu identifizieren, unterlässt er jedoch. 383 In dieser Ambiguität ist eine spezifische Schwierigkeit eines sich auf charismatische Visionserlebnisse berufenden Erzählens zu erkennen, dessen Wahrheitsbehauptung, zumal unter dem Verdacht der Anmaßung oder der Lüge, stets prekär bleibt. Narrative Winkelspiele der autorisierenden Brechung des Selbstbezugs, wie sie sich beispielsweise im verbreiteten Beichtvatertopos oder auch in Heinrich Seuses Schreiben über sich selbst in der dritten Person, das Dominikus von Preußen im Liber experientiae aufgreift, ausmachen lassen, 384 balancieren zwischen einem Anspruch auf charismatische Geltung, den das schreibende Ich für sich beansprucht, und einer diesen Geltungsanspruch fundierenden Distanz. Alanus ’ Marienvision fügt sich ein in dieses Feld der mit einem Moment der Unsicherheit verbundenen Behauptungen besonderer Begnadung. Dies scheint langwierigen Erfolg gehabt zu haben, findet sich doch beispielsweise noch in marianischen Reliquienregistern des 19. Jahrhunderts die Behauptung, »[e]inen Ring mit ihren Haaren ha[be] Maria dem heiligen Alanus verehrt«. 385 Zusammengefasst zeigen sich also mehrere Autorisierungsstrategien, die Alanus für seinen Marienpsalter ins Feld führt. Um die propagierte Gebetsweise zu rechtfertigen, 381 Franciscus Marchese: Marianisches Tag-Buch / worinnen begriffen seynd auff alle Täg des gantzen Jahrs außbündig-nutzliche [ … ] Andacht-Übungen … Augsburg: Caspar Brandans 1695, S. 84. 382 »Weil aber diese Person wahrhaftig noch lebt, kann ich sie nicht namentlich nennen aufgrund der Gefahr von Eitelkeit, weltlichen Wankelmuts und anderer Beschwernisse. Denn derartige Dinge müssen zu Lebzeiten verborgen und nach dem Tode gepriesen werden.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 30. 383 Auch hierin ähnelt diese Episode im Tractatus apologeticus der Vita und dem Büchlein der ewigen Weisheit Heinrich Seuses, in denen der Autor in kaum verschleierter Form über sich selbst in der dritten Person schreibt. 384 Vgl. dazu grundlegend Peters 1988. Auch Dominikus von Preußen schreibt im Liber experientiae über sich selbst in der dritten Person als »Rupertus«. 385 Reliquien von der allerseligsten Jungfrau Maria [ … ]. Aus dem Lateinischen uralter heiliger Schriftsteller, Freising 1860, S. 46. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 175 <?page no="176"?> stellt der Dominikanermönch sie erstens als neutestamentliches Pendant zum auf den Psalmen des Alten Testaments basierenden Stundengebet der Mönche und Nonnen dar, und entwirft zweitens eine bis in die Zeit der Apostel zurückreichende und beim Gründer seines eigenen Ordens zur Vollendung gelangende Ursprungserzählung. Zu dieser Form der traditionalen Legitimierung tritt die Behauptung charismatischer Autorität, die Alanus von Rupe mit einer Marienvision begründet, in der das Predigen des Marienpsalters narrativ als Auftrag der heiligen Jungfrau selbst gezeichnet wird. Schlussendlich zielt dies einerseits auf die Verteidigung von Alanus ’ Predigttätigkeit, andererseits auch auf die Etablierung einer Gebetsverbrüderung, die er im Tractatus apologeticus nicht nur in Schutz nimmt, sondern auch bewirbt. Obgleich unklar ist, bis zu welchem Grad diese angeblich erste Rosenkranzbruderschaft eine historisch reale Institution darstellte, bildete der von Alanus geschilderte fromme Zusammenschluss dennoch ein Vorbild für die Rosenkranzbruderschaften, die sich im späten 15. und 16. Jahrhundert von Köln ausgehend in ganz Mitteleuropa verbreiteten. Vor diesem Hintergrund verdient die Darstellung der angeblich von ihm mitinitiierten Bruderschaft des Marienpsalters folgend einen Blick. 4.3 Vergemeinschaftetes Beten: Alanus ’ Schilderung seiner fraternitas In Douai, wo Alanus von Rupe zwischen 1464 und 1468 wirkte, ist ab Mai 1470 durch eine entsprechend datierte Urkunde des Generalvikars Johannes Excuria eine confratri[a] virginis Mariae belegt, die sich zur oratione psalterii virginis Mariae zusammengefunden habe. 386 Es scheint sich hier um eine eng mit der dominikanischen Observanzbewegung verknüpfte Bruderschaft für fromme Laien beiderlei Geschlechts gehandelt zu haben, verspricht doch Johannes Excuria den Bruderschaftsmitgliedern, die er ausdrücklich als fratr[es] et soror[es] anspricht, 387 »a share in all the spiritual › goods ‹ accumulated by the Observant congregation«. 388 Allgemein geht die Forschung trotz einiger Zweifel davon aus, dass dieser Gebetszusammenschluss identisch mit jener ersten Rosenkranzbruderschaft ist, die Alanus von Rupe bewirbt und gegründet zu haben behauptet. 389 Abgesehen von dieser, in Bezug auf die von ihr gepflegte Frömmigkeitspraxis wenig aussagekräftigen Urkunde stammen die einzigen zeitgenössischen Quellen zur Douaier Rosenkranzbruderschaft mittelbar oder unmittelbar von Alanus und finden sich in seinem 386 »Bruderschaft der Jungfrau Maria«, »Beten des Marienpsalters«, ediert bei Meersseman 1977, S. 1163 - 1164, hier S. 1163. 387 »Brüder und Schwestern«, ebd. 388 Winston-Allen 1997, S. 79. 389 Eine ausführliche Problematisierung dieser Annahme findet sich bei Scheeben 1951, S. 131 - 137, der die Douaier Bruderschaft für »eine rein lokale Angelegenheit hält« und schließt: »Ich halte es aber für absolut unwahrscheinlich, daß er [d. i. Alanus von Rupe] in Douai oder sonstwo eine Bruderschaft gegründet hat, denn wenn er mit seiner Propaganda für das Psalterium die Gründung von Bruderschaften verbunden hätte, müßten von solchen Bruderschaften mehr Spuren vorhanden sein« (ebd., S. 132). Dies stellt in der Forschung durchaus eine Extremposition dar. Dennoch muss zumindest von einer unklaren und vielfach durch Alanus ’ Selbststilisierung verzerrten Quellenlage gesprochen werden. 176 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="177"?> Tractatus apologeticus. Dort beschreibt der Dominikaner, er habe eine ursprünglich vom heiligen Dominikus gegründete und anschließend in Vergessenheit geratene Gebetsbruderschaft wiederaufleben lassen, die auf drei Prinzipien basiere: Consistit autem Fraternitatis illius Institutum in tribus. I. Quod operum merita Sanctorum omnia communia sunt, tam post vitam in æternum, quam in vita. Idque non Communicatione solum vniversali, sed illa quoque particulari. II. Quod Fratres & Sorores orare consueuerint in dies integrum Mariæ Virginis Psalterium. [ … ] III. Quod in ea Fraternitate nulla rei cuiusquam, sub discrimine metuve peccati, mortalis, aut ven[ialis], agnoscitur obligatio. 390 Eine Art geistlicher Gütergemeinschaft, die insbesondere einen durch die Gebetsverpflichtung angehäuften Gnadenschatz allen Mitgliedern zugänglich machen soll, die freiwillige Verpflichtung zum täglichen Beten des Marienpsalters sowie die Feststellung, dass die gelegentliche Unterlassung dieses Gebets nicht als Sünde zu werten sei, bilden hier das Fundament des Zusammenschlusses. Weitere Charakteristika dieser Vereinigung sind ihre universelle Zugänglichkeit für alle frommen Christen jenseits von Alter, Stand und Geschlecht 391 sowie die Aufforderung zum Einschreiben in ein Bruderschaftsregister, die Alanus mit verschiedenen rationes Theologicas, Politicas, et Tropologicas begründet. 392 Auch das Zählgerät der Gebetsschnur wird hierbei prominent erwähnt. Dies ist insofern aufschlussreich, als dass derartige materielle Hilfsmittel zuvor nicht sonderlich eng mit dem Rosenkranz assoziiert gewesen zu sein scheinen. Eine Episode aus der Zwanzig- Exempel-Schrift erwähnt zwar den erstaunlichen Sachverhalt, dass ein Kartäuser, hinter dem unschwer Dominikus von Preußen zu erkennen ist, nach einer Traumvision die 50 Ave Maria an der hant abzählen konnte und bedorffte auch kein pater-noster dar zu (ZES, V. 170 f.). 393 Dies belegt jedoch bloß die generelle und recht gut erforschte spätmittelalterliche Verbreitung der Perlenschnur als Zählhilfe fürs Gebet, nicht ihre besondere Verbindung zum Rosenkranz. 394 Bei Alanus sieht es bereits etwas anders aus. Der Dominikaner behandelt die Gebetskette, die er als patriloquium oder corona bezeichnet, ausführlich und nimmt Stellung zur Frage, ob man eine solche Schnur benutzen oder öffentlich tragen solle. Im Hintergrund steht wohl auch der Charakter eines Schmuckstücks und Statussymbols, den kostbare Gebetsschnüre im niederländischen Raum des 15. Jahrhunderts angenommen hatten und der in einem konfliktgeladenen Widerspruchsverhältnis zu religiösen Kleidungsvorschriften der demütigen Schlichtheit stand. 395 Im 390 »Die Einrichtung dieser Bruderschaft besteht nun aber aus drei Punkten: 1. Dass die Verdienste aller guten Werke gemeinschaftlich sind, nach diesem Leben in der Ewigkeit ebenso wie in diesem Leben selbst. Und dies nicht nur zur allgemeinen Teilhabe, sondern auch zu der jedes Einzelnen. 2. Dass die Brüder und Schwestern es pflegen sollen, täglich den Marienpsalter zu beten. 3. Dass in dieser Bruderschaft keinerlei Verpflichtung zu irgendeiner Sache besteht, bei deren Unterlassung eine Todsünde oder lässliche Sünde drohe.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 49. 391 Vgl. ebd., S. 53. 392 »theologischen, politischen und tropologischen Gründen«, ebd., S. 54. 393 »an der Hand ” , »und dazu auch keine Paternoster-Schnur benötigte«. 394 »Zum Zählen der Gebete [ … ] diente spätestens seit dem Hochmittelalter allgemein eine Perlen- oder Knotenschnur«, Heinz Finger: Das Rosenkranzgebet und seine Geschichte, in: Der heilige Rosenkranz. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln zum Rosenkranzjahr 2003, hg. v. Heinz Finger, Köln 2003 (Libelli Rhenani 5), S. 13 - 44, hier S. 16; vgl. auch mit zahlreichen Quellen Ritz 1976, S. 61 - 90; sowie Kirfel 1949, S. 12 - 15. 395 Dazu As-Vijvers: »Even for the pious it was deemed acceptable to display precious rosary strings, since they were considered religious jewellery. This led to a paradox: since the prayers were offered to God, 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 177 <?page no="178"?> Tractatus apologeticus nun wird die Frage danach, ob solche Zählgeräte angebracht seien, pragmatisch beantwortet. Man müsse zwar nicht, dürfe aber derartige Gebetsschnüre nutzen, führt Alanus aus, allerdings nur aus den richtigen Gründen: ob humanæ memoriæ labilitatem: Ob paratiorem vsum in promptu: Ob exemplum bonum, quod in vtroque Testamento omnibus est mandatum. 396 Mit dem letztgenannten exemplum bonum meint Alanus das Tragen der Zählschnur als äußeres Zeichen einer Mitgliedschaft in der Bruderschaft und der Befolgung ihrer drei Hauptregeln. Solange die Gebetskette aus diesen Gründen getragen werde und zum Praktizieren des Marienpsalters anrege, sei sogar gegen kostbare Materialien nichts einzuwenden. Hier wird folglich das Rosenkranzgebet eng mit der Verwendung eines Zählgerätes verbunden - eine Praxis, die diese Gebetsweise in der Neuzeit geradezu überformte. Zumindest die drei oben angeführten Grundregeln der bei Alanus beschriebenen Bruderschaft des Marienpsalters decken sich weitgehend mit dem, was sich aus der Urkunde von 1470 über den Douaier Gebetszusammenschluss schließen lässt. Handelt es sich hier aber um die gleiche Gemeinschaft? Alanus ’ wiederholte Behauptung, seine Bruderschaft sei so alt wie das Christentum selbst, wäre in der von ihm angepriesenen Form jedoch vom heiligen Dominikus eingeführt worden, gehört sicher ins Reich jener bereits angesprochenen komplexen Quellenfälschungen und Fehlangaben, aufgrund derer Humbert-Marie Vicaire diesen Autor als »type caractérisé du corrupteur de l ’ historiographie dominicaine« bezeichnete. 397 Ob es dagegen den Gebetszusammenschluss, deren Regeln und Statuten er im Tractatus wiedergibt, in der historischen Realität tatsächlich in der geschilderten Form gegeben hat, steht auf einem unsichereren Blatt. 398 Aufschluss über die Douaier Bruderschaft geben die oben erwähnte Urkunde sowie ein allerdings spärlich überlieferter und erst 1475 oder 1476, also bereits im Fahrwasser der Kölner Rosenkranzbruderschaft, entstandener französischsprachiger Libellus. Laut Meersseman handelt es sich hier um einen Text, »nel quale, sulla base di appunti stenografati da uno dei confratelli, sono riportati i sermoni di Alano predicati nella città nel maggio del 1475.« 399 Diese Schrift, die einleitend erklärt, sie werde ranconter aucuns bons exemples que nous racompta ung tres notable docteur en theologie nomme maistre Alain de Roche, 400 enthält im Wesentlichen einige Anweisungen zum Beten des Marienpsalters sowie illustrierende Exempel, die sich in ausführlicherer Form auch im Tractatus apologeticus finden. Auch aufgrund des geringen Überlieferungsvolumens ist nicht davon auszugehen, dass es sich hierbei um ein Zeugnis der frommen Massenbewegung handelt, die Alanus it was appropriate to count them on jewels; on the other hand, the humble devotee was worthy of only the simplest beads. That their function as status symbol was an important factor in their popularity can be deduced from the fact that some city governments promulgated ordinances prohibiting the ostentatious display of religious jewellery. ” (As-Vijvers 2007, S. 7 f.). 396 »wegen der Flüchtigkeit der menschlichen Erinnerung, um zum schnellen Gebrauch [der Gebetsschnur] besser vorbereitet zu sein, [oder] des guten Beispiels halber, das im Alten und im Neuen Testament allen anempfohlen wird«. Alanus von Rupe: Apologia, S. 69. 397 Humbert-Marie Vicaire: Histoire de Saint Dominique, Paris 2004, S. 8. 398 Vgl. hierzu die Diskussion bei Ranacher 2022, S. 121 - 125. 399 Meersseman 1977, S. 1161. Zur Überlieferung vgl. ebd., S. 1159 f. Eine auf 1476 datierende französische Fassung ist in Auszügen abgedruckt ebd., S. 1164 - 1169. Vgl. auch knapp Schnyder 1986, S. 426. 400 Meersseman 1977, S. 1164. 178 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="179"?> angestoßen zu haben behauptet. Sollte er eine entsprechende Gebetsbruderschaft ins Leben gerufen haben, muss sie wohl bescheideneren Umfangs gewesen sein. Scheeben geht aufgrund dieser Quellenlage sogar davon aus, dass Alanus niemals irgendeine Rosenkranzbruderschaft in Douai oder anderswo gegründet habe, sondern bloß präexistente kleinere marianische Gebetsverbrüderungen, die sich unter der Ägide der dominikanischen Observanz gegründet hatten, in seinen Schriften für sich vereinnahmte. 401 Auch Christian Ranacher und Stefan Jäggi vermuten, dass Alanus lediglich »das tägliche Rosenkranzgebet bei einer bereits bestehenden Marienbruderschaft« einführte. 402 Damit scheint die öfters unkritisch übernommene Annahme, Alanus habe, wo immer ihn sein bewegtes Leben hinführte, eine frühe Rosenkranzbruderschaft gegründet, so nicht ausreichend belegt. 403 Die Bedeutung von Alanus ’ Schilderungen liegt entsprechend nicht darin, dass sie es erlaubten, aus ihnen belastbare frömmigkeitsgeschichtliche Schlüsse über das Bruderschaftswesen in Flandern um 1470 zu ziehen. Gesichert ist lediglich, dass zu dieser Zeit eine mit den Douaier Dominikanern verbundene Gebetsbruderschaft des Marienpsalters existierte, und es darf angenommen werden, dass Alanus hierin - in welcher Form auch immer - involviert war. Seine darüberhinausgehenden Berichte von den Viris enim pene innummeris, 404 die sich vielerorts bereits in seine Bruderschaft eingeschrieben hätten, sind dagegen zumindest drastisch übertrieben, wenn nicht gar frei erfunden. 401 Vgl. Scheeben 1951, S. 131 - 134. 402 Jäggi 2003, hier S. 92. Christian Ranacher schließt sich dem an und führt aus, »dass die Dominikaner seit dem 13. Jahrhundert Bruderschaften [installierten], deren Aufgabe im Weitertragen der Marienfrömmigkeit lag«. Bei der Bruderschaft in Douai »handelte es sich um eine solche Marienbruderschaft« (Ranacher 2022, S. 125). 403 So schreibt z. B. Siegfried Schmidt, allerdings wiederum aus anderen Quellen übernehmend: »Alanus de Rupe begründete dann auch 1468 im flandrischen Douai eine allererste Rosenkranzbruderschaft [ … ] Auch an seinen vorangegangenen und nächstfolgenden Wirkungsstätten (Lille, Gent und Rostock) hat de Rupe vor 1475 [ … ] Rosenkranzbruderschaften gestiftet« (Schmidt 2003, S. 59, Hervorhebung im Original). Derartige Annahmen gehen auf die legendarisch überformte Alanus-Rezeption vor allem des 17. Jahrhunderts zurück und bedürften kritischer Überprüfung. 404 »auch beinahe unzähligen Männern«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 56. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 179 <?page no="180"?> 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 Institutionsbildende Einschlagskraft entwickelten Alanus ’ Schilderungen schließlich doch, allerdings nicht in Douai. Im Jahr 1475 nämlich gründete sich in Köln eine für die idiosynkratrische Religiosität des ausgehenden Mittelalters charakteristische und in ihrem historischen Kontext im Grunde zunächst nicht sonderlich außergewöhnliche Gebetsbruderschaft, die in den kommenden Jahren dennoch eine Dynamik entfalten sollte, die der christlichen Frömmigkeitspraxis nachhaltig ihren Stempel aufprägte. 405 Denn erst in ihrer Folge wandelte sich der Rosenkranz von einer unter vielen hochspezialisierten Gebets- und Andachtsübungen des ausgehenden Mittelalters hin zum »most popular extraliturgical prayer of the Catholic church«. 406 Der Anlass für die Entstehung dieser Bruderschaft ergab sich, vertraut man dem Bericht ihres Mitgründers, des Dominikaners und Kölner Studienrektors Michael Francisci ab Insulis (1435 - 1502), aus einer historischen Notsituation heraus. 407 Anlässlich der Belagerung der kurkölnischen Stadt Neuss durch den burgundischen Herzog Karl den Kühnen, der sich in einem militärisch eskalierenden Befugnisstreit zwischen Erzbischof Ruprecht von der Pfalz und den Landständen des Erzstifts Kölns auf die bischöfliche Seite geschlagen hatte, hätten sich 1474 einige Kölner Bürger zunächst im privaten Rahmen zum Gebet zusammengetan. 408 Ihr Ziel war dabei »Frömmigkeit als Schlachtenhilfe«: 409 Der Zweck dieses Zusammenschlusses, so Michael Francisci, bestand darin, den himmlischen Beistand der Jungfrau Maria für die baldige Aufhebung des Belagerungszustands und der damit verbundenen kriegerischen Bedrohung der Rheinmetropole zu erflehen. Derartige Bruderschaften stellten, vor allem in urbanen Sozialmilieus, eine gängige 405 Zur Geschichte der Kölner Rosenkranzbruderschaft siehe neben den folgend benutzten Primärquellen vor allem Schütz 1909, S. 20 - 47 (generell nicht zuverlässig, aber mit einem Abdruck einiger interessanter Quellen); Kliem 1963, S. 59 - 81; Klinkhammer 1972, S. 85 - 95; Schmidt 2003; Jäggi 2003, S. 92 - 94; Hatto Küffner: Zur Kölner Rosenkranzbruderschaft, in: 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976], S. 109 - 117; sowie ausgesprochen erudiert Saffrey 2001 und Ranacher 2022, S. 95 - 114. 406 Anne Winston-Allen. Tracing the Origins of the Rosary: German Vernacular Texts, in: Speculum 68.3 (1993), S. 619 - 636, hier S. 619. 407 Die Hauptquelle für die Geschichte der Bruderschaftsgründung ist eine von ihm im Dezember 1475 gehaltene, kurz als Quodlibet bekannte Verteidigungsvorlesung über die Kölner Rosenkranzbruderschaft. Dieses Werk wurde in der Folge mehrfach gedruckt, wobei der erste und vom Autor später als unautorisiert und verfälschend widerrufene Druck von 1476 die Entstehungsgeschichte der Bruderschaft wesentlich kürzer fasst. Ab dem von Arnold ter Hoernen besorgten und inhaltlich von Michael Francisci überarbeiteten Kölner Druck von 1480 findet sich die ausführliche, hier inhaltlich wiedergegebene Gründungsgeschichte, siehe Michael Francisci ab Insulis: Quodlibet de veritate fraternitatis rosarii BMV, Köln: Arnold ter Hoernen 1480 (GW 10260), fol. b1v - b2v. Ediert ist die Schrift nach diesem Druck bei Scheeben 1951. 408 Zu diesem historischen Hintergrund der Kölner Stiftsfehde vgl. ausführlich und mit weiteren Quellen Saffrey 2001, S. 144 - 149. 409 Ranacher 2022, S. 104. <?page no="181"?> Organisationsform spätmittelalterlicher Frömmigkeit dar. 410 Die Kölner Verbrüderung bedeutete in diesem Sinne keineswegs eine sprunghafte Innovation. Über große Teile des deutschsprachigen Raums hinweg waren solche, oft anlassgebundene oder berufsgruppenspezifische Vereinigungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits seit langer Zeit fest etabliert. 411 Allgemein können Bruderschaften hierbei breit verstanden werden als »lay religious organisation[s]« 412 oder, deutlich enger gefasst, als »Gebetsgemeinschaften des wechselseitigen Gebetsbeistandes und des gemeinschaftlichen Gebetsgedächtnisses«. 413 Wie André Schnyder ausführt, versprachen die Mitglieder »einander für das hiesige Leben und den Tod Unterstützung beim Erwerb des Seelenheils, dieser großen Sorge eines Christen; neben diesen Hauptzweck konnten andere, namentlich aufs Materielle gerichtete, treten«. 414 Seit dem Hochmittelalter hatten sich solche Zusammenschlüsse in den mittelalterlichen Städten verbreitet und waren zum festen Bestandteil des religiösen Lebens frommer Laien geworden, wobei die Übergänge zu »Formen und Ideale[n] priesterlichen und mönchischen Lebens« sich fließend gestalteten. 415 Was aber zeichnete die Kölner Gründung in so besonderem Maße aus, dass sie nicht, wie die Vielzahl vergleichbarer Vereinigungen, bald wieder in Vergessenheit geriet? Denn wie Henri Dominique Saffrey anmerkt, handelte es sich hier im Grunde um eine »intitiative qui n ’ était pas spécialement originale - Cologne comptait déjà de très nombreuses confrèries religieuses à cette époque«. 416 So waren in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Stadt insgesamt 37 Bruderschaften urkundlich nachweisbar aktiv, deren Zahl sich bis 1500, also in dem Zeitraum, in den auch die Gründung der Rosenkranzbruderschaft fällt, auf 76 erhöhte. 417 Um die enorme Strahlkraft zu verstehen, die die Rosenkranzbruderschaft dennoch entwickelte, lohnt ein genauerer Blick sowohl auf ihre Protagonisten als auch auf die ihr zugrundeliegenden Gebets- und Andachtsübungen. Zentraler Initiator der Kölner Bruderschaftsgründung war der ursprünglich aus Basel stammende Prior des örtlichen Dominikanerkonvents Jakob Sprenger (1435 - 1495), der in späteren Jahren vor allem als Inquisitor und möglicher Mitautor des Malleus maleficarum zu zweifelhaftem Ruhm gelangen sollte. 418 Wie sein oben bereits erwähnter Ordensbruder und Unterstützer Michael Francisci berichtet, rüstete sich die Kölner Stadtbevölkerung 1474 angesichts der akuten Kriegsbedrohung nicht nur mit Waffen und Vorräten aus, 410 Einen fundierten Überblick über Begriff und Geschichte des spätmittelalterlichen Bruderschaftswesens gibt Schnyder 1986, S. 15 - 36. 411 Siehe die großangelegte Übersicht bei Meersseman 1977. 412 Konrad Eisenbichler: Introduction: A World of Confraternities, in: A Companion to Medieval and Early Modern Confraternities, hg. v. Konrad Eisenbichler, Leiden/ Boston 2019 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 83), S. 1 - 22, hier S. 3. 413 Bernhard Schneider: Wandel und Beharrung. Bruderschaften und Frömmigkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Volksfrömmigkeit in der frühen Neuzeit, hg. v. Hansgeorg Molitor, Münster 1994 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 54), S. 65 - 87, hier S. 66. Zum Problem der Definition von › Bruderschaft ‹ im Spätmittelalter siehe auch unten, Kap. II.5.2. 414 Schnyder 1986, S. 29. Ranacher führt aus: »Grundsätzlich kann die gemeinschaftlich organisierte Jenseitsvorsorge als die Intention einer jeden Bruderschaft angesehen werden« (Ranacher 2022, S. 247). 415 Ebd., S. 31. So begann der Franziskanerorden als Bußbruderschaft von Laien und wurde durch Innozenz III. schließlich in einen Mönchsorden umgewandelt (vgl. ebd.). 416 Saffrey 2001, S. 143. 417 Militzer 1997, S. XI - CXLVIII, hier S. XXXIII. 418 Vgl. André Schnyder: Art. Jakob Sprenger, in: 2 VL 9 (1995), Sp. 149 - 157. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 181 <?page no="182"?> sondern nahm auch im Gebet Zuflucht zu den Stadtpatronen, also den heiligen drei Königen sowie der heiligen Ursula mit ihren 10.000 Gefährtinnen, besonders aber zur Jungfrau Maria. Angesichts dieser aufgeladenen Situation habe Sprenger den folgenschweren Entschluss gefasst, eine Marienbruderschaft zu gründen et devotionem illam antiquam de eiusdem virginis rosario, pro parte abolitam, renovare, ut ipsa virgo praedictam civitatem a periculis tunc imminentibus protegere et praeservare dignaretur. 419 Den kurz darauf tatsächlich erfolgenden Abzug des burgundischen Herzogs und den anschließenden Friedensschluss fassten die Kölner Bürger als wundersame Erhörung der so vorgebrachten Bitten an Maria auf. Zum Dank dafür und auch, um der Stadt den fortdauernden Schutz Marias zu sichern, habe Sprenger die Rosenkranzbruderschaft am 8. September 1475 feierlich und unter Anwesenheit zahlreicher städtischer Würdenträger offiziell eingerichtet: 420 Idem praenominatus prior de consilio magistrorum et patrum sui conventus ad precesque et vota multarum utriusque sexus eiusdem civitatis devotarum personarum, quod conceperat, adimplevit atque praefatam fraternitatem [ … ] instituens, eam in festo nativitatis beatae virginis Mariae eiusdem anni. 421 Soweit die bei Michael Francisci bereits teilweise legendenartig überformte Gründungsgeschichte der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475. Das »Öffentlichmachen der Gemeinschaft« mit Bezug auf die erfolgreich abgewehrte Bedrohung Kölns durch Karl den Kühnen muss dabei, so Christian Ranacher, »vornehmlich als ein strategischer Schachzug der Organisatoren« bewertet werden. 422 Die behauptete Wirkung des Betens der Bruderschaft, den Abzug der burgundischen Truppen ausgelöst zu haben, erleichterte ihre 1476 erteilte kirchliche Approbation und vermittelte die Protektion Kaiser Friedrichs III. 423 Ganz gleich also wie eng die von Michel Francisci berichteten Geschehnisse mit den historischen Fakten übereinstimmen, müssen sie als »key factor in the popularization of the rosary prayer« gelten. 424 Denn wie Wolfgang Kliem zusammenfasst, arrivierte die »Kölner Bruderschaft zum Ausgangspunkt einer Rosenkranzbewegung, die in den wenigen Jahrzehnten bis zur Reformation große Teile des Volkes erfaßte« 425 - der hier gegründete Zusammenschluss fungierte als zentraler Motor für die Transformation des Rosenkranzes hin zum frömmigkeitspraktischen Kernbestand einer religiösen Massenbewegung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. 419 »und jene alte, weitestgehend aufgegebene Andacht vom Rosenkranz jener Jungfrau [d. i. Maria] zu erneuern, damit diese Jungfrau sich geruhe, die erwähnte Stadt [d. i. Köln] vor der damals drohenden Gefahr zu beschützen und zu bewahren«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 141. 420 Dass dieses Gründungsnarrativ in den zeitgenössischen Quellen durchaus variiert, zeigt Ranacher 2022, S. 101 - 113. 421 »Der bereits erwähnte Prior verwirklichte auf Rat der Gelehrten und Patres seines Konvents und auf Bitten und Drängen vieler frommer Personen beiderlei Geschlechts aus dieser Stadt das, was er sich vorgenommen hatte, [ … ] und richtete am Fest Mariä Geburt desselben Jahres die angedachte Bruderschaft ein«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 141. 422 Ranacher 2022, S. 113. 423 Vgl. ebd. 424 As-Vijvers 2007, S. 49. 425 Kliem 1963, S. 82. 182 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="183"?> 5.1 Übernahme oder Modifikation eines Gemeinschaftsmodells? Die Kölner Bezüge zu Alanus Dabei wurde die Organisationsform der Rosenkranzbruderschaft von Jakob Sprenger und Michael Francisci nicht vorbildlos erdacht, sondern schöpfte aus den oben behandelten Schriften des Alanus von Rupe. Folglich berichten auch die Kölner Bruderschaftsstatuten, Jakob Sprenger habe zwar ernewert und wider aufgericht das alt herkommen gebet der rosen krentz Unser Lieben Frawen, es allerdings nicht erfunden. 426 Auch die Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen sowie das Mirakel von Marien Rosenkranz dürften den Kölner Dominikanern wohlbekannt gewesen sein. 427 Zwischen Alanus von Rupe, Jakob Sprenger und Michael Francisci bestanden sowohl persönliche wie auch institutionelle Kontakte. Saffrey geht soweit, über die Verbindung des letztgenannten zu seinem bretonischen Ordensbruder knapp zu konstatieren: »Il est son élève.« 428 In jedem Fall scheinen sich die beiden Dominikaner sowohl an der Universität von Paris begegnet zu sein als auch während Michael Franciscis Jahren im Kloster Douai von 1465 bis 1468, wo Alanus von Rupe als Lesemeister tätig war. 429 In der ersten Ausgabe des Quodlibet von 1476 merkt Michael Francisci an, er habe einige Details zum Rosenkranz im Gespräch ab ore praefati magistri Alani gehört, im zweiten und autorisierten Druck von 1480 spricht er sogar von magister Alanus, cuius discipulus aliquando esse merui. 430 Die sich hier andeutende persönliche Beziehung spielte für die Übernahme der von Alanus vorgeschlagenen Gebetsweise in Köln eine nicht zu unterschätzende Rolle. Mindestens ebenso entscheidend dürfte die gemeinsame Zugehörigkeit zur dominikanischen Observanzbewegung gewesen sein, welche die drei Dominikanermönche Alanus von Rupe, Jakob Sprenger und Michael Francisci verband. Ab dem späten 14. Jahrhundert formierte sich im Predigerorden, genau wie in vielen anderen monastischen Gemeinschaften, eine Reformbewegung, die sich vor allem einer strikten Befolgung der Ordensregel sowie allgemein einem Ideal der spirituell intensivierten vita apostolica in der Nachfolge Christi verpflichtet fühlte. 431 Die observanten Klöster, die in ihren Bestrebungen »both a societal need and an internal self-correction of a religious order« sahen, 432 426 »erneuert und wiederhergestellt das von alters her überlieferte Gebet der Rosenkränze Unserer Lieben Frau«, Militzer 1997, S. 508. 427 Dafür spricht nicht nur die Erwähnung des Mirakels und der Trierer Kartause bei Michael Francisci, sondern auch die Tatsache, dass sich die Rosenkranzklauseln im Augsburger Statutendruck von 1477 finden; vgl. dazu die Diskussion unten, Kap. II.5.2. 428 Saffrey 2001, S. 149. 429 Siehe zu diesen biographischen Überschneidungen zwischen den beiden Autoren ebd. sowie ausführlich Scheeben 1951, S. 111 - 114. 430 »aus dem Munde des erwähnten Meisters Alanus«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 102; »Meister Alanus, dessen Schüler ich einstmals zu sein verdiente«, ebd., S. 154. 431 Siehe dazu einleitend James D. Mixson u. Bert Roest (Hgg.): A Companion to Observant Reform in the Late Middle Ages and Beyond, Leiden/ Boston 2015 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 59). 432 Anne Huijbers: Zealots for Souls. Dominican Narratives of Self-Understanding during Observant Reforms, c. 1388 - 1517, Berlin/ Boston 2018 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF 22), S. 214. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 183 <?page no="184"?> organisierten sich in Reformkongregationen. Dies traf auch auf die Dominikanerklöster der niederdeutschen und niederländischen Ordensprovinz zu: »Die observanten Konvente der Saxonia fanden größtenteils in der Congregatio Hollandica Aufnahme«, 433 in der seit 1464 sowohl das Kölner Kloster als auch die Ordensniederlassung in Douai organisiert waren. 434 Die Verbreitung des Rosenkranzes und die mit ihr verbundenen Bruderschaftsgründungen erfolgten vielfach über diese Reformnetzwerke und die in ihnen engagierten Ordensbrüder. 435 Ein genauerer Blick zeigt, dass Jakob Sprenger und Michael Francisci bei der Gründung der Kölner Rosenkranzbruderschaft an der von Alanus von Rupe geschilderten Organisations- und Gebetsform einige entscheidende Änderungen vornahmen. Zwar übernahmen die Kölner Gründer die Leitideen der geistlichen Gütergemeinschaft und des füreinander zu leistenden Mariengebets sowie die Festlegung, dass die Unterlassung dieses Gebets keine zu bestrafende Sünde bedeute, 436 direkt von Alanus. Dennoch aber war die Kölner Rosenkranzbruderschaft, entgegen immer noch weiterkolportierter Forschungsmeinungen, nicht exakt »modelée sur celle de Douai«. 437 Treffsicherer lässt sie sich als modifizierende und teils auch innovative Adaptation von Gebets- und Gemeinschaftsmodellen beschreiben, die über Alanus, jedoch auch über das Trierer Rosenkranzkorpus 433 Klaus-Bernward Springer: Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit, Berlin 1999 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF 8), S. 16. Siehe weiterführend Albert de Meyer: La Congrégation de Hollande ou la Réforme dominicaine en territoire bourguignon, 1465 - 1515, Liège 1946. Neben der Congregatio Hollandica spielte auch die Congregatio Lipsiensis, der zweite große Zusammenschluss observanter Dominikanerkonvente im niederdeutschen und niederländischen Sprachraum, eine wichtige regionale Rolle. 434 Siehe ausführlicher Klinkhammer 1972, S. 87. 435 Ranacher 2022, S. 129 führt aus, dass beim Blick auf »im Anschluss an Köln ins Leben gerufene Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft« auffalle, »dass dort meistens Dominikanerkonvente vertreten waren, die entweder direkt der Holländischen Kongregation angehörten oder eben reformiert waren«. Mit der ab den 1490ern aktiven Rosenkranzbruderschaft in Freiburg im Breisgau läge, so Ranacher, freilich auch ein Gegenbeispiel vor, da das dortige männliche Ordenshaus nicht reformiert gewesen sei. Was Ranacher hierbei nicht in Betracht zieht, ist die Tatsache, dass die weiblichen Freiburger Klöster des Predigerordens, die ebenfalls an der dortigen Rosenkranzbruderschaft beteiligt waren (vgl. ebd., S. 174), geradezu zu den Hochburgen der Ordensreform gehörten, so dass auch in diesem Fall ein Bezug zur Observanzbewegung besteht. Grundsätzlich betten sich die Kölner Rosenkranzbruderschaft und die durch sie popularisierte Gebetsweise also in die erstaunliche Masse der Andachtsübungen und entsprechenden religiösen Vergemeinschaftungs- und Texttraditionen ein, die im Fahrwasser der monastischen Reformbestrebungen vor allem des 15. Jahrhundert entstanden. Ein Großteil vor allem der ganz oder in großen Teilen volkssprachigen Gebets- und Andachtsliteratur kam im Kontext observanter Klöster auf und disseminierte über ihre eng gestrickten Netzwerke. Vgl. zum Thema z. B. Werner Williams-Krapp: Ordensreform und Literatur im 15. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986/ 1987), S. 41 - 51; Antje Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4); sowie neuerdings Claire Taylor Jones: Ruling the Spirit. Women, Liturgy, and Dominican Reform in Late Medieval Germany, Philadelphia, PA 2018. 436 Hinter dieser »Nicht-Sanktionierung« einer Verletzung der Bruderschaftspflichten, so Ranacher, steht primär der Gedanken, »dass die Gebetspflicht keinem Mitglied zur Last werden sollte« (Ranacher 2022, S. 190). Ähnliche Prinzipien, nach denen Pflichtverstöße zwar mit persönlichen Konsequenzen bedacht aber nicht als Sünde betrachtet werden, fänden sich bereits in der frühen dominikanischen Regelliteratur. 437 de Meyer 1946, S. LXXX. 184 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="185"?> sowie durch Einflüsse des vorgängigen Kölner Bruderschaftswesens vermittelt worden waren. 438 Zunächst nämlich erleichterten die Kölner Dominikaner das verlangte Gebetspensum im Vergleich zu den Regeln des Tractatus apologeticus recht drastisch. Alanus forderte wie oben ausgeführt, die 150 Ave Maria samt den damit verbundenen Vaterunser und entsprechenden Meditationspunkten täglich zu beten. Sprenger und Michael Francisci übernahmen zwar weitgehend die Form dieser Gebetsübung, riefen jedoch dazu auf, dieses bloß einmal wöchentlich zu vollbringen. »Diese Verringerung der geforderten Anzahl gegenüber der alanischen Bruderschaft war«, so Küffner, »sicher auch ein Grund für den ungewöhnlichen Erfolg der Kölner Gründung.« 439 Wie Michael Francisci berichtet, geschah die Reduktion als Eingeständnis an die Lebensrealitäten frommer Laien in der Stadt des 15. Jahrhunderts. So habe man aus Rücksicht auf die varias [ … ] hominum occupationes, distractiones et etiam indevotiones, propter quas aut non possent aut non volunt omni die tantum numerum salutationum dicere, auf die Vorschrift eines täglichen Gebets verzichtet. 440 Die von Alanus erdachte Form einer frommen Gebetsgemeinschaft wurde somit für breite Bevölkerungsschichten vor allem im urbanen Raum praktikabel. Neben dem Kernbestand des wöchentlichen Reihengebets listen Michael Francisci und Jakob Sprenger noch einige Nebenleistungen auf, zu denen die Mitglieder der Kölner Rosenkranzbruderschaft aufgefordert waren. Darunter fällt vor allem die Teilnahme an der Salve-regina-Prozession in der Predigerkirche in Köln an Wochenenden und Festtagen. Mitgliedern, die am Kommen verhindert waren, war freigestellt, die Prozessionsteilnahme durch das Gebet eines Salve regina oder durch sieben Ave Maria zu ersetzen. 441 Zudem verpflichteten die Kölner Dominikaner sich, viermal im Jahr ein Anniversarium, also einen Totengottesdienst, für die verstorbenen Bruderschaftsmitglieder zu feiern. Diese an den marianischen Hochfesten abgehaltenen liturgischen Feiern bildeten »einen wichtigen Dienst für die Bruderschaft« und wurden von Sprenger geradezu angepriesen: 442 Z ů dem leczten so hat sich verpunden der groß convent Prediger ordens z ů Kölen, alle iar z ů vier malen ein lannge vigil mit newn lection und ein selampt loplichen z ů singen z ů hilff den armen selen der menschen, die auß der br ů derschafft abgestorben seind, und das geschicht auff die vier nämlich fest Unser Frauwen, welches ein besunders g ů t barmherczig werck ist, wann vil menschen verscheyden auß disem czeit, den leider wenig g ů tes nach geschicht. Wider die selben versaumnuß mag sich der mensch bewaren und behüten, der da kommet in diese br ů derschafft. 443 438 Über den Einfluss z. B. der Trierer Kartause oder zeitgenössischer Marienmirakel auf das von Sprenger und Michael Francisci propagierte Rosenkranzgebet wird unten noch genauer eingegangen. Teils dürfte hier Alanus von Rupe als Vermittler gedient haben, teils schöpften die Kölner Dominikaner wohl auch aus anderen Quellen. 439 Küffner 1976, hier S. 115. 440 »die verschiedenen Berufe, Ablenkungen und auch die Frömmigkeitsdefizite der Menschen, wegen derer sie nicht jeden Tag eine so große Zahl an [Marien-]Grüßen sprechen konnten oder auch wollten«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 101. 441 Siehe Kliem 1963, S. 73; sowie Scheeben 1951, S. 122. 442 Kliem 1963, S. 74. 443 »Zuletzt hat sich der große Predigerkonvent in Köln zusammengeschlossen, um viermal jährlich eine lange Vigilie mit neun Lektionen und einer Seelmesse in lobenswerter Weise zu singen, zur Hilfe für die armen Seelen der Menschen, die aus dieser Bruderschaft verstorben sind. Und dies passiert zu den 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 185 <?page no="186"?> Diese Bewerbung der Anniversarien zeigt zunächst, wie sehr die Rosenkranzbruderschaft, so sehr sie sich auch in den Folgejahren europaweit ausbreitete, zu Beginn eine Kölner Angelegenheit war. Zwar spielen, wie Kliem ausführt, die Schriften Sprengers und Michael Franciscis bereits früh mit dem von Alanus inspirierten Gedanken einer weltumspannenden »großen Verbrüderung«, 444 in ihrer Organisationsform und ihrem sozialen Bezug blieb die Rosenkranzbruderschaft jedoch zunächst auf die Rheinmetropole und eine 1476 erfolgte Filialgründung in Augsburg beschränkt. Die »Lösung der lokalen Verankerung« und ihre Ersetzung durch einen »transregionalen Anspruch bei gleichzeitiger Einheit der Gemeinschaft«, die Christian Ranacher schlüssig als Charakteristika der in den Folgejahrzehnten florierenden Bruderschaft bestimmt, 445 müssen daher eher als Resultat einer prozessualen Entwicklung dieser Korporationsform gelten, die sich in Reaktion auf den eigenen ortsübergreifenden Erfolg schnell dezentralisierte. Auch die Tatsache, dass Michael Francisci vorschreibt, beim Bruderschaftsgebet intentionem suam ad primarium fundationis locum, scilicet ad conventum Praedicatorum in Colonia, et ad omnes illius fraternitatis fratres et sorores referre, illustriert, wie sehr die Stadt Köln und das dortige Dominikanerkloster das Zentrum des Gebetszusammenschlusses bildeten. 446 In der Kölner Predigerkirche befand sich auch der bei der offiziellen Gründungszeremonie 1475 geweihte Bruderschaftsaltar, an dem das Register der Mitglieder auslag und der ursprünglich von einem prächtigen Altarbild geschmückt wurde, das eine Schutzmantelmadonna zeigte, die von den Gläubigen gebetete Blumenkränze in Empfang nahm. 447 Zusätzlich zu dieser Einbettung in den Sozialkontext der Stadt des ausgehenden Mittelalters erscheinen auch die prinzipielle Organisationsform sowie die Gebetspraxis der Kölner Rosenkranzbruderschaft aufschlussreich. Wer konnte überhaupt unter welchen Bedingungen der Rosenkranzbruderschaft beitreten, und welche Bedeutung kam einer Mitgliedschaft in diesem Zusammenschluss zu? Zu welcherlei Frömmigkeitsleistungen verpflichteten sich ihre Mitglieder, und was für Gebetsanweisungen und -texte waren ihnen dazu an die Hand gegeben? vier besonderen Festen Unserer Frau, was ein besonders gutes barmherziges Werk ist, da nämlich viele Menschen aus dieser Welt verscheiden, ohne dass ihnen danach viel Gutes zuteilwird. Vor diesem Versäumnis kann sich der Mensch dadurch bewahren und behüten, dass er dieser Bruderschaft beitritt.« Militzer 1997, S. 515. 444 Kliem 1963, S. 68. 445 Ranacher 2022, S. 151. In der These, Köln habe bloß die Rolle »eines in erster Linie ideellen Zentrums und Identifikationspunktes« gespielt, möchte ich Ranacher nur insofern zustimmen, als dass die Entwicklung der Rosenkranzbruderschaft bald auf ein derart dezentralisiertes Organisationsmodell hinauslief. Dass Sprenger und Francisci von Beginn an eine dergestalt ortsungebundene Gemeinschaft intendierten, scheint mir hingegen aufgrund der wie aufgezeigt sehr prominenten Rolle Kölns sowie der dortigen Kirchen und religiösen Institutionen in den frühen Bruderschaftsdokumenten nicht wirklich belegbar. 446 »seine Absicht auf den ersten Gründungsort, also auf das Dominikanerkloster in Köln zu richten und auch auf alle Brüder und Schwestern dieser Bruderschaft«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 122. 447 Vgl. Augusta von Oertzen: Maria, die Königin des Rosenkranzes. Eine Ikonographie des Rosenkranzgebetes durch zwei Jahrhunderte deutscher Kunst, Augsburg 1925, S. 19 f. 186 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="187"?> 5.2 Die Bruderschaft als Organisationsform der gegenseitigen Fürbitte Ein zentrales Problem für die Erforschung des spätmittelalterlichen Bruderschaftswesens besteht darin, dass sich diese Organisationsform, die im religiösen Leben der Städte des 15. Jahrhunderts beinahe omnipräsent ist, ausgesprochen schwer definieren lässt. »Bruderschaft war im Mittelalter ein Begriff, dem keine einheitliche Realität entsprach.« 448 André Schnyder schlägt diesbezüglich vor, zunächst grob zu unterscheiden zwischen der »Bruderschaft des Typs geldonia«, die einen freiwilligen »durch Eid und gemeinsames Mahl« verbindlich gemachten Personenzusammenschluss zur gegenseitigen Hilfe in verschiedensten, oft praktischen Belangen darstellte, sowie dem Typ der »fraternitas« oder Konfraternität, die rechtlich weniger formalisiert war und sich zumindest vorrangig auf die spirituelle Unterstützung ihrer Mitglieder fokussierte. 449 Vornehmlich letzterer Typ interessiert an dieser Stelle. Die zeitgenössische lateinische Bezeichnung fraternitas konnte sich jedoch auf ganz verschiedene Arten von religiös motivierten Sozietäten beziehen, die sich in Organisationsgrad, Aktivitätsfeldern und Mitgliederstruktur stark voneinander unterschieden. 450 Grundsätzlich kann jede »freiwillige, auf Dauer angelegte Personenvereinigung mit primär religiös/ caritativen Aktivitäten« als Konfraternität verstanden werden, wobei solche Organisationen zumeist in Städten und »als kirchliche Sondergruppen innerhalb oder neben der Pfarrei« bestanden. 451 Eine ungefähre Typologie spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fraternitäten schlägt Rupert Klieber vor, der für das Mittelalter zwei Grundmodelle unterscheidet, denen dieser Organisationstyp folgte. Weit verbreitet waren zunächst Bruderschaften nach dem Modell der »lokal verwurzelte[n] Totenkult-Gemeinschaft«, deren Mitglieder sich gegenseitig vor allem ein angemessenes Begräbnis und anhaltende Totenmemoria zusicherten. 452 In diese Kategorie fallen unter anderem berufsgebundene Vereinigungen besonders von Handwerkern, die gemeinsam karitative Aufgaben erfüllten, die Beerdigung und das postume Angedenken verstorbener Kollegen organisierten sowie zudem eine Art professionelles Netzwerk bildeten. 453 Zwischen derartigen Bruderschaften, die oftmals als Vorgänger des modernen Vereinswesens begriffen werden, und verwandten, aber dem Typ der Gildenbruderschaft zugehörigen Organisationsformen wie beispiels- 448 Kliem 1963, S. 33. 449 Schnyder 1986, S. 28 f. 450 Eine Übersicht über diese Problematik und verschiedene Definitionsversuche gibt Militzer 1997, S. XI - XVIII. 451 Ludwig Remling: Sozialgeschichtliche Aspekte des spätmittelalterlichen Bruderschaftswesens in Franken, in: Einungen und Bruderschaften in der spätmittelalterlichen Stadt, hg. v. Peter Johanek, Köln 1993 (Städteforschung A 32), S. 149 - 161, hier S. 151. 452 Rupert Klieber: Die vielen Bruderschaften und der Organisationstypus › Fraternität ‹ : Angebote zur Aufschlüsselung eines bedeutenden Sektors religiöser Dienstleistungen, in: Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister der Frühen Neuzeit in Zentraleuropa, hg. v. Elisabeth Lobenwein, Martin Scheutz u. Alfred Stefan Weiß, Wien 2018 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 70), S. 107 - 116, hier S. 109. 453 Hierzu zählt z. B. die 1440 neugeordnete Bruderschaft der Kölner Dachdecker, die André Schnyder ausführlich untersucht hat (vgl. Schnyder 1986, S. 463 - 495). 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 187 <?page no="188"?> weise Handwerkszünften lässt sich in vielen Fällen nicht befriedigend trennscharf differenzieren. 454 Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 jedoch folgt einem anderen Modell. Sie entspricht Kliebers zweitem Bruderschaftstypus, den auf dem »Prinzip der geistlichen Gütergemeinschaft« beruhenden Gebetsverbrüderungen, 455 wie sie im monastischen Bereich seit dem Frühmittelalter gepflegt wurden und sich im Verlauf der Zeit auch zunehmend über die klösterliche Sphäre hinaus verbreiteten. Die Mitglieder solcher Gebetsbruderschaften verpflichteten sich in erster Linie dazu, sich gegenseitig und oftmals über den Tod des Einzelmitglieds hinaus in ihr jeweiliges Beten einzuschließen. Eine prinzipielle Zweckähnlichkeit zwischen den beiden Bruderschaftsformen bestand darin, dass in beiden Fällen ihr »Hauptanliegen [ … ] das Totengedächtnis und die Fürbitte für die verstorbenen und lebenden Mitglieder« war. 456 Art und Ausmaß des hierfür zu leistenden Gebetspensums wurden, zusammen mit sonstigen organisatorischen Einzelheiten und Bestimmungen, gemeinhin durch schriftlich fixierte Regelwerke vorgegeben. Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 kann als Gebetsverbrüderung betrachtet werden, gehört also dem Typ der fraternitas an. Allerdings unterscheidet sie sich, so die überzeugende These Christian Ranacher, vor allem durch ihren sich in den Jahren nach ihrer Gründung schnell herausbildenden transregionalen Charakter von anderen zeitgenössischen Bruderschaften, für die die Bindung an einen klar definierten Raum konstitutiv war. 457 Zudem darf ihre beinahe universelle, egalitäre Zugänglichkeit als innovatives und ihren Erfolg erklärendes Merkmal der Rosenkranzbruderschaft gelten. Zusätzlich aber spielte auch die von der Rosenkranzbruderschaft gepflegte Frömmigkeitsform eine gewichtige Rolle. Eindrücklich veranschaulicht wird dies durch einen Blick auf ihre ab 1476 zunächst in Basel und Augsburg im Frühdruck erschienenen Statuten. 458 In dieser kurzen Schrift, die in den Folgejahren mehrfach nachgedruckt wurde, führt Jakob 454 Siehe z. B. Paul Trio: Confraternities as Such, and as a Template for Guilds in the Low Countries during the Medieval and the Early Modern Period, in: A Companion to Medieval and Early Modern Confraternities, hg. v. Konrad Eisenbichler, Leiden/ Boston 2019 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 83), S. 23 - 44. 455 Klieber 2018, S. 108. 456 Schmidt 2003, hier S. 48. 457 Ranacher attestiert der Rosenkranzbruderschaft daher ein »diametral anderes Organisationsmodell« im Vergleich zu den »klassischen Bruderschaften« (Ranacher 2022, S. 248). Ihre örtlichen Niederlassungen versteht er in erster Linie als »Anlaufstellen für die Einschreibung« (ebd., S. 249). Diese Charakterisierung überzeugt in Bezug auf den schon bei Alanus vorentworfenen theoretischen Universalanspruch der Rosenkranzbruderschaft, nach dem sie als ortsübergreifende Gemeinschaft aller an den Gebetsverpflichtungen teilnehmenden Gläubigen erscheint. Ob sie jedoch der historischen Praxis einzelner Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft entsprach, die z. B. prominent lokale Rosenkranzaltäre errichteten und pflegten, steht auf einem anderen Blatt und bedürfte der kleinteiligen Erforschung und Debatte. 458 Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1476 (GW M43164). Das an die Statuten angehängte und aus frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive interessante »Sterbebüchlein« sowie die darauffolgende »Ermahnung« sind bislang leider nicht ediert. Digital konsultiert wurde das Exemplar München, BSB, 4 Inc. c. a. 88. Neben dem Augsburger Rosenkranzbuch existiert noch der Druck Jakob Sprenger: Statuten des Rosenkranzbruderschaft, Basel: Bernhard Richel 1476 (GW M43168), der womöglich noch vor dem Augsburger Druck zu datieren ist, siehe Saffrey 2001, S. 153. Diesem Druck fehlen die oben erwähnten Zusatztexte; geringfügige Abweichungen im Text der Statuten sind vermerkt in der kritischen Ausgabe bei Militzer 1997, S. 507 - 517. 188 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="189"?> Sprenger aus, zu welchen Leistungen die Mitglieder seines Zusammenschlusses angehalten sind. Für die Teilnahme an der Rosenkranzbruderschaft ist insbesondere das wöchentliche Gebet ausschlaggebend. Alle Mitglieder sollen, so legt Sprenger fest, jede Woche drey rosen krentz beten, das seien z ů dreyen malen finffczig Ave Maria und z ů dreyen malen finff Pater Noster. 459 Beim Beten der Vaterunser seien das heilsbringende Blut sowie die Passion Christi zu betrachten, und die Zahl 150 sei (offenbar in Orientierung an Alanus) gewählt worden, da sie der Anzahl der Psalmen entspreche. Deshalb werde diese Form des Reihengebets auch Marienpsalter genannt. Zusammengenommen sollen diese drei Rosenkränze schlussendlich der Jungfrau Maria überreicht werden: Und dises gebet soll der mensch opffernn der werden gebererin Gottes Marie für sich und alle die, die in dieser br ů derschafft seind, mit mainung, dz sy bey irem lieben sun den allen erwerb die genad der rechtfertigung von den sünden, willig und gehorsam in den geboten gottes und behärrigkeyt in g ů ten wercken biß an daß end. 460 Grundsätzlich basiert die Kölner Rosenkranzbruderschaft damit auf der Idee der kollektiven und gegenseitigen Fürbitte zur Sicherung des gemeinschaftlichen Seelenheils. In der Hinwendung zu Maria als universeller Mittlerin des Heils hofften die Bruderschaftsmitglieder auf die Interzession der Gottesmutter, die sie in ihrer Rolle als mediatrix der göttlichen Gnade teilhaftig werden lassen sollte. 461 Dabei ist die von den Statuten vorgeschriebene Frömmigkeitspraxis durchgängig durch eine quantifizierend-ökonomisierende Kollektivierung des Betens geprägt. In einem grob anachronistischen Vergleich ähnelt diese Bruderschaft in ihrer Grundidee einer wirtschaftlichen Kooperative, bloß dass ihre Mitglieder statt Finanz- oder Arbeitsleistungen ein genau bemessenes Pensum an Gebetsleistungen beisteuerten, um so an dem durch Gebet und Ablass akkumulierten heilsmächtigen Gnadenschatz der Bruderschaft teilzuhaben. Ranacher schlägt für diese Idee den Begriff der »Heilseffizienz« vor: »Die kleine Mühe der drei Rosenkranzgebete hatte [ … ] aus Sicht der Vertreter der Rosenkranzbruderschaft die Überwindung des Fegefeuers zur Folge.« 462 In ihrem Ziel, gemeinsam »zu einer höchstmöglichen Anzahl zu gelangen und die Gebete Gott als Opfer darzubringen«, 463 gehört die von Sprenger initiierte Gebetsverbrüderung dabei in den großen Bereich der gezählten Frömmigkeit des Mittelalters, die auf der Vorstellung einer nach dem Prinzip der heilswirksamen Äquivalenz funktionierenden Gabenökonomie basierte. 464 In den Statuten ist zunächst nicht exakt ausgeführt, ob und wenn ja mit welchen Formen des Eintauchens in bestimmte Betrachtungspunkte das verlangte Reihengebet 459 »drei Rosenkränze«, »dreimal fünfzig Ave Maria und dreimal fünf Vaterunser«, Militzer 1997, S. 511. 460 »Und dieses Gebet soll der Mensch der würdigen Gottesgebärerin Maria darbringen für sich und für all diejenigen, die in dieser Bruderschaft sind, mit der Bitte, dass sie ihnen allen bei ihrem lieben Sohn die Gnade der Sündenvergebung erwerbe, Willen und Gehorsam bei der Befolgung der göttlichen Gebote und Beständigkeit in guten Werken bis zum Ende«, Militzer 1997, S. 512. 461 Zur Vorstellung Marias als mediatrix vgl. Eva Rothenberger: Ave praeclara maris stella. Poetische und liturgische Transformationen der lateinischen Mariensequenz im deutschen Mittelalter, Berlin 2019 (Liturgie und Volkssprache 2), S. 92 - 95. 462 Ranacher 2022, S. 238. 463 Angenendt 2009, S. 536. 464 Einen konzisen Überblick über dieses Frömmigkeitsphänomen bieten Angenendt u. a. 1995. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 189 <?page no="190"?> verbunden werden sollte. Die Aufforderung, beim Beten der Vaterunser sei an das vergossene rosen rott pl ů t Cristi Jhesu und die durch seinen Kreuzestod bewirkte Erlösung zu denken, 465 weist zwar auf eine über das bloße Aufsagen und Abzählen von Gebetsformeln hinausgehende Passionsbetrachtung, deren Kenntnis und Beherrschung in Sprengers Statuten vorausgesetzt wird, sie gibt hierzu allerdings keine detaillierten Instruktionen. »Although Sprenger ’ s text links the Paternosters to the Passion of Christ, it does not specify particular Ave-meditations.« 466 Trotzdem ist davon auszugehen, dass eine das Leben und Leiden Christi vergegenwärtigende Andachtsübung hier mitgedacht ist. Angesichts des frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexts der Bruderschaftsstatuten ist dabei sowohl an Alanus ’ oben behandelte 15 Betrachtungspunkte zu denken wie auch an die Trierer Rosenkranzklauseln, die sich beispielsweise auch im auf 1477 datierenden Augsburger Druck der Kölner Bruderschaftsstatuten finden und dort explizit als der Bruderschaft anempfohlene Meditationsweise markiert sind. 467 Auch die Vorstellung einer Figuration von geistlich-konkreten Blumenkränzen, die auf der Annahme einer »wirklichkeitsstiftenden Macht der Gebete« beruht, bleibt in den Bruderschaftsstatuten präsent. 468 Wenn Sprenger dort schreibt, der Betende solle je nach czehen weissen rosen [ … ] ein rote rosen enczwischen setzen und mit den Blumen die Ave Maria und Vaterunser meint, wird offensichtlich, wie sehr auch hier das Bruderschaftsgebet als innere Fertigung einer überstofflichen Kranzgabe verstanden ist. 469 Dabei nimmt, da die weißen Rosen wohl für die Reinheit Mariens stehen und die roten Rosen ausdrücklich das vergossene Blut Christi meinen, der gebethaft hergestellte Gegenstand allegorische Züge an. Dies erinnert erstens an die allegorischen Ausführungen im Rosengertlin- Traktat, andererseits aber deutet es auf Gebetsformen, in denen die gebetete Gabe gleichsam zum mit komplexer Zeichenbedeutung aufgeladenen Betrachtungsgegenstand wird. Hierunter zählen besonders die Marienmantelgebete, die ich im Folgekapitel in den Blick rücke. Obzwar damit sowohl das imaginierende Herstellen gebeteter Dinge als auch ein immersiv-meditativer Umgang mit dem Leben und der Passion Christi das in der Rosenkranzbruderschaft vorgeschriebene Gebet kennzeichnen, ist kaum zu übersehen, dass diese Aspekte des Rosenkranzes hier deutlich hinter die Idee der betenden Gnadenakkumulation zurückfallen. Dabei verändert auch das Zählen seine Rolle. In der Logik der Bruderschaftsstatuten dient der Rosenkranz nun weniger der eine unzählbare Nähe zur Transzendenz herstellenden Hinkehr bei gleichzeitiger Versenkung in das Heilsgesche- 465 »rosenrote Blut Jesu Christi«, Militzer 1997, S. 511. 466 Winston-Allen 1997, S. 68. 467 Vgl. Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1477 (GW M38911), fol. 7r - 10v; sowie Saffrey 2001, S. 158 - 160. Schmidt geht - allerdings ohne genauere Erklärung - davon aus, dass die jeweilige Ausgestaltung der Betrachtungen zum Rosenkranz in der Kölner Bruderschaft von den individuellen Betenden frei vorgenommen werden konnte: »Jedenfalls enthalten die Statuten und frühen Schriften zur Kölner Rosenkranzbruderschaft, wie das Quodlibet, zunächst keinerlei Aussagen oder Vorschriften bezüglich bestimmter Gesätze, die es zusammen mit dem Ave Maria zu beten galt. Im Sinne der Devotio moderna war es also dem einzelnen [sic] überlassen, in welcher Ausformung er den Marienpsalter in seiner persönlichen Frömmigkeitsausübung betete« (Schmidt 2003, S. 60). 468 Lentes 1993, S. 121 und 123. 469 »nach zehn weißen Rosen [ … ] eine rote Rose«, Militzer 1997, S. 511. 190 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="191"?> hen, sondern weist eher auf den Quantifizierungsgedanken einer Gabenökonomie des Heils. Zumindest die äußeren Rahmenbedingungen des Reihenbetens sind dabei, genau wie bereits bei Dominikus von Preußen und Alanus von Rupe, individuell adaptierbar gehalten. Denn wann und wo die verlangten 150 Mariengrüße und 15 Vaterunser gesprochen und ob sie am Stück geleistet oder auf verschiedene Wochentage verteilt werden sollen, wird in den Statuten ausdrücklich freigestellt. Zudem expliziert Sprenger, dass es keine Sünde sei, das wöchentliche Gebet auszulassen. Für solche Unterlassungen drohe keine Strafe, und das nicht geleistete Gebet müsse auch nicht nachgeholt werden. Jedoch ruhe, solange ein Mitglied seinen Gebetsverpflichtungen nicht nachkomme, gleichsam auch seine Mitgliedschaft und es habe in dieser Zeit nicht teil am akkumulierten Gnadenschatz derjenigen, die in der Bruderschaft beteten. 470 Diese hohe Unverbindlichkeit, die auch im Quodlibet Michael Franciscis betont wird, 471 verleiht der Bruderschaft weniger den Charakter einer straffen, mit bei Nichteinhaltung sanktionierbaren Mitgliedspflichten verbundenen Organisation als vielmehr den eines Frömmigkeitszusammenschlusses, der auf Freiwilligkeit, personalisierbaren Formen der andachtsvollen Partizipation und grundsätzlich niedrigschwelliger Zugänglichkeit aufbaut. 472 Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass Sprenger einen stellvertretenden und sogar postumen Beitritt in die Rosenkranzbruderschaft ermöglicht, denn: ob ein br ů der oder schwester beten wölten dises gebet der drey rosenkrentz für ein sel, die yecz gescheyden ist auß der zeit, ist die selbig sel begriffen in dem fegfewr, so wirt sy auch teylhafftig des gebettes aller brüder und schwestern der ganczen br ů derschafft. 473 Wer allerdings zu Lebzeiten Mitglied der Bruderschaft gewesen sei, brauche diese Fürbitte nicht, sondern habe automatisch an der Gnadenwirkung des Bruderschaftsgebets teil. Hieran illustriert sich, ganz gemäß der These Kliebers, das »Fundament« des mittelalterlichen Bruderschaftswesens sei stets »der Dienst an den Toten« gewesen, 474 wie stark die Kölner Rosenkranzbruderschaft auf eine Sicherung des Seelenheils nach dem Tode orientiert war. Sowohl den Betenden selbst als auch all denjenigen, für die durch Ableistung von 150 Ave Maria Fürbitte geleistet wurde, sollte durch die angenommene Heilswirkung der gemeinschaftlich angehäuften Rosenkränze aus dem Fegefeuer geholfen werden. Dass diese Form der betenden Stellvertretung sich jedoch nicht nur auf Verstorbene beschränkte, sondern auch für Lebende geleistet werden konnte, expliziert Michael Francisci, der es freistellt, das Bruderschaftsgebet per se vel per alium dicere 470 Vgl. Militzer 1997, S. 512 - 513. 471 Vgl. Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 118 - 119. 472 Dabei wurde, so Ranacher, ein »Versäumnis der Gebetspflicht [ … ] nicht als Schaden für das Ansehen und, vor allem, für die Jenseitsvorsorge der gesamten Bruderschaft gewertet, sondern › lediglich ‹ als Hemmnis für den Einzelnen« (Ranacher 2022, S. 191). Dies erkläre, zusätzlich zu Parallelen in der vorgängigen dominikanischen Regelliteratur, den recht großzügigen Umgang der Rosenkranzbruderschaft mit Säumnissen ihrer Mitglieder. 473 »wenn ein Bruder oder eine Schwester dieses Gebet der drei Rosenkränze für eine bereits aus der Zeit verschiedene Seele beten möchte, so wird diese Seele, sollte sie im Fegefeuer gefangen sein, auch des Gebets aller Brüder und Schwestern der gesamten Bruderschaft teilhaftig«, Militzer 1997, S. 514. 474 Klieber 2018, S. 107. Schnyder nennt ebenfalls den »Erwerb des Seelenheils« als Grundintention mittelalterlicher Bruderschaftsgründungen (Schnyder 1986, S. 29); Ranacher spricht in die gleiche Richtung gehend von »gemeinschaftlich organisierte[r] Jenseitsvorsorge« (Ranacher 2022, S. 247). 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 191 <?page no="192"?> vel legere. 475 Die Kölner Konfraternität ist damit gleichzeitig als religiöse Hilfsgemeinschaft zur Sicherung des eigenen Seelenheils wie auch als karitativer Zusammenschluss zu verstehen, der lebenden wie verstorbenen Nichtmitgliedern gebethaft Beistand zu leisten suchte: »Das Gebet war Gabe an Gott und die Heiligen, und wurde von ihnen an die Verstorbenen weitergereicht.« 476 Zusätzlich amplifiziert wurde dieser Interzessionsaspekt durch zahlreiche Ablässe, die der Rosenkranzbruderschaft gewährt wurden. 477 Den Anfang machte hier der päpstliche Legat für das Heilige Römische Reich, Alexander von Forli, der 1476 einen Ablass von vierzig Tagen (an Marienfesten sogar hundert Tagen) für jeden gebeteten Rosenkranz und für jede Teilnahme an der Kölner Salve-regina-Prozession bestätigte. 478 Im Mai 1478 versprach eine Gruppe Kardinäle weitere hundert Tage Ablass für all diejenigen, die zum Erhalt und zur Ausstattung des Rosenkranzaltars beitrügen, und im gleichen Monat gewährte Papst Sixtus IV. sämtlichen Mitgliedern der Bruderschaft sogar sieben Jahre und sieben Quadragenen Ablass für die Marienfeste. 479 Derartige Ablassversprechen und -annahmen addierten sich in der Folge und wuchsen mit der Zeit inflationär. 480 Zunächst dürften diese ausgesprochen großzügigen Ablässe einen großen Anreiz zum Beitritt gebildet haben und erklären partiell das erstaunliche Wachstum der Bruderschaft in den Folgejahren: »Sprenger nennt für Köln Anfang 1467 schon 8000 Mitglieder und für Augsburg an Allerheiligen 1477 bereits 21000 [ … ]. Michael Francisci hatte im Jahr der Gründung 5000 erwähnt, und Johannes von Lamsheim zählt 1479 mehr als 50000, drei Jahre später 100000 Brüder und Schwestern«. 481 Obzwar diese Zahlen nicht unbedingt zuverlässig sein dürften, zeugen sie doch vom Erfolg dieser Organisation des Betens. Außerdem wirkten die Ablässe daran mit, die Legende von der Bruderschaftsgründung durch den heiligen Dominikus zu zementieren, die wie oben ausgeführt auf Alanus von Rupe zurückgeht und in den entsprechenden Ablassdokumenten zumeist erwähnt wird. Schlussendlich trugen sie auch dazu bei, dass die Rosenkranzbruderschaften und ihre Gebetsweise kein halbes Jahrhundert später zu einem roten Tuch für die Reformation wurden. Martin Luther z. B. merkte in seinem Exemplar des Bruderschaftsspiegels von Marcus von Weida am Rand einer Passage, die dazu ermahnt, täglich einen Rosenkranz zu beten, in einer polemischen Marginalie an: Non credere in Christum. 482 475 »für sich selbst oder für jemand anderes zu sprechen oder zu lesen«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 142. 476 Lentes 1996, S. 25. 477 Vgl. hierzu ausführlich Ranacher 2022, S. 82 - 89. 478 Der Text der entsprechenden Urkunde ist abgedruckt bei Schütz 1909, S. 32 f. und zusammengefasst bei Militzer 1997, S. 524. 479 Abgedruckt bei Schütz 1909, S. 33 f.; zusammengefasst bei Militzer 1997, S. 524 f. 480 So führt Anne Winston-Allen aus: »Spurious claims of indulgences for saying the prayer ballooned to outrageous proportions of up to 120,000 years« (Winston-Allen 1997, S. 5). 481 Küffner 1976, S. 115. 482 »Nicht an Christus glauben«, zitiert nach Harry Oelke: Da klappern die steinn … und das maul plappert. Der Rosenkranz im Zeitalter der Reformation, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 107 - 117, hier S. 109. 192 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="193"?> 5.3 Mitgliedschaft und Entwicklung der Kölner Rosenkranzbruderschaft Wer waren die Mitglieder der Kölner Rosenkranzbruderschaft? Diese Frage weist auf ein oben bereits kurz erwähntes Herausstellungsmerkmal von Jakob Sprengers Gründung, das wesentlich zum Erfolg dieser Verbrüderung und der mit ihr verbundenen Gebetsweise beitrug. Dass nämlich die Kölner Rosenkranzbruderschaft denkbar offen für eine Beteiligung unterschiedlichster Personen und Personengruppen angelegt war, unterschied sie von vielen vergleichbaren Zusammenschlüssen frommer Laien, »mit denen soziale Auslese, Gruppenzwang und öffentliche Repräsentation assoziiert waren«. 483 Sprenger streicht ihre beinahe universelle Zugänglichkeit sogar als Rechtfertigung für seine Gründung hervor: Es seind vil br ů derschafft in der cristenheyt, der dhein armer mensch teylhafftig kan werden, in besunder wann er des gelltes nicht hat, das man dann in die brüderschafft raichen m ů ß und beczalen. Aber in dieser unser br ů derschaffte wirt dheinem menschen der weg verhalten, wie arm er ist, sunder ye ärmer, verschmächter, verächter, ye genämer, lieber und tewrer er in diser br ů derschafft geachtet wird. Darumb das derselbigen menschen gebet, als die heilig geschrifft sagt, got behäglicher und gefelliger, dann der reychen und hoch geachtten menschen ist. 484 Jedem gläubigen Christen, so der Grundgedanke, solle es möglich sein, der Rosenkranzbruderschaft beizutreten. Angesichts der Tatsache, dass die meisten der sonst üblichen frommen Sozietäten des Spätmittelalters exklusiven bis elitären Charakter besaßen und wohl auch aus eben diesem Grund eine bestimmte Anziehungskraft auf urbane Oberschichten entwickelten, ist diese prinzipielle Offenheit bemerkenswert. Auch Michael Francisci betont ausdrücklich, dass in der Rosenkranzbruderschaft nullum temporale dandum est nec in ingressu nec in egressu vel progressu. 485 Sollte aber dennoch von jemandem ein finanzieller Beitrag verlangt werden, so seien die Verantwortlichen tamquam pseudoprophetae [ … ] vitandi et excludendi a fraternitate ista, 486 ja es drohe ihnen sogar eine Bestrafung durch die Heilige Jungfrau selbst, da sie durch ihre Gier die Reinheit der Bruderschaft befleckt hätten. Um in die Rosenkranzbruderschaft einzutreten, so Sprenger, genüge es, sich in ein Mitgliederverzeichnis einzutragen. Der Beitrittskandidat müsse dazu seinen namen mitsambt dem z ů namen und statte, ob er eelichen oder ledig, geystlich oder welltlich sey, in geschrifft geben. 487 1477, im Jahr der Drucklegung der Bruderschaftsstatuten, war dies 483 Jäggi 2003, S. 93. 484 »Es gibt viele Bruderschaften in der Christenheit, an denen kein armer Mensch teilhaben kann, vor allem, weil er das Geld, das man dazu an die Bruderschaft geben und zahlen muss, nicht hat. In unserer Bruderschaft aber wird keinem Menschen, egal wie arm er ist, der Zugang verwehrt, sondern je ärmer, verschmähter und niedrig geachteter jemand ist, als desto willkommener, lieber und teurer wird er in dieser Bruderschaft geschätzt. Dies ist deshalb so, weil das Gebet solcher Menschen, wie die Heilige Schrift berichtet, Gott angenehmer und gefälliger ist als das der reichen und hochgeachteten Menschen.« Militzer 1997, S. 508 f. 485 »keinerlei zeitliches Gut zu geben ist, weder beim Eintritt noch beim Austritt oder zum Fortschritt«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 141. 486 »wie falsche Propheten [ … ] zu meiden und aus dieser Bruderschaft auszuschließen«, ebd. 487 »seinen Namen mitsamt dem Nachnamen, den Wohnort, ob er verheiratet oder ledig, geistlichen oder weltlichen Standes sei, zu Buche geben«, Militzer 1997, S. 509. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 193 <?page no="194"?> offensichtlich bereits an zwei Orten möglich: In den undern lannden gen Kölen, aber in obern tewtschen landen gen Augspurg, wo der Pfarrer der Kirche St. Moritz das Bruderschaftsverzeichnis in seine Obhut genommen hatte. 488 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt kann, da sich im April 1476 in Augsburg eine örtliche Niederlassung gegründet hatte, von einer gewissen Ortsungebundenheit der Rosenkranzbruderschaft gesprochen werden, die auf ihre spätere Ausbreitung im gesamten deutschen Sprachraum und teils darüber hinaus vorausdeutet. 489 Mit dem Eintrag ins Bruderschaftsbuch sollten auch weitere potentielle Mitglieder zum Beitritt motiviert werden. Denn je mehr fromme Christen an diesem geistlichen Zusammenschluss teilhätten, so die Statuten, desto größer sei die zu erhoffende heilskräftige Wirkung: Darumb aber dz czehen tausent mer betent dann eintausent, so ist auch der nucz mer in einer reichen gesellschafft dann in einer armen. 490 Damit aber beitrittsinteressierte Gläubige nicht dächten, dz es ein gedichte und erfunden czal wäre, 491 müsse über die Mitgliederzahlen der Bruderschaft genau Buch geführt werden. Dieser beinahe bürokratische Verwaltungsaufwand mag aus moderner Perspektive verwunderlich anmuten, hielt die Zeitgenossen Sprengers jedoch keineswegs davon ab, sich einzuschreiben. Vielmehr dürfte von dem öffentlichen und mit keinerlei finanziellem Aufwand verbundenen Eintrag ins Bruderschaftsverzeichnis sogar ein besonderer sozialer Reiz ausgegangen sein, traten diejenigen, sie sich neu einschrieben, damit doch dem gleichen frommen Zusammenschluss bei, dem bereits ein großer Teil der politischen und religiösen Eliten des 15. Jahrhunderts angehörte. Bereits an der oben erwähnten, von Jakob Sprenger festlich begangenen offiziellen Gründung der Bruderschaft nahm, zumindest ausweislich der hierzu zeitgenössisch verbreiteten Berichte, eine Reihe illustrer Neumitglieder teil, darunter der deutsche Kaiser Friedrich III. (1415 - 1493), der auch seine Frau Eleonore von Portugal (1436 - 1467) sowie seinen Sohn, den späteren Kaiser Maximilian I. (1459 - 1519), in die Bruderschaft eintrug. Ein Bericht aus den Admiranda des Kölner Weihbischofs und Stadthistorikers Aegidius Gelenius (1596 - 1656) schildert dieses Gründungsfest und sein Publikum, das zu den Bruderschaftsmitgliedern der ersten Stunde zählte: Dies adest et caetera parata omnia. Procedit D. lmperator Augustus cum summis Romani imperii principibus caeterisque Dynastis. Ergo Legatum Apostolicum et lmperatorem Fredericum sequebantur Adolphus Archiepiscopus et Elector Moguntinus, Ioannes Archiepiscopus et Elector Treverensis, Guilielmus Episcopus Aureacensis, Henricus Episcopus Monasteriensis, Episcopus Spirensis Vangionum, caeterique plures; Albertus Dux et Elector Saxoniae, Albertus Dux et Elector Brandeburgensis, Sigismundus Dux Austriae, Ludovicus Dux Bavariae a Spanheim, Ernestus Dux Saxoniae, Henricus Landgravius Hassiae frater Hermanni Archiepiscopi Coloniensis invicti conservatoris et Herois Novesiani, Christophorus Marckgravius Badensis, et caeteri comites plures quinquaginta. 492 488 »In den niederen Landen in Köln, sowie in den oberen deutschen Landen in Augsburg«, ebd. 489 Saffrey 2001, S. 157, führt aus: »la Confrérie du Rosaire a été étblie à Cologne le 8 septembre 1475, sa filiale d ’ Augsbourg, le lundi de Pâques, 15 avril 1576«. 490 »Weil aber 10.000 [Menschen] mehr beten als 1.000, so ist auch der Nutzen in einem großen Zusammenschluss größer als in einem armen«, Militzer 1997, S. 510. 491 »dass es eine Lügengeschichte und erfundene Zahl wäre«, ebd. 492 »Der Tag war gekommen, und nachdem alles bereit war, erschien der erhabene Herr, der Kaiser, mit den höchsten Fürsten des Römischen Reiches und den übrigen Herren. Dem Apostolischen Legaten 194 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="195"?> Dazu kommen Gesellschaftsspitzen, die hier entweder nicht namentlich erwähnt sind oder sich erst nach 1475 einschrieben. Zwar ist die Originalhandschrift des Kölner Mitgliederregisters verschollen, mutmaßliche Auszüge daraus wurden jedoch 1613 von dem Dominikaner und gegenreformatorischen Theologen Johann Andreas Coppenstein abgedruckt. 493 Die bei Coppenstein wiedergegebene Namensliste, die Gelenius ’ Aufzählung der hochrangigen Gründungsmitlieder weiterführt und ergänzt, spricht Bände - sie liest sich wie ein Register des mitteleuropäischen Hochadels im ausgehenden 15. Jahrhundert. So traten laut Coppenstein bis 1479 auch die anhaltinischen Fürsten Ernst (1454 - 1516), Sigismund III. (1456 - 1487) und Rudolf IV. (1466 - 1510), der sächsische Herzog Wilhelm III. »der Tapfere« (1425 - 1482), Herzog Sigismund von Bayern (1439 - 1501) sowie zahlreiche weitere namhafte Vertreter der weltlichen und geistlichen Führungsschichten der Kölner Rosenkranzbruderschaft bei. Nun zeigen derlei eindrucksvolle Aufzählungen sowohl, dass die Rosenkranzfrömmigkeit auch von den höchsten Gesellschaftsschichten schnell angenommen und gefördert wurde, als auch, wie sehr ein Beitritt in die Kölner Rosenkranzbruderschaft offenbar auch politische und repräsentative Zwecke erfüllte. Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Großteil der Mitglieder, die sich in Sprengers Bruderschaft einschrieben, keineswegs derart wohlgeborenen Kreisen angehörte. Denn im Jahr nach ihrer Gründung »zählte man bereits 5000, im Jahre 1478 50.000 und 1481 rund 100.000 eingeschriebene Mitglieder im ganzen Reich« 494 - die Rosenkranzbruderschaft entwickelte sich rasant zu einem transregionalen Massenphänomen. Der historische Wahrheitsgehalt derart astronomischer Zahlen lässt sich bloß schwer überprüfen und dürfte auch dadurch nach oben getrieben worden sein, dass, wie oben ausgeführt, verstorbene Familienmitglieder oder Freunde postum ins Bruderschaftsregister eingetragen werden durften, solange der oder die Einschreibende die hierdurch anfallenden Gebetsverpflichtungen zusätzlich mitübernahm. Der grundlegende Befund jedoch, dass eine Gebetsverbrüderung nach dem Kölner Modell sich nach 1475 im deutschsprachigen Raum wie ein Lauffeuer verbreitete, kann als gesichert gelten. Nach der Filialgründung in Augsburg 1476 »folgten Bamberg vor 1479, Bayreuth 1490, Nürnberg vor 1505«. 495 1483 betrieben zudem die Dominikaner in Ulm eine und Kaiser Friedrich folgten Adolph, Erzbischof und Kurfürst von Mainz, Johannes, Erzbischof und Kurfürst von Trier, Wilhelm, Bischof von Aureacensis, Heinrich, Bischof von Münster, der Bischof von Speyer und viele andere: Albert, Herzog und Kurfürst von Sachsen, Albert, Herzog und Kurfürst von Brandenburg, Sigismund, Herzog von Österreich, Ludwig, Herzog von Bayern, Ernst, Herzog von Sachsen, Heinrich, Landgraf von Hessen, der Bruder Hermanns, Erzbischof von Köln, des unbesiegten Verteidigers und Helden von Neuss, Christoph, Markgraf von Baden und mehr als fünfzig andere Grafen«, Aegidius Gelenius: De admiranda Sacra et civili magnitudine Coloniae Claudiae … Köln: Jodokus Kalckoven 1645, S. 467. Die Übersetzung ist übernommen aus S. N.: »Die Begründung der Kölner Rosenkranzbruderschaft nach Gelenius«, in: 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976], S. 102 - 108, hier S. 106. 493 Johann Andreas Coppenstein: De fraternitatis Sanctissimi Rosarii Beatae Viriginis Mariae ortu, progressu, statu atque praecellentia … Köln: Peter Haack 1613, S. 376. Die Nomenclatura Fraternitatis solius Coloniensis (ebd., S. 376 - 378), die Coppenstein beschreibt und deren Einträge zwischen 1475 und 1479 er wiedergibt, ist heute nicht mehr auffindbar. Vgl. dazu auch Kliem 1963, S. 62 - 68. 494 Ritz 1976, hier S. 51. 495 Jäggi 2003, S. 94. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 195 <?page no="196"?> vergleichbare Gründung, 496 und auch die von André Schnyder untersuchten Ursulabruderschaften des ausgehenden Mittelalters entstanden gewissermaßen im Fahrwasser der Kölner Rosenkranzbruderschaft. 497 Auch über Deutschland hinaus verbreiteten sich Zusammenschlüsse nach dem Kölner Muster: »The rosary confraternity rapidly expanded and chapters of the brotherhood were founded in Germany, Brabant, Flanders, Portugal, Spain, and Italy. Membership numbers increased to at least 100,000 in 1482, and continued to grow.« 498 Die Zahl der belegten lokalen Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft vom letzten Viertel des 15. bis hinein ins 18. Jahrhundert ist enorm. Eine umfassende historische Überblicksarbeit zu diesen Bruderschaftsniederlassungen bleibt ein Forschungsdesiderat, einige regionalspezifische Einzelstudien jedoch illustrieren, in welchem Maße und in wie kurzer Zeit sich derartige Konfraternitäten etablierten. Neben der breiten Darstellung bei Meersseman, 499 der vor allem in Bezug auf den norditalienischen Raum eine große Zahl an Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft beschrieb, ist hier auch ein Aufsatz von Stefan Jäggi zu nennen, der für die Zentralschweiz insgesamt 127 derartige Vereinigungen nachwies, die sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gründeten. 500 Médard Barth arbeitete mit metikulöser Genauigkeit die Zusammenschlüsse im Elsass auf, wo er beginnend mit der Colmarer Gründung von 1484 und endend mit einer 1878 in Logelbach entstandenen Niederlassung 141 lokale Korporationen der Rosenkranzbruderschaft lokalisierte. 501 Eine Einzelstudie zur Colmarer Gebetsverbrüderung mit Abdrucken einiger lokaler Bruderschaftsschriften, die teils aus Alanus von Rupe zugeschriebenen Texten übersetzt wurden, fertigte Jean-Claude Schmitt an, 502 während Wolfgang Kliem ein Schlaglicht auf die ab 1486 dokumentierte Frankfurter Rosenkranzbruderschaft warf. 503 Besonders zu erwähnen ist eine jüngst erschienene Studie von Christian Ranacher, der als Fallbeispiele neben Frankfurt am Main auch die in den 1490ern bezeugte Niederlassung der Bruderschaft in Freiburg im Breisgau sowie eine bereits 1478 in Altenburg etablierte Korporation beleuchtet. 504 Diese Beispielliste ist hochgradig unvollständig - sie veranschaulicht dennoch die enorme Attraktivität und Anschlussfähigkeit des Kölner Bruderschaftsmodells. Dabei begründete dieser institutionsbildende Erfolg des Rosenkranzgebets nicht nur erstens seine feste Verankerung im katholischen Frömmigkeitsleben. Er konvergierte zweitens auch mit einer Vielzahl an Sonderformen des Kranzbetens, die in der Zahl und Art der verlangten Gebete, ihren Betrachtungspunkten sowie der Ausgestaltung der jeweils 496 Vgl. Griese 2011, S. 183. 497 Dies legt nicht nur die gemeinsame Überlieferung der Statuten der Straßburger Ursulabruderschaft mit einschlägigen Rosenkranztexten nahe (vgl. Schnyder 1986, S. 177 f.), sondern auch ein offensichtlich von der Kölner Gründungsgeschichte inspiriertes Narrativ einer Straßburger Bruderschaftsentstehung im Kontext des militärischen Konflikts mit Burgund (vgl. ebd., S. 216) und die Integration von rosenkrentz in das Straßburger Bruderschaftsgebet (ebd., S. 330, sowie S. 195 u. 199). 498 As-Vijvers 2007, S. 49. 499 Vgl. Meersseman 1977. 500 Jäggi 2003, insb. die Auflistung auf S. 100. 501 Médard Barth: Die Rosenkranzbruderschaften des Elsass, geschichtlich gewürdigt, in: Archives de l ’ Église d ’ Alsace, NS 16 (1967/ 1968), S. 53 - 108. 502 Vgl. Schmitt 1970. 503 Vgl. Kliem 1963. 504 Vgl. Ranacher 2022, insb. S. 168 - 180. 196 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="197"?> gebethaft geflochtenen Kranz- oder Kronengabe stark variieren. 505 Diese Texte verdienten eine eigene Studie, die hier freilich nicht geleistet werden kann. Drittens wurde das Rosenkranzgebet im ausgehenden 15. Jahrhundert auch zum religiösen Bildgegenstand und entfaltete eine eigene Ikonographie. Hier sei auf die entsprechenden Arbeiten vor allem von Thomas Lentes, Anne-Winston Allen und Moritz Jäger verwiesen, die den Gebrauch visueller Rosenkränze eindrucksvoll nachzeichnen. 506 Mit dem Rosenkranz in Früh- und Einblattdruck beschäftigt sich zudem Sabine Griese, die beispielsweise aufzeigt, wie die Text-Bild-Gefüge der Ulmer Rosenkranzdrucke des 15. Jahrhunderts verschiedene Formen des personalisierbaren Mediengebrauchs in Gebet und Andacht anbieten. 507 In unterschiedlicher Akzentuierung folgen all diese Spielarten des Rosenkranzes prinzipiell der oben herausgestellten Trias von vertikalem Sprechen mit der Transzendenz im zählendem Reihengebet nach dem Vorbild des Psalters, einer inneren Figuration geistlich-konkreter Blumengaben und der durch meist schriftlich vermittelte Betrachtungspunkte stimulierten, horizontalen Immersion in eine Gegenwart des vom Text evozierten Heilsgeschehens. Dabei tritt in der Frühen Neuzeit jedoch vor allem die Komponente des handwerklichen Betens, das im päpstlichen Breve Consueverunt von 1569 bereits nicht mehr erwähnt ist, zunehmend in den Hintergrund und verschwindet schließlich ganz. 508 Für die reformatorische Kritik am Rosenkranzgebet, durch die es zunehmend zu einem kulturellen Marker und Identitätsausdruck des frühneuzeitlichen Katholizismus wird, geriet auch die komplexe Versenkung in die Heils- und Glaubensgegenstände, die mit den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen als Kernelement dieser Frömmigkeitsform eingeführt worden war, aus dem Fokus. Gestritten wurde primär um den Sinn und Unsinn des Quantifizierens, die Vorstellung einer gnadenwirksamen Fürbitte Marias, die Idee des Losbetens aus dem Fegefeuer, die Organisationsform der Gebetsbruderschaft sowie um die beim Beten benutzte Perlenschnur als offen sichtbares Symbol altgläubiger Frömmigkeit. 509 505 Vgl. Lentes 2003; sowie die Beispielliste solcher Rosenkranzspielarten bei Kirfel 1949, S. 9 - 11. 506 Vgl. z. B. Lentes 1993; Lentes 2003; Winston-Allen 1997, S. 31 - 64; Moritz Jäger: Mit Bildern beten: Bildrosenkränze, Wundenringe, Stundengebetsanhänger (1413 - 1600). Andachtsschmuck im Kontext spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Frömmigkeit, Diss. Gießen 2011, S. 100 - 181. 507 Vgl. Griese 2011, S. 182 - 200. 508 Vgl. oben, Kap. II.3. 509 Siehe zusammenfassend Oelke 2003. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 197 <?page no="198"?> 6 Ausblick: Basisaspekte › handwerklichen Betens ‹ im 15. Jahrhundert Im Zentrum des nun zum Ende kommenden Kapitels steht eine sich über den Lauf von zwei Jahrhunderten hinweg ereignende Amalgamierung verschiedener Texte, Motive und Traditionen von und zu Gebet und Betrachtung. Der Rosenkranz des späten 15. Jahrhunderts bildet im Resultat eine komplexe Form, die ein genau zählendes Beten formelhafter Standardtexte mit einer christozentrischen Meditationsübung und der langsamen Anfertigung figurativer Votivgaben durch die hingebungsvolle Imaginationskraft der Betenden verbindet. Informiert durch wundersame Erzählungen wie Marien Rosenkranz und die Trierer Zwanzig-Exempel-Schrift, angeleitet von Gebets- und Andachtstexten wie den Rosenkranzklauseln des Dominus von Preußen oder den instruierenden Passagen in Alanus ’ von Rupe Tractatus apologeticus, getragen von Gemeinschaften wie der sich rasant ausbreitenden Rosenkranzbruderschaft und verbreitet zum Beispiel über Jakob Sprengers Statutendrucke entwickelte sich so eine Gebetsweise, die vertikale und horizontale Medialisierungen in einer Logik der inneren Fertigung zusammenlaufen lässt. Die Herstellung geistlicher Figurationen der Frömmigkeit, die im Gebet zählend ausgeformt und im Sinne der heilswirksamen Partizipation an einer gnadenträchtigen Gabenökonomie weggegeben werden können, verspleißt sich hier untrennbar mit einem durch Text und Bild stimulierten Eintauchen in die dabei betrachteten Gegenstände und Ereignisse. Ein letztes Textbeispiel mag auf den Punkt bringen, wie zählendes Sprechen mit der Transzendenz, meditatives Eintauchen und konkretisierende Figuration im spätmittelalterlichen Rosenkranz die drei Hauptfacetten einer Einheit bilden. In seinem Quodlibet gibt Michael Francisci an, der von Jakob Sprenger und ihm initiierte Zusammenschluss trage insgesamt drei Namen. Er nenne sich zuerst meist die Rosenkranzbruderschaft (fraternitas de Rosario), weil Maria in ihrer Rolle als gnadenbringende mediatrix et interventrix einer Rose zu vergleichen sei. 510 Diese Namenserklärung führt dabei geradezu eine in die Betrachtung der biblischen Figur immergierende marianische Andacht anhand des Rosenmotivs vor, wie sie schon im Rosengertlin verwirklicht ist. Zudem aber heiße die Vereinigung, so fährt Michael Francisci fort, aufgrund der Zahl der Psalmen, die der Anzahl der von der Bruderschaft wöchentlich verlangten Mariengrüße entspreche, auch »Bruderschaft des Marienpsalters« (fraternitas de psalterio Mariano) 511 . Hier steht nun das zählende Reihengebet im Vordergrund. Schließlich aber nenne sich die Bruderschaft auch fraternitas de serto, [ … ] quia sicut ex multis materialibus rosis, praecipue L, potest fieri materiale sertum, sic proculdubio ex L salutationibus velut ex L rosis offerimus beatae virgini spirituale sertum. 512 510 »Mittlerin und Retterin«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 144. 511 Ebd., S. 145. 512 »die Kranzbruderschaft, denn ebenso wie es möglich ist, aus vielen stofflichen Rosen, vorzugsweise aus 50, einen stofflichen Kranz zu machen, so bringen wir zweifelsohne aus 50 Grüßen gleich wie aus 50 Rosen der heiligen Jungfrau einen geistlichen Kranz dar«, ebd., S. 144. <?page no="199"?> Dies bezieht sich auf die Vorstellung, die Gebete der Gläubigen konkretisierten sich wundersam zu Kranzgaben, die Maria im Himmel entgegennähme. In den beiden Folgekapiteln werden sich diese drei Aspekte wie ein roter Faden durch die Übungen des › handwerklichen Betens ‹ ziehen, die dort in den Fokus rücken. Gerade die Marienmäntel, auf die im Anschluss ein Schlaglicht geworfen wird, haben viel mit der Text- und Frömmigkeitstradition des Rosenkranzes gemein, unterscheiden sich freilich nicht nur motivisch von den gebeteten Blumenkränzen, sondern setzen auch grundlegend andere Nuancierungen. Vor allem die Vorstellungsebene eines geistlichen Handwerks wird dort genauer thematisiert und auch theoretisiert. Dies geht oftmals einher mit einer allegorischen Überformung des dergestalt hervorgebrachten spirituellen Werkstücks. Letztere Qualität eignet unter den hier behandelten Rosenkranztexten vornehmlich nur dem Rosengertlin - in den Mantelgebeten und -andachten dagegen wird sie vielfach zum Kernstück. 6 Ausblick: Basisaspekte › handwerklichen Betens ‹ im 15. Jahrhundert 199 <?page no="201"?> III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="203"?> 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners Das wohl im späten 13. Jahrhundert im mitteldeutschen Raum abgefasste Marienmirakel Heinrichs des Klausners 1 gehört, obzwar sich insbesondere sein Epilog an der rhetorischen Form des Gebets orientiert, 2 nicht ins Korpus der Gebetbuchliteratur des deutschsprachigen Mittelalters. Dennoch enthält diese in Reimpaarversen gehaltene Mirakeldichtung eines ansonsten unbekannten Autors den wohl frühesten volkssprachigen Beleg für eine dem Rosenkranz verwandte Form des Betens, die sich in den darauffolgenden zwei Jahrhunderten zu erheblicher Prominenz aufschwingen sollte: 3 Über das Marienmantelgebet, durch das aus Ave-Reihen und anderen Frömmigkeitsübungen ein zugleich innerlich konkretisiertes sowie zumeist mit komplexer allegorischer Bedeutung aufgeladenes Gewand für die Gottesmutter entsteht, wird an dieser Stelle erstmalig narrativ reflektiert. Der Plot des Marienmirakels, das literaturhistorisch wohl ins Umfeld der Legendendichtung des Passional einzuordnen ist, 4 beginnt ähnlich wie Marien Rosenkranz mit dem in der religiösen Kleinepik verbreiteten »Motiv der naiven Verehrung eines kindlichen Protagonisten«: 5 Ein gelehriger doch bettelarmer Kathedralschüler darf, da er so unbegütert ist, daz he nicht zu den zîten dû / geleisten mochte zwêne schû, 6 nicht am Chorgebet zu Mariä Himmelfahrt teilnehmen. Barfuß den Kirchenchor zu betreten ist ihm untersagt, und mehrfach wird er dabei ertappt, wie er sich dennoch hineinzuschleichen versucht. In frommer Verzweiflung wendet der Protagonist sich schließlich an die von ihm innig 1 Ediert als [Heinrich der Klausner]: Marienlegende, in: Mitteldeutsche Gedichte, hg. v. Karl Bartsch, Stuttgart 1860 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 53), S. 1 - 39. Zusätzlich herangezogen wurde hier der zuverlässige, leider aber bloß sehr schwer erhältliche diplomatische Abdruck des unikal überlieferten Textes samt Faksimile der Handschrift, Übersetzung und Kommentar durch Jaromír Zeman (Hg.): Die Marienlegende des Heinrich Clûsenêre. Manuskript, diplomatischer Abdruck, Übersetzung, Kommentar, Brno 2011. Alle folgend wiedergegebenen Übersetzungen stammen von Zeman. 2 Vgl. dazu Thelen 1989, S. 357 f. 3 Im Gegensatz zum Rosenkranz ist das Mantelgebet bislang noch nicht gut untersucht. Wesentlich liegen hierzu die Beiträge von Lentes 1993 und Lentes 1996, S. 481 - 489 vor, auf denen die folgenden Überlegungen und Untersuchungen aufbauen. Einige Überlegungen, an die dieses Kapitel anschließt, habe ich selbst veröffentlicht in den Beiträgen Buschbeck 2022 sowie in Björn Klaus Buschbeck: Ein vollkommenes Handwerk des Geistes? Gebet und Andacht als produktive Tätigkeiten im Alemannischen Marienmantel und bei Dominikus von Preußen, in: Vita perfecta? Zum Umgang mit divergierenden Ansprüchen an religiöse Lebensformen in der Vormoderne, hg. v. Daniel Eder, Henrike Manuwald u. Christian Schmidt, Tübingen 2021 (Otium 24), S. 245 - 278. Zu textilem Beten im Zusammenhang der Helftaer Mystik vgl. auch Racha Kirakosian: From the Material to the Mystical in Late Medieval Piety. The Vernacular Transmission of Gertrude of Helfta ’ s Visions, Cambridge 2021, S. 196 - 204. 4 Vgl. zu Überlieferung und Kontext der Marienlegende Hans-Georg Richert: Art. Heinrich der Klausner, in: 2 VL 3 (1981), Sp. 758 f.; sowie ausführlicher die Besprechung des Textes bei Jaromír Zeman: Die Marienlegende des Heinrich Clûzenêre, in: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik 16 (2002), S. 11 - 32. 5 Eichenberger 2015, S. 355. 6 »dass er sich da unter diesen Umständen / nicht ein Paar Schuhe leisten konnte«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 194 f. <?page no="204"?> verehrte Maria und bittet, daz unse vrouwe zwêne schû / ime zu stûre wolde gebin. 7 Als dieses Ersuchen nicht sofort erfüllt wird, beginnt er trotzig damit, stattdessen Maria mit Gebeten einzukleiden, übertrifft also die erbetene und ausgebliebene materielle Kleidergabe durch ein überreiches Geschenk aus überstofflichen Kleidern, die als Produkte gezählten Betens präsentiert werden. 8 Ich will dich cleiden, ab ich mûz / von der scheiteln ûf den vûz, 9 erklärt der junge Mann, und betet daraufhin jeweils hundert Ave Maria für den Rock, die Schuhe, Surcot, Mantel, Schleier und Krone der Gottesmutter. Kaum hat er dieses Gebet aber beendet, werden in einer Schlüsselszene des Mirakels die zunächst nur innerlich hergestellten vestimentären Gegenstände dem Schüler auch äußerlich evident. So erblickt er nämlich, daz ein vrouwe quam / gegangin von dem alter dar. 10 Es ist die Jungfrau Maria, die sich gehüllt in einen Ornat aus Gebetstext offenbart: Überall auf ihren prächtigen Kleidern glänzt auf wundersame Weise gescriben daz âvê Marjâ / mit guldînen bûchstabin. 11 Darüber, daz die rede dô geschach, 12 dass also das Gebet auf dem Gewand Marias aufstrahlt, solle man sich nicht wundern, betont die Legende, denn als das Reihengebet gesprochen worden sei, wurden zu der stunde an unser vrouwen cleider sâ sechs hundirt âvê Marjâ gar nâch meisterlîchen seten wol gescriben und gesneten. 13 Das Gebet des Schülers, so impliziert diese Erzählung, gleiche einer geistlichen Handarbeit, einem Weben und Schneidern an den Gewändern der Gottesmutter, deren schlussendlicher Urheber Gott selbst sei: Daz waz ein lobelîch gewant, / daz got mit sînes selbis hant / gezîret und geschônet hât / allenthalbîn an der nât. 14 Diese Betonung eines göttlichen Ursprungs ist aus dem Material der Marienkleider heraus zu verstehen, also der Gebetsformel des Ave Maria. Der von Gott gesandte Engelsgruß der Verkündigung, Ave gratia plena Dominus tecum benedicta tu in mulieribus 7 »dass ihm unsere Frau ein Paar Schuhe / als Aushilfe schenken möge«, ebd., V. 358 f. 8 In der an dieser Stelle ausgiebigen Thematisierung von Dienst und ausbleibendem Lohn scheint der Text auf aus der höfischen Literatur bekannte Motive des Frauendienstes zurückzugreifen und gebrochen Bezug zu nehmen. 9 »Ich will dich kleiden, wenn ich darf, / von dem Scheitel bis zum Fuß«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 416 f. 10 »dass eine Frau kam / gegangen von dem Altar her«, ebd., V. 503 f. 11 »geschrieben das Ave Maria / mit goldenen Buchstaben«, ebd., V. 578 f. Auf dieses in spätmittelalterlichen Mirakeln weitverbreitete Motiv der wundersamen Gebetsinschrift gehe ich genauer ein in Buschbeck 2022b. 12 »dass die Rede da geführt wurde«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 581. 13 »wurden in diesem Augenblick / an die Kleider unserer Frauen sogleich / sechshundert Ave-Maria / gar nach meisterlicher Art / wohl geschrieben und geschnitten«, ebd., V. 584 - 588. 14 »Dies war eine feierliche Kleidung, / welche Gott mit seiner [eigenen] Hand / geziert und verschönt hat«, ebd., V. 589 - 592. Im Kontext geistlicher Textilschilderungen entspricht dies einer Umkehrung: Nicht Maria wird wie sonst üblich als Textilhandwerkerin gezeichnet, die für ihren Sohn den heiligen Rock fertigt, sondern Gott selbst hat Kleider für sie gefertigt. Zur literarischen Darstellung der Fertigung des heiligen Rocks im Mittelalter vgl. ausführlich Henrike Manuwald: Der Heilige Rock - gestrickt. Magischer Realismus in Bruder Philipps Marienleben? , in: Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Bruno Quast u. Susanne Spreckelmeier. Berlin/ Boston 2017 (Literatur - Theorie - Geschichte 12), S. 203 - 220. 204 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="205"?> (Lc 1,28), bildet, so lässt sich die Textpassage verstehen, gleichsam die ursprüngliche Anlage und den Grundstock der Gewänder der Gottesmutter, während die Gebete der Gläubigen zur Pracht dieser Kleider unterstützend hinzufügen. Somit ergibt sich eine Art handwerklicher Zusammenarbeit zwischen Gott und den Betenden, die im Aufsagen des Mariengrußes das göttliche Werk zum Lobe Marias fortführen und es dabei sogar noch zu verbessern vermögen. Die literarische Darstellung der so entstehenden Marienkleider ist hierbei seltsam paradox angelegt. Denn obgleich der Text die überwirkliche Pracht dieses Gewandes immer wieder herausstellt, ist es dem Leser geradezu unmöglich, es getreu dem Marienmirakel bildhaft vorzustellen. Trotzdem jedoch widmet Heinrich dem Lobpreis, der Beschreibung des Gebetskleids und der Schönheit seiner Trägerin mehr als hundert Verse, die zwar auf hohem poetischen Niveau die ästhetische Wirkung der Marienerscheinung schildern, die Benennung greifbarer Bilddetails dabei allerdings umsteuern. 15 Werden ekphrastische Schilderungen in der Literatur des Mittelalters mit Haiko Wandhoff als »imaginierte sprachliche Bildkunstwerke« begriffen, 16 so heben die Umschreibungen der Marienlegende im Kontrast hierzu gerade den Status der Marienkleider als bildliches Sprachkunstwerk hervor. Zunächst wird dazu in einem Unsagbarkeitstopos, also unter »Betonung der Unfähigkeit, dem Stoff gerecht zu werden«, 17 die Unmöglichkeit einer angemessenen Darstellung der Gebetskleider hervorgehoben, in denen Maria in Anlehnung an das biblische Motiv der apokalyptischen Frau (vgl. Apc 12,1 - 5) überhell und inkommensurabel schöner als sämtliche irdische Frauen erstrahlt. Selbst wenn, so führt der Erzähler aus, er all sein dichterisches Können darauf aufwände, daz ich vollobete desin schîn, / so inmac iz trûwen nicht gesîn. 18 Dies ist hier nicht allein als hypertropher Schönheitspreis zu lesen, wie er für Mirakelerzählungen, die »einen enormen Bedarf an panegyrischer Phraseologie« aufweisen, als charakteristisch gelten darf 19 - vielmehr deutet es auch darüberhinausgehend auf die unbegreifliche Verfasstheit der Marienkleider, die der Schüler zwar visionshaft schaut, die jedoch, so wird herausgestellt, in erster Linie aus Worten bestehen: An unser vrouwen crône dâ stunt daz âvê Marjâ, an dem slêger dort was gescriben das sûze wort. 20 15 Vgl. ebd., V. 502 - 605. An greifbaren Bildelementen wird hier neben dem himmlischen Lichtglanz, in dem Maria lûtir unde reine (»klar und rein«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 506) erstrahlt, sowie der unten noch thematisierten Goldschrift lediglich allgemein erwähnt, die Gottesmutter sei mit edeleme gesteine / und mit rotîm golde gekrönt gewesen (»Edelsteinen und mit rotem Gold«, ebd., S. 507 f.). Ansonsten bleibt der Text gezielt bei Abstrakta und Vergleichen. 16 Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin/ New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3), S. 3. Hervorhebung im Original. 17 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 166. 18 »diese Erscheinung vollauf zu loben, / so kann dies wahrhaftig nicht [möglich] sein«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 575 f. 19 Curtius 1948, S. 167. 20 »Da auf der Krone unserer Frau / stand das Ave Maria, / dort auf dem Schleier / war das süße Wort geschrieben«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 593 - 595. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 205 <?page no="206"?> Überall auf den gebeteten Kleidern erstrahlt als goldene Inschrift der Mariengruß. Die gebeteten Mariengewänder sind so als Sprachkleider gezeichnet, sie stellen im wahrsten Sinne Wort- und Textgeflechte dar. Sie sind gefertigt aus dem Stoff der Gebete des frommen Kathedralschülers, die auf eine Weise gleichzeitig als Text und textiles Material vorgestellt werden müssen, die im Bild und seiner Beschreibung nicht recht realisierbar scheint. In der Sprache dahingegen, dies deutet die Schilderung von Heinrichs Marienmirakel an, sind Wort und Gewand von vornherein enggeführt, leitet sich doch das als Schriftbezeichnung gebräuchliche lateinische textus vom Partizip des Verbs texere ( › weben ‹ ) ab. Vestimentäre und textilhandwerkliche Bilder gehören also nicht nur epochenübergreifend zu den verbreitetsten Metaphern des Literarischen, sie sind bereits in der Etymologie des Wortes › Text ‹ angelegt. 21 Wie zuletzt Manfred Eikelmann aufzeigte, sind komplexe semantische Vermischungen und Gleichsetzungen textueller und textiler Begriffe, die auf diese gemeinsame Etymologie abheben, im Mittelalter überaus verbreitet. Einerseits »fasst die Webmetapher den für die christliche Religion fundamentalen Vorgang der Text- und Buchwerdung in eine traditionsreiche Bildlichkeit«, andererseits erweist sich dabei auch die »Bildlichkeit des Webens, Flechtens und Spinnens als Grundmetaphorik, die [ … ] für das Denken von Literatur produktiv ist.« 22 Im Marienmirakel Heinrichs des Klausners wird aus dieser Metaphorik geradezu eine Identität von Gebetswort, Dichtungswort, erzähltem und himmlischem Kleidungsstück abgeleitet. Für die Fragen sowohl nach der Verfasstheit der gebeteten Marienkleider wie auch nach dem Status der dafür gesprochenen Gebete hat dies weitreichende Implikationen. Denn die aufgesagten Ave Maria des Kathedralschülers werden damit nicht bloß im Vollzug als geistliche Handwerksarbeiten präsentiert, sondern auch als überstoffliches Material vorgestellt, das die in der Vision geschauten Gewänder ausmacht. Dieser Marienornat wiederum wird zwar als visuell evident werdender Gegenstand beschrieben, bildlich zu fassen ist er jedoch nicht recht. Allein die auf ihm aufleuchtende Goldschrift der Gebetsworte ist der Erzählung greifbar und wird somit zugleich zum Ausgangs-, Kristallisations- und Fluchtpunkt einer Figurationsdynamik des Betens. Die Unterscheidungen zwischen Text und Textilie, Sprachlichem und Gegenständlichem, Medium und Medialisiertem, Vorstellen und Herstellen verwischen dabei aufs Gründlichste. Durch das Mantelgebet entstehen so aus Sprache unvergleichliche Dinge, die zwar nicht der Sphäre des physisch Konkreten angehören, sich aber dennoch als geistlich-konkrete Realien erweisen, denen eine heilsvermittelnde Geschehensmächtigkeit eignet. So zeitigt die Gabe der gebeteten Gewänder im Fortlauf der Erzählung eine Gnadenwirkung: Maria 21 Wie produktiv Textilmetaphern auch in der modernen Literatur bleiben und dabei sowohl zur Bezeichnung von Vorgängen der Textherstellung als auch zur Charakterisierung der Struktur literarischer Texte dienen, zeigt die komparatistisch angelegte Arbeit von Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln/ Weimar/ Wien 2002. 22 Manfred Eikelmann: textus/ text im religiösen Diskurs. Beobachtungen zur semantischen Vielfalt der Wortverwendung, in: Vielfalt des Religiösen. Mittelalterliche Literatur im postsäkularen Kontext, hg. v. Susanne Bernhardt u. Bent Gebert, Berlin/ Boston 2021 (Literatur - Theorie - Geschichte 22), S. 87 - 112, hier S. 89. Siehe dazu zuvor auch die Beiträge in Ludolf Kuchenbuch u. Uta Kleine (Hgg.): Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216). 206 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="207"?> offenbart dem Kathedralschüler als Dank für das fromme Geschenk die Geschichte ihrer Himmelfahrt und bietet ihm an, zwischen einem Bischofsamt und der sofortigen Aufnahme ins Himmelreich zu wählen. 23 (Selbstverständlich entscheidet sich der Protagonist für letzteres.) Offenbar besitzt das Mantelgebet, zumindest in der Erzählwelt des Marienmirakels, eine Qualität, die es dem Betenden ermöglicht, die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz durch eine geschenkhafte Zuwendung zu überbrücken und sich auf diese Weise in eine heilsmächtige Austauschbeziehung zum Heiligen zu setzen. 24 Ebenso wie die oben behandelten Rosenkränze stellt der Marienmantel folglich nicht bloß ein frommes Gedankenspiel dar, sondern erhebt den Anspruch, wirklichkeitsmächtige Figurationen der Frömmigkeit hervorzubringen. Stärker noch als das Rosenkranzgebet laden, wie ich unten ausführe, entsprechende Gebets- und Andachtsübungen sowohl zu einem ästhetisch intensiven Eintauchen in die Bildlichkeit des dergestalt gebethaft produzierten Dings wie auch zur allegorischen Ausdeutung seiner Einzelelemente ein. Das Marienmirakel Heinrichs des Klausners treibt die einem solchen Beten zugrundeliegende Vorstellung einer Figurationskette von frommen Texten und himmlischen Textilien reizvoll auf die Spitze, indem es das Beten seines Protagonisten mit verschiedenen vorgestellten, erscheinenden und erzählten Kleidungsstücken in ein sich steigerndes Entsprechungsverhältnis setzt. Dieses beginnt bei den innig herbeigewünschten Schuhen und den geistlich hergestellten Marienkleidern. Letztere bringt der Protagonist der Gottesmutter ja gerade im Kontext einer Bitte um materielles Schuhwerk dar. Im Gegenzug belohnt die heilige Jungfrau dieses aus Worten gefertigte Kleidungsgeschenk und übertrifft das ihm zugrundeliegende Anliegen, indem sie den Schüler nicht nur wie erwähnt zwischen ewigem Leben und der Bischofswürde wählen lässt, sondern ihm auch wiederum eine Textilerzählung offenbart. Die Geschichte von Marias Himmelfahrt mit sêle und mit lîbe gar, 25 die sie dem Protagonisten anvertraut und die dieser vor seinem Tode weitererzählt, wird bezeugt durch zwei vestimentäre Gegenstände, die auf Erden zurückblieben. Diejenigen nämlich, die nach ihrer leiblichen Himmelfahrt nach ihr suchten, fanden nichts als ein gurtil kleine / unde ein sleiger reine. 26 Diese beiden Gegenstände, die im zeitgenössischen Reliquienkult prominente Rollen spielten, 27 sind im Gegensatz zu den herbeigewünschten Schuhen und dem gebeteten Kleid zwar als stofflich auf Erden vorhanden geschildert - jedoch sind sie in das Textgeflecht einer Binnenerzählung von Mariä Himmelfahrt eingewoben, mit der, so berichtet später der Schüler, Maria dancte mir 23 Hier fügt sich das Marienmirakel in ein größeres Korpus zeitgenössischer Erzählungen zur Himmelfahrt Marias ein, vgl. dazu detailliert Zeman 2011, S. 22 - 28. 24 Im Sinne der von Berndt Hamm vorgeschlagenen Typologie spätmittelalterlicher Gnadenmedialität ist das Mantelbeten somit als Partizipationsmedium zu verstehen, »durch das dem [ … ] Menschen die Basismedialität gnadenreicher Heiligkeit zugeeignet und von ihm subjektiv-aktiv angeeignet wird, und zwar nicht nur die heiligende, schützende und rettende Kraft Christi, sondern auch die Marias, der Heiligen und Engel.« (Hamm 2009, S. 36). 25 »mit Seele und gar mit Leib«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 869. 26 »nur einen kleinen Gürtel / und einen reinen Schleier«, ebd., V. 178 f. 27 Eine Sammlung von Belegen zur mittelalterlichen Reliquienverehrung von Schleier und Gürtel im Kontext der Legenden um Mariä Himmelfahrt findet sich bei Zeman 2002, S. 16 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 207 <?page no="208"?> der rîchen wât, / di ir mîn munt gegebin hât. 28 Das sich so entfaltende Verhältnis- und Steigerungsspiel von abwesenden, erbeteten, offenbarten und erzählten Textilien weist auch auf die offenbleibende Frage, welche dieser Kleidungsstücke es nun sind, die den wundersamen Gnadenerweis der Gottesmutter vermitteln: die zur Andacht anregenden fehlenden Schuhe, der gebetete Marienornat, die wundersamen Sprachkleider der Vision oder die marianischen Himmelfahrtsreliquien? In Bezug allerdings auf die in ihm beschriebene Gebetspraxis streicht das Marienmirakel Heinrichs des Klausners literarisch kunstvoll einen Komplex von drei Themen und Fragen hervor, an denen sich das folgende Kapitel orientiert. Denn erstens verschränkt diese Erzählung Gebetsworte und textile Dinge auf eine Weise, die nach genauerer Klärung des hier aufgeworfenen Verhältnisses von Sprache und geistlich-konkretem Gegenstand verlangt. Was soll beim handwerklichen Beten woraus hergestellt werden, und welche Ansprüche auf innere und äußere Wirklichkeit sind mit derartigen Figurationen der Frömmigkeit verbunden? Besonders der facettenreiche Konnex zwischen dem Reihengebet »als Medium, um das religiöse Leben zu verinnerlichen«, 29 und dem hierdurch nicht nur vermittelten, sondern sogar produzierten und schließlich gabenhaft veräußerten Ding scheint beleuchtenswert. Zweitens schildert Heinrich der Klausner das Beten des Protagonisten zunächst als private Hinkehr zu Maria, an der durch die Weitergabe der offenbarten Himmelfahrtserzählung schließlich jedoch auch andere partizipieren und ihrerseits zur Marienverehrung angeregt werden. Im unten untersuchten Alemannischen Marienmantel ebenso wie im darauf aufbauenden Pallium des Dominikus von Preußen wird das Mantelgebet dahingegen von vornherein als gemeinschaftliche Frömmigkeitspraxis konzipiert. Wie also inszenieren und konstruieren derartige Texte und die von ihnen angeleiteten Übungen Formen religiöser Gemeinschaftlichkeit sowohl auf der horizontalen Ebene der Gläubigen untereinander als auch auf der vertikalen Ebene einer gesuchten Gemeinschaft mit Maria und den Heiligen? Zum Dritten und damit verbunden rückt auch das beim textilen Beten evozierte Ineinander einer immersiv erfahrenen und durch den Text stimulierten Gegenwärtigkeit des gefertigten Gegenstandes sowie einer an diese Gegenwärtigkeit gebundenen Zeichenhaftigkeit in den Fokus. Gebetete Gewänder vereinen, so wie schon der Marienornat bei Heinrich dem Klausner zugleich visionshaft geschauter Gegenstand und Zeichen für Marias Stand als Himmelskönigin ist, präsentische Momente des Ästhetischen mit komplexer Semantik und semiotischen Herausforderungen an das Publikum entsprechender Texte. Wie nun lassen sich diese Überführungsverhältnisse nicht nur zwischen gebetetem Ding und gebetetem Text, sondern auch zwischen gebethaft produziertem, geistlich-konkretem Gegenstand und einem abstrakten Sinn, der sich an diesem Gegenstand zumeist auf dem Wege der Allegorie entfaltet, befriedigend fassen? In den Folgeabschnitten dieses Kapitels gehe ich zunächst anhand einiger Beispiele aus der Helftaer Mystik, dem großen Korpus spätmittelalterlicher Mirakel und der ikonographischen Tradition der Schutzmantelmadonna auf den motiv- und frömmigkeits- 28 »dankte mir für die herrliche Kleidung, / die ihr mein Mund geschenkt hat«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 992 f. 29 Angenendt/ Lentes 2000, S. 114. 208 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="209"?> geschichtlichen Hintergrund textiler Frömmigkeitsübungen ein. Anschließend wird am Beispiel des Alemannischen Marienmantels, eines nah am Beginn dieser Untergattung der Gebetbuchliteratur stehenden Texts, der Zusammenhang zwischen gemeinschaftlicher Herstellung eines geistlichen Werkstücks aus gezählten Frömmigkeitsleistungen, dem Versenken der einzelnen Betenden in textuell evozierte Wahrnehmungsgegenstände sowie der allegorischen Zeichenhaftigkeit des gebethaft produzierten Mantels diskutiert. Eine darauffolgende Untersuchung des Pallium beate Marie virginis des Dominikus von Preußen, einer um 1445 entstandenen Propagierung des Mantelbetens in Traktatform sowie der zugehörigen ripuarischen und lateinischen Dichtungen erlaubt es, ein Schlaglicht auf die mit derartigen Frömmigkeitsformen verbundene Konzeption einer übermateriellen Stofflichkeit zu werfen. Auch die Gemeinschaftlichkeit des Mantelgebets und die mit ihm verbundene Hoffnung einer von der geistlichen Gabe ausgelösten Heilswirkung nehme ich anhand von Dominikus ’ Schriften, die diese Gebetsweise theologisch erläutern und zu fundieren suchen, in den Blick. Abschließend widme ich mich in einem kurzen Ausblick summarisch dem weiteren Korpus geistlicher Manteltexte des Spätmittelalters und ihren Nachwirkungen in der Frühen Neuzeit. Dabei bildet, die obigen Ausführungen auf einen Nenner bringend, eine doppelte Beobachtung die Grundlage dieser Untersuchungen: Erstens wird durch Texte wie den Alemannischen Marienmantel eine innere Figuration des Betens angeleitet, die als wirklichkeitsstiftende Verdinglichung zu fassen ist. Diese zielt auf die Produktion eines Textilgegenstands aus Gebetsworten und anderen Frömmigkeitshandlungen, deren Ergebnis, wie insbesondere bei Dominikus von Preußen ausgeführt, auf den ersten Blick paradox als die Dinge übersteigendes geistliches Ding gefasst wird. Die Anfertigung eines solchen Gebetskleids, das in der Regel als Gabe für Maria gedacht ist, ist dabei prinzipiell mit der Hoffnung auf eine Gnadenwirkung verbunden. Zweitens aber ist gebeteten Kleidern meist auch eine allegorische Zeichenhaftigkeit zu eigen, durch die sie z. B. christliche Tugenden oder Episoden aus der Heilsgeschichte repräsentieren. Das gebetete Ding weist somit über sich hinausgehend auf Nicht-Dingliches und stimuliert eine meditative Betrachtung des so Verwiesenen. 1.1 Lebens- und Blumenkleider: Geistliche Textilien in der Helftaer Mystik Grundlegend wichtig für das Verständnis textiler Gebetsübungen sind die Text- und Motivtraditionen, auf die sie referieren und zurückgreifen. Folgend werfe ich deshalb einleitend einen Blick auf die dem Mantelbeten zugrundeliegenden Verquickungen von Mirakelerzählungen, Topoi der Viten- und Offenbarungsliteratur und marianischer Ikonographie. Diese religiöse Praxis ruht, so zeigt sich hierbei, auf einer Verbindung mehrerer vorgängiger Vorstellungen und Konzepte einer vestimentären Frömmigkeit. Das Marienmirakel stellt bei weitem nicht den einzigen Text dar, der diesseitige fromme Taten und Worte mit jenseitigen Kleidern gleichsetzt. Prominent tritt dieses Motiv beispielsweise auch bei Mechthild von Magdeburg hervor. Der Helftaer Mystikerin wird gegen Ende des zweiten Buchs des Fließenden Lichts der Gottheit in einer Vision offenbart, 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 209 <?page no="210"?> dem Schreiber (oder den Schreibern) 30 ihres Werks würden nach ihrem Tod und ihrer Einkehr ins Himmelreich allú disú wort des bu ͦ ches an sinem obersten cleide stan eweklich offenbar in minem riche mit himmelschem lúhtendem golde ob aller siner gezierde wesen geschriben. 31 Hier geht es zwar nicht direkt um ein handwerkliches Beten der Schreiber, die sich durch ihre Tätigkeit einen himmlischen Sprachmantel erwerben, wohl aber um die damit verwandte Idee, frommes Handeln manifestiere sich im Himmel als Goldschrift an der Kleidung der Heiligen und verstorbenen Gläubigen. 32 Durch die Vervielfältigung des Fließenden Lichts, so legt Mechthilds Vision nahe, fertigten ihre Kopisten sich ein zu dieser Abschreibtätigkeit analoges Prachtgewand an, das im Himmelreich einen besonderen Gnadenstand markieren werde. Wenn das Gebet, mit Christian Kiening gesprochen, grundsätzlich »einen Vollzug dar[stellt], getragen von der Annahme oder Hoffnung, die Welt mithilfe der Sprache (zumindest im Kleinen) verändern zu können«, 33 so laufen sowohl das Bild einer himmlischen Einkleidung in Mechthilds Fließendem Licht wie auch die Vorstellung einer Gnadenwirksamkeit des Mantelbetens auf die Idee hinaus, das Beten in der Welt des Diesseits konkretisiere sich in einem jenseitigen Analogon. In der Helftaer Mystik findet sich das Motiv der so durch gottgefällige Worte oder Taten wundersam hervorgebrachten überweltlichen Kleider in verschiedenen Variationen wieder. So berichtet der Legatus divinae pietatis im vierten Buch, 34 Jesus habe Gertrud von Helfta zu Ostern in einer Vision vor Gott geführt, gekleidet in einen Ordenshabit aus ihren Tugenden und Sünden: Suscipiens eam Filius Dei praesentavit Deo Patri indutam tunica Religionis; quae tunica videbatur ex tot partibus distinctim composita, quot annos vixerat in Religione; ita quod inferior pars tunicae reputabatur pro primo anno, secunda pro secundo anno, et sic deinceps usque ad annum in quo tunc erat. Videbaturque tunica illa ita obpansa et extensa, quod nullius omnino plicae umbra quidquam in ea contegere poterat, sed in quolibet anno distinctim apparebant annotati omnes dies et horae, et insuper singulae cogitationes, verba et opera, tam bona quam mala, quae illo anno peregerat de die in diem, de hora in horam, de cogitatione in cogitationem, de verbo ad verbum, de opere ad opus. 35 30 Die einzig vollständig erhaltene und deshalb editionsbestimmende Einsiedler Handschrift des Fließenden Lichts ist in Bezug auf die Anzahl der hier gemeinten Schreiber widersprüchlich; sie verwendet sowohl den Plural wie auch den Singular. Ich verstehe diese umstrittene Passage hier im Sinne der von Nigel F. Palmer vorgeschlagenen Lesart, nach der der Text mit der Singularform prinzipiell »jeden Schreiber« meint, also auf alle Kopisten und nicht auf eine der Autorin bekannte Einzelperson abzielt (Nigel F. Palmer: Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg, in: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg. v. Wolfgang Harms, Klaus Spekkenbach u. Herfried Vögel, Tübingen 1992, S. 217 - 235, hier S. 225). 31 »alle Worte dieses Buches an seinem Obergewand in Ewigkeit offen sichtbar sein in meinem Reich, mit himmlischem, leuchtendem Gold über all seinem (übrigen) Schmuck geschrieben«, Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela-Vollmann Profe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek Deutscher Klassiker 181, Bibliothek des Mittelalters 19), S. 138f [II,26]. 32 Einen Überblick zu diesem Motiv gebe ich in Buschbeck 2022b. 33 Kiening 2008, S. 102. 34 Zur komplizierten Entstehungsgeschichte dieses Werks siehe Nemes 2014. Wenn im Folgenden von Gertrud die Rede ist, so ist damit ausdrücklich in Nemes ’ Sinn die im Legatus literarisch konstruierte und auratisierte Figur der begnadeten Visionärin gemeint, nicht eine historisch reale Autorin, deren religiöses Erleben sich im Text vermeintlich widerspiegeln würde. 35 »Da nahm der Sohn Gottes sie auf und stellte sie, mit dem Ordenskleid geschmückt, Gott dem Vater vor. Das Kleid aber schien aus so vielen besonderen Teilen zusammengesetzt, als sie Jahre im Orden 210 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="211"?> Die vita religiosa, so impliziert Gertruds Vision, kommt einer Investitur fürs Himmelreich gleich. Fromme Werke ebenso wie eventuelle Verfehlungen weben sich in das wundersame Gewand hinein, sie präfigurieren das himmlische Kleid und bilden geradezu sein Ursprungsmaterial, so dass anhand dieses überweltlichen Habits im Angesicht Gottes gegenständlich zutage tritt, wie Gertruds irdischer Lebensweg sich in der Zeit gestaltete. 36 So erscheinen sogar gute Taten, die aus nicht vollkommen hehrer Motivation heraus erbracht wurden, velut quaedam gemmulae luto fragili infixae, quae nutantes tamquam casurae vix continerentur. 37 Die Beschaffenheit des jenseitigen Kleidungsstücks entspricht, mehr noch als die himmlischen Schriftmäntel bei Mechthild von Magdeburg, dem Handeln, Denken und Sprechen seiner Trägerin im Diesseits. Immanenz und Transzendenz stehen also in dem durch die Visionsschilderung eröffneten Vorstellungsraum in einem direkten Bezugs- und Bedingungsverhältnis, wenn sich immanent abstrakte Gedanken und ephemere Handlungen im transzendenten Lebenskleid dauerhaft und gegenständlich verdichten. Nun besteht das Ordenskleid, das Gertrud in dieser Vision schaut und trägt, erstens nicht aus Gebeten oder Frömmigkeitshandlungen, sondern vielmehr aus ihren sämtlichen Worten, Taten und Gedanken, kurzum aus ihrem gesamten Ordensleben. Außerdem wird dieses Gewand, anders als im Marienmirakel oder im Falle des Rosenkranzgebets, nicht als Gabe hergestellt. Stattdessen fungiert es hier als Instrument der Selbsteinkleidung: Gertrud erscheint vor Gott in einem Habit, der den Verlauf ihres geistlichen Lebens gleichsam offenlegt und aus ihm besteht. Dieses Kleidungsstück, dessen positive Qualitäten anschließend durch die Fürsprache Christi hervorgehoben werden, 38 zeigt also nicht bloß oder bildet ab, es ist geradezu Gertruds Leben. Es stellt darin sowohl die Verheißung einer figuralen Erfüllung der auf Gott gerichteten vita religiosa der Mystikerin dar als verlebt hatte; der untere Teil desselben wurde für das erste, der folgende für das zweite Jahr und so fort gerechnet bis zu jenem, worin sie sich damals befand. Das Kleid erschien so ausgebreitet und ausgespannt, dass auch nicht der Schatten einer einzigen Falte etwas daran bedecken konnte, sondern in jedem Jahr traten besonders angemerkt hervor alle Tage und Stunden und überdies die einzelnen Gedanken, Worte und Werke, sowohl gute wie böse, welche sie in dem Jahre von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, in Gedanken um Gedanken, in Wort um Wort und Werk um Werk vollbracht hatte«, Gertrude d ’ Helfta: Œ uvres Spirituelles, Bd. 4: Le Héraut. Livre IV, hg. u. übers. v. Jean-Marie Clément u. Bernard de Vregille, Paris 1978 (Sources chrétiennes 255), S. 268 [IV,28]. Übersetzung entnommen aus Gertrud die Große: Gesandter der göttlichen Liebe, nach der Ausgabe der Benediktiner von Solesmes übers. v. Johannes Weißbrodt, Stein am Rhein 2 2001, S. 308 f. 36 Zu dieser Episode des Legatus, den dahinterstehenden Motivtraditionen und dem literarischen Phänomen einer Vergegenständlichung des Zeitlichen im Kleiderbild vgl. Racha Kirakosian: Intertextuelle Textilien: Imaginäre Kleider und Temporalität bei Alanus ab Insulis und Gertrud von Helfta, in: PBB 142.2 (2020), S. 236 - 266; sowie Kirakosian 2021, S. 175 - 196. 37 »wie kleine Edelsteinchen, an flüchtigen Staub angeheftet, so dass sie hin- und herschwankten und, wie im Begriff zu fallen, kaum hängen bleiben konnten«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 270 [IV, 28]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 309. 38 Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 270 [IV, 28]: Orante autem pro ea Filio Dei et suam innocentissimam ac perfectissimam conversationem Deo Patri offerente, videbatur tota tunica illa veluti quadam aurea lamina splendidissima et perspicacissima obtecta. (»Als aber der Sohn Gottes für sie Fürsprache einlegte und seinen unschuldigsten und vollkommensten Lebenswandel Gott dem Vater aufopferte, erschien das Kleid wie mit einer überaus glänzenden und durchsichtigen Goldplatte überdeckt«, Übers. Weißbrodt 2001, S. 309.) 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 211 <?page no="212"?> auch, wie Racha Kirakosian hervorstreicht, als Hochzeitskleid eine Präfiguration der erhofften brautmystischen Vereinigung mit Christus in der Zukunft. 39 Deutlich verbreiteter als das hier evozierte Bild eines zugleich in biographische Vergangenheit und heilsträchtige Zukunft weisenden himmlischen › Lebenskleids ‹ ist das Motiv eines als Geschenk für Maria, manchmal auch für Jesus oder einzelne Heilige mithilfe von frommen Taten, Gebeten oder Andachtsübungen angefertigten Kleidungsstücks. Es findet sich an anderen Stellen auch im Legatus divinae pietatis, so in einer Passage, in der Gertrud zu Mariä Himmelfahrt immer wieder den dreiteiligen Engelsgruß Ave Maria, - gratia plena, - Dominus tecum betet, woraufhin ihr Maria erscheint, circumamicta pallio viridi, quod fulgebat undique circumpositum aureis floribus in modum trifoliorum. 40 Diese kleinen goldenen Blumenstickereien sind, so offenbart die Gottesmutter, die himmlischen Manifestationen der eben dargebrachten Gebete Gertruds und ihrer ins Gebet eingeschlossenen Mitschwestern: Ecce quot verba quaelibet earum, ex quarum parte mihi offers, oravit, tot mihi flores ad ornatum imposuit; quorum quilibet magis aut minus vernat, secundum quod quaelibet orando intentionem suam plus vel minus adhibuit. 41 Diese Vision weist einerseits Ähnlichkeiten mit dem Gebetskleid bei Heinrich dem Klausner auf und illustriert andererseits in ihrer Gleichsetzung von Mariengrüßen mit himmlischen Blumen auch die Nähe des textilen Betens zur Tradition des Rosenkranzes. 42 Thomas Lentes vermutet sogar, dass diese Visionsepisode für »das Beten des Marienmantels [ … ] die Anregung« gab. 43 Gleich ob tatsächlich eine derartig direkte Ursprungslinie anzunehmen ist oder ob, wie das ungefähr zeitgleich entstandene Marienmirakel eher nahelegt, davon auszugehen ist, dass die Vorstellung des Mantelbetens um 1300 bereits so gängig war, dass Heinrich der Klausner und der Legatus sie unabhängig voneinander aufgriffen - Gertruds Vision stellt in jedem Fall ein sehr frühes Zeugnis eines gezählten Betens dar, dessen Text sich im Himmel figural zur Textilie konkretisieren soll. Aufschlussreich in Bezug auf die heilsvermittelnde Wirkung, die von einem derartigen Herbeibeten geistlicher Kleidergaben erhofft wurde, ist eine weitere Passage des Legatus. Hier wird anhand einer Auslegung des Responsoriums Induit me dominus 44 das textile 39 Vgl. dazu den Beitrag von Racha Kirakosian: Time in a Text(ile): Gertrude the Great ’ s Easter Vision, in: Medieval Temporalities. The Experience of Time in Medieval Europe, hg. v. Almut Suerbaum u. Annie Sutherland, Cambridge 2021, S. 185 - 202. 40 »geschmückt mit einem grünen, von goldenen dreiblätterigen Blumen glänzenden Mantel«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 358 [IV, 48]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 336. 41 »Sieh, so viele Worte jede von denen, in deren Namen du mir dies darbringst, gebetet hat, ebenso viele Blumen hat sie zu meinem Schmuck hinzugefügt, wovon die eine mehr, die andere weniger blüht, je nachdem jede mehr oder weniger vollkommen und andächtig gebetet hat«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 358 [IV, 48]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 336 f. 42 Eine weitere Visionsepisode, in der Frömmigkeitsübungen als Blumenschmuck erscheinen, findet sich auch etwas später im gleichen Buch des Legatus (vgl. Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 418 - 421 [IV, 51]). 43 Lentes 1996, S. 486. 44 Es ist etwas unklar, welcher liturgische Text hier genau gemeint ist. Infrage kommt zunächst das bei der Investitur einer neuen Schwerster gesungene Responsorium Induit me Dominus cyclade auro texta, et immensis monilibus ornavit me (»Der Herr hat mich in ein aus Gold gewobenes Gewand gekleidet und mich mit unschätzbarem Geschmeide geschmückt«), siehe René-Jean Hesbert: Corpus antiphonalium Officii, 6 Bd.e, Rom 1963 - 1979 (Rerum ecclesiasticarum documenta 7 - 12), Nr. 3328. Den 212 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="213"?> Beten in eine Logik von irdischem Dienst und jenseitiger Entlohnung gerahmt, die wiederum an das Lebenskleid der oben angesprochenen Ostervision gemahnt: Per Responsorium: Induit me Dominus, etc. intellexit quod ille verbo vel facto ad promovendam Religionem et rationabiliter probugnandam justitiam quasi vestit Dominum vestimento salutari simul et ornatissimo: et Dominus remunerabit eum in vita aeterna secundum liberalitatem suae regalis munificentiae circumdando eum vestimentis laetitiae et pro augmento praemii corona gloriae spiritualis decorabit. Sed singulariter intellexit quod ille qui promovens bona vel Religionem, adversa patitur, tanto gratior est Deo, sicut acceptius est pauperi vestimentum quo calefit simul et vestitur. 45 Auch hier wird das durch gottgefällige Worte und Taten gefertigte Gewand als Gabe vorgestellt, mit der die Frommen Jesus Christus kleiden und zieren können. Dabei wird der Wortsinn des Responsoriums, dessen Anfang lautet »der Herr hat mich gekleidet in das Gewand des Heils und mich mit dem Kleid der Freude umfangen« (induit me Dominus vestimento salutis, et indumento laetitia circumdedit me), 46 zunächst geradezu ins Gegenteil verkehrt. Denn in der Deutung des Legatus ist es nicht Gott, der die den Text singenden Gläubigen heilskräftig einkleidet, vielmehr bieten eben jene Gläubigen ihm eine im und aus dem Beten figurierte Kleidergabe dar. Erst in einem zweiten Schritt wird dieses Geschenk im ewigen Leben dann mit einer unvergleichlich besseren Gegengabe aus Freudengewand und Himmelskrone belohnt. 47 So entspannt sich, was Peter Ochsenbein Gebrauch dieses Textes bei der Nonneninvestitur beschreibt Julie Hotchin: Emotions and the Ritual of a Nun ’ s Coronation in Late Medieval Germany, in: Emotion, Ritual and Power in Europe, 1200 - 1920. Family, State and Church, hg. v. Merridee L. Bailey u. Katie Barclay, Cham 2017, S. 171 - 192, hier S. 182. Eine Diskussion der entsprechenden Liturgie findet sich auch bei Ferdinand Probst: Kirchliche Benediktionen und ihre Verwaltung, Tübingen 1857, S. 224. Zudem dürfte im Legatus divinae pietatis, wie die Teilparaphrase dieses Textes nahelegt, auch angespielt werden auf das sehr ähnliche Responsorium Induit me Dominus vestimento salutis, et indumento laetitiae circumdedit me: Et tanquam sponsam decoravit me corona (»Der Herr hat mich gekleidet in das Gewand des Heils und mich mit dem Kleid der Freude umfangen, und wie eine Braut hat er mich mit einer Krone geschmückt«), vgl. Hesbert 1963 - 1979, Nr. 6955. Das Responsorium findet sich in der Nokturn zum Fest der Heiligen Agnes (21. Januar), vgl. Breviarium ad usum insignis ecclesiae Sarum. Fasciculus III. In quo continetur Proprium sanctorum, hg. v. Franciscus Propter u. Christopher Wordsworth, Canterbury 1889, S. 89. Der Text beider Responsorien geht zurück auf das Schriftwort Is 61,10. 45 »Bei dem Responsorium › Der Herr hat mich bekleidet ‹ erkannte sie, dass derjenige, der durch Wort oder Werk zur Ausbreitung der Religion tätig ist und die Gerechtigkeit verteidigt, den Herrn gleichsam mit einem heilsamen und zugleich schmuckreichen Gewand bekleidet. Ihm wird der Herr im ewigen Leben mit königlicher Freigebigkeit vergelten, indem er ihn in Gewänder der Freude kleidet und mit der Krone geistiger Herrlichkeit schmückt. Im Besonderen noch erkannte sie, dass derjenige, welcher dabei Widerwärtigkeiten erduldet, Gott um so angenehmer ist, gleichwie der Arme das Kleid lieber hat, welches ihn nicht bloß warm hält, sondern zugleich ziert«, Gertrude d ’ Helfta: Œ uvres Spirituelles, Bd. 3: Le Héraut. Livre III, hg. u. übers. v. Pierre Doyère, Paris 1968 (Sources chrétiennes 143), S. 146 [III,30] Übers. Weißbrodt 2001, S. 148 [hier als III,28]. 46 Hier macht die Verwendung der Ausdrücke vestimento salutari, vestimentis laetitiae und corona gloriae spiritualis deutlich, dass der Text, anders als vom Herausgeber angemerkt (siehe Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 3, S. 146), Bezug nimmt auf das Responsorium Hesbert 1963 - 1979, Nr. 6955. 47 Auch entsprechende Bilddarstellungen der »crown as a metaphor for the reward of the righteous« sind in der religiösen Kunst des ausgehenden Mittelalters verbreitet (Hamburger 1997, S. 58). 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 213 <?page no="214"?> als Vorstellung einer »Dienstverpflichtung gegenüber Gott« charakterisiert, durch deren Erfüllung auf einen als Gegenleistung verstandenen Gnadenerweis gehofft wird. 48 In welchem Verhältnis jedoch steht dies zu einer Gebetspraxis, wie sie z. B. in Heinrichs Marienmirakel erzählt wird? Der liturgische Kontext, in dem Gertruds Interpretation sich verortet, legt zumindest nahe, dass die Gebetshandlung, in deren Rahmen das thematisierte Responsorium gesungen wird, hier als substantieller Teil jenes christlichen Lebens in »Wort und Werk« (verbo vel facto) gedacht ist, aus dem ein himmlisches Gewand für Jesus entsteht. Quantifiziert oder mittels einer schriftlichen Gebetsübung angeleitet wird das Fertigen dieses Christuskleids bei Gertrud allerdings nicht. Vielmehr wird das Material der dargebrachten geistlichen Textilien wie in ihrer Vision des › Lebenskleids ‹ allgemein als Gesamtheit gottesfürchtigen Sprechens, Handelns und Denkens begriffen. 1.2 Anspruchsvolle Fertigungen: Gebetskleider in Mirakeln des 15. Jahrhunderts In einer eindeutig auf Gebetsleistungen bezogenen Form findet sich das Mantelmotiv hingegen in einer Reihe von Mirakeln, die mit Ausnahme der deutlich früheren, mitteldeutschen Dichtung Heinrichs des Klausners vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts für den niederdeutschen und niederländischen Sprachraum überliefert sind. 49 Auch die noch auf die erste Jahrhunderthälfte datierende Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen und der auf Werke des Alanus von Rupe zurückgehende Ulmer Rosenkranzdruck von 1483 enthalten Erzählungen von wundersamen Gebetsmänteln für die heilige Jungfrau. 50 Ähnlich wie die im vorangegangenen Kapitel untersuchten Fassungen des Mirakels vom Mönch mit den Rosenkränzen bieten diese Texte ein Programm der narrativen Propagierung und Erläuterung der in ihnen geschilderten Gebetspraxis. Ein charakteristisches Beispiel für derartige narrative Reflexionen des Mantelbetens stellt ein niederländisches Mirakel des 15. Jahrhunderts dar, das von einem Zisterziensermönch berichtet, der es sich zur Gewohnheit gemacht habe, täglich fünfzig Mariengrüße zu beten. 51 Als er dies eines Tages versehentlich versäumt hat und sein Gebet reuig nachholt, erscheint ihm die Gottesmutter in einem wundersamen Gewand, das über und über mit goldenen Ave Maria beschrieben ist: Doe hi sijn ghebet ghedaen hadde doe openbaerde haer maria onse lieve vrouwe desen broder in groter claerheit mit enen bliden aensicht Ende hadde enen sconen mantel om haer in welken 48 Ochsenbein 1997, S. 145. 49 Vgl. z. B. die bei As-Vijvers 2007 untersuchten Texte. 50 So berichtet das neunte Mirakel der Zwanzig-Exempel-Schrift von einem Zisterzienser, der täglich und besonders an den Marientagen geistliche Kleider für die heilige Jungfrau betet und diese in einer Entrückungsvision im Himmel schaut, wo ihm mitgeteilt wird, diese Kleider würden für ihn bereitgehalten, so dass er sie selbst im ewigen Leben tragen könne (vgl. ZES, Z. 268 - 289). Zwei inhaltlich ähnliche Mirakel finden sich im Ulmer Rosenkranzdruck, vgl. Psalter Marie, Ulm: Konrad Dinckmut 1483 (GW M39197), fol. d1r - d6r. Hierzu siehe Buschbeck 2022b, S. 46 - 48, sowie allgemein zur Mirakelsammlung dieses Drucks Buschbeck 2023. 51 Ediert in C. G. N. de Vooys (Hg.): Middelnederlandse Marialegenden, Bd. 1: Onser liever vrouwen miraculen (naar het Katwijkse handschrift), Leiden 1903, S. 227 - 229. 214 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="215"?> mantel al doergans ghescreven stont mit gulden letteren Ave maria Ende niet veel en was anden mantel ten was al vol dan anden soem des mantels 52 Das Beten des Mönchs, so wird in der Marienerscheinung evident, hat sich auf wundersame Weise vom textus des Mariengrußes zur Textilie des überweltlichen Mantels transformiert, der die Sprachlichkeit der vorgebrachten Gebete allerdings auch als Goldinschrift enthält und zurückspiegelt. Kathryn M. Rudy argumentiert diesbezüglich, das Ave-Beten werde in dieser Erzählung »drawn out into an extended textile metaphor«, 53 anhand derer die Gebetsleistung des Mönches quantifizierend verhandelt und schlussendlich belohnt werde. Jedoch, so möchte ich einwenden, stellt sich die Beziehung von Gebet und goldenen Mantelverzierungen zumindest in der Binnenlogik dieses Mirakels nicht bloß metaphorisch oder allegorisch dar, sondern entfaltet vielmehr ein Figurationsverhältnis. Die Gebetsübung des Mönches verheißt eine Zuwendung zu Maria, die sich in der geistlichen Konkretisierung der Gebetsformeln und dem Gnadenerlebnis der Schau erfüllt. Maria selbst erklärt dies, wenn sie an den Zisterzienser gewandt spricht: broeder en hebt ghenen anxt. Want alle die grueten di ghi mi hebt ghelesen die staen ghescreven in minen mantel. 54 Die Gebete des Mönches, so kann diese Aussage gelesen werden, verschwinden nicht einfach in der Vergangenheit, nachdem sie gesprochen wurden, sondern figurieren und akkumulieren sich in dauerhafter Gegenwart als goldene Ornamente auf dem Marienmantel, der somit beinahe wie ein Depot fungiert, in dem der Mönch seine frommen Mariengrüße ansammelt. Dass diese quantifizierten Konkretisierungen des Betens zugleich eine Zukunft des Heils präfigurieren, wird deutlich, wenn Maria dem Mönch hierfür einen jenseitigen Gnadenlohn in Aussicht stellt. Diesen aber soll er erst dann empfangen, wenn auch der bislang leergebliebene Saum ihres Mantels mit Gebetsworten bedeckt sei: siet wanneer dit ander deel vanden mantel vol ghescreven is mit Ave maria Dan sel ic iu leyden in die ewighe vruechde des levens Daer ghi iu ewelic in verbliden selt mit minen lieven sone ende mit mi omden dienst die ghi mi ghedaen hebt. 55 Dass die Hinkehr zu Maria im Gebet hier ausdrücklich als dienst gefasst ist, der leistungshaft ein Ergebnis hervorbringt, für das im Anschluss ein Heilslohn gewährt wird, illustriert vor allem eine heilsökonomische Seite des Mantelbetens. In diesem Mirakel wird es, stärker noch als bei Heinrich dem Klausner, als quantifizierbare und mit der Hoffnung auf Lohn verbundenen Gabe dargestellt, die als goldene Mantelinschrift verfügbar wird. Die Frömmigkeitspraxis des Zisterziensers kommt so einer geistlichen Handwerksarbeit gleich, die in Erwartung einer Gegenleistung für die Gottesmutter 52 »Als er sein Gebet vollbracht hatte, da offenbarte sich unsere liebe Frau Maria diesem Bruder in großer Klarheit in einer strahlenden Erscheinung. Und sie trug einen schönen Mantel, und auf diesem Mantel stand überall in goldenen Buchstaben › Ave Maria ‹ geschrieben. Und es war nicht mehr viel Platz auf diesem Mantel, denn er war fast bis zum Saum des Mantels vollgeschrieben«, de Vooys 1903, S. 228. 53 Kathryn M. Rudy: Introduction: Miraculous Textiles in › Exempla ‹ and Images from the Low Countries, in: Weaving, Veiling, and Dressing: Textiles and their Metaphors in the Late Middle Ages, hg. v. Kathryn M. Rudy u. Barbara Baert, Turnhout 2007 (Medieval Church Studies 12), S. 1 - 35, hier S. 28. 54 »Bruder, habt keine Angst, denn alle die Grüße, die ihr für mich gelesen habt, die stehen auf meinem Mantel geschrieben«, de Vooys 1903, S. 228. 55 »dann, wenn dieser andere Teil des Mantels mit Ave Maria beschrieben ist, dann werde ich euch zur ewigen Freude des Lebens führen, in dem ihr auf immer behalten sein sollt mit meinem Sohn und mir wegen des Dienstes, den ihr mir geleistet habt«, ebd., S. 228 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 215 <?page no="216"?> verrichtet wird. Mit Thomas Lentes gesprochen kann dies als Zeugnis einer »religiöse[n] Logik« aufgefasst werden, »die von der wirklichkeitsstiftenden Macht der Gebete ebenso überzeugt war wie von der Realität und Wirksamkeit der Gewänder der Heiligen« und darauf Tendenzen zu einer Ökonomisierung des Gebets und seiner Produkte fundierte. 56 Doch wie ist der Zusammenhang zwischen den immanenten Gebetsworten und ihrer transzendenten Entsprechung im Marienkleid zu fassen? Im Mirakel vom betenden Zisterziensermönch funktioniert die figurale Engführung von Reihengebet und Textilornament über das Medium der Schrift, die das Gebet und seine Visionsgestalt gewissermaßen überdeterminiert. Denn der biblisch hergeleitete Text des Ave Maria gibt zugleich die gesprochenen Gebetsworte vor und präfiguriert die diesem Sprechen gleichkommende Mantelverzierung aus Goldbuchstaben. 57 Komplexer verhält es sich in einer zweiten mittelniederländischen Erzählung, die der Überlieferung nach auf Alanus von Rupe zurückgeht und in der die geschilderten Gebete nicht nur als schmückende Schrift auf dem Mantel der Gottesmutter aufscheinen. Stattdessen werden in einer bedeutsamen Steigerung dieses Motivs die angesammelten Gebete gleichsam als Rohmaterial präsentiert, aus dem geistige Gewänder für Maria, Jesus und die Heiligen entstehen. In der Legende, die in de Vooys ’ Edition als ein scoon exempel hoe dat drij ghesusteren macten der maghet Mariën cleederen betitelt ist, 58 zeichnet sich das Beten der Protagonistinnen nicht bloß auf dem Mantel Marias ab, es stellt ihn gleichermaßen her wie dar. Drei Schwestern, so beginnt die Erzählung, werden von ihrem Beichtvater in allerlei Frömmigkeitsformen unterwiesen, darunter z. B. darin, te bereydene dat huys der concienciën, 59 also in einer sich vom Bild des inneren Hauses ableitenden geistlichen Übung zur geistlichen Selbstformung, deren Tradition ich im Folgekapitel untersuche. Vor allem aber hält der Priester die drei Schwestern dazu an, der Gottesmutter zu Mariä Lichtmess (2. Februar) ein prächtiges Herrscherinnengewand aus Mariengrüßen anzufertigen: soe vermaende hij hem dat sij teghen onser liever vrouwen kerc ganc bereyden souden eenen mantel met eenen tabbaert ende onder rocke Ende ander costelijke iuweelen als doeke des hoefs ende scoen ende behoefelicheit der andere leden Ende dat soude sijn doer III. L Ave mariën recht als om die III cleedere voerscreven Ende met XV pater noster recht als voer die ander cyerheit. 60 Die Kleidung, die Maria beim Gang zum Tempel während der an Lichtmess erinnerten und imaginativ vergegenwärtigten Darstellung des Herrn tragen soll, muss von jeder der drei Schwestern im Vorfeld des liturgischen Fests aus einem genau spezifizierten Gebetspensum hergestellt werden, das dem im vorangegangenen Kapitel behandelten Marienpsalter des Alanus von Rupe entspricht, sich hier jedoch statt zum Kranz zur geistlichen Textilie 56 Lentes 1993, hier S. 121. 57 Auf mehrere vergleichbare Inschriftenerzählungen gehe ich detaillierter ein in Buschbeck 2022b. 58 »ein schönes Exempel davon, wie drei Schwestern des Jungfrau Maria Kleider anfertigten«, ediert in Middelnederlandse Marialegenden, für die Maatschappij der Nederlandsche letterkunde hg. v. C. G. N. de Vooys, Bd. 2: Inleiding - Verspreide Marialegenden - Aantekeningen, Leiden 1904, S. 213 - 216, hier S. 213. 59 »das Haus des Gewissens einzurichten«, ebd., S. 213. 60 »So wies er sie an, dass sie zum Tempelgang Mariens einen Mantel herstellen sollten mit einem Überwurf und einem Unterrock und anderen kostbaren Kleinoden wie einer Kopfbedeckung und Schuhen und allem, was sonst noch notwendig ist. Und das sollten drei Mal fünfzig Ave Maria für die drei erwähnten Kleider sein, und dazu 15 Vaterunser für die sonstige Ausstattung«, ebd. 216 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="217"?> konkretisieren soll. Mantel, Überwurf (tabbaert) und Unterrock sollen aus jeweils fünfzig Mariengrüßen bestehen, Kopfputz (doeke des hoefs), Schuhe und andere kostbare Ausstaffierungen (cyerheit) aus fünfzehn Vaterunser. Der Beichtvater stellt den drei Schwestern mit seinen Anweisungen somit eine Art Schnittmuster der Imagination zu Verfügung, nach dem diese jeweils einen geistlichen Ornat herstellen sollen. Dabei wird ihr Beten gleichzeitig als Arbeitsschritt und, wie Anne Margreet W. As-Vijvers hervorhebt, als der Werkstoff für das beim Beten produzierte, überstoffliche Werkstück gefasst: »praying the Ave Maria yielded the fabrics, the threads, and the decoration to manufacture the Virgin a mantle.« 61 Nun reicht ein bloßes Aufsagen der vorgegebenen Gebete jedoch nicht aus. Denn wie der Beichtvater anmahnt, bestehen die wundersamen Kleider nicht bloß aus den Worten des Engelsgrußes, sondern vielmehr aus der ynnicheit die wij tot mariën hebben in onsen ghebede op dat wij dat offeren in harer eeren. 62 Diese Aufgabe, die, wie zu Beginn dieser Arbeit umrissen, auf eine Frömmigkeitspraxis hinausläuft, die eine Immersion in die Heilsereignisse ebenso umfasst wie die kommunikative Hinkehr zum Heiligen mittels geformter Sprache, erfüllen die drei jungen Frauen unterschiedlich gut. Während die erste in vollkommener Hingabe und Andacht betet und die zweite ihre Ave Maria immerhin in vollstem Ernst (neerstelijc) 63 aufsagt, zeigt sich die jüngste Schwester nachlässig. Sie betet zwar dasselbe quantifizierte Pensum wie die anderen beiden, jedoch maer lauwelijc ende seere overloepende. 64 Wie für Marienmirakel gattungsdefinierend zeigt sich den drei Schwestern anschließend in einer Vision die heilige Jungfrau, und zwar dreimal hintereinander und in drei je verschiedene Kleidungsgarnituren gewandet. Während Maria der ersten Schwester in einem herrscherlichen Prachtornat und begleitet von einer Entourage aus der heiligen Agnes und der heiligen Katharina erscheint, sieht die zweite Schwester sie alleine und in zwar weniger prächtigen, aber immer noch noblen groenen cleederen. 65 Peinlich wird die Angelegenheit, wenn Maria der dritten, weniger frommen Schwester met snoeden lakene ghecleet als een sac gegenübertritt. 66 Erkennend, dass ihre Achtlosigkeit im Gebet die Ursache für diesen der Himmelskönigin wenig standesgemäßen Aufzug darstellt, gelobt die jüngste Schwester Besserung und betet fortan ebenso innig wie ihre älteren Geschwister. Der Zusammenhang zwischen äußerem Gebetsvollzug und seiner Figuration im Marienmantel ist hier also keineswegs mechanistisch dargestellt - »merely reciting the prayers repeatedly is not enough; it is the intention of the prayer that matters« 67 sowie, so ist hinzuzufügen, die richtige innere Haltung der Betenden. Textiles Beten fußt dabei, anders als im Falle der goldenen Textilinschrift in der vorweg angesprochenen Legende, nicht auf einer durch das tertium comparationis der Sprachlichkeit plausibilisierten Analogie von gesprochenem Gebet und überweltlichem Schriftornament. Ebenso wenig 61 As-Vijvers 2007, S. 62. 62 »der Hingebung, die wir zu Maria haben in unserem Gebet, dass wir es ihr zu Ehren darbringen«, de Vooys 1904, S. 213 f. 63 ebd., S. 224. 64 »halbherziger und sehr hastig«, ebd. 65 »grünen Kleidern«, ebd., S. 215. 66 »in einfache, sackartige Tücher gekleidet«, ebd. 67 As-Vijvers 2007, S. 52. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 217 <?page no="218"?> aber stellt das Mantelgebet der drei Schwestern in dieser Erzählung bloß einen gezielt stimulierten Imaginationsakt dar. Die Erscheinung Mariens und die detaillierte, auf materielle Details ihrer Kleider eingehende Beschreibung weisen vielmehr daraufhin, welch spannungsreiche Position gebethaft produzierte Gegenstände im Kontext der »im Mittelalter immer wieder umkreiste[n] Balance zwischen der Ostendierung und der Transzendierung von Materialität« einnehmen. 68 Denn einerseits eignet den Gebetskleidern der Gottesmutter zumindest in der Evidenz der Vision die Konkretheit und damit verbundene Wirkmacht des Dinglichen, andererseits aber sind sie gerade nicht stofflicher Natur, sondern werden geistlich hergestellt. Die Kategoriengrenze zwischen Dingen, die außerhalb des Bewusstseins bestehen, und Vorstellungen, deren Gegenstände von einer Existenzpräsupposition zunächst einmal ausgenommen sind, wird durchkreuzt. 69 1.3 Das Bildmotiv der Schutzmantelmadonna Im frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund textiler Gebetsübungen stehen verschiedene Bildmotive, die ungefähr zeitgleich auftreten und bereits in den oben angesprochenen Mirakelerzählungen verschmolzen werden. So ist seit der Mitte des 13. Jahrhundert in der Sakralkunst die Ikonographie der Schutzmantelmadonna verbreitet: Maria wird als überlebensgroße Figur mit einem umhangartigen Mantel gezeigt, unter dem sich eine Gruppe von Gläubigen schutzsuchend versammelt. 70 Wie Christa Belting-Ihm zeigt, geht dieser Typ der Mariendarstellung einerseits auf ab dem 12. Jahrhundert im Kontext der Kreuzzüge aus dem byzantinischen Raum in den Westen gelangende Mantelreliquien, Bildmotive und Legenden zurück. 71 Andererseits rekurriert er auf die Rechtsgesten des Mantelschutzes und der Manteladoption. Letztere wird unter anderem im Schwabenspiegel beschrieben: Kinder konnten adoptiert werden, indem sie bei der Eheschließung mit unter den Mantel genommen wurden. 72 Wenn Maria also die zu ihr Betenden unter ihrem 68 Kiening 2016, S. 288. 69 Zu diesem Gedanken vgl. ausführlicher Buschbeck 2022. 70 Einen immer noch guten Überblick über diese Motivtradition bietet Vera Sussmann: Maria mit dem Schutzmantel, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 5 (1929), S. 285 - 351. Zur Verbreitung des Motivs der Schutzmantelmadonna in der bildenden Kunst des Mittelalters und für einen umfänglichen Katalog erhaltener Bildwerke siehe ebd., S. 311 - 351. 71 Vgl. Christa Belting-Ihm: Sub matris tutela. Untersuchungen zur Vorgeschichte der Schutzmantelmadonna, Heidelberg 1976 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1976,3), S. 9 - 37. Die Autorin widerlegt in ihrer Arbeit die ältere These Paul Perdrizets, das Schutzmantelmotiv ginge ursächlich auf die unten angesprochene Legende des Caesarius von Heisterbach zurück, vgl. Paul Perdrizet: La Vierge de Miséricorde. Étude ď un thème iconographique, Paris 1908, S. 18 - 26. Dagegen kann Belting-Ihm zeigen, »daß nicht nur Konstantinopeler Rettungslegenden, Gebets- und Anrufungsformeln, sondern auch die Translatio von Teilen der Mantelreliquie selbst für die Mantelschutzidee in der Marienverehrung der lateinischen Kirche eine große Rolle gespielt haben« (Belting-Ihm 1976, S. 57) und erweitert die bereits bei Sussmann 1929 geäußerte Kritik an der These Perdrizets. 72 so sprechent sa ᵉ mlich lûtte die ungelerten: er [Vater] sulle sie [uneheliche Kinder] z ů im hullen under den mantel, alß er ir m ů tter elichen neme, oder sullen sie mit der gûrtel umb vahen z ů im. des ist nicht. wa die kind sint, so sint sie ekind, Art. Mantel, in: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der ältesten deutschen Rechtssprache, hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 9: Mahlgericht bis 218 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="219"?> Mantel schützt, so die Implikation des Bildmotivs, nimmt sie sie an Kindes statt an und lässt ihnen mütterliche Behütung und Liebe angedeihen. 73 Zudem war der Mantel hochgestellter Persönlichkeiten in der mittelalterlichen Rechtspraxis Asylstätte: »hohe Frauen der mittelalterlichen Gesellschaft konnten mit ihrem weiten Mantel einen bei ihnen Schutz Suchenden einhüllen« und ihn auf diese Weise zunächst vor Verfolgung sichern, meist verbunden mit dem Versuch, durch ihre Fürbitte Strafmilderung oder gar Amnestie zu erwirken. 74 Auch diese Symboliken aus dem weltlichen Recht übertragen sich im Mittelalter in die religiöse Marienmantelikonographie, in der Maria als Fürbitterin auftritt, die vor göttlichem Zorn bewahrt. Wundererzählungen über den schützenden Mantel Marias sind im Westen wesentlich älter als die bekanntere Bilddarstellung. Schon Gregor von Tours (538 - 594) gibt mit dem Mirakel vom Judenknaben, den die Heilige Jungfrau unter ihrem Mantel vor einem Feuer beschützt, einen ältesten Beleg für dieses Motiv. 75 Auch eine Geschichte von der Rettung der Stadt Konstantinopel durch Marias ausgebreiteten Mantel findet sich bereits in lateinischen Lektionaren des 10. und 11. Jahrhunderts ebenso wie in der Wundersammlung des Benediktiners Gautier de Coincy (1177 - 1236). 76 Derartige Marienmirakel bilden den narrativen Mutterboden sowohl des Bildtyps der Schutzmantelmadonna als auch des damit verknüpften Mantelbetens. Lange Zeit wurde der Ursprung des Schutzmantelmotivs in einer Episode aus dem Dialogus miraculorum des rheinischen Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (ca. 1180 - 1240) vermutet. 77 Obgleich diese These, die mitunter noch weiterkolportiert wird, inzwischen als widerlegt gelten muss, verdient der kurze Visionsbericht des Caesarius aus der zwischen 1219 und 1223 entstandenen Mirakelsammlung dennoch einen eindringlicheren Blick. Er stellt zwar nicht die älteste, wohl aber die im weiteren Verlauf einflussreichste Marienmantellegende des europäischen Mittelalters dar. Ein Zisterziensermönch, so erzählt Caesarius, wird in den Himmel entrückt und sieht dort neben den Engeln und Heiligen auch Mitglieder aller anderen religiösen Orden stehen - bloß nach den Zisterziensern hält er vergebens Ausschau. Schließlich fragt er betrübt die Jungfrau Maria, warum denn sein eigener Orden von den himmlischen Rängen ausgeschlossen sei. Diese gibt ihm daraufhin Auskunft: Notrust, bearb. v. Heino Speer u. a., Weimar 1992 - 1996, Sp. 172 - 178, hier Sp. 177. Zum juristischen Begriff des Mantelschutzes siehe auch Sussmann 1929, S. 286 - 288. 73 Maria ist nicht die einzige im Mittelalter als Mantelschützerin dargestellte Figur. Verschiedene Heilige, darunter z. B. Ursula und Odilia, aber auch Christus und Gottvater werden gelegentlich als Mantelschützer gezeigt. Eine Zusammenstellung an Beispielen mit entsprechenden Bildreproduktionen findet sich bei Sussmann 1929, S, 289 - 293. 74 Leopold Kretzenbacher: Schutz- und Bittgebärden der Gottesmutter. Zu Vorbedingungen, Auftreten und Nachleben mittelalterlicher Fürbitte-Gesten zwischen Hochkunst, Legende und Volksglauben, München 1981 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte Jg. 1981,3), S. 14. 75 Gregor von Tours: Liber miraculorum, in: Patrologia Latina 71 (1879), Sp. 705 - 910, hier Sp. 714 f. [lib. 1, cap. 10]. Vgl. dazu auch Belting-Ihm 1976, S. 12 f. sowie S. 26 und S. 28. 76 Diese Erzählung wird wiedergegeben und kommentiert bei Sussmann 1929, S. 300 - 302. 77 So postulierte z. B. Paul Perdrizet: »Le type iconographique de la Vierge au manteau [ … ] a sa source dans une histoire d ’ apparition, dans un récit de vision. La vision dont il s ’ agit est racontée par Césaire d ’ Heisterbach«, Perdrizet 1908, S. 20 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 219 <?page no="220"?> Videns eum turbatum Regina coeli, respondit: »Ita mihi dilecti ac familiares sunt hi qui de ordine Cisterciensi sunt, ut eos etiam sub ulnis meis foveam.« Aperiensque pallium suum quo amicta videbatur, quod mirae erat latitudinis, innumerabilem multitudinem monachorum, conversorum, sanctimonialium illi ostendit. Qui nimis exultans et gratias referens, ad corpus rediit, et quid viderit, quidve audierit Abbati suo narravit. 78 In vielerlei Hinsicht lässt sich hier eine verklärende Selbstinszenierung des Zisterzienserordens erkennen. 79 Hervorgehoben unter allen anderen Religiosen, so der entscheidende Punkt des Mirakels, stehen die Zisterzienser im Himmel unter dem besonderen Schutz der Jungfrau Maria, ja sie können vor dem Hintergrund der Manteladoption als Rechtsgeste sogar als die angenommenen Kinder der Heiligen Jungfrau verstanden werden. Damit ist bei Caesarius von Heisterbach zwar nicht der Anfang des Motivs der Schutzmantelmadonna zu suchen, wohl aber der Beginn eines die folgend untersuchten Texte zentral mitbestimmenden frommen Kommunitätsgedankens. Denn die Vorstellung, dass eine spezifische religiöse Gemeinschaft an Personen, die Maria mit besonderer Hingabe dienen (tam devote servientes), 80 sich dadurch ihre besondere Nähe und Beschirmung verdient, scheint bei Caesarius ’ Zeitgenossen und folgenden Generationen geistlicher Autoren eine besonders umkämpfte Aufmerksamkeit erregt zu haben. So wurde einerseits der hier zutage tretende Anspruch auf das Patrozinium der Gottesmutter so sehr zum identitätsbestimmenden Teil des Zisterzienserordens, dass im Verlauf des 14. Jahrhunderts sogar zahlreiche Siegel der Zisterzienser entstanden, welche die von Maria beschützten Ordensangehörigen zeigen, darunter auch das Siegel des Generalkapitels. 81 Auf der anderen Seite aber scheinen auch andere Ordensgemeinschaften, oft in Anlehnung an das kurze Mirakel aus dem Dialogus miraculorum, Anspruch auf das Patrozinium der Gottesmutter und den dieses Verhältnis verkörpernden Mantelschutz erhoben zu haben. Letzteres wird deutlich, wenn beispielsweise der Dominikanergelehrte Thomas von Cantimpré (1201 - ca. 1272) in seinem zwischen 1258 und 1263 vollendeten Bonum universale de apibus eine Marienvision wiedergibt, die als scharfe und selbstbewusste Replik auf Caesarius gelesen werden muss. Ein Zisterziensermönch nämlich, so berichtet Thomas, habe in einer Vision seine Ordenspatronin Maria (patronam ipsius Cisterciensis ordinis) geschaut, die ihn aufgefordert habe, für diejenigen zu beten, die sie ihm als ihre Brüder und Kinder (meos fratres et filios) anempfehle. In der Überzeugung, es handele sich 78 »Als die Königin des Himmels ihn so betrübt da stehen sah, erwiderte sie: › Die Zisterzienser sind mir so lieb und vertraut, daß ich sie sogar unter meinen Armen wärme. ‹ Dann öffnete sie den Mantel, mit dem sie bekleidet und der von einer wunderbaren Weite war, und zeigte ihm darunter eine unermeßliche Schar von Mönchen, Konversen und Nonnen. Voller Jubel und Dank kehrte da sein Geist in den Körper zurück, und er erzählte, was er gehört und gesehen hatte, seinem Abt.« Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, S. 1502. Eine ripuarische Version dieser Erzählung ist auch wiedergegeben bei Dominikus von Preußen im Ripuarischen Marienmantel, Z. 46 - 55. 79 Kretzenbacher spricht sogar von einer » › Propaganda ‹ -Legende für den Cistercienserorden«, Kretzenbacher 1981, S. 15. 80 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, S. 1502. 81 »La Vierge au manteau protecteur sert de type, dès le xiv e siècle, aux sceaux des définiteurs de l ’ Ordre et à ceux de plusieurs abbayes Cisterciennes«, Perdrizet 1908, S. 25. Vgl. auch die Reproduktionen entsprechender Siegel ebd., Tafel II; sowie Belting-Ihm 1976, S. 74 (mit weiterführenden Literaturangaben zur sphragistischen Verbreitung des Schutzmantelmotivs). Weitere Belege zur zisterziensischen Schutzmantelverehrung finden sich bei Beissel 1909, S. 209 f. 220 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="221"?> dabei exklusiv um seine eigenen Ordensbrüder, kommt der Zisterziensermönch der Anweisung nach - nur um danach von Maria gezeigt zu bekommen, dass sie nun auch die Dominikaner unter ihrem Gewand berge: Habeo, inquit, & alios fratres, quos meo patrocinio fouendos & custodiendos amplector. Et hæc dicens, reuelato pallio fratres ordinis Prædicatorum sub eo contutatos ostendit, & adiecit: Hi sunt, inquit, qui specialiter insistunt negotio, ne dilecti filij mei sanguis invtiliter sit effusus. 82 Die Ordensrivalität, die hier zum Vorschein kommt, trägt durchaus bissige Züge. Wie Markus Schürer ausführt, weist Thomas von Camtipré mit »der Einforderung des Patroziniums der Mutter Gottes für den Predigerorden [ … ] seiner Gemeinschaft einen erstrangigen Status zu, steht diese doch somit unter dem Schutz der bedeutendsten Heiligen der Christenheit.« 83 Dies bedeutet nicht bloß eine Aufwertung der Dominikaner, sondern auch eine Nivellierung oder gar Ablösung der Zisterzienser - denn mit »der Weitergabe des Patroziniums der Mutter Gottes soll nachgewiesen werden, daß die Dominikaner als Orden neuer und zeitgemäßer Qualität den etablierten, aber aus Thomas ’ Sicht veralteten Modellen der vita religiosa den führenden Rang zurecht streitig machen.« 84 Die Erzählung von der Beschirmung unter dem Mantel der Heiligen Jungfrau bringt auf diese Weise auch einen Anspruch auf besondere Heiligkeit und Heilsnähe des eigenen Ordens zum Ausdruck. Auch in anderen dominikanischen Mirakel- und Marienlegendensammlungen finden sich dem gleichen Schema folgende Visionsberichte der Ordensmitglieder unter dem Schutzmantel, so bei Gerardus de Fracheto, Bartholomäus Tridentinus oder Dietrich von Apolda. 85 Da Maria als Patronin des Predigerordens fungierte und in der dominikanischen »Historiographie und Legendenbildung seit den Anfängen einen besonderen Stellenwert« innehatte, verwundert diese Aneignung des zisterziensischen Statusmirakels kaum. 86 Auch in den Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts finden sich Visionsberichte aus dem weiblichen Zweig des Ordens, in denen Dominikanerinnen und Dominikaner in der sicheren Behütung des Marienmantels geschaut werden. 87 Die wie oben ausgeführt zumeist vom Predigerorden organisierten Rosenkranzbruderschaften des ausgehenden 15. Jahrhunderts schließlich wählten vielfach Darstellungen der Schutzmantelmadonna für ihre Bruderschaftsaltäre. 88 82 »Ich habe, sagte sie [d. i. Maria], auch andere Brüder, die ich mit meiner Obhut umschließe, um sie so zu wärmen und zu schützen. Und mit diesen Worten zeigte sie mit ihrem aufgetanen Mantel die darunter versammelten Brüder des Predigerordens, und fügte hinzu: Diese sind es, sagte sie, die sich in ihrer Aufgabe besonders bewähren, auf dass das Blut meines geliebten Sohnes nicht vergebens vergossen sei.« Thomas Cantipratanus: Bonum universale de apibus … , Douai: Balthasar Bellerus 1627, S. 170 [lib. 2, cap. 10,16]. 83 Markus Schürer: Das Exemplum oder die erzählte Institution: Studien zum Beispielgebrauch bei Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts, Berlin 2005 (Vita regularis 23), S. 148. 84 Ebd., S. 148 f. 85 Vgl. Sussmann 1929, S. 306 f. 86 Thali 2003, S. 106. Zur Verehrung Marias im Predigerorden vgl. ebd., S. 104 - 115; zur Annexion der Schutzmantelfrömmigkeit vgl. insbesondere S. 107. Für genauere Quellenangaben zu dominikanischen Versionen der Legende vom Orden unter dem Schutzmantel vgl. Beissel 1909, S. 352. 87 So z. B. aus den Klöstern Engelthal und Adelhausen, vgl. Sussmann 1929, S. 307 f. Für den Fall Engelthals sind einige der entsprechenden Marienvisionen genauer behandelt bei Thali 2003, S. 187; 236 f. und 239 f. 88 Siehe dazu die Beispiele bei Beissel 1909, S. 355 f., sowie von Oertzen 1925, S. 19 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 221 <?page no="222"?> Doch nicht nur die Dominikaner beanspruchten den Mantelschutz der Gottesmutter als Proprium der eigenen Gemeinschaft. Birgitta von Schweden (1303 - 1307) beispielsweise schreibt, Maria habe sie in einer Vision unter ihren Mantel gerufen, und reklamiert so den Mantelschutz für den von ihr gegründeten Erlöserorden. 89 Auch bei den Franziskanern scheint eine abgeänderte Version der Legende des Caesarius verbreitet gewesen zu sein, die den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft einen sogar noch vollkommeneren Status als den unter dem Mantel Marias beschirmten Gläubigen zuwies und von Martin Luther scharf verspottet wurde. 90 Ende des 16. Jahrhundert schließlich berichtet Teresa von Ávila (1515 - 1582) von einer Vision, in der die Gottesmutter den Schutzmantel über ihre Gemeinschaft ausbreitete, und legitimiert auf diese Weise die von ihr betriebene Neugründung des Karmeliterordens. 91 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Mitte des 15. Jahrhunderts auch Dominikus von Preußen, wie unten ausführlich behandelt, für seinen eigenen Orden, die Kartäuser, Anspruch auf einen Platz unter dem Mantel Marias erhob: Et non tamen ordinis iam Cistersienses / fratres, sed hic foveas et Carthusienses (Mantelpreis L, V. 69 f.). 92 Gleichzeitig aber, und dies bedeutet eine ausschlaggebende Neuerung, öffnet er den Mantelschutz der Heiligen Jungfrau für alle Gläubigen, die mit Gebeten und anderen Frömmigkeitsleistungen zur Fertigung dieses wundersamen Kleidungsstücks beitragen. 93 Für die folgenden Untersuchungen ist dieser kurze Exkurs in den Bereich der Schutzmantelnarrative und -bilder in dreierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum ersten bilden die Vorstellung vom Mantelschutz Marias und die entsprechende Ikonographie den motivgeschichtlichen Horizont der unten diskutierten Gebets- und Andachtsübungen. Zweitens ist, wie sich zeigen wird, die Vorstellung einer spezifisch umrissenen frommen Gemeinschaft, die sich durch besondere Hingabe zur Gottesmutter einen Platz unter ihrem Gewand › verdient ‹ , ausschlaggebend für den in vielen Fällen kommunitätsbildenden Charakter des Mantelgebets. In der Tradition der hier angerissenen, konkurrierenden Marienmantelmirakel ist der Grundstein dieser Idee gelegt. Drittens und zuletzt zeigen diese Erzählungen, wie der Gebetsmantel auf der einen Seite als bedeutungsintensiver und wirkmächtiger Gegenstand vorgestellt ist, mithilfe dessen die Gottesmutter die Gläubigen gnadenhaft beschützt und adoptiert. In den unten behandelten Texten wird er auf der anderen Seite aber auch als geistlich-konkretes Werkstück gezeichnet, das durch die frommen und göttlich unterstützten Anstrengungen der am Mantelgebet Teilnehmenden erst geschaffen wird und sich aus ihren Gebeten figuriert. Der sich so ergebende Doppelcharakter prägt die Dynamik textiler Gebetsübungen ebenso wie das mit ihnen verbundene Versprechen einer heilsvermittelnden Wirkung. 89 Die entsprechende Vision ist zitiert bei Beissel 1909, S. 353. 90 Luther schreibt: S.Francisci Bruder haben auch eine grosse Lugen von der Jungfrau Maria geprediget, das Franciscus hette einen traum gehabt, wie ehr in Himel kam, und Maria decket ihren Mantel auff, aber er fandt seiner bruder keinen drunder. Do ehr nun sehr erschrak und wuste nicht, was dieses bedeutet, do saget Maria zu ihm: Deine Bruder sind in vollkomenern Stande, dan die andern, drumb gehoren sie nicht unter diesen mantel. Martin Luther: Matthäus Kapitel 18 - 24 in Predigten ausgelegt 1537 - 1540, hg. v. G. Buchwald, in: WA 47 (1912), S. 232 - 627, hier S. 276. 91 Die entsprechende Vision ist wiedergegeben und besprochen bei Sussmann 1929, S. 308. 92 »Und nicht mehr nur die Brüder des Zisterzienserordens, / sondern auch die Kartäuser mögest du [d. i. Maria] hier hegen.« 93 Siehe dazu die Diskussion unten, Kap. III.3.3. 222 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="223"?> 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel Angesichts der Verbreitung der Schutzmantelfrömmigkeit im Spätmittelalter und des Aufkommens von damit verbundenen Vorstellungen gebeteter Mariengewänder, wie sie in den oben angesprochenen Mirakeln und Visionsberichten aufscheinen, vermag es nicht zu verwundern, dass die Idee des geistlichen Kleidungsstücks sich ab Mitte des 15. Jahrhunderts auch verstärkt in der Gebetbuchliteratur niederschlug. Wie ich folgend nachzeichne, bildete sich zu dieser Zeit eine eigene Untergattung von Mantelgebeten und -andachten heraus. Die entsprechenden Texte leiten, strukturell wie formal den oben besprochenen Rosenkränzen vergleichbar, zur Herstellung eines Ornats für die Heilige Jungfrau an, der aus Reihengebeten sowie anderen Frömmigkeitserweisen der Gläubigen zu fertigen ist. Die Verbreitung dieser Gebetsform zeugt von einem beträchtlichen zeitgenössischen Erfolg - neben dem Rosenkranz dürfen solche Gebetsmäntel für Maria nach Thomas Lentes als »wohl populärst[e] Imaginationsübung des späten Mittelalters« gelten. 94 Recht am Anfang dieser Traditionsbildung steht ein Text, den die ihn überliefernden Handschriften als geistlich mantel unser lieben frowen oder auch einfach als der guldin mantel betiteln. 95 In Anlehnung an die bisherige Forschung wird diese geistliche Übung folgend als Alemannischer Marienmantel bezeichnet. 96 Mithilfe detaillierter Anweisungen trägt der Text seinem Lesepublikum das Beten eines Gewandes für die Heilige Jungfrau an. Damit unterscheidet er sich insofern von den vorweg behandelten Marienmirakeln und Visionsberichten, als dass hier nicht von gebeteten Kleidern erzählt wird, sondern der Text seine Leser anleitet, diese überstofflichen Gegenstände selbst zu produzieren. Zum Verständnis dieser Übung ist zunächst ein kurzer Blick auf ihren Entstehungs- und Gebrauchskontext nötig, der sich anhand der handschriftlichen Überlieferung zumindest in Konturen nachzeichnen lässt. Wenigstens zwei der vier erhaltenen Textzeugen des Alemannischen Marienmantels sind mit einiger Wahrscheinlichkeit franziskanischer Provenienz: Die heute in St. Gallen aufbewahrte Handschrift S weist einen Besitzeintrag des 94 Lentes 1993, S. 135. 95 Der Text findet sich in folgenden Handschriften: München, BSB, Cgm 783, fol. 168r - 173r (M), Heidelberg, UB, Cpg 108, fol. 86r - 90r (H), Karlsruhe, BLB, Cod. L 87, fol. 215r - 220v (K), St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 591, S. 265 - 289 (S). Die Rubrik guldin mantel findet sich in M, fol. 168r, während die drei anderen Textzeugen diese Andachtsübung als den geistlich mantel unser lieben frowen bezeichnen. Zur Überlieferungslage siehe ausführlich die Angaben zur Edition im Anhang dieser Studie. Folgend wird dieser Text unter dem Kürzel »AM« nach der hier angehängten Edition im Fließtext zitiert. 96 Siehe Hardo Hilg: Art. Mantel Unserer Lieben Frau, in: 2 VL 5 (1985), Sp. 1221 - 1225, hier Sp. 1222. Der Text wird zudem kurz besprochen bei Lentes 1993, S. 135 - 141, und untersucht in Buschbeck 2021b und Buschbeck 2022. Letztere Artikel bilden Vorstudien zu diesem Kapitel ab. Im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext erwähnt ihn Edmund Hugh Wareham: Spirituality and the Everyday. A History of the Cistercian Convent of Günterstal in the Fifteenth and Sixteenth Centuries, Diss. Oxford 2016, S. 75 f. <?page no="224"?> Freiburger Klarissenklosters St. Dorothea auf, 97 während die Münchener Handschrift M laut einem Nachtrag 1484 einer Schwester Elisabeth Schmidin gehörte. 98 Diese ist womöglich mit einer 1461 für das Terziarinnenkloster Unlingen in Württemberg bezeugten Nonne identisch. 99 Für die Heidelberger Handschrift H sowie für die Karlsruher Handschrift K, welche die Leithandschrift meiner angehängten Edition bildet, lassen sich keine ähnlich exakten Angaben machen. H weist dem Dialektstand nach auf den elsässisch-niederalemannischen Sprachraum und kann durch Wasserzeichenanalyse auf das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts datiert werden. 100 Für K konnten Felix Heinzer und Gerhard Stamm anhand der als Einbandmakulatur verwendeten Urkundenfragmente eine Entstehung in Straßburg um ca. 1450 bis 1454 festmachen, allerdings ohne die Handschrift einem spezifischen Klosterskriptorium zuzuweisen. 101 Obgleich sich also weder für H noch für K eine genaue Provenienz etablieren lässt, legen beide Handschriften doch in ihrer Machart, vornehmlich volkssprachigen Verfasstheit und vielfach mit S identischen Textzusammenstellung eine Herkunft aus einem weiblichen Klosterkontext nahe. 102 Der Alemannische Marienmantel zirkulierte also, so belegt dieser Überlieferungsbefund, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in südwestdeutschen Frauenklöstern. Franziskanerinnen sind dabei als Rezipientinnen gesichert, aber auch eine Herkunft der in Bezug 97 Vgl. Beat Matthias von Scarpatetti: Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. Bd. 1, Abt. IV: Codices 547 - 669, Wiesbaden 2003, S. 129. Der Eintrag stammt der Hand nach zu schließen wohl noch aus dem 15. Jahrhundert, womit die Handschrift recht bald nach ihrer Entstehung im Besitz der Freiburger Klarissen gewesen sein muss. Dennoch bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass der Textzeuge auch dort geschrieben wurde, zumal › reisende Handschriften ‹ insbesondere in den observanten Frauenklöstern der Zeit keine Seltenheit darstellten; vgl. dazu z. B. Andreas Rüther: Schreibbetrieb, Bücheraustausch und Briefwechsel. Der Konvent St. Katharina in St. Gallen während der Reform, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. v. Franz J. Felten u. Nikolaus Jaspert, Berlin 1999 (Berliner historische Studien 31), S. 653 - 677. 98 Siehe den entsprechenden Eintrag in M, fol. 167v: Rubricatum per Conradum Durren ob peticionem sororis Elizabeth Schmidin anno 1484 4 ta angarie post Luciam. Swester Elisabeth und ir alle in ewr gebett laßt mich sin enpfolhen. Spätestens im 17. Jahrhundert gelangte diese Handschrift ins Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra. 99 Karin Schneider merkt zwar an, dass es sich hier durchaus um eine zufällige Namensgleichheit handeln könnte, stellt jedoch auch fest, dass die Handschrift »franziskanische Texte enthält und nichts gegen ihre Entstehung in diesem [d. h. dem schwäbischen] Sprachraum spricht.« Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691 - 867, Wiesbaden 1984 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,5), S. 329. 100 Vgl. Karin Zimmermann unter Mitwirkung von Sonja Glauch, Matthias Miller u. Armin Schlechter: Die Codices Palatini germanici in der UB Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1 - 181), Wiesbaden 2003 (Kataloge der UB Heidelberg 6), S. 246 - 248. 101 Felix Heinzer u. Gerhard Stamm: Die Handschriften von Lichtenthal, mit einem Anhang: Die heute noch im Kloster Lichtenthal befindlichen Handschriften des 12. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1987 (Die Handschriften der Badischen Landesbibl. in Karlsruhe 11), S. 204 f. 102 Zahlreiche Formulierungen in den beiden Handschriften machen eine Herkunft aus einem weiblichen Gebrauchskontext wahrscheinlich, so z. B. wenn die Sprecherinstanz eines brautmystisch geprägten, gereimten Lobgebets zu den 11.000 Jungfrauen der Heiligen Ursula an die Schar der Jungfrauen gerichtet anmerkt, sie were gerne úwer sunder eine (H, fol. 70v). Dies muss im Bereich der geistlichen Literatur, in dem grammatikalisches Geschlecht regelmäßig auch metaphorisch verwendet wird, um z. B. die Brautschaft der menschlichen Seele mit Christus zum Ausdruck zu bringen, nicht zwingend eine ausschließlich weibliche Schreiberinnen- und Leserinnenschaft bedeuten. Dennoch dürfen derartige Formulierungen, ebenso wie der Fokus der Handschriften auf weibliche Hagiographie, als Indiz für eine Frauenklosterprovenienz gelten. 224 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="225"?> auf ihre Provenienz unbestimmten Textzeugen aus anderen Frauenorden, so z. B. den literarisch sehr aktiven elsässischen Dominikanerinnenklöstern, scheint gut möglich. 103 Damit fügt sich dieser Text zunächst auf recht charakteristische Weise in das Gesamtbild der Überlieferung geistlicher Literatur in der Volkssprache. Denn im Fahrwasser der Ordensreform avancierten im 15. Jahrhundert vor allem dominikanische und franziskanische Frauenklöster zu »entscheidenden Orten für literarische Interessenbildung« und Schreibtätigkeit. 104 Auch der Alemannische Marienmantel disseminierte offenbar über die Skriptorien und literarischen Netzwerke der weiblichen Ordenszweige. Hiermit ist jedoch nicht gesagt, dass dieser Text und die damit verbundene Gebetsübung als Spezifikum weiblicher Klosterkultur gelten müssen. Wie sich vor allem am Beispiel Dominikus ’ von Preußen zeigen wird, wurde das Mantelbeten vielmehr auch von männlichen Religiosen und sogar von Laien aufgenommen und praktiziert. 105 Statt entsprechende Texte also dem unscharf umrissenen Bereich der › Frauenfrömmigkeit ‹ zuzuweisen, kann eher von einer Schreib- und Überlieferungsdynamik ausgegangen werden, in der Frauenklöster und ihre ungemein produktiven Skriptorien zwar als Impulsgeber und Multiplikatoren geistlicher Literatur in der Volkssprache fungierten, die so verbreiteten Texte jedoch auch über das Milieu weiblichen Religiosentums hinaus gelesen, kopiert und redigiert wurden. 106 Die weitere Rezeption des Alemannnischen Marienmantels verdeutlicht nicht nur diese übergreifende Strahlkraft spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtsliteratur, sie lässt auch einige Annahmen zur Datierung und Lokalisierung der Entstehung dieses spezifischen Texts zu. So bezieht sich Dominikus von Preußen, auf dessen Mantelschriften ich weiter unten genauer eingehe, in seinem Pallium beate Marie virginis offenbar auf den Alemannischen Marienmantel. Er schreibt, ihm sei eine entsprechende Andachtsübung zugetragen worden, die ihren Ursprung in Almania superiori, Argentine videlicet et in 103 Nichts im Text und in den ihn überliefernden Handschriften spricht gegen eine dominikanische Verwendung, und die im Ausblick dieses Kapitels weiter ausgeführte Verbreitung des Mantelbetens in Dominikanerinnenklöstern weist darauf hin, dass neben den Franziskanerinnen auch die Schwestern des Predigerordens den Alemannischen Marienmantel oder ähnliche Texte genutzt haben dürften. Franz Xaver Haimerl geht in sicher pauschalisierender Weise so weit, einen marianischen Fokus von Gebet- und Andachtsbüchern prinzipiell als Kennzeichen dominikanischer Frömmigkeit zu werten: »Als speziell dominikanisch darf auch die besondere Betonung der Marienverehrung angesehen werden« (Haimerl 1952, S. 50). 104 Werner Williams-Krapp: Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. v. Joachim Heinzle, Stuttgart/ Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 301 - 313, hier S. 301. Als Zentralorte religiöser Literatur im 15. Jahrhundert nennt Williams-Krapp »die observanten Frauenklöster, vor allem die des Predigerordens, und einige Männerklöster, in denen der Status des Laienbruders im Rahmen der Reform eine Aufwertung erfahren hatte, sowie die nie eine Erneuerung benötigenden Kartausen« (ebd.). Die Verbreitung und Überlieferung schriftlicher Gebetsmäntel verlaufen entlang dieser Zentren geistlichen Schreibens und Abschreibens. 105 Diese unten untersuchten Texte erlauben es, die Annahme z. B. Jeffrey F. Hamburgers, handwerkliches Beten sei »common in, if not exclusive to, convents« gewesen (Hamburger 1997, S. 75), zu präzisieren, belegen sie doch, dass dementsprechende Übungen über Frauenklosterkontexte hinaus Resonanz fanden. 106 Zum Thema siehe z. B. Williams-Krapp 1991; Williams-Krapp 1986/ 1987; Regina D. Schiewer: Sermons for Nuns of the Dominican Observance Movement, in: Medieval Monastic Preaching, hg. v. Carolyn A. Muessig, Leiden u. a. 1998, S. 75 - 96. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 225 <?page no="226"?> partibus circum adiacentibus (Pallium, Z. 2) genommen habe. 107 Dort habe man nämlich vor zwei Jahren mit einer neuen geistlichen Übung begonnen, 108 die darin bestehe, aus Gebeten und Andachtsübungen einen Mantel für die Jungfrau Maria herzustellen, und die Dominikus nun auch in Trier und darüber hinaus verbreiten wolle. Dominikus ’ Pallium lässt sich einigermaßen genau datieren. Zu Beginn des zweiten Teils des Liber experientiae, der 1458 vollendet wurde, findet diese Schrift Erwähnung. 109 Da im ersten Teil vom Marienmantel noch nicht die Rede ist, Dominikus nun jedoch anmerkt, seine diesbezügliche Schrift sei bereits weitläufig verbreitet worden, 110 nimmt Karl Joseph Klinkhammer schlüssig an, der Kartäuser habe das Pallium »bald nach Vollendung des ersten Liber Experientiae, d. h. um 1445, abgefaßt«. 111 Seine Aussage, mit dem Mantelgebet sei in Straßburg erst vor zwei Jahren (ante biennium, Pallium, Z. 6) begonnen worden, gehört in ihrer Betonung von Innovativität zu Dominikus ’ rhetorischem Programm der Propagierung des Mantelbetens. Dies bedeutet jedoch nicht, dass an der prinzipiellen Stimmigkeit der dabei gemachten Orts- und Zeitangaben zu zweifeln ist. Nimmt man also die Ursprungserzählung im Pallium für zumindest halbwegs bare Münze, muss für den Alemannischen Marienmantel eine Entstehung in den 1440er Jahren in oder um Straßburg angenommen werden. Die Überlieferungslage, die wie erwähnt um 1450 mit drei Handschriften aus dem deutschsprachigen Südwesten einsetzt, kann diese These mittelbar stützen. 112 Für eine entsprechende Herkunft des Texts sprechen zudem mehrere regionalspezifische Lexeme, darunter trotten und trotbo ᵘ me ( › keltern ‹ und › Kelterbaum ‹ ; AM, Z. 18) sowie werbe ( › mal ‹ ; AM, Z. 169 f.). 113 Schließlich darf die Tatsache, dass die 1476 gegründete Straßburger Ursulabruderschaft, die wohl auf kartäusische Initiative zurückging und von den Dominikanerinnen des reformierten Klosters St. Nikolaus in undis organisiert und verwaltet wurde, verwandte Mantelgebete in ihre Bruderschaftsaktivitäten integrierte, als Indiz für eine Verankerung dieser Gebetsübung spezifisch in Straßburg gelten. 114 Möglicherweise wurde der Aleman- 107 »In Südwestdeutschland, d. h. in Straßburg und in den angrenzenden Gegenden«. Übereinstimmungen auch in kleinen Details wie z. B. der Wahl der Seele Jesu Christi zur Werkmeisterin des Gebetsmantels, der Zahl und Qualität der zu errichtenden Gebets- und Frömmigkeitsübungen sowie den Details des Mantels lassen den Schluss zu, dass es sich bei der Andachtsübung, auf die Dominikus referiert, um den Alemannischen Marienmantel oder zumindest eine inhaltlich weitgehend deckungsgleiche Version dieser Gebets- und Andachtsübung gehandelt haben muss. Vgl. dazu die Diskussion unten, Kap. III.3. 108 So heißt es: Ibidem et exercicium novum bonum atque devotum nuper, videlicet ante biennium, inchoatum est (Pallium, Z. 6.). 109 Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 32; siehe auch die Erwähnungen von Dominikus ’ Mantelpreis auf S. 252 und S. 257 f. 110 Pallium quoque eius hic conscriptum ad honorem ipsius etiam in pluribus locis iam habetur et conficitur, sicut intelleximus (»Auch ihr Mantel, der hier zu ihrer Ehre geschrieben wurde, ist ebenfalls bereits an vielen Orten vorhanden und wird dort vollbracht, wie wir verstanden haben«, ebd., S. 32). 111 Klinkhammer 1972, S. 16. 112 Sie dazu die Editionsanmerkungen im Anhang dieser Untersuchung. 113 Vgl. Art. »Trottbaum« und »Trotte«, in: DWB 22 (1952), Sp. 1076 f. Die Belege in Schmidts Wörterbuch des Elsässischen zeigen zudem, dass die Verwendung dieses Bild- und Begriffsfelds in südwestdeutschen Passionsallegorien des Spätmittelalters gebräuchlich war, siehe Charles Schmidt: Historisches Wörterbuch der elsässischen Mundart. Mit besonderer Berücksichtigung der früh-neuhochdeutschen Periode, Straßburg 1901, S. 360 f. Zum Lexem werbe siehe ebd., S. 416. 114 Zur Gründung der Bruderschaft vgl. Schnyder 1986, S. 52; zu gebeteten Kleidern in der Ursulabruderschaft vgl. ebd., S. 198; S. 203; S. 205; S. 228. 226 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="227"?> nische Marienmantel sogar im Umfeld der Straßburger Kartause verfasst. Dies würde sowohl die Verbindung zu Dominikus von Preußen als auch die gemeinsame Überlieferung des Texts mit einer Reihe elsässischer Ursulalegenden plausibilisieren, war doch das Straßburger Kartäuserkloster um 1400 nach Stiftung eines Ursulaaltars zum »lokalen Zentrum des Kults« dieser Heiligen geworden. 115 Damit reiht sich der Alemannische Marienmantel ein in das reiche Korpus der südwestdeutschen Gebetbuchliteratur des 15. Jahrhunderts und darf in einem religiösen Milieu verortet werden, in dem auch Frauenklöster und teils sogar fromme Laien zu Trägerinnen und Rezipienten geistlicher Literatur in der Volkssprache wurden. Meine folgende Untersuchung dieses Texts stellt deshalb auch einen rezeptionsästhetisch orientierten Versuch dar, ein Schlaglicht auf die religiösen Lese- und Handlungswelten dieses Kontexts zu werfen. Denn wie wurden Texte wie der Alemannische Marienmantel gelesen und in der Gebetspraxis genutzt? Welches Publikum partizipierte daran auf welche Weise? Wie vermittelten Texte einen Rahmen sowohl für ein vertikal auf die Transzendenz gekehrtes Beten als auch ein horizontales Eintauchen in die sprachlich evozierte Bildlichkeit der geistlichen Textilie, die gleichsam als geistlich-konkretes Werkstück wie als komplexe Allegorie gekennzeichnet ist? Insbesondere da das Mantelbeten, anders als die für einzelne Betende zugeschriebenen Rosenkränze, zumeist als Gemeinschaftsarbeit konzipiert ist, in deren Rahmen gewissermaßen arbeitsteilig eine geistliche Textilgabe für Maria angefertigt wird, erlangen diese Fragen nach den Vollzugsangeboten entsprechender Texte Brisanz. 2.1 Mit Worten weben: Der Marienmantel als geistliches Werkstück Inhaltlich kann der Alemannische Marienmantel grob in zwei Hauptabschnitte unterteilt werden, die von einer Anempfehlung des Gebetes an die zur Werkmeisterin gewählte Seele Jesu Christi, verschiedenen Bitten und Fürbitten sowie einer summarischen Auflistung der zu erbringenden Frömmigkeitsleistungen gerahmt sind. Erstens besteht dieser Text aus einer kleinteiligen Anleitung zur gebethaften Anfertigung eines Marienornats, der neben seinem Zentralstück, dem reichverzierten Mantel, auch ein dazu parallel gestaltetes Hemd und Schmuck für das von Maria in den Armen getragene Jesuskind sowie zwei Kronen für Maria und Jesus umfasst. Dieser Abschnitt folgt dem Prinzip eines handwerklichen Betens, das sich zur Gabe für Maria figurieren soll. Zugleich aber entfaltet sich an diesem geistlichen Textilgegenstand ein dichtes Netz allegorischer Repräsentationen, die auf bestimmte Heilsereignisse, katechetische Wissensbestände oder abstrakte Glaubenswahrheiten deuten. Zweitens schließt an diese Fertigungsanleitung ein weiterer Hauptteil an, der den Gang Marias zum Tempel im Rahmen der Darstellung Jesu, an die das Fest Mariä Lichtmess (2. Februar) erinnert, als eine Mischung aus liturgischer Prozession und herrscherlichem adventus der Himmelskönigin vergegenwärtigt. Hierbei soll Maria den eben aus Gebeten und anderen frommen Zuwendungen gefertigten Ornat 115 Ebd., S. 52. Mit Ausnahme von M gehen alle Textzeugen des Alemannischen Marienmantels offenbar auf eine als gesamtes Textkompendium kopierte Vorlage zurück, die vor allem Ursulalegenden und verwandte Schriften zu dieser Heiligen sammelt. Vgl. dazu die Angaben zu den einzelnen Handschriften im Anhang dieser Untersuchung. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 227 <?page no="228"?> tragen, den die Betenden ihr übereignen. Begleitet und unterstützt wird Maria von diversen Heiligen, Kirchenvätern und biblischen Figuren, die hierfür von den Betenden mit Reihengebeten und anderen Frömmigkeitsübungen entlohnt werden müssen. Beide Hauptabschnitte folgen jeweils eigenen Logiken von gemeinschaftlicher Herstellung, gebet- und gabenhafter Hinkehr zur Transzendenz, imaginierendem Eintauchen sowie der zeichenhaften Entfaltung allegorischer Bild- und Dingbedeutungen. Folgend rücke ich sie daher nacheinander in den Fokus. Als Großform innerhalb der spätmittelalterlichen Gebets- und Andachtsliteratur ist der Alemannische Marienmantel in seinem Grundprinzip der Herstellung einer geistlichen Votivgabe im Gebet den vorweg behandelten Rosenkränzen vergleichbar. Im Gegensatz zum Rosenkranz jedoch, bei dem jeder Gläubige innerlich seinen eigenen Blumenschmuck zu erstellen hat, ist er von vornherein als gemeinschaftliche Übung angelegt. Wie bereits die hohe Anzahl der verlangten Frömmigkeitsleistungen verdeutlicht, ist die Übung, zu der dieser Text auffordert, nicht für eine einzelne Person gedacht. Vielmehr müssen die insgesamt 600.000 Ave Maria, 300 Salve Regina, 6000 Venien, 53 Messen, 6 Psalter sowie weitere Gebets- und Askeseleistungen, aus denen der anzufertigende Gebetsmantel besteht, auf eine Gruppe von Betenden aufgeteilt werden. Es ergibt sich so eine Gebets- und Andachtspraxis, 116 in deren Rahmen der geistliche Marienmantel kollektiv hergestellt wird und die in mancher Hinsicht an das im Spätmittelalter florierende Bruderschaftswesen gemahnt. Eine Vielzahl an Personen arbeitet gleichzeitig an dem geistlichen Werkstück, teilt je nach Stand und Fähigkeit das dazu nötige Pensum an Frömmigkeitsleistungen unter sich auf und steuert einzelne Elemente zum Mantel bei. Damit eignet dem Alemannischen Marienmantel ein gemeinschaftsstiftender Anspruch, der die Gläubigen, die zu ͦ disem mantel gestúret hant mit tu ͦ nde und mit lossende, mit liden und mit midende (AM, Z. 3 f.) 117 als Kommunität konzipiert, die gleichermaßen die Mühen des Mantelbetens wie auch die davon erhofften Gnadenfrüchte miteinander teilt. Dies steht im Kontrast zu der verbreiteten These von einer grundlegend »mehr auf die Einzelpersönlichkeit als auf die religiöse Gemeinschaft eingestellte[n] Frömmigkeitsauffassung« des Spätmittelalters. 118 Andachtsübungen wie der Alemannische Marienmantel können, genau wie die Rosenkranzbruderschaften und die vielgestalten vergleichbaren Gebetszusammenschlüsse, 119 als gemeinschaftsbetonendes Gegenelement zu den individualisierten Frömmigkeitsformen des ausgehenden Mittelalters verstanden werden. Wenn also das Gebet als »Akt des Gesprächs« erstens darauf abzielt, 120 eine vertikale Kommunikationsbeziehung zwischen den Betenden und dem Heiligen zu etablieren, und der zugrundeliegende Text zweitens seinen Inhalt gleichzeitig horizontal an die immergierten Leser vermittelt, so kommt im Falle des Alemannischen Marienmantels drittens noch eine weitere horizontale Ebene hinzu. Das Gewebe (textus) des Gebetsmantels 116 Vgl. zu diesem Themenkomplex die Ausführungen zur Rosenkranzbruderschaft oben, Kap. II.5; sowie insbesondere Schnyder 1986 und Eisenbichler 2019. 117 »die zu diesem Mantel beigesteuert haben mit Tun und mit Lassen, mit Leiden und mit Meiden«. 118 Haimerl 1952, S. 61. 119 Der regionalisierte Charakter des Bruderschaftswesens und seiner Regelwerke macht Allgemeinaussagen zu diesem Themenkomplex notorisch unzuverlässig; vgl. auch Klieber 2018. 120 Suerbaum 2017, hier S. 298. 228 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="229"?> nämlich verbindet die Gläubigen sowohl mit dem Heiligen als auch untereinander. Dieses Beziehungsgeflecht, das den anleitenden Text, sein betendes Lesepublikum und das adressierte ebenso wie dargestellte Heilige gleichsam umschließt, gestaltet sich voraussetzungsvoll. Es verdient folgend besonderes Augenmerk. Zunächst wird der Marienmantel dabei als geistlicher Gegenstand vorgestellt, zu dem die Gläubigen mit ihren Gebeten, Messen, Entsagungen ebenso wie ihren christlichen Tugenden und frommen Affekten das Ausgangsmaterial bzw. ein kostenmäßiges Äquivalent liefern. Ein Blick auf eine erste Textpassage entbirgt die Modalitäten, denen diese geistliche Handwerksarbeit folgt: Diser mantel sol sin geordent von x elen das kostberlichen guldin tu ͦ ches, das man gehaben mag, und je die ele sol kosten xv tusent Ave Maria. Dis gúldin tuch bezeichent uns die wore go ᵉ tliche mynne, in der ir hertze so kreffteclichen entzúndet was. Das fu ͦ ter under disem mantel sol sin von wissen hermelin zu ͦ einer bezeichnunge ir megtlichen luterkeit. Dis fu ͦ ter sol kosten hundert tusent Ave Maria. (AM, Z. 10 - 14) 121 Ein jeweiliges Teilstück des Mantels oder auch ein zu verarbeitender Werkstoff, hier das Manteltuch und das Futter, werden benannt, in Aussehen und Kostbarkeit beschrieben und anschließend mit der Anzahl der Gebete beziffert, von denen sie gekauft oder gefertigt werden sollen. Für den goldenen Stoff ist zudem noch die Menge des zu verarbeitenden Materials angegeben: Zehn Ellen stellen ein für einen einzelnen Mantel ausgesprochen großzügiges Maß dar. 122 Darauf folgt eine kurze allegorische Auslegung des jeweiligen Mantelteils, so steht beispielweise hier die goldene Farbe des Manteltuchs für die Liebe und das weiße Futter aus dem im Mittelalter herrscherliche Macht anzeigenden Hermelinpelz 123 für die Jungfräulichkeit Marias. Thomas Lentes charakterisiert den Prozess, zu dem dieser Text einlädt, als »Malvorgang, bei dem in der Vorstellungskraft der Beter« der gebetete Gegenstand entsteht, kurzum als »Evozierung innerer Bilder«. 124 Tatsächlich wird ein frommes Lesepublikum hier dazu angeregt, das langsam aus Gebetsworten hervorgebrachte Kleidungsstück in seiner kostbaren Materialität und prachtvollen Farbigkeit intensiv zu visualisieren. Obwohl also einem dergestalt bildhaften Imaginieren eine zentrale Rolle zukommt, bleibt der vom Alemannischen Marienmantel instruierte Vollzug nicht bei der Evokation eines visuellen Eindrucks stehen, sondern muss darüberhinausgehend auch als Akt der Figuration im Sinne der erfüllenden Herstellung einer sprachlich vorentworfenen inneren 121 »Dieser Mantel soll angefertigt sein aus zehn Ellen des kostbarsten goldenen Tuchs, das man nur haben kann, und jede Elle soll 15.000 Ave Maria kosten. Dieses goldene Tuch bezeichnet uns die wahrhafte göttliche Liebe, in der ihr Herz so heftig entflammt war. Das Futter innen an diesem Mantel soll zum Zeichen ihrer jungfräulichen Reinheit aus weißem Hermelin sein. Dieses Futter soll 100.000 Ave Maria kosten.« 122 Das spätmittelalterliche Ellenmaß variiert je nach Region, allgemein kann aber mit etwas mehr oder weniger als einem halben Meter gerechnet werden. Die Freiburger Elle z. B., die immer noch am Portal des Freiburger Münsters angebracht ist, misst 54 cm. Vgl. Adolf Wangart: Das Freiburger Münster im rechten Maß, hg. vom Münsterbauverein Freiburg, Freiburg i. Brsg. 1972. Zehn Ellen stellen also ungefähr fünf Meter einer Stoffbahn dar. 123 Das Tragen von Hermelinpelz, dem Winterfell einer Wieselart, war im europäischen Mittelalter ein meist recht streng reguliertes Herrscherprivileg, vgl. dazu Herbert Norris: Medieval Costume and Fashion, Minola 1999, S. 283. Der Text überträgt hier weltliche Kleiderordnungen in den religiösen Bereich. 124 Lentes 1993, S. 126. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 229 <?page no="230"?> Wirklichkeit begriffen werden. Denn den Anweisungen des Gebets- und Andachtstexts folgend visualisieren die Betenden den Mantel Marias nicht bloß, sie erschaffen ihn vielmehr gemeinsam aus ihren frommen Worten und Gedanken. Aus dem Wortgeflecht des Textes entfaltet sich so das überstoffliche Gewebe der geistlichen Textilie. 125 Dies ließe sich zuerst als Prozess der Verinnerlichung fassen, der an die Stelle eines äußeren stofflichen Dings einen innerlich imaginierten Gegenstand setzt. 126 Zudem aber verdinglicht und veräußerlicht das Mantelgebet auch die Frömmigkeitshandlungen der Gläubigen, die exakt quantifiziert und als Material konzipiert werden, das in einem konkretisierenden Entsprechungsverhältnis zu den sublimen Stoffen des Marienornats steht. Das Ergebnis dieser Gebets- und Andachtsübung wird als geistliche Handwerksarbeit vorgestellt, die als Kleidergabe für Maria gegenständlich behandelt, ja in der vom Text explizit formulierten Hoffnung auf eine heilswirksame Gegenleistung (vgl. AM, Z. 158 - 164) geradezu heilsökonomisch verdingt wird. Interiorisierung und Exteriosierung sind hier komplex amalgamiert. Damit erscheint der Marienmantel erstens als gemeinschaftlich betriebene Figuration des Betens, der das eignet, was oben als geistliche Konkretheit beschrieben wurde. Das auf diese Weise gefertigte vestimentäre Objekt ist zunächst ein innerlich hervorgebrachtes Ding, das jedoch als ebenso ästhetisch präsent und gabenhaft verfügbar behandelt werden kann wie stoffliche Dinge, die es in seiner unvergleichlichen Pracht und Subtilität sogar zu übertreffen vermag. Zusätzlich kommt ihm auch eine explizit gemachte allegorische Zeichenqualität zu, der ich unten weiter nachgehe. In den arbeitsteiligen Fertigungsanweisungen zum Marienmantel wird, stärker noch als im Falle des Rosenkranzgebets, ein religiöses Leben in Analogie zu handwerklicher Arbeit präsentiert. Fromme Christen, so kann das Bild des Andachtstextes zusammengefasst werden, sind Handwerkerinnen und Handwerker im Glauben - sie spinnen, weben und schneidern mit ihren Gedanken, Worten und tugendhaften Taten. 127 Gebet und Andacht sind daher, so legt der Alemannische Marienmantel nahe, als Formen produktiver Praxis zu verstehen, die geistliche Gegenstände hervorbringen, die verschenkt oder geradezu gehandelt werden können. Hier scheint ein weitreichendes Verständnis von Frömmigkeit auf, das effektiv auch die Grenzen von vita activa und vita contemplativa auf teils prekäre Weise verwischt. 128 125 Dies ließe sich noch einmal mit der komplexen Semantik des lateinischen Lexems textus zusammenbringen, in dem wie oben ausgeführt textile und textuelle Bedeutungen verbunden sind; vgl. dazu Eikelmann 2021. 126 Hierin lässt sich eine ähnliche Vorstellung wie z. B. in dem Mirakel Marien Rosenkranz erkennen, vgl. dazu oben, Kap. II.2.1. 127 In eine ähnliche Richtung gehen mehrere kurze mittelniederländische Texte, die tatsächliche Handwerksarbeiten als Anlass und Rahmen für gleichzeitige Gebets- und Betrachtungsübungen präsentieren. Vgl. dazu die wertvollen Erschließungsarbeiten und Diskussionen bei Anna Dlaba č ová: Spinning with Passion: The Distaff as an Object for Contemplative Meditation in Netherlandish Religious Culture, in: The Medieval Low Countries. History, Archaeology, Art and Literature 4 (2018), S. 177 - 209. 128 Dieser Themenkomplex, der das Mantelgebet in den spätmittelalterlichen Lebensformdiskurs stellt, tritt insbesondere in Dominikus ’ von Preußen Pallium beate Marie virginis prominent hervor und wird deshalb im Rahmen der Untersuchung dieses Textes detaillierter behandelt, siehe unten, Kap. III.3. 230 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="231"?> Dabei schließen sich die an der Fertigung des Gebetsmantels beteiligten Gläubigen zu einer geistlichen Produktionsgemeinschaft zusammen, die über sich hinaus auf das Heilige weist und es sogar miteinbezieht. Denn zur Vollendung des Werkstücks bedarf es einer erwúrdigen wisen werckmeisterin diß mantels (AM, Z. 144 f.), 129 zu der die im Spätmittelalter vielfach und am prominentesten in dem Gebet Anima Christi verehrte Seele Jesu Christi gekürt wird. 130 Dieser wird aufgetragen, sie möge doch dis gebette [ … ] fúrbaß ordenen und zieren in disen mantel noch dem aller liebsten wolgevallen willen des himelschen vatters und noch eren der himelschen kúngin und ires kindes. (AM, Z. 145 - 148) 131 Damit stellt der Marienmantel kein rein menschliches Werk mehr dar, sondern entsteht vielmehr durch die Kunstfertigkeit der Seele Christi, 132 für deren Schaffen die Gebete und frommen Übungen der Gläubigen bloß das Ausgangsmaterial liefern. Der Text entwirft dieses Gewand entsprechend als Gnadenerweis, der ermöglicht wird durch die Zusammenarbeit der Betenden mit dem zugleich als Sohn Marias wie als Mittler zwischen Himmel und Erde auftretenden Christus. 133 Schon in der Erstellung des Gebetskleides ergibt sich auf diese Weise ein Kontakt, wenn nicht gar eine Sozietätsbildung von Immanenz und Transzendenz. Als Ergebnis dieser menschlich-göttlichen Arbeitsteilung entsteht ein geistlicher Gegenstand, der Maria und dem Jesuskind unter Beihilfe zahlreicher Heiliger überreicht wird. Die Gottesmutter wiederum wird im Gegenzug dafür um Interzession gebeten sowie darum, dass sie die Seelen der Betenden in Anlehnung an das verbreitete Schutzmantelmotiv in der Sterbestunde entpfohe under den mantel ir mu ᵉ terlichen grundlosen erbermde und uns leite von disem ellende in das ewige vatter land, do wir sú und ir kint in fro ᵉ iden schowent ewenclichen. (AM, Z. 162 - 164) 134 129 »der ehrwürdigen, weisen Werkmeisterin dieses Mantels«. 130 Zur Geschichte des Anima Christi und der Verehrung der Seele Christi vgl. Earl Jeffrey Richards: Das Gebet Anima Christi und die Vorgeschichte seines kanonischen Status. Eine Fallstudie zum kulturellen Gedächtnis, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 49 (2008), S. 55 - 84; sowie ausführlich Giuseppe Virgilio: Anima Christi. Origine, storia e teologia di una preghieria medievale, Verona 2010 (Collana spirituale 25). 131 »diese Gebete und all diese Tugenden an dem Mantel weiter herrichte und verzierend anbringe nach dem allerliebsten wohlgefallenden Willen des himmlischen Vaters und zu Ehren der Himmelskönigin und ihres lieben Kindes«. 132 In letzter Hinsicht entspringt das geistliche Marienkleid somit der göttlichen Weisheit und Gnade, denn nach Hugo von Sankt Viktor »ist die Weisheit der Seele Christi der Weisheit Gottes gleich, da ein u. dieselbe Weisheit gegeben ist. [ … ] Neben der Allwissenheit hat die Seele Christi auch die Allmacht, Ewigkeit, Unermeßlichkeit Gottes« (A. Grillmeier: Art. Jesus Christus. II. Die nachbiblische Christologie. A) Dogmengeschichte der kirchl. Christologie, in: LThK 5 [1960], Sp. 941 - 953, hier Sp. 950.). Diese im Mittelalter vielrezipierte Auffassung von der Natur der Seele Christi findet sich bei Hugo von Sankt Viktor: De sapientia animae Christi. An aequalis cum divina erit, in: Patrologia Latina 176 (1854), Sp. 845 - 856. 133 Die Vorstellung einer Mittlerfunktion Christi fundiert sich in den Apostelbriefen des Neuen Testaments: unus enim Deus unus et mediator Dei et hominum homo Christus Iesus (»Einer ist nämlich Gott, und einer auch der Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus«, I Tim 2,5). 134 »unter dem Mantel ihrer mütterlichen grundlosen Barmherzigkeit empfange und uns aus diesem Elend in die ewige Heimat führe, wo wir sie und ihr Kind auf ewig mit Freuden schauen werden.« 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 231 <?page no="232"?> Maria tritt hier somit, ähnlich der Seele Christi, als mediatrix auf, das heißt als Mittlerin, die das fromme Lesepublikum des Texts mit ihrem Sohn Jesus Christus sowie Gottvater versöhnen und verbinden soll. 135 Das vom Text entworfene gemeinschaftliche Werk der Gläubigen und ihrer jenseitigen Adressaten erweist sich als vielgestaltig. Unter der Obhut und gnadenhaften Mithilfe der Seele Christi beauftragen und › bezahlen ‹ die Betenden verschiedene Heilige, beschenken, bekleiden und bitten Maria sowie das Jesuskind, um schließlich den Schutz der Gottesmutter und die durch sie vermittelte Gnade Gottes zu erlangen. Der Alemannische Marienmantel konstruiert demgemäß, so kann zusammengefasst werden, ein mehrschichtiges Relationsgeflecht zwischen den immanenten Betenden untereinander sowie dem Transzendenten. Hinkehr und Nähe zum Heiligen sollen hierbei durch kommunitäres Eintauchen in einen sprachlich angeleiteten Vorgang der Figuration eines geistlichen Gegenstandes gewährleistet werden. Schlussendlich ist dieses Vollzugsangebot mit der Hoffnung auf einen heilsvermittelnden Effekt verbunden, die auf der Vorstellung einer frommen Produktionsgemeinschaft zwischen Himmel und Erde aufruht. 2.2 Zählendes Beten als Herstellungsverfahren Zugleich aber liegt der Fertigung des Marienmantels eine Logik der Ökonomisierung zugrunde. Jedes Einzelelement des Ornats hat einen in Gebeten und sonstigen Frömmigkeitsakten bezifferten Preis, den die Gläubigen entrichten sollen. Hierin gehört das Mantelbeten in den weiten Bereich der fürs Spätmittelalter charakteristischen › gezählten Frömmigkeit ‹ . 136 Dass die Quantifizierung von Frömmigkeitsakten einerseits mit Gefahren der mechanistischen Veräußerlichung einer Praxis einherging, die doch gerade auf einen nicht zähl- oder erzwingbaren Gottesbezug im Inneren abzielte, und andererseits ein »kontrolliertes Verfahren« anbot, mit dem sich einzelne Betende »in christliche Tugenden einüben« und dabei eine Versenkung in die Heilsgegenstände stimulieren konnten, 137 zeigt sich spannungsreich verbunden. Die Modalitäten des Zählens und Kumulierens werden beispielhaft illustriert durch die folgende Passage, die zur Fertigung der prächtigen Fürspange am Marienmantel anleitet. Diese Spange ist als eine broschenhafte Fibel zu denken, die gleichzeitig als Schmuckstück und zum Schließen des mit gestickten Borten verzierten Halsausschnitts dient: 138 135 Die Vorstellung, dass »Jesus unser Mittler ist durch seinen blutigen Kreuzestod, Maria unsere Mittlerin als Gottesgebärerin«, gehört zu den Grundelementen mittelalterlicher Marienfrömmigkeit (Beissel 1909, S. 358). Die fünf Buchstaben des Namens Maria wurden sogar oftmals als Akronym für mediatrix, auxiliatrix, reparatix, illuminatrix und adiutrix verstanden (vgl. ebd., S. 216). Vgl. zur Rolle Marias als Mittlerin auch Fulton Brown 2018, S. 96. 136 So stellt Thomas Lentes fest: »Rechenhaftigkeit und Quantifizierung wird der spätmittelalterlichen Frömmigkeit allenthalben attestiert. Dabei gilt es freilich zu klären, wie das Zählen als eine Form des religiösen Ausdrucksverhaltens eingesetzt wurde und worauf es zielte« (Lentes 1996, S. 498). Vgl. auch Angenendt u. a. 2001. 137 Angenendt/ Lentes 2000, S. 114. Largier 2008 betont auf aufschlussreiche Weise besonders die letztgenannten meditativen Effekte mittelalterlicher Techniken des frommen Zählens. 138 Zum Hintergrund dieser Art von Schmuckstück und seiner Verwendung vgl. Cornelia Lowasser: … an ir hemde ein fürspan er da sach … Sternförmige Gewandspangen des 13./ 14. Jahrhunderts, in: 232 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="233"?> Die fúrspang an disem mantel sol sin von vinem golde und dar in gewúrcket zwo ᵉ lff edel stein. Das súllent sin zwo ᵉ lff edel messen, die hie zu ͦ gesprochen sint. Der stein mittel in der spangen sol sin von drigen der aller minne richesten messen, die hie zu ͦ gesprochen sint zu ͦ einer bezeichnung der heiligen drúvaltikeit, die so edellich in irem hertzen gewúrcket hett. Dis golt an diser spangen sol kosten alle die innerlichesten súfftzen und die himelschen vermanung, die in mynnen ervolget sint und hie zu ͦ gegeben sint und zwentzig tusent Ave Maria. (AM, Z. 46 - 52) 139 Neben den 20.000 Ave Maria für das Gold und den insgesamt 15 Messen, aus denen die in das kostbare Kleinod eingesetzten Edelsteine bestehen, werden zusätzlich auch die inniglichen Seufzer und himmlischen Ermahnungen der Gläubigen zum Erwerb der prächtigen Spange aufgewandt. Während erstere genau zählbar und damit auch unter verschiedenen Betenden bzw. Zelebranten aufteilbar sind, verwehren sich letztere Erweise der Andacht einer exakten Bezifferung. Dennoch werden sie als Material für den Schmuck am Marienmantel verlangt. Hier zeigt sich, dass, wie schon das oben behandelte Mirakel von den drei Schwestern illustrierte, handwerkliches Beten im Mittelalter nicht allein auf dem zählenden Aufsagen von Formeln beruhte, sondern explizit auch die Tugenderweise, Affekte und die Andachtshaltung der Gläubigen miteinschloss. 140 Denn auch prinzipiell unzählbare Frömmigkeitsmomente werden genau wie quantifizierbare Gebetsleistungen in das imaginierte Werkstück hineingegeben und kristallisieren sich zur geistlich-konkreten Figuration religiöser Praxis. Dass der Alemannischen Marienmantel dabei das Wort kosten verwendet, um auf die Äquivalenzbeziehung zwischen dem Gold als Ausgangsmaterial der Fürspange und den dafür zu vollbringenden Frömmigkeitsleistungen zu verweisen, veranschaulicht das den Text kennzeichnende heilsökonomische Prinzip. Die Gabe für Maria hat ihren genauen Preis, der mit wirtschaftlicher Präzision berechnet und entrichtet werden will. Zusammengenommen summieren sich die für die einzelnen Mantelteile und die Entlohnung der beim Tempelgang assistierenden Heiligen aufgebrachten Gebete und übrigen Devotionsakte zu einem enormen Pensum. Zum Abschluss wird dieses aufgelistet: Dis ist die summe dis gebettes: drige und fúnfftzig messen, sechs selter, sechs werbe hundert werbe tusent Ave Maria, drúhundert Salve regina, sechs tusent Ave Maria, die mit crútz venien gesprochen sint, und eins und drissig Paternoster und Ave Maria und Gloria patri und tusent fúnffhundert und drúhundert willen brechen und sunder drige grosse. One das ungezelte gebette und tugende und liden, das in gedult gelitten ist und zu ͦ einer gezierde an disem mantel gegeben ist von mynnen. (AM, Z. 169 - 174) 141 Archäologie, Mittelalter, Neuzeit, Zukunft. Festschrift für Ingolf Ericsson, hg. v. Rainer Atzbach u. a., Bonn 2017 (Bamberger Schriften zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 6), S. 331 - 346. 139 »Die Fürspange an dem Mantel soll aus feinem Gold sein, und dareingefügt [sollen sein] zwölf Edelsteine. Das sollen zwölf edle Messen sein, die hierzu gesprochen wurden. Der Stein in der Mitte der Spange soll aus drei der allerliebreichsten Messen bestehen, die hierfür gesprochen wurden als Zeichen für die heilige Dreifaltigkeit, die so edel in ihrem Herzen gewirkt hat. Das Gold dieser Spange soll all die inniglichen Seufzer und himmlischen Ermahnungen kosten, die in Liebe erfolgt und hierzu gegeben sind, sowie 20.000 Ave Maria.« 140 Vgl. oben, S. 248 - 250. Thomas Lentes stellt auch für andere Texte fest, das Material geistlicher Gegenstände seien »nicht allein Gebete, sondern ausdrücklich auch die Tugenden der Beter« (Lentes 1993, S. 129). 141 »Das ist die Summe des obigen Gebets: 53 Messen, 6 Psalter, 600.000 Ave Maria, 300 Salve regina, 6.000 mit Kreuzvenien gesprochene Ave Maria, 31 Paternoster mit Ave Maria und Gloria Patri sowie 1.800 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 233 <?page no="234"?> Aufschlussreich ist an dieser Aufzählung neben ihrem enormen Umfang die Vielfalt der verschiedenen Beiträge, die von einfachen Gebetsformeln über Messen bis hin zu Askeseleistungen reichen. Dabei weisen die einzelnen Posten der geistlichen Kostenaufstellung auf unterschiedliche Personengruppen bzw. Stände, die sich an der Herstellung der geistlichen Textilie beteiligen sollen. Der folgende Blick auf die verschiedenen Frömmigkeitsleistungen, die hier verlangt werden, zeigt auf, wie der Alemannische Marienmantel hierdurch vielfältigen Personengruppen eine Teilhabe anträgt. Ähnlich dem universalen Mitgliedschaftsangebot der Rosenkranzbruderschaften überschreitet die Gemeinschaftskonstruktion dieser Gebets- und Andachtsübung dabei nicht bloß die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, sondern auch die ständischen Trennungen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. 2.3 Geistliche Arbeitsteilung: Partizipationsangebote des Mantelgebets Einige Elemente des Alemannischen Marienmantels lassen sich eindeutig bestimmten Personengruppen zuordnen. Die 53 Messen beispielsweise, die in verschiedene Teile des Ornats hineingewirkt sind, müssen zwingend von Priestern beigesteuert werden, die anders als Laien, Nonnen oder nicht ordinierte Mönche befähigt sind, den eucharistischen Gottesdienst zu zelebrieren. 142 Ob es sich bei diesen Messen um in der Gemeinde gefeierte Hochämter mit Erteilung der Kommunion an die anwesenden Gläubigen oder um allein gelesene und unter Umständen im Rahmen eines Messstipendiums bezahlte Privatmessen handeln soll, wird allerdings nicht spezifiziert. 143 Dominikus von Preußen, der später über die unterschiedlichen Beiträge zum Marienmantel reflektierte, empfahl in jedem Fall, diese Messen über das Kirchenjahr hinweg auf die marianischen Hochfeste aufzuteilen (vgl. Pallium, Z. 82 - 88). Er verstand sie als besondere Leistung und Verpflichtung der am geistlichen Kleid mitwirkenden sacerdotes: Que tamen sint illa ad hoc offerenda, in scriptis nobis huc missa legimus, quod videlicet primi istius pallii adiuventores offere ceperunt. Qui enim litterati fuerunt, psalteria, cantica canticorum seu alias oraciones devotas ex scriptis dixerunt. Sacerdotes missas legerunt quam plures, laici vero innumeras milia Ave Maria ad pallium hoc obtulerunt, ementes quasi preciosissimum pannum et fimbrias aureas et reliqua varia ornamenta ad ornatum pertinencia, multis semper milibus angelicis salutacionibus pro singulis dictis. (Pallium, Z. 57 - 62). 144 Entsagungen und dazu drei besonders große. Ungeachtet der ungezählten Gebete und Tugenden und des Leids, das geduldig gelitten wurde und als Zierde aus Liebe zu diesem Mantel hinzugegeben ist.« 142 Das Messverständnis des Mittelalters ging grundsätzlich dahin, »daß der Priester als der eigentlich Feiernde und Opfernde galt, als Mittler zwischen Gott und den Menschen, so daß sich die Gemeinde ihm nur noch anschließen konnte und nicht mehr eigentliches Subjekt der Feier war, wie es die Alte Kirche verstanden hatte« (Angenendt 2009, S. 495). 143 Zur Praxis der Privatmesse und zur Entwicklung des Messstipendienwesens vgl. grundlegend Angenendt 2004, S. 46 f.; sowie auch etwas ausführlicher Angenendt 2009, S. 495 - 497. 144 »Was jedoch jene Dinge seien, die hierzu beizutragen sind, lesen wir hierher zu uns gesandt in den Schriften, nämlich was die ersten Unterstützer dieses Mantels darzubieten erdachten. Diejenigen nämlich, die lesen konnten, sagten Psalter, Hohelieder oder andere fromme Gebete aus den Schriften auf. Die Priester lasen Messen, in noch größerer Zahl aber boten Laien wahrhaft unzählige tausend Ave Maria zu diesem Mantel dar, so als ob sie damit einen überaus kostbaren Stoff kauften sowie 234 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="235"?> Die Reihengebete hingegen, vor allem die 600.000 Ave Maria, die das Gros der zu erbringenden Frömmigkeitsleistungen darstellen, werden von Dominikus im obigen Zitat den laici, also frommen Laien zugeordnet. 145 Allerdings war zählendes Beten von Standardformeln im Spätmittelalter keineswegs auf den Bereich der Laienfrömmigkeit beschränkt: »Gezählt haben Nonnen wie Mönche, Kleriker wie Laien, Gebildete wie Ungebildete.« 146 Es kann vor diesem Hintergrund vermutet werden, dass der Alemannische Marienmantels, anders als in Dominikus ’ schematischer Schilderung, mit der riesigen Menge an Mariengrüßen nicht zwingend nur auf fromme Laien zielt. Daran, dass der volkssprachige Text es unterlässt, die verlangten Gebete explizit einer bestimmten Personengruppe zuzuweisen, lässt sich vielmehr eine gewisse Flexibilität erkennen. Trotzdem kann aus der Qualität der einzelnen Frömmigkeitsleistungen darauf geschlossen werden, auf wen die entsprechenden Anweisungen gezielt haben dürften. Die sechs Psalter, die zum Alemannischen Marienmantel gehören, verweisen wohl auf die beteiligten Geistlichen. So konnte dieses Gebet in Anbetracht der dafür nötigen Kenntnis der Psalmen und des Lateinischen in der Praxis wohl fast nur von literaten Nonnen, Mönchen und Klerikern bewältigt werden. 147 Zudem stellte das Offizium, in dessen Rahmen der gesamte Psalter über die Wochentage verteilt gebetet wurde, eine weitgehend monastische und klerikale Frömmigkeitstradition dar. 148 Dass im Falle des Mantelbetens besonders an weibliche Religiose als Trägerschicht einer solchen Gebetsfrömmigkeit zu denken ist, impliziert die oben besprochene Überlieferung des Texts. Standardtexte wie das Salve regina oder Gloria Patri dürften prinzipiell auch religiös versierten Laien vertraut gewesen sein. Allerdings geht aus dem Alemannischen Marienmantel nicht hervor, ob diese Texte gesprochen oder, wie es im Fall der Marienantiphon Salve regina ebenso wie der kleinen Doxologie plausibel scheint, 149 gesungen wurden. Ein musikalischer Vortrag wiederum würde noch einmal auf Nonnen oder Mönche weisen. 150 goldene Borten und verschiedenen weiteren zum Gewand gehörigen Zierrat, für jedes einzelne Stück wurden stets viele tausend Englische Grüße gesprochen.« Eine ähnliche volkssprachige Schilderung findet sich im Ripuarischen Marienmantel, Z. 34 - 43. 145 Wie Peter Ochsenbein anmerkt, war das zählende Beten kurzer Standardtexte in großer Anzahl schon ab dem 11. Jahrhundert bei den Zisterziensern für die »nicht lesefähigen Konversbrüder als Ersatz für das offizielle liturgische Officium divinum« verbreitet (Ochsenbein 1997, S. 139). Zur auch unter Laien verbreiteten Praxis, Reihen von Paternoster oder Ave Maria als Alternative zum Psalter zu beten, vgl. detailliert oben, S. 115 - 117. 146 Angenendt u.a 1995, S. 48. 147 Der Psalter war besonders für Mönche und Nonnen, denen ein striktes Regiment des über die Woche verteilten Psalmenbetens auferlegt war, »both the sign and the handbook of intense personal piety« (Gross-Diaz 2012, S. 437). 148 Vgl. Matter 2021, S. 18 - 26. 149 Dass das Salve regina im Mittelalter in der Regel gesungen wurde und eine »planvolle Beziehung von Text und Musik« aufweist, wird ausgeführt bei Fred Büttner: Zur Geschichte der Marienantiphon › Salve regina ‹ , in: Archiv für Musikwissenschaft 46.4 (1989), S. 257 - 270, S. 260. Zum Singen des Gloria patri und daran angelegten volkssprachigen Texten vgl. Volker Mertens: Der Ruf - eine Gattung des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter? , in: ZfdA 104.1 (1975), S. 68 - 89, hier S. 75. 150 Einführend vgl. Irmgard Jungmann: Gesang im Mittelalter. Zur Revision eines Geschichtsbildes, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 32.1 (2001), S. 3 - 32. Während die Teilnahme am geistlichen Gesang Laien weitgehend vorenthalten war, besteht hingegen »überhaupt kein Grund anzunehmen, der › gregorianische ‹ Choral sei nur von Männern ausgeübt worden« (ebd., S. 26). Der Gesang bestimmter Texte kann auf Klosterbrüder und -schwestern gleichermaßen verweisen. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 235 <?page no="236"?> Einen vergleichbaren Grenzfall stellen die 6.000 Ave Maria dar, die mit crútz venien gesprochen sint (AM, Z. 170 f.). Bei den hier erwähnten Venien handelt es sich um je nach Orden in ihrem Ablauf unterschiedliche Kniebeugen oder Prostrationen, die »zu den üblichsten Gebetspraktiken« des Spätmittelalters zählten und in hoher Anzahl ausgeführt auch als »Askeseleistung« fungierten. 151 Die Bezeichnung crútz venien verweist an dieser Stelle auf ein »Beten mit ausgestreckten Armen« 152 oder - angesichts des Frauenklosterkontexts der Handschriften wahrscheinlicher - auf eine Prostration in Kreuzform. 153 Obwohl Venien meist mit monastischer Gebetspraxis assoziiert werden, 154 sprechen einige literarische Indizien für ihre Verbreitung auch unter Laien. So heißt es bereits in der hochmittelalterlichen Kaiserchronik über den Papst Silvester: den laien enphalch er gewisse, / sie spræchen ir bîhte und ir gelouben / mit wainenden ougen, / mit vasten und mit venien. 155 Bei den im Alemannischen Marienmantel als willenbrechen bezeichneten Askeseleistungen hingegen ist zunächst nicht vollkommen klar, worauf sich exakt bezogen wird. Unter anderem im Väterbuch, in den Vierzig Myrrhenbüscheln und bei Heinrich Seuse ist das Substantiv willenbrechen belegt und meint dort allgemein klösterliche Fasten- und Entsagungsübungen. 156 Eine ähnliche Verwendung im Alemannischen Marienmantel liegt nahe. Hieraus geht allerdings nicht hervor, ob das Wort im Kontext der südwestdeutschen Klosterfrömmigkeit des 15. Jahrhunderts womöglich einen engeren Bedeutungsumfang hatte und auf eine bestimmte Askeseform verwies. Ein Blick auf die entsprechenden Erläuterungen bei Dominikus von Preußen lässt dies jedoch eher unwahrscheinlich scheinen: Insuper exercicia multa in religione militantibus consueta inserverunt ad ornandum pallium virtuosissime virginis virtutibus et disciplinis et studiis bonis, videlicet in frangendo proprias voluntates, in conpescendo in se insurgentes pravos motus, fugando a se desideria illicita, a licitis eciam non necessariis abstinendo, vicia fugiendo, aliena minime concupiscendo, propria largiendo, non sua sed ea, que Iesu Christi sunt, in omnibus hiis querendo, laudem videlicet et 151 Dinzelbacher 1999, S. 70 f. 152 Jos A. Jungmann: Beiträge zur Geschichte der Gebetsliturgie IV. Die Kniebeugung zwischen Psalm und Oration, in: Zeitschrift für katholische Theologie 72.3 (1950), S. 360 - 366, hier S. 366. 153 Derartige kreuzförmige Prostrationen waren vor allem im Bereich weiblicher Frömmigkeit gängig; eine Zusammenstellung entsprechender Belege findet sich bei Hamburger 1997, S. 90 f. 154 Vgl. z. B. die vielen, ausschließlich aus dem Bereich der Klosterfrömmigkeit stammenden Beispiele bei Jungmann 1950. 155 »Die Laien wies er gewisslich dazu an, / dass sie ihre Beichte und ihr Glaubensbekenntnis / mit weinenden Augen / und mit Fasten und mit Venien ablegten«, Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. v. Edward Schröder, Hannover 1892 (MGH: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 1,1), V. 10079 - 10082. Im König Rother wird in der Schilderung einer Gebetsszene beschrieben, wie mehrere als Laien gezeichnete Figuren eine Art Kreuzvenien vollführen: do viellen sie al in cruces stal (»Da fielen sie alle mit ausgebreiteten Armen (in Kreuzesform) nieder«), König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung v. Peter K. Stein, hg. v. Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit v. Beatrix Knoll u. Ruth Weichselbaumer, Stuttgart 2000 (RUB 18047), V. 376. 156 Vgl. Karl Reißenberger (Hg.): Das Väterbuch. Aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift, Berlin 1914, V. 13843 - 13860; Fasching 2020, S. 429, S. 434, S. 453 u. a.; sowie Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 91 und 414 [Vita, Kap. 31; Briefbuch, Nr. 2]. 236 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="237"?> gloriam dei solius et sanctissime virginis Marie matris eius in cunctis, qui vel paterentur aut agerent, pure cupiendo. (Pallium, Z. 63 - 69) 157 In dieser Passage, die mit der Formulierung in frangendo proprias voluntates den mittelhochdeutschen Begriff willenbrechen direkt ins Lateinische zu übertragen scheint, wird ein umfänglicher Katalog klösterlich geprägter asketischer Tugenden aufgelistet. 158 Eine entsprechende Zuordnung wird auch durch die charakteristische Formulierung in religione militantes impliziert, mit der die Trägerinnen und Träger einer solchen Askesepraxis bezeichnet werden. Zumindest der Autor des in vielerlei Hinsicht ein Rezeptionszeugnis zum Alemannischen Marienmantel bildenden Pallium sah in den vom ersteren Text verlangten willenbrechen also generell monastisch konnotierte Akte der Entsagung und Enthaltsamkeit. 159 Inwieweit eine entsprechende Frömmigkeit hierbei auch als für religiös lebende Laien zugänglich gedacht ist, geht aus den beiden Texten freilich nicht hervor. Dieser kurze Überblick über die zum Mantel Marias beizusteuernden Gebete, Messen und Askeseübungen gibt einen entscheidenden Einblick in die Zusammensetzung der Gemeinschaften, für die Texte wie der Alemannische Marienmantel konzipiert waren. Priester wie Laien, Mönche wie Nonnen konnten sich unabhängig von Geschlecht und Stand an der Fertigung des geistlichen Ornats beteiligen und einen in Pensum und Qualität ihrer Lebensform gemäßen Anteil beitragen. Der Alemannische Marienmantel gehört somit ins Umfeld jener in Spätmittelalter und Früher Neuzeit florierenden »Zusammenschlüsse von Mönchen, Klerikern und Laien mit dem Ziel, sich durch die genaue Erfüllung schriftlich festgelegter Verpflichtungen, vor allem durch Gebetsleistungen und Messfeiern, beizustehen«, 160 denen auch die oben behandelten Rosenkranzbruderschaften zuzurechnen sind. Durch die Quantifizierungslogik, die dem arbeitsteiligen Charakter des Mantelgebets zugrunde liegt, wird eine derartige Praxis überhaupt vollziehbar. Erst das exakte Zählen und Benennen der zu erbringenden Gebete und Frömmigkeitsleistungen erlauben es, diese unter einer Gruppe von Gläubigen aufzuteilen, denen je unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten offenstehen. Zähl- und Aufrechenbarkeit erscheinen somit auch als Mög- 157 »Darüber hinaus haben sie auch viele Übungen, die denen, die in der Gottesverehrung streiten, vertraut sind, um den Mantel der Jungfrau höchst tugendhaft zu schmücken, mit Tugenden und Zucht und guten Anstrengungen eifrig betrieben, d. h. im Brechen des eigenen Willens, im Unterdrücken der schlechten Regungen, die sich in einem selbst erheben, durch Abweisen unerlaubter Begierden von sich, durch Sich-Enthalten sogar von erlaubten aber nicht notwendigen Dingen, durch Flucht vor Lastern, dadurch, dass man Fremdes gar nicht begehrt, durch Verschenken von Eigenem, dadurch, dass man in all diesen Dingen nicht Eigenes sucht, sondern das, was Jesu Christi ist, dadurch, dass man rechtschaffen Preis und Ruhm Gottes allein und der heiligsten Jungfrau Maria, seiner Mutter, bei allen wünscht, die etwas erleiden oder tätig sind.« 158 Unschwer zu erkennen ist hinter der Aufzählung die für klösterliche Askesekonzepte ausschlaggebende Vorstellung einer Enthaltsamkeit, die »bedeutet, auf alles Unwesentliche verzichten, sich im Wesentlichen üben, das Leben von Christus her und auf ihn hin leben und verstehen« (Bernd Jaspert: Art. Askese VI. Mittelalter, in: TRE 4 [1979], S. 229 - 239, hier S. 230). 159 Dieses Verständnis von willenbrechen als klösterlicher Askeseleistung entspricht der allgemeinen Feststellung Niklaus Largiers, dass »der monastische Gehorsam und das Ideal der Kontemplation« ausgerichtet seien »an einer praktischen Verpflichtung zur Selbstaufgabe und der Verneinung des eigenen Willens« (Niklaus Largier: Das Theater der Askese: Gewalt, Affekt und Imagination, in: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Werner Röcke u. Julia Weitbrecht, Berlin u. a. 2010 [Transformationen der Antike 14], S. 207 - 221, hier S. 208). 160 Angenendt u. a. 1995, S. 48. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 237 <?page no="238"?> lichkeitsbedingungen einer gemeinschaftlichen Frömmigkeit, die über die Grenzen von Ordenszugehörigkeit, Geschlecht sowie geistlichem oder weltlichem Stand hinweg anschlussfähig ist. 2.4 Zählen und Erinnern: Strategien der Vermittlung von Glaubensinhalten Neben einer derartigen Gemeinschaftskonstruktion setzt der Text seine Quantifizierung sowohl der Elemente des Marienornats als auch der dafür zu erbringenden Leistungen ebenfalls zur Unterweisung in christlicher Glaubenslehre und -praxis ein. Zählen fungiert also nicht allein als Mittel der Äquivalenzherstellung und als Technik der imaginierenden Versenkung, sondern auch als numerisches Zeichensystem. Denn zur »Vermittlung katechetischen Wissens bot sich gerade eine Denkform an, die allenthalben bekannt und als mnemotechnisches Hilfsmittel der Unterweisung vorzüglich geeignet erschien: die Zahlenallegorese.« 161 Im Alemannischen Marienmantel entspricht die Anzahl bestimmter Schmuckelemente in der imaginierten Ikonographie des gebethaft gefertigten Gegenstandes oft auswendig zu lernenden Katalogen oder anderen zahlenmäßig darstellbaren Glaubensinhalten. Auf diese Weise gibt der Text, so Lentes, »genau durchstrukturierte Methoden geistlichen Lebens an die Hand.« 162 Ein Beispiel bietet die folgende Passage, die zur Stickerei an der Saumleiste des Marienmantels anleitet: Die borte vor abe an disem mantel sol sin von golde und sol kosten zwen selter und xxx tusent Ave Maria. In disem bort sol gewúrcket sin xij rot rosen und xij wisse gilgen. Die rosen súllent bezeichnen die xij stúcke des glouben, die do aller klerlichest in irem hertzen stu ͦ ndent. Die gilgen bezeichent die xij ra ᵉ te unsers herren Jhesu Cristi, die sú uff das aller ho ᵉ chst ervolget het. (AM, Z. 24 - 28) 163 Die stúcke des glouben meinen hier das apostolische Glaubensbekenntnis, das im Mittelalter gemäß der Anzahl der Apostel in zwölf zu memorierende Abschnitte unterteilt wurde. 164 In der Sakralkunst entspricht diesem Schema der verbreitete Bildtyp des Apostelcredo, in dem die zwölf Apostel dargestellt und jeweils mit dem ihnen zugeord- 161 Lentes 1996, S. 609. 162 Lentes 1993, S. 134. 163 »Die Borte vorne an diesem Mantel soll aus Gold sein und zwei Psalter sowie 30.000 Ave Maria kosten. In diese Borte sollen zwölf rote Rosen und zwölf weiße Lilien hineingearbeitet sein. Die Rosen sollen die zwölf Stücke des Glaubens bedeuten, die in größter Klarheit in ihrem Herzen wohnten. Die Lilien bezeichnen die zwölf Ratschläge unseres Herren Jesus Christus, die sie aufs allerhöchste befolgt hat.« 164 Schon seit dem 4. Jahrhundert war die unter anderem bei dem Kirchenvater Ambrosius aufgeworfene Vorstellung verbreitet, »die Apostel seien vor Beginn ihrer Weltmission zusammengekommen, um als › Norm ihrer künftigen Verkündigung ‹ ein Bekenntnis zu formulieren, indem, so spätere Versionen, jeder der Zwölf einen Satz zur Endfassung beisteuerte«, Michael Fiedrowicz: Theologie der Kirchenväter. Grundlagen frühchristlicher Glaubensreflexion, 2. Aufl., Freiburg i. Brsg. u. a. 2010, S. 206. Die Zwölfteilung des apostolischen Glaubensbekenntnisses und die Zuweisung der einzelnen Teile zu verschiedenen Aposteln erklären sich aus dieser Entstehungslegende. 238 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="239"?> neten Teilen des Apostolikums verbunden werden. 165 Eine vergleichbare Repräsentation des Glaubensbekenntnisses auf dem gebeteten Werkstück folgt einem mnemotechnischen Programm, gehörte doch die Kenntnis des Credo zum katechetischen Basiswissen, das jedem Christen vermittelt werden sollte. 166 Wenn der Alemannische Marienmantel die zwölf in die Saumleiste gewebten Rosen mit den zwölf Teilen des Glaubensbekenntnisses gleichsetzt, hält er die Erinnerung der Betenden an diesen Elementartext wach und bietet ein Schema zu seiner Visualisierung. Dabei hat, so fährt der Text fort, jede Rosenblüte fünf Kronblätter, die die fünf Sinne symbolisieren und aus den synnlichen lústen (AM, Z. 29) der Gläubigen bestehen. 167 Im Sinne einer vita apostolica sollen diese Sinne nach innen gerichtet, ganz auf ein christliches Leben konzentriert und damit in Erfüllung des jeweiligen Glaubenssatzes zum Marienmantel beigetragen werden. Die mithilfe von 12.000 Ave Maria in die Saumleiste gestickten und aus vinen berlin (AM, Z. 31) bestehenden weißen Lilien 168 halten ebenfalls zur erinnernden Vertiefung in einen katechetischen Text an. 169 Mit den Zwölf Räten des Herrn wird hierbei auf eine verbreitete Dekalogergänzung des Spätmittelalters referiert, die aus einem Katalog der von Jesus in den Evangelien erteilten Tugendratschläge besteht. 170 Analog zu den Blütenblättern der das Credo bezeichnenden Rosen sind die Staubgefäße der Lilien aus den Entsagungen gefertigt, welche die Gläubigen zur Erfüllung des jeweiligen Ratschlags auf sich genommen haben: Die ko ᵉ rner in disen gilgen so ᵉ llent sin alle die sunderlichen grossen willenbrechen, die hie zu ͦ gebrochen sint von mynnen (AM, Z. 32 - 34). 171 Solche numerischen Versinnbildlichungen dienen in erster Linie der Einübung und kontemplativen Wieder- 165 Vgl. zum Apostelcredo in der Kunst des Spätmittelalters Susanne Wegmann: Das Apostelcredo in der Nürnberger Lorenzkirche. Ein Beitrag zur Ausstattungsgeschichte des frühen 15. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 89 (2002), S. 7 - 21. 166 Hierzu Arnold Angenendt: »Die Forderung, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in der eigenen Sprache beten zu können, ging durch das ganze Mittelalter und erfuhr im Hoch- und Spätmittelalter eine bedeutsame Ausweitung. Zum Kanon des pflichtigen Glaubenswissens gehörten nun zusätzlich die Zehn Gebote und das Ave Maria, und sie bildeten zusammen mit noch weiteren Stücken den Katechismus« (Angenendt 2009, S. 471). 167 Zur Fünfzahl der Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen) im Mittelalter und zu unterschiedlichen Darstellungstraditionen der fünf Sinne vgl. Fiona Griffiths u. Kathryn Starkey: Sensing Through Objects, in: Sensory Reflections. Traces of Experience in Medieval Artifacts, hg. v. Fiona Griffiths u. Kathryn Starkey, Berlin/ Boston 2018 (Sense, Matter, Medium 1), S. 1 - 21, hier S. 1 - 8; sowie Richard G. Newhauser: Introduction: The Sensual Middle Ages, in: A Cultural History of the Senses in the Middle Ages, hg. v. Richard G. Newhauser, London/ Oxford 2016, S. 1 - 22. 168 »feinen Perlen« 169 Hier spielt auch die marianischen Liliensymbolik des Spätmittelalters hinein, denn seit der »Gotik tritt die weiße L[ilie] als Symbol der Reinheit in den Vordergrund« (W. Hahn: Art. Lilie. II. Ikonographie, in: Marienlexikon 4 [1992], S. 121 - 123, hier S. 121). 170 Vgl. Josef Werlin: Die zwölf Räte Jhesu Christi. Eine mittelalterliche Ergänzung zum Dekalog, in: Leuvense Bijdragen 52 (1963), S. 156 - 168. Im Einzelnen werden in diesem Katalog aufgelistet: 1. Armut, 2. Gehorsam, 3. Keuschheit, 4. Feindesliebe, 5. Mitleid mit den Schwachen, 6. Großzügigkeit gegenüben den Armen, 7. entschlossene Aufrichtigkeit, 8. innere und äußere Abkehr von Sünden, 9. Ausrichtung allen Handelns nach dem Willen Gottes, 10. Befolgung der christlichen Lehre auch im eigenen Handeln, 11. Gleichgültigkeit gegenüber vergänglichen Dingen, 12. Nächstenliebe und -hilfe. Damit stellen die Zwölf Räte einen ergänzten Katalog der Trias der evangelischen Räte (Keuschheit, Armut, Gehorsam) dar. In der Handschrift M ist dieser Text auf fol. 185v - 190r auch gemeinsam mit dem Alemannischen Marienmantel überliefert. 171 »Die Körner in diesen Lilien sollen all die besonders großen Entsagungen sein, die hierzu aus Liebe erbracht wurden.« 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 239 <?page no="240"?> holung katechetischer Kataloge oder vergleichbar aufgeschlüsselter Basistexte. Sie werden im Alemannischen Marienmantel primär eingesetzt »zur methodischen Hilfe für die subjektive Aneignung christlicher Tugendideale« ebenso wie zur fortwährenden Erinnerung an zentrale Glaubenssätze. 172 An einigen Stellen jedoch vermitteln allegorisch aufgeladene Zahlenverhältnisse auch weitergehende Inhalte. So wird beispielsweise die Trinität durch eine Krone für das Jesuskind verbildlicht, an deren drei Zacken je drei aus einer Messe bestehende Edelsteine sitzen: Dis kint sol haben ein krone von drigen zincken zu ͦ einer bezeichnung siner heiligen drúvaltikeit, und dirre zincken jeglicher sol sin von dryen edelen gesteinen. Das súllent sin drige messen. Und an jeglichem zincken zwúschent disen dryen an diser kronen súllent ston tusent viner berlin. Das súllent sin tusent Ave Maria, die mit crútz venien gesprochen sint. (AM, Z. 73 - 77) 173 Als »Zeichen des dreifaltigen Schöpfers« und »Kennziffer des Erlösers« spielt die Drei in der christlichen Heilsarithmetik eine hervorgehobene Rolle. 174 Sowohl die Dreizahl selbst als auch die verschachtelte Dreiheit jeder der drei aus wiederum jeweils drei Messen bestehenden Kronenzacken sind in der obigen Passage bedeutsam, wird doch so mit der inneren Ungeschiedenheit der trinitarischen Personen ein wesentlicher Bestandteil der mittelalterlichen Dreifaltigkeitslehre verdeutlicht. 175 Hier dient der Andachtstext auch der Vermittlung komplexer Theologumena, die über die Bilder, die der Alemannische Marienmantel seine Leserschaft imaginieren lässt, und die darin realisierten Zahlenverhältnissen anschaulich werden. 2.5 Allegorische Dimensionen des Mantelgebets Der Übergang vom primär mnemotechnischen Katalog zur komplexen Bild- und Zahlenallegorie ist dabei fließend. So lässt sich z. B. die oben bereits angesprochene Fürspange leicht als Sinnbild sowohl für Christus im Kreise der zwölf Jünger als auch für die von den Aposteln umgebende Dreifaltigkeit deuten. Umringt von zwölf kleineren Edelsteinen befindet sich ein stein mittel in der spangen, der gemacht wird aus drigen der aller minne richesten messen [ … ] zu ͦ einer bezeichnung der heiligen drúvaltikeit, (AM, Z. 47 - 49). 176 Zählen und Quantifizierung leiten somit nicht bloß zur Produktion der geistlichen Textilie an, sie schreiben ihr auch multiple Sinn- und Deutungsangebote ein. Derartige Stellen verdeutlichen ein Charakteristikum des Alemannischen Marienmantels, das in den oben angesprochenen Zahlenallegorien bereits anklingt. Der Ornat soll nicht nur im und aus dem Gebet her- und vorgestellt werden, sondern dient darüber- 172 Lentes 1993, S. 134. 173 »Das Kind soll als Zeichen seiner heiligen Dreifaltigkeit eine Krone mit drei Zacken haben, und jeder dieser Zacken soll aus drei edlen Steinen bestehen. Das sollen drei Messen sein. Und an jeglichem Zacken zwischen diesen dreien sollen an dieser Krone 1.000 Perlen angebracht sein. Das sollen 1.000 Ave Maria sein, die mit Kreuzvenien gesprochen wurden.« 174 Meyer/ Suntrup 1987, Sp. 214 - 230. 175 Vgl. Angenendt 2009, S. 99. 176 »Der Stein in der Mitte der Spange soll aus drei allerliebreichsten Messen bestehen [ … ] zum Zeichen für die heilige Dreifaltigkeit.« 240 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="241"?> hinausgehend als sinnbildlicher Meditationsgegenstand. Somit fügt sich der Text ins weite Feld dingallegorischer Gebets- und Andachtsübungen ein, die, so charakterisiert Dietrich Schmidtke, hauptsächlich drei Aspekte miteinander verbinden: »bildliche Vorstellungen, Bezug dieser Bildelemente auf einen geistlichen Sinn, Anweisung zu Gebeten oder sonstigen Frömmigkeitsübungen«. 177 Auf dem Umweg der Allegorie entspannen sich dabei durch den zur geistlichen Textilie werdenden Text die Ereignisse des Marienlebens sowie der Inkarnation und Passion Christi, die dem betenden Benutzer des Andachtstexts vergegenwärtigt und während des Reihenbetens zur Kontemplation angetragen werden. Bildlichkeit, imaginierte Materialität und allegorische Bedeutung dieses geistlichen Werkstücks werden dabei auf mehreren Ebenen miteinander verwoben. Zunächst können viele Teile des Mantels vor dem Hintergrund vestimentärer Codes des Spätmittelalters gelesen werden. Diese erste Bedeutungsschicht ist oftmals recht einfach gehalten - so weisen die für Maria und Jesus gefertigten Kronen auf ihren himmlischen Herrscherstatus, und auch das aus Hermelinpelz gefertigte Mantelfutter verdeutlicht Marias Rolle als Himmelskönigin. 178 Das goldene Tuch des Marienmantels repräsentiert nicht nur Pracht und Kostbarkeit, sondern scheint zusammen mit der weißen Farbe des Futters auch auf die liturgischen Farben hinzuweisen, die besonders zu marianischen Festen getragen wurden. 179 Viele Einzelelemente des Marienornats referieren auf vergleichbare Weise auf die Kleidungskultur des ausgehenden Mittelalters und ihre spezifische Zeichenstruktur. Zudem aber ergänzt der Alemannische Marienmantel eine komplexere zweite Bedeutungsebene, auf der das geistliche Gewand als marianische Allegorie erscheint, deren Details die Tugenden der Heiligen Jungfrau, ihren Lebensweg und besonders ihre entscheidende Position innerhalb des göttlichen Erlösungswerks versinnbildlichen. Wie das Beispiel von Manteltuch und -futter zeigt, die der Text als Zeichen für Marias göttliche Liebe und jungfräuliche Reinheit benennt (vgl. AM, Z. 13 f.), gestaltet sich dies mitunter recht simpel. An anderen Stellen jedoch spielt der Text mit vielschichtigen Allegorisierungen, so in der Passage, die zur Fertigung der floralen Motive auf der Saumborte des Mantels anleitet: Das bort unden umb disen mantel sol sin von rotem golde, und dar in gewúrcket ein blu ͦ gende rebe mit iren frúchten. Dise rebe bezeichent uns unser liebe fro ᵘ we, die uns den edelen trúbel von zyppern hett brocht an dise welte, der durch unsern willen getretten und getrottet ist under dem trotbo ᵘ me des heiligen crútzes, und uns uß sinem minnenden hertzen geschencket het die zwen lebendige flússe. Und begerent, das die zwen lebendige flússe fruchtber machent alle die hertzen, die je zu ͦ disem mantel gestúret hant. Die trúbel an diser reben súllent sin geordenet von allen den mynnetrehen, die in disem dienste vergossen sint. Die bletter an diser reben so ᵉ llent sin alle die andechtigen wort, die in disem dienst gesprochen sint. Diser porte sol kosten zwen selter und xv tusent Ave Maria. (AM, Z. 15 - 23) 180 177 Schmidtke 1982, S. 280. 178 Vgl. Norris 1999, S. 283. 179 Siehe Innozenz III.: De sacro altaris mysterio, in: Patrologia Latina 217 (1855), Sp. 773 - 916, hier Sp. 799 - 802 [I,65]. Obgleich der Brauch, weiße liturgische Gewänder an Hochfesten gegebenenfalls durch goldene oder silberne Farben zu ersetzen, erst deutlich später approbiert wurde, scheint dies bereits im Spätmittelalter gebräuchlich gewesen zu sein. 180 »Die Borte unten an diesem Mantel soll aus rotem Gold gemacht sein, in das ein blühender Rebstock mit seinen Früchten hineingearbeitet ist. Dieser Rebstock bezeichnet uns unsere liebe Frau, die für uns die edle Traube von Zypern auf die Welt gebracht hat, die um unseretwillen zerstampft und gepresst 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 241 <?page no="242"?> Diese Borte, die aus imaginiertem Goldfaden gearbeitet und mit floralen Stickereien oder Webmustern versehen wird, 181 entfaltet vor den inneren Augen der frommen Leserschaft mithilfe eines dichten Bild- und Zeichengeflechts die Geschichte der Inkarnation und Passion Christi. Dabei werden diese Heilsereignisse allerdings nicht auserzählt, sondern bloß durch allegorische Bilder in der Erinnerung der Gläubigen, die mit der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung vertraut sind, aufgerufen und zur vergegenwärtigenden Betrachtung anempfohlen. 182 Voraussetzung hierfür ist allerdings ein Lesepublikum, das meditativ in die sprachlich evozierte Sinnbildlichkeit des aus seinen Gebeten entstehenden Marienornats immergiert und »bereit ist, das im Text nur Angedeutete eigenschöpferisch zu erschließen«. 183 Mit dem allegorischen Bortenmuster aus Weinranken und -trauben bietet der Marienmantel zu einer solchen Versenkung ins Gnadenwirken Christi und Marias einen ganzen Komplex an Sinnverweisen und Bedeutungsangeboten an, die der Andachtstext aufschlüsselt und zumindest teilweise erklärt. Zunächst wird Maria dabei unter Anspielung der Motivik des in der mittelalterlichen Bibelexegese oftmals marianisch gedeuteten Hohelieds 184 mit dem auf der Borte abgebildeten Rebstock identifiziert, der als Frucht Jesus Christus trägt. 185 Zwei weitere wurde unter dem Kelterbaum des heiligen Kreuzes und uns aus ihrem liebenden Herzen die zwei lebendigen Flüsse geschenkt hat. Und wir wünschen, dass die zwei lebendigen Flüsse all jene Herzen fruchtbar machen, die jemals zu diesem Mantel beigetragen haben. Die Trauben an diesem Rebstock sollen hergerichtet sein aus all den Liebestränen, die in diesem Dienst vergossen wurden. Die Blätter an diesem Rebstock sollen all die andächtigen Worte sein, die in diesem Dienst gesprochen wurden. Diese Borte soll zwei Psalter und 15.000 Ave Maria kosten.« 181 Das Verb würken (hier › nähend, stickend, webend verfertigen ‹ , vgl. Lexer 1878, Bd. 3, Sp. 931) lässt keine genauen Schlüsse auf die textilhandwerkliche Arbeitstechnik zu, die hier gemeint ist. Anders als z. B. das Marienleben des Bruder Philipp, das, wie Henrike Manuwald herausarbeitet, bei der Schilderungen der Fertigung des heiligen Rocks wohl textilgeschichtlich aufschlussreich auf die »Technik des Strickens mit mehreren Nadeln verweist« (Manuwald 2017, S. 211), schildert der Alemannische Marienmantel den Prozess der Fertigung des Marienkleides zumeist nicht in »einer Form der Inkulturation, die auf die zeitgenössische Alltagskultur abzielt« (ebd., S. 219). 182 Somit stimuliert der Text einen im Mittelalter oft als ruminatio ( › Wiederkäuen ‹ ) bezeichneten Prozess des meditativen Umgangs mit erinnerten Texten, Narrativen und Bildern, der als memorative Praxis untersucht wird bei Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Medieval Literature 10), S. 164 f. 183 Schmidtke 1982, S. 273. 184 Das Motiv basiert auf Ct 4,12 - 13: hortus conclusus soror mea sponsa hortus conclusus fons signatus emissiones tuae paradisus malorum punicorum cum pomorum fructibus cypri cum nardo (»Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle. Was du sprießen lässt, ist ein Paradies von Granatapfelbäumen mit den Früchten der Obstbäume, Zypernbäume mit Narde«). Diese Passage, auf der auch die bekannte Darstellung Marias im verschlossenen Garten zurückgeht, hat eine im Mittelalter fest etablierte Tradition marianischer Auslegung. Das lateinische cyprus wird im Alemannischen Marienmantel und anderen zeitgenössischen Texten als Referenz auf zypriotischen Wein verstanden. Den Hintergrund dieses lexikalischen Missverständnisses bildet eine weitere Stelle aus dem Hohelied Salomons, die im Weinberg wachsende cypri erwähnt: botrus cypri dilectus meus mihi in vineis Engaddi (»Eine Traube aus Zypern ist mir mein Geliebter in den Weingärten von En-Gedi«, Ct 1,14). 185 Dieses Motiv ist auch in der bildenden Kunst des deutschsprachigen Raumes im Spätmittelalter weit verbreitet. Vgl. dazu Jutta Seibert: Lexikon christlicher Kunst. Themen, Gestalten, Symbole, Freiburg i. Brsg. u. a. 1980, S. 333 - 334; sowie Alois Thomas: Maria der Acker und die Weinrebe in der Symbolvorstellung des Mittelalters, Habilitationsschrift Trier 1952. Als auf Maria bezogen wurde in diesem Kontext vor allem Sir 24,23 gedeutet: ego quasi vitis fructificavi suavitatem odoris et flores mei fructus honoris et honestatis (»ich habe wie eine Weinrebe die Süße des Duftes reifen lassen, und meine Blüten 242 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="243"?> Bibelreferenzen bauen dieses Sinnbild aus. Neben der Parabel vom wahren Weinstock aus dem Johannesevangelium, welche die Basis der Traubenmetapher für Christus darstellt und ebenfalls als Bildmotiv verbreitet ist, 186 referiert der Text hier auf Io 7,37 - 38: si quis sitit veniat ad me et bibat qui credit in me sicut dixit scriptura flumina de ventre eius fluent aquae vivae. 187 Zusammengenommen präsentieren diese Schriftverweise die floral verzierte Borte am Saum des Marienmantels als allegorische Darstellung von Christus als Traube, die am Maria bezeichnenden Rebstock gedeiht. Dieses Bild besitzt eucharistische Anklänge. Die zwen lebendige[n] flússe (AM, Z. 19) stehen für den aus der Traube gewonnenen Wein und damit allegorisch für das am Kreuz vergossene Blut Christi, in das der Messwein während der Eucharistiefeier gewandelt wird. 188 Durch den Aufruf eines Bildmotivs, das als »Christus in der Kelter« bekannt ist, 189 wird diese Sinnzuschreibung noch verstärkt. Wenn der Andachtstext nämlich ausführt, die Weintraube, die Christus bedeutet, sei getretten und getrottet [ … ] under dem trotbo ᵘ me des heiligen crútzes (AM, Z. 17 f.), so evoziert er die zeitgenössisch als Andachtsbild verbreiteten Darstellungen von Christus als Schmerzensmann, der in einer Weinpresse zerquetscht wird, aus der sein Blut bzw. der dazu gewandelte Wein fließt. Durch den Kreuzestod, so die Implikation dieses Bildmotivs, nährt Christus die Menschheit mit erlösender Substanz. Derartige Töne, die in der Allegorese zur Saumborte des Alemannischen Marienmantels deutlich mitklingen, fügen sich nahtlos in den Kontext der intensivierten Eucharistiefrömmigkeit des Spätmittelalters. 190 sind Früchte der Ehre und der Ehrbarkeit«). Auf diesem Bibelwort baut die Darstellung Marias als Rebstock auf; vgl. dazu Wolfgang Haubrichs: Zur historischen Semantik des Weines in symbolischer Kommunikation, in: Vom Wein zum Wörterbuch: Ein Fachwörterbuch in Arbeit. Beiträge des internationalen Kolloquiums im Institut für Pfälzische Geschichte und Volkskunde in Kaiserslautern, 8./ 9. März 2002, hg. v. Maria Besse, Wolfgang Haubrichs u. Roland W. L. Puhl, Mainz 2004 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 10), S. 221 - 236; sowie Elisabeth Vavra: › Ich bin der wahre Weinstock ‹ . Zur Weinsymbolik in der Kunst des Mittelalters, in: Wasser & Wein. Zwei Dinge des Lebens. Aus der Sicht der Kunst von der Antike bis heute. Ausstellungskatalog Kunst-Halle- Krems 1995, Wien 1995, S. 70 - 76. 186 Io 15,1 - 5. Hier heißt es einleitend: ego sum vitis vera et Pater meus agricola est (»Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer«). Diese Worte klingen auch im Alemannischen Marienmantel an, wenn auch in Abwandlung: Maria erscheint dort als Weinrebe, Jesus als Traube. 187 »Wenn jemand durstig ist, soll er zu mir kommen und trinken! Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leib werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.« Die verbreitete Deutung der Erwähnung des lebenden Wassers als Verweis auf das bei der Passion vergossene und in der Eucharistie im Messwein präsente Blut Christi basiert auf der Erwähnung von Blut und Wasser in der Kreuzigungsschilderung des Johannesevangeliums: unus militum lancea latus eius aperuit et continuo exivit sanguis et aqua (»einer von den Soldaten öffnete seine Seite mit dem Speer, und sogleich kam Blut und Wasser heraus«, Ioh 19,34). Auf welche alttestamentliche Bibelstelle sich Io 7,38 bezieht, gilt allerdings als unklar. Zur exegetischen Tradition dieses Schriftworts vgl. Maarten J. J. Menken: The Origin of the Old Testament Quotation in John 7: 38, in: Novum Testamentum 38.2 (1996), S. 160 - 175. 188 Vgl. Caroline Walker Bynum: The Blood of Christ in the Later Middle Ages, in: Church History 71.4 (2002), S. 685 - 714. 189 Vgl. die detaillierte Diskussion bei Alfred Weckwerth: Christus in der Kelter. Ursprung und Wandlung eines Bildmotivs, in: Beiträge zur Kunstgeschichte. Eine Festgabe für Heinz Rudolf Rosemann zum 9. Oktober 1960, hg. v. Ernst Guldan, München u. a. 1960, S. 95 - 108. Eine knappere Diskussion sowie ein Bildbeispiel bietet auch Caroline Walker Bynum: Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2015, S. 83 f. 190 Eine verlässliche Überblicksstudie bietet Miri Rubin: Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 2006. Vgl. auch die Aufsatzsammlung von Ian Christopher Levy, Gary Macy u. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 243 <?page no="244"?> Durch eine derartige allegorische Aufladung des gebeteten Mantels vergegenwärtigt die geistliche Übung zentrale Ereignisse und Sinnzusammenhänge der christlichen Heils- und Erlösungsgeschichte. So wird in der oben besprochenen Mantelsaumpassage dingallegorisch auf die Menschwerdung Christi, das Leid der Passion und die Rolle Marias als Gottesmutter verwiesen. All diese Glaubensgegenstände werden von dem Textilgegenstand bezeichnet, der nach den Instruktionen des Texts innerlich gefertigt werden soll. Die Betenden sind somit aufgefordert, der Sinnebene des Texts, der mit der geistlich-konkreten Textilie enggeführt ist, eigenständig zu folgen und die referierten Heilsereignisse aus ihrer Erinnerung heraus innerlich zur kontemplierten Gegenwart werden zu lassen. 191 Wenn also die zum Gebetsmantel beisteuernden Gläubigen in die Borte aus zwei Psaltern, 15.000 Ave Maria und den dazugehörigen Affekthaltungen ein Muster aus Reben und Trauben hineinwirken, so erschaffen sie zunächst einen Gegenstand, der zumindest in der Immersion in die vom Text stimulierten Bildeindrücke ästhetische Präsenz gewinnt. Dieser Gegenstand jedoch verlangt ihnen auch eine hermeneutische Annäherung ab, stellt er doch zugleich ein Sinnbild dar, das in ein dicht geknüpftes Netz von Zeichen und Referenzen eingebettet ist. Dies regt gewissermaßen einen zweiten Prozess des Eintauchens an, der einer meditativen Versenkung in die allegorisch bedeuteten Heilsereignisse von Inkarnation und Passion gleichkommt. 192 Wird Allegorie daher mit Angus Fletcher als eine Darstellungsweise verstanden, die »manifestly has two or more levels of meaning« und somit zu einem adäquaten Zugang »at least two attitudes of mind« verlangt, 193 so fordert der derart hergestellte und visualisierte Mantelsaum mindestens zwei miteinander verschränkte Formen der inneren Versenkung in die Lese- und Vorstellungsangebote des Alemannischen Marienmantels. Denn erstens zielt der Text auf eine bildliche und materialbezogene Konkretisierung des gebeteten Ornats, der sich aus dem Sprachgewebe von Gebetsworten und Andachtstext figuriert. Zweitens aber ist die derart vor den inneren Augen der Rezipienten Gestalt gewinnende Textilie auch durch die Deutungslinse der christlichen Allegorese zu betrachten und vor dem Wissens- und Erwartungshorizont dieser Tradition sinnhaft zu interpretieren. Dies entspricht einem erkennenden Eintauchen in Bilder und Narrative, die wiederum in letzter Instanz auf das bildlose und unbegreifliche Göttliche hindeuten. Die Gebets- und Andachtsübung präsentiert sprachliche Stimuli für diese ineinander verschachtelten Immersionsvorgänge. Einerseits bietet sie eine quantifizierende Fertigungsanleitung für den zur inneren Betrachtungswirklichkeit werdenden Marienmantel, ande- Kirsten van Ausdall (Hgg.): A Companion to the Eucharist in the Middle Ages, Leiden u. a. 2011 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 26). 191 Dietrich Schmidtke charakterisiert diesen Rezeptionsmodus allegorischer Andachtstexte wie folgt: »Es geht idealiter darum, die kargen Angaben des Textes durch das, was über die christliche Lehre zu verschiedenen Punkten dem Einzelnen bekannt ist, rekapitulierend auszufüllen, also etwa beim Stichwort Demut sich das, was das meint, zu verdeutlichen« (Schmidtke 1982, S. 291). Dieser eher auf ein komplettierendes Zeichenverständnis abhebende Lesemodus geht, so möchte ich vorschlagen, in spätmittelalterlichen Andachtstexten oftmals einher mit einer Dynamik der immersiven Vergegenwärtigung, die sich zwar des Zeichenhaften bedient, jedoch nicht darin aufgeht. 192 Hartmut Bleumers Gedanke, das »Eintauchen in den Raum der Bilder während der Immersion wäre [ … ] das intensive Aufgehen in Bedeutung« (Bleumer 2012, S. 9), scheint auf einen solchen, durch die Vielfalt des Sinnbildlichen stimulierten Prozess der inneren Versenkung besonders zuzutreffen. 193 Angus Fletcher: Allegory. The Theory of a Symbolic Mode, with a foreword by Harold Bloom, Princeton 2012, p. 18. 244 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="245"?> rerseits liefert sie mit den zahlreichen angefügten Schrift- und Bildverweisen auch ein Grundgerüst zu dessen allegorischer Nutzung in der Ausrichtung der einzelnen Gläubigen auf Gott und seine Gnadenwerke, die sich mit der kommunikativen Hinkehr des Betens verbindet. Dabei beruht die Wirkung des in die Borte gewirkten Blumenbilds jedoch nicht auf einer simplen Zusammenführung zweier Sinnebenen, die, wie Paul Michel als Grunddefinition der Allegorie ausführt, die »Subsinnwelt« einer › Bildebene ‹ »durch punktuellen Vergleich Element-für-Element« einer › Sachebene ‹ zuordnet, wobei die »Subsinnwelt [ … ] gerne abstrakte Sachverhalte (oder unaussprechliche)« formuliert und hierzu auf Bilder des Konkreten zurückgreift. 194 Der Alemannische Marienmantel kompliziert dieses Zeichenverhältnis einer »Spannung von sinnlicher Erscheinung und übersinnlicher Bedeutung« 195 in einer mehrschichtigen Form der Bildrede, in der die allegorische Darstellung zum semiotischen Knotenpunkt potenziert ist, an dem unterschiedliche Texte, Bilder, materielle Objekte, Narrative und Ereignisse zusammenkommen und sich bedeutungshaft überschneiden. So wird der florale Mantelsaum von und mithilfe der sprachlichen Instruktionen des Textes hergestellt und bildet folglich ein gebethaft figuriertes, imaginativ in Bildform überführtes Ding, das mit dem Weinstockmuster wiederum ein anderes Ding abbildet. Letzteres wird in einem weiteren Schritt als allegorische Darstellung des Heilsgeschehens der Menschwerdung und Selbstopferung Christi präsentiert, die sowohl auf die Konventionen und Motive christlicher Ikonographie im 15. Jahrhundert als auch auf den Wortlaut der Bibel und ihre marianische Auslegungstradition zurückgreift. Diese kettenartige Zeichenstruktur regt schließlich abermals zu einer horizontalen Immersion in das vom Text Evozierte, also zur meditativen Vergegenwärtigung des im Grunde unbezeichenbaren Heiligen an, dem sich vertikal allein indirekt angenähert werden kann. Damit fungiert der Marienmantel einerseits als Zeichen, andererseits als imaginativdingliches Zeugnis jener christlichen Glaubenswahrheiten, die an ihm evident werden. Was das Mantelgebet den es vollziehenden Lesern somit anträgt, ist gleichermaßen die Produktion eines geistlichen Objekts wie die über es hinausgehende Betrachtung des von ihm Bedeuteten oder Angedeuteten. Handwerkliches Beten verinnerlicht und veräußerlicht zugleich, es verdinglicht das Beten und leitet die es vollziehenden Gläubigen anhand des so entstehenden Dings über die Dinge hinaus. Hierbei ergibt sich ein Effekt, den Jason Crawford als die auf produktive Weise paradoxe Doppelorientierung des Allegorischen beschreibt: 196 Während allegorische Texte 194 Michel 1987, S. 429. 195 Jauss 1960, S. 185. Jauss argumentiert hier unter Rückgriff auf Hegel gegen eine Trennung »von Symbol als Form des Ausdrucks und Allegorie als einer bloßen Weise der Bezeichnung« (ebd., S. 183) im Mittelalter und stellt diese Unterscheidung als Produkt des 18. Jahrhunderts heraus. Die Formen des allegorischen Verweises auf das grundsätzlich nur durch die Bildrede annäherbare Heilige in der Gebetbuchliteratur des 15. Jahrhunderts, wie sie durch den Alemannischen Marienmantel exemplifiziert werden, scheinen diese These aussagekräftig zu unterstreichen. 196 »Allegorical narratives are [ … ] double in their orientation. They strive out toward a fulfillment in which narrative dissolves into interpretation or pure idea. At the same time, they charge the materials of narrative with the presence and power of the eternal order into which narrative is, in the end, supposed to disappear«, Jason Crawford: Allegory and Enchantment. An Early Modern Poetics, Oxford 2017, S. 45. Obwohl Crawford sich auf allegorische Erzählungen bezieht, scheinen seine Überlegungen auch auf nicht-narrative Textformen übertragbar. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 245 <?page no="246"?> oder Bilder auf der einen Seite anbieten, in abstrakte Bedeutung aufgelöst und dabei als bloße Signifikanten behandelt zu werden, überführen sie auf der anderen Seite auch eben jene Bedeutung in eine anschauliche Gestalt, die ein Eigenleben jenseits ihrer Zeichenhaftigkeit erlangt. Sich diese Eigenart allegorischer Darstellung zunutze machend verdichtet der Alemannische Marienmantel Gebetstext, textiles Bild, imaginierte Materialität, vollzogenen Frömmigkeitsakt und polyvalente Zeichenkumulationen in eine konkrete Figuration, die Sinn und Eindrücklichkeit gleichermaßen umschließt und erfüllt. Der gebetete Mantel konkretisiert sich auf diese Weise, vergleichbar den im vorangegangenen Kapitel behandelten Rosenkränzen, zur inneren Wirklichkeit des Betens. 197 Für die Gemeinschaftlichkeit der Gebets- und Andachtsübung hat dies weitreichende Folgen. Die beteiligten Gläubigen bilden erstens eine Imaginationsgemeinschaft, die in einen sprachlich stimulierten Raum der inneren Bild- und Sinneswahrnehmung immergiert, in dem das kostbare Gewand ebenso wie das von ihm bezeichnete Heilsgeschehen Gegenwärtigkeit erlangt. Zweitens stellen sie eine Produktionsgemeinschaft dar, die quantifizierend Frömmigkeitsleistungen kumuliert, die sich zum geistlichen Werkstück zusammensetzen. Drittens zeichnet sich eine Sinngemeinschaft ab, in deren Rahmen der Text seinen Rezipienten auf dem Weg der Allegorie zentrale Glaubensinhalte veranschaulicht und vermittelt. Dabei aber ist das Gebetskleid explizit als Gabe gefertigt, die in der Hoffnung auf eine gnadenhafte, heilswirksame Gegengabe der Heiligen Jungfrau überreicht wird. Dies hebt auch ab auf die zeitgenössisch verbreitete »Vorstellung, dass man mit dem Gebet Gott geradezu zu einer Gegengabe zwingen kann«. 198 Dass mit der geistlichen Mantelgabe dergestalt die Hoffnung auf eine Gegenleistung im Sinne einer auf do-ut-des basierenden Tauschlogik verbunden ist, 199 macht die Betenden viertens zu einer Heilsgemeinschaft, die in der Hoffnung vereint ist, schließlich in Form eines himmlischen Heilslohns die Früchte der im Marienornat angehäuften Frömmigkeitsleistungen genießen zu können. 197 Dies lässt sich mit Christian Kiening als Effekt einer »wechselseitigen Implikation von Präsenz und Sinn, von materialisierender und spiritualisierender Dimension« charakterisieren (Kiening 2016, S. 157). 198 Thali 2009, S. 241 f. 199 Zum schwierigen Status einer auf Ausgleichsdenken basierenden Gabenökomie des Heils in der auf dem Glauben an einen keiner Sache bedürftigen, gnadenhaft schenkenden Gott beruhenden Religiosität des Mittelalters vgl. Angenendt 2009, S. 373 - 378. Obwohl es an zeitgenössischer Kritik nicht mangelte, »erwies sich die Macht des › do-ut-des ‹ [im Mittelalter] wieder als dominant, und tatsächlich hat der Gabentausch gewaltige Dimensionen angenommen« (ebd., S. 378). Der Alemannische Marienmantel darf als Zeugnis dieser gewaltigen Dimensionen gelten, gibt, indem explizit auf die andächtige Affekthaltung und die christliche Lebenspraxis der Gläubigen abgehoben wird, jedoch auch Positionen Raum, aus denen im Sinne eines Interorisierungs- und Inkommensurabilitätsgedankens Kritik an auf Veräußerlichung und Aufrechnung basierenden Frömmigkeitsformen geübt wurde. 246 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="247"?> 2.6 Marias Tempelgang im Gebetsornat: Eine innere Prozession als Reinszenierung Um auf diese Weise die Zuwendung der Gottesmutter zu › erhandeln ‹ , muss das Gebetsgewand veräußert und an Maria weggegeben werden. Diese Weggabe sowie die Annahme und Zurschaustellung des Ornats durch die Heilige Jungfrau stehen im Zentrum des zweiten und letzten Hauptabschnitts des Alemannischen Marienmantels. Hier werden die Gläubigen dazu angeleitet, die Gottesmutter und das von ihr getragene Jesuskind einzukleiden und anschließend eine innere Lichtmessprozession auszurichten, in deren Rahmen Maria in das geistliche Gewand gehüllt zum Tempel schreitet. Im Wesentlichen werden hierbei vier Ebenen von Sinn und innerem Nachvollzug amalgamiert. Erstens spielt der Text die neutestamentlich berichtete Darstellung Jesu im Tempel zu Jerusalem an und verbindet die Mantelgabe mit den zeitgenössisch gängigen Auslegungslinien zu dieser Episode. Zweitens wird das biblische Ereignis in Anlehnung an eine liturgische Prozession zu Mariä Lichtmess, also dem Fest der Darstellung des Herrn, innerlich reinszeniert. Durch ihr Beten, mit dem sie die am Prozessionszug teilnehmenden Heiligen und sonstigen Figuren entlohnen, sollen die Gläubigen zu Teilhabern und Urhebern dieser Nachfiguration werden. Intensivierend angeknüpft wird hierdurch sowohl an den liturgischen Ritus der marianischen Kirchenfeste wie auch an Vorstellungen einer himmlischen Ordnung und Gemeinschaft der Heiligen. Drittens nimmt die imaginierte Prozession aber auch Züge eines herrscherlichen adventus an. So erscheint Maria als Himmelskönigin, die gleich irdischen Würdenträgern von einer Entourage aus Heiligen begleitet wird, die ihr in festgelegten und hierarchisierten Rollen dienen. Letztlich akzentuieren diese ersten drei Dimensionen des innerlich reinszenierten Tempelgangs Marias Rolle als Mittlerin der Gnade. Als Gottesmutter und Miterlöserin, so die Auffassung der marianischen Theologie des Spätmittelalters, ist die Himmelskönigin Maria in der Lage, kraft ihrer Fürbitte für die sündige Menschheit Vergebung zu erwirken. Viertens fungiert der Gebetsmantel, den sie getreu dem Bildtypus der Schutzmantelmadonna bei ihrem Tempelgang trägt, als Zeichen und Instrument dieser Heilsvermittlung. Diesen geistlichen Prachtornat nämlich haben die Gläubigen für sie gefertigt und können somit auch darum bitten, unter dem schutzwirksamen Kleidungsstück Behütung vor göttlicher Strafe zu finden. Die biblische Episode, auf die der Alemannische Marienmantel dabei vornehmlich zurückgreift, findet sich allein im Lukasevangelium (Lc 2,22 - 38). Vierzig Tage nach Christi Geburt, so heißt es dort, machen sich Maria und Joseph mit dem Jesuskind zum Tempel in Jerusalem auf. Dort möchten sie den Geboten des Alten Testaments folgend sowohl ein Reinigungsopfer darbringen (vgl. Lv 12,2 - 8) als auch ihren erstgeborenen Sohn nach der Präsentation im Tempel durch eine Geldspende auslösen (vgl. z. B. Ex 13,12; 13,15; Nm 18,15 - 16). Das Lukasevangelium vermischt hierbei womöglich, so der Gegenstand einer bibelwissenschaftlichen Kontroverse, diese beiden eigentlich distinkten jüdischen Rituale miteinander. 200 Sein Doppelcharakter spiegelt sich auch in den 200 Zur Interpretation dieser Passage des Lukasevangeliums existiert eine ausufernde bibelwissenschaftliche Debatte, die hier im Einzelnen nicht nachvollzogen werden muss, zum Verständnis 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 247 <?page no="248"?> Bezeichnungen des neutestamentlichen Ereignisses wider, das sowohl als › Darstellung des Herrn im Tempel ‹ (praesentatio domini Jesu Christi in templo) als auch als › Reinigung Mariä ‹ (purificatio Mariae) bekannt ist. 201 Angekommen am Tempel trifft die heilige Familie auf die greisen Propheten Simeon und Hanna. Ersterem wurde zuvor offenbart, »dass er den Tod nicht schauen werde, ehe er nicht den Christus des Herrn sehe« (Lc 2,26). 202 Als Simeon nun das Jesuskind auf den Arm nimmt, erkennt er in ihm den Heiland und bricht in ein Dankgebet aus, das sich einreiht in »die Großgattung der Gebete vor dem Tode, die Lukas auch sonst kennt«. 203 Für den Alemannischen Marienmantel bedeutet es ein geschickt gewähltes Moment der Selbstreflexivität, wenn er das Bild des betenden Propheten als Höhepunkt des innerlich ausgerichteten Prozessionsgeschehens aufruft. Denn so präsentiert die Gebets- und Andachtsübung mit Simeon auch ein frömmigkeitspraktisches Rollenmodell für ihre Leserschaft: Diser wúrdigen himelschen kúngin und irem kinde engegenzu ͦ gonde und das heil aller der welte erwúrdiclichen zu ͦ entpfohende, so erwelen wir den lieben herren Symeon, der do zu ͦ von got erwelet was. Und schenckent im einen salter und fúnff tusent Ave Marie zu ͦ lobe der kúngin und irem kinde, und begerent, das ein jeglich luter hertze in mynnender begirde engegen gang der himelschen kúngin und irem kinde und das heile aller der welte geistlichen entpfohen in hitziger mynnender begirde, also in her Symeon entpfing liplichen an sin arme. (AM, Z. 124 - 130) 204 der für den Alemannischen Marienmantel zentralen Bibelstelle jedoch kurz angerissen sei. So nimmt Raymond E. Brown an, dass hier auf »two different Israelite customs specified in the Pentateuch« referiert werde; es sei deshalb »important to see these customs as originally distinct, for Luke seems to have confused them« (Raymond E. Brown: The Birth of the Messiah: A Commentary on the Infancy Passages in Matthew and Luke, Garden City, NY 1977, S. 447). Dem schließt sich in jüngerer Zeit Tyson an und stellt fest, dass »Luke probably misunderstood passages in the Hebrew Scriptures, as well as Jewish practices, since he conflated two different religious duties and failed to mention the practice of redeeming the first-born son« (Joseph B. Tyson: Marcion and Luke-Acts: A Defining Struggle, Columbia, SC 2006, S. 99). Seth Ward, der die Stelle aus der Perspektive der jüdischen Religionsgeschichte untersuchte, stellt fest, dass »technical errors in this text and celebration« vorlägen, durch die das Lukasevangelium die der Passage zugrundeliegenden religiösen Bräuche verzerre (Seth Ward: The Presentation of Jesus: Jewish Perspectives on Luke 2: 22 - 24, in: Shofar 21.2 [2003], S. 21 - 39, hier S. 39). Entschieden gegen diese These wendet sich Matthew Thiessen: Luke 2: 22, Leviticus 12, and Parturient Impurity, in: Novum Testamentum 54.1 (2012), S. 16 - 29. In jedem Fall aber legt das Lukasevangelium nahe, dass Maria für ein Reinigungsritual sowie zur Präsentation ihres erstgeborenen Sohnes den Tempelgang antrat - ein Verständnis, das so auch die Darstellung im Alemannischen Marienmantel fundiert. 201 Vgl. die verschiedenen Bezeichnungen für das zugehörige Fest bei Hermann Grotefend: Handbuch der historischen Chronologie des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Hannover 1872, S. 82. Erst 1969 wurde der bis dahin offizielle Name In Purificatione BMV durch die heutige Bezeichnung › Darstellung des Herrn ‹ ersetzt. 202 non visurum se mortem nisi prius videret Christum Domini. 203 Klaus Berger: Das Canticum Simeonis (Lk 2: 29 - 32), in: Novum Testamentum 27.1 (1985), S. 27 - 39, hier S. 27. Zum begründenden Hintergrund dieses Dankgebets schreibt Berger: »Simeon hat den Messias noch erlebt, ihn als das Heil geschaut, und deshalb kann er nun in Frieden sterben. Dadurch ist er auf besondere Weise privilegiert worden. Denn nach verbreiteter Tradition des Judentums sind die sogar selig zu preisen, deren Leben noch in die Zeit des Messias hineinreicht« (ebd., S. 34). 204 »Um dieser würdigen Himmelskönigin und ihrem Kind entgegenzugehen und das Heil der ganzen Welt in Würden zu empfangen, wählen wir den lieben Herrn Simeon aus, der von Gott dazu auserwählt wurde. Und zum Lob der Königin und ihres Kindes schenken wir ihm einen Psalter und 5.000 Ave Maria, und bitten darum, dass jedes lautere Herz der Himmelskönigin und ihrem Kind mit 248 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="249"?> Genau wie Simeon, der Maria entgegenging und in ein Gebet ausbrechend Christus auf den Arm nahm, soll sich auch ein jeglich luter hertze (AM, Z. 127) verhalten. Dies entspricht einem in der Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters verbreiteten Verfahren, das Christian Schmidt herausarbeitet: »Biblische Figuren [ … ] werden an die Selbstwahrnehmung der Betenden gekoppelt und ihnen zur Nachahmung anempfohlen.« 205 Der Text zeichnet den weisen Propheten hier also als Vorbild oder sogar als Präfiguration der Gläubigen, die am Marienmantel mitgewirkt haben. Auch die Schwertweissagung Simeons klingt im Alemannischen Marienmantel zumindest hintergründig an. Denn ein mit der biblischen Erzählung vertrautes spätmittelalterliches Publikum dürfte erinnert haben, dass der greise Prophet Maria vorhersagte, Jesus sei bestimmt »zum Sturz und zur Auferstehung vieler in Israel und zum Zeichen, dem widersprochen werden wird. Und deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen, damit aus vielen Herzen die Gedanken enthüllt werden« (Lc 2,34 - 35). 206 Wurde dieses Schwert z. B. bei Origenes noch verstanden als das »Schwert des Zweifels, den auch Maria in kritischen Stunden über die Sendung ihres Sohnes empfunden habe«, 207 so interpretierte die Passionsfrömmigkeit des Spätmittelalters es als Prophezeiung von Marias Mitleiden unter dem Kreuz. Cuius animan gementem, / contristantem et dolentem / pertransivit gladius, heißt es z. B. in der berühmten, wohl noch im 13. Jahrhundert entstandenen Mariensequenz Stabat mater über die schmerzerfüllte Maria. 208 Die 1475/ 6 verfasste Bordesholmer Marienklage bezeichnet das als Requisite verwendete Holzschwert, mit dem die Schmerzen der Gottesmutter verdeutlicht werden, ausdrücklich als Symeonis grymmige douendige swert, das durch Marias sele vnde ok [ … ] herte vert. 209 Auch die Ikonographie der Schmerzensmutter, deren Herz von einem oder mehreren Schwertern durchbohrt wird, dürfte von einem Lesepublikum des 15. Jahrhunderts entsprechend mit der im Alemannischen Marienmantel referierten Weissagung des Simeon assoziiert worden sein. 210 Dass der Text gerade diese Szene als Rahmen wählt, um den gebethaft hergestellten Marienornat zu überreichen und vorzuführen, erlaubt es ihm somit, ein Bild der Heiligen liebendem Verlangen entgegengehe und das Heil der ganzen Welt in heißem liebendem Verlangen geistig empfange, so wie Simeon es leiblich in seine Arme empfing.« 205 Schmidt 2015, S. 126. 206 positus est hic in ruinam et resurrectionem multorum in Israhel et in signum cui contradicetur et tuam ipsius animam pertransiet gladius ut revelentur ex multis cordibus cogitationes. 207 Paulus Rusch: Mariologische Wertungen, in: Zeitschrift für katholische Theologie 85.2 (1963), S. 129 - 161, hier S. 152. 208 »deren klagende, trauernde und schmerzende Seele ein Schwert durchbohrt«, zitiert nach Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter, München 1998, S. 63. Zur theologischen Tradition der Auslegung des Leidensschwerts mit zahlreichen entsprechenden Quellen vgl. ebd., S. 93 - 132. Das Schwert Simeons wurde in verschiedenen Traditionen als Schwert des Zweifels, des Martyriums, der Einsicht oder des Mitleidens verstanden, wobei letztere Deutung für die Westkirche des Spätmittelalters ausschlaggebend war. 209 »Simeons grimmiges und grausames Schwert«, das durch Marias »Seele und auch [ … ] Herz fährt«, G. Kühl (Hg.): Die Bordesholmer Marienklage, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 24 (1898), S. 1 - 75, hier V. 453 f. 210 Siehe Seibert 2008, S. 278 f.; sowie M. Schawe: Art. Schmerzensmutter. IV Kunstgeschichte, in: Marienlexikon 6 (1994), S. 31 - 34. Die Anzahl der Schwerter variiert bei diesem Bildmotiv, zumeist jedoch sind es, gemäß den Katalogen der Schmerzen Marias, jedoch fünf oder sieben, mitunter ist aber auch nur ein einziges Schwert ins Bild gesetzt. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 249 <?page no="250"?> Jungfrau in verschiedenen, teils gegensätzlichen Rollen aufzurufen: Maria erscheint einerseits als auserkorene Gottesmutter, die liebend ihren zur Rettung der Menschheit bestimmten Sohn präsentiert und ihn anbeten lässt, andererseits aber auch als mater dolorosa, deren Mitleid mit ihrem gekreuzigten Sohn prophetisch vorweggenommen wird. In letzterer Eigenschaft stellt Maria einerseits in der Passionsfrömmigkeit ein Modell des frommen Mitleidens dar. Andererseits aber erlangte das Bild der Schmerzensmutter durch die mittelalterliche Vorstellung von Maria als Miterlöserin Prominenz. Denn »Gott wollte die Menschheit nicht nur durch den Tod ihres Sohnes retten,« so z. B. die Lehre des einflussreichen pseudo-albertinischen Mariale, »sondern er gab Maria Anteil daran, weil sie in ihrem Herzen die Qualen erlitt, die er an seinem Leib trug.« 211 In der prozessionshaften Vergegenwärtigung der Darstellung des Herrn im Alemannischen Marienmantel verweist die Szene von Maria, die das Jesuskind zum Tempel trägt, somit auch figural auf das Karfreitagsgeschehen. Sie führt den Betenden die Inkarnation Christi durch Maria ebenso vor Augen wie die menschheitserlösende Passion. In ersterem Kontext erscheint Maria in der mittelalterlichen Theologie vor allem als Gottesgebärerin (dei genetrix oder Θεοτόκος ) und somit als Einfallstor göttlicher Präsenz auf Erden, 212 in letzterem als leidende Miterlöserin (corredemptrix). Ähnlich wie in der oben untersuchten Mantelbortenallegorie fokussiert der Alemannische Marienmantel hier folglich aus marianischer Perspektive auf die großen Komplexe der Menschwerdung und des Sterbens Christi. Dabei regt die abschließende Passage des Andachtstextes jedoch kein simples Erinnern der Darstellung des Herrn an, sondern lässt die Gläubigen dieses Ereignis als innere Prozession neuausrichten. Im frömmigkeitshistorischen Hintergrund steht, dass die Darbringung des Herrn am »2. Februar als eines der älteren Marienfeste« und seit dem Frühmittelalter nicht nur in den Klöstern, sondern auch von in der Welt lebenden Laien gefeiert wurde. 213 Die Episode aus dem Lukasevangelium muss dabei »als festbegründend betrachtet werden, wie die Liturgiegeschichte zeigt.« 214 Bereits im 5. Jahrhundert umfasste das auch als Mariä Lichtmess bekannte Fest eine Kerzenprozession, deren Symbolgehalt direkt auf die neutestamentliche Erzählung abhob. Das von Simeon angebetete lumen ad revelationem gentium (Lc 2,32), 215 also Jesus Christus, wurde in einem festlichen Umzug in den Tempel gebracht, für den die jeweilige Kirche einstand, in welche die Kerzen gegen Ende der Prozession getragen wurden. 216 211 J. Finkenzeller: Art. Miterlöserin, in: Marienlexikon 4 (1992), S. 484 - 486, hier S. 484. Auf das Mariale wird eventuell auch bei Dominikus von Preußen verwiesen (vgl. Pallium, Z. 179). 212 Zur Genese dieses Marienbildes und seinen Implikationen vgl. Fulton Brown 2018, S. 138 - 150. 213 Angenendt 2009, S. 391. Eine Übersicht über die im frühen Mittelalter auch von Laien begangenen Kirchenfeste bietet Hans-Werner Goetz: Kirchenfest und weltliches Alltagsleben im früheren Mittelalter, in: Mediävistik 2 (1989), S. 123 - 171, hier insb. S. 125. 214 Th. Maas-Ewerd: Art. Darbringung Jesu im Tempel. III. Liturgie West, in: Marienlexikon 2 (1989), S. 143 - 144, hier S. 144. 215 »Licht zur Offenbarung für die Heidenvölker«. 216 Vgl. Helmut Merkel: Art. Feste und Feiertage. IV. Kirchengeschichtlich, in: TRE 11 (1983), S. 115 - 132, hier S. 121. Die Entstehung des Festes und der Lichterprozession wird quellenreich diskutiert bei Christoph Schäublin: Lupercalien und Lichtmess, in: Hermes 123.1 (1995), S. 117 - 125. Wie Schäublin ausführt, ist bereits bei Beda von einem Lichterumzug die Rede, an dem neben den Klerikern scheinbar auch die örtlichen Gemeinden teilnahmen, vgl. ebd., S. 121 - 123. Noch vor dem 11. Jahrhundert entstand der damit verbundene Brauch einer Segnung der dabei verwendeten Lichter ( › Kerzenweihe ‹ ) 250 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="251"?> Karl Young zeigte weit vor allen performative turns auf, dass solche Lichtmessprozessionen mitunter geradezu schauspielhaften Charakter annahmen, so dass der Tempelgang Marias von den Prozessionsteilnehmern aufgeführt wurde. 217 Bereits im 12. Jahrhundert war es in Augsburg Teil des Lichtmesszeremoniells, dass ein Simeon darstellender Priester zum Höhepunkt der Prozession ein Christus symbolisierendes Buch in die Kirche trug. 218 Im 15. Jahrhundert hatte sich dieser Brauch dahin gewandelt, dass nunmehr kein Buch, sondern eine Jesuspuppe getragen wurde, die im Zentrum einer komplexen Aufführung stand, in deren Rahmen die Prozessanten feierlich in die Kirche eintraten, vbi obuiam se prebet dignior quidam sacerdos, indutus pluuiali, tenens in vlnis suis ante se imaginem pueri super puluinar, circumstantibus eum duobus ceroferarijs, et locans se ad locum aptum, vt tota processio pretereat eum. 219 Der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts niedergeschriebene Liber ordinarius der Essener Stiftskirche dagegen beschreibt, dass ein ymaginem beate Marie auream im Zentrum der Lichtmessprozession stand und nach der Messe vom heutigen Essener Münster durch die Stadt zur Pfarrkirche St. Gertrud getragen wurde. 220 Aufschlussreich ist, dass hierzu ausgeführt wird, das Marienbild solle pepulatam sub superpellicio suo sein. 221 Es dürfte sich hier also um eine Art Kleiderpuppe gehandelt haben, die vor dem Umzug eingewandet wurde - was die Prozessionsteilnehmer sahen, war damit in erster Linie der prunkvolle Figurenornat. 222 Dass das gebetete Kleidungsstück im Alemannischen Marienmantel in Anlehnung an eine Lichtmessprozession vorgeführt wird, wird vor dem Hintergrund solcher Prozessionsbräuche verständlich. Darüber, ob die instruierte Andachtsübung vielleicht zeitspezifisch zum Fest der Darbringung des Herrn vollzogen werden soll, schweigt der Text des Alemannischen Marienmantels. Ein kürzeres, inhaltlich verwandtes Mantelgebet ist jedoch ausdrücklich für dieses Datum gedacht: wiltu die kyngin der eren nuy kleiden uff das fest purificatio, so zu Mariä Lichtmess, wobei den so geweihten Kerzen oft apotropäische Kraft zugeschrieben wurde, vgl. Maas-Ewerd 1989, S. 144; Angenendt 2009, S. 391. 217 Karl Young: Dramatic Ceremonies of the Feast of the Purification, in: Speculum 5.1 (1930), S. 97 - 102. Für das englische Beverly ebenso wie für das italienische Padua konnte Young im Spätmittelalter regelrechte Prozessionsdramen nachweisen, bei denen die Beteiligten die Geschichte der Darstellung des Herrn in verteilten Rollen aufführten. Derartige mimetische Prozessionen waren im 15. Jahrhundert europaweit verbreitet. 218 Vgl. ebd., S. 98 f. 219 »wo ihnen ein würdiger, in ein Pluviale gekleideter Priester entgegentritt, der vor sich in seinen Armen und auf einem Kissen ein Bildnis des Knaben hält, von zwei Kerzenleuchtern umgeben ist und sich an einen passenden Platz stellt, so dass die ganze Prozession an ihm vorbeigehe«, Obsequialis secundum diocesis Augustensis morem, Augsburg: Erhard Radolt 1487, fol. 6v. Zitiert nach Young 1930, S. 99. 220 »goldenes Bildnis der seligen Maria«, Frans Arens (Hg.): Der Liber ordinarius der Essener Stiftskirche. Mit Einleitung, Erläuterungen und einem Plan der Stiftskirche und ihrer Umgebung im 14. Jahrhundert, Paderborn 1908, S. 32. Siehe auch Young 1930, S. 99. 221 »unter seinem Mantel bekleidet«, Arens 1908, S. 32. Bei dem superpelliceum handelt es sich eigentlich um ein liturgisches Gewand, das in etwa als ein langes, über der eigentlichen Kleidung getragenes Cape vorzustellen ist. Das Wort pepulatam, das anhand der Handschrift überprüft wurde und keinen Editionsfehler darstellt, dürfte eine etwas ungewöhnliche Adjektivbildung zu peplus ( › Gewand, weites Oberkleid, Schleier, Kopftuch ‹ ) darstellen. 222 Arens führt anhand weiterer Quellen zur Segnung und Bezahlung der Lichtmesskerzen aus, dass ein großer Teil der Stadtbevölkerung an dieser Prozession teilgenommen haben muss, vgl. ebd., S. 213 - 217. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 251 <?page no="252"?> foh an noch der heiligen dryg künig dag, wen du wylt. Und sprich ir dryg rosen krentz und vii pater noster und vii salve regina, und ordene dis alles für einen mantel, heißt es in einer im 16. Jahrhundert geschriebenen Gebetbuchhandschrift aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Margareta und St. Agnes. 223 Auch die in diesem Kapitel einleitend angesprochene niederländische Legende von den drei Schwestern bringt das Mantelgebet mit Mariä Lichtmess in Verbindung. 224 Eine aus einem unidentifizierten Frauenkloster stammende niederdeutsche Handschrift des 16. Jahrhunderts enthält zudem eine fragmentarische, dem Alemannischen Marienmantel vergleichbare Gebets- und Andachtsübung, die betitelt ist als De mantel marien tegen lechtmisse, de men sal lesen vp middewinters auent to ere der saliger iufferen. 225 Gemeint ist hier, mit der umfangreichen Übung solle zu Mittwinter begonnen werden, so dass der geistliche Mantel pünktlich zum Fest der Darstellung des Herrn vollendet sei. Diese drei Beispiele zeigen, dass die Verknüpfung zwischen diesem Marienfest und der Praxis des Mantelbetens zumindest verbreitet, wenn nicht gar vorausgesetzt war. Ob auch der Alemannische Marienmantel in Vorbereitung auf Mariä Lichtmess gebetet wurde, bleibt freilich nur zu vermuten. In jedem Fall aber orientieren sich die Anweisungen zum imaginierenden Vollzug dieser Übung am für dieses Fest charakteristischen Prozessionswesen. Vor den inneren Augen der Betenden entsteht ein prachtvoller Umzug, an dem die Figuren des Lukasevangeliums ebenso teilnehmen wie eine Auswahl an Heiligen. Ein umfangreiches Figurentableau unterstützt Maria auf unterschiedliche Weise bei ihrem Tempelgang, wobei diese Dienste wiederum durch Frömmigkeitsleistungen belohnt werden müssen. So legen Dominikus und Franziskus, die Gründer der beiden großen Bettelorden, Maria den gebeteten Mantel um, 226 während Johannes der Evangelist und Johannes der Täufer ihr die zugehörige Krone aufsetzen und voranschreiten. Paulus streut Blumen auf den Weg, die Heiligen Klara, Katharina, Margaretha, Cäcilia, Lucia und Dorothea tragen die Opfertauben und bilden Marias Gefolge. Joseph folgt der Gottesmutter als Beschützer (pfleger, AM, Z. 109) ohne festgesetzte Aufgabe und die neun Chöre der Engel musizieren zur Unterstützung des Festzugs. Als Herolde mit dem Auftrag, den frommen Dienst des Mantelbetens wúrdeclichen zu ͦ brisende und uß zu ͦ kúndende (AM, Z. 117 f.), 227 werden Augustinus und Bernhard von Clairvaux in die Pflicht genommen. Simeon schließlich geht wie neutestamentlich berichtet Maria entgegen und empfängt das Jesuskind. Petrus steht dem oppfer (AM, Z. 117), das leicht als Messfeier gelesen werden kann, vor. Zur weiteren Teilnahme an dem Fest wird schließlich die gesamte himmlische 223 »Möchtest du die Königin der Ehren zum Fest Mariä Reinigung neu einkleiden, so beginne damit nach dem Festtag der Heiligen Drei Könige, wenn du möchtest. Und sprich für sie drei Rosenkränze und sieben Pater Noster und sieben Salve Regina und füge das alles zusammen zu einem Mantel«, München, BSB, Cgm 856, fol. 210r. Darauf folgt in der Handschrift ein den geistlichen Mantel Maria widmendes Abschlussgebet sowie eine Anleitung zum Beten einer geistlichen Kerze. Vgl. zur Handschrift auch Haimerl 1952, S. 40 - 44. 224 Vgl. oben, S. 216 f. 225 »Der Mantel Marias für Lichtmess, den man zu Ehren der seligen Jungfrau am Mittwinterabend lesen soll«, Berlin, SBB - PKB, mgq 762, fol. 129v. Zu dieser Handschrift vgl. ausführlicher unten, Kap. IV.4.4. 226 Dies ist ein weiteres Indiz für eine Verankerung des Textes im religiösen Umfeld der Mendikantenorden. 227 »würdig zu lobpreisen und zu verkünden«. 252 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="253"?> Gesellschaft geladen: Die zwölf Apostel, die vier Evangelisten, die vier Kirchenlehrer und alle Heiligen wohnen ihm bei. 228 Diese Rollenverteilung gestaltet sich im groben Aufbau analog zum Grundgerüst liturgischer Prozessionen im deutschsprachigen Raum des 15. Jahrhunderts. 229 Ihre Details illustrieren jedoch, wie sehr dieser Tempelgang zwischen innerlicher Reinszenierung der biblischen Vergangenheit, imaginierter Lichtmessprozession und himmlischem adventus der Königin Maria oszilliert. So werden z. B. die Opfertauben, die Maria laut dem Lukasevangelium zum Tempel bringt (vgl. Lc 2,24), wie erwähnt von einer Gruppe weiblicher Heiliger getragen, die der heiligen Jungfrau nachschreiten: Diser kúngin nochzu ͦ gonde zu ͦ dem tempel, so usserwelent wir die wúrdigen jungfrowen sant Cloren, sant Angnesen, sant Kathrinen, sant Margreden, sant Cecilien, sant Lucien und sant Dorotheen, die sol die túbelin tragen zu ͦ dem tempel. Dise túbelin súllent kosten zwey hundert willenbrechen. Disen jungfrowen allen schencken wir fúnff und drissig tusent Ave Maria, und allen reinen megden zehen tusent Ave Maria zu ͦ lobe dirre kúngin. (AM, Z. 103 - 108) 230 Deutlich wird, dass an dieser Stelle nicht einfach das im Neuen Testament berichtete Geschehen erinnert wird. Die genannten Heiligen bleiben nicht bloß in der Bibel unerwähnt, sie gehören auch nicht ins temporale Umfeld der Geburt und Kindheit Christi. 231 Der gebethaft veranstaltete Tempelgang ist somit nicht als historische Rückblende gestaltet, sondern vielmehr als himmlische Prozession, die ein vergangenes Heilsereignis überzeitlich nachfiguriert und es darin sowohl zur Gegenwart macht als auch seine künftige Gnadenwirkung verheißt. Denn Maria, der Zeit enthoben und unterstützt von einer Auswahl historisch disparater Heiliger, wiederholt im Himmel ihren eigenen Tempelgang, der sich formal an eine liturgische Prozession anlässlich des entsprechenden marianischen Hochfestes auf Erden anlehnt. Die Gläubigen, die für 228 Viele dieser Figuren haben vorher schon spezifische Aufgaben im Prozessionszug übernommen. 229 Charles Zika z. B. gibt eine kurze Schilderung einer typischen städtischen Fronleichnamsprozession, die hier zur Illustration kurz wiedergegeben sei. Man achte auf die grundlegende Ähnlichkeit zum im Alemannischen Marienmantel geschilderten Festzug, in der jedoch statt der baldachinbedeckten Monstranz die den Gebetsmantel tragende Maria im Mittelpunkt steht: »The host, often carried in a monstrance, constituted the spatial and referential centre of the Corpus Christi procession. [ … ] It was generally carried by the highest-ranking ecclesiastic and was bedecked by a canopy or baldachin (the Himmel). It was often preceded by children strewing rose petals and flanked by ecclesiastical officers and leading members of the ruling elite. These representatives of secular authority usually carried the canopy. In larger towns in particular the processions also featured a whole range of other objects commonly used in liturgical ceremonies - tapers, candles, torches, lanterns, processional candlesticks, bells, processional banners and standards and various forms of greenery.« Charles Zika: Hosts, Processions and Pilgrimages: Controlling the Sacred in Fifteenth-Century Germany, in: Past & Present 118 (1988), S. 24 - 64, hier S. 41. 230 »Um dieser Königin auf dem Weg zum Tempel nachzuschreiten, wählen wir die würdigen Jungfrauen Sankt Klara, Sankt Agnes, Sankt Katharina, Sankt Margaretha, Sankt Cäcilia, Sankt Lucia und Sankt Dorothea aus, die sollen die Täubchen zum Tempel tragen. Diese Täubchen sollen 200 Entsagungen kosten. Diesen Jungrauen schenken wir zusammen 35.000 Ave Maria, und allen reinen Jungfrauen 10.000 Ave Maria zum Lob dieser Königin.« Diese Auswahl an Heiligen ist zunächst nicht sonderlich aussagekräftig; es handelt sich hier durchgängig um › Modeheilige ‹ des Spätmittelalters, die allgemeine Verehrung genossen. Allein die Nennung der Heiligen Klara an erster Stelle könnte, wie auch die oben diskutierte Überlieferungslage des Textes, womöglich auf einen franziskanischen Hintergrund weisen. 231 Neben den spätantiken Märtyrerinnen findet sich hier sogar die franziskanische Ordensheilige Klara von Assisi, die erst im 13. Jahrhunderts wirkte. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 253 <?page no="254"?> diese Prozession mit ihren Frömmigkeitsleistungen aufkommen, treten zwar selbst in Erscheinung, werden aber dadurch, dass sie den festlichen Umzug mit ihren Gebeten › bezahlen ‹ , zu Ausrichtern und stillen Teilhabern des Geschehens. Was nun bedeutet dies für den Andachtstext und den gebeteten Mantel, der dergestalt in einer himmlischen Lichtmessprozession aufgeht? Zunächst besitzt der geistliche Prozessionszug eine mimetische Qualität, die die vergangene Darbringung des Herrn nachstellend repräsentiert. In diesem Sinne übernehmen die auftretenden Figuren »die Rollen eines sakralen Spiels, bei welchem ein bedeutsames gesch[ichtliches] oder legendäres Ereignis nachgespielt wird«, wobei sie im Alemannischen Marienmantel freilich zumeist sich selbst spielen. 232 Die Details des auf diese Weise reinszenierten Geschehens werden in der Prozession zudem festlich hervorgestellt, ja geradezu überzeichnet. Beispielsweise werden die Opfertauben nicht bloß mitgebracht, sondern regelrecht vorgeführt. So entfaltet sich ein für Prozessionen charakteristischer Effekt. Wie Katja Gvozdeva und Hans Rudolf Velten ausführen, »oszilliert die Bewegung der Prozession immer zwischen den Koordinaten der Aufführung [ … ] und jenen der Repräsentation.« 233 Im Alemannischen Marienmantel ist dies auch als figurative Bewegung zwischen dem Rückbezug auf eine vergangene Vorbildung und ihrer nachbildenden Erfüllung im durch das Gebet veranstalteten inneren Ereignis der Gegenwart zu fassen. Darin zeitigt der imaginierte Umzug auch einen Effekt der Vergegenwärtigung. Die Wiederaufführung der Darstellung des Herrn im Himmel wird den Gläubigen, die an dieser Inszenierung durch ihre Frömmigkeitsleistungen teilhaben, zur sprachlich vorentworfenen Erfahrungs- und Handlungswirklichkeit, in die sie beobachtend und ausrichtend immergieren. Die Form dieses Tempelgangs dürfte ihnen dabei aus der Lichtmessliturgie vertraut gewesen sein. Somit überblendet der Alemannische Marienmantel biblisches Ereignis und irdisches Prozessionswesen, geleistetes Gebet und himmlisches Geschehen mitsamt ihrer jeweiligen raumzeitlichen Spezifika, so dass Vergangenheit und Gegenwart, Immanenz und Transzendenz sich schlussendlich nicht bloß abbilden, sondern in Entsprechung geraten. 234 232 Bernhard Lang: Art. Prozession. I. Religionswissenschaftlich, in: 4 RGG 6 (2003), Sp. 1753 f., hier 1754. 233 Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten: Einführung, in: Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in der Vormoderne. Médialité de la procession. Performance du mouvement rituel en textes et en images à l ’ époque pré-moderne, hg. v. Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2011 (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 39), S. 11 - 24, hier S. 12. Als Aspekte des Performativen nennen die Autoren »Teilhabe an der Prozession durch Mitwirken oder Zuschauen, performative Erfahrungen des Sakralen und des kollektiven (städtischen) Körpers, der Präsenz von Herrschaft oder des karnevalesken bzw. theatralen Rausches«; zugleich ist die Prozession auch gekennzeichnet durch die Repräsentation »von Heiligen und Heilsgeschichte, von Gottheiten und Mythen, von sozialer und politischer Ordnung und Herrschaft, von Gedächtnis und idealer Gemeinschaft« (ebd.). Beides wird im Alemannischen Marienmantel wirksam. 234 Zu diesem Themenkomplex zeigt Christian Kiening für die räumlichen Stationen prozessional gegliederter Passionsmeditationen, wie hier verschiedene »Zeit- und Raumdimensionen« miteinander verschränkt werden: »dort eine historische, einmalige Urzeitlichkeit, hier eine immer wieder herstellbare Jederzeitlichkeit; dort die ferne, von spezifischen Gegebenheiten bestimmte Räumlichkeit des Heiligen Landes, hier die je anders nahe Situationalität der Meditierenden«, Christian Kiening: Prozessionalität der Passion, in: Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in der Vormoderne. Médialité de la procession. Performance du mouvement rituel en textes et en images à l ’ époque pré-moderne, hg. v. Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2011 (Germanisch- Romanische Monatsschrift. Beiheft 39), S. 177 - 197, hier S. 179. 254 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="255"?> Hierbei hierarchisiert der Prozessionsgang die an ihm teilnehmenden Figuren. Sozialhistorisch dienen Prozessionen im Spätmittelalter auch dazu, Ordnungen und Identitäten performativ auszudrücken und zu kommunizieren: »various social groupings and political authorities who took part in the procession demonstrated their individual identity and corporate unity through the formal structuring of the procession.« 235 Indem die unterschiedlichen Heiligen verschiedene Rollen und Aufgaben zugewiesen bekommen, gliedern sie sich in eine Art himmlische Hierarchie, an deren Spitze Maria steht. Auch die Gläubigen haben Teil hieran, indes auf mittelbare Weise. Indem sie die auftretenden Figuren durch ihre Frömmigkeitsleistungen zur Teilnahme bewegen, fungieren sie als ermöglichende Basis der sich vor ihren inneren Augen ereignenden himmlischen Prozessionsordnung. Dies leitet über zu einer weiteren Zeichenebene, die der Text eröffnet. Ebenso nämlich wie einer liturgischen Prozession ähnelt der Festzug im Alemannischen Marienmantel einem herrscherlichen adventus, also dem im Mittelalter verbreiteten Zeremoniell der Einkehr eines Herrschers oder hohen Würdenträgers z. B. in eine Stadt oder ein Kloster. 236 In Anlehnung an diesen Brauch des festlichen Herrschereinzugs erscheint Maria als Königin, die in das himmlische Jerusalem einzieht. Parallelen zwischen Form und Ablauf des betend ausgerichteten Umzugs und dem recht formalisierten Ritual des Herrscherempfangs liegen recht offen zutage. 237 Maria tritt auf in der explizit benannten Rolle der Himmelskönigin (himelschen kúngin, AM, Z. 118 und häufiger) - schon dies markiert die Szene als adventus reginae. Dass der Alemannische Marienmantel hier also liturgische Prozession und Herrscherinneneinzug miteinander verschmilzt, kreiert keine besondere Dissonanz. Sowohl Festtagsprozessionen als auch Herrschereinzüge des Mittelalters beruhten, so stellen Peter Johanek und Angelika Lampen fest, stets auf einer Verbindung »politischer, rechtlicher und sakraler Elemente«. 238 Auch die Königinnenrolle, die Maria 235 Zika 1988, S. 42. 236 Vgl. zum allgemeinen Überblick Th. Kölzer: Art. Adventus regis, in: LexMA 1 (1980), Sp. 170 f. 237 Eine Zusammenfassung des Ablaufs eines üblichen adventus bietet Regine Schweers: »Der Einzug begann in der Regel einige Meilen außerhalb der Stadt, auf freiem Feld, wo der Einziehende von einer Abordnung der Stadt empfangen und zu den Toren der Stadt geleitet wurde (die Einholung bzw. der occursus). [ … ] Am Stadttor wurde der der Einziehende von der versammelten Gemeinde und vom Klerus der Stadt in einem feierlichen Rahmen mit Gesängen empfangen. Teil der feierlichen Begrüßung war auch eine ganze Reihe von Ritualen, wie die Übergabe der Stadtschlüssel oder die Begnadigung Verbannter [ … ]. Nach der Begrüßung und der › Erledigung ‹ dieser Rituale konnte der eigentliche Einzug in die Stadt beginnen, der sog. ingressus bzw. die processio durch die Stadt. Der Einziehende ritt normalerweise unter einem Baldachin, der von ausgewählten Bürgern (zumeist wohl Mitglieder des Rates) getragen wurde. Der sich formierende Zug durch die Stadt war zielgerichtet: Er steuerte auf die Hauptkirche der Stadt zu«, Regine Schweers: Die Bedeutung des Raums für das Scheitern oder Gelingen des Adventus, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, hg. v. Peter Johanek u. Angelika Lampen, Köln u. a. 2009 (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen 75), S. 37 - 55, hier S. 37 f. Vgl. auch ausführlich Gerrit Jasper Schenk: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich, Köln u. a. 2003 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 21). 238 Peter Johanek u. Angelika Lampen: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt. Zur Einführung, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, hg. v. Peter Johanek u. Angelika Lampen, Köln u. a. 2009 (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen 75), S. VII - XVI, hier S. VII. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 255 <?page no="256"?> im himmlischen Umzug ausfüllt, vermag kaum zu überraschen, denn »[i]f on earth Mary was woman, in heaven she is queen.« 239 Entscheidend aber ist, dass der so herausgestellte Status Marias als Himmelskönigin gemeinsam mit ihrer Position als Gottesgebärerin und Miterlöserin die Grundlage für den Glauben an ihre Macht als Mittlerin göttlicher Gnade (mediatrix) bildete. Die Idee einer Mittlerschaft Marias umfasste im Mittelalter hierbei grundsätzlich »zwei Aspekte: einmal die geschichtliche Beteiligung Marias an der Inkarnation und dem Erlösungshandeln ihres Sohnes [ … ] und zum anderen ihre aktuelle Fürbitte beim erhöhten Herrn, in der sie die aktuellen Gnaden Gottes an jeden Menschen miterbittet«. 240 Als Herrscherin im Himmel kann Maria, gleich dem weltlichen Herrscher, der beim adventus Verurteilte begnadigt, 241 durch ihr Eingreifen bei Gott Vergebung für diejenigen erwirken, die sich an sie wenden, z. B. in Form einer geistlichen Kleidergabe. Indem der Alemannische Marienmantel Maria auf der einen Seite unter Verweis auf das Lukasevangelium und die Prophezeiung des Simeon als Gottesmutter und leidende Miterlöserin darstellt, sie auf der anderen Seite aber auch als zur heilswirksamen Fürbitte befähigte Himmelskönigin zeigt, veranschaulicht er den Betenden das Kernstück der Marienfrömmigkeit des Spätmittelalters: Maria ist befähigt und bereit, die sündigen Gläubigen mit Gott zu versöhnen. Um eine ebensolche Interzession der Heiligen Jungfrau bittet die Andachtsübung abschließend. Das Instrument dieses Einschreitens bei Gott soll eben jener Mantel sein, den die Gläubigen für sie gefertigt haben und den sie nun in der Prozession zur Schau stellt: Nu ͦ begerent wir an die wúrdigen mu ͦ ter Marien und an ir liebes kint, das sú den mantel ir grundelosen mu ᵉ terlichen erbermde uff tu ͦ gegen allen den, die von mynnen hie zu ͦ gestúret hant, und uns und allen menschen, von den sú gebetten wil werden, das sú uns alzit behu ᵉ te vor allem dem, das ir und irem kinde mißvallen mag an uns. Und sunderlichen an unserm tode, das sú uns denn unser sele entpfohe under den mantel ir mu ᵉ terlichen grundlosen erbermde und uns leite von disem ellende in das ewige vatter land, do wir sú und ir kint in fro ᵉ iden schowent ewenclichen. Amen (AM, Z. 158 - 164) 242 Das geistliche Kleidungsstück ist, wie aus dieser abschließenden Gebetsbitte deutlich wird, 243 auf der einen Seite als Herrscherinnenmantel der Himmelskönigin Maria gestaltet. Auf der anderen Seite jedoch ist es, wenn es in seiner Ikonographie und der Vorstellung seiner protektiven Kraft dem Bildmotiv der Schutzmantelmadonna folgt, auch ein geschehensmächtiger Gegenstand, mithilfe dessen die Gottesmutter die Gläubigen, die 239 Fulton Brown 2018, S. 266. 240 G. L. Müller: Art. Mittlerin der Gnade. I. Kath. Theologie, in: Marienlexikon 4 (1992), S. 487 - 491, hier S. 487. 241 Vgl. Schenk 2003. 242 »Nun bitten wir die würdige Mutter Maria und ihr liebes Kind, den Mantel ihrer grundlosen mütterlichen Barmherzigkeit aufzutun für alle die, die aus Liebe dazu beigetragen haben, und uns und alle Menschen, die sich je an sie wenden werden, allzeit vor allem zu behüten, was ihr und ihrem Kind an uns missfallen könnte. Und besonders in unserer Sterbestunde möge sie dann unsere Seelen unter dem Mantel ihrer mütterlichen grundlos tiefen Barmherzigkeit empfangen und uns aus diesem Elend in die ewige Heimat führen, wo wir sie und ihr Kind auf ewig in Freuden schauen werden. Amen.« 243 Die anschließende Bitte um ein Gebet für die Autoren oder Autorinnen sowie die summarische Aufzählung der zu tätigenden Frömmigkeitsleistungen sind als Zusätze zu verstehen, weshalb diese Bitte, wie auch durch das Amen gekennzeichnet, die eigentliche Andachtsübung abschließt. 256 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="257"?> ihr das Kleidungsstück gefertigt haben, vor Unheil beschirmen kann. Schlussendlich drückt die geistliche Übung die Hoffnung und Bitte aus, unter diesem wundersamen Schutzmantel aufgenommen zu werden. Hier erweist sich ein weiteres Mal der Doppelcharakter derartiger geistlicher Handwerksarbeiten. Das gebethaft hergestellte Werkstück ist einerseits Gabe, andererseits Instrument des Schutzes für die Gebenden. Es ist in der Vorstellung, die der Text für sein Publikum entwirft, ebenso intensiv wirksam wie wirklich, zugleich aber fehlt ihm jegliche physische Stofflichkeit. So wird der Marienornat sowohl als geistlich-konkrete Figuration der Frömmigkeit wie auch als komplexe Allegorie aufgebaut, die eine zeichenhafte Sinnverdichtung betreibt. Zum einen stiftet er, nicht zuletzt durch Logiken der arbeitsteiligen Quantifizierung, eine Gemeinschaft der teilnehmenden Gläubigen, die soziale Kategorien wie Stand oder Geschlecht prinzipiell übergreift, zum anderen transzendiert er dies auch wieder in der je eigenen inneren und prinzipiell unzählbaren Hinkehr zum Heiligen. An diese nun in ihren Grundrisslinien aufgezeigten Spannungsverhältnisse anknüpfend geraten folgend mit dem Pallium beate Marie virginis und den damit verbundenen volkssprachigen Schriften einige Texte in den Blick, die als Kommentar bzw. als Lobdichtungen auf den Alemannischen Marienmantel zu fassen sind. An ihnen ergibt sich die Möglichkeit, sich sowohl den zeitgenössischen Theoretisierungen des handwerklichen Betens als auch den derartigen Übungen zugrundeliegenden geistlichen Gemeinschaftsmodellen und Heilshoffnungen weiter anzunähern. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 257 <?page no="258"?> 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen Im Korpus der volkssprachigen Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters sind historisch fassbare Autoren die Ausnahme. Neben dem bayerischen Augustiner-Chorherren Johannes von Indersdorf (1383 - 1470) 244 oder dem Prager Hofkanzler Johann von Neumarkt (ca. 1310 - 1380) 245 gehört auch der umtriebige Trierer Kartäuser Dominikus von Preußen 246 in diese kleine Gruppe namentlich bekannter und in ihrem historisch-sozialen Kontext recht exakt verortbarer Verfasser geistlicher Übungen. Wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, ist Dominikus dabei vor allem als Autor der Rosenkranzklauseln bekannt. Nun verstellt der Fokus auf diese kurze und überaus vielrezipierte Schrift jedoch mitunter den Blick auf sein umfassendes übriges Werk. 247 Neben dem bereits erwähnten Liber experientiae sowie einigen kürzeren theologischen Traktatschriften 248 dominieren Frömmigkeitstexte sein Œ uvre, wobei das Gros dieser Texte in die Kategorie der handwerklichen Gebets- und Andachtsübungen gehört. So verfasste er neben seinen Rosenkranzschriften und den folgend behandelten Manteltexten mit der Corona gemmaria auch eine Dingallegorie enormen Umfangs, die eine mit 77 Edelsteinen verzierte Marienkrone zum Gegenstand hat und auch in einer volkssprachlichen Fassung überliefert ist, sowie die unten noch genauer in den Blick genommene Constructio domus sive aule Marie, eine Anleitung zur betenden Konstruktion eines inneren Marienpalasts. 249 Derartige Übungen zur Fertigung geistlicher Gegenstände für Maria bildeten den Schwerpunkt der Verfassertätigkeit des Kartäusers. Für die Untersuchung der Entwicklung textiler Gebetsübungen stellt dies in zweierlei Hinsicht einen Glücksfall dar. Zum einen lässt die literarische Beschäftigung Dominikus ’ mit dieser Frömmigkeitsform weitergehende Schlüsse über die religiösen und regionalen Milieus zu, in denen das Mantelgebet gegen Mitte des 15. Jahrhunderts populär wurde. 244 An einer Dissertation über die Johannes von Indersdorf zugeschriebenen Gebetstexte arbeitet Tabea Bach (Freiburg/ Schweiz). Vgl. zu diesem Autor ansonsten Brigitte Weiske: Bilder und Gebete vom Leben und Leiden Christi. Zu einem Zyklus im Gebetbuch des Johannes von Indersdorf für Frau Elisabeth Ebran, in: Die Passion Christi in der Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 113 - 168; sowie Bernhard Dietrich Haage: Art. Johannes von Indersdorf, in: 2 VL 4 (1983), Sp. 647 - 651. 245 Vgl. Chlench-Priber 2020; sowie Peter Ochsenbein: Die deutschen Privatgebete Johanns von Neumarkt. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu einer bislang unbekannt gebliebenen Londoner Handschrift, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 12 (1977), S. 145 - 164. 246 Zu diesem Autor siehe die Diskussion oben, Kap. II.3.2. 247 Einen vielfach unvollständigen Werküberblick mit Listen der jeweiligen Überlieferungszeugen bietet Klinkhammer 1972, S. 7 - 21. Vgl. auch die gekürzte und um einige Angaben ergänzten Übersicht bei Karl Joseph Klinkhammer: Art. Dominikus von Preußen, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 190 - 192. 248 Hierunter fallen vor allem die sämtlich unedierten moraltheologischen Schriften De obedentia (ca. 1432) und De verecundia sowie der Messtraktat Tractatulus de fructuose modo celebrandi missas (ca. 1452). Auch einige Briefe und die Rede Contra metum pestilentiae (1450) gehören in dieses Umfeld; vgl. Klinkhammer 1972, S. 12 - 19. 249 Vgl. unten, S. 369 - 380; sowie die Edition im Anhang dieser Studie. <?page no="259"?> Zum zweiten stellt es im Bereich der volkssprachlichen Gebetbuchliteratur die seltene Ausnahme dar, wenn zu einem entsprechenden Text oder der darauf basierenden Frömmigkeitspraxis ein umfänglicher zeitgenössischer Kommentar vorliegt. Dass Dominikus von Preußen mit dem Pallium beate Marie virginis jedoch eine erklärende Traktatschrift zum textilen Beten und offenbar sogar speziell zum Alemannischen Marienmantel schrieb, erlaubt einen genaueren Blick auf die hinter dieser Frömmigkeitsübung stehenden religiösen Vorstellungen und die damit verbundenen Spannungen. Allein dies ist, ganz abgesehen von der literarischen Qualität des bislang unbeachteten lateinischen Traktats, den der Autor auch dazu nutzt, theologische Bildung und rhetorisches Können auszustellen, Grund genug, ihn an dieser Stelle genauer zu behandeln und zu erschließen. Der Text jedoch verlangt, zumal er auf dem modernen Leser oftmals fremde Frömmigkeitsvorstellungen und theologische Gedankengebäude zurückgreift, nach Erläuterung. Folgend sollen deshalb einige argumentative Hauptlinien des Pallium nachgezeichnet werden, die sich auch in seinen sowohl ripuarisch als auch auf Latein überlieferten, in Versen gehaltenen Mantelpreis-Dichtungen sowie einer ripuarischen Zusammenfassung der Hauptargumente des Traktats mit angeschlossener Exempel- und Mirakelsammlung niederschlagen. 250 Erstens zeichnet der Kartäuser das Gewand für die Heilige Jungfrau als Gegenstand, der zwar als dinglich gedacht und behandelt werden muss, in seiner spirituellen Konkretheit dem Stoff der Welt jedoch überlegen ist. Dies ist zweitens mit der Idee einer besonderen Fertigungsdynamik verbunden. Entstanden unter Anleitung der Seele Jesu Christi übertrifft er alle menschliche Kunstfertigkeit und ist als Ergebnis einer gnadenhaft gewährten, göttlich-menschlichen Werkgemeinschaft zu verstehen. Aufschlussreich sind drittens die Erläuterungen des Kartäusers zur Gemeinschaftlichkeit der Mantelandacht, die allen Gläubigen unabhängig von Stand und Status offenstehe. Hier verdient viertens auch der Gedanke einer Präfiguration des Mantelbetens durch den alttestamentlichen Bau des Bundeszelts, mit dem Dominikus die universelle Öffnung ursprünglich monastischer Frömmigkeitsformen selbst für Laien rechtfertigt, nähere Betrachtung. Fünftens verbindet das Pallium mit der Arbeit am gebeteten Mariengewand die Hoffnung auf bestimmte Heilswirkungen. Diese Frömmigkeitsform präsentiert sich, so führt Dominikus aus, als wirkmächtige Methode der Sorge für das eigene Seelenheil, von der ein Schutz der als Gnadenmittlerin auftretenden Gottesmutter vor dem Zorn Gottes ebenso wie vor dämonischer Anfechtung zu erhoffen sei. 3.1 Sublime Arbeiten und die überstoffliche Materialität der Gebete In keiner anderen Schrift geht Dominikus von Preußenso so detailliert auf die theologischen Vorstellungen, religiösen Lebensmodelle, Bilder und Narrative ein, die dem handwerklichen Beten zugrunde liegen, wie im wohl um 1445 entstandenen Pallium beate 250 Editionen sämtlicher dieser Texte finden sich im Anhang dieser Arbeit. Die beiden gereimten Dichtungen werden folgend als › Mantelpreis D ‹ für den ripuarischen und › Mantelpreis L ‹ für den lateinischen Text im Fließtext zitiert. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 259 <?page no="260"?> Marie virginis. Anlass für die Abfassung dieses Traktats gab dem Autor eine nicht genau betitelte, zu Beginn der Schrift erwähnte Gebets- und Andachtsübung, die aus der Straßburger Umgebung in Schriftform an die Trierer Kartause gesandt worden war. Hierbei dürfte es sich allen Indizien nach um den oben ausführlich untersuchten Alemannischen Marienmantel oder eine Variante dieses Texts gehandelt haben. 251 Dass Dominikus sein in zwei erhaltenen Handschriften überliefertes Pallium als Reaktion auf die ihm vorliegende geistliche Übung konzipierte, wird gleich zu Beginn deutlich gemacht: In Straßburg und den umliegenden Gebieten, so beginnt er, gäbe es geistliche Personen, deren Andacht soweit ginge, dass sie von heiliger Liebe übermannt ohnmächtig niedersänken. Aus ebendieser Gegend sei ihm nun ein exercicium novum bonum atque devotum zugesandt worden, das man dort seit zwei Jahren praktiziere und das er nun auch in Trier und andernorts verbreiten wolle. Die Straßburger hätten nämlich begonnen, der Gottesmutter ein pallium misticum quoddam preciosissimum anzufertigen. Nun läge es an allen Gläubigen, dieses Werk zu erweitern und zu verbessern. 252 Ziel des Texts ist damit nicht die Konzeption einer eigenen, neuen Gebets- und Andachtsübung. Für sich genommen bietet das Pallium auch keine vollführbaren Anweisungen zur Fertigung eines geistlichen Kleidungsstücks. Vielmehr wird hier »für geistliche Übungen geworben, durch die Maria ein kostbarer Mantel angefertigt wird, der allen Schutz bietet.« 253 Das Pallium ist somit als propagierender Kommentar zum Alemannischen Marienmantel oder zumindest einem sehr eng verwandten Text zu verstehen. Dominikus hält seine Leserschaft dazu an, die von diesem Text angeleitete und vom ihm selbst erläuterte Frömmigkeitspraxis zu übernehmen und sich durch Gebet, Andacht und Askese an der Herstellung des geistlichen Marienkleids zu beteiligen. Dass es sich mit dieser religiösen Textilarbeit insbesondere in Bezug auf ihren Dingstatus durchaus seltsam verhält, streicht der Autor hierbei explizit hervor und verspricht Erklärung. Was folgt, ist eine ausführliche Theoretisierung und Theologisierung des handwerklichen Betens und der in diesem Rahmen hervorgebrachten geistlichen Gegenstände. Der Mantel der Heiligen Jungfrau könne nämlich nicht aus dem Stoff dieser Welt oder irgendeinem anderen vergänglichen Material entstehen: 251 Vgl. die Diskussion oben auf S. 225 f. Zahlreiche Details, in denen Dominikus ’ Beschreibung genau dem Alemannischen Marienmantel entspricht, lassen wenig Zweifel daran, dass ihm dieser Text vorgelegen haben dürfte. Hierzu zählen insbesondere die Werkmeisterschaft der Seele Jesu Christi sowie die exakte Übereinstimmung der verlangten Frömmigkeitsleistungen. 252 Im Zusammenhang heißt es: Ibidem et exercicium novum bonum atque devotum nuper, videlicet ante biennium, inchoatum est nobisque huc Treverim et aliis in partes alias est transmissum, ut quemadmodum ipsi illic ita et nos hic pallium similiter faciamus. Inceperunt enim pallium misticum quoddam preciosissimum conficere regine celi, perpetue virgini sancte Marie, quod tale et tantum tam latum et amplum fore debet, quod omnia genera hominum sub hoc ad se confugencium suscipere, protegere ac conforvere valeat. (»Ebendort wurde vor kurzer Zeit, d. h. vor zwei Jahren, auch eine neue, gute und andächtige Übung begonnen, und sie wurde zu uns hierher nach Trier und zu anderen in anderen Gegenden geschickt, damit deshalb auch wir hier auf ähnliche Weise wie dort diesen Mantel anfertigen. Sie fingen nämlich damit an, für die Königin des Himmels und ewige Jungfrau, die heilige Maria, eine Art mystischen und überaus kostbaren Mantel anzufertigen der so beschaffen und so groß, so breit und weit sein muss, dass er alle Menschengeschlechter, die zu ihm flüchten, aufzunehmen, unter ihm zu beschützen und zu hegen vermag«, Pallium, Z. 6 - 11). 253 Bruno Jahn: Art. Dominikus von Preußen, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Bd. 2: Das geistliche Schrifttum des Spätmittelalters, Berlin/ Boston 2011, Sp. 816 - 821, hier Sp. 818 f. 260 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="261"?> Fit autem hoc idem pallium non de mundi huius seu alia qualicumque corruptibili materia, auri videlicet vel argenti, purpure bissini vel iacincti. Sed offerunt ad hoc homines pii atque devoti preces varias, missas et virtuosas operaciones, spiritualia, ut docet apostolus, spiritualibus comparantes. (Pallium, Z. 12 - 15) 254 Eine materialitätsbezogene Frömmigkeit, wie z. B. Caroline Walker Bynum sie beschreibt, 255 wird hier dementsprechend ausgeschlossen, denn Marias Mantel verlangt grundsätzlich nach einem besseren Werkstoff als den Kostbarkeiten der Welt. Gold und Silber, Purpur und feine Stoffe sind allesamt unzulänglich. Außerdem, so Dominikus von Preußen, könne kein sterblicher Handwerker gefunden werden, der diesen inkommensurablen Gegenstand anfertigen könne. Genussvoll listet der Text unter Bezugnahme auf den alttestamentlichen Bau der Stiftshütte - diese wird später im Pallium als Präfiguration des Marienmantels hervorgezeichnet - all die komplizierten Kunsthandwerke auf, deren Fähigkeiten zum Produzieren des Marienmantels dennoch nicht genügten: Gold- und Silberschmiede, Juweliere, Schneider und Textilkünstler seien allesamt unfähig zu dem intendierten Werk. 256 Wie jedoch kann, obgleich dieses Vorhaben das Maß der menschlichen Fähigkeit und die Möglichkeiten irdischer Materialität sprengt, ein alle Dinge übertreffendes Ding mit unvergleichlicher Kunstfertigkeit aus einem allen anderen Stoffen überlegenen Material gefertigt werden? An der zwingenden Unzulänglichkeit aller menschlichen Mühe verzweifelnd, so erzählt Dominik, wandten sich die Erfinder des Mantelbetens an die Seele Jesu Christi und wählten sie zur Werkmeisterin (operatrix, Pallium, Z. 25 f.) ihres Unterfangens. Dieser Gedanke menschlich-göttlicher Zusammenarbeit, der wohl aus dem Alemannischen Marienmantel übernommen wurde, überschreitet die Grenzen zwischen Immanenz und Transzendenz. Nur so vermag das unvergleichliche Werkstück zu gelingen. Denn erst unter der göttlichen Anleitung der in Gleichheit mit der göttlichen Weisheit stehenden Seele Jesu Christi scheint die Fertigung des Marienmantels endlich möglich: Ipsa quippe, unita dei verbo, per quod facta sunt omnia, et una persona cum illo effecta, archana omnia novit scilicet divina et scit sola pre omnibus creatis unde et qualiter istud gloriosum 254 »Dieser Mantel entsteht jedoch nicht aus einem Stoff aus dieser Welt oder aus irgendeinem anderen vergänglichen Material wie Gold oder Silber, purpurner oder blaufarbener Leinwand. Stattdessen tragen fromme und andächtige Menschen verschiedene Gebete, Messen und tugendhafte Werke zu ihm bei, indem sie, wie der Apostel lehrt (I Cor 2,13), Geistiges mit Geistigem erwerben.« 255 Vgl. Bynum 2015, insb. einleitend S. 25 - 31. 256 Sed quia nemo mortalium artificum ad opus tam magnificum ydoneus reperiri posset in terris, eciam si Beseleel et socius eius Ooliab hic adhuc essent in mundo et omnis vir eruditus, cui deus dederat sapienciam et intelligenciam ad operandum in auro et argento, in purpura, bisso, opere gemmario ac polinitario, ad faciendum omne opus ad cultum tabernaculi illius, quod tempore Moisi fabricatum fuit, non sufficerent ad faciendum pallium dignum sanctissime dei genitrici regine celorum et imperatrici sanctorum angelorum. (»Weil aber kein sterblicher Handwerker auf Erden gefunden werden könnte, der zu so einem großartigen Werk fähig wäre, würden sie, selbst wenn Bezalel und sein Gefährte Oholiab [Ex 31,2 - 6, 35,30 - 34] noch hier auf der Welt wären sowie jeder gelehrte Mann, dem Gott die Weisheit und den Verstand gab, mit Gold und Silber zu arbeiten, mit Purpurstoff, feiner Leinwand, Steinschneidearbeit und Damastweberei, um ein jedes Werk zum Schmuck jenes Bundeszelts zu verfertigen, das zur Zeit des Mose errichtet wurde [Ex 31,1 - 11; 35,35], nicht ausreichen, um einen würdigen Mantel für die allerheiligste Gottesgebärerin, die Himmelskönigin und Herrin der heiligen Engel zu machen.« Pallium, Z. 15 - 21). 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 261 <?page no="262"?> domine nostre pallium fieri possit ac debeat perfici, ut acceptum sit illi et placitum in conspectu summi dei, ad cuius laudem et gloriam omnia fieri debent quecumque bona sive in celo sive in terra. (Pallium, Z. 27 - 32) 257 Diese Auslagerung des eigentlichen, gleichsam künstlerischen Schaffensprozesses an die allein zu derlei Dingen befähigte Seele Christi basiert auf einer als Sublimierung präsentierten Vergeistlichung des Mariengewands. Dies determiniert auch die Qualität des Beitrags, der von menschlicher Seite hierzu zu leisten ist. Statt nämliche kostbare weltliche Werkstoffe beizutragen, müssen die Gläubigen Gebete, Messen und fromme Werke erbringen - so können sie, wie im ersten Korintherbrief des Paulus zu lesen ist (vgl. I Cor 2,13), Geistliches mit Geistlichem erwerben (Pallium, Z. 14 f.). Nun stellen diese Frömmigkeitsleistungen in der Vorstellungswelt des Mantelgebets ein gewissermaßen überstoffliches Rohmaterial dar, das allen irdischen Werkstoffen überlegen ist. Mit der Hilfe Jesu Christi schließlich fügen sie sich zum alle Dinge der Welt übertreffenden Schutzmantel Marias zusammen, unter dem die gesamte Menschheit Platz und Beistand findet. 258 Der bei Dominikus von Preußen so ausgeführte Grundgedanke wirkt, wird von einer kategorialen Trennung zwischen mentalen und stofflichen Gegenständen, also von einer Art cartesianischem Substanzdualismus ausgegangen, ungewohnt und merkwürdig. 259 Er lässt sich wie folgt herunterkondensieren: Während stoffliche Dinge aus dem vergänglichen Material der Welt bestehen, werden die geistlich-konkreten Figurationen des Betens aus dem unvergänglichen und damit höherwertigen Material des Geistes gefertigt, das heißt aus Worten, Tugenden und frommen Gedanken. Sie sind damit als über den Dingen stehende Dinge zu betrachten, die gleichzeitig als dinglich gedacht und empfunden werden können, eine Gnadenwirkung in der Welt entfalten und ihre Dinglichkeit in ihrer Zugehörigkeit zum Überstofflichen überschreiten. Ihnen fällt damit, anderen Hilfsmedien des Heils wie Gebetstexten oder Andachtsbildern vergleichbar, 260 eine Mittlerfunktion zwischen Immanenz und Transzendenz zu, zumal jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass geistliche Gegenstände beiden Sphären angehören und somit gleichsam eine Brücke zwischen der Welt und dem Überweltlichen bilden, die an beiden 257 »Denn diese selbst, eins mit dem Wort Gottes, durch das alle Dinge geschaffen wurden, und als eine Person mit ihm zusammen hervorgebracht, kennt nämlich alle heiligen Geheimnisse, und sie weiß als einzige vor allen Geschöpfen, woraus und wie der herrliche Mantel unserer Herrin entstehen kann und hergestellt werden muss, auf dass er jener willkommen sei und gefällig im Angesicht des höchsten Gottes, zu dessen Lob und Ruhm im Himmel wie auf Erden alle wie auch immer guten Dinge getan werden sollen.« 258 Hier spielt das mehrfach erwähnte Motiv der Schutzmantelmadonna hinein. 259 Auch die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters trennte grundsätzlich zwischen Materiellem und Geistigem und wertete dabei das letztere zumeist höher als das erstere. Diese normativ geladene Trennung bildet gleichsam ein Axiom des Produktionsbetens als Frömmigkeitspraxis und begründet die Aufwertung der hergestellten geistlichen Werkstücke. Gleichzeitig ist das Leib-Seele-Problem als solches und die damit verbundene Vorstellung einer prinzipiellen Geschiedenheit von Gedanken und Dingen entschieden unmittelalterlich, vgl. dazu einführend Peter King: Why Isn ’ t the Mind-Body Problem Medieval? , in: Forming The Mind. Essays on the Internal Senses and the Mind/ Body Problem from Avicenna to the Medical Enlightenment, hg. v. Henrik Lagerlund, Dordrecht 2007 (Studies in the History of Philosophy of Mind 5), S. 187 - 205. Auch Carruthers 1990, S. 49 u. a., führt aus, wie mittelalterliche Denker auch erinnerte Gegenstände und Phantasmata als physiologisch fundiert betrachteten. 260 Vgl. Hamm 2009. 262 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="263"?> Ufern fest verankert ist: Der Mantel Marias ist ein Werk göttlicher Kunstfertigkeit ebenso wie menschlicher Mühe. Als fromme Gabe ziert er die Heilige Jungfrau im Himmel, die im Gegenzug den Gebenden ihre Gnade zuteilwerden lässt. 3.2 Fertigungsdynamiken: Göttliche Werkmeisterschaft und menschliches Unvermögen Diese Vorstellung wirft theologische Fragen auf, die teils die Gefahr bergen, in die Zone des Heterodoxen einzuschneiden. Denn warum, so drängt es sich auf, sollte der allmächtige Gott zu dem geschilderten geistlichen Werk menschliche Beihilfe benötigen? Stünde eine solche Notwendigkeit menschlichen Zutragens nicht im Widerspruch zum Gedanken von »Gottes schöpfer[ischer] Freiheit u[nd] wirksame[r] Unmittelbarkeit in jedem Moment auch seines geordneten Handelns«? 261 Dominikus von Preußen entkräftet derartige Einwände gegen die von ihm propagierte Frömmigkeitspraxis von vornherein durch eine geschickte Rückspiegelung der Mantelgabe auf die dazu Beitragenden. Zwar, so führt er aus, mangele es der Seele Christi an nichts und sie habe die geringen Gaben (munuscula, Pallium, Z. 33) der Gläubigen nicht nötig, dennoch aber verlange sie diese von ihnen, und zwar um ihrer selbst willen. 262 Bereits diese göttliche Forderung nach für die Fertigung des geistlichen Werkstücks eigentlich unnötigen Frömmigkeitsleistungen müsse nämlich als Gnadenerweis verstanden werden, werden doch auf diese Weise die sich beteiligenden Menschen motiviert, sich fromm zu verhalten und ein gottgefälliges Leben in Gebet, Meditation und Askese zu führen. Dass die Gläubigen sich mühen müssen, die Mantelgabe für Maria zu fertigen, stellt in diesem Sinne wiederum eine Gabe an sie selbst dar: Ihnen wird, so der Kernpunkt der Argumentation Dominikus ’ von Preußen, somit eine Chance geschenkt, am Erwerb des eigenen Seelenheils mitzuwirken. Dabei ist es keineswegs die Qualität der erbrachten Frömmigkeitsleistungen, der diese Heilswirksamkeit zu verdanken wäre. Hierbei nämlich, so führt der Text aus, handele es sich im Grunde um Armseligkeiten (parva, Pallium, Z. 43), die zu der auf sie erwiderten göttlichen Zuwendung in keinerlei Äquivalenzverhältnis stünden. Vielmehr ist es die Mühe der Gläubigen, inmitten der Beschwernisse des irdischen Lebens fest in der Liebe zu Gott zu verweilen und von dieser Stetigkeit im Glauben einen kleinen Erweis zu erbringen, die belohnt und sogar höher als die Dienste der himmlischen Scharen geschätzt werde: 261 Thomas Pröpper: Art. Allmacht Gottes, in: LThK 1 (1993), Sp. 412 - 417, hier Sp. 415. Zur auf Wilhelm von Ockham zurückgehenden Vorstellung einer potentia absoluta Gottes, die »im späten Mittelalter stark nachgewirkt hat« und im Reformationszeitalter in ihren Implikationen für das Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Omnipotenz zentraler Streitpunkt wurde, vgl. auch Angenendt 2009, S. 104 - 108, hier S. 107. 262 Quantumvis enim Iesu Cristi anima thesauros habeat incomparabilis et nullius egeat, quia data est ei omnis potestas in celo et in terra, fructum tamen nostre industrie et fidelis laboris requirit propter nos. (»Obgleich nämlich die Seele Jesu Christi so unvergleichliche Schätze hat und keiner Sache entbehrt, weil ihr alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, verlangt sie um unseretwillen dennoch nach der Frucht unserer Mühe und frommer Anstrengung«, Pallium, Z. 39 - 41). 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 263 <?page no="264"?> Quia in celis deo serviunt sine labore et cum gaudio magno cuncta faciunt. Sed homo hic in mundo corpore gravatus, terrena inhabitacione depressus, necessitatibus, infirmitatibus, temptacionibus et variis miseriis implicatus, si is sibi violenciam facit laudando deum et fideliter sibi serviendo et amore adherendo, hoc deus sacrificium amplius acceptat quam id, quod in celis absque labore sibi exhibetur. (Pallium, Z. 44 - 49) 263 Diese Ausführungen sind in doppelter Hinsicht aufsehenerregend. Zunächst ist bemerkenswert, dass Dominikus hier, nachdem er in einem ersten Schritt die Akte der Frömmigkeit, die beim handwerklichen Beten erbracht werden, als zwar entbehrlich für das entstehende göttliche Werk, wohl aber als zwingend notwendig für die erhoffte Heilswirksamkeit der Andachtsübung herausgestellt hat, zweitens neben der Unnotwendigkeit auch die Unverhältnismäßigkeit dieser menschlichen Bemühungen anmerkt. Damit verneint er entschieden die in der Gebetbuchliteratur omnipräsente Vorstellung des do-ut-des, der auf dem Prinzip des Ausgleichs fußenden Entsprechung zwischen erbrachter Leistung und erhaltenem Lohn. Nun ist ein solches Ausgleichsdenken mit dem neutestamentlich fundierten Bild eines Gottes, der »die Menschen überreich beschenkt und dafür keinerlei Rückgabe an seine Person fordert«, nur schwer vereinbar. 264 Als gebildeter Theologe, der sich dieser Schwierigkeit bewusst gewesen sein dürfte, umgeht Dominikus von Preußen die problembeladene Vorstellung einer heilsmächtigen Gabenökonomie, indem er die von menschlicher Seite dargebotenen Leistungen als mit der erwiderten göttlichen Zuwendung unvergleichbar, als bloßen Erweis des guten Willens präsentiert. Eben diese Intention, nicht die Frömmigkeitsleistungen selbst, so Dominikus ’ Argument, werde gnadenmächtig erwidert. Außerdem ist schwer zu übersehen, wie sich in den hier vorgebrachten Ausführungen bereits religiöse Konfliktlinien abzeichnen, die zwei Generationen später im Reformationszeitalter eskalieren sollten. Dominikus ’ Betonung, Gott vergelte nicht die Leistung der Gläubigen selbst, sondern vielmehr ihr schmerzhaftes Bemühen laudando deum et fideliter sibi serviendo et amore adherendo (Pallium, Z. 47 f.), ist nicht so weit entfernt von Luthers Kritik der Werkgerechtigkeit und der streitbaren Position, der ethische Wert menschlichen Handelns erweise sich daran, ob es aus lust und liebe zu allen gepoten Gottes erfolge. 265 Mit dem Pallium liegt dementsprechend auch ein Text vor, der Einblicke in vorreformatorische Spannungen erlaubt, die der Autor in teils kapriolenhaften argumentativen Winkelzügen zu entschärfen versucht. Changierend zwischen der einer gezählten Frömmigkeit zugrundeliegenden Vorstellung, »Gnade verdienen zu können und zu 263 »Denn im Himmel dienen sie Gott ohne Anstrengung und tun alles mit großer Freude. Doch der Mensch hier auf Erden, der vom Körper beschwert, vom Bewohnen der Erde niedergedrückt, in Notlagen, Schwächen, Versuchungen und allerlei Übel verwickelt ist, wenn der sich Gewalt antut, um Gott zu loben und ihm treu zu dienen und mit Liebe an ihm zu hängen, so nimmt Gott dieses Opfer lieber an als jenes, das ihm im Himmel mühelos dargebracht wird.« 264 Angenendt u. a. 1995, S. 5. 265 Martin Luther: Deutsch Catechismus (Der Große Katechismus) 1529, hg. v. O. Albrecht unter Mitwirkung v. O. Brenner und J. Luther, in: WA 30,1 (1910), S. 192. Zu Luthers Kritik der Werkgerechtigkeit vgl. zudem Elisabet Gräb-Schmidt: Art. Werkgerechtigkeit, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. Volker Leppin u. Gury Schneider-Ludorff unter Mitarbeit v. Ingo Klitzsch, Regensburg 2014, S. 756 - 758. 264 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="265"?> müssen«, 266 und dem ihr entgegengesetzten Bild eines Gnadenlohns, auf den »keinerlei Anspruch [besteht], da er dem souveränen Willen und der schenkenden Güte Gottes entspringt«, 267 zwischen den Ideen göttlicher Allmacht und menschlicher Leistung, verteidigt und propagiert das Pallium die Andachtsübung des Mantelgebets, indem es ihr einen theologischen Überbau verschafft, der die Behauptung einer figuralen Konkretisierung der Frömmigkeitsleistungen teils auch abstrahiert und relativiert. Dennoch bleibt die Idee eines geistliche Marienornats, in dessen Pracht sich die Worte und Handlungen der Gläubigen als dingliche Details manifestieren, bei Dominikus von Preußen stets bestimmend. Daran ändert auch die Beteuerung nichts, diese Handwerksarbeit des Glaubens entstehe aus Frömmigkeitsgaben de substancia non proprie nostra sed dei (Pallium, Z. 146 f.). 268 Die Vorstellung der gemeinsamen Herstellung eines imaginierten Prachtmantels, den Maria im Himmel trägt und an dem die frommen Gaben der Gläubigen als Zierde erscheinen, wird zwar erklärt und gerechtfertigt, in seiner wahrnehmungsleitenden Evokationskraft jedoch keineswegs unwirksam gemacht. Besonders deutlich wird dies in den beiden Lobdichtungen auf Latein und in ripuarischem Dialekt, die Dominikus von Preußen begleitend zum Pallium verfasste. Die in gereimten Versen gehaltenen Mantelpreis-Texte sind, obzwar keine wörtlichen Entsprechungen, inhaltlich weitgehend deckungsgleich. 269 Sie bilden poetische Zusammenfassungen des Pallium, die zum textilen Beten auffordern und seine heilsvermittelnde Wirkung preisen. 270 Die wundersame Herstellung des Mantels steht dabei im Zentrum der beiden hymnenhaften Gedichte. Gleich zu Anfang des ripuarischen Textes werden Gebet und Frömmigkeitspraxis als allen anderen Materialien überlegene und unvergleichliche, dennoch aber an die Bilder des Materiellen gebundene Werkstoffe konzipiert. So benennt der Text Messen und verschiedene Gebetsleistungen als Rohmaterial für das geistliche Gewand: Van missen, van gebeden, van psalmodyen, van vyl dusent Ave Marien wyrt der mantel ind dat foeder dyr gemacht, o wirdige moder. (Mantelpreis D, Z. 8 - 11) 271 266 Angenendt 2009, S. 579. 267 Martin Winter: Art. Lohn. I. Neues Testament, in: TRE 21 (1991), S. 447 - 449, hier S. 447. 268 »aus einem Material, das nicht uns zu eigen sondern Gottes ist«. 269 Dass der ripuarische Text wesentlich länger erscheint, liegt daran, dass Dominikus ihm nahtlos eine deutsche Übersetzung seines marianischen Te Deum beifügt, das auch dem lateinischen Gedicht, wenn auch nicht in formal integrierter Form, als für das Mantelgebet empfohlener Gesangstext angehängt ist. Das lateinische Te Deum und seine deutsche Fassung sind abgedruckt bei Andreas Heinz: Das marianische Te Deum des Trierer Kartäusers Dominikus von Preußen ( † 1461). Ein spätmittelalterlicher Lobgesang auf Maria als Vorlage für ein Marienlied Friedrich Spees, in: Spee-Jahrbuch 15 (2008), S. 93 - 114, hier 98 f. und 108 f. 270 Diese beiden Texte sind bei Klinkhammer 1972 und Lentes 1993 etwas missverständlich beschrieben. Es handelt sich hierbei nicht um direkte Entsprechungen oder um Übertragungen des Pallium beate Marie virginis in die Volkssprache, sondern vielmehr um an diesen Traktat angelehnte Versdichtungen. Der ripuarischen Fassung ist zudem eine kurze Sammlung an Mirakeln beigefügt, die jeweils Kernthesen aus dem Traktat illustrieren sollen. 271 »Aus Messen, aus Gebeten, aus Psalmodien / aus vielen tausend Ave Maria / werden der Mantel und das Futter / für dich gemacht, oh würdige Mutter.« 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 265 <?page no="266"?> Nach einem ausgiebigen Lob des mit der Hoffnung auf einen Gnadenerweis verbundenen Mantelbetens werden die gefertigten Teile zunächst als materielle Dinge visualisiert: Nu willen wir alle zo samen schyssen / ind den tuwern mantel besleissen / myt vurspannen ind myt gulden borden - nur um danach für alle, die es noch nicht verstanden haben, auf die eigentliche Immaterialität dieser Gegenstände hinzuweisen: Ich meyne myt guden goetlichen worden. / Myt allem gueden willen wir yn tzieren, / dat wir koennen ymaginieren (Mantelpreis D, Z. 98 - 103). 272 Gerade diese Engführung von Worten und Dingen, Vorstellungen und Materialien, Text und Textilien ist es, die auch für den Trierer Kartäuser den Nukleus der Frömmigkeitsform bildet, als deren entschiedener Anhänger und Multiplikator er auftritt. 3.3 Egalisierte Frömmigkeit? Die Gebetsgemeinschaft des Pallium Wer jedoch ist das › wir ‹ , das in Dominikus ’ ripuarischem Mantelpreis spricht? Wie oben in Bezug auf den Alemannischen Marienmantels ausgeführt, teilt das Pallium die zum Mantel beigetragenen Frömmigkeitsleistungen ihrem geistlichen Stand nach unterschiedenen Personengruppen zu. Priester lesen Messen, Laien beten unzählige Ave Maria und literati, also vermutlich Mönche und Nonnen, bringen Psalter, Hohelieder und andere aus der Bibel entnommene Gebetstexte dar. Verschiedene erwähnte Askeseleistungen weisen ebenfalls in den monastischen Bereich. 273 Somit entsteht ein charakteristischer, in vielerlei Punkten den zeitgenössischen Gebetsbruderschaften vergleichbarer geistlicher Zusammenschluss der an dieser Übung Beteiligten. Dominikus von Preußen spezifiziert dieses Bild einer frommen Gemeinschaft jedoch noch und gibt eine historisierende Erklärung. An den eigentlichen, mit einem poetisch anspruchsvollen Bittgebet (Pallium, Z. 106 - 120) abschließenden Text des Pallium sind drei Zusätze angehängt. Aus der Überlieferung und Anlage der Schrift geht nicht hervor, ob es sich hierbei tatsächlich, wie von Klinkhammer angenommen, um spätere »Anmerkungen« handelt, »welche Reaktionen auf die Schrift wiedergeben«, 274 oder nicht vielmehr um zum ursprünglichen Textbestand gehörige Erläuterungen, die auf eventuell unklare oder strittige Punkte im vorangegangenen Hauptteil eingehen. Bei dem dritten dieser Zusätze handelt es sich um ein teils in gereimten Versen abgefasstes Exempel (Pallium, Z. 184 - 208), beim zweiten um eine theologische Abschirmung, die den Marienmantel allegorisch auslegt (Pallium, Z. 155 - 183), und beim ersten um eine Erzählung vom Ursprung und vom Zustandekommen der allgemeinen Verfügbarkeit des Mantelgebets (Pallium, Z. 121 - 154). Obgleich die hier anempfohlene Frömmigkeitsform zwar erst kürzlich in Straßburg ihren Anfang genommen habe, sei der Schutzmantel Marias, so dieser letzte Zusatz, an sich keine Neuigkeit und schon vielfach beschrieben worden. 275 Ursprünglich nämlich, so 272 »Nun wollen wir uns alle zusammen tun / und den kostbaren Mantel vollenden, / mit Fürspangen und mit goldenen Borten: / Ich meine, mit guten göttlichen Worten. / Mit allem Guten wollen wir ihn verzieren, [mit allem,] was wir uns vorstellen können.« 273 Vgl. Pallium, Z. 56 - 71; sowie die Diskussion oben, Kap. III.2.3. 274 Klinkhammer 1972, S. 16. 275 Vgl. Pallium, Z. 121 - 123. Hier nimmt Dominikus offenbar, wenn er von alten dicta et scripta über den Marienmantel spricht, Rekurs auf die Tradition der Schutzmantelfrömmigkeit und der entsprechenden Mirakel. Vgl. hierzu oben, Kap. III.1.3 266 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="267"?> gibt der Autor unter Bezug auf die vielrezipierte und auch in seinem Ripuarischen Marienmantel wiedergegebene Episode aus dem Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach zu, 276 sei die Schutzmantelfrömmigkeit ein Proprium des Zisterzienserordens gewesen: Nam in Cesario legitur, quod domina nostra in tantum amavit ordinem Cisterciensem, quod personas ordinis illius pre ceteris sub pallio suo fovebat in celis. Sed quia ordo ille heu a primo suo fervore prolapsus est et pauci eorum, ut timendum est, iam anhelent ad illud pallium, nos aditum illum, quo veniatur illuc, apertum interim servare cupimus, donec reformentur, atque interim eciam inseri, ut et nos cohabitare ipsis possimus et ad pedes piissime matris nostre quiete residere atque sub pallii illius tentorio perpetue gaudere. (Pallium, Z. 123 - 129) 277 Diese Passage ist, obgleich Dominikus die Zisterzienser kurz darauf als fratres carissimi (Pallium, Z. 130) anspricht und betont, der Mantel Marias biete genug Platz für alle Gläubigen, nicht frei von Ordensrivalitäten. Der Seitenhieb, der Zisterzienserorden sei von seinem ursprünglichen Glaubenseifer abgefallen, weshalb die Pflege des Marienmantels nun von anderer Seite übernommen werden müsse, ist vor dem Hintergrund der Observanzbewegungen des 15. Jahrhunderts zu lesen. Dominikus ’ eigener Orden, die Kartäuser, galten in diesem Kontext als »der strengste Orden und damit eo ipso als reformiert und observant« 278 - ein Standpunkt, von dem aus der Autor mit Selbstbewusstsein spricht. 279 Im Ripuarischen Marienmantel führt Dominikus noch angriffslustiger aus, die brudere sent Bernards orden synt leyder syr gevallen van der gnaden, da yn sy vur waren, dat zo forten ist, dat sy nicht alle also yrst nu komen under Marien mantel (Ripuarischer Marienmantel, Z. 66 - 68). 280 Diese Zeilen sind ebenso ambitioniert wie bissig. Nun ging das Mantelgebet jedoch laut Dominikus nicht einfach in den spirituellen Besitz des Kartäuserordens über, sondern wurde vielmehr zum religiösen Allgemeingut. Maria, so ein Zentralgedanke seines Traktats, sei als Mittlerin der Gnade für alle Gläubigen unabhängig von Ordenszugehörigkeit oder geistlichen Stand zugänglich - ihr nämlich sei van gode dat ampt bevolen [ … ], dat sy den sunderen helppen mach ind sall entfangen, die zo ir vleynt, ind under dem mantel erer gnaden bedecken vur dem zorne godes 276 Vgl. die Diskussion dieses Visionsmirakels oben, Kap. III.1.3. Dominikus gibt eine volkssprachige Version im Ripuarischen Marienmantel, Z. 7 - 19. 277 »Denn bei Caesarius ist zu lesen, dass unsere Herrin den Orden der Zisterzienser so sehr liebte, dass sie die Mitglieder jenes Ordens vor den übrigen im Himmel unter ihrem Mantel bei sich hegte. Da aber leider jener Orden von seinem anfänglichen Eifer abgefallen ist und wenige von ihnen, wie zu fürchten ist, noch nach jenem Mantel streben dürften, wünschen wir jenen Zugang, durch den man dorthin kommt, in der Zwischenzeit offen zu bewahren, bis sie reformiert werden, und unterdessen auch uns einzureihen, damit auch wir vermögen, mit ihnen zusammenzuwohnen und uns zu Füßen unserer tugendhaftesten Mutter ruhig niederzulassen und uns unter dem Zelt ihres Mantels auf ewig zu freuen.« 278 Dieter Mertens: Klosterreform als Kommunikationsereignis, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Gerd Althoff, Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen 51), S. 397 - 420, hier S. 409. 279 Auch im lateinischen Mantelpreis wird in diese Richtung gehend angemerkt: Et non tamen ordinis iam Cistersienses fratres, / sed hic foveas et Carthusienses (»Und nicht mehr bloß die Brüder des Zisterzienserordens, / sondern auch die Kartäuser wärmst du [d. i. Maria] hier«, Mantelpreis L, V. 69 f.). 280 »die Brüder von Sankt Bernhards Orden sind leider sehr von der Gnade abgefallen, in der sie voreinst waren, so dass zu befürchten ist, dass sie nun nicht mehr alle so wie einst unter Marias Mantel gelangen«. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 267 <?page no="268"?> (Ripuarischer Marienmantel, Z. 59 - 61). 281 Im Zuge der durch die Reform und den (zumindest von Dominikus konstatierten) Wandel in der Ordenslandschaft verursachten Verschiebungen werde eine ursprünglich ordensspezifisch ans monastische Milieu gebundene Frömmigkeitsform wie die Verehrung des marianischen Schutzmantels nun zum Allgemeingut: Non ergo ut olim Cisterciensibus tantum sed et Carthusiensibus et Praemonstratensis ac religiosis cunctis se emendantibus, ymmo omnibus eciam secularibus pie viventibus consorcium datur in hoc obsequio. Iuvenes et virgines, senes cum iunioribus, divites et pauperes, pusilli et magni, universi, qui voluerint, poterunt accedere, aliquid ad ornatum pallii Marie voluntarie offerre, se ipsos illi devote commendare et mercedem eterne vite se recepturos in futurum sperare. (Pallium, Z. 163 - 168) 282 Der hier betonte egalitäre Charakter des Mantelbetens ist bemerkenswert. Mitglieder verschiedener Orden, Laien und Geistliche, Frauen und Männer, Junge und Alte, Reiche und Arme können sich nun, anders als in früheren Zeiten, an Marias Mantel beteiligen. Damit wird eine religiöse Praxis, die einstmalig dem im Mittelalter stets auch elitären Raum des Klosters vorbehalten war, universell geöffnet. Insbesondere die dem handwerklichen Beten zugrundeliegende Gleichsetzung von Worten und Weben, von Gebet und handwerklicher Arbeit scheint dies zu begünstigen, werden doch dergestalt religiöse und weltliche Lebensformen zumindest in der Imagination der Betenden enggeführt. Eine strikte Dichotomie zwischen Konzepten des tätigen Lebens in der Welt (vita activa) und des beschaulichen Lebens im Kloster (vita contemplativa) wird auf diese Weise aufgelöst. Folglich liegt in der Logik des Mantelbetens einerseits für in der Welt lebende Laien die Möglichkeit einer Partizipation an im Ursprung monastischen Kulturtechniken der Meditation und des Gebets, während es andererseits Geistlichen erlaubt, die eigene Frömmigkeitspraxis als spirituelle Arbeit und damit als produktive Tätigkeit zu konzeptualisieren. Im Resultat weist dies auf jene im Mittelalter vieldiskutierte gemischte Lebensform (vita mixta), die im 15. Jahrhundert und darüber hinaus eine umfassende Laikalisierung erfuhr. 283 Sowohl der auf Quantifizierung beruhende vergemeinschaftete Arbeitscharakter des Mantelgebets wie auch seine damit verbundene, allgemeine und ständeübergreifende Öffnung haben teil an einer Tendenz zur 281 »von Gott die Stellung verliehen worden, dass sie den Sündern helfen kann und die empfangen soll, die zu ihr fliehen, und sie unter dem Mantel ihrer Gnade bedecken soll vor dem Zorn Gottes«. 282 »Folglich wird nicht nur wie einst bloß den Zisterziensern, sondern auch den Kartäusern und Prämonstratensern und allen sich vervollkommnenden Religiosen, ja sogar auch allen fromm lebenden Laien eine Teilhaberschaft an diesem frommen Dienst gegeben. Jünglinge und Jungfrauen, die Alten mit den Jüngeren (Ps 148,12), die Reichen und die Armen, die Kleinen wie die Großen, alle, die wollen, werden sich anschließen können, aus freiem Willen etwas zum Gewand Marias beizusteuern, sich ihr andächtig anzuvertrauen und darauf zu hoffen, in der Zukunft den Lohn des ewigen Lebens zu empfangen.« 283 Hiermit befasste sich im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1015 das Teilprojekt C1: › vita mixta ‹ . Zur Laikalisierung eines geistlichen Konzepts. Ich danke Henrike Manuwald und Christian Schmidt für entscheidende Anstöße zum Gedanken der vita mixta auf einer Göttinger Tagung im Jahr 2018. Daraus ging auch der Aufsatz Buschbeck 2021b hervor, in dem die hier angerissenen Gedanken näher ausgeführt sind. Siehe zum Thema auch grundlegend Dietmar Mieth: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969 (Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie 15). 268 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="269"?> Durchmischung der Lebensformen und zumindest teilweisen Egalisierung von Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. 3.4 Autorisierung durch Typologie: Das Bundeszelt als Präfiguration des Marienmantels Ein Angebot umfassender und standesunabhängiger Teilnahme, wie es Dominikus mit seiner Bewerbung des Mantelbetens antrug, benötigte offenbar legitimierende und erklärende Modelle, an die eine derartige Sprengung und Überschreitung hergebrachter sozialer Trennungen in der Frömmigkeitspraxis anknüpfen konnte. Mittel zu einer solchen rechtfertigenden Anbindung ist dem Kartäuser in erster Linie die typologische Exegese des Alten Testaments: Durch eine Deutung der alttestamentlichen Erzählung vom Bau der Stiftshütte (Ex 25 - 40) als Präfiguration der propagierten Gebets- und Andachtsübung präsentiert das Pallium diese als figurale Erfüllung biblisch bezeugter und verheißener Akte der gottgefälligen Frömmigkeit. Die Auslegung des Bundeszelts als Vorbildung des Gebetsmantels wirkt aus mehreren Gründen naheliegend. Zunächst hat, ähnlich wie der Alemannische Marienmantel, auch diese Passage aus dem Buch Exodus großteilig anleitungshafte Qualität. Am Berg Sinai, wo die Israeliten auf ihrem Weg aus Ägypten ins verheißene Land Halt machen, erteilt Gott Mose detaillierte Anweisungen zum Bau eines Wanderheiligtums, 284 dessen Ausmaße und materielle Beschaffenheit genau vorgeschrieben werden (Ex 25 - 31). 285 Dieser erste Teil der biblischen Erzählung ist als Aufforderung zur Errichtung der zeltartigen Stiftshütte gestaltet, gemäß dem programmatischen Gotteswort: »Und sie werden mir ein Heiligtum machen, und ich werde in ihrer Mitte wohnen, ganz nach Art des Zeltes, das ich dir zeigen werde, und aller Geräte für seinen Kult« (Ex 25,8 - 9). 286 Was folgt, ist ein Bericht vom gemeinschaftlichen Bau des Bundeszelts durch die Israeliten unter der Leitung Mose, der diesen Befehl erfüllt und Gott eine Wohnung auf Erden schafft (Ex 35 - 40). Die Analogien zwischen den biblischen Anweisungen zum Tabernakelbau und Texten wie dem Alemannischen Marienmantel liegen recht offen zutage. In beiden Fällen handelt es sich um auffordernde Anleitungen zur Herstellung eines kostbaren, in seiner Pracht detailliert beschriebenen Sakralgegenstands, zu dessen Entstehung die einzelnen Gläubi- 284 Vgl. zu diesem in der Vulgata als tabernaculum bezeichneten Bauwerk und seiner christlichen Deutungstradition Christoph Dohmen: Art. Zelt, in: LThK 10 (2001), Sp. 1419. 285 Zum historischen Hintergrund der biblischen Erzählung: »Die Stiftshüttenerzählung gehört zu der › priesterschriftlich ‹ genannten Schicht des Pentateuchs, d. h. sie ist etwa ab der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstanden und steht unter dem Eindruck der Zerstörung des ersten, des salomonischen Tempels in Jerusalem durch die Babylonier sowie der Exilierung der führenden Schichten, insbesondere des Königshofs und der Priesterschaft. Unter den Persern, die die Oberherrschaft von den Babyloniern übernommen haben, regen sich Bestrebungen, das Jerusalemer Heiligtum auf dem heiligen Berg Zion wieder aufzubauen. Die Stiftshüttentexte gehören in das Spektrum dieser Bestrebungen hinein«, Helmut Utzschneider: Irdisches Himmelreich. Die › Stiftshütte ‹ (Ex 25 - 40*) als theologische Metapher, in: Spatial Metaphors. Ancient Texts and Transformations, hg. v. Fabian Horn u. Cilliers Breytenbach, Berlin 2016 (Berlin Studies of the Ancient World 39), S. 145 - 163, hier S. 147. 286 facientque mihi sanctuarium et habitabo in medio eorum iuxta omnem similitudinem tabernaculi quod ostendam tibi et omnium vasorum in cultum eius. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 269 <?page no="270"?> gen beizutragen haben und der schließlich das Heilige umfangen soll. Wenn Dominikus von Preußen daher den Bau der Stiftshütte als typologisches Modell für die Fertigung des Marienmantels präsentiert, funktioniert dies vordergründig reibungslos: Et sicut ad tabernaculum olim federis, quod beatam eciam virginem prefiguravit Mariam, voluntaria quivis dona offerebat, unusquisque quod potuit, sicut in Exodo legitur, ita et ad hoc pallium virginis gloriose ornandum offerat, quilibet, quod sibi placuerit et potest, ut particeps eius efficiatur, et sub eo in die furoris domini ab omnibus malis, qui meruit, abscondatur. (Pallium, Z. 52 - 56) 287 Die Gemeinschaft derjenigen, die zum Marienmantel beitragen, wird hier gleichgesetzt mit den Israeliten, von denen jeder nach seinen eigenen Möglichkeiten »mit bereitwilligstem und hingebungsvollem Sinn dem Herrn die Erstlingsgaben dar[brachte], um das Werk des Zeltes des Zeugnisses zu tun, was immer nötig war« (Ex 35,21). 288 Dadurch, dass es in der Nachfolge der Präfiguration des Stiftshüttenbaus gezeichnet wird, legitimiert Dominikus die Gleichsetzung des Wirkens am Gebetsmantel mit quantifizierbarer handwerklicher Arbeit. Auch die Beteiligung verschiedenster Personengruppen kann durch diese Modellnahme gerechtfertigt werden, berichtet doch der Pentateuch ausdrücklich: »Alle - Männer und Frauen - brachten mit hingebungsvollem Sinn die Schenkungen, damit die Arbeiten getan werden konnten« (Ex 35,29). 289 Genau wie sich alle Israeliten an der Errichtung des Bundeszelts beteiligten, sollen nun also auch sämtliche Gläubigen unbesehen ihres Standes und Geschlechts zum geistlichen Gewand der Gottesmutter beitragen können. Der diese Deutung des Marienmantels plausibilisierende Hinweis, das alttestamentliche Heiligtum habe eine Realprophetie der Jungfrau Maria dargestellt, entspringt nicht erst den exegetischen Bemühungen des Trierer Kartäusers. Vielmehr ist es dem Grundschatz marianischer Bibelauslegung im Mittelalter zuzurechnen. 290 Bereits in der Spätantike wurde »Maria vor allem in Liturgie und frommer Bibelmeditation typologisch mit heiligen Räumen und Geräten des jüdischen Kultes identifiziert [ … ] (z. B. mit Tempel, Bundeszelt und Bundeslade).« 291 Die Deutung des marianischen Mantelgebets als Analoghandlung zur Errichtung und Schmückung des die Bundeslade umgebenden Zelts bedeutet also bloß einen weiteren Ausbau dieser im 15. Jahrhundert längst etablierten typologischen Interpretation. Dabei parallelisiert das Pallium die Fertigung des Marienmantels nicht bloß mit dem Stiftshüttenbau, sondern stellt das geistlich-konkrete Gewand sogar als diesem verheißenden Vorbild überlegen dar. Ausdrücklich weist Dominikus wie oben ausgeführt darauf 287 »Und wie einst zum Zelt des Alten Bundes, das auch auf die Jungfrau Maria vorauswies, ein jeder, wie er es vermochte, freiwillige Gaben darbrachte, so wie es im Buch Exodus heißt (Ex 35,4 - 29), so biete auch ein jeder dar, was ihm gefallen habe und was er kann, um den Mantel der ruhmreichen Jungfrau zu zieren, damit er zu seinem Teilhaber werde und am Tag des Zorns des Herrn unter ihm vor allen Übeln, die er verdient hat, verborgen werde.« 288 obtulit mente promptissima atque devota primitias Domino ad faciendum opus tabernaculi testimonii. 289 omnes viri et mulieres mente devota obtulerunt donaria ut fierent opera. 290 Für eine Zusammenstellung von Belegstellen, die Maria mit dem Bundeszelt oder, ein noch häufigeres Motiv, mit der darin aufbewahrten Bundeslade gleichsetzen, vgl. Fulton Brown 2018, S. 156 f. 291 Gisbert Greshake: Maria - Ecclesia. Perspektiven einer marianisch grundierten Theologie und Kirchenpraxis, Regensburg 2014, S. 243. 270 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="271"?> hin, dass selbst die an der Errichtung des Bundeszelts beteiligten Kunsthandwerker am Gewand der Heiligen Jungfrau gescheitert wären, denn nur die zur Werkmeisterin gewählte Seele Christi könne das inkommensurable Werk vollbringen. 292 Damit bildet der Stiftshüttenbau einerseits das biblische Modell des Mantelbetens, durch dessen Aufgriff Dominikus von Preußen diese Frömmigkeitsübung erklärt, legitimiert und aufwertet. Andererseits aber wird die Präfiguration vom Marienmantel noch übertroffen. Der unter göttlicher Mithilfe aus geistlichem Material entstehende Ornat für die Heilige Jungfrau nämlich steht, gerade da er dem Stoff der Welt enthoben ist, selbst über dem göttlich entworfenen und preziösen, dennoch aber in der Vergänglichkeit irdischer Materialität verbleibenden Bundeszelt des Alten Testaments. Hieran zeigt sich der Figuralcharakter des gebethaft hergestellten Gegenstands besonders deutlich. Gleichzeitig Gegenstand und Zeichen, sublimierende Erfüllung einer alttestamentlichen Verheißung wie auch Vorausdeutung auf die von den Gläubigen erhoffte Gnadenzuwendung Marias steht der gebetete Marienmantel »zwischen littera-historia und veritas«. 293 Durch diese typologische Einreihung in eine sich zwischen dem Bundeszelt, Maria und der Frömmigkeitspraxis der Gläubigen entfaltende Kette von Vor- und Nachbildungen gewinnt das gebetete Gewand biblisch verbürgte Legitimität ebenso wie den Anspruch realitätsbegründeter Wahrhaftigkeit. 3.5 Erhoffte Heilswirkungen: Der Marienmantel als Instrument der Gnade Welche Wirkung aber ist von einem solchen Unterfangen zu erhoffen? Ähnlich dem Alemannischen Marienmantel präsentiert auch Dominikus von Preußen Maria als universelle Gnadenmittlerin. Vor allem soll die Heilige Jungfrau dementsprechend die Seelen der Gläubigen nach ihrem leiblichen Tode schützend unter ihren Mantel aufnehmen und ihnen durch ihre Interzession bei Christus und Gottvater den Eingang ins Himmelreich erwirken. 294 Statt beispielsweise auf eine Veränderung der irdischen Welt zielt das Mantelgebet also auf die Sicherung des jenseitigen Seelenheils derjenigen, die sich an ihm beteiligen. Im weitesten Sinne gehört es damit in den im Spätmittelalter allgegenwärtigen Bereich der religiösen Beschäftigung mit dem zukünftigen eigenen Sterben, das »die bewusste Vorbereitung auf den Tod und die Sorge um die Reinigung der Seele« gleichermaßen umfasst. 295 Hierin ist auch eine Parallele z. B. zur oben angesprochenen, auf die gemeinschaftliche Sicherung des Seelenheils zielenden Frömmigkeit der Rosenkranzbruderschaften des ausgehenden Mittelalters zu erkennen. 296 Ein den Haupttext des 292 Vgl. Pallium, Z. 22 - 32. 293 Auerbach 2018, S. 158. 294 Vgl. z. B. Pallium, Z. 74 - 80. 295 Angenendt 2004, S. 107. 296 Seiner Intention nach kann dies zudem im Kontext beispielsweise der zahlreichen zeitgenössischen Texte zur ars moriendi oder der vielfältigen Gebete um ein gutes Ende gelesen werden. Vgl. allgemein Rainer Rudolf, Rudolf Mohr u. Gerd Heinz-Mohr: Art. Ars moriendi, in: TRE 4 (1979), S. 143 - 156. Wie verbreitet entsprechende Schriften in Klosterbibliotheken des Spätmittelalters waren, zeigt z. B. Thali 2003, S. 261 f. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 271 <?page no="272"?> Pallium beschließendes Bittgebet bringt die diesbezüglich erhoffte Gnadenzuwendung der Gottesmutter auf den Punkt: Inclina aurem tuam ad preces nostras, manum tuam dexteram famulis et famulabus tuis pretende, pallium tuum super nos lacius extende. Omnes ad te confugentes apprehende ab ira iudicis, ab insidiis maligni hostis atque malis ab omnibus nos semper defende. Tutum habeamus, o domina, refugium ad te, securum inveniamus presidium apud te. Nemo tuorum repulsam umquam hic paciatur. A bonis iam tecum existentibus nullus nostrum abigatur, nec malorum quorumcumque violencia ad te venire prohibeatur. Liberum semper ad te habeamus accessum, per te ad filium, et per ipsum ad omnipotentem patrem suum. Hac de causa de pallio tuo, o virgo beata, nitimur operari. (Pallium, Z. 109 - 117) 297 Der Mantel der Heiligen Jungfrau ist hier als doppelter Schutz dargestellt, der die unter ihm Befindlichen einerseits vor dem Einfluss des Bösen bewahren soll, andererseits aber auch den gerechten Zorn des richtenden Gottes angesichts der menschlichen Sünden abwehrt. Ersterer Aspekt hängt mit den zeittypischen Vorstellungen von den Menschen stets bedrohender teuflischer Anfechtung zusammen, vor der Maria zu beschirmen vermag. 298 In den gleichen Zusammenhang gehört auch eine sowohl im Pallium als auch in beiden darauf aufbauenden Versdichtungen und dem Ripuarischen Marienmantel wiedergegebene Mirakelerzählung, die berichtet, die bösen Geister sprächen von Maria aufgrund ihres allgegenwärtigen Beistands stets nur furchtvoll als »die Weite« (lata). 299 Dies ist als Betonung eines den Betenden schon auf Erden von Maria gewährten Schutzes vor Anfechtung und Gefahr zu deuten. Illustriert wird diese protektive Wirkung durch einige in den Ripuarischen Marienmantel eingefügte Exempel und Mirakel, die davon erzählen, wie Maria durch ihren Mantel einzelne Gläubige z. B. vor Schiffbruch oder wilden Tieren bewahrt. 300 297 »Beuge dein Ohr nieder (Ps 44,11) zu unseren Gebeten, strecke deine rechte Hand deinen Dienern und Dienerinnen entgegen, breite deinen Mantel weit über uns aus. Bewahre alle, die zu dir fliehen, vor dem Zorn des Richters und verteidige uns auf immer gegen die Listen des bösen Feindes und gegen alles Übel. Mögen wir, oh Herrin, eine gewisse Zuflucht bei dir haben, mögen wir sicheren Schutz bei dir finden! Keiner der deinigen möge hier jemals Zurückweisung erfahren. Von den schon bei dir befindlichen Guten werde keiner durch uns vertrieben, noch werde wer auch immer von den Schlechten mit Gewalt davon abgehalten, zu dir zu kommen. Mögen wir stets freien Zugang zu dir haben, und durch dich zu dem Sohn, und durch ihn zu seinem allmächtigen Vater. Aus diesem Grund, oh selige Jungfrau, strengen wir uns an, an deinem Mantel zu arbeiten.« 298 Mittelalterliche Bilder, Legenden und andere Texte, die von Siegen Marias über das menschliche Seelenheil bedrohende Teufel, von der Heilung von dämonischer Besessenheit und ähnlichen Interventionen der Heiligen Jungfrau berichten, werden besprochen bei Beissel 1909, S. 246; 272; 472 f. etc. Auch die im Pallium, Z. 169 - 174, geschilderten Anfechtungen sind in diesem Kontext zu verstehen. 299 So heißt es: Ob hoc a demonibus lata nuncuparis, / quod tuos sub pallio magno tuearis. / Calumpniam fieri, nulli paciaris / nec reos suscipere nos hic dedignaris (»Darum wirst du von den bösen Geistern › die Weite ‹ genannt, / weil du die Deinigen unten dem großen Mantel beschützt. / Du mögest gestatten, dass keinem Verleumdung widerfährt, / und nicht verschmähen, uns Schuldige hier aufzunehmen«, Mantelpreis L, V. 53 - 56) Vgl. auch Pallium, Z. 134 f.; Mantelpreis D, V. 49 - 57. Eine auserzählte Version dieser Geschichte findet sich im Ripuarischen Marienmantel, Z. 46 - 55. 300 Vgl. Ripuarischer Marienmantel, Z. 76 - 88; 111 - 127. Die Exempel sollen zeigen, so Dominikus, dass Marias Mantel neit alleyn bedeckt yr diener yn hemel ind up erden, sunder ouch in dem wilden mer, so man ynniclichen sy yn noeden anroefft (»nicht allein im Himmel und auf Erden ihre Diener bedeckt, sondern auch auf dem wilden Meer, wenn man sie innig in Nöten anruft«, ebd., Z. 89 - 91). 272 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="273"?> Der zweite im obigen Gebetsauszug erflehte Gnadenerweis dahingegen ist von anderer Qualität und bezieht sich auf die Lehre von der Heilsmittlerschaft Marias, die wirkmächtig Fürbitte bei Gott zu leisten vermag. »Das Mittelalter hat«, so Arnold Angenendt, »unmittelbar und allezeit mit dem Zorn Gottes gerechnet.« 301 Dass Marias Mantel vor diesem Zorn bewahren soll, ist im Rahmen der Glaubensvorstellungen dieser Zeit entscheidend und bezieht sich vor allem auf die Sorge um das eigene Seelenheil nach dem Tode. Dabei verspricht das Pallium in der obigen Passage jedoch noch mehr: Nicht nur sollen die Gläubigen unter dem Kleid der Heiligen Jungfrau Zuflucht vor göttlicher Strafe finden, vielmehr vermittelt ihnen Maria, so die Hoffnung, über ihren Sohn auch einen Zugang zum durch ihre Fürbitte wohlgestimmten Gott. Der Ripuarische Marienmantel fasst diesbezüglich zusammen, der Mantelschutz bewirke, dass wir ouch vur godes urdel dae mit bedeckt werden ind versonet dem zornigen richter vermitz die gnade der barmhertzichen moder Maria (Ripuarischer Marienmantel, Z. 107 f.). 302 Die Empfängerin und Trägerin des geistlichen Mantels schützt und versöhnt folglich gleichermaßen. Diese Erwartung einer auf die Kleidergabe folgenden Beschirmung und Vermittlung mag durchaus weltlichen Bräuchen der Zeit entsprochen haben. So erzählt Dominikus von Preußen in einer weiteren marianischen Schrift, der oben kurz erwähnten Corona gemmaria, in seiner ostdeutschen Heimat hätten die Ritter des Deutschen Ordens sich einst leichtfertig mit dem König von Polen überworfen. Um das entstehende Zerwürfnis zu beenden, [m]iserunt enim reginae pretiosissimam tunicam auro et gemmis fulgentibus intextam, ut pro ipsis regem placare dignaretur. 303 Analog zu dieser Anekdote ist auch die geistliche Mantelgabe an Maria zu verstehen: Die Hinwendung zur Himmelskönigin soll dazu dienen, ihre Fürbitte bei Gott zu sichern, kraft derer sich schlussendlich göttlicher Zorn in göttliche Milde verkehrt. Mit dieser gnadenhaften Vermittlung zwischen Gott und Mensch durchbricht der Mantelschutz Marias Vorstellungen von Lohn und Strafe nach dem Prinzip des gerechten Ausgleichs, nach denen ein jeder Mensch nach seinem Tod seinen Taten und Sünden gemäß von Gott beurteilt werde. Denn selbst ein vollkommen schuldiger, vom rechten Weg abgekommener Mensch könne, so führt das Pallium aus, Marias Beistand erlangen: Et quod maius est, homo reus consciencia propria confusus, iuste iudicandus atque dampnandus, si ad matrem misericordie confugerit et velut in tabernaculo federis pallium illius apprehendens quasi cornu altaris tenuerit, non avelletur neque tradetur, sed gracia illius reconciliabitur atque salvabitur et non peribit in eternum. (Pallium, Z. 175 - 178) 304 301 Angenendt 2009, S. 102 302 »auch wir vor Gottes Urteil hiermit bedeckt werden und mit dem zornigen Richter versöhnt werden durch die Gnade der barmherzigen Mutter Maria«. 303 »schickten sie der Königin ein sehr kostbares, mit Gold und eingewebten glänzenden Edelsteinen geschmücktes Gewand, damit diese den König besänftigen solle«, Triller 1967/ 1968, S. 57; Übersetzung ebd., S. 49. Der Auszug aus der Corona gemmaria folgt der Handschrift Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 170v. 304 »Und was noch wichtiger ist, wenn ein schuldiger Mensch, der vom eigenen Gewissen beschämt wird und rechtmäßig zu verurteilen und zu verdammen wäre, sich nun zur Mutter der Barmherzigkeit flüchtet und wie im Zelt des Alten Bundes zu ihrem Mantel eilend gleichsam die Hörner des Altars ergreift (I Sm 1,50), so wird er weder weggerissen noch preisgegeben werden, sondern wird durch ihre Gnade versöhnt und gerettet werden und wird nicht auf Ewigkeit zugrunde gehen.« 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 273 <?page no="274"?> In Erfüllung alttestamentlich beschriebener Rechtsbräuche, die den Mantelschutz präfigurieren sollen, erscheint das geistliche Gewand so als Asylort, 305 an dem selbst jene Zuflucht finden können, die der Logik einer ausgleichenden göttlichen Gerechtigkeit zufolge Strafe verdient hätten. Textiles Beten ist damit nicht als Buße, Wiedergutmachung oder ähnliche Form der aufwiegenden Sündentilgung gezeichnet, sondern vielmehr als Möglichkeit, durch einen Willenserweis in Form einer Gebetsgabe an die als Mittlerin auftretende Maria unverdient der Gnade Gottes teilhaftig zu werden. Dabei steht der doppelte Schutz vor Gotteszorn ebenso wie vor teuflischer Anfechtung allen Christen offen, die zur Fertigung des geistlichen Gewandes beitragen und so bei der Heiligen Jungfrau Zuflucht suchen, denn quicumque aliquid ad ornandum seu amplificandum hoc pallium ante se premiserit, ad inveniendum sub eo tutum latibulum ac certum refugium spem habebit (Pallium, Z. 148 - 150). 306 Der Schutzmantel Marias, so die hier ausgedrückte Überzeugung, ist ebenso universell zugänglich wie die ihn erzeugende geistliche Übung: Nyemant iss ussgescheiden, dan der selver neit wyll (Ripuarischer Marienmantel, Z. 132). 307 Gerade hierin lagen zeitgenössisch Reiz und Novität der von Dominikus beworbenen Frömmigkeitspraxis. Die obigen Ausführungen und Untersuchungen zusammenfassend erscheint der gebethaft gefertigte Marienmantel bei Dominikus von Preußen zunächst als geistlichkonkreter Gegenstand, dessen überstoffliche Beschaffenheit jedoch die Materialität aller irdischen Werke sublimiert. Die eigentliche Werkmeisterin dieses unvergleichlichen Gewandes ist die Seele Jesu Christi, die zwar im Grunde menschlicher Mithilfe nicht bedarf, allerdings dennoch danach verlangt, um den Gläubigen so gnadenhaft die Möglichkeit einer Mitwirkung am eigenen Seelenheil zuzugestehen. Hiermit umgeht die Argumentation des Pallium-Traktats die Gefahren einer in Äquivalenzideen verankerten religiösen Gabenökonomie und kann dennoch an der Propagierung eines handwerklichen Betens festhalten, das auf der Hoffnung einer heilsvermittelnden Wirkung der erbrachten Frömmigkeitsleistungen aufruht. Entscheidend ist zudem, dass die von Dominikus beschriebene Andachtsübung des Mantelbetens, zu der aller Wahrscheinlichkeit nach der Alemannische Marienmantel Pate gestanden hat, für Personen unterschiedlichsten Standes offensteht: Obzwar vormals dem Zisterzienserorden eigen, können sich nun alle Gläubigen gemeinsam an diesem frommen Werk beteiligen und je nach individueller Möglichkeit Gebete oder Frömmigkeitsleistungen beitragen. Hier haben das Pallium, die daran anschließenden lateinischen und deutschen Versdichtungen sowie die zugehörige ripuarische Mirakelsammlung Anteil an 305 Cornelis Houtman geht ausführlich auf die im Alten Testament an mehreren Stellen erwähnte Praxis der Asylgewährung ein, die darauf beruht, dass ein Asylsuchender, gleich ob eines Verbrechens schuldig oder nicht, »indem er nun den Altar selbst oder die Hörner davon berührt, unter den Schutz von JHWH gestellt ist und sich damit außerhalb der Reichweite seiner Verfolger befindet«, Cornelis Houtman: Der Altar als Asylstätte im Alten Testament: Rechtsbestimmung (Ex. 21,12 - 14) und Praxis (I Reg. 1 - 2), in: Revue Biblique 103,3 (1996), S. 343 - 366, hier S. 349. Im Rahmen der wie oben angesprochen gängigen Auslegung von Bundeszelt und Bundeslade als Präfigurationen Marias kann Dominikus diesen Rechtsbrauch auf den Schutzmantel beziehen. 306 »wer auch immer etwas zum Schmuck oder zur Vergrößerung dieses Mantels vor sich vorausgeschickt habe, wird Hoffnung haben, unter ihm einen geschützten Schlupfwinkel und sicheren Zufluchtsort zu finden.« 307 »Niemand ist ausgenommen außer dem, der selbst nicht will.« 274 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="275"?> einer spätmittelalterlichen Tendenz zur Öffnung und partiellen Laikalisierung ursprünglich klösterlicher Frömmigkeitsformen und Lebensmodelle. Präfiguriert wird das somit gemeinsam vollbrachte fromme Werk durch den Tabernakelbau der Israeliten im Pentateuch. Durch diese typologische Verbindung wird die neuartige Andachtsübung gleichzeitig legitimiert und aufgewertet, wird handwerkliches Beten in ein Figurationsverhältnis zu biblischen Vorbildern gesetzt. Die geistliche Fertigung des Marienmantels, so impliziert der Text, gleicht hierbei nicht nur dem Stiftshüttenbau, sondern übertrifft ihn sogar, und dies vor allem durch seine sublime Materialität, die menschlichen Handwerkern unerreichbar ist. Schließlich wird von der geistlichen Mantelgabe eine doppelte Heilswirkung erhofft. Maria soll die an der Fertigung ihres Gewandes beteiligten Gläubigen unter den Mantel aufnehmen und sie dabei sowohl vor allerlei bösen Anfechtungen und Einflüssen wie auch nach ihrem Tod vor dem Zorn Gottes bewahren. Damit gehört das Mantelbeten auf der einen Seite ins weite Feld der religiösen Sorge für das eigene Seelenheil im Jenseits, auf der anderen Seite hebt es ab auf den Glauben an die Rolle Marias als universelle Mittlerin der Gnade, die über ihren Sohn Christus die Menschheit mit Gott versöhnt. Der Gebetsmantel wird dabei als vielfältiges Instrument der Gnadenentfaltung präsentiert. Er ist der heilskräftige Gegenstand, unter dem die Gottesmutter die Gläubigen gemäß der Rechtsgeste der Manteladoption aufnehmen und behüten kann, ebenso wie die Gabe, die ihre Interzession sichert sowie den frommen Willen und die Bemühungen der Gebenden beweist. Als gemeinschaftsstiftendes Werk aktualisiert er den alttestamentlichen Stiftshüttenbau und vermittelt damit zugleich eine standesübergreifende Kommunität der an ihm Beteiligten wie auch Imaginationen unvergleichlicher Prachtentfaltung. Erhaben über die Stofflichkeit der Welt entsteht er durch eine menschlich-göttliche Werkgemeinschaft, die Immanenz und Transzendenz zusammenschließt. Zuletzt hat der Marienmantel auch bei Dominikus von Preußen allegorischen Charakter, wenn es heißt, quod per pallium presens nil aliud intelligendum est quam beatissime dei genitricis fidelis protectio, materna dilectio et generalis affectio, quam habet et exhibet cunctis fidelibus in se confidentibus filii sui sanguine redemptis (Pallium, Z. 156 - 158). 308 Einerseits sind diese Worte wohl als Abschirmung gegen den Vorwurf eines defizitär materialitätsfixierten Gnadenverständnisses zu verstehen. Andererseits aber verdeutlichen sie ein weiteres Mal die doppelte Qualität jener Figurationen der Frömmigkeit, zu deren Herstellung Texte wie der Alemannische Marienmantel anleiten und deren Propagierung das Pallium des Trierer Kartäusers zum Ziel hat: Hier wird in der gleichen Bewegung Konkretes abstrahiert und Abstraktes konkretisiert. 308 »unter dem gegenwärtigen Mantel nichts anderes zu verstehen ist als der treue Schutz der allerseligsten Gottesgebärerin, ihre mütterliche Liebe und allgemeine Zuneigung, die sie gegenüber allen treu auf sie Vertrauenden hat und zeigt, die durch das Blut ihres Sohnes erlöst sind.« 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 275 <?page no="276"?> 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild Das Korpus an Texten des ausgehenden Mittelalters, die dazu anweisen, Maria aus Reihengebeten ein geistliches Kleid zu weben und zu schneidern, in dem sich irdische Worte und Gedanken zum überirdischen Prachtstoff verdichten, erschöpft sich nicht in den nun genauer behandelten Mirakeltexten und Visionsepisoden, dem Alemannischen Marienmantel und den Manteltexten des Dominikus von Preußen. Vielmehr, so zeigt ein Blick in die Gebetbuchüberlieferung des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, entspinnt sich hier eine umfangreiche Texttradition, die von der Verbreitung entsprechender Frömmigkeitspraktiken des textilen Betens zeugt. Dabei kann die Form sowohl der diesbezüglichen Texte als auch der von ihnen verlangten religiösen Handlungen unterschiedlich ausfallen. So finden sich einerseits vor allem im Kontext von Handschriften aus Frauenklosterkontexten geistliche Übungen, die im Gegensatz zum Alemannischen Marienmantel auf eine einzelne Betende zugeschrieben sind. Hierein gehört das bereits erwähnte kurze Gebet aus einer im frühen 16. Jahrhundert niedergeschriebenen Handschrift des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Margaretha und St. Agnes, die auch zahlreiche Übungen zum Flechten geistlicher Rosenkränze für Maria und das Christuskind enthält. 309 Dieser zu Mariä Lichtmess zu betende Mantel ist vergleichsweise einfach aufgebaut. Er besteht neben einem Abschlussgebet sowie je sieben Paternoster und Salve regina aus dryg rosen krentz, womit hier wohl nach dem im vorangegangenen Kapitel erläuterten, an der Anzahl der Psalmen orientierten Schema drei Fünfzigergruppen von Ave Marie gemeint sind. 310 Angeschlossen an diesen Text sind eine kurze Gebets- und Andachtsübung, durch die das Jesuskind mit den christlichen Tugenden der Betenden eingekleidet werden soll, sowie eine Anleitung zur gebethaften Herstellung einer geistlichen Lichtmesskerze. In einer im 16. Jahrhundert von den Villinger Klarissen des Bickenklosters angefertigten Handschrift dahingegen findet sich eine komplexe Gebetsübung, die zwar ebenfalls für den Vollzug durch eine einzelne Rezipientin konzipiert ist, jedoch nicht dazu anweist, nur einmal im Kirchenjahr einen geistlichen Mantel anzufertigen. 311 Stattdessen ist die Betende hier aufgefordert, Maria täglich von Kopf bis Fuß mit Gebeten einzukleiden, 309 Dieses Mantelgebet ist überliefert in München, BSB, Cgm 856, fol. 210r/ v; verschiedene geistliche Blumenkranzübungen, die jeweils 50 Betrachtungspunkte enthalten und sich damit in der Tradition der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen bewegen, finden sich ebd., fol. 95v - 151v. Zur Handschrift vgl. Haimerl 1952, S. 40 - 44. Siehe dazu auch oben, S. 251 f. 310 »drei Rosenkränze«, München, BSB, Cgm 856, fol. 210r. 311 Überliefert in Freiburg, UB, HS 1500,30, fol. 190v - 198r. Zu diesem marianischen Gebetbuch vgl. Ina Serif: … wie dz ich ain súnderin bin. Überlegungen zu Text und Kontext eines spätmittelalterlichen Gebetbuchs aus einem franziskanischen Frauenkloster in Vorarlberg, in: Handschriften als Quellen der Sprach- und Kulturwissenschaft. Aktuelle Fragestellungen - Methoden - Probleme, hg. v. Anette Kremer u. Vincenz Schwab, Bamberg 2018 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 13), S. 177 - 199. Serifs Zuschreibung zu Valduna wurde korrigiert durch Werner Hoffmann (Leipzig), der die Schreiberin Sofia Capittlin identifizieren konnte und dem ich den Hinweis auf die Provenienz aus dem Bickenkloster verdanke. <?page no="277"?> wobei jeweils sieben Ave Maria ein Kleidungsstück figurieren und stehend oder kniend für eine der Tugenden der Gottesmutter gesprochen werden sollen. 312 An den Marienfesten sowie zu Neujahr und Weihnachten müssen diese Alltagskleider zusätzlich durch anlassgebundene geistliche Schmuckstücke ergänzt werden. Hierzu hat die Betende jeweils 1500 Mariengrüße darzubringen, wobei jeweils hundert dieser Gebetsformeln mit der Meditation einer Episode aus dem Marienleben verknüpft sind. Auf diese Weise ergibt sich eine textile Gebets- und Andachtsübung für das Kirchenjahr, die auf eine stetige und nie endende Erneuerung und Wiederholung des Dienstes an der Gottesmutter angelegt ist. Darin zielt dieser Text gleichzeitig auf meditative Versenkung in die Geschichte von Marias Erdenleben wie auch auf die imaginierende Konkretisierung vestimentärer Figurationen der Frömmigkeit. 313 Eine in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Colmarer Dominikanerinnenkloster Unterlinden angefertigte Handschrift, die mit dem weiter unten noch untersuchten Geistlichen Herzensempfang auch eine aufschlussreiche Architekturandacht überliefert, enthält gleich mehrere geistliche Kleidertexte. 314 Einige hiervon gehören zu einem lose verknüpften Bündel an brautmystisch eingefärbten Gebets- und Andachtsübungen, mit denen sich eine einzelne Nonne auf den Kommunionempfang vorbereiten soll. Darunter finden sich eine Anleitung, den als Bräutigam auftretenden Christus durch verschiedene Frömmigkeitsleistungen als Himmelsherrscher einzukleiden 315 sowie ein Andachtstext, bei dessen Lektüre die Leserin selbst sich das geistliche Brautgewand klösterlicher Tugenden innerlich fertigen und anziehen soll. 316 Eine weitere geistliche Übung zur Fertigung eines Marien- und Christusornats samt kostbarer Schmuck- und Edelsteingarnitur aus Reihengebeten und Meditationsübungen ist nicht eucharistisch gerahmt, soll aber ebenfalls von einer einzelnen Nonne für sich vollzogen werden. 317 312 So weist der Text an: Ze dem ersten bet vij ave maria stend irem rainen leben, ist der underrock. Ze dem 2 bett vij ave maria knüend in ir dieffe demütikat, ist der oberrock. Ze dem 3 bet vij ave maria stend irem gantzen globen, ist ir girtel. Ze dem 4 bet vij aue maria knüend irer senfften gedult, sind die schuoch. Ze dem 5 bet aber vij ave maria stend ir fürtreffelichen junckfrelichat, dz ist ir stüchele. Ze dem 6 bet vij aue maria knüwend irem steten frid, ist die zierlich kron irs hopts. Ze dem 7 bet vij ave maria stend irer inbrinstigen liebi, ist ir schener manttel. Ze dem 8 bett vij ave maria knüend irem uferhepten hertzen vnd gemüt in einem steten schowen inn gott, ist dz edel schlosz an dem mantel. Ze dem 9 bet aber vij aue maria stend irem volkomen bliben jn allen tugenden, ist dz edel fingerringle. Also hasstu ir gnad beklait (»Erstens bete stehend sieben Ave Maria für ihr reines Leben, das ist der Unterrock. Zweitens bete kniend sieben Ave Maria zu ihrer tiefen Demut, das ist der Oberrock. Drittens bete stehend sieben Ave Maria für all ihren Glauben, das ist ihr Gürtel. Viertens bete kniend sieben Ave Maria für ihre sanfte Geduld, das sind die Schuhe. Fünftens bete wieder stehend sieben Ave Maria für ihre vortreffliche Jungfräulichkeit, das ist ihr Schleier. Sechstens bete kniend sieben Ave Maria für ihren stetigen Frieden, das ist die zierliche Krone auf ihrem Kopf. Siebtens bete stehend sieben Ave Maria für ihre inbrünstige Liebe, das ist ihr schöner Mantel. Achtens bete kniend sieben Ave Maria für ihr zu einer steten Schau Gottes aufgerichtetes Herz und Gemüt, das ist die edle Schließe an dem Mantel. Neuntens bete wieder stehend sieben Ave Maria für ihr Vollkommenbleiben in allen Tugenden, das ist der edle Fingerring. Somit hast du ihre Gnade eingekleidet«), Freiburg, UB, HS 1500,30, fol. 190v - 191r. 313 Darin ist dieser Text auch der Constructio des Dominikus von Preußen vergleichbar, die ebenfalls eine niemals abgeschlossene handwerkliche Gebets- und Andachtsübung für das Kirchenjahr instruiert. Vgl. dazu unten, Kap. IV.4.3. 314 Colmar, Bibliothèque des Dominicains, MS. 267bis. Diese Handschrift diskutiere ich unten, Kap. IV.4.5. 315 Ebd., fol. 84r - 98r. 316 Ebd., fol. 119r - 122r. 317 Ebd., fol. 122v - 137v. 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild 277 <?page no="278"?> Bei einer in der gleichen Colmarer Handschrift überlieferten und von Thomas Lentes abgedruckten Auflistung der Gebetskosten für einen weiteren Marienmantel, der als húpscher himelblauwer damast aus 30.000 Ave Maria, tausend Magnificat, tausend Gloria Patri und weiteren Gebete entstehen soll, handelt es sich dahingegen dem Anschein nach um ein Frömmigkeitswerk, das von einer Gruppe von Nonnen gemeinsam vollzogen werden soll. 318 Neben Übungen für individuelle Gläubige tritt somit auch ein Text, der ähnlich wie der Alemannische Marienmantel zur Vergemeinschaftung geistlicher Textilarbeiten anleitet. Gerade in Frauenklöstern scheint es verbreitet gewesen zu sein, solche umfangreichen Marienmäntel als Konvent in der Gruppe herzustellen. 319 Eine derartige Praxis belegt z. B. eine wohl erst im späteren 16. Jahrhundert niedergeschriebene Notiz aus dem Schriftnachlass des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis, die festhält, welche Memorialgebete für eine kürzlich verstorbene Küsterin zu verrichten seien. Aufgelistet sind hier auch lxxxx M Ave maria fir den mantel unser lieben fröwen, die unter die einzelnen Nonnen aufgeteilt werden sollen - somit gebürt sich yeder S[wester] iij M und v C Avemaria. 320 Im Nikolauskloster war das gemeinsame Beten eines solchen marianischen Schutzmantels für verstorbene Mitschwestern dabei offenbar für lange Zeit Usus: Ein wohl auch aus diesem Ordenshaus stammendes Memorialgebetbuch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts enthält eine beinahe wortgleiche Anweisung, die jedoch nicht eine bestimmte Verstorbene meint, sondern als allgemeine Regel für den Gebetsdienst bei Todesfällen in der Klostergemeinschaft gestaltet ist. 321 Von einem solchen Textilgebet kann, so die Handschrift, erhofft werden, dz sy [d. h. die verstorbene Schwester] die wirdige mu ͦ tter gottes beschirm under irem mu ᵉ tterlichen mantel. 322 Ebenfalls auf das weibliche Religiosentum, jedoch nicht auf eine Situierung innerhalb des klösterlichen Totengedenkens weist eine leider nur fragmentarisch erhaltene gemeinschaftliche Gebets- und Andachtsübung in einer niederdeutschen Handschrift des 16. Jahrhunderts. 323 Dieser Text, der das Bild Marias als apokalyptischer Frau aufruft, hinter der die Sonne strahlt und die den Mond zu ihren Füßen hat (vgl. Apc 12,1 - 5), kleidet die dergestalt innerlich erscheinende Gottesmutter in ein vom ganzen Konvent zu betendes geistliches Gewand, das zugleich der gemeinsamen Meditation des Marienlebens dient. Ähnlich wie das oben erwähnte Straßburger Gebet ist diese Übung dabei an das Marienfest der Darstellung des Herrn gebunden - zu diesem Datum soll der Mantel 318 »hübscher himmelblauer Damast«, Lentes 1996, S. 1085. Der Text ist überliefert in Colmar, Bibliothèque des Dominicains, MS. 267bis, 68r - 69v. 319 Diese Bindung ans Frauenkloster macht besonders Hamburger 1997, S. 75 stark. Exklusiv scheint sie jedoch nicht gewesen zu sein. 320 »90.000 Ave Maria für den Mantel unserer lieben Frau«, »fallen jeder Schwester 3.500 Ave Maria zu«, Strasbourg, AVES, II 39/ 17. Der entsprechende Zettel ist Teil eines nicht einzeln paginierten Konvoluts kleinerer Schriftstücke, die wohl nach der Auflösung des Klosters in den 1590ern an die Stadt Straßburg fielen. Zur Situation dieses Klosters im späten 16. Jahrhundert und den zu dieser Zeit dort entstandenen Texten vgl. mit ausführlichen Angaben Buschbeck 2021. Dieser Zettel und die folgend erwähnte Anweisung sind in Gänze abgedruckt bei Lentes 1996, S. 486 f. Vgl. hierzu auch Wareham 2016, S. 75, und van Os 1994, S. 171 f. 321 Frankfurt, SUB, ms. germ. oct. 28, fol. 129r/ v. 322 »dass die würdige Mutter Gottes sie beschütze unter ihrem mütterlichen Mantel«, ebd., fol. 129r. 323 Berlin, SBB - PKB, mgq 762, fol. 129v - 132v. Durch Blattverlust fehlt ein wohl umfangreicher Abschnitt am Ende des unikal überlieferten Textes. Zu dieser Handschrift vgl. unten, Kap. IV.4.4. 278 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="279"?> fertiggestellt sein. Hierbei legt die Angabe, man solle die Anweisungen hierzu up middewinters avent lesen, auch nahe, welcher Zeitraum für die Gebetsübung veranschlagt wurde. Zwischen Mittwinter und Mariä Lichtmess liegen ungefähr sechs Wochen, während derer der geistliche Mantel hergestellt werden sollte. 324 Doch nicht nur Frauenklöster widmeten sich der Fertigung gebeteter Kleidungsstücke. So integrierte die 1476 gegründete Straßburger Ursulabruderschaft, die Laien und Geistliche gleichermaßen umfasste, das Mantelbeten in das breite Spektrum ihrer Frömmigkeitspraxis. 325 Ein von Johann Zainer dem Jüngeren um 1500 in Ulm gedrucktes Gebet- und Andachtsbüchlein mit entsprechenden Manteltexten dürfte sich vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich, an ein laikales Publikum gerichtet haben. 326 Der Allgäuer Hirte Chonrad Stoeckhlin, der 1586 der Hexerei verdächtigt und schließlich hingerichtet wurde, gab laut Verhörprotokoll an, eine Engelserscheinung habe ihm aufgetragen, gemeinsam mit seiner Familie Quatemberlich 30000 Ave Maria, das seye › Unser Frawen Mantel ‹ , zu beten. 327 Offenbar war dem Laien Stoeckhlin diese Gebetsform nicht nur geläufig, er führte sie sogar als Beleg für die Authentizität und Orthodoxie der von ihm behaupteten Visionserlebnisse an. Auch die von Luthers Mitarbeiter und Redaktor Stephan Rodt vorgebrachte scharfe Kritik, ein gläubiger Christ müsse weder nach rosenkrentzen oder Marien mantel fragen, 328 darf als Indiz für eine weitreichende Popularität des Mantelbetens im 16. Jahrhundert gewertet werden und zeigt, wie diese Frömmigkeitsform ähnlich dem Rosenkranz auf die Skepsis der Reformatoren stieß. Im 17. Jahrhundert schließlich berichtet der Jesuit Toussain Bridoul, der Herzogin von Mantua, Eleonore von Österreich (1534 - 1594), sei aus Deutschland eine Andachtsübung zugesandt worden, die aus 32.000 Mariengrüßen bestanden habe und »le Manteau de Notre-Dame« genannt worden sei. 329 Da die adlige Dame dieses enorme Pensum allerdings nicht habe selbst vollbringen können, habe sie mehrere Klöster damit beauftragt, zu diesem Mantel betend beizusteuern. Derlei Erwähnungen illustrieren, wie diese spätmittelalterliche Frömmigkeitsübung bis weit in die Frühe Neuzeit weiterwirkte und belegen zugleich, dass das Mantelgebet auch über die Klostermauern hinaus in verschiedenen Formen aufgegriffen wurde und dabei schicht- und standesübergreifend Anhänger fand. An dieser Stelle wäre es möglich, den Bereich der Gebetbuchliteratur zu verlassen und nach den Reflexen textilen Betens in bildender Kunst und materieller Kultur des Mittelalters zu fragen. Gerade in Bezug auf die Schutzmantelikonographie böte sich dies an, ist 324 Ebd., fol. 129v. 325 Vgl. Schnyder 1986, S. 203, 205, 228; sowie unten, Kap. IV.4.1. 326 Mantel unserer lieben Frauen, Ulm: Johann Zainer d. J., [um 1500] (GW M20668). Das einzige bekannte erhaltene Exemplar befindet sich in Metten, Bibliothek der Benediktinerabtei, Inc. II. 129/ 130. Eine Konsultation dieses Drucks war mir bislang leider nicht möglich; ich verlasse mich daher auf die Angaben und Abbildungen bei Lentes 1993, S. 139, und Sussmann 1929, S. 25. 327 Zitiert nach Wolfgang Behringer: Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar. Eine Geschichte aus der frühen Neuzeit, München 1994, S. 26. 328 Stephan Rodt: Sommerpostille [1526], in: WA 10,2.1 (1925), S. 209 - 446, hier S. 236. 329 In seinem 1640 gedruckten Triomphe annuel de Notre Dame schreibt Bridoul, die Herzogin »avoit pris goust en Allemagne à une certaine dévotion qu ’ on nomme le Manteau de Notre-Dame, qui consiste à réciter ou à faire réciter 32.000 Ave Maria en lhonneur de la Vierge Marie ; mais parce que la qualité de son état lui dérobait les meilleures heures du jour, elle fut contrainte de s ’ en décharger sur ceux de sa cour el sur plusieurs monastères, partageant entre eux le nombre des Ave Maria que nous avons dit«, zitiert nach Perdrizet 1908, S. 47. 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild 279 <?page no="280"?> die Zahl der kleinen Andachtsbilder und Einblattdrucke des ausgehenden Mittelalters, die Maria als Mantelschützerin zeigen und dabei häufig Gebetsworte wie beispielsweise die marianische Antiphon Sub tuum praesidium auf dieses Motiv beziehen, enorm. 330 Auch die in der Tafelmalerei und Holzplastik 15. und 16. Jahrhunderts verbreiteten Gewandsauminschriften, die besonders bei Marien- und Heiligendarstellungen häufig Gebetsworte ins Bild setzen, können im Zusammenhang mit der Tradition textiler Gebets- und Andachtsübungen gelesen werden. 331 So sieht beispielsweise Johanna Thali in den goldenen Buchstaben des Ave Maria und Salve regina, die der 1479/ 80 angefertigte Nelkenmeisteraltar der Franziskanerkirche in Fribourg auf den Mantelborten Marias erstrahlen lässt, die »Idee der textilen Schrift« aufscheinen, die »sich wohl der Gebetsübung der geistigen Kleidergabe an Maria« verdanke. 332 Zuletzt ist es auch möglich, Verbindungen zur spätmittelalterlichen Praxis des Bekleidens von Heiligenfiguren zu suchen. Insbesondere aus den niedersächsischen Frauenklöstern haben sich zahlreiche solcher Statuenkleider erhalten, die teils die sprachlich evozierte Bildlichkeit entsprechender Gebets- und Andachtstexte erstaunlich exakt aufzugreifen scheinen. 333 Ein Einbezug dieser Bilder und Objekte, den ich hier nicht umfänglich leisten kann, würde eine weitere Komplexitätsebene der medialen Dynamik aufzeigen, die das handwerkliche Beten als Frömmigkeitspraxis prägt. Im Vordergrund der obigen Untersuchungen jedoch standen vornehmlich Texte, die durch das Medium der Sprache eine eigene absorbierende Bildlichkeit materieller Pracht evozieren, in welche ihr Publikum sich versenken und dabei sowohl auf dem Wege der sprachlich evozierten inneren Schau wie auch durch betende Hinwendung vertikal wie horizontal auf das Heilige orientiert werden soll. Das Resultat eines solchen lesenden Vollzugs, der rhetorisch durchgeformte Kommunikation mit der Transzendenz ebenso wie einen Prozess der Immersion in die Wahrnehmungs- und Deutungsangebote des Texts umfasst, verdichtet sich zum geistlichen und dennoch gegenständlich gedachten Gewand für Maria, von dem eine Gnaden- und Schutzwirkung erhofft wird. Der textus der geschriebenen und gesprochenen Worte, so ließe sich diese Transformation des Betens fassen, verheißt die textile Pracht des himmlischen Schutzmantels und erfüllt sie durch die Frömmigkeit seiner Leser. 330 Vgl. z. B. die zahlreichen Bildbeispiele bei Lentes 1993 und Sussmann 1929. 331 Vgl. dazu grundsätzlich und mit einigen Beispielen Rudolf M. Kloos: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Darmstadt 1980, S. 45 - 48. Einige exemplarische Gebetsinschriften auf Mantelsäumen bespreche ich zudem in Buschbeck 2022b, S. 48 - 52. 332 Johanna Thali: Freiburger Nelkenmeisteraltar, in: SchriftRäume. Dimensionen von Schrift in Mittelalter und Moderne, hg. v. Christian Kiening u. Martina Stercken, Zürich 2008, S. 312. 333 Vgl. Charlotte Klack-Eitzen, Wiebke Haase u. Tanja Weißgraf: Heilige Röcke. Kleider für Skulpturen in Kloster Wienhausen, Regensburg 2013. Besonders bemerkenswert ist ein ebd. auf S. 20 f. besprochener und abgebildeter Figurenornat für eine Marienstatue aus einem niedersächsischen Frauenkloster des 15. Jahrhunderts (Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum, Inv. Nr. WM XX, 24 - 30), dessen Stickereien die Rosenkranzikonographie aufgreifen und an dem zudem auch Buchstabenpailletten, die an Gebetsworte mahnen, angebracht sind. Hierzu vgl. Buschbeck 2022b, S. 51 f.; sowie Kirakosian 2021, S. 201 u. Tafel XXIV. Weitere Beispiele für solche Figurenkleider finden sich in dem Katalog Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, hg. v. Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, S. 456 f. 280 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="281"?> IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="283"?> 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst Die oben untersuchten Gebets- und Andachtsübungen setzen vertikale und horizontale Medialisierungs- und Wirkstrategien in je eigene Konstellationen und präsentieren die Effekte eines dergestalt angebotenen Vollzugs als geistlich-konkrete Figurationen der Frömmigkeit, denen eine überstoffliche Realität ebenso wie heilsvermittelnde Geschehensmächtigkeit zukommt. Dabei macht es einen Unterschied, ob wie im Falle der Trierer Rosenkranzklauseln gezählte Gebetsformeln mit der Betrachtung bestimmter Heilsereignisse verbunden werden und sich diese Gebetsmeditation schließlich zum geistlichen Kranz verdichtet, oder ob wie im Alemannischen Marienmantel zunächst ein Eintauchen in die prachtvolle Bildlichkeit des gemeinschaftlich aus Frömmigkeitsübungen figurierten Marienkleids stimuliert wird, das in seiner allegorischen Zeichenhaftigkeit dann wiederum zur Versenkung in die so bezeichneten Glaubensgegenstände anregt. Prinzipiell aber konzipieren die entsprechenden Texte sowohl Rosenkränze als auch gebetete Gewänder als überstoffliche Konkretisierungen religiöser Praxis, die von den Betenden als Gabe dargebracht und somit in der Hoffnung auf eine gnadenhafte Erwiderung veräußert werden. Im folgenden Kapitel hingegen rückt ein Textkorpus in den Blick, das diese Dynamik entschieden abwandelt. Geistliche Übungen und Traktate, die zur Errichtung eines inneren Gebäudes durch Gebet und Meditation anleiten, heben nicht oder zumindest nicht primär auf Vorstellungen eines frömmigkeitspraktischen Handwerks ab, in dessen Rahmen sublime Geschenke für Maria, Christus und die Heiligen entstehen. Vielmehr bieten sie ihrem Lesepublikum eine Selbstformung im Sinne christlicher Tugendideale an, die vom Text und den von ihm angeregten Prozessen der meditativen und betenden Versenkung ins eigene Innere ermöglicht oder erleichtert werden sollen. Dabei folgen solche architektonischen Figurationsarbeiten am eigenen Ich zumeist einer Logik der Errichtung des Selbst hin auf die Einkehr des radikal Anderen. An ihrem Fluchtpunkt steht gewöhnlich die Hoffnung, Gott oder Christus werde in je nach Einzelfall verschiedenen Rollen - z. B. als Gast, Herrscher oder Bräutigam - in das für ihn in und aus dem Inneren der Betenden erschaffene Gebäude einziehen. Eindrücklich auf den Punkt gebracht wird diese Vorstellung der Einwohnung des Heiligen im dazu mühevoll erbauten inneren Gebäude des sich selbst transformierenden Menschen in einem instruktiven Gleichnis aus dem Buch der Vollkommenheit des Pseudo-Engelhart von Ebrach, einer für das 14. und 15. Jahrhundert vielüberlieferten Sammlung geistlicher Verse und Kurzprosa aus dem Umfeld der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ : 1 Welich meister einem kúnig ein lustsam hus wil buwen, der schrette alle este abe und unnútzes holtz und behauwet es nach wúnsche, daz im ihtes widerzeime si, und verwirffet alle die storren, die zu ͦ dem huse nit entaugen. Also tu ͦ , wiltu, daz din hertze und din sele got ein lustsam hus si. 2 1 Vgl. dazu Volker Honemann: Art. Engelhart von Ebrach, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 555 f. 2 »Welcher Meister einem König ein wohlgefälliges Haus bauen möchte, der schlägt alle Äste und alles nutzlose Holz ab, und arbeitet mit all seinen Kräften daran, auf dass ihm nichts missfällig sei, und wirft all die Storren weg, die zu dem Haus nichts taugen. So mach es auch du, wenn du willst, dass dein Herz <?page no="284"?> Diese Sätze zeichnen die Hinkehr des Menschen zu Gott als figurative Gestaltung, ja als Erbauung der eigenen Seele im Wortsinn, die in Arbeitsschritte geteilt und in ihrer Bildlichkeit analog zum Bau eines physischen Hauses vorgestellt wird. Dabei ist die Innerlichkeit des Gläubigen als Wohnstatt des Göttlichen begriffen, die jedoch zunächst der Errichtung und Aufrechterhaltung, der spirituellen Konstruktionstätigkeit des Menschen an sich selbst bedarf. Eine solche Konzeptualisierung eines formenden Umgangs mit der eigenen Person, wie ihn sämtliche der folgend untersuchten Texte in je verschiedener Ausprägung anleiten, lässt ein nah an der fundierenden Metapher ausgerichtetes Verständnis christlicher Erbauung (aedifactio) aufscheinen, betrifft also einen Schlüsselbegriff der Frömmigkeitskultur, dessen große semantische Spannweite die jüngere Forschung verstärkt in den Blick genommen hat. 3 Texte, die unter sprachlich vermitteltem Rückgriff auf architektonische Präfigurationen und Modelle einen Prozess der Selbstfiguration instruieren, ruhen hierbei auf einem enggefassten Begriff des Erbaulichen auf, der geradezu einen Gegenpol zum Verständnis von Erbauung als »Sammelbegriff für ein möglichst breites Spektrum religiöser (seelsorgerischer) Gebrauchsfunktionen« bildet, den die mediävistische Forschung zumeist ansetzt. 4 Von zentraler Bedeutung ist diesbezüglich, dass entsprechende Gebets- und Andachtsübungen, wie ich unten ausführe, die von ihnen entworfenen inneren Gebäude und Errichtungsprozesse in der Regel nicht allein als allegorische Bilder zeichnen. Vielmehr zielen sie ab auf die Konstruktion von inneren Realitäten der Selbstkonzeption und -schau, die, ähnlich wie die oben behandelten Rosenkränze und Marienmäntel, eine über das Zeichenhafte hinausgehende Konkretheit entfalten und figural eine Erfüllung in Form der Einwohnung des Göttlichen im sich dazu erbauenden Menschen verheißen. Auf Texte aus dem Umfeld der Gebetbuchliteratur, die dies vorskizzieren und anleiten, wird folgend ein Schlaglicht geworfen. Dabei steht, dies sei vorangestellt, der so entworfene Modus des Umgangs mit sich selbst, der sich in der Formung des eigenen Ich hin auf die Transzendenz, also das eklatant Nicht-Identische, erfüllt, in Spannung zu einer die heutige Gegenwart vielfach prägenden Auffassungen von personaler Identität und ihren Ansprüchen. Dies macht eine Untersuchung der unten fokussierten Texte des ausgehenden Mittelalters umso aufschlussreicher. Es erlaubt, in ihnen eine Kontrastfolie zu einem Identitätsbegriff der Postmoderne zu erkennen, der auf vermeintlich vorgängige Authentizität sowie ihre Verwirklichung oder Anerkennung fokussiert ist. Gewissermaßen stehen sie quer zu einem aktuellen Verständnis von Interiorität, dessen Historisierungen das europäische Mittelalter kennzeichnenderweise oft überspringen. und deine Seele ein wohlgefälliges Haus für Gott seien«, Pseudo-Engelhart von Ebrach: Das Buch der Vollkommenheit, hg. v. Karin Schneider, Berlin 2006 (Deutsche Texte des Mittelalters 86), S. 51. 3 Entscheidende Beiträge zum Verständnis des Erbauungsbegriffs im Mittelalter, auf die unten noch zurückgekommen wird, leisten Susanne Köbele: Erbauung - und darüber hinaus. Spannungen im volkssprachlich-lateinischen Spätmittelalter. Mit Überlegungen zu Gertruds von Helfta Exercitia spiritualia, in: PBB 137.3 (2015), S. 420 - 445; sowie jüngst die Aufsätze in Köbele/ Notz 2019. Für die Frühe Neuzeit, die den Erbauungsbegriff noch einmal grundsätzlich rekonfiguriert, finden sich entsprechende Untersuchungen bei Andreas Solbach (Hg.): Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005. 4 Köbele 2015, S. 421. 284 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="285"?> So lokalisiert der Politologe Francis Fukuyama den Ursprung einer Kehrtwende hin zur eigenen Innerlichkeit, die das Menschenbild des Westens bis heute bestimme, im sächsischen Wittenberg: »the distinction between inner and outer, and the valorization of the former over the latter, starts in an important sense with Luther«. 5 Diese These fällt im Rahmen einer ideengeschichtlichen Meistererzählung, die ihren Ausgang bei der Vorstellung einer nach Anerkennung strebenden Gemütsanlage ( θυμός ) in der platonischen Seelenlehre nimmt und die protestantische Reformation als introspektive Kehre begreift, deren Priorisierung des inneren Menschen sich später bei Rousseau in säkularisierter Form als Annahme einer universellen Menschenwürde entfalte sowie schlussendlich in den Selbstverwirklichungsideologien der Spätmoderne gipfele. Mittels dieses streitbaren philosophiehistorischen Aufrisses versucht Fukuyama, die identitätspolitischen Konflikte der letzten Jahre als in die Aporie weisendes Amalgam europäischer Denktraditionen zu erklären. Dabei bleibt der großangelegte Bogen, den er konstruiert, weitgehend bruchfrei - nur eben mit Luther werde eine vormalige Orientierung hin auf äußere Werke abgelöst durch den Blick auf ein vermeintlich › wahres Selbst ‹ , das im Inneren des Menschen verborgen gelegen habe und nun schließlich nach Erforschung und Würdigung verlange. Der Reformator, so Fukuyama, sei weitgehend »responsible for the notion, central to questions of identity, that the inner self is deep and possesses many layers that can be exposed only through private introspection«. 6 Die Jahrhunderte zwischen dem Ausgang der paganen Spätantike und der Reformation betrachtet der Autor dabei weitgehend als geistesgeschichtliches Interregnum, in dem sich für die Frage nach personaler Identität wenig getan habe. In dieser Sicht erscheint die religiöse Kultur des Mittelalters bestenfalls als wenig durchschlagende Vorläuferin protestantischer Innerlichkeit und ihrer (post-)modernen Erben. Nun mag ein solches Bild aus mediävistischer Perspektive erstaunen, formuliert doch bereits Augustinus programmatisch: Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas. 7 Für die mittelalterliche Frömmigkeit nahm dieses Diktum vielfach Leitbildcharakter an. Die mittelalterlichen Klöster verkörperten beispielsweise, wie Kurt Flasch betont, zumindest ihrem Selbstanspruch nach »die institutionalisierte Wendung nach Innen, d. h. der Erkenntnis der Sünden, der Buße und der Kontemplation«. 8 Damit verbunden ist auch der von Thomas Lentes hervorgehobene Diskurs über die »Identität und Wechselwirkung von Außen und Innen«, der sich im Spätmittelalter vielfach hin zu einer vornehmlichen Konzentration auf das Innere als Ort der Begegnung mit dem Heiligen wandelte und umfassende »Strategien der Innenschulung und Selbsttransfor- 5 Francis Fukuyama: Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment, London 2018, S. 28. 6 Ebd. 7 »Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit«, Aurelius Augustinus: De vera religione. Über die wahre Religion. Lateinisch/ Deutsch, Übersetzung und Anmerkungen v. Wilhelm Thimme, Nachwort v. Kurt Flasch, Stuttgart 2006 (RUB 7971), S. 122 f. [XXXIX, 72]. 8 Kurt Flasch: Wert der Innerlichkeit, in: Die kulturellen Werte Europas, hg. v. Hans Joas u. Klaus Wiegandt, Frankfurt a. M. 2005, S. 219 - 236, hier S. 224. Einen deutlich weiteren, über das Mittelalter hinausreichenden Blick auf die Ideengeschichte der Innerlichkeit bieten die Beiträge in Jan Assmann (Hg.): Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie, Gütersloh 1993. 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst 285 <?page no="286"?> mation« entwickelte. 9 Ausgehend von Augustinus zielte diese introspektive Blickwende hin auf das je eigene Seelische, so Katharina Silke Philipowski, jedoch nicht auf »den Menschen in unserem modernen Sinne, in dem er als Individuum und Person begriffen wird« sondern vielmehr auf »Gott als Ursprung und Ziel der Seele und Ursprung und Ziel des ganzen Menschen.« 10 Denn das Heilige, so die Grundannahme, begegne nicht in den äußeren Dingen der Welt, sondern im tiefsten Inneren des Menschen, der sich in dieser Begegnung selbst zu überkommen vermöge. Für die religiöse Kultur des Mittelalters gestaltete sich diese Vorstellung eines dem Menschen als deus internus einwohnenden, ihn jedoch auch bedingungslos überschreitenden Göttlichen, die dem Alten Testament fremd und wohl über die hellenistische Philosophie ins Christentum eingeflossen ist, als prägend. 11 Innerlichkeit tritt dabei nicht respektheischend als Identitätsposition nach außen, vielmehr verlagern sich äußere Handlungen, Haltungen und Mittel nach innen, wo sie den Menschen tiefgreifend verändern. Fundiert wird dieses Ideal gottsuchender Verinnerlichung durch das in patristischer Zeit unter Rückgriff auf platonische Vorstellungen und die biblischen Paulusbriefe entwickelte Modell des › äußeren ‹ und › inneren Menschen ‹ . Dem geistigen homo interior seien Annäherungen ans Heilige möglich, die dem äußeren, in seiner Körperlichkeit verhafteten Menschen vorenthalten seien. 12 Von einem solchen Verständnis ausgehende Stufenwege des inneren Menschen zu Gott sind in der geistlichen Literatur des Mittelalters ubiquitär. Exemplarisch kann hier die Schrift De exterioris et interioris hominis compositione des Franziskaners David von Augsburg genannt werden. 13 Im gleichen Fahrwasser bewegt sich auch ein Interiorisierungsdenken, in dessen Rahmen äußere Situationen und Eigenschaften als innere Haltungen gedeutet, kultiviert und sublimiert werden, wie beispielsweise Burkhard Hasebrink in Hinblick auf Meister Eckharts Verständnis geistiger Armut zeigt. 14 In Bezug auf die mittelalterliche Frömmigkeitskultur wurde diesbezüglich in der jüngeren Forschung vor allem der jeweilige Umgang mit Imagination und Sinneserfahrung von homo interior und exterior ausgiebig diskutiert. 15 Hierbei darf, so Niklaus Largier, für die monastisch geprägte Gebets- und Andachtspraxis eine gegenseitig amplifizierende Handhabung von innerer und äußerlicher Sinnlichkeit 9 Lentes 1999, S. 31. 10 Katharina Silke Philipowski: Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Erzählliteratur, Berlin/ Boston 2013 (Hermaea. NF 131), S. 37. 11 Vgl. dazu Gerhard Bauer: Claustrum animae. Untersuchungen zur Metapher vom Herzen als Kloster, Bd. 1: Entstehungsgeschichte, München 1973, S. 55 - 61 (weitere Bände sind nicht erschienen). 12 Vgl. zum Überblick C. Markschies: Art. Innerer Mensch, in: RAC 18 (1998), Sp. 266 - 312. 13 Siehe David von Augsburg: Vom äußeren und inneren Menschen, hg. v. Marianne Schlosser, mit einer Einführung von Cornelius Bohl, St. Ottilien 2009. 14 Burkhard Hasebrink: Selbstüberschreitung der Religion in der Mystik. › Höchste Armut ‹ bei Meister Eckhart, in: PBB 137.3 (2015), S. 446 - 460. 15 Siehe z. B. die Beiträge in Fiona Griffiths u. Kathryn Starkey (Hgg.): Sensory Reflections. Traces of Experience in Medieval Artifacts, Berlin/ Boston 2018 (Sense, Matter, and Medium 1); sowie aus vornehmlich kunsthistorischer Sicht Jeffrey F. Hamburger u. Anne-Marie Bouché (Hgg.): The Mind ’ s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, New Jersey 2006. Zu Imagination als »cognitive faculty« (S. 10) des inneren Menschen vgl. ausführlich Karnes 2011. Die › inneren Augen ‹ behandelt mit weiteren Literaturangaben David Ganz: Oculus interior. Orte der inneren Schau in mittelalterlichen Visionsdarstellungen, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. v. Katharina Philipowski u. Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 113 - 144. 286 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="287"?> als charakteristisch gelten, die »the external into the medium for the evocation and production of the internal, and the internal into a medium for the experiential intensity of the external« macht. 16 In Fukuyamas Großnarrativ der Identitätswerdung fehlen diese vielfältigen, christlichreligiös geprägten Auffassungen und Praktiken des geistigen und geistlichen Umgangs mit sich selbst, die im immanentesten Eigenen nach der Begegnung mit der Transzendenz, also dem inkommensurabel Anderen suchten. Dies erstaunt wenig, stehen derlei vormoderne Innerlichkeitskonzepte mitunter doch geradezu konträr zu den Entwicklungslinien eines expressiven modernen Identitätsbegriffs, auf dessen Kritik Fukuyama abzielt. Folgend nun gerät ein Auswahlkorpus geistlicher Texte in den Blick, in denen die Vorstellung des menschlichen Inneren als Schauplatz der (vielfach sinnlich und erfahrungshaft vorgestellten) Gottesbegegnung verbunden wird mit der Aufforderung und Anweisung zur Innenkehr und bessernden Selbsttransformation. Dazu entfalten diese Schriften ein ebenso prägnantes wie traditionsreiches Bild: das innere Gebäude, das im und aus dem Herzen, der Seele oder dem Gewissen des christlichen Menschen in mühevoller geistiger Bautätigkeit errichtet, ausgestattet und aufrechterhalten werden soll. Je nach Spielart können sich solche Projekte der Seelenarchitektur dabei eher als paideutisch orientierte und mnemotechnisch operationalisierbare Tugendallegorien, als auf religiöse Perfektion zielende Instrumente der Selbstfiguration in der Frömmigkeitspraxis oder als die selbstreflexive Innenschau erleichternde Psychogramme gestalten. Stets aber zielen sie schlussendlich darauf ab, das Innere des Menschen durch Kontemplation, Meditation und Gebet so zu formen, dass es bereit sei für die Möglichkeit einer gnadenhaften Einwohnung Gottes, die auf eine letzthinnige Abkehr des Menschen von sich selbst in der unio vorwegweist. Der Anfang eines vielverbreiteten Kommuniongebets aus dem 15. Jahrhundert illustriert, wie sehr sich die Implikationen dieses Innerlichkeitsbildes abgrenzen von jenen Ideen eines als stets vorgängig gedachten und nach Verwirklichung strebenden › wahren Selbst ‹ , die Fukuyama an der Wurzel gegenwärtiger Identitätsdiskurse lokalisiert. Das in Texten wie diesem aufgeworfene architektonische Verständnis des homo interior kann zugespitzt verstanden werden als transzendent orientiertes und stets gnadenbedürftiges, dabei aber doch innerhalb der Grenzen menschlicher Möglichkeiten dynamisches und auf ethisch eigenverantwortete Selbstformung abhebendes Gegenbild zur »affirmation of inner identity« der Spätmoderne und ihrer Annahme, »that human happiness depended on the liberation of that self from social constraint«: 17 Herr Jhesu Criste ich glaub, das ich dich waren got und mensch enpfangen hab, d[o]ch laider in die unberaiten wüsten herberg meins wilden hertzen und meiner sündigen sel. Ich danck dir, milter suser got, deiner unmessigen mynne, deiner untzellichen gnaden und deiner tieffen diemütikeit, daz du ewiger got und mensch in mein sündige sel gerücht hast ze kummen. 18 16 Largier 2014, S. 69. 17 Fukuyama 2018, S. 97 f. 18 »Herr Jesus Christus, ich glaube, dass ich dich wahren Gott und Menschen empfangen habe, doch leider in der unbereiteten Herberge meines wilden Herzens und meiner sündhaften Seele. Ich danke dir, großzügiger und süßer Gott, für deine maßlose Liebe, deine unzähligen Gnaden und deine tiefe Demut, durch die du ewiger Gott und Mensch dich herabgelassen hast, in meine Seele zu kommen.« Zitiert nach der zwischen 1458 und 1462 niedergeschriebenen und aus dem Besitz Hartmann Schedels stammenden Handschrift München, BSB, Cgm 484, fol. 81v. Parallel überliefert ist der Text z. B. auch 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst 287 <?page no="288"?> Der Empfang der Kommunion ist hier präsentiert als innig herbeigewünschte Einkehr Christi in die Seele und das Herz des Betenden, die in der konkret-anschaulichen Form einer Herberge vorgestellt sind. Nicht die Affirmation der Identität des Betenden, sondern vielmehr die Offenheit für das Andere der Transzendenz steht am Fluchtpunkt des Textes. Dabei bildet die in abgewandelter Form in der Messliturgie verwendete Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum (Mt 8,5 - 13), in der Jesus angesprochen wird mit den Worten »Herr, ich bin es nicht wert, dass du unter mein Dach eintrittst« (Mt 8,8), 19 den biblischen Motivhintergrund. Das Innere des Menschen erscheint so einerseits als Haus des Herzens, in dem Christus empfangen wird und das sich durch diesen Empfang als Wohnstätte des Heiligen darbietet - andererseits aber ist es auch unberait, wüst und wild, bedarf also der Aufrichtung und Umformung durch Glauben und Gnade. Die Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters fasste eine solche Formung und Bildung hin auf das Heilige oftmals mit dem Bild des geistlichen Baus. Wie die unten besprochenen Texte illustrieren, werden hierbei oftmals nicht nur der Kommunionempfang, sondern auch verschiedene Frömmigkeitsübungen im oben anskizzierten Sinn als Vorgänge der Erbauung vorgestellt, die unter gnadenhafter Mitwirkung Gottes den Menschen zur Heimstatt des Heiligen gestalten sollen. Mit der von Fukuyama problematisierten modernen Idee eines › wahren ‹ inneren Ich, das expressiv und im Verlangen nach Anerkennung nach außen drängt, hat dies wenig gemein, zumal hier eine Identitätsvorstellung aufscheint, die nicht auf Ausdruck, Würdigung und › Verwirklichung ‹ eines vorvorhandenen Selbst abhebt, sondern vielmehr auf eine das eigene Innere in bewusstem Umgang verändernde Hinkehr zum Anderen, hinter deren Horizont die erhoffte Einkehr Gottes steht. Die folgenden Untersuchungen fokussieren sich auf Gebets- und Andachtsübungen, auf als Hilfsmedien der Kontemplation konzipierte dingallegorische Kurzprosastücke sowie auf mit ihnen verwandte Traktatschriften, die auf je eigene Weise eine geistliche Architektur entwerfen, die ein Lesepublikum vermöge introspektiver Frömmigkeits- und Tugendübungen in und aus sich errichten soll. Bereits aus Platzgründen muss das genauer behandelte Textkorpus dabei eingegrenzt werden. Verschiedene benachbarte Bauwerksallegorien können deshalb nicht oder nur am Rande behandelt werden. Hierunter fallen z. B. die in großer Anzahl überlieferten mnemotechnischen Gebäudetexte, zu denen insbesondere Mary Carruthers wegweisende Untersuchungen vorgelegt hat, 20 sowie exegetische Schriften zu den Bauten vor allem des Alten Testaments oder Allegoresen konkreter Kirchen- oder Klostergebäude, die z. B. katechetischen oder sonstigen religiös-didaktischen Zwecken dienen. 21 Auch die in der höfischen Literatur verbreiteten Allegorien und Metaphern z. B. der Minneburg oder Wohnens im Herzen des Geliebten klammere ich trotz ihrer mitunter erstaunlichen Nähe zu entsprechenden geistlichen Motiven aus, auch da die mediävistische Forschung sich ihnen bereits ausin: Augsburg, UB, Cod. III. 1. 8° 6, fol. 160v - 163r; Augsburg, UB, Cod. III. 1. 8° 39, fol. 70r - 71v; München, BSB, Cgm 127, fol. 174r - 176r; Oxford, MS Germ. e. 22, fol. 217r - 219r; Straßburg, BNU, ms. 2748, fol. 139v - 141r. 19 Domine non sum dignus ut intres sub tectum meum. 20 Vgl. besonders Carruthers 1990. 21 Eine erhellende Studie hierzu gibt Jörg Sonntag: Klosterleben im Spiegel des Zeichenhaften. Symbolisches Denken und Handeln hochmittelalterlicher Mönche zwischen Dauer und Wandel, Regel und Gewohnheit, Berlin 2008 (Vita regularis. Abhandlungen 35). 288 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="289"?> giebig gewidmet hat. 22 Stattdessen stehen folgend bislang meist unbeachtete Texte im Zentrum, die zur architektonischen Selbsttransformation ihrer Rezipienten durch Gebet, Andacht und visualisierende Introspektion anleiten. Zur Annäherung an dieses Feld und seine wirkungsästhetischen Implikationen umreiße ich in einem ersten Schritt anhand einiger Beispiele aus der Helftaer Mystik skizzenhaft die in der geistlichen Literatur des späteren Mittelalters verbreitete Motivik der architektonischen Gestalt und Formung des menschlichen Inneren. An zweiter Stelle folgt ein genauerer Blick auf das vielfältige Textkorpus der Herzklosterallegorien des Spätmittelalters. Hierbei handelt es sich um oft im Gebetbuchkontext überlieferte Kurztexte, die das Innere des religiösen Menschen als geistliches Kloster entwerfen, dessen einzelne Bauelemente und Amtsträger aus verschiedenen christlichen Tugenden bestehen. 23 In diesen Texten wird, wie Haiko Wandhoff zusammenfasst, einerseits die »poetische Tradition der Bild- und Architekturbeschreibung (ekphrasis) mit Modellen der zeitgenössischen Psychologie zusammengeschlossen«, 24 um mithilfe der so entfalteten Gebäudeallegorie zugleich Tugenddidaxe und Psychographie zu betreiben. Zusätzlich jedoch, so möchte ich argumentieren, bieten Herzklostertexte auch Skripte für die Selbstformung des Lesers durch introspektiv-kontemplative Praxis an. Wirkungsästhetisch sind sie somit erstens auf einen Prozess der Immersion ins eigene Innere angelegt, das mittels sprachlich evozierter Bilder als Tugendbauwerk versinnbildlicht wird. Dieses soll zweitens in einem Vorgang der inneren Erbauung errichtet werden, der »auf ein sowohl intellektuelles wie moralisches Instruieren und Affizieren hinausläuft« und die Gläubigen nachhaltig zu formen verspricht. 25 Hierbei werden die Architekturbilder, die von Herzklostertexten als Modelle einer dementsprechenden Innenformung aufgezeigt werden, in der Regel wiederum durch historisch-reale oder in der Bibel geschilderte Architekturen präfiguriert. Allegorische Gebäudeschilderungen dienen darin nicht allein der referentiellen Bezeichnung abstrakter Tugendideale durch konkrete Gegenstände, sondern entfalten eine auf Vorbildung und nachahmende Erfüllung abhebende Dynamik des Figurativen, durch die sie im andächtigen Lesepublikum innere Wirklichkeit werden sollen. 22 Zur Herzensmotivik siehe die Arbeiten von Friedrich Ohly: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen (1970), in: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128 - 155; Xenja von Ertzdorff: Das › Herz ‹ in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur, in: PBB (Halle) 84 (1962), S. 249 - 301; Nigel F. Palmer: Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom › Einwohnen im Herzen ‹ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005, hg. v. Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum u. Annette Volfing, Tübingen 2008, S. 197 - 224. Zur Minneburg siehe Annette Volfing: Die › Minneburg ‹ . Texterzeugung als Geschlechtsverkehr, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann u. Anne Simon, Berlin 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 203 - 216. 23 Vgl. dazu neben der umfassenden Studie von Bauer 1973 auch Gerhard Bauer: Art. Herzklosterallegorien, in: 2 VL 3 (1981), Sp. 1153 - 1167 sowie die Nachträge dazu in 2 VL 11 (2004), Sp. 652. Einige verwandte Texte aus dem französischen und englischen Sprachraum bespricht Christiania Whitehead: Making a Cloister of the Soul in Medieval Religious Treatises, in: Medium Aevum 67.1 (1998), S. 1 - 29. 24 Haiko Wandhoff: In der Klause des Herzens. Allegorische Konzepte des inneren Menschen in mittelalterlichen Architekturbeschreibungen, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. v. Katharina Philipowski u. Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 145 - 163, hier S. 147. 25 Köbele 2015, S. 424. 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst 289 <?page no="290"?> Anhand einer Reihe volkssprachiger Textbeispiele, vor allem dem deutschen Herzkloster, seiner Bearbeitung im Buch der Ersetzung des Dominikaners Johannes Meyer sowie verwandten Traktatschriften wie der Geistlichen Klause und dem Geistlichen Haus, nähere ich mich unten den Lektüre- und Vollzugsangeboten dieses Korpus an. Dabei wird auch exemplarisch auf das große Feld der lateinischen Gebäudeallegorik des Mittelalters eingegangen, aus dessen Motivtradition sich die deutschsprachigen Herzklostertexte speisen. Die Linie entsprechender instruktiver Gebäudesinnbilder ist dabei lang - sie reicht von der Psychomachie des Prudentius über den Archentraktat Hugos von St. Viktor und das Claustrum animae Hugos von Folieto bis zu den Traktatschriften zum › Haus des Gewissens ‹ , zu denen Mirko Breitenstein in jüngster Zeit erhellende Untersuchungen vorgelegt hat. 26 Abzugrenzen von derartigen Herzklostertexten, die als dingallegorische Modelle andächtiger Erbauung verstanden werden können, sind geistliche Übungen im eigentlichen Sinne, die gleichsam Konstruktionsanweisungen für ein inneres Bauwerk liefern, das im, vom und aus dem homo interior verwirklicht werden soll. Derartigen Gebets- und Andachtsbauten ist ein drittes Unterkapitel gewidmet, in dessen Zentrum die von André Schnyder herausgegebene Geistliche Padstube aus dem Umfeld der Straßburger Ursulabruderschaft, das niederdeutsche Geistliche Weihnachtshaus sowie mit der Constructio domus sive aule Marie eine weitere Gebetsübung des Kartäusers Dominikus von Preußen stehen. 27 Diese drei Texte gehören in das Feld des handwerklichen Betens. Sie leiten, vergleichbar den oben untersuchten Rosenkränzen und Marienmänteln, zu einer individuellen oder gemeinschaftlichen Kumulation großer Zahlen von Standardgebeten und damit verbundener Meditationsübungen an, die sich zum geistlichen Gebäude verdichten sollen, das gleichzeitig als Selbstwahrnehmungswirklichkeit der Betenden, als allegorischer Gegenstand der Betrachtung wie auch als gebethaft figurierte Stätte des Heiligen im eigenen Inneren erscheint. Zuletzt tritt mit dem Geistlichen Herzensempfang eine aus dem Colmarer Dominikanerinnenkloster Unterlinden überlieferte Andachtsübung für ein Nonnenpublikum in den Fokus, 28 die dazu anleitet, die eigene Seele in Vorbereitung auf den Kommunionempfang für den Besuch und die Bewirtung Christi einzurichten. Dieser Text steht damit in der Motivtradition des eingangs angeführten Kommuniongebets. Denkbar stark lenkt er den Fokus auf die Wirkhoffnung derartiger geistlicher Übungen, die in der Selbsttranszendierung des sich im Vollzug des Textes zur Wohnstatt des Heiligen formenden Menschen liegt. 26 Mirko Breitenstein: Der Traktat Vom Inneren Haus. Verantwortung als Ziel der Gewissensbildung, in: Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs, hg. v. Mirko Breitenstein, Stefan Burkhardt u. Julia Dücker, Berlin 2012 (Vita regularis 48), S. 263 - 292; sowie Ders.: Das › Haus des Gewissens ‹ . Zur Konstruktion innerer Räume im Religiosentum des hohen Mittelalters, in: Geist und Gestalt. Monastische Raumkonzepte als Ausdrucksformen religiöser Leitideen im Mittelalter, hg. v. Jörg Sonntag, unter Mitwirkung von Petrus Bsteh, Brigitte Proksch u. Gert Melville, Berlin 2016 (Vita regularis 69), S. 19 - 55. 27 André Schnyder: Die geistliche Padstube. Eine spätmittelalterliche Andachtsübung, in: ZfdA 113.2 (1984), 146 - 157; vgl. auch Hiram Kümper: Seelenbad und Geistliche Wirtschaft. Noch einmal zur Allegorie der Badstube in spätmittelalterlichen Andachtsübungen, in: ZfdA 139.1 (2010), S. 87 - 99. Zu Dominikus ’ Constructio vgl. Klinkhammer 1972, S. 16 f. 28 Editionen des Geistlichen Herzensempfangs, des Geistlichen Weihnachtshauses und der Constructio des Dominikus von Preußen finden sich im Appendix dieser Untersuchung. 290 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="291"?> 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik 2.1 Visionen göttlicher Einwohnung: Herzenshäuser im Liber specialis gratiae Der Liber specialis gratiae, der vom Gnadenleben und den Offenbarungen der Helftaer Schwester Mechthild von Hackeborn erzählt und hierbei immer wieder auch Einblicke in die in spätmittelalterlichen Frauenklöstern gepflegte Frömmigkeitskultur erlaubt, 29 berichtet in seinem zweiten Buch knapp von einer Vision, die der mystisch begabten Nonne beim Besuch einer Marienmesse zuteilgeworden sei. Wie durch ein Brennglas leuchten dort der Gegenstand dieses Kapitels, das in Gebet und Andacht herzustellende Herzenshaus, sowie die vorweg untersuchte Idee einer Gabenökonomie des handwerklichen Betens auf. Bereits durch ihren Titel weist sich die kurze Episode als implizite Aufforderung zu einer Herrichtung des Herzens zur Heimstatt des Heiligen aus: Qualiter homo cor suum deo pr ӕ ponet ad inhabitandum ist sie in der Wolfenbütteler Handschrift überschrieben, die der Edition der Benediktiner von Solesmes zugrunde liegt. 30 Als, so beginnt die Schilderung des Gnadenerlebnisses, an einem Samstag der Introitus Salve sancte parens gesungen wurde, wandte sich Mechthild, inspiriert von den liturgischen Worten, 31 mit der gebethaft vorgetragenen Bitte an Gott, er möge sie dazu befähigen, Maria mit Lobpreis und göttlichen Geschenken so zu überschütten, wie es keiner anderen Königin je geschah. 32 Nach den Ausführungen der vorangegangenen 29 Vgl. zu diesem Werk überblickshaft Margot Schmidt: Art. Mechthild von Hackeborn, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 251 - 260; sowie, insbesondere zum Kontext und zur Entstehungsgeschichte des Liber specialis gratiae, Ruh 1993, S. 301 - 314. Die Rezeption des Liber in Spätmittelalter und Früher Neuzeit rekonstruiert aufschlussreich Linus Ubl: Konstruktion und Manifestation von › Frauenmystik ‹ . Rezeptionsdynamiken in der oberdeutschen Überlieferung des Liber specialis gratiae. Tübingen 2023 (Bibliotheca Germanica 78). Ich danke Linus Ubl sehr herzlich dafür, dass er mir sein Manuskript vor Veröffentlichung zur Lektüre überlassen hat. Verwendet wird in bisheriger Ermangelung einer neueren Edition die bereits geschichtsträchtige lateinische Ausgabe der Benediktiner von Solesmes. Eine deutsche Übersetzung findet sich in Mechthild von Hackeborn: Das Buch der besonderen Gnade. Liber specialis gratiae, übers. u. eingeleitet v. Klemens Schmidt, Münsterschwarzach 2010 (Quellen der Spiritualität 2). 30 »Wie der Mensch sein Herz für Gott zur Einwohnung herrichten soll«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 178 [II,33]. Inwiefern derartige, oft äußerst interpretierende Kapitelüberschriften zum ursprünglichen Textbestand des Liber specialis gratiae gehören oder erst im späteren Verlauf der Überlieferung hinzukamen, müsste durch eine noch ausstehende kritische Neuedition geklärt werden. Insbesondere da die der Edition von 1877 zugrundeliegende Handschrift (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, cod. 1003 Helmst.) erst um 1370, also mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Abfassung des Werks niedergeschrieben wurde, scheint diese Frage berechtigt, kann hier aber nicht weiter behandelt werden. 31 Auf die Dynamiken solcher durch die Liturgie angestoßenen Visionsepisoden bei Mechthild von Hackeborn wird exemplarisch eingegangen bei Bleumer/ Emmelius 2022, S. 191 - 194. 32 Mechthild spricht zu Gott in Form eines kurzen Bittgebets: O si nunc amore tuo, amantissime Deus, reverendissimam Matrem tuam laudibus attollere, et muneribus tuis regiis tantum honorare possem, <?page no="292"?> Kapitel zu gebeteten Blumen- und Kleidungsgeschenken verwundert die Idee der frommen Herstellung geistlicher Gaben für Maria, die hinter Mechthilds Anliegen steht, nicht. Allerdings wird diese Vorstellung in dem Visionsbericht, der gleichsam als Erhörung auf den Wunsch der frommen Schwester folgt, komplex gebrochen und gnadentheologisch entproblematisiert. Gott nämlich erscheint in Begleitung zweier Engel, die eine Art weißen Geschenkbeutel tragen, in dem sich ejus bona opera befinden, 33 wobei die grammatikalische Form des lateinischen Personalpronomens es offen lässt, ob es sich hierbei um Mechthilds oder Gottes gute Werke handelt - eine erste und subtile Anspielung auf die Einheit der gläubigen Seele mit Gott, die gleichsam am Fluchtpunkt des so erzählten Gnadenerlebnisses steht. In diese übernatürliche Börse ungeklärten Besitzverhältnisses nun legt Gott verschiedene Geschenke (xenia) sowie ein kleines goldenes Kreuz, das die p œ nalitas anim ӕ illius bezeichnet, wobei ein zweites Mal mit grammatikalischer Doppeldeutigkeit gespielt wird, denn sowohl die menschheitserlösende Leidensbereitschaft Christi wie auch diejenige der im Sinne einer imitatio auf Christusförmigkeit hinstrebenden Seele Mechthilds könnten hier bezeichnet sein. Im Gegenzug für diese Gnadengabe nun nimmt Gott aus dem Säckchen lediglich eine Lilie heraus, ein verbreitetes marianisches Blumensymbol, 34 das sowohl als Mechthilds mariengleiche Reinheit oder, man denke beispielsweise an das Mirakel von der gebeteten Ave-Maria-Lilie aus dem Alten Passional, als ihr während der Messe dargebrachtes Gebet gelesen werden kann. 35 Diese Blume heftet sich Gott zur Freude der Visionärin anschließend als Schmuck an die Brust. In höchster Luzidität veranschaulicht der Liber specialis gratiae an dieser Stelle die Kernelemente der Frömmigkeitsübungen, denen sich oben genähert wurde. Sowohl die Idee eines geistlichen Gabentauschs, bei dem die fromme Seele für vergleichsweise Kleinigkeiten wie eine Gebetslilie im Gegenzug überreich beschenkt wird, als auch die Vorstellung einer dinghaften Konkretisierung von Tugendakten und Frömmigkeitsleistungen, die Mechthild als Schmuckstücke und Blumen schaut, und das Prinzip einer zählenden Akkumulation derartiger geistlicher Gaben, die in der Bildwelt der Vision in einem Beutel gesammelt werden, sind hier aufgegriffen. Zudem wird, ähnlich wie im zuvor behandelten Pallium des Dominikus von Preußen doch in ungleich stärkerer Verdichtung, 36 die allein auf Gott zurückzuführende Gnadenhaftigkeit der von Mechthild darzubringenden geistlichen Geschenke verdeutlicht. Denn der weiße Beutel, der die Gaben enthält, mit denen sie ihrem die Vision einleitenden Wunsch zufolge Maria geradezu überhäufen möchte, muss dazu ja vorerst von Gott aufgefüllt werden, so dass die Helftaer Schwester die ihr somit gnadenhaft gewährten Zueignungen an die Gottesquantum unquam regina aliqua potuit venerari! (»O geliebtester Gott, könnte ich doch [nun durch Deine Liebe] Deine so hoch zu verehrende Mutter so mit Lobpreis überschütten und mit Deinen königlichen Geschenken so ehren, wie es noch nie einer Königin geschehen ist«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 178 [II,33]; Übersetzung Schmidt 2010, S. 181). 33 Ebd. Die Übersetzung von Schmidt 2010, S. 181, verkennt die geschickte Ambiguität der Pronomina ejus und illius in dieser Visionsschilderung leider. 34 Zur Lilie als marianischem Jungfräulichkeits- und Reinheitssymbol vgl. z. B. Hahn 1992; sowie Heinrich u. Margarethe Schmidt: Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, München 2018, S. 242. 35 Ediert bei Richert 1965, S. 80 - 83. Vgl. hierzu die Überlegungen in Buschbeck 2022b, S. 41 - 43. 36 Siehe dazu oben, Kap. III.3.2. 292 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="293"?> mutter weiterreichen kann. Hierbei lässt es der Liber specialis gratiae, wie erwähnt, dank sprachlicher Raffinesse im Dunkeln, ob der präsentierte Gabenschatz nun überhaupt Mechthild oder nicht viel eher in letzter Instanz Gott zugehörig ist. Es schiene also einstweilen naheliegend, Mechthilds Vision als bildgewaltigen und in seinen theologischen Implikationen komplexen Kommentar zu sich um 1300 allmählich entwickelnden Frömmigkeitspraktiken zu verstehen, die auf geistliche Gabenfertigung sowie kumulative Frömmigkeitsleistungen abheben und im 15. Jahrhundert dann in Form beispielsweise des Rosenkranz- und Mantelbetens ihren Verbreitungshöhepunkt finden. Jedoch geht Mechthild noch weiter. Nachdem ihre Gabenbörse für Maria von Gott gefüllt wurde, bittet sie darum, ein Gegengeschenk machen zu dürfen und fragt implizit danach, was ihren unvergleichbaren Gesprächspartner denn am meisten erfreute: Eia pr ӕ cordiales dilecte mi, utinam de corde meo delectabilissimum et tibi decentissimum tibi xenium facere possem! 37 Die göttliche Antwort darauf erstaunt und leitet direkt auf den Gegenstand der nun folgenden Untersuchungen hin. Kein Geschenk, so erfährt es Mechthild am Höhepunkt ihrer sich zur Offenbarung steigernden Vision, sei Gott angenehmer, als wenn sie aus ihrem Herzen ein kleines Haus mache, in dem er anschließend dauerhaft wohnen könne: Nullum delectabilius atque mihi carius xenium mihi poteris exhibere, quam si domunculam inde mihi facias, in qua sine intermissione habitem et delecter. 38 Die höchste geistliche Gabe, so lassen sich diese Worte fassen, besteht nicht aus Lobpreis oder gebeteten Kränzen und Kleidern, sondern aus der menschlichen Seele selbst, die sich bewusst zur überstofflichen Wohnstatt figuriert, in der das Heilige einwohnen kann. Dieses Bild trägt ambitionierte Züge. Im spezifischen Kontext der Helftaer Mystik weist es in erster Linie auf die unio mystica, die als Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen den stets prekären Wunsch- und Zielpunkt religiösen Schreibens darstellt. Dabei wird Einheit, wie Burkhard Hasebrink aufzeigt, von den Helftaer Autorinnen mitunter als »Besitz einer gemeinsamen Form« verstanden. 39 Die Vorstellung vom beständigen Einwohnen Gottes im eigens dazu geformten Herzen veranschaulicht eine demgemäß als Aufgehen der Seele in einem einic ein begriffene Konzeption der unio. Zumindest in diesem Punkt steht Mechthilds von Hackeborn Vision den Einheitsschilderungen aus dem Fließenden Licht der Gottheit ihrer bekannteren Namensvetterin und Ordensschwester Mechthild von Magdeburg nahe. Ich bin in dir und du bist in mir, / wir mo ᵉ gen nit naher sin, / wan wir zwo ᵉ i sin in ein gevlossen / und sin in ein forme gegossen, heißt es dort im dritten Buch. 40 Diese chiastische Formulierung, die in der Betonung des gegenseitigen Ineinan- 37 »O Du mein von Herzen Geliebter, könnte ich doch aus meinem Herzen Dir das herrlichste und [Dir] würdigste Geschenk machen! «, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 178; Übersetzung Schmidt 2010, S. 181. 38 »Du könntest mir kein Geschenk machen, das mich mehr erfreut und meiner würdiger ist, als wenn du mir in deinem Herzen ein kleines Haus bereiten würdest; in ihm könnte ich dann in Zukunft [ohne Unterbrechung] wohnen und mich erfreuen«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 178; Übersetzung Schmidt 2010, S. 181. 39 Burkhard Hasebrink: ein einic ein. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur, in: PBB 124.3 (2002), S. 442 - 465, hier S. 447. 40 »Ich bin in dir und du bist in mir, / wir können nicht näher sein, / denn wir zwei sind zusammengeflossen / und sind in eine Form gegossen«, Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, S. 168 f. [III,5]. 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik 293 <?page no="294"?> ders zugleich die »Zweiheit der Geliebten« und damit ihre Nicht-Einheit zum Ausdruck bringt, 41 ist, wie unten näher erläutert wird, Mechthilds von Hackeborn Entwurf eines göttlich bewohnten Herzenshauses eng verwandt. Der Liber specialis gratiae kann mit der Aufforderung, das Innere des Menschen zur Heimstatt des Göttlichen zu formen, auf eine weitreichende Motivtradition zurückgreifen, die in der älteren mediävistischen Forschung vor allem Friedrich Ohly, Gerhard Bauer und Xenja von Ertzdorff quellenreich nachgezeichnet haben. 42 Bereits im Epheserbrief wünscht der Apostel Paulus den Gläubigen, »dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohnt, verwurzelt und begründet in der Liebe« (Eph 3,17). 43 Inwieweit schon hier eine pastorale Wende hin zum individuellen Inneren auszumachen ist oder ob, wie Philipp Vielhauer argumentiert, die Metaphorik des geistlichen Bauens und Einwohnens im so Gebauten im Neuen Testament »nie das › erbauende ‹ Individuum, sondern immer die Gemeinschaft visiert«, 44 stellt eine strittige Frage dar. 45 Spätestens aber bei Augustinus, dessen Schriften »im gesamten Bereich des philosophischen Denkens eine entscheidende Wandlung« hin zu neuen Anschauungen menschlicher Innerlichkeit auslösten, 46 wird die paulinische Metaphorik des göttlichen Einwohnens mit großer Emphase auf die eigene Seele bezogen: quis dabit mihi, ut venias in cor meum et inebries illud, ut obliviscar mala mea et unum bonum meum amplectar, te? [ … ] Angusta est domus animae meae, quo venias ad eam: dilatetur abs te. ruinosa est: refice eam. 47 Diese und ähnliche Passagen trugen einerseits bei zur Etablierung der Metapher vom Herzen als »Ort, der den Menschen in seiner Gesamtheit und in seiner Individualität, in seiner unauswechselbaren Persönlichkeit umschließt.« 48 Andererseits gaben sie Anstoß zur Verbreitung des Bildes vom Herzinnenraum, in den Gott einkehren kann - das obige »Augustinuswort steht am Anfang einer langen Tradition vom Einwohnen Gottes im Herzen oder in der Seele«. 49 In der lateinischen Literatur des Hochmittelalters ist das entsprechende Bild vom Herzenshaus und seiner Errichtung oder Reinigung überaus geläufig und wird varian- 41 Hasebrink 2002, S. 447. 42 Vgl. Ohly 1977c; von Ertzdorff 1962; Bauer 1973. 43 habitare Christum per fidem in cordibus vestris in caritate radicati et fundati. 44 Philipp Vielhauer: Oikodome. Das Bild vom Bau in der christlichen Literatur vom Neuen Testament bis Clemens Alexandrinus, in: Ders.: Oikodome. Aufsätze zum Neuen Testament, Bd. 2, hg. v. Günter Klein, München 1969 (Theologische Bücherei 65), S. 1 - 168, hier S. 108. 45 Das Bild des inneren Baus zeigt sich wohl eher, so Susanne Köbele, in der paulinischen Tradition als »zwischen den Polen Ekklesiologie und Seelsorge wechselnd« (Köbele 2015, S. 421). 46 Wolf Gewehr: Zu den Begriffen anima und cor im frühmittelalterlichen Denken, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 27.1 (1975), S. 40 - 55, hier S. 51. 47 »Wer hilft, daß du einkehrst in mein Herz und es trunken machst, daß ich vergesse mein Elend und dich umfasse, mein einziges Gut? [ … ] Zu eng ist meiner Seele Haus, als daß du eingehen möchtest bei ihr, mach du es weit. Zu baufällig ist es, stell es wieder her«, Aurelius Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch, übers. v. Wilhelm Thimme, mit einer Einführung v. Norbert Fischer, Düsseldorf/ Zürich 2004 (Sammlung Tusculum), S. 14 f. 48 von Ertzdorff 1962, S. 261. 49 Palmer 2008, S. 202. 294 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="295"?> tenreich verwendet. 50 So fordert Hugo von St. Viktor, von dessen Gebetslehre oben bereits die Rede war, 51 die Leser seiner Schrift De arca Noe morali dazu auf: Ingredere ergo nunc si secretum cordis tui, et fac habitaculum Deo, fac templum, fac domum, fac tabernaculum, fac arcam testamenti, fac arcam diluvii, vel quocunque nomine appelles, una es domus Dei. 52 Auf die biblischen und ideengeschichtlichen Grundlagen derartiger Sprachbilder, die auf der voraussetzungsreichen Vorstellung eines (zumindest potentiell) im Menschen anwesenden deus internus gründen, sowie auf ihre Implikationen für die Konzeption des Verhältnisses zwischen dem menschlichen Individuum und seinem Gott wird weiter unten noch genauer eingegangen werden müssen. An dieser Stelle sei lediglich einleitend auf die bereits im Bild vom inneren Haus angelegten produktiven Spannungen und Paradoxien hingewiesen. So beschreibt es, scheinbar widersinnig, einen Idealzustand, in dem durch den Einzug Gottes in das Herz des Gläubigen das Transzendente dem Immanenten immanent werden soll. Dies erfordert, wie Friedrich Ohly es formulierte, ein »Wunder der Einwohnung des Unendlichen im Endlichen, des Weiten in der Enge, des Großen im Kleinen«. 53 Die jüngere Forschung ist mitunter davon abgekommen, hier, wie Ohly es noch voraussetzte, in starker Stufenfolge von einem determinierenden Einfluss christlich-philosophischen Gedankenguts auszugehen, das in den Sprachbildern der Offenbarungs- und Gebetbuchliteratur seinen unterkomplexen Niederschlag gefunden habe und schließlich gleichsam osmotisch in den Minnediskurs der höfischen Literatur eingeflossen sei. Gegen ein derartig hierarchisierendes grand narrative gerichtet zeigt Nigel F. Palmer auf, wie das Bild vom Wohnen des oder der zu großen Geliebten im zu kleinen Herzen, das »metonymisch für die Gesamtheit der menschlichen Persönlichkeit« steht, in einer Bandbreite geistlicher wie weltlicher »Textgattungen mit einem jeweils eigenen Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch« in je unterschiedlichen Diskurskontexten eigenständig und produktiv entfaltet wird. 54 Das Motiv des Wohnens im zu engen Herzen erlaube dabei auf der einen Seite die erklärende Thematisierung der je verschieden zu deutenden Anwesenheit des Geliebten im Geist des Liebenden, die sich in einem »körperliche[n] Empfinden von inneren Erlebnissen« manifestiert. 55 Andererseits weist auch Palmer auf die oftmals ins Paradoxe gleitende Bildlichkeit dieses Motivs hin. Denn insbesondere in der Liebessprache der Mystik sei eine solche innere Anwesenheit zumeist als räumlich unmögliche Gegenseitigkeit angelegt: dem »literarischen Muster der Einwohnung Gottes im Herzen des 50 Siehe dazu neben den Ausführungen bei Bauer 1973 und von Ertzdorff 1962 vor allem die immense Menge an Belegstellen, die gesammelt sind bei Friedrich Ohly: Art. Haus III (Metapher), in: RAC 13 (1986), Sp. 905 - 1063, insb. Sp. 977 - 1007 (zum Bild des Herzens als Gebäude). 51 Vgl. die Einleitung dieser Studie. 52 »Tritt nun ein ins Geheimnis deines Herzens, und mache für Gott eine kleine Wohnung, mache einen Tempel, mache ein Haus, mache einen Tabernakel [d. h. das Bundeszelt], mache die Bundeslade, mache die Arche der Flut, doch gleich bei welchem Namen du es nennst: Eins ist das Haus Gottes«, Hugo von St. Viktor: De arca Noe morali, in: Patrologia Latina 176 (1854), Sp. 617 - 680, hier Sp. 621 f. 53 Ohly 1977c, S. 143 f. 54 Palmer 2008, S. 207 u. 221. 55 Ebd., S. 215. 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik 295 <?page no="296"?> Menschen« entspricht als notwendiges Gegenstück die »Entrückung des menschlichen Herzens in die Gegenwart Gottes«. 56 Eine weitere Visionsepisode aus dem Liber specialis gratiae verdeutlicht dieses Ausdruckspotential ebenso wie die stets prekäre Spannkraft des an der Oberfläche undenkbaren Bildes einer gegenseitigen Einkehr, die in wechselseitiger Umschließung mündet. Im Kontext der Feier des Ostersonntags, so berichtet der Text, sei Mechthild in einer Vision ein pulcherrimam domum excelsam et amplam gezeigt worden. 57 Innerhalb dieses großen Hauses, das der Text sogleich als das Herz Gottes identifiziert, welches die heiligmäßige Schwester schon in früheren Visionen oftmals geschaut habe, befindet sich ein zweites, kleineres Gebäude, ein domunculam factam ex lignis cedrinis, interius laminis argenteis valde splendidis coopertam. 58 In diesem Häuschen, dessen prachtvolle Beschreibung die materialitätsfokussierte Schönheits- und Kostbarkeitsmetaphorik des Hohelieds anklingen lässt, 59 erkennt Mechthild ihre eigene Seele, die in der architektonischen Topographie der Vision im Herzen Gottes angesiedelt ist, gleichzeitig aber auch von ihm bewohnt wird - denn in cujus medio Dominus residebat. 60 Mechthilds Seelengebäude besitzt, gleich dem salomonischen Tempel, 61 eine nach Osten ausgerichtete Tür mit einem goldenen Riegel, die allegorisch als ihre Sehnsucht nach (desiderium) und ihr Wille (voluntas) zu Gott ausgelegt werden. An dem Riegel ist zudem eine die göttliche Sehnsucht bedeutende goldene Kette befestigt, die bis in das Herz des in diese Wohnstatt eingekehrten Gottes reicht - und damit also zu jenem Ort führt, der Mechthilds Seele gleichsam umschließt und von ihr im Innersten umschlossen wird. Jeffrey F. Hamburger bringt die Dynamik dieser reziproken Herzenseinschließung auf den Punkt: »Mechthild ’ s heart both contains and is contained by the Deity«. 62 Mechthilds von Magdeburg chiastische Einheitsumschreibung Ich bin in dir und du bist in mir 63 könnte wohl kaum anschaulicher ins Bild gesetzt werden als in dieser sich bei genauerem Hinsehen als spatial widersinnig entpuppenden Schachtelarchitektur des Liber specialis gratiae. Und selbst wenn Gott an die Visionärin gerichtet das ihr gewährte Gnadenerlebnis tropologisch 56 Ebd., S. 212. 57 »ein wunderschönes Haus, sehr hoch und sehr geräumig«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 61 [I,19]; Übersetzung Schmidt 2010, S. 74. 58 »ein kleines Häuschen, aus Zedernholz [erbaut], innen mit [überaus prächtigen] Platten aus Silber geschmückt«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 61 [I,19]; Übersetzung Schmidt 2010, S. 74. 59 Vgl. z. B. das Lob des Geliebten in Ct 8,9: si murus est aedificemus super eum propugnacula argentea, si ostium est conpingamus illud tabulis cedrinis (»Wenn sie eine Mauer ist, wollen wir Schutzwehren aus Silber auf ihr errichten. Wenn sie ein Tor ist, wollen wir es mit Brettern aus Zedern verstärken«). Der Liber specialis gratiae greift hier auf eine lange, bei Bernhard von Clairvaux ihren Ausgang nehmende Tradition der Hoheliedauslegung zurück, die in der Figur der Geliebten die auf die unio mit Gott hinsehnende menschliche Seele erkennt. Auch die alttestamentlichen Schilderungen Jerusalems und des Jerusalemer Tempels scheinen sich in Mechthilds Vision widerzuspiegeln, so beispielsweise II Par 1,15: praebuitque rex argentum et aurum in Hierusalem quasi lapides et cedros quasi sycomoros (»Und der König gewährte Gold und Silber in Jerusalem wie Steine und Zedern wie Maulbeerfeigen«). 60 »In seiner Mitte ruhte der Herr«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 61 f. [I,19]; Übersetzung Schmidt 2010, S. 74. 61 Vgl. Ez 8,16. 62 Hamburger 1997, S. 169. 63 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, S. 168 [III,5]. 296 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="297"?> auslegt, wird die im Bild des gegenseitigen Einwohnens angelegte Unvorstellbarkeit nicht aufgelöst, sondern eher noch betont: Sic anima tua semper est in Corde meo inclusa et ego in corde anim ӕ tuae. Et licet in intimis tuis me contineas, ita ut intimior sim omni intimo tuo. 64 Die so erläuterte Herzensarchitektur illustriert zunächst den Ausdruckswert der Herzensraummetaphorik für das stets auf der Schwelle zum Unsagbaren balancierende Sprechen über die mystische Einheit in der Viten- und Offenbarungsliteratur des späteren Mittelalters. Dabei erweist sich das innere Haus zudem als produktives Sprachbild, das es erlaubt, auf anschauliche Weise über die unio zu reflektieren, ohne hierbei komplexitätsreduktiv das dem Einheitsbegriff inhärente Spannungsmoment auszublenden, das auf dem grundsätzlichen Dilemma beruht, dass ein Sprechen über die Einheit nur aus einer Perspektive der Differenz und damit Entzweitheit überhaupt möglich ist. 2.2 Wörtliche › Erbauung ‹ : Die Konstruktion einer inneren Arche bei Gertrud von Helfta Wie aber soll ein solches inneres Gebäude entstehen und wie kann der gnadenbedürftige Mensch daran mitwirken? Obzwar Mechthild zur Formung ihrer selbst zur göttlichen Wohnstatt explizit aufgefordert wird, gibt der Liber specialis gratiae hierauf keine Antwort. Ein Blick auf ein weiteres Schlüsselwerk der Helftaer Mystik, Gertruds Legatus divinae pietatis, dessen geistliche Kleiderentwürfe oben bereits diskutiert wurden, erweist sich diesbetrefflich hingegen als erhellend. In einer Visionsepisode im vierten Buch des Legatus bittet Gertrud, inspiriert von dem in der Liturgie gesungenen Responsorium Benedicens ergo Deus Noe ait, 65 Gott um Anweisungen, wie sie ihm in der Folgewoche selbst eine Arche errichten könne. Die Parallelen zur oben behandelten Passage aus dem Liber specialis gratiae sind unübersehbar, und auch hier gibt der göttliche Dialogpartner eine Antwort, die auf die Errichtung des - in diesem Falle schiffsartigen - Baus im Inneren der Visionärin abzielt: Arcam mihi acceptabilissimam in corde tuo fabricabis. 66 Das hier anklingende Motiv des geistlichen Schiffbaus darf als Sonderform des inneren Gebäudes gelten, wobei zu vermuten ist, dass 64 »So ist deine Seele immer in meinem Herzen eingeschlossen, und auch ich bin [im Herzen] deiner Seele. [Und so geht es an], dass du mich in deinem Inneren bewahrst, ja so, dass ich [innerlicher bin als all dein Inneres]«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 62 [I,19]; Übersetzung nach Schmidt 2010, S. 75. 65 Es handelt sich hier um das lose auf Gn 8,21 und 9,8 - 15 aufbauende Responsorium zur Mette am Sonntag Sexagesima. Der Text (Cantus ID 600283) ist mit weiteren Hinweisen abgedruckt bei Eckart Conrad Lutz: Arbeiten an der Identität. Zur Medialität der cura monialium im Kompendium des Rektors eines reformierten Chorfrauenstifts. Mit Edition und Abbildung einer Windesheimer › Forma investiendi sanctimonalium ‹ und ihrer Notationen, Berlin/ New York 2010 (Scrinium Friburgense 27), S. 215. 66 »Die mir angenehmste Arche wirst du mir in deinem Herzen bauen«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 156 [IV,14]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 270. 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik 297 <?page no="298"?> auch bei Gertrud die im Mittelalter vielverbreiteten Archenschriften Hugos von St. Viktor einen Anknüpfungs- und Referenzpunkt bilden. 67 Anders als ihre Ordensschwester Mechthild von Hackeborn erhält Gertrud detaillierte Instruktionen, wie sie diesen Prozess der inneren Selbstformung im Rahmen einer geistlichen Übung forcieren könne. Sie müsse, so offenbart es die Vision, jeden Tag der Woche, in der sie ihre Herzensarche errichten möchte, gemäß der in der Bibel erwähnten und den inneren Schiffbau präfigurierenden drei Decks der Arche Noah (vgl. Gn 6,16) in drei Teile einteilen, denen jeweils bestimmte fromme Übungen und Werke zugeordnet seien. Hier zeigt sich, wie eng derartige Vorstellungen des Bauens am homo interior mit der Gebets- und Andachtskultur des späteren Mittelalters und dementsprechenden Texten verknüpft sind. Der erste Teil des Tages nämlich, der vom frühen Morgen bis zur Non reicht, ist ganz dem lobenden und dankenden Gebet gewidmet. Gertrud soll während dieser Zeit laudes et gratiarum actiones ex intimo cordis affectu für das durch Christus in die Welt gekommene Heil, besonders für die Eucharistie, darbringen und so am oberen Teil der inneren Arche bauen, in dem die Vögel untergebracht sind. 68 Die Mittags- und Nachmittagsstunden werden durch Arbeit und gute Werke gefüllt, wodurch das mittlere, für die Menschen bestimmte Deck konstruiert wird. In den Abendstunden von der Vesper an schließlich entsteht drittens der die Tiere beherbergende Teil der Arche, für den Gertrud in Reue innerlich all die poenas et amaritudines meae [i. e. Christi] innocentissimae passionis et mortis durchlaufen, sich also einer Passionsandacht widmen soll. 69 In diesem täglichen Dreischritt, der die für die monastische Lebensform charakteristische Verbindung von Arbeit und Gebet auf durchaus eigenwillige Weise konzipiert, figuriert sich im Herzen der Helftaer Nonne eine Gnadenarche, die Mechthilds göttlicher Gesprächspartner schließlich sogar als sein eigenes, bloß unter menschlicher Mithilfe entstandenes Heilswerk benennt. 70 Ähnliches ließe sich auch für die gewöhnlich Gertrud zugeschriebenen Exercitia spiritualia anbringen, die ab dem 16. Jahrhundert eine breite Drucküberlieferung erfahren. 71 Hierbei handelt es sich um Gebets- und Meditationsübungen, die sich »auf sieben 67 Zu diesen Werken, auf die unten, Kap. IV.2.3, noch etwas genauer eingegangen wird, siehe Christiania Whitehead: Castles of the Mind. A Study of Medieval Architectural Allegory, Cardiff 2003 (Religion and Culture in the Middle Ages), insb. S. 42 - 48. 68 »aus innerstem Herzen [ … ] Lob und Dank[esakte]«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 156 [IV,14]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 270. 69 »Peinen und Bitterkeiten meines [d. h. Christi] unschuldigsten Leidens und Todes«, ebd., S. 158. Übers. Weißbrodt 2010, S. 270 f. 70 Ebenso wie der Liber specialis gratiae und Dominikus ’ von Preußen Pallium kennzeichnet der Legatus divinae pietatis auf diese Weise das Produkt einer solchen Frömmigkeitsübung als göttliches Gnadengeschenk, an dessen Erstellung der Mensch bloß mittelbar Anteil hat. So spricht Gott zu Gertrud: Cur, inquit, ob hoc debet donum meum parvipendi, si cum sensibus tuis, quos ad serviendum mihi creavi, diligentiori studio illud perfeci? (»Warum soll denn mein Geschenk deshalb gering geachtet werden, wenn ich es mittels deiner [Sinne], die ich doch auch zu meinem Dienst erschaffen, [mit] größerer Sorgfalt vollendet habe? «), Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 158 [IV,14]. Übers. nach Weißbrodt 2001, S. 271. 71 Eine handschriftliche Überlieferung fehlt für diesen Text, dessen ältesten Zeugen ein von dem Kölner Kartäuser Johann Justus Lanspergius herausgegebener Druck aus dem Jahr 1536 darstellt. Die Basis für eine Zuschreibung zu Gertrud ist entsprechend schmal, obgleich, so Susanne Köbele, »derzeit alles dafür [spricht], die Exercitia im engsten Umfeld Gertruds und der von ihr entscheidend getragenen Helftaer Literaturproduktion anzusiedeln« (Köbele 2015, S. 438; dort auch weitere Hinweise zu 298 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="299"?> das Ordensleben, aber letztlich das Menschenleben schlechthin bestimmende › Stationen ‹ [beziehen], derer von Zeit zu Zeit an einem eigens dafür bestimmten Tag gedacht werden soll.« 72 Im Sinne eines geistlichen Itinerariums leitet dieser Text zu einer zunächst temporalen Kontemplation eines religiösen Lebenswegs an, der von der Taufe über den Ordenseintritt bis zur Todesvorbereitung reicht. 73 Dieses zeitliche Durchstreifen wird, wie Susanne Köbele aufzeigt, zugleich auch als »Fortschreiten im Raum« spatialisiert. 74 Denn jede der zu meditierenden Lebensstationen entspricht sinnbildlich einem Ort innerhalb der geistlichen Klosteranlage des inneren Menschen, die durch den Vollzug der Exercitia errichtet und zur Wohnstatt des Heiligen gestaltet werden soll. Taufbecken, Chorraum, Brautgemach und Grablege werden so als »raummetaphorisch verdoppelte und synchronisierte Anweisungen zum › Aufbau ‹ einer spirituellen Vollkommenheit im und als Kloster« evoziert, 75 wobei die sprachlichen Gebäudebilder die innere Verfasstheit der Betenden nicht bloß allegorisieren, sondern geradezu präfigurieren. Religiöse › Erbauung ‹ , lateinisch aedificatio, ist im Legatus und den Exercitia ebenso wie in den unten untersuchten Texten nicht als mehr oder minder beliebige Sammelmetapher für all das zu verstehen, was »dem Christen zur Bekräftigung im Glauben, zur Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und zur Anleitung in christlicher Lebensführung dienen« soll. 76 Vielmehr muss der Begriff im Literalsinn als aktiver Vorgang der figurierendarchitektonischen Selbsterrichtung und -transformation begriffen werden, als spirituelle Bautätigkeit am inneren Menschen. Gebet und Andacht stellen dabei, wie das Beispiel von Gertruds innerem Archenbau zeigt, zentrale Techniken einer solchen geistlichen Architektur dar. In einem für ein solches Verständnis von aedificatio entscheidenden Beitrag führt Susanne Köbele aus, wie der im semantischen Feld des Architektonischen metaphorisch fundierte Erbauungsbegriff im Mittelalter sowohl als textuelle und poetologische Metapher Verwendung findet, die auf das schriftliche Werk als vom Autor errichtete Sprachkonstruktion abhebt, als auch im hermeneutischen Bereich das Verfahren der Exegese als Aufstellung eines Interpretationsbaus versinnbildlichen kann. Schließlich aber umschreibt er auch »das Modell einer umfassenden religiösen Wirkungsästhetik ( › Erbauung ‹ )«, die auf einen formenden und figurierenden Eingriff ins Innere des Gläubigen hinausläuft. 77 Zuschreibung und Überlieferungslage). Ediert und übersetzt ist diese Gebets- und Andachtsübung als Getrud von Helfta: Exercitia spiritualia. Lateinisch und deutsch, hg., übers. u. kommentiert v. Siegfried Ringler, Elberfeld 2001. 72 Ruh 1993, S. 333. 73 Eine Inhaltszusammenfassung findet sich ebd., S. 333 - 336. 74 Köbele 2015, S. 439. 75 Ebd., S. 439 f. Hervorhebungen im Original durch Sperrdruck gekennzeichnet. Ich gehe auf die Gebäudebildlichkeit der Exercitia spiritualia und die von ihnen implizierten Modelle der inneren Erbauung des Menschen zum Haus Gottes hier nicht detaillierter ein. Susanne Köbele legt (ebd., S. 436 - 445) diesbezüglich bereits Überlegungen vor, denen sich mein Verständnis dieses Texts bloß anschließen kann. 76 Susanne Schedl u. Dietz-Rüdiger Moser: Art. Erbauungsschriften, in: RLW 1 (1997), S. 484 - 488, hier S. 484. 77 Susanne Köbele: aedificatio. Erbauungssemantiken und Erbauungsästhetiken im Mittelalter. Versuch einer historischen Modellbildung, in: Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in › Erbauungs ‹ - Konzepten des Mittelalters, hg. v. Susanne Köbele u. Claudio Notz, Göttingen 2019 (Historische Semantik 30), S. 7 - 37, hier S. 25. Hervorhebung im Original. 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik 299 <?page no="300"?> Insbesondere letzteres Erbauungskonzept ist für jene Seelen- und Herzenshäuser, die folgend im Vordergrund stehen, fundierend. Angeregt wird eine in diesem Sinne › erbauliche ‹ Wirkungsästhetik vielfach von Texten und anderen Medien, die, wie Jens Haustein in einer Studie zur historischen Semantik von › erbauen ‹ hervorstreicht, den Leser zumeist auf zweifache Weise zur Besserung seiner selbst anleiten. Einerseits folgt religiöse Erbauung einem Programm der wissens- und glaubensvermittelnden »Belehrung«, andererseits bietet sie »ein der Aufrichtung dienendes Vorbild«, nach dem sich der religiöse Mensch, oftmals durch Gebet, Andacht und Introspektion, formen soll. 78 Letztere Vorbilder erhalten bei Gertrud, Mechthild und in den weiter unten fokussierten Textbeispielen getreu der architektonischen Metapher, die den Worten aedificatio und erbûwunge zugrunde liegt, die Form von Gebäudekonstruktionen, die den idealen inneren Menschen und mitunter auch sein Handeln abbilden. Diese architektonischen Bildwelten des Erbauten und zu Erbauenden setzen komplexe Wirkungsangebote um. Allegorisch verstanden bieten sie auf der einen Seite Programme für eine »sehr umfassende affektive, intellektuelle, moralische und ästhetische instructio«, 79 die als Kernbedeutung von › Erbauung ‹ im Mittelalter verstanden werden kann. Dabei kommt der Bildebene des Architektonischen eine zeichenhafte Vermittlungsfunktion zu, für die es durchaus einen Unterschied macht, ob das sprachlich entworfene Gebäude z. B. als Schiff, Kloster, Palast oder Brautgemach gezeichnet ist und wie seine jeweiligen Elemente geschildert und allegorisiert werden. Darauf beruhend jedoch präfigurieren diese Texte auf der anderen Seite auch eine innere Wirklichkeit der Gläubigen, die in der Selbstformung nach dem sprachlich dargebotenen Vorbild entsteht und in deren ästhetisch wirksame Bildlichkeit das Publikum zugleich zu immergieren angeregt ist. 80 So wird eine geistliche Architektur erschaffen, die analog zum Konkretheitsanspruch beispielsweise gebeteter Rosenkränze und Marienmäntel zu verstehen ist. Dies weist über den Bereich des Allegorischen hinaus und schneidet ein in die Sphäre des Figuralen, in der › Erbauung ‹ nicht allein als Vermittlung, sondern darüberhinausgehend als wirklichkeitsstiftende Erfüllung einer vorangegangenen Vorbildung aufscheint. Dass Texte, die ähnlich wie der Liber specialis gratiae oder Gertruds Archenvision im Legatus zu entsprechenden Erbauungsübungen auffordern und sich dabei der Bildlichkeit des inneren Hausbaus bedienen, auch und vor allem in der Gebetbuchliteratur verbreitet sind, scheint kaum erstaunlich. Schließlich gehören die vertikale Vermittlung einer Nähe zum Heiligen, die hier nun als über Kommunikation und Gabe hinausgehende Einkehr gedacht ist, sowie ein horizontal zwischen Text und Leser medialisierender Lektüremodus der Immersion in sprachlich evozierte Vorstellungs- und Wahrnehmungsräume zu den 78 Jens Haustein: lêren und bezzern. Zur historischen Semantik von erbûwen und Haiko Wandhoff verwandtem im Spätmittelalter, in: Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in › Erbauungs ‹ - Konzepten des Mittelalters, hg. v. Susanne Köbele u. Claudio Notz, Göttingen 2019 (Historische Semantik 30), S. 41 - 52, hier S. 48 f. 79 Köbele 2015, S. 427. 80 Zu diesem Verhältnis, dass ich als Dynamik von Immersion und Figuration fasse, führt Franz M. Eybl aus: »In höherem Grade als andere Lektüren verwickelt erbauliches Lesen die Innenwelt von Leserin und Leser. Die Relation von lesendem Subjekt und Text beruht auf konstruktivem Mitvollzug, der das Individuum so sehr beansprucht, daß es zuletzt im Text zu erscheinen scheint.« (Franz M. Eybl: Vom Verzehr des Textes. Thesen zur Performanz des Erbaulichen, in: Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit, hg. v. Andreas Solbach, Berlin 2005, S. 95 - 111, hier. S. 100.) 300 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="301"?> Grunddynamiken spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte. Im Falle geistlicher Architekturtexte ist dieses Eintauchen als Introspektion zu verstehen, die mit einem zumeist textuell vorgebildeten Prozess der Selbstfiguration einhergeht - das Bild des Bauens und Erbauens im Wortsinn erweist sich als hierfür geradezu maßgeschneidert. 2.3 Grunddynamiken geistlicher Architekturtexte Drei Aspekte, die eng mit den Leitbegriffen dieser Untersuchung - Bildrede, Immersion, und Figuration - zusammenhängen, traten in diesem einleitenden Blick auf innere Bauwerke bei Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta besonders hervor. Sie seien gleichsam als Rahmen thesenhaft zusammengefasst. Erstens bieten sprachliche Entwürfe innerer Häuser im Kontext der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsliteratur zumeist Rezeptionsangebote der Introspektion an, das heißt der literarisch gelenkten Versenkung ins seelische Innere. Wenn also die vorangehend betrachteten Marienmäntel und Rosenkränze ihre Rezipienten zu einem Immersionsvorgang auffordern, der auf ein wahrnehmungsstimulierendes Einfügen in eine sprachlich entworfene Umwelt aus Figuren, Ereignissen und Dingen abzielt, dann sind die folgenden Herzenshäuser und Seelenklöster ausgerichtet auf ein formendes Eintauchen ins eigene Selbst. Dies ist besonders bedeutsam im Kontext der hervorgehobenen Rolle, die Innerlichkeit und Verinnerlichung im Sinne einer »Orientierung des Menschen auf seinen Wesenskern und damit auf das Urbild seiner selbst« in der zeitgenössischen Frömmigkeitskultur innehatten. 81 Wie Thomas Lentes herausarbeitet, wurde im Spätmittelalter »mehr und mehr [ … ] die Innerlichkeit (devotio oder innicheit) gegen das Äußere ausgespielt und schließlich einseitig akzentuiert«. 82 Übungen der Innenschau, die darauf abzielen, die menschliche Seele zu einem Haus für Gott zu formen, konvergieren mit dieser gesteigerten Wende nach Innen. Zweitens eignet Beschreibungen innerer Architekturen, wie bereits an den oben angeführten Beispielen augenfällig wird, zumeist eine allegorische Qualität: In der zuletzt angesprochenen Vision aus dem Liber specialis gratiae werden Tür, Riegel und Kette des inneren Hauses als gegenseitige Sehnsucht Gottes und Mechthilds sowie als der Wille der Visionärin ausgelegt. Die Aufforderung zur Errichtung eines Herzenshauses in der einführend betrachteten Ostervision dahingegen ist verbunden mit der Bemerkung, dieses Haus solle auch ein Fenster haben, was Mechthild sogleich als Allegorie auf ihren Mund versteht, durch den sie die vom ihr einwohnenden Göttlichen gewährten Visionen ihren Mitschwestern und anderen Gläubigen mitteilen soll: Hanc fenestram os suum esse intellexit, per quam verbum Dei ad se venientibus per doctrinam seu consolationem deberet ministrare. 83 Derlei geistliche Gebäude stehen also nicht (nur) für sich selbst, sondern bezeichnen innere Vorgänge und Eigenschaften, die in ihrem seelischen Wirkungszusam- 81 Breitenstein 2016, S. 21. 82 Lentes 1999, S. 31. 83 »Da begriff [Mechthild], dass mit diesem Fenster ihr Mund gemeint sei, durch den sie allen, die zu ihr kamen, mit dem Wort Gottes, sei es als Belehrung oder Trost, zu Diensten sein sollte«, Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 178 [II,33]; Übersetzung Schmidt 2010, S. 182. 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik 301 <?page no="302"?> menhang erklärend ins Bild gesetzt werden. Damit rücken sie in den Bereich der › dingallegorischen Erbauungsliteratur ‹ , die Dietrich Schmidtke am Beispiel der oft ähnlich funktionierenden geistlichen Gärten als Gattung definierte, deren Sinn- und »Textgliederung im wesentlichen erfolgt nach Dingen, Dingelementen und Dingdeutungen«. 84 Texte, die auf diese Weise das Innere des Menschen in dinglichen Bildern zu beschreiben und zu ordnen suchen, folgen oft einem Verfahren, das in einer gänzlich unmittelalterlichen Wendung als Psychographie bezeichnet werden könnte. Freilich birgt eine solche Anlehnung an eine Begriffsbildung der modernen Psychologie die Gefahr anachronistischer Fehlgänge, vor allem der Pathologisierung mittelalterlicher Religiosität oder der Entsakralisierung geistlicher Literatur durch die Unterstellung einer tiefenpsychologischen Überdeterminiertheit ihrer Motive und Anliegen. 85 Mit › Psychographie ‹ sei daher folgend allein und vorzeichenfrei die veranschaulichend-vereinfachende Strukturdarstellung des menschlichen Geistes, seiner Elemente und ihrer Relationen gemeint. In diesem Sinne können geistliche Gebäudetexte zumeist als komplexe und in der Regel vorbildgebende Psychogramme gelesen werden, die in idealisierter Form und unter Zuhilfenahme von Allegorie und Allegorese die innere Verfasstheit des tugendhaftchristlichen Menschen illustrieren. 86 Hierin dienen sie in ihrem Gebrauch von Metapher und Allegorie sowohl der Bezeichnung dessen, was für sich genommen nicht schaubar ist, als auch der Hinkehr zur im je eigenen Inneren gesuchten Transzendenz. Vergleichbar der oben für Gebetstexte postulierten Dynamik, in der rhetorische Form und der Gebrauch übertragenen Sprechens einen geistigen ascensus der Betenden anbieten, funktionalisieren also auch geistliche Architekturtexte Momente der Bildrede zur Orientierung des Lesepublikums hin auf das Heilige. Dies harrt folgend der je nach Einzeltext nuancierten Klärung. Drittens sind derartige Herzensarchitekturen, die aufwendig und gezielt zur Einwohnung des Göttlichen im Inneren der Gläubigen errichtet und instandgehalten werden sollen, nicht allein allegorisch-zeichenhaft zu verstehen und darin wiederum gebeteten Kleidern und Blumengebinden verwandt. Vielmehr nämlich offerieren entsprechende Texte sowohl Vorals auch Abbilder einer Selbsttransformation, die am ehesten als 84 Schmidtke 1982, S. 2. Durch Rückgriff und Motivschatz sind sie zudem verbunden mit einer die lateinische wie volkssprachige Literatur bereits seit der Antike durchziehenden Tradition geistlicher wie weltlicher Gebäudeallegorik, auf die ich nicht detailliert eingehen kann. Siehe dazu z. B. ausführlich Whitehead 2003; sowie Jill Mann: Allegorical Buildings in Medieval Literature, in: Medium Aevum 63.2 (1994), S. 191 - 207. Einen methodisch veralteten, allerdings in seinem Quellenreichtum noch immer lesenswerten Rundgang durch dieses Literaturfeld bietet Hans Flasche: Similitudo Templi. Zur Geschichte einer Metapher, in: DVjs 23 (1949), S. 81 - 125. 85 Zur Verwendung und Geschichte von Psychographie als Methode in der differentiellen Psychologie siehe dagegen überblickshaft Lothar Laux: Persönlichkeitspsychologie, Stuttgart 2 2008 (Grundriss der Psychologie 11), S. 131 - 136. 86 Dies gilt selbstverständlich nicht allein für geistliche Gebäudeallegorien. So liest Dorothea Klein den Roman de la rose schlüssig als »raffiniertes Psychogramm von Liebenden im Konflikt zwischen Begehren und Furcht vor gesellschaftlichen Sanktionen, Frustration und Ausübung von Macht«, Dorothea Klein: Allegorische Burgen. Variationen eines Bildthemas, in: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter, hg. v. Ricarda Bauschke, Frankfurt a. M. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 10), S. 113 - 138, hier S. 124. Funktional ähnlich, inhaltlich jedoch auf religiöse Perfektion des inneren Menschen statt auf Minne ausgerichtet lassen sich auch viele allegorische Architekturen aus dem Bereich des Religiösen und insbesondere der Gebetbuchliteratur verstehen. 302 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="303"?> Prozess der Figuration verstanden werden kann. 87 In Beschreibungen und Anweisungen zur frommen Erbauung werden nicht »nur abstrakte Begriffe gegen konkrete Pendants vertauscht« 88 - denn auch die seelische Konstitution des Menschen, die in derlei Texten architektonische Gestalt annimmt, ist auf erfahrbare Weise wirklichkeitshaft. Der menschliche Geist, der über sich selbst in architektonischer Gestalt reflektiert und sich dabei formt, stellt kein bloßes Abstraktum dar, auch wenn, wie Mirko Breitenstein schlüssig betont, das Bild des Hauses, in dem er sich imaginiert, stets als metaphernhafter Notbehelf für das ansonsten nicht Abbildbare gelten muss. 89 Auch der Begriff des Symbolischen im Sinne eines zeichenhaften Ausdrucks, der in der ästhetischen Theorie seit dem 19. Jahrhundert oftmals in einen auf das Mittelalter nicht recht anwendbaren Kontrast zur Allegorie als Modus des gleichnishaften Bezeichnens des bekannten Sachverhalts gesetzt wurde, scheint hierauf nicht recht zu passen. 90 Eher im Sinne von Erich Auerbachs Figura-Begriff möchte ich Entwürfe innerer Bauten daher als sinnlich prägnante, wenn auch stets noch erfüllungsbedürftige Modelle des Wirklichen begreifen, in denen sich »etwas anderes, ebenfalls Wirkliches [ … ] darstellt und ankündigt«. 91 So bilden geistliche Häuser instruktive Präfigurationen des nach ihrem Vorbild zu formenden homo interior, der als außersprachlich wirklich verstanden ist, allerdings der bildhaften Veranschaulichung bedarf, um sinnlich evident und somit für den Umgang mit sich selbst verfügbar zu werden. Damit eignet den entsprechenden geistlichen Übungen jene im figurativen Sinne wahrnehmungsformende Sinnesqualität, die Niklaus Largier als von Text und Bild stimuliertes Kernkennzeichen mittelalterlicher Kontemplationspraxis bestimmt. 92 Zugleich erfüllen derartige Entwürfe einer inneren Heimstatt des Göttlichen, wenn sie sich z. B. an alttestamentlichen Modellen von Sakralarchitektur orientieren, biblische Präfigurationen, indem sie das Einwohnen des Heiligen vom stofflichen Bauwerk in die menschliche Seele verlagern und damit sublimieren. Schlussendlich künden auch sie selbst eine noch kommende Erfüllung, die in der letztlichen Einheit der Seele mit Gott erhofft wird. 87 In diese Richtung gehend verstehe ich auch Susannes Köbeles Beobachtung, dass solche Texte »auf der Metaebene, im Titel oder in ihren eigen analytischen Verfahrensbegriffen, genau das sein wollen (nämlich: exercitia spiritualia, itinerarium mentis in deum, Herzkloster, speculatio), worüber sie auf der Objektebene sprechen: Als methodische Gebets-Einübung sind sie zugleich auch Gebets-Serie, als Weganleitung zugleich Weg, als Erbauung zugleich selbst das erbaute Gebäude« (Köbele 2015, S. 431). Dies ließe sich, so möchte ich vorschlagen, auch als figurale Selbstcharakterisierung entsprechender geistlicher Gebäudetexte fassen, die ihre nachbildende Erfüllung im Rezipienten vorwegverheißt. 88 Michel 1987, S. 546. 89 Mirko Breitenstein stellt zurecht heraus, »dass derartige Innenräume nicht innerkörperlich-real gedacht wurden, sondern man sich ihres metaphorischen Charakters bewusst war«, die von ihnen bezweckte und behelfsmäßig abgebildete Transformation und Verfassung des inneren Menschen jedoch gleichzeitig als im höchsten Maße real verstanden wurde (Breitenstein 2016, S. 28). Dies stellt einen Sonderfall dessen dar, was in den Vorkapiteln als › geistliche Konkretheit ‹ umschrieben wurde. 90 Siehe dazu grundlegend die Überlegungen von Jauss 1960. 91 Auerbach 2018, S. 140. 92 Vgl. Largier 2018, insb. S. 51 - 54. 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik 303 <?page no="304"?> 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 3.1 Am Beginn einer Allegorietradition: Der Tempelbau in der Psychomachie des Prudentius Wenn Augustinus in Auseinandersetzung mit den Paulusbriefen des Neuen Testaments den Anstoß gab für die Verbreitung des Bildes vom Inneren des Menschen als zu erbauendem Seelenhaus, das der Einkehr Gottes harrt, 93 so legte sein Zeitgenosse Prudentius (ca. 348 - nach 405) einen Grundstein für die literarisch-allegorische Ausgestaltung dieses Motivs. Die Psychomachie des spätantiken Schriftstellers, der dem Mittelalter »als der christliche Dichter schlechthin« galt, 94 berichtet in der Form eines in lateinischen Hexametern abgefassten Kurzepos zunächst von einem Kampf der Tugenden mit den Lastern, der sich auf dem Schlachtfeld des menschlichen Herzen ereigne: Feruent bella horrida, feruent / ossibus inclusa, fremit et discordibus armis / non simplex natura hominis. 95 In insgesamt sieben Paaren treffen allegorische Personifikationen gewaltsam aufeinander, wobei die jeweilige Tugend stets und oftmals auf für moderne Sensibilitäten erschreckend blutrünstige Weise den Sieg davonträgt. 96 Ausgehend von Prudentius entwickelte sich der Seelenkampf zum festen literarischen Topos, dessen Wirkung über das Mittelalter hinausreicht. 97 Aufschlussreicher jedoch als die vielrezipierten allegorischen Gefechte der Psychomachie ist an dieser Stelle die Schlussszene des Epos, in der die Tugenden als Kon- 93 Vgl. dazu oben, Kap. IV.2.1. 94 Stefanie Stricker: Art. Prudentius, in: 2 VL 11 (2011), Sp. 1270 - 1279, hier Sp. 1271. 95 »Schreckliche Kämpfe wüten, sie wüten im Inneren unseres Herzes [wörtlich: eingeschlossen von den Gebeinen/ Rippen], und die zwieschichtige Natur des Menschen erzittert im ungleichen Kampf«, Die Psychomachie des Prudentius. Lateinisch - Deutsch, eingeführt u. übers. v. Ursmar Engelmann OSB, Basel/ Freiburg i. Brsg./ Wien 1959, S. 88 - 90 [V. 902 - 904]. 96 Es streiten der Glaube (fides) gegen den paganen Kult (veterum cultura deorum), die Keuschheit (pudicitia) gegen die Unzucht (libido), die Geduld (patientia) gegen den Zorn (ira), die Demut (humilitas) gegen die Hoffart (superbia) und die Genusssucht (luxuria) gegen die Nüchternheit (sobrietas). Fürderhin wird der Geiz (avaritia) von der Vernunft (ratio) gemeinsam mit der Barmherzigkeit (operatio) besiegt, und auch die heimtückische Zwietracht oder Häresie (discordia) muss der Eintracht (concordia) schließlich unterliegen. 97 Siehe dazu z. B. Renate Pillinger: Allegorische Darstellungen der Tugenden in der Dichtung des Prudentius und in der frühchristlichen Kunst, in: Text und Bild. Beiträge des internationalen Symposiums »Text und Bild« vom 2. bis zum 4. April 2009 in Wien, hg. v. Victoria Zimmerl-Panagl, Wien 2010 (Sitzungsberichte. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 813), S. 143 - 150; sowie Wilhelm Kühlmann: Poeten und Puritaner. Christliche und pagane Poesie im deutschen Humanismus. Mit einem Exkurs zur Prudentius-Rezeption in Deutschland, in: Humanismus und Theologie in der frühen Neuzeit. Akten des interdisziplinären Symposions vom 15. bis 17. Mai 1992 im Melanchthonhaus in Bretten, hg. v. Hanns Kerner, Nürnberg 1993 (Pirckheimer- Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 8), S. 149 - 180; Max Harris: Flesh and Spirits. The Battle between Virtues and Vices in Medieval Drama Reassessed, in: Medium Aevum 57.1 (1988), S. 56 - 64. <?page no="305"?> solidierung ihres Sieges eine Tempelanlage errichten, welche »die christliche Heilsperspektive im buchstäblichen und übertragenen Sinne aufbaut«. 98 Denn genau wie König Salomo, der in Jerusalem den Tempel bauen ließ und damit Gott eine feste Behausung geboten habe (I Sm 5,15 - 6,38), müsse nun, so Prudentius, nach der Niederschlagung der Laster auch im Herzen des Menschen ein Ort des Heiligen entstehen, damit nicht hominis si filius, arce / aetheris inlapsus, purgati corporis urbem / intret inornatam, templi splendentis egenus. 99 Der innere Mensch soll folglich, präfiguriert durch den salomonischen Tempel, zur Stätte erbaut werden, in die Gott würdig einzukehren vermag. Unter der Leitung von Glaube und Eintracht machen sich die personifizierten Tugenden darum ans Werk und errichten ein Gebäude, dessen Bauplan »nach dem Vorbild des himmlischen Jerusalems der Johannesapokalypse gestaltet ist« (Apc 21,11 - 27): 100 ein vierseitiger Bau, der in jede Himmelsrichtung je drei edelsteingeschmückte Tore aufweist, über denen in goldenen Lettern die Namen der zwölf Apostel prangen. Die vier Außenmauern bedeuten, wie der Text ausführt, die vier Lebensalter des Menschen; mit den drei Öffnungen jeder Wand, die alle in den gleichen Sakralraum führen, wird die Trinität verbildlicht. Im Tempelinneren angelangt halten sieben Kristallsäulen das Bauwerk aufrecht, »in denen sich unschwer die sieben siegreichen Tugenden wieder erkennen lassen.« 101 Auf diesen Säulen schließlich ruht als Kernstück der allegorischen Sakralarchitekur eine riesige Perle, die wohl für Christus und Maria steht und auf der in hohepriesterlicher Manier die personifizierte Weisheit (sapientia) thront. Mehrere biblische und exegetische Bild- und Sinnstränge sind in dieser Gebäudeallegorie verflochten. So bilden die bereits erwähnten Stellen der Apostelbriefe den offensichtlichen Metaphernhintergrund des geistlichen Tempelbaus, heißt es doch z. B. im ersten Korintherbrief an die Gläubigen gerichtet: »Wisst ihr nicht, dass ihr der Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt? « (I Cor 3,16). 102 Wie Gerhard Bauer ausführt, kann das »Bild vom Menschen als οἶκος , dem Alten Testament unbekannt, [ … ] geradezu als Charakteristikum des besonderen Lehrgehalts der apostolischen Briefe gelten«. 103 Bei Prudentius wird es nun zum komplexen Sinnbild ausgestaltet: Der innere Mensch, der die Laster besiegt hat, formt sich, veranschaulicht durch die prächtigen und biblisch inspirierten Bilder einer inneren Tempelarchitektur, selbst zum geistlichen Sakralbau, der das Heilige beheimatet. Zweitens klingt an dieser Stelle der Psychomachie auch das Tempelwort Jesu an, der erklärt: »Zerstört diesen Tempel, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten« (Io 98 Köbele 2019, S. 24. 99 »wenn der Menschensohn von seiner himmlischen Burg herabkommt, [er] in die ungeschmückte Stadt eines reinen menschlichen Leibes einzieht und der schimmernde Tempel fehlt«, Prudentius: Psychomachie, S. 84 f. [V. 817 - 819]. 100 Felix Albrecht: Das Himmlische Jerusalem und die Psychomachie des Prudentius. Erwägungen zu den literarischen Quellen von Prud., Psych. 851 - 867, in: Motivi e forme della poesia cristiana antica tra scrittura e tradizione classica. XXXVI Incontro di studiosi dell ’ antichità cristiana, Roma, 3 - 5 maggio 2007, hg. v. Institutum Patristicum Augustinianum, Rom 2008 (SEAug 108), S. 541 - 552, hier S. 551. Albrecht weist zudem nach, dass die Edelsteinmotivik des inneren Tempels der Psychomachie von der Naturgeschichte des Plinius informiert ist. 101 Wandhoff 2006, S. 151. 102 nescitis quia templum Dei estis et Spiritus Dei habitat in vobis. 103 Bauer 1973, S. 41. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 305 <?page no="306"?> 2,19). 104 Im Johannesevangelium christologisch auf die Auferstehung hin zugespitzt, eignet diesem auch bei den Synoptikern überlieferten Logion, 105 wie Cornelia Herberichs aufzeigt, eine »polyvalente Semantik, die zwischen der excitatio (von Christi Leib) und einem mehrschichtigen Rekurs auf die Semantiken der aedificatio (von der christlichen Gemeinschaft und in einem eschatologischen Sinn) changiert«. 106 Prudentius nun bezieht es tropologisch auf die Selbsterbauung des einzelnen Gläubigen, der in der Nachfolge Christi in seiner vormals durch die Laster verwüsteten Seele die durch Jesus vorgezeichnete Wiedererrichtung des Tempels erneut vollzieht und dabei zugleich eschatologisch das himmlische Jerusalem (vgl. Apc 21,11 - 27) in sich präfiguriert. Hieran zeigt sich eindrücklich, wie sich in der biblisch fundierten Gebäudeallegorik eine Vielfalt der Auslegungen, die gemäß der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn entfaltet werden, gegenseitig ergänzt. In der Psychomachie steht der in seiner Bildlichkeit ans himmlische Jerusalem angelehnte Tempelbau in einer »Auffassung der einzelnen Gläubigen als individueller templa Dei« tropologisch für die Formung der Seele des christlichen Menschen, 107 der gleichzeitig im Rahmen einer typologischen Deutung des biblischen Tempels als »Baustein der Ecclesia« 108 verstanden wird und anagogisch die himmlische Stadt der Johannesoffenbarung in sich vorbildet. Drittens ist der Seelentempel der Psychomachie Ort des Gebets und Gottesdienstes. Denn durch die trinitarischen Eingänge des inneren Gotteshauses gelangt der fromme Mensch zum Altar seines eigenen Herzens, an dem er Gott huldigen kann: quaque hominis natura uiget, quam corpore toto / quadrua uis animat, trinis ingressibus aram / cordis adit, castisque colit sacraria uotis. 109 Mit dieser knappen Schilderung der gebethaften Einkehr in den inneren Tempel stellt Prudentius eine Verbindung zu einem Schlüsselwort Jesu aus dem Matthäusevangelium her: »Du aber, wenn du beten wirst, geh in dein Zimmer und bete, nachdem du deine Tür geschlossen hast, im Verborgenen zu deinem Vater! « (Mt 6,6). 110 Bereits zu Prudentius ’ Zeiten wurde, so Mirko Breitenstein, das Zimmer (cubiculum) dieses Herrenworts »anthropologisch gedeutet und auf das Innere des Menschen bezogen«. 111 Die Psychomachie partizipiert an dieser Auslegungstradition, indem sie ihren allegorischen Innentempel 104 solvite templum hoc et in tribus diebus excitabo illud. 105 siehe Mt 26,60; 27,40; Mc 14,57; 15,29. 106 Cornelia Herberichs: qui destruit templum et in triduo illus reaadificavit (Mt 27,40). Zur Semantik von › Erbauung ‹ im Tempelwort Jesu sowie dessen Rezeption im volkssprachigen Passionsspiel des Mittelalters am Beispiel der Hessischen Passionsspielgruppe, in: Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in › Erbauungs ‹ -Konzepten des Mittelalters, hg. v. Susanne Köbele u. Claudio Notz, Göttingen 2019 (Historische Semantik 30), S. 53 - 71, hier S. 62. 107 Bauer 1973, S. 84; zur Tradition der Auslegung des himmlischen Jerusalem als anima christiana vgl. ausführlicher ebd., S. 83 - 85. 108 Hartmut Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters, München 1986 (MTU 88), S. 99. 109 »Welche Natur auch im Menschen lebt, im ganzen Leib von einer vierfachen Kraft beseelt, [sie] kommt durch den dreifachen Eingang bis zum Altar des Herzens und schmückt das Heiligtum mit keuschen Gebeten [wörtlich: Gelübden]«, Prudentius: Psychomachie, S. 86 f. [V. 842 - 844]. 110 tu autem cum orabis intra in cubiculum tuum et cluso ostio tuo ora Patrem tuum in abscondito. 111 Breitenstein 2016, S. 25. Von Cassian bis zur außerordentlich wirkmächtigen Glossa ordinaria zieht sich die Auslegungstradition vom cubiculum als innerem Herzensgebäude (vgl. mit zahlreichen Hinweisen ebd., S. 25 - 27). 306 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="307"?> nicht nur als Wohnstatt Gottes und selbstfigurierende imitatio präsentiert, sondern auch als Ort der betenden Einkehr in sich selbst und damit hin zu Gott. In dieser engmaschigen Verknüpfung von Bezügen zur Heiligen Schrift und den Traditionen ihrer Exegese erscheint der innere Tempel bei Prudentius in erster Linie als ideales und auf erbauliche imitatio durch den Rezipienten abzielendes Psychogramm des gläubigen Christen. Eingeschlossen von den vier Mauern seines Lebens birgt der nach diesem Modell erbaute Gläubige die Säulen der Tugenden in sich, die, von der Weisheit regiert, das Heiligtum tragen. Dergestalt verfasst ist er befähigt, im Gebet in sich zu gehen und dort der Begegnung des Heiligen zu harren. Präfiguriert durch den salomonischen Tempel und in Verheißung des kommenden himmlischen Jerusalem soll der tugendhafte Christ, so ließe sich die implizite Nachahmungsaufforderung der Psychomachie zusammenfassen, in und aus sich eine geistliche Sakralarchitektur konstruieren, durch die sein Herz sich als Tempelort des steten Gottesdienstes und damit des frommen Kontakts mit dem Sakralen, als Schnittstelle zwischen Immanenz und Transzendenz erfüllt. 3.2 Mnemotechnik und Tugendlehre: Innere Bauarbeiten in der lateinischen Traktatliteratur des Hochmittelalters Wie stark die in der Psychomachie aufgeworfene Vorstellung eines Herzenstempels, in den sich die Gläubigen im Rahmen einer als Hinkehr zum Göttlichen verstandenen Innenschau zurückziehen können, sich in mittelalterliche Entwürfe und Narrative religiöser Perfektion einprägte, illustriert bespielhaft die zweite Franziskusvita des Thomas von Celano (ca. 1190 - 1260 n. Chr.). Dort heißt es fast beiläufig, der Ordensgründer der Franziskaner faciebat de pectore templum, 112 so dass er sich beim Gebet ins eigene Innere habe versenken können und daher zum Gottesdienst weder Klostermauern noch Kirchengebäude benötigte. Die fromme Errichtung eines inneren Gotteshauses fungiert hier gleichsam als Marker und Beweis eines heiligmäßigen Lebens. Freilich jedoch lassen derlei Belegstellen sich kaum eindeutig als direkte Referenzen auf den Tempelbau der Psychomachie verstehen. Denn mit seiner Schilderung des inneren Sakralbaus hatte Prudentius den Weg für eine kaum überblickbare Vielzahl lateinischer Gebäudeallegorien gewiesen, deren Motivik sich vielfältig und gattungsübergreifend niederschlug. Zwar war das Bild vom inneren Gebäude seit dem Frühchristentum in der geistlichen Literatur präsent, seine Blüte jedoch erlebte es im Hochmittelalter: »das Bild vom Bau beherrscht seit etwa 1100 die gesamte christliche Spiritualität.« 113 Eine Reihe von Traktatschriften sticht dabei aus der Masse der Architekturgleichnisse des 12. Jahrhunderts besonders hervor. 114 Sowohl die folgend behandelten Texte als auch die eingangs unter- 112 »er machte aus seiner Brust einen Tempel«, Regis J. Armstrong, J. A. Wayne Hellmann, William J. Short (Hgg.): Francis of Assisi. Early Documents, Bd. 2: The Founder, Hyde Park, NY 2000, S. 309 [2 Cel 7]. 113 Bauer 1973, S. 174. 114 Folgend kann auf diese vielfältigen allegorischen Gebäudetraktate in lateinischer Sprache nur anhand weniger ausgewählter Beispiele eingegangen werden. Für einen tiefgreifenderen Überblick zu diesem Literaturkorpus, der eine Vielzahl überlieferter Texte nach Art des allegorischen Gebäudes aufschlüsselt und dabei entscheidende Entwicklungslinien der Gattung nachzeichnet, sei jedoch auf die Studie von Whitehead 2003 verwiesen. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 307 <?page no="308"?> suchten Passagen aus der Helftaer Mystik greifen auf solche Allegorien zurück. Anhand von drei Beispielen sei dieses Literaturkorpus daher schlaglichthaft in Hinblick auf seine Rezeptionsangebote angerissen, die gleichzeitig auf eine belehrende wie vorbildgebende Erbauung abzielen als auch mnemonisch und psychographisch der meditativen Selbstformung dienen. An erster Stelle zu nennen ist hier der zweiteilige Archentraktat Hugos von St. Viktor, der in der Forschung unter den Titeln De arca Noe morali für den exegetischen Haupttraktat und De arca Noe mystica für den auf Veranschaulichung dieser Deutungen angelegten zweiten Teil bekannt ist. 115 In De arca Noe morali legt der Viktoriner die alttestamentliche Arche Noah zunächst gemäß der Lehre vom vierfachen Schriftsinn aus. 116 Dabei entwirft Hugo ein »spirituelles Bauwerk« in Form eines Schiffes, dessen einzelne Elemente sich im Sinne eines Lehrgebäudes zu einem »dreidimensionale[n], heilsgeschichtlich durchwirkte[n] Bild des Kosmos«, zusammensetzen, das zentrale Inhalte der Heiligen Schrift samt ihrer Auslegungen hervorhebt und im Geist des Rezipienten entstehen soll. 117 Dieses Verfahren, bei dem »die Auslegung der Heiligen Schrift nach dem mehrfachen Schriftsinn als die Aufrichtung eines Gebäudes verstanden« wird, charakterisiert Hennig Brinkmann als »konstruktive Exegese«: 118 Die Lektüre der Bibel und ihre Interpretation gleichen in diesem Verständnisrahmen einer komplexen geistigen Bauarbeit. Dabei bilden die richtigen Gedanken (cogitationes) des Lesers das Material, aus dem dieser sich eine innere Arche konstruieren kann: Habeamus ergo rectas, habeamus utiles et castas cogita- 115 Verwendet werden hier die in der Forschung (noch) gängigen Titel, unter denen diese beiden Schriften in der Patrologia Latina ediert sind (als Hugo von St. Viktor: De arca Noe morali und De arca Noe mystica, in: Patrologia Latina 176 (1854), Sp. 617 - 680 u. 681 - 704). In der Neuausgabe von Patrice Sicard werden dagegen alternativ die Titel De archa Noe und Libellus de formatione arche vorgeschlagen, wobei die zweite und kürzere Schrift als womöglich nicht von Hugo selbst stammende Kurzüberarbeitung der Inhalte des Archentraktats verstanden wird, die zur diagrammatischen Visualisierung der dort aufgebrachten Inhalte anweist; vgl. Hugo de Sancto Victore: De archa Noe. Libellus de formatione arche, hg. v. Patrice Sicard, Turnhout 2001 (CCCM 176). Zu den Archenschriften Hugos siehe in der jüngeren Forschung den aufschlussreichen Aufsatz von Aleksandra Prica: Figuram invenire. Auslegung, Zeit und Wahrheit im Archentraktat Hugos von St. Viktor, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013 (Philologie der Kultur 8), S. 113 - 126; sowie mit weiteren Literaturverweisen Wandhoff 2006, S. 148 f. Eine kontroverse Analyse von De arca Noe mystica aus kunsthistorischer Sicht sowie eine englische Übersetzung dieses Textes finden sich bei Christoph Rudolph: The Mystic Ark. Hugh of Saint Victor, Art, and Thought in the Twelfth Century, Cambridge 2014. 116 Dazu zusammenfassend Christiania Whitehead: »Utilizing the standard fourfold hermeneutic, Hugh ’ s treatises identify a literal ark built by Noah, an ark of the church built by Christ through his preachers, an ark of wisdom built daily within the individual heart by the practice of meditation, and, lastly, an ark of virtues constructed through the workings of grace« (Whitehead 2003, S. 42). Derartige Allegoresen der Arche waren in der Bibelexegese des Früh- und Hochmittelalters verbreitet, siehe dazu Hartmut Boblitz: Die Allegorese der Arche Noah in der frühen Bibelauslegung, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 159 - 170. 117 Wandhoff 2006, S. 148. Patrice Sicard diskutiert zudem die These, den Archenschriften Hugos habe ein tatsächliches, in St. Viktor zur Instruktion der Klostermitglieder eingesetztes Schiffsdiagramm zugrunde gelegen, vgl. Patrice Sicard: Diagrammes medievaux et exegese visuelle. Le Libellus de formatione arche de Hugues de Saint-Victor, Paris/ Turnhout 1993 (Bibliotheca Victorina 4). Eine streitbare Rekonstruktion dieses angenommenen Bildes unternimmt Rudolph 2014. 118 Brinkmann 1980, S. 132 u. 134. Vgl. auch zusammenfassend Köbele 2015, S. 423. 308 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="309"?> tiones, quia de tali materia fabricabimus arcam nostram. 119 Die Rezipienten des Archentraktats sollen das Schiff dementsprechend im Geiste errichten und imaginativ präsent halten. Insbesondere die Beigabe De arca Noe mystica gibt dazu detaillierte Anweisungen, mittels derer die innere Arche sich in all ihren Einzelheiten visualisieren lässt. 120 Laut Mary Carruthers dient die mentale Werftarbeit dabei in erster Linie mnemotechnischen Zwecken: Hugos Schriften leiten den frommen Leser an, mit der Arche ein gedankliches Bauwerk zu verinnerlichen, das dabei hilft, christliche Wissensbestände effektiv zu memorieren. Der Inhalt und die Deutung der Heiligen Schrift werden mit der imaginierten Schiffstruktur allegorisch enggeführt und so mittels Verräumlichung besser im Gedächtnis auffindbar und abrufbar gemacht. In diesem Sinne, so Carruthers, fungieren Hugos Archentraktate und vergleichbare Texte des Hochmittelalters als »diagrams which serve to consolidate, summarize, and › fix ‹ the main contents of the commentational text.« 121 Hierbei nimmt das veranschaulichende Einprägen und Erinnern von Glaubenslehren und -gegenständen jedoch auch entscheidenden Anteil an der Formung des inneren Menschen, wurde das Erinnerungsvermögen (memoria) in der Seelenlehre des Mittelalters doch grundsätzlich nicht bloß als Informationsspeicher begriffen, sondern darüberhinausgehend als »prerequisite for character itself«, als Möglichkeitsbedingung für »a › self ‹ constructed out of bits and pieces of great authors of the past«. 122 Derlei mnemotechnischen Architekturallegorien, die im Hochmittelalter verbreitet sind, darf mit dem anonymen, von Mirko Breitenstein untersuchten Tractatus de interiori domo ein zweites lateinisches Werk des 12. Jahrhunderts gegenübergestellt werden, dessen zentrales Motiv »die Errichtung eines › Inneren Hauses ‹ als Wohnstatt Gottes im Menschen selbst und damit der Bau eines Tempels für die individuelle Gottesbindung« ist. 123 Diese Schrift ist in mehreren hundert Handschriften überliefert und weist bricolagehaft Überschneidungen mit zahlreichen wohl vorgängigen exegetischen Traktaten und Andachtstexten auf. 124 Ihre ersten neun Kapitel beschreiben, ganz der Vorstellung eines 119 »Wir sollen also aufrichtige, wir sollen also angemessene und fromme Gedanken haben, denn aus einem solchen Stoff werden wir unsere Arche errichten«, Hugo von St. Victor: De arca Noe morali, Sp. 635. 120 Auch wenn die Grundannahme, De arca Noe mystica beziehe sich auf ein vorvorhandenes aber nicht erhaltenes Wandgemälde, strittig scheint, so zeigen die von Rudolph 2014 vorgenommenen › Bildrekonstruktionen ‹ dennoch, wie genau Hugos Schiffsallegorie sich vor dem inneren Auge des Lesers heraufbeschwören lässt. 121 Carruthers 1990, S. 231. Dagegen wendet sich sehr emphatisch Rudolph 2014, der den Text als eine Art von Malanweisung begreift, deren »purpose is to construct the image and identify certain specific iconographic components of the image, not to provide a proper understanding of The Mystic Ark« (Rudolph 2014, S. 16). In mitunter fantasievoller Weise unternimmt es Rudolph daher, ein solches Archengemälde zu rekonstruieren, dessen Existenz er trotz des Fehlens einer entsprechenden Bildüberlieferung sowohl für die Abtei St. Viktor als auch für zahlreiche weitere Klöster des Hochmittelalters annimmt. Vornehmlicher Anhaltspunkt ist ihm die handschriftliche Überlieferung von De arca Noe mystica. Trotz der oben beispielhaft zitierten Passagen aus De arca Noe morali schließt der Autor die Möglichkeit, der Archentraktat habe zur imaginierend-meditativen Errichtung eines inneren Schiffes gedient, kategorisch aus. Die folgend besprochenen Texte des Spätmittelalters, die generell zu derartigen Prozessen der introspektiven Selbstfiguration anleiten, scheinen diese These zu entplausibilisieren. 122 Carruthers 1990, S. 180. 123 Breitenstein 2012, S. 270. 124 Mirko Breitenstein konnte »knapp 500 lateinische Textzeugen und über 20 volkssprachliche« ausfindig machen (ebd., S. 267). Wie Breitenstein aufzeigt, flossen zahlreiche teils wörtliche Über- 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 309 <?page no="310"?> dem Menschen einwohnenden Gottes verpflichtet, zunächst die Seele des Christen als Sakralbau, in dem der Gottesdienst gefeiert wird. Anima enim Deum habens in se, templum Dei est, in quo divina mysteria celebrantur, heißt es programmatisch. 125 Im Rahmen einer tugendhaften Lebensführung müsse diese Wohnstatt des Göttlichen allerdings stetig als domus conscientiae aufgerichtet und erhalten werden, wobei der Text äußere Handlungen und inneres Gewissen als reziprok einflussnehmende Raumstruktur auszeichnet: Nam sicut corpus nostrum tabernaculum dicitur, in quo militamus, sic conscientia nostra domus vocatur, in qua post militiam requiescimus: et ille recte militat, qui per militiam quam exercet in corpore, domum ӕ dificat conscienti ӕ . 126 Das Gewissen (conscientia) ist hier prinzipiell als »handlungsbegleitendes Bewußtsein« begriffen, das die Gläubigen zu Abkehr von Sünden und gottgefälligem Leben befähigt. 127 Dieses Gewissen sollen die Rezipienten des Traktats nun in sich erschaffen, indem sie in sich einen geistlichen Bau aus sieben Säulen aufrichten, die je einzelne Tugendvermögen bezeichnen. Die Schilderung dieses Gewissenshauses ähnelt Prudentius ’ Tugendtempel, allegorisiert die Elemente des Baus allerdings etwas abweichend: Sapientia ergo ӕ dificet sibi domum: erigat columnas septem, quibus tota fabrica innitatur. Domus est conscientia: column ӕ sunt bona voluntas, memoria, scilicet memorem esse beneficiorum Dei; cor mundum, animus liber, spiritus rectus, mens devota, ratio illuminata. 128 Sowohl auf der Bildals auf der Sachebene unterscheidet sich der Tractatus de interiori domo somit von der geistlichen Arche Hugos von St. Viktor: Der allegorische Gegenstand (Arche oder Haus) ebenso wie seine geistige Lokalisierung (Gedächtnis oder Gewissen) und sein Signifikat (exegetisches Wissen oder christliche Tugenden) differieren. Dies illustriert erstens den bildlogischen Variantenreichtum der geistlichen Gebäudeallegorik nahmen aus den Kirchweihpredigten Bernhards von Clairvaux sowie beträchtliche Übernahmen z. B. aus den Meditationes des Pseudo-Anselm von Canterbury, der Schrift De conscientia Peters von Celle, den im Mittelalter vielfach Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Meditationes in den Traktat ein (ebd., S. 269 - 270). Die Arbeit mit diesem Text wird dadurch erschwert, dass die in der Patrologia Latina edierte Fassung auf die Druckausgaben des 16. Jahrhunderts zurückgeht und somit das Produkt einer »ca. 500jährige[n] Phase der Arbeit am Text« darstellt (ebd., S. 267). 125 »Die Seele nämlich hat Gott in sich, sie ist ein Tempel Gottes, in dem die heiligen Geheimnisse gefeiert werden«, Tractatus de interiori domo, Sp. 509. 126 »Denn wie unser Körper ein Tabernakel heißt, in dem wir dienen, so wird unser Gewissen ein Haus genannt, in dem wir nach dem Dienst ausruhen: und jener dient richtig, der durch den Dienst, den er körperlich vollbringt, ein Haus des Gewissens baut«, Tractatus de interiori domo, Sp. 507. 127 Uta Störmer-Caysa: Einleitung, in: Über das Gewissen. Texte zur Begründung der neuzeitlichen Subjektivität, hg. v. Uta Störmer-Caysa, Weinheim 1995, S. 7 - 31, hier S. 8. Im Traktat vom Gewissenshaus heißt es in diesem Sinne: Bona conscientia es, qu ӕ peccata pr ӕ terita punit, et punienda committere refugit, oder: Recta conscientia est, cui suum peccatum displicet, et alieno non consentit (»Ein gutes Gewissen ist jenes, das vergangene Sünden sühnt und zu sühnende Taten zu begehen vermeidet«; »Ein aufrichtiges Gewisse ist jenes, dem seine eigene Sünde missfällt und das der fremden Sünde nicht zustimmt«, Tractatus de interiori domo, Sp. 515 f.). Das Haus des Gewissens soll somit das tugendhafte Handeln des christlichen Menschen informieren. 128 »Die Weisheit soll sich also ein Haus bauen: Sie soll sieben Säulen aufrichten, durch die das gesamte Gebäude gestützt wird. Das Haus ist das Gewissen; die Säulen sind ein guter Wille, die Erinnerung, beziehungsweise der Wohltaten Gottes eingedenk zu sein, ein reines Herz, ein freies Gemüt, ein aufrechter Geist, ein frommer Verstand und eine erleuchtete Vernunft«, Tractatus de interiori domo, Sp. 511. 310 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="311"?> des Mittelalters. 129 Im Inneren des Gläubigen sollen je nach Text generische Häuser, Klöster und Kirchen, aber auch biblisch durch die Arche Noah, den salomonischen Tempel oder das himmlische Jerusalem präfigurierte Bauten entstehen. Wie schon das Tugendgebäude des Prudentius zeigte, das zugleich als Herzenstempel aufgefasst ist und auf die Jerusalembeschreibung der Johannesapokalypse referiert, können entsprechende Architekturmodelle auch fließend ineinander übergehen oder sich baukastenhaft aus mehreren Vorbildquellen speisen. Auf ähnliche Weise variiert zweitens auch die Verortung des Gebäudes im menschlichen Inneren. Zumeist soll eine Selbsterbauung im Herzen oder in der Seele des Gläubigen erfolgen. Die Abgrenzung von anima und cor ist dabei nicht scharf. Denn seit Augustinus gilt in der christlichen Theologie »das Herz nicht mehr allein als der Sitz einer bestimmten Seelenpotenz, sondern steht repräsentativ für das gesamte geistig-seelische Sein des Menschen«. 130 Die Begriffe › Seele ‹ und › Herz ‹ werden daher oft teilsynonym verwendet, wobei das Herz als »Inbegriff der Innerlichkeit« eher dann in den Vordergrund tritt, wenn es um das »intimste Verhältnis des Menschen zu Gott geht«, während von der Seele die Rede ist, wenn auf die Seelenkräfte und insbesondere auf das rationale Vermögen des Menschen Bezug genommen wird. 131 Eine semantische Überschneidung beider Begriffe ist aber dennoch zumeist zu beobachten. So stellt Friedrich Ohly in Bezug z. B. auf die oben erwähnten Archenschriften Hugos von St. Viktor fest: »cor und anima stehen [ … ] füreinander.« 132 Während viele geistliche Bauten den homo interior in seiner Gesamtheit umschreiben, verweisen andere innere Gebäude, wie im Falle des Gewissenshauses, auf spezifische Teile oder Aspekte der menschlichen Seele, die vermöge der Gebäudeallegorie erläutert und › erbaut ‹ werden sollen. Dabei ist, so Mirko Breitenstein, selbst der Tractatus de interiori domo »unbestimmt im Hinblick auf die Frage, ob das räumlich zu verortende Gewissen nur einen Teil der Seele bezeichnet oder die menschliche Seele mehr als nur eine Kammer umfasse«. 133 Entscheidend ist also weniger der genaue Ort des inneren Gebäudes z. B. innerhalb eines durch die im Mittelalter vielrezipierte aristotelische Seelenlehre informierten Modells vom Aufbau des menschlichen Geistes als vielmehr der Schwerpunkt der Allegorie, der auf einer bestimmten Eigenschaft oder Fähigkeit des inneren Menschen liegt. Drittens ist auch die Bedeutungsebene des Gewissenshauses, dessen Säulen allegorisch für im Rezipienten zu erbauende Tugendeigenschaften stehen, von der primär mnemotechnischen Arche unterschieden. Dies hat weitreichende wirkungsästhetische Konsequenzen. Während Hugo von St. Viktor mithilfe der Schiffsallegorie christliche Glau- 129 Vgl. die Auflistung unterschiedlicher allegorischer Gebäudetypen des Mittelalters bei Whitehead 2003. 130 Gewehr 1975, S. 52. 131 Ebd., S. 54. 132 Ohly 1977c, S. 136. Schon Wolf Gewehr führt anhand einer überzeugenden Auswahl an Textbeispielen die »Vertauschbarkeit dieser beiden Termini in der Patristik« vor (Gewehr 1975, S. 53). Dagegen stellt sich Katharina Philipowski: Bild und Begriff: sêle und herz in der geistlichen und höfischen Literatur des Mittelalters, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. v. Katharina Philipowski u. Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 299 - 319. Ihre abschließende These, das Bild des Herzens, »das nicht nur ein ungegenständliches Vermögen oder eine abstrakte Reflexionsinstanz ist, sondern ein dinglicher [sic] Körperteil«, sei in der Literatur des Mittelalters »nicht geistlich und moraltheologisch konnotiert« (ebd., S. 318), wird von den von mir untersuchten Texten freilich nicht gestützt. 133 Breitenstein 2012, S. 281. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 311 <?page no="312"?> benslehre im Gedächtnis des Lesers zu verankern sucht, verfolgt der Tractatus de interiori domo ein Programm der veranschaulichenden Introspektion. Zielt Hugo vornehmlich auf die Verinnerlichung von Wissensbeständen, so handelt es sich beim Gewissenshaus hingegen um ein gebäudeförmiges Psychogramm, dessen Augenmerk nicht auf mnemonischen Effekten, sondern auf der tugendmäßigen Verfasstheit des christlichen Menschen und ihrer Herstellung liegt. Gewissermaßen eine Mittelposition zwischen diesen beiden Traktaten nehmen Texte wie die umfangreiche Schrift De claustro animae Hugos von Folieto (ca. 1100 - 1174 n. Chr.) ein. 134 Dieses vierteilige Werk, das außerdem noch eine Verteidigung des monastischen Lebens, eine Abhandlung über die Verfasstheit des materiellen Klosters sowie ausführliche Auslegungen des salomonischen Tempels und des himmlischen Jerusalem umfasst, 135 gibt in den ersten zehn Kapiteln seines dritten Buchs eine umfangreiche Gebäudeallegorie, welche die ideale innere Verfassung der Religiosen als spirituelle Klosteranlage zeichnet. Es handelt sich bei diesem Abschnitt von De claustro animae, dessen Zielpublikum im Umfeld der Regularkleriker und des reformorientierten Mönchtums zu verorten ist, wohl um »the earliest figurative meditation to be structured around the template of a monastic groundplan«. 136 Wie Gerhard Bauer aufzeigen konnte, bildet dieser Text, anders als mitunter in der Forschung kolportiert, zwar nicht die direkte Vorlage der folgend behandelten deutschsprachigen Herzklosterallegorien des Spätmittelalters, fand allerdings »sowohl in der lateinischen Literatur der Zeit als auch in der volkssprachigen Literatur späterer Jahrhunderte eine gewisse Nachfolge«, aus der heraus sich über mehrere Adaptionsstufen hinweg die in der Gebetbuchliteratur so verbreiteten Herzenshäuser und Seelenklöster mittelbar speisen. 137 Das Kloster der Seele, so stellt Hugo von Folieto präambelhaft heraus, meine die kontemplative Disposition, die sein Publikum innerlich kultivieren und in die es sich vor dem Trubel und den Verlockungen der Welt zurückziehen könne: Animae claustrum contemplatio dicitur, in cujus sinum dum se recipit animus, sola c œ lestia meditatur, separatur a terrenis, a turba cogitationum carnalium longe ponitur. 138 134 Hugo von Folieto, auch bekannt als Hugo von Fouilloy, war »von 1152/ 53 bis 1173 Prior des regulierten Chorherrenstiftes Saint-Laurent-au-Bois in der Diözese Amiens« (Bauer 1973, S. 273). Sein Hauptwerk ist unter den Spuria Hugos von St. Viktor ediert als Hugo von Folieto: De claustro animae, in: Patrologia Latina 176 (1854), Sp. 1017 - 1182. Siehe zu dieser Schrift Bauer 1973, S. 269 - 281; Whitehead 2003, S. 61 - 69; Breitenstein 2016, S. 30 - 33; sowie ausführlich Fritz Oskar Schuppisser: Hugo de Folietos De claustro animae. Der Klosterbau als Abbild der Seele und des Paradieses, Bern 1981 (online: https: / / www.fschuppisser.ch/ 1kunst/ hugo.html, abgerufen 04.06.2023). Dieser qualitätvolle Artikel ist leider nie in den Druck gegangen. 135 Bauer stellt dazu fest: »Einen einheitlichen Aufbauplan läßt die Inhaltsanalyse von Hugos De Claustro Animae nicht erkennen. [ … ] Es hat den Anschein, als habe das Mittelalter selbst die bloß assoziativ miteinander verknüpften Abschnitte nicht als geschlossene Abhandlung verstanden« (Bauer 1973, S. 277). Dieser aus allerlei inhaltlichem Stückwerk zusammengesetzte Charakter von De claustro animae kann hier nicht voll aufgeschlüsselt werden - aufschlussreich für die vorliegende Untersuchung ist vornehmlich die titelgebende Gebäudeallegorie zu Beginn des dritten Buches (siehe Hugo von Folieto: De claustro animae, Sp. 1087 - 1113). 136 Whitehead 2003, S. 63. 137 Bauer 1973, S. 282. 138 »Das Kloster der Seele wird die Kontemplation genannt, in deren Schoß sich der Geist zurückzieht, solange er nur über das Himmlische meditiert, vom Irdischen getrennt wird, von den Unruhen fleischlicher Gedanken weit weg entfernt wird«, Hugo von Folieto: De claustro animae, Sp. 1087. 312 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="313"?> Hiermit ergibt sich eine komplizierte Schachtelstruktur. Denn der fromme Mensch soll in sich ein inneres Kloster aufbauen, in das sich seine Seele, die auch hier als Tempel Gottes verstanden wird, zurückziehen kann, um dort der Einkehr des Heiligen zu harren. Das Seelenkloster ist somit zugleich als Gestalt und als Aufenthaltsort des inneren Menschen gezeichnet. Dabei wird diese innere Konstruktion zunächst in Form eines um einen rechteckigen Klosterhof gruppierten Gebäudeensembles entworfen. In einem ersten Bauschritt wird dieses Kloster durch vier Mauern, die jeweils für eine monastische Grundtugend stehen, definiert und von der Außenwelt abgeschottet. 139 Innerhalb des durch diese Mauern eingegrenzten Bereichs soll sich das innere Leben des frommen Menschen abspielen. Wessen Seele nämlich stets in diesem Bau verweile, der sei, so der Text, vor allerlei Anfechtungen und Sünden gefeit. Sein Geist werde zudem nicht abgelenkt, sondern könne sich allein dem Dienst an Gott widmen: Non est igitur quo divertat animus, qui inter h ӕ c quatuor virtutum munimina manet constitutus. Non enim ad carnis voluptatem, non ad mundi vanitatem, non ad odium proximi, non ad contemptum Dei. 140 Angeschlossen an dieses Mauerquadrat aus Grundtugenden ist ein Kreuzgang, dessen Seiten von je zwölf Säulen getragen werden, die der jeweiligen Grundtugend untergeordnete Sekundärtugenden bezeichnen. 141 Auf diese Weise entwirft Hugo von Folieto den Klosterhof als hierarchisierten Tugendkatalog, den der Religiose durch das Praktizieren der entsprechenden Eigenschaften in sich aufbauen und erhalten soll. Dabei nennt der Text nicht nur unterschiedliche Materialien, aus denen die Säulenbasen entstehen können, und deutet diese unter typologischem Bezug auf die alttestamentliche Errichtung des Bundeszelts, welches das Seelenkloster präfiguriere, sondern schlägt zudem auch äußere Handlungen vor, mittels derer die jeweiligen Tugenden umgesetzt werden könnten. 142 Von diesem komplexen Bauwerk der virtutes zweigen nun, in Übereinstimmung mit dem idealisierten Grundplan eines hochmittelalterlichen Klosters in der zisterziensischen 139 Sicut ex quatuor lateribus claustri materialis structura fieri solet, sic in quatuor virtutibus animi quadratura claustri spiritualis per similitudinem assignari potest, qu ӕ sunt contemptus sui, contemptus mundi, amor Dei et amor proximi. (»Genau wie der Aufbau des materiellen Klosters aus vier Wänden zu bestehen pflegt, so kann das Geviert des geistlichen Klosters in einem Gleichnis vier Tugenden des Geistes zugewiesen werden, die da sind Verachtung seiner selbst, Verachtung der Welt, Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten«, ebd., Sp. 1088). 140 »Folglich ist da nichts, wohin der Geist abschweift, der beständig zwischen diesen vier Wällen der Tugenden bleibt: nicht zur Fleischeslust, nicht zur Eitelkeit der Welt, nicht zum Hass gegenüber dem Nächsten, nicht zur Verachtung gegenüber Gott«, ebd., Sp. 1089. 141 So wird z. B. der an die Wand der Selbstverachtung angeschlossene Arkadengang wie folgt gestützt: Ex contemptu etenim sui duodecim columnarum ordo procedit, scilicet humiliatio cordis, et afflictio carnis, sermo humilis, abjectio vestis, cibus tenuis, pondus laboris, amor subjectionis, contemptus honoris, laudem fugere, alterius consilium suo pr ӕ ferre, subditis obedire, de se diffidere (»Aus der Verachtung seiner selbst geht nun eine Reihe von zwölf Säulen hervor, nämlich die Demütigung des Herzens, die Qual des Fleisches, die einfache Rede, das Abtun der Kleider, die magere Speise, das Gewicht der Mühsal, die Liebe zur Unterwerfung, die Verachtung der Ehre, das Lob fliehen, den Rat des anderen dem eigenen vorziehen, den Untergebenen gehorchen, sich selbst misstrauen«, ebd.) 142 Ebd., Sp. 1089 - 1091. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 313 <?page no="314"?> Tradition, 143 eine Reihe spezialisierter Nebenräumlichkeiten ab, die je für einen besonderen Aspekt der vita religiosa und die dazu nötigen inneren Eigenschaften stehen. In diesem Sinne bezeichnet das Gästehaus des Seelenklosters die Bereitschaft zum Empfang der Weisheit, der Kapitelsaal die Sammlung der Gedanken zur introspektiven Gewissenserkundung, die Arbeitsstätten Kontemplation und Andacht, das Refektorium die richtige Lektüre der Heiligen Schrift, das Dormitorium innere Ruhe und das Oratorium der Klosterkirche die fromme Hinwendung zu Gott im Gebet. An »all diesen Orten sollte der innere Mensch das vollziehen, was er als handelnder äußerer täglich praktizierte«. 144 So entwirft der Text ein architekturallegorisches Idealbild der Geisteshaltungen und -qualitäten des Mönches, das zu den Gegebenheiten des äußeren Klosteralltags in einem Entsprechungsverhältnis steht. Wie Christiania Whitehead als charakteristisch für Kosterallegorien des Hochmittelalters hervorhebt, folgt das Claustrum animae damit einem im Vergleich sowohl mit dem schiffsartigen Lehrgebäude Hugos von St. Viktor als auch mit den z. B. durch Honorius Augustodunensis angestoßenen liturgischen oder ekklesiologischen Deutungen zeitgenössischer Kirchenbauten »far more tropological reading, identifying the various moral and psychological elements that combine to form the monastic disposition«. 145 Darin ist dieses Seelenkloster einerseits prinzipiell dem siebensäuligen Gewissenshaus des Tractatus de interiori domo vergleichbar. Ebenso wie dieses geistliche Bauwerk bildet es die innere Verfassung des auf religiöse Perfektion hinstrebenden Gläubigen ab und leitet dazu an, sich diesem Modell anzugleichen. Andererseits jedoch bietet es in seinem hochkomplexen und hierarchisierten Aufbau eine Art Stemma monastischer Tugenden, das diese systematisch ordnet und mnemonisch verfügbar macht. 146 Grundlage dafür sind detaillierte Auslegungen einzelner Bibelstellen, womit auch De claustro animae › konstruktive Exegese ‹ betreibt: »Es ist die Schrift als das göttliche Wort, die im Inneren des Menschen ein Bauwerk erschaffen kann, das die Wohnstätte der Seele ist.« 147 Das Seelenkloster Hugos von Folieto dient somit sowohl der Erbauung seines Lesepublikums kraft eines architekturallegorischen Idealbilds der seelischen Disposition des monastischen Menschen, als auch der exegetisch fundierten, gedächtnisfördernden Vermittlung einer umfassenden Systematik klösterlicher Verhaltensnormen und Geisteshaltungen. Anleitende Psychographie und mnemotechnische Veranschaulichung laufen somit zusammen. Schlussendlich betreibt diese Allegorie eine Analogisierung der äußeren Lebensumstände im Kloster mit der inneren Verfasstheit des individuellen Klosterinsassen. Denn die 143 Vgl. Wolfgang Braunfels: Abendländische Klosterbaukunst, Köln 4 1980, S. 111 - 152. 144 Breitenstein 2016, S. 32. 145 Whitehead 2003, S. 61. Zur Architekturexegese bei Honorius Augustodunensis und in seiner Nachfolge vgl. etwas veraltet aber quellenreich Joseph Sauer: Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters. Mit Berücksichtigung von Honorius Augustodunensis, Sicardus und Durandus, Freiburg i. Brsg. 2 1924; sowie jüngst Karl Patrick Kinsella: Teaching through Architecture. Honorius Augustodunensis and the Medieval Church, in: Horizontal Learning in the High Middle Ages. Peer-to-Peer Knowledge Transfer in Religious Communities, hg. v. Micol Long, Tjamke Snijders u. Steven Vanderputten, Amsterdam 2019, S. 141 - 161. 146 Vgl. dazu Whitehead 2003, S. 64. 147 Mireille Schnyder: Architektur des Innen, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. v. Katharina Philipowski u. Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 165 - 173, hier S. 169. 314 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="315"?> Religiosen, deren Leben sich in einem materiellen Klostergebäude abspielt, sollen sich, so Hugo von Folieto, auch seelisch einer Klosteranlage angleichen, deren einzelne Gebäude und Architekturelemente aus tugendhaften Eigenschaften erbaut seien und somit die für das monastische Leben nötige geistige Disposition gewährleisteten. Das Claustrum animae illustriert damit, was Gert Melville und Anne Müller als Grundprinzip der Relationierung von Innen und Außen in der vita religiosa des Hochmittelalters ausmachen: »Das Innere des Einzelnen und das sichtbare Außen der Gemeinschaft wurden als zwei Häuser verstanden, die sich beide gleichermaßen transzendieren ließen als Heimstätten des Göttlichen.« 148 Das entworfene Seelenkloster besitzt also »eine gleichsam doppelte Funktionalität als innerer Meditationsort einerseits und idealer Entwurf realer Klöster andererseits«. 149 Ihm eignet sowohl der Anspruch, aufzuzeigen, wie sein Publikum innerlich verfasst sein solle, als auch die Qualität einer vorbildhaften Zeichnung einer äußerlichen Klosteranlage. Beide Bedeutungsebenen entsprechen sich dabei und sind zusammen orientiert auf die Möglichkeit einer Abkehr von der Welt und der Hinkehr zu Gott. Die deutschsprachigen Herzklostertexte, die unten in den Fokus geraten, setzen derartige, sowohl mnemotechnische wie vorbildgebende Architekturallegorien in den Kontext der Frömmigkeitspraxis. Dies geschieht im Zuge einer Funktionsverschiebung sinnbildlicher Gebäude, die, so Jeffrey Hamburger, im Spätmittelalter zunehmend ins Umfeld von Gebet und Andacht rückten: »the conceit of the soul as an architectural structure had become, by the end of the Middle Ages, one of the most useful and hence most familiar of devotional devices, as much an image of initiation as of instruction«. 150 Entsprechend entfernen sich das deutsche Herzkloster und die mit ihm verwandten Texte vom Modus der diskursiven Aushandlung und Systematisierung monastischer Tugendvorstellungen. Stattdessen erlangen sie den Charakter impliziter Instruktionen zur architektonischen Selbstformung des inneren Menschen nach dem Vorbild eines sprachlich vermittelten Modells. 3.3 Ein Vorbild für das eigene Innere: Die volkssprachigen Herzkloster-Texte Auffällig häufig findet sich in Gebetbüchern ebenso wie in sonstigen geistlichen Sammelhandschriften des Spätmittelalters ein oft per Rubrik Bernhard von Clairvaux zugeschriebener allegorischer Kurztext, der für diese Untersuchung eine Schlüsselposition einnimmt. Gerhard Bauer gab ihm den etwas behelfsmäßigen Titel Deutsches Herzkloster und konnte dieses Prosastück, zunächst in einer Frühfassung, ab der Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisen. 151 Seinen Popularitätsgipfel ebenso wie seine meistverbreitete Textgestalt 148 Gert Melville u. Anne Müller: Franziskanische Raumkonzepte: Zur symbolischen Bedeutung des inneren und äußeren Hauses, in: Revue Mabillon, NS 21 (2010), S. 105 - 138, hier S. 106. 149 Breitenstein 2016, S. 31. 150 Hamburger 1997, S. 156. 151 Zum Text vgl. Bauer 1981, insb. 1160 - 1164. An anderer Stelle gab der Autor an, ihm seien knapp 60 Textzeugen bekannt, leider wären ihm jedoch umfängliche Archivforschungen verwehrt gewesen, weshalb mit einer noch umfänglicheren Überlieferung zu rechnen sei (Bauer 1973, S. 24). Leider gab Bauer keine Details zu den von ihm zusammengetragenen Überlieferungszeugen. Der Handschrif- 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 315 <?page no="316"?> erreichte das Herzkloster allerdings erst im Folgejahrhundert, in dem es eine so ungemeine Verbreitung erfuhr, das bereits Klaus Berg feststellen konnte: »Stücke wie › Das geistliche Kloster ‹ oder ähnliches finden sich in den meisten Erbauungsbüchern des späten Mittelalters«. 152 Eine kritische Edition dieses Textes fehlt bislang noch und wäre, insbesondere da seine breite Überlieferung von hoher Varianz bestimmt ist und zudem Anpassungen an unterschiedliche Ordens- und Klosterkontexte aufweist, ein größeres Unterfangen für sich. 153 Mehrere Textzeugen wurden jedoch bereits abgedruckt. 154 Wiedergegeben sei hier die am häufigsten überlieferte und ab dem frühen 15. Jahrhundert vor allem in geistlichen Sammelhandschriften verbreitete Textfassung für ein Frauenkloster, die sich auch in sämtlichen Handschriften findet, in denen das Herzkloster im Verbund mit dem weiter unten noch in den Fokus rückenden und im Appendix zu dieser Studie edierten Kommentartraktat steht: Eyn fridsam hertz ist ein gaistlich closter, dar innen got selber der apt ist. Beschaidenhait ist aptissin darinnen. Diemütickeit ist die priolin. Gedultikeit ist cüsterin. Götliche forht ist pfortnerin. Miltikeit ist siechmaisterin. Die heilig drivaltikeit ist schülmaisterin. Genad ist der priester. Götliche mynne ist der alter. Die engel seint die diener. Beckantnüzze ist daz ckrewtz. Gehorsamkeit ist conventswester. Dankperckeit ist sanckmaisterin. Gelazzenheit ist die kirch. Andacht ist der chor. Übung ist der ckrewtzganck. Gedehtnüz dez todez ist der kirchoff. Armüt ist schafferin. Barmhertzikeit ist daz siechaws. Zuchtikeit ist der rebenter. Messickeit ist der tisch. Götlicher trost ist ckelnerin. Götliche süzzickeit ist die speise. Kewscheit ist daz slaff haws. tencensus (http: / / www.handschriftencensus.de/ werke/ 775, abgerufen 01.09.2023) listet derzeit 21 Textzeugen, wobei diese Liste erstens überaus unvollständig ist und zweitens neben dem eigentlichen Herzkloster auch bei Bauer 1980 aufgelistete verwandte Texte umschließt, von denen einige unten angesprochen werden. Auch meine eigenen Recherchen können keinen Anspruch auf Vollumfänglichkeit erheben, auch da einige geplante Archivbesuche aufgrund der Pandemielage im Sommer 2020 nicht stattfinden konnten. Es ist daher anzunehmen, dass eine spezialisiertere Suche noch einiges mehr an Überlieferungsumfang ans Licht bringen dürfte. 152 Klaus Berg: Der Tugenden Bu ͦ ch. Untersuchungen zu mittelhochdeutschen Prosatexten nach Werken des Thomas von Aquin, München 1964 (MTU 7), S. 176. 153 Grob gesprochen zerfällt die Überlieferung in drei Hauptzweige: erstens eine Kurzfassung, die der Ordnung eines Männerklosters folgt, und zweitens eine etwas erweiterte und deutlich häufiger überlieferte Version, die den Aufbau eines Frauenklosters allegorisiert. Zudem kann drittens die Frühfassung mit dem Incipit In dem clostir der selin got ist der prior, die Bauer als Vorstufe des Deutschen Herzklosters begreift und spätestens ab den 1360ern nachweisen kann, auch als älteste Version dieses vielverbreiteten Textes verstanden werden. Dazu treten weitere Bearbeitungen, z. B. eine unikal überlieferte Predigtfassung (vgl. Bauer 1980, Sp. 1160 - 1164). 154 Zwei Abdrucke nach den Handschriften der Privatsammlung Eis, Heidelberg, HS. 112, fol. 77r/ v und HS. 101, fol. 108v finden sich bei Bauer 1973, S. 23 f. u. 329 f., sowie bei Gerhard Eis: Zwei unbekannte Handschriften der Allegorie vom Seelenkloster, in: Leuvense Bijdragen 53 (1964), S. 148 - 153. Nach Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, HS. 33547, fol. 129r, druckt ihn Wolfgang Stammler (Hg.): Prosa der deutschen Gotik. Eine Stilgeschichte in Texten, Berlin 1933 (Literarhistorische Bibliothek 7), S. 50. Als Faksimile abgedruckt ist letzterer Textzeuge zudem bei Gerhard Eis (Hg.): Mittelhochdeutsche Lieder und Sprüche, München 2 1967, S. 107. Die › Frühfassung ‹ druckt Bauer 1973, S. 310, nach Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI 98, fol. 11r. Eine etwas abweichende und in einigen Punkten schon auf die spätere Hauptfassung hinweisende Frühfassung ist abgedruckt bei Karl Rieder (Hg.): Der sogenannte St. Georgener Prediger. Aus der Freiburger und der Karlsruher Handschrift, Berlin 1908 (Deutsche Texte des Mittelalters 10), S. 339 [Nr. 85]. Nach der Handschrift Straßburg, Stadtbibl., HS B 146, fol. 36v, die für mich heute nicht mehr auffindbar ist, wird das Herzkloster abgedruckt bei Wackernagel 1876, S. 609 f. 316 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="317"?> Ainikeit ist die tzelle. Rewikeit dez hertzen ist der sel strosack. Frid ist der pawmgart. Sweigen daz seint die pawm. Untergien daz seint die pleter. Ein gut ebenpild getragen vor allen menschen, daz ist die pliude der pawmen. Volhertung und niht ablazzen in allen tugenden piz in daz ende, daz ist die fruht, die man ewiclichen nyezzen wirt hie in der zeit und dort in ewickeit. (HK, Z. 3 - 34) 155 Diese bündige Klosterallegorie darf als durchaus sperrig gelten. Anders als die Psychomachie des Prudentius rahmt sie die entworfene Anlage, die Gebäude und Klosterpersonal gleichermaßen umfasst, nicht in ein wie auch immer geartetes Narrativ. Von den oben kurz angesprochenen lateinischen Architekturallegorien unterscheidet sich das Herzkloster zudem insofern, als dass es das geschilderte geistliche Gebäude weder in einen exegetischen Kontext noch in den durch argumentative Kohäsion gekennzeichneten Zusammenhang eines theologisch untermauerten Traktats einbindet. In all ihrer Knappheit steht diese Zeichnung des menschlichen Inneren als monastisches Ensemble gewissermaßen für sich allein. Das Herzkloster stellt den literaturwissenschaftlichen Blick damit vor eine Herausforderung. Ähnlich wie das Gros der in den vorangegangenen Kapiteln behandelten Marienmäntel und Rosenkranztexte ist es einem modernen Lesepublikum nicht intuitiv zugänglich. Auch bildet es kein Gebet im Sinne einer in ihrer literarischen Form fixierten Apostrophe an das Heilige. Angesichts des Fehlens imperativischer Leseransprachen oder sonstiger Vollzugsinstruktionen kann es zudem nicht recht als Andachtsübung beschrieben werden. Wie also ist dieser Text überhaupt einzuordnen und zu verstehen? Mögliche Antworten hierauf sind eng verbunden mit der Frage nach der Rezeptionsästhetik des Herzklosters, also sowohl seiner konkreten Rezeption im zeitgenössischen Kontext als auch der im Text angelegten, lektürelenkenden Strukturen und ihrer Effekte. Um darauf ein Schlaglicht zu werfen, müssen die Überlieferungsgeschichte und -umgebung des Herzklosters ebenso in den Blick rücken wie die Modi des Lesens, die es anbietet. Wie ich folgend ausführe, lässt sich diesbetrefflich ein Gebrauch des Herzklosters im Rahmen eines meditativen Textgebrauchs nachzeichnen. Ihrer Rezeption nach gehört die knappe Allegorie in den unmittelbaren Umkreis der Gebetbuchliteratur. Darin steht sie exemplarisch für eine Reihe in Motivik und Gestalt ähnlich gearteter Texte und innerhalb des Felds geistlicher Erbauungsübungen im Wortsinn, die Gebet und Andacht als Bautätigkeit am christlichen Menschen schildern und denen ich mich weiter unten widme. Strukturell ist das Herzkloster, so Nicole Eichenberger, durch ein »doppeltes Analogisierungsverfahren« bestimmt. 156 Das fridsam hertz, das hier für den inneren Menschen als 155 »Ein friedsames Herz ist ein geistliches Kloster, worin Gott selbst der Abt ist. Verstand ist die Äbtissin darinnen. Demut ist die Priorin. Geduld ist Küsterin. Gottesfurcht ist die Pförtnerin. Großzügigkeit ist die Infirmarin. Die heilige Dreifaltigkeit ist die Schulmeisterin. Gnade ist der Priester. Göttliche Liebe ist der Altar. Die Engel sind die Diener. Erkenntnis ist das Kreuz. Gehorsam ist Klosterfrau. Dankbarkeit ist Kantorin. Gelassenheit ist die Kirche. Andacht ist der Chor. Übung [oder: Askese] ist der Kreuzgang. Todesgedenken ist der Kirchhof. Armut ist Schaffnerin. Barmherzigkeit ist das Spital. Anstand ist das Refektorium. Mäßigung ist der Tisch. Göttlicher Trost ist Kellnerin. Göttliche Süße ist die Speise. Keuschheit ist das Dormitorium. Einsamkeit ist die Zelle. Reue des Herzens ist der Strohsack der Seele. Friede ist der Baumgarten. Schweigen, das sind die Bäume. Untergehen, das sind die Blätter. Ein allen Menschen aufgezeigtes gutes Vorbild, das ist die Blüte der Bäume. Ausdauer und das Nicht-Ablassen von allen Tugenden bis zum Schluss, das ist die Frucht, die man ewig genießen wird, hier in der Zeit und dort in der Ewigkeit.« 156 Eichenberger 2019, S. 76. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 317 <?page no="318"?> Ganzes steht, wird in einem ersten Schritt mit einer Klosteranlage und der dort ansässigen Gemeinschaft gleichgesetzt. Zweitens werden die einzelnen Ämter und Gebäude dieses allegorischen Klosters mit verschiedenen geistlichen Tugenden und Affekthaltungen identifiziert, die als Einzelaspekte der Verfasstheit des überordnend genannten Herzens erscheinen und sich organisch zu einem Idealbild der Disposition des dergestalt erbauten Christen zusammensetzen. 157 Die Allegorese des Herzklosters erfolgt hierbei durch aneinandergereihte Gleichsetzungen von Personal oder Bestandteilen einer konkreten Klosteranlage mit ihnen je zugeordneten inneren Qualitäten. 158 Wenigstens in Teilen lässt sich diese iterativ anmutende Struktur textgenetisch erklären. Gerhard Bauer, der die Entstehungsgeschichte des Textes zu rekonstruieren versuchte, vermochte schlüssig eine Abhängigkeit des Herzklosters von der noch vor 1300 entstandenen lateinischen Schrift Claustrum anime cum dispositione officiorum et officialium suorum nachweisen. 159 Dieser Text, im Wesentlichen eine Sammlung von Autoritätenzitaten über das richtige Klosterleben, »enthält Allegorisches aus dem Umkreis der Klostergebäude und -ämter nur im Anfangssatz jedes Kapitels«. 160 Gleichsetzungen einzelner baulicher Elemente oder Rollen in der Klosterhierarchie mit monastischen Tugenden werden als Titel verwendet, mithilfe derer die gesammelten Dicta thematisch geordnet und untergliedert werden. So heißt es z. B. abbas huius claustri est iugis meditatio divine presentie, prior est obedientia oder subprior est discretio. 161 Diese Tituli sind wohl mit Mary Carruthers als »simply a mnemonic heuristic« zu verstehen, die es erlaubt, diverse Zitate zum Thema der Tugendlehre unter Zuhilfenahme des ordnenden Bildes der Klosteranlage besser im Gedächtnis zu speichern. 162 Wie Bauer aufzeigt, verselbstständigte sich die Titelei im Laufe der Überlieferung jedoch. Sie wurde gesondert abgeschrieben und findet sich als unabhängiger Text zunächst auf Latein und ab Mitte des 14. Jahrhunderts auch in einer volkssprachigen Übertragung überliefert, aus der sich schließlich im Verlauf mehrerer Überarbeitungsstufen und Ergänzungsschritte die oben wiedergegebene, im 157 Wie Edmund Wareham zusammenfasst: »This idealised convent was therefore made up of a combination of people, spaces and objects to form a true catalogue of virtuous, monastic living« (Wareham 2016, S. 2016). 158 Nicole Eichenberger merkt dazu an, dass sich hier, anders als in allegorischen Erzählungen oder Predigten, »Bild- und Auslegungsteil nicht durch einen Gegensatz von Narration und Diskurs« unterschieden, »sondern dadurch, dass der Bildteil konkrete Entitäten, der Auslegungsteil hingegen abstrakte Größen enthält, die durch das Analogisierungsverfahren greifbar gemacht werden sollen« (Eichenberger 2019, S. 77). Dem stimme ich grundlegend zu, allerdings mit der Anmerkung, dass mir die benannten Tugenden des Herzklosters nicht allein als abstrakte Größen gedacht zu sein scheinen, sondern vielmehr referentiell auf Eigenschaften und Bestandteile des real zu formenden homo interior verweisen. 159 Siehe Bauer 1980, Sp. 1159 f.; sowie ausführlicher Bauer 1973, S. 313 - 316, mit Angaben zur Überlieferung des bislang nicht edierten Claustrum anime cum dispositione. Eine deutsche Übertragung findet sich laut Bauer in Engelberg, Stiftsbibl., cod. 85, fol. 1r - 38r. Diese Handschrift müsste noch genauer untersucht werden. 160 Bauer 1973, S. 314. 161 »Der Abt dieses Klosters ist die stetige Andacht göttlicher Gegenwart«, »der Prior ist der Gehorsam«, »der Subprior ist das Vermögen zur Unterscheidung«; zitiert nach der Handschrift Karlsruhe, BLB, Cod. St. Peter perg. 82, fol. 1r - 2r. 162 Carruthers 1990, S. 142. 318 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="319"?> ausgehenden Mittelalter so verbreitete Fassung des Herzklosters entwickelte. 163 Obgleich textgeschichtlich erhellend, liefern Bauers Untersuchungen freilich keine Antwort auf die Fragen, wie dieser im Spätmittelalter ungemein populäre Kurztext zu interpretieren sei, wie er aufgebaut ist, und wie er zeitgenössisch rezipiert wurde. Welcher Textgattung, so muss als erstes gefragt werden, kann das Herzkloster überhaupt zugeordnet werden? In Anlehnung an eine Begriffsbildung Kurt Ruhs wurde es in der Forschung öfters als merkvershafte › Dispositionsallegorie ‹ begriffen. 164 Damit ist zunächst impliziert, der allegorisierte Gegenstand, das heißt das Klostergebäude mitsamt der dort beheimateten Personengemeinschaft, stehe bildlogisch in keinem festen Entsprechungs-, sondern eher in einem losen Gliederungsverhältnis zur mitgelieferten Allegorese, wodurch Möglichkeiten des freien Ausbaus, der Adaptierung und Variation entstünden. Bauer betont in diesem Sinne, »gerade die freie Manipulierbarkeit [ … ], die jedem Benutzer die Möglichkeit gab, überlieferte Bestandteile des Texts untereinander auszutauschen, nach Belieben wegzulassen oder durch andere Elemente zu ersetzen«, sei charakteristisch für diesen Text und begründe sich in der scheinbaren Willkür, mit der hier »die allegorischen Parallelen [ … ] den erwähnten Realbezügen angehängt« seien. 165 Tatsächlich folgt die Auflistung monastischer Tugenden und Affekte sowie ihrer jeweiligen allegorischen Entsprechungen im Herzkloster keiner vom allegorisierten Gegenstand zwingend vorgegebenen Struktur, sondern kann in recht freier Assoziation von Detail zu Detail schweifen. Dies begünstigt, wie bereits die enorme Varianz der Textüberlieferung zeigt, ein Weglassen und Zufügen einzelner Punkte ebenso wie die Anpassung an die Gegebenheiten und Strukturen spezifischer Orden oder Klostergemeinschaften. 166 Dabei kann auch das Herzkloster bis zu einem gewissen Grad als »architectural mnemonic« begriffen werden, 167 das abzielt auf ein Auswendiglernen des allegorisch veranschaulichten Tugendkatalogs mittels eines »systematic forming of › pictures ‹ that would stick in the memory and could be used«. 168 Auf der anderen Seite aber, so möchte ich einwenden, nimmt dieser Text durchaus eine - wenn auch nicht stets stringente - Hierarchisierung und Unterteilung der aufgezählten Tugendeigenschaften vor und bietet mittels der entworfenen Bildstruktur Ansätze zu einer systematisierenden Deutung dieses Zusammenhangs. Hierin gestaltet sich das Herzkloster eben nicht willkürlich, sondern setzt allegorische Bildlichkeit gezielt 163 Ausführlich dargestellt bei Bauer 1973, S. 313 - 328. Der Autor führt aus, mit »den Übertragungen der Tituli des großen Claustrum-Animae-Buches ins Deutsche, genauer gesagt: mit den Übersetzungen der lateinischen Tituli-Bearbeitungen waren die Materialien bereitgestellt, die ein weiterer anonymer Autor zu derjenigen volkssprachigen Herzkloster-Allegorie verbinden konnte, die sich im Mittelalter solch großer Beliebtheit erfreut hat« (ebd., S. 327). Ob das Herzkloster in diesem Sinne als eigenständiges Werk oder doch besser als kürzende und anders akzentuierende Redaktion der älteren, auf der Titelei des Claustrum anime cum dispositione aufbauenden Texte verstanden werden kann, ist wohl eine Ansichts- und Begriffsfrage. Der textgenetische Zusammenhang zwischen diesen Texten scheint dagegen eindeutig. 164 Vgl. Kurt Ruh: Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskanermystik und -scholastik, Bern 1956 (Bibliotheca Germanica 7), S. 256; sowie knapp Ruh 1993, S. 437 f. u. 489. 165 Bauer 1973, S. 327 u. S. 320. 166 So können z. B. männliche und weibliche Formen der Klosterämter recht beliebig ausgetauscht werden. 167 Carruthers 1990, S. 71; vgl. außerdem S. 71 - 79; S. 122 - 155. 168 Ebd., S. 127. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 319 <?page no="320"?> zur deutenden Gliederung des Bedeuteten ein. So ist eine grobe Unterteilung des Textes in vier Sinnabschnitte auszumachen. Die ersten sieben Punkte, also die Allegorese der Klosterämter, veranschaulichen die übergeordnete Rolle Gottes für den christlichen Menschen und die ihm dienenden Funktionen verschiedener, aufeinander aufbauender Grundtugenden. So werden z. B. Gottesnähe, Verstand, Demut und Geduld mit Abt, Äbtissin, Priorin und Küsterin des inneren Klosters identifiziert und somit gemäß der Klosterhierarchie in eine ordnungsstiftende Rangfolge gebracht. Anschließend leitet die Identifikation des Priesters mit der göttlichen Gnade über in ein neues Bildebenso wie Bedeutungsfeld. Nun ruft das Herzkloster mit dem Altar, den Messdienern, dem Kreuz und den singenden Chorschwestern Elemente einer Messfeier auf und setzt sie mit götliche[r] mynne, beckantnüzze, gehorsamkeit und dankperckeit gleich. Auf diese Weise verschiebt der Text seinen Fokus auf das gnadenhafte Wirken Gottes im tugendhaften Menschen. Von dort ausgehend kommt er auf eher glaubenspraktische Gesichtspunkte zu sprechen. Drittens nämlich identifiziert das Herzkloster beginnend mit der die gelazzenheit bedeutenden Klosterkirche, in der die Messe gefeiert wird, die einzelnen Baubestandteile der Klosteranlage und die damit verbundenen Ämter mit frömmigkeitsbezogenen Aspekten der vita religiosa. Der Kreuzgang bedeutet z. B. die Askese, der Friedhof das Sinnieren über den eigenen Tod, die Schaffnerin verkörpert die religiöse Armut, das Refektorium, also der klösterliche Speisesaal, die Mäßigung, das Schlafgebäude die Keuschheit und die Einzelzelle solitudo, also die monastische Einsamkeit. Viertens und abschließend leitet der Text über zum Klostergarten, der auf die Heilswirksamkeit eines religiösen Lebens hin allegorisiert wird und dabei auch Berührungspunkte mit den von Dietrich Schmidtke ausführlich untersuchten geistlichen Gartenallegorien aufweist. 169 Auch jenseits einer solchen Gliederung des Tugendkatalogs in vier bildlich wie sinnhaft getrennte Allegoriebereiche (Klosterämter/ Tugendstruktur - Messgeschehen/ Gnadenwirkungen - Klostergebäude/ Frömmigkeit - Klostergarten/ Heilshoffnung) erscheint das Bild des Herzklosters nicht arbiträr. Vielmehr verdeutlicht es ansatzweise die jeweiligen Rollen, die den bezeichneten Eigenschaften im Gesamtkontext eines idealen religiösen Lebens angedeihen. Dass Gott beispielsweise als Abt des Herzens fungiert, verweist gleichzeitig auf die Vorstellung vom menschlichen Inneren als Ort der Einkehr des Göttlichen wie auch auf die Oberhoheit des göttlichen Wirkens und Willens über das Herz des Gläubigen. Auf ähnliche Weise heben auch die meisten übrigen Punkte des Herzklosters veranschaulichend auf Sinn und Funktion der jeweils allegorisierten Gegenstände ab. So wird der unverdientermaßen die Sakramente erteilende Priester mit der ebenfalls ohne menschliches Zutun gewährten göttlichen Gnade identifiziert, die für die sparsame Vermögensverwaltung des Klosters zuständige Schaffnerin mit der Armut, der Kirchhof, der dem Begräbnis der verstorbenen Schwestern sowie dem Totengedenken in Gebet und Fürbitte dient, mit der inneren Vorbereitung auf den eigenen Tod und die Mäßigung in allen Dingen mit dem durch bescheidene Nahrung gekennzeichneten Refektorium des Klosters. Solche bildlogischen Stimmigkeiten werden im Herzkloster freilich nicht weiter ausgedeutet. Nach Dietrich Schmidtkes Typologie geistlicher Dingallegorien folgt der Text einer reinen »Notatatform«, die über »einfache Gleichsetzung« nicht weiter erläuterte 169 Vgl. Schmidtke 1984, S. 89, der auch auf die gemeinsame Überlieferung des Herzklosters mit vergleichbaren gartenallegorischen Texten hinweist. 320 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="321"?> Sinnbeziehungen herstellt. 170 Vertiefende Interpretationsleistungen bleiben so dem Leser überlassen, der die Analogien zwischen äußerem Kloster und dem Tugendaufbau des menschlichen Herzens aufzuschlüsseln vermag. Wie nun wurde ein solcher Text gelesen? Vermittelte er Tugendlehre, besaß mnemotechnischen Wert oder diente im monastischen Kontext der selbstvergewissernden Gleichsetzung von innerer und äußerer Lebensform? Der Überlieferungsbefund weist hierüber hinaus. Er legt nahe, dass das Herzkloster vornehmlich zur meditativen Lektüre rezipiert wurde, die über die Entfaltung von Sinnpotentialen ebenso wie ästhetischen Erfahrungen der Immersion ins Gebäudebild auf eine figurierende Realisierung des Textinhalts im Leser, also auf Erbauung seiner selbst zur geistlichen Klosteranlage zielte. So findet sich das Herzkloster beinahe ausschließlich in geistlichen Sammelhandschriften, die primär paränetische und katechetische Traktate, Andachtsübungen und andere (Vor-)Lesetexte zur Lektüre im Rahmen vornehmlich klösterlicher Privatfrömmigkeit enthalten. Mithin taucht das Herzkloster auch im Verbund von Gebetbuchhandschriften auf. 171 170 Schmidtke 1982, S. 298. 171 Vornehmlich im Gebetbuchkontext steht das Herzkloster z. B. in Augsburg, UB, Cod. III. 1. oct. 32, fol. 2v - 3v; Berlin, SBB-PKB, mmgo 222, fol. 148r/ v; Freiburg i. Brsg., Erzbischöfliches Archiv, Hs. 19, fol. 214r - 215r; Heidelberg, UB, Cod. Pal. germ. 472, fol. 126v - 127r; St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 1004, S. 359 f.; Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 3011 Cod. 85, fol. 71r/ v; Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. Convent V, fol. 135r - 139r (hier eine ausgeweitete niederdeutsche Reimfassung, in der die einzelnen personifizierten Tugenden je einen kurzen Monolog geben). In geistlichen Sammelhandschriften, die neben Gebets- und Andachtstexten vor allem katechetische Texte, Predigtauszüge, Heiligenlegenden und › erbauliche ‹ Traktate überliefern, steht das Herzkloster mit Ausnahme der im Editionsappendix beschrieben Handschriften auch in Augsburg, UB, Cod. III. 1. quart. 8, fol. 210v - 212r (zwischen David von Augsburg: Novizentraktat, Sprüchen, Dicta, Gebeten etc.); Berlin, SBB-PKB, mgf 19, fol. 250v - 251r (nach Otto von Passau: 24 Alte, zwischen verschiedenen Traktaten und Andachten); Freiburg i. Brsg., UB., HS. 464, fol. 208r/ v (als Nachtrag zu einer Predigtsammlung); Heidelberg, UB, Heid. HS. 959, fol. 253r (zwischen Marquard von Lindau: Dekalogerklärung, Gebeten, einer ars moriendi, den Vitaspatrum und anderen Texten); München, Cgm 851, fol. 237v - 238r (zwischen Heinrich Seuse: 100 Betrachtungen und verschiedenen Messtraktaten); ebd., Cgm 861, fol. 69v - 71r (zwischen den Acht inneren Leiden Christi, dem Geistlichen Maibaum und Exzerpten aus Meister Eckhart und Gertrud von Helfta); ebd., Clm 28256, fol. 100v (v. a. zwischen lateinischen Passionsbetrachtungen und -traktaten); ebd., Clm 3592, fol. 157r (zwischen Albert von Dießen: Speculum clericorum, Speculum ecclesiae, Jean Gerson: Donatus moralisatus etc.); Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, HS. 33547, fol. 129r (nach Marquard von Lindau: Dekalogerklärung und einem Epistel Irmhart Ösers); Prag, Nationalbibl., Cod. XVI. G.22, fol. 87r - 89v (zwischen diversen franziskanischen Predigten und Traktaten); Salzburg, Stiftsbibl. Nonnberg, Cod. 23 C 5, 76v - 77v (zwischen Traktaten z. B. des Mönchs von Heilbronn und Matthäus ’ von Krakau); Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a VI 3, fol. 294v - 296v (angehängt an Johannes Nider: 24 goldene Harfen); ebd., cod. b III 12, fol. 297r/ v (gemeinsam u. a. mit der Geistlichen Klause); St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 966, S. 103 (zwischen verschiedensten Traktaten, Predigten z. B. Meister Eckharts, Andachtstexten, den Offenbarungen Elsbeths von Oye und dem St. Galler Weihnachtsspiel); St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 1004, S. 359 f. (zwischen diversen Gebeten, darunter dem Gebetszyklus des Johannes von Indersdorf für Wilhelm III. von Bayern, einer Benediktvita, Marquard von Lindau: Eucharistietraktat, den Engelberger Predigten und verschiedenen Andachtstexten); Stuttgart, Landesbibl., Cod. theol. et phil. 4° 59, fol. 321v - 322v (zusammen mit einigen Sprüchen und Andachtstexten angehängt an die alemannischen Vitaspatrum); Privatsammlung Eis, Heidelberg, Hs. 12, fol. 77r/ v (zwischen Heinrich Seuse: Horologium sapientiae sowie verschiedenen Traktaten, Gebeten und Andachtstexten). Daneben existieren einige von diesem typischen Befund abweichende Ausläufer, so z. B. die Handschrift Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 4486a, fol. 37v - 38r, die das Herzkloster als Addendum an die Benediktsregel anhängt, Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VI, 81, fol. 276r - 277r, wo der Text an Heinrich Seuse: Büchlein der ewigen Weisheit angehängt ist, oder Strasbourg, AVES, II 39/ 17, 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 321 <?page no="322"?> Wird davon ausgegangen, dass diese Gebäudeallegorie auf ähnliche Weise rezipiert wurde wie die gemeinsam mit ihr überlieferten Texte, so weist alles daraufhin, auch das Herzkloster habe in erster Linie einer Form der Lektüre gedient, die sich im Spannungsfeld von Gebet, Andacht und jener besserunge des Lesers durch Belehrung und Vorbildgabe bewegte, die Jens Haustein als Antwort auf die Frage vorschlägt, »was denn mittelalterliche volkssprachliche Erbauungsliteratur stricto sensu sein könnte«. 172 Lehrend und wissensvermittelnd gestaltet sich das Herzkloster, indem es einen Katalog monastischer Tugendeigenschaften aufstellt und diesen auf einfach memorierbare Weise veranschaulicht, sinnvoll gliedert und mit weiterem Ausdeutungspotential versieht. Ein besserndes Vorbild aber bietet der Text insofern an, als dass er das so gezeichnete allegorische Tugendbild als Modell aufwirft, dem sich das Publikum innerlich nachformen soll und das so den anzustrebenden Vollkommenheitszustand des christlichen Menschen präfiguriert. Tatsächlich scheint der vom Herzkloster stimulierte Leseeffekt einer bessernden Introspektive von seinen zeitgenössischen Rezipienten ganz gemäß der Bildlichkeit des Texts als Bautätigkeit am und im eigenen Selbst verstanden worden zu sein. So sind zahlreiche Textzeugen mit apostrophenhaften Rubriken überschrieben, die dazu auffordern, die geschilderte Klosteranlage in sich zu errichten. Hie merck von einem geistlichen closter, wie und wa mit du daz in dir pawen und machen solt (HK 1 f.), heißt es beispielsweise den meisten Handschriften, die das Herzkloster gemeinsam mit dem unten untersuchten Kommentartraktat überliefern. 173 Die spirituelle Klosteranlage erscheint in der Sichtweise, die derartige Peritexte aufscheinen lassen, gleichsam als anzustrebende Innenarchitektur des religiösen Menschen. Die einzelnen Bestandteile des Klosters bezeichnen also nicht allein als Sinnbilder abstrakte Zusammenhänge, sondern beziehen sich vorbildgebend auf die Elemente einer sich der Perfektion nähernden inneren Verfasstheit, die der Rezipient realisieren und sich somit › erbauen ‹ soll. Damit betreibt das Herzkloster nicht mehr allein Allegorie - vielmehr präfiguriert es eine im inneren Menschen zu erfüllende Eigenwirklichkeit. Besonderen Aufschluss dazu gibt ein bislang weitgehend unbeachteter Kurztraktat, der das Herzkloster kommentiert und im 15. Jahrhundert überaus reich überliefert ist. 174 Insgesamt konnte ich 24 Textzeugen identifizieren, deren älteste aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts stammen, während der jüngste 1499 niedergeschrieben wurde. Geographisch ist der Text im gesamten süddeutschen Raum von Ingolstadt bis ins Elsass wo sich ein Einzelblatt innerhalb eines Konvoluts von Dokumenten aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis findet. Besonders aus der Reihe fällt der Textzeuge München, BSB, Cgm 766, fol. 107r/ v (zwischen Heinrich von Langenstein: Erkanntnus der Sünd, einem Sterbebüchlein und dem Schachzabelbuch des Jacobus de Cessolis). 172 Haustein 2019, S. 48. 173 »Hier merke von einem geistlichen Kloster, wie und womit du das in dir bauen und herstellen sollst«, vgl. die folgend im Fließtext als › HK ‹ zitierte Edition im Appendix; sowie auch Bauer 1973, S. 23. Beinahe alle Textzeugen, die das Herzkloster gemeinsam mit dem es erläuternden Traktat überliefern, beinhalten diese Rubrik, vgl. dazu den Apparat der Edition. 174 Zu diesem Text siehe bislang die vor allem auf seine Überlieferungskontexte gerichteten Ausführungen bei Egino Weidenhiller: Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters. Nach den Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek, München 1965 (MTU 10), S. 140 - 152; sowie Wolfgang Frühwald: Der St. Georgener Prediger. Studien zur Wandlung des geistlichen Gehalts, Berlin 1963 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. NF 9), S. 148 - 151. 322 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="323"?> verbreitet, wobei die drei ältesten nachweisbaren Handschriften aus Schwaben (Kirchheim und Ulm) stammen. 175 Auffällig ist zudem, dass die erhaltenen Handschriften aus Bibliothekskontexten verschiedenster Ordenstraditionen stammen. Zisterziensische, benediktinische, dominikanische und kartäusische Klöster sowohl der männlichen wie auch der weiblichen Ordenszweige sowie mehrere Augustinerchorherrenstifte besaßen Abschriften des Traktats. Mindestens drei der erhaltenen Textzeugen legen sogar eine Anfertigung für religiöse Laien nahe. 176 Von einer breiten, nicht an ein scharf definiertes Lesepublikum gebundenen Rezeption ist entsprechend auszugehen. Hinweise auf seinen Entstehungskontext gibt, dass der Kommentartraktat in den älteren Handschriften stets im Verbund mit dem Traktatbündel Von einem christlichen Leben sowie einem Zyklus weiterer Stücke überliefert ist, darunter dem allegorischen Traktat Die Goldwaage der Stadt Jerusalem, den einen volksprachigen Auszug aus dem Stimulus amoris darstellenden Zehn Staffeln der Demut sowie einem Tagzeitentext zur Passion Christi. 177 Zusammengenommen verbinden diese Texte katechetische Vermittlungsstrategien wie die Erläuterung des Dekalogs, die Vermittlung von Paternoster, Ave Maria und Credo sowie Tugend- und Sündenlisten mit frömmigkeitspraktischen Aspekten wie einer »Anleitung zum Tagzeitengebet für Laien«. 178 Egino Weidenhiller, der diesen Traktatzyklus untersuchte, nahm für Von einem christlichen Leben aus inhaltlichen Gründen einen Verfasser aus dem Umkreis des »Augustinerordens, genauer gesagt der Augustinerchorherrn« an und datiert ihn zwischen 1379 und 1413. 179 Dass diese Annahme auch für den gemeinsam mit Von einem christlichen Leben in der Überlieferung auftauchenden und zumeist im Verbund überlieferten Kommentar zum Herzkloster zutreffen könnte, scheint angesichts mehrerer Textzeugen aus den Augustinerchorherrenstiften Rebdorf und Indersdorf zumindest denkbar. 180 Am ehesten lässt sich der kurze Traktat als instruktive Erläuterung verstehen, die im spezifischen Umfeld der Frömmigkeitskultur des 15. Jahrhunderts einen populären vorgängigen Bezugstext zugänglich erläutern sowie seine Rezeption anleiten sollte. Es handelt sich hier also um einen Paratext, der in Bezug auf die richtige Interpretation und den Gebrauch des Herzklosters eine Schlüsselfunktion beansprucht. Für die Frage nach der Rezeptionsästhetik dieser Klosterallegorie besitzt dies großen Aufschlusswert. 175 Vgl. hierzu ausführlich die Liste der Textzeugen und die Anmerkungen zur Überlieferung im Appendix dieser Arbeit auf S. 479 - 489, insbesondere die Siglen A1, A2 und L. 176 Es handelt sich hierbei um die Textzeugen mit den Siglen E2, L und M6. 177 Vgl. dazu Egino Weidenhiller: Art. Von einem christlichen Leben, in: 2 VL 1 (1978), Sp. 1228 f.; sowie 2 VL 11 (2004), Sp. 323. Der Tagzeitentext aus diesem Traktatbündel ist abgedruckt bei Matter 2021, S. 102 - 106, und besprochen ebd., S. 43 - 45 sowie S. 80. Die Goldwaage findet sich, wenn auch mit fälschlicher Datierung aufs 14. Jahrhundert, nach Zürich, Zentralbibl., MS. C 20 abgedruckt bei Wolfgang Stammler (Hg.): Spätlese des Mittelalters. II. Religiöses Schrifttum, Berlin 1965 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 19), S. 57 - 60; vgl. auch die Erläuterungen ebd., S. 157 - 162. Stammlers Fehldatierung wird berichtigt bei Bernhard Schnell: Art. Die Goldwaage der Stadt Jerusalem, in: 2 VL 3 (1981), Sp. 93 f. 178 Matter 2021, S. 80. 179 Weidenhiller 1965, S. 147. Der Datierungszeitraum (vgl. ebd., S. 148) plausibilisiert sich durch die Erwähnung Birgittas von Schweden als Ordensgründerin in Von einem christlichen Leben sowie durch die älteste datierte Handschrift (Sigle A1). 180 Vgl. die Siglen M1, M3, M4, M7 und B3 in der Handschriftenauflistung im Appendix. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 323 <?page no="324"?> Inhaltlich kann der Kommentartraktat in zwei Abschnitte gegliedert werden, deren erster auf das Zielpublikum und die intendierte Wirkung des Herzklosters eingeht. Der zweite dahingegen widmet sich der - stets prekären - Frage nach dem Zusammenspiel von göttlicher Gnade und menschlicher Mitwirkung bei einer solchen Frömmigkeitsübung. Zunächst aber, so stellt der Text klar, sei der vom Herzkloster angeregte Prozess der inneren Selbstformung zum Tugendkloster allen menschen notdurftig, gaistlichen und auch werltlichen (HK, Z. 54 f.). 181 Detailreich werden jene die Stellung des äußeren Menschen bestimmenden sozialen Unterschiede aufgelistet, die hierzu irrelevant seien. Der Kommentar negiert dabei bewusst zentrale Trennlinien des religiösen Lebens im 15. Jahrhundert: Hie sol ein ietlicher gaistlicher mensch, er sei pruder oder swester eben und wol merken und verstaen und auch wissen, welhes oder waz ordens er halt ist, swartz, weiz oder grawe, wie wol den sein closter und wie vest ez gemaurt und verslozzen ist und wie gaistlichen sein claider, sein haubt und sein schein ist und wie hertt und wie streng sein orden ist nach dem aussern menschen an herten claidern und an herttem geliger, an vasten, an wachen, an abstinencii und an andern cerimonien: Ist denn, daz er daz vorgeschriben gaistlich closter nach dem innern menschen in im selber niht wol und auch gentzlich pawet, daz ist, ob er die vorgenanten tugent, do mit daz gaistlich closter gepawet wirt, niht alle besitzet, so ist im sein gemaurt closter, da er innen ist, und sein geistlicher schein und auch die hertikeit seins ordens niht nutz noch fruchtper. Und also ist er on sache in dem closter und in dem orden. (HK, Z. 35 - 45) 182 Weder das Geschlecht des christlichen Menschen, der sich dem Herzkloster widme, noch sein Stand in der Kloster- und Kirchenhierarchie oder die asketische Strenge seiner Lebensführung seien von Bedeutung. Als belanglos benannt werden auch die jeweiligen Ordenstraditionen, die hier mittels der Habitfarben in Dominikaner, Zisterzienser und Franziskaner unterteilt sind, sowie die wohl auf den Unterschied zwischen benediktinischen Klosteranlagen und den im urbanen Raum angesiedelten Mendikantenhäusern anspielende Bauform des physischen Klosters. Auch die Frage, wie fest das äußere Kloster verslozzen sei, inwiefern es also der im Zuge der Observanzbewegung zum Streitpunkt gewordenen strengen Klausur anhänge, spiele keine Rolle. 183 Einzig und allein nämlich 181 »für alle Menschen nötig, geistliche und auch weltliche«. 182 »Hier soll ein jeglicher geistlicher Mensch, sei er Bruder oder Schwester, gleich und gut merken und verstehen und auch wissen, gleich welchem Orden - schwarz, weiß oder grau - er angehöre, gleich wie gut sein Kloster beschaffen und wie fest es gemauert und beschlossen sei, gleich wie geistlich seine Kleidung und sein Habit und sein Ansehen sei und wie hart und wie streng es sein Orden hinsichtlich des äußeren Menschen halte mit harten Kleidern und hartem Lager, mit Fasten, mit Wachen, mit Abstinenz und mit anderen Übungen: Ist es denn so, dass er das oben aufgeschriebene geistliche Kloster in Hinblick auf den inneren Menschen in ihm selbst nicht gut und zur Gänze erbaut, das heißt, wenn er die obengenannten Tugenden, mit denen das geistliche Kloster gebaut wird, nicht alle besitzt, dann sind ihm sein gemauertes Kloster, in dem er lebt, und sein geistliches Ansehen und auch die Härte seines Ordens weder nützlich noch fruchtbar. Und somit ist er ohne Grund im Kloster und im Orden.« 183 In Anbetracht der zentralen Rolle der Klausur für die dominikanische Ordensreform ist eine derartige Aussage durchaus bemerkenswert: »The introduction of strict enclosure was one of the main interests of the reform movement within the Dominican order which promulgated the return to a stricter observance. The intention was to reinstate the original ideals of Dominican convent life as embodied in the Augustinian rule and the Order ’ s constitutions. All softening regulations and dispensations which had been introduced afterwards had to be abolished«, Marie-Luise Ehrenschwendtner: Creating the Sacred Space Within. Enclosure as a Defining Feature in the Convent Life of Medieval Dominican Sisters (13th - 15th c.), in: Viator 41.2 (2010), S. 301 - 316, hier S. 307. 324 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="325"?> komme es darauf an, dass der innere Mensch sich dem Vorbild des Herzklosters gemäß zur Tugendhaftigkeit hin erbaue. Alle äußeren Dinge gälten für nichts, wenn diese innere Verfasstheit fehle oder unvollkommen sei. Schließlich, so fährt der Kommentartraktat fort, gelte dies nicht bloß für Klosterinsassen, sondern sogar für Laien, die ja ebenso tugendbedürftig seien. Drei Aspekte sind hieran in Hinblick auf das Verständnis des Herzklosters und seiner zeitgenössischen Rezeption besonders bedeutsam. Zum einen formuliert der Kommentartraktat bezüglich des intendierten Publikums einen prinzipiell universellen Anspruch. Das Herzkloster sei nicht nur für eine bestimmte Personengruppe oder ein spezifisches Umfeld relevant, sondern besitze Gültigkeit für die christlichen Gläubigen im Allgemeinen. Damit steht diese Erläuterung quer zu Forschungstendenzen, die das Herzkloster und ähnliche Erbauungstexte als alleiniges Proprium weiblicher Spiritualität des Spätmittelalters betrachten. 184 Eher kann hier wohl von einem Textkorpus gesprochen werden, dessen Impulse zwar in vielen Fällen von Frauenklöstern vor allem der dominikanischen Observanz ausgingen, dessen Geltung und Wirkung jedoch über dieses Milieu hinaus ausstrahlten. Die enorme Verbreitung sowie die den Text an verschiedene Kontexte anpassenden Adaptierungen und Varianten des Herzklosters belegen, dass die historische Rezeptionswirklichkeit dem im Kommentartraktat formulierten Anspruch durchaus bis zu einem gewissen Grad entsprach. 185 Zweitens partizipiert der Text in signifikanter Weise an jener für das Spätmittelalter typischen Höherbetonung der Innerlichkeit, die dabei freilich stets amplifizierend an das Äußere und die mit ihm verbundenen Erfahrungsmodi rückgekoppelt ist. 186 Denn statt auf die Lebensführung des äußeren Menschen zu fixieren, betont der Traktat die Vorrangigkeit des gaistlich closter nach dem innern menschen, wobei dieses innere Gebäude einerseits in Analogie zu den materiellen und sozialen Gegebenheiten und Normen des monastischen Lebens steht, sich andererseits aber auch als innere Wirklichkeit handlungsbestimmend auf die äußere Realität derjenigen auswirken soll, die es in sich tragen. Zwar sind alle äußeren Werke ohne eine ihnen entsprechende Basis der inneren Tugenderbauung on sache - der richtige innere Zustand jedoch zeitigt, wie die Erläuterung im Anschluss impliziert, auch ein entsprechendes äußeres Verhalten, dessen Güte dem inneren Gut-Sein des Menschen entspringt. Damit dies drittens gelingt, muss das Tugendkloster zunächst im Herzen des je Einzelnen konstruiert werden. Will der individuelle Christ früm und selig werden, so müz er ye daz vorgenant gaistlich closter auch pawen in im selber (HK, 50 f.). 187 Das Herzkloster wird somit als Modell präsentiert, nach dem sich jeder Gläubige innerlich gestalten soll. Es erscheint gleichsam als Belehrung wie als Vorbild, als paränetischer Tugendkatalog ebenso wie als Präfiguration eines intendierten inneren Wandels, der vom Text als Akt der › Erbauung ‹ vermittelt wird. 184 So sollte z. B. Hamburgers Annahme, derartige Schriften »became part of the way in which nuns experienced the world« (Hamburger 1997, S. 154) ausgeweitet werden - der Text scheint ebenso an Mönche und Laien gerichtet und von diesen benutzt worden zu sein. 185 Das dem Herzkloster eng verwandte, unten noch in den Blick genommene Lied vom inneren Kloster z. B. stammt wohl aus einer männlichen Benediktinerabtei; 186 Vgl. dazu, durchaus miteinander im Kontrast, Lentes 1999 und Largier 2014. 187 »fromm und selig werden, so muss er jeweils das oben beschriebene Kloster in sich selbst erbauen«. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 325 <?page no="326"?> Ist jedoch ein derartiger Akt der auf religiöse perfectio hinstrebenden Selbstformung dem Menschen nach eigener Kraft überhaupt möglich? Der Kommentar zum Herzkloster erkennt, ähnlich wie viele der vorweg behandelten Texte, ein gnadentheologisches Problem in einem solchen Anspruch, sich durch Frömmigkeitsakte selbst zur Seligkeit zu verhelfen. Er formuliert deshalb von vornherein einen Einwand gegen sein Lob des inneren Klosterbaus: Wie kan ich und wie mag ich ymmer zu disen vorgenanten tugenden und dingen allen kumen, wann ich doch nihtz gütz überal von mir selber hab und auch on die genad gotz ckain güt weder getün ckan noch mag? (HK, Z. 57 - 59) 188 Diese kritische Frage, so führt der Text aus, sei berechtigt - denn ohne die unverdiente Gnade Gottes könne der Mensch sich nicht selbst innerlich aufrichten. Aus eigenem Vermögen sei es ihm also unmöglich, sich bessernd umzugestalten, wohl aber könne er sich auf die Mitwirkung Gottes vorbereiten, indem er daz sein tüt (HK, Z. 65) und darauf hoffe, dass Gott ihm im Gegenzug gnadenhaft bei dem frommen Bauvorhaben entgegenkomme. 189 Unter dieser Gnadenvorbereitung versteht der Traktat zum Herzkloster drei Dinge: sündhafte Werke zu unterlassen, den Willen zur Sünde abzulegen und je nach Vermögen gute Werke zu tun. Dieser menschliche Eigenbeitrag nun ermögliche es dem gläubigen Menschen, bei der Selbstfiguration zum geistlichen Kloster auf die Gnade Gottes zu vertrauen: Will denn der mensch fleissig und endlich sein, so gibt im got ie mer und ie mer. Und also mag er denn mit gotz hilf wol früm und selick werden, ob er will. (HK, Z. 72 f.) 190 Das innere Tugendgebäude, dessen Vorbild das Herzkloster liefert, wird so als Werk der Gnade präsentiert, das allerdings der menschlichen Mitwirkung in Form von Entgegenkommen und Vorbereitung bedarf. Ähnlich rechtfertigende Erläuterungen heilsvermittelnder Frömmigkeitsformen wurden oben bereits für Dominikus von Preußen und Mechthild von Hackeborn beschrieben - es handelt sich hier um eine verbreitete Argumentationsfigur. Dabei ist die somit in göttlich-menschlicher Zusammenarbeit entstehende innere Klosteranlage nicht nur als allegorisches Zeichengeflecht verstanden, sondern als wirklicher Zustand, den der Gläubige in und aus sich herzustellen aufgefordert ist. Mit diesem Anspruch der Konstruktion geistlicher Konkretheit, also einer für die inneren Sinne evidenten Gestalt des für die äußeren Sinne Unzugänglichen, läuft das Herzkloster auf einen Prozess hinaus, der dem › handwerklichen Beten ‹ von Rosenkränzen und Marienmänteln vergleichbar ist, auch wenn hier auf innere Selbstfiguration statt auf geistliche Gabenfertigung gezielt wird. Zusätzlich illustriert wird dies von einem motivisch eng verwandten Lied, dessen Überlieferung im mittleren und späten 15. Jahrhundert auf das oberösterreichische 188 »Wie kann und wie vermag ich es jemals, zu all den obengenannten Tugenden und Dingen zu kommen, wenn ich doch von mir selbst aus gar nichts Gutes besitze und auch ohne die Gnade Gottes nichts Gutes tun kann oder vermag? « 189 »das Seine tut«. 190 »Denn wenn der Mensch sich fleißig und eifrig bemüht, so gibt ihm Gott je mehr und je mehr. Und somit mag er dann mit Gottes Hilfe wohl fromm und selig werden, wenn er möchte.« 326 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="327"?> Benediktinerkloster Mondsee weist. 191 Trotz der zusätzlichen Nennung der Jungfrau Maria und einigen Abweichungen in der Allegorese der Klosterämter liest sich dieser Text passagenweise wie eine lyrische Verknappung des Herzklosters, mit dem es auch gemeinsam überliefert ist: Wir wellen vns pawen ain hewslein Vnd vnser sel ain klosterlein Ihus crist sol der maister sein Maria iunckfraw die schafferein. Gotliche forch die pfortnerin Gotliche lieb die kelnerein Diemutikait wolt wol do pey Weishait pesleust daz laiden allain. Du edle sele mein Hab lieb den schopfer dein. 192 Überlegungen zu textgenetischen Zusammenhängen mit dem Herzkloster wären angesichts der Knappheit dieser Zeilen spekulativ. Eher zeugt dieses Lied erstens davon, welche Verbreitung die generische Idee einer Erbauung des homo interior zur geistlichen Klosteranlage und -gemeinschaft in der Frömmigkeit des Spätmittelalters generell genoss. Besonders klar wird hier außerdem, wie sehr derartige Texte nicht bloß auf allegorische Veranschaulichung und mnemonische Aneignung, sondern auf vorbildnehmende Angleichung des Rezipienten an das präsentierte Gebäudebild ausgelegt sind. Nicht umsonst heißt es: Wir wellen vns pawen ain hewslein, wobei dieser aufforderungshafte erste Vers neben der Wir-Form auch in der Ich-Form als In meynes herzn heuseleyn / will ich my ᵉ r pauen eyn cleuseleyn überliefert ist. 193 Ähnlich wie die immersiv wirksame Ich-Rolle eines 191 Überliefert in Wien, Österr. Nationalbibl., Cod 3011, fol. 164v - 165r (1440); Cod 3650, fol. 104r (1475 - 1476); Cod. 4119, fol. 21r (2 H. 15. Jh.); Cod. 4348, fol. 66r (1496 - 1503); Cod. 4745, fol. 1r (1439 - 1446). Alle fünf Handschriften stellen Sammlungen geistlicher Sprüche, Lieder und Gebete dar. Mit Ausnahme von Cod. 4745, der lediglich im bayrisch-österreichischen Sprachraum lokalisiert werden kann, stammen alle Textzeugen aus der Benediktinerabtei Mondsee. Stets ist diese kurze Gebäudeallegorie in Versen nach dem Geistlichen Spinnrocken überliefert, der früher oft Hieronymus von Mondsee zugeschrieben wurde. In den Handschriften Cod. 3011, fol. 71r/ v und Cod. 4348, fol. 61r findet sich zudem auch das Seelenkloster in einer auf eine männliche Klostergemeinschaft zugeschriebenen Fassung überliefert. Vgl. dazu die entsprechenden Einträge in Hermann Menhardt: Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 2, Berlin 1961 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin - Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13). 192 »Wir wollen uns ein Häuschen bauen / und unserer Seele ein kleines Kloster, / darin soll Jesus Christus der Meister sein, / die Jungfrau Maria die Schaffnerin. / Gottesfurcht die Pförtnerin / göttliche Liebe die Kellermeisterin, / Demut mag auch dort sein. / Weisheit allein beendet das Leiden / Du, meine edle Seele, / liebe deinen Schöpfer.« Zitiert nach dem Abdruck von Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 4745, fol. 1r in E. G. Graff (Hg.): Diutiska. Denkmäler deutscher Sprache und Literatur aus alten Handschriften, Bd. 3, Stuttgart/ Tübingen 1829, S. 409 f. Graff trennte dieses kurze Lied nicht vom in der Handschrift vorangehenden Geistlichen Spinnrocken und fügt nach V. 4 den Kehrreim dieses Texts ein. Dies erscheint angesichts der unterschiedlichen Form und des klar abgegrenzten Inhalts der beiden Texte trotz der engen Überlieferungsverbindung als zweifelhafte Herausgeberentscheidung. 193 In Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 4348, fol. 66r; siehe Menhardt 1961, S. 1024. Ohnehin ist die Varianz des Textes trotz des geringen Überlieferungsumfangs beträchtlich; vgl. z. B. die ebd., S. 938 nach Cod. 3650, fol. 104r abgedruckte Fassung, in der die letzte Zeile lautet dy beysha[it] beschliost vns daz heyslein (»die Weisheit vollendet und das Häuslein«). 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 327 <?page no="328"?> Gebetstexts kann auch diese individuelle oder kollektive Sprech- oder Singposition von den Rezipienten des Texts übernommen werden, die somit beim Lesen oder Singen den sprachlich vorgezeichneten Bau des Kloster im eigenen Herzen innerlich vollziehen. 194 3.4 Herzklosterallegorien im Kontext von Predigt- und Offenbarungsliteratur Obwohl so überaus breit überliefert und vor allem deshalb hier als vornehmliches Beispiel herangezogen, ist das Herzkloster kein singuläres Textphänomen. Vergleichbare Texte, die das menschliche Innere als Kloster oder Haus darstellen, es allegorisieren und zu seiner Errichtung im und durch das Lesepublikum auffordern, finden sich in der geistlichen Literatur des Spätmittelalters geballt. Auch jenseits der oben angesprochenen, sich von der Zitatensammlung Claustrum anime cum dispositione ableitenden Überlieferung, die textgenetisch mit dem Herzkloster zusammenhängt, lässt sich hier eine breite Tradition ausmachen. Bevor mit dem Buch der Ersetzunge Johannes Meyers auf ein besonders prägnantes Beispiel gesondert eingegangen wird, soll dieses literarische Feld in seinen Eckpunkten knapp nachgezeichnet werden. So findet sich im siebten Buch des Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg ein Kapitel, das sich, obwohl textgeschichtlich wohl unabhängig, mit dem Herzkloster eng vergleichen lässt. 195 Auch hier wird die Klosterhierarchie in knappen Punkten allegorisiert, um ein vorbildhaftes Tugendpsychogramm des monastischen Menschen zu präsentieren. Freilich liegt der Fokus dieser Passage, die zwischen den für das abschließende Buch des Fließenden Lichtes typischen Gebets- und Andachtsanleitungen steht, 196 nicht auf der Architektur des Klostergebäudes oder dem Bild der Einwohnung Gottes im Haus des Herzens. Stattdessen versinnbildlicht Mechthild die menschliche Seele als monastische Gemeinschaft, in der die einzelnen Klosterämter je für bestimmte Tugenden stehen. So bedeutet beispielsweise die Äbtissin die ware minne; die hat vil heliger sinne, da si mit vlisse die samenunge mit bewaret an libe und an sele, alles zu ͦ gotz eren. 197 Mechthilds inneres Kloster setzt sich also allein aus Personifikationsallegorien zusammen, denen jeweils knappe Allegoresen beigefügt sind. 198 Die Metaphorik des 194 Eine Melodie ist für dieses Lied nicht überliefert. Somit können über die musikalischen Performativitätsaspekte des Textes keine Aussagen getroffen werden. 195 Mechthild von Magdeburg: Fließendes Licht der Gottheit, S. 598 - 603 [VII,36]. 196 So steht Mechthilds Klosterallegorie z. B. direkt nach einer geistlichen Speiseallegorie sowie einer Reihe aus sieben »Psalmgebeten« und wird nach einer kurzen, allerdings als Andachtsübung nutzbaren Visionsschilderung wiederum gefolgt von einem Bußgebet. Der Kontext, in den sich diese Passage einfügt, ist damit der typischen Einbettung des Herzklosters in Gebetbücher und geistliche Sammelhandschriften ähnlich. 197 »die wahre Liebe; die besitzt viel heilige Weisheit, womit sie für den Konvent an Leib und Seele voller Eifer Sorge trägt, allein zu Gottes Ehre«, ebd., S. 598 f. 198 Christiania Whitehead sieht hierin im Vergleich mit den von ihr voran untersuchten gebäudeallegorischen Traktaten des Hochmittelalters »an accentuated sense of the convent ’ s femininity« (Whitehead 2003, S. 70; Hervorhebung im Original). Einerseits beschreibt Mechthilds Allegorie, vor dem Hintergrund der Entstehung des siebten Buchs des Fließenden Lichts im Kloster Helfta wenig überraschend, unzweifelhaft den Personalaufbau eines Frauenklosters. Andererseits aber scheinen derartig personifizierende Klosterallegorien, wie z. B. das sowohl in männlichen wie in weiblichen 328 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="329"?> Bauens und die Vorstellung des inneren Erbauens sind allerdings auch hier präsent, wenn es beispielsweise einleitend heißt, Mechthild habe vor den inneren Augen ein Kloster gesehen, das was mit tugenden gebuwen. 199 Dass das allegorische Bild vom Seelenkloster der Helftaer Mystikerin scheinbar bekannt war, scheint angesichts seiner Verbreitung im Bereich der Predigt wenig erstaunlich. Hier ist z. B. der durch Hugos von Folieto De claustro animae beeinflusste Text Introduxit me Rex zu nennen, der auf Latein sowie in deutschen und mittelniederländischen Übertragungen überliefert ist. 200 Diese wohl bereits um 1200 abgefasste allegorische Predigt, deren hochdeutsche Übersetzung auf das Nürnberger Katharinenkloster in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts weist, 201 nimmt ihren Ausgang bei einem Hoheliedzitat: »Er hat mich in die Weinkammer geführt, mir gegenüber hat er der Liebe ihren Platz zugewiesen« (Ct 2,4). 202 Gleich im Anschluss wird diese Weinkammer als das fromme Herz des christlichen Menschen ausgelegt und festgestellt ain sogethan hercze schiket got der herre nach der weisz ains gaistlichen klosters. 203 Unter dieser Prämisse wird eine komplexe Klosteranlage tropologisch auf eine tugendhafte innere Verfasstheit und eine dementsprechende Lebensführung hin ausgelegt. So soll die menschliche Seele die einzelnen Gebäude des Klosters im Sinne eines Lebenswegs durchwandern. Bevor sie nach ihrem leiblichen Tod von Engeln in den Himmel getragen wird, darf sie gegen Ende ihres Rundgangs im Siechhaus des Klosters ein eucharistisch konnotiertes geistliches Mahl einnehmen, das versüßt wird mit dem czucker der mynreichen zuszekeit dy do vluszt aus den wunneklichen prun der hailigen fu ᵉ nf wunden Ihesu Christi. 204 Architektonische Bildlichkeit tritt in dieser Predigt, deren Motivik an die Exercitia spiritualia Gertruds von Helfta erinnert, 205 in erster Linie als räumliches Gliederungsprinzip auf, das zur Vermittlung christlicher Tugend- und Lebenslehre eingesetzt wird. Von einer inneren Errichtung des Klosters z. B. durch Gebet und Andacht ist dabei freilich nicht die Rede. Fassungen überlieferte Herzkloster oder das wohl aus dem benediktinischen Männerkloster Mondsee stammende Lied zeigen, nicht auf spezifische Genderkontexte beschränkt gewesen zu sein. Eher wurden solche Texte auch in dieser Hinsicht recht frei und ohne große Eingriffe in die Allegorese adaptiert. Wie viel Interpretationsdruck auf die Weiblichkeit der Klosterämter bei Mechthild ausgeübt werden kann, scheint daher zumindest in Hinblick auf die zeitgenössische Rezeption solcher Allegorien fraglich. 199 »das war aus Tugenden erbaut«, Mechthild von Magdeburg: Fließendes Licht der Gottheit, S. 598 f. 200 Zum Text siehe Bauer 1980, Sp. 1154 - 1156; sowie Bauer 1972, S. 282 - 311. Die lateinischen und volkssprachlichen Fassungen der Predigt sind ediert und kommentiert ebd., S. 359 - 410. Dass Bauer zwar erkennt, dass der in der handschriftlichen Überlieferung selbst als predig übertitelte Text »zu dieser Gattung zu rechnen« sei (ebd., S. 288), also in Form und Inhalt klar als Predigt gestaltet ist, die Schrift aber dennoch sowohl in seiner großangelegten Monographie wie auch im Verfasserlexikon als Traktat bezeichnet, ist etwas irreleitend. 201 Der einzige bekannte Textzeugte (Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 98, fol. 1v - 13r) stammt aus dem Besitz der Gertrud Gewichtmacherin, die von 1428 bis 1469 im Katharinenkloster Priorin war. Vgl. dazu Antje Willing (Hg.): Die Bibliothek des Klosters St. Katharina zu Nürnberg. Synoptische Darstellung der Bücherverzeichnisse, Bd. 1, Berlin 2012, S. 688 f. 202 introduxit me in cellam vinariam ordinavit in me caritatem. 203 »ein derartiges Herz richtet der Herrgott nach der Weise eines geistlichen Klosters ein«, Bauer 1973, S. 400. 204 »mit dem Zucker der liebesreichen Süße, die aus dem wonnevollen Brunnen der heiligen fünf Wunden Jesu Christi fließt«, ebd., S. 403. 205 Vgl. dazu Köbele 2015; sowie oben, Kap. IV.2.2. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 329 <?page no="330"?> Ähnliche Verwendungen der Allegorie vom Herzkloster finden sich auch in anderen volkssprachigen Predigten des Mittelalters, so beispielsweise bei dem anonymen St. Georgener Predigers, der sich mutmaßlich direkt an Introduxit me Rex anlehnt. 206 Auch eine der frühesten volkssprachigen Predigtsammlungen, das um 1170 entstandene Predigtbuch des Priesters Konrad, enthält eine Allegorie des inneren Tugendbaus, der hier in Gestalt einer Kapelle gedacht ist. Denn wenn in der Bibel vom Gotteshaus die Rede sei, so führt die entsprechende Predigt auf Ps 92,4, die für den Anlass einer Kirchweih geschrieben ist, 207 gemäß der Lehre vom vierfachen Schriftsinn aus, sei darunter viererlei zu verstehen. Im Literalsinn sei das Kirchengebäude gemeint, anagogisch das Himmelreich Gottes, typologisch die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und tropologisch schließlich eines iegelichen ſ eligen men ſ chen hercze. 208 Dieser innere Sakralbau müsse von Lastern gereinigt und von Tugenden bevölkert sein, so dass Gott darin einkehren könne: Do hat inne geherberget chu ᵉ ſ ch vnd diemv ᵉ t, gedulte vnd gehor ſ am, tr ı ᵉ we vnd warhait. Swa vns ſ er herre got daz vindet, do macht er ſ in we ſ en. 209 Anhand von solchen exemplarischen Predigtstellen lässt sich das Einfließen einer geistlichen Sakralgebäudeallegorik, die durch Prudentius und die lateinischen Gebäudetraktate des Hochmittelalters geprägt wurde, in die volkssprachige geistliche Literatur ansatzweise nachvollziehen. Mechthild von Magdeburg und die übrigen Helftaer Mystikerinnen dürften nicht zuletzt aus Predigtkontexten mit derartigen Motiven ebenso vertraut gewesen sein wie die Autoren, Schreiber und Redaktoren des Herzklosters und der nun ins Blickfeld rückenden, diesem Text verwandten geistlichen Schriften. 3.5 Programme der Erbauung: Traktate und allegorische Erzählungen vom Herzkloster Schon im Bereich der Predigt sind grundsätzliche Tendenzen zur Narrativierung der Herzklosterallegorie zu beobachten. In einem spätmittelalterlichen Traktat aus dem Colmarer Dominikanerinnenkloster Unterlinden, wo, wie unten genauer ausgeführt, auch entsprechende Gebets- und Andachtsübungen zirkulierten, werden diese stärker entfaltet. 210 Dabei fügt der Text die Herzklosterallegorie nicht nur ins Rahmenwerk einer 206 Vgl. Bauer 1973, S. 304 - 306. Zudem scheint auch z. B. der Augustiner-Eremit Hermann von Schildesche gegen Mitte des 14. Jahrhunderts von Hugo von Folieto beeinflusste volkssprachliche Predigten zum Seelenkloster gehalten und auch ein dementsprechendes Traktatwerk verfasst zu haben. Vgl. dazu Adolar Zumkeller: Hermann von Schildesche O. E. S. A. ( † 8. Juli 1357). Zur 600. Wiederkehr seines Todestages, in: Augustiniana 7 (1957), S. 457 - 484, hier S. 458 f. 207 Ediert bei Volker Mertens: Das Predigtbuch des Priesters Konrad. Überlieferung, Gestalt, Gehalt und Texte, München 1971 (MTU 33), S. 277 - 281 [als Nr. 23]. Das in dieser Predigt eingangs gelesene Schriftwort lautet domum tuam decet sanctitudo Domine (»Heiligkeit gebührt deinem Haus, Herr«, Ps 92,5). 208 »das Herz jedes seligen Menschen«, Mertens 1971, S. 279. Die Edition verwendet durchgängig ein geschweiftes z, das hier nicht wiedergegeben werden kann. 209 »Darin beherbergt er [d. i. der Mensch] Reinheit und Demut, Geduld und Gehorsam, Treue und Wahrheit. Wo unser Herrgott dies vorfindet, da vermag er inne zu sein«, ebd. 210 Ediert nach der einzig bekannten Handschrift (Basel, UB, E. III. 13, fol. 1r - 6v) bei Karl Rieder (Hg.): Mystischer Traktat aus dem Kloster Unterlinden zu Colmar i. Els., in: Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten 1 (1900), S. 80 - 90, insb. S. 85 - 89. Dieser Traktat scheint auch textgenetisch mit der 330 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="331"?> linearen Erzählung ein, sondern schreibt ihr auf narrativem Wege auch das Programm eines inneren Vollzugs ein. Der Heilige Geist, so wird in der unikal in einer Sammelhandschrift aus dem Besitz des Ordensreformers Johannes Meyer überlieferten Schrift erzählt, habe überlegt, wie er eine begnadete Seele so versorgen könne, das sin allerliebste fruntin von allen creaturen genzlichen müs furbas abgescheiden sein. 211 Um dies zu bewerkstelligen, habe er sich mit den personifizierten Tugenden Fides, Caritas, Spes und Prudentia beraten und beschlossen, die Seele in ein Kloster genant Unterlinden zu geben. 212 Trotz dieser Namensnennung zeichnet der Traktat kein Bild des physischen Colmarer Ordenshauses, sondern beschreibt vielmehr die Ordnung eines innerlich zur errichtenden geistlichen Klosters, in dem die Tugenden beheimatet sind und dienen. In expliziter Analogie zur äußeren Klostergemeinschaft der Unterlindener Schwestern wird so ein mentaler »Raum des Individuellen« entworfen, in dem, wie Gert Melville derartige Innerlichkeitsvorstellungen treffend charakterisiert, die »Einzelne - zurückgezogen in sich selbst - [ihre] Seele für den Weg zu Gott ausformen konnte.« 213 So leiten beispielsweise die Schwestern Bona Voluntas, Iocunditas und Firma Caritas das Gästehaus im inneren Kloster der Seele, das sie auf je eigene Art und Weise zur Einwohnung Gottes vorbereiten, damit der selen gast, ir gespunze, ia leiblichen rasten [sei] in irs herzen pallast. 214 Ähnlich werden auch die anderen Klostergebäude als Seeleneigenschaften ausgelegt und mit allegorischen Figuren bevölkert, die je spezifische Aufgaben wahrnehmen. 215 Dabei treten die Tugenden als handelnde Personen auf, die sich um ebenfalls allegorisierte Verwaltungs- und Haushaltsaufgaben kümmern, sich untereinander beratschlagen und auch miteinander streiten. Zudem geben sie in brautmystischer Färbung Verhaltensempfehlungen und Schriftzitate vor allem aus dem Hohelied vor, die dem Lesepublikum zum gebethaften Nachsprechen angeraten werden. So heißt es z. B. über die Schwester Quies: Klosterallegorie des St. Georgener Prediger zusammenzuhängen, vgl. Bauer 1973, S. 306 - 308. Leider fehlt der Anfang des Traktates, der sich teils fast wie eine Offenbarungsschrift liest. Jeffrey Hamburger vermutet eine Entstehung des Texts noch im 14. Jahrhundert (Hamburger 1996, S. 160). Vgl. dazu auch Marie-Luise Ehrenschwendtner: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 2004 (Contubernium 60), S. 329 f. Die Handschrift stammt aus dem 15. Jahrhundert und wurde von Johannes Meyer aus Faszikeln verschiedener Herkunft zusammengestellt; vgl. Sarah Glenn DeMaris: Introduction, in: Johannes Meyer: Das Amptbuch, hg. v. Sarah Glenn DeMaris, Rom 2015 (Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum Historica 31), S. 1 - 146, hier S. 60 f. 211 »dass seine allerliebste Verwandte [oder: Freundin] von nun an ganz von allen Kreaturen abgeschieden sei«, Rieder 1900, S. 85. Der Traktat beschreibt die Seele, die hier untergebracht werden soll, als Tochter, fruntin, oder höchste minnerin (ebd., S. 88). Damit ist wohl keine individuelle Nonne gemeint, sondern eher ein ideales Modell einer Unterlindener Klosterschwester. 212 Ebd., S. 85. Hervorhebung im Original. 213 Melville/ Müller 2010, S. 110. 214 »der Gast der Seele, ihr Bräutigam, gleichsam leiblich ruhend [sei] im Palast ihres Herzens«, ebd., S. 86. 215 So bedeutet das Refektorium ein rein luter herze (»ein reines klares Herz«, ebd.), in dem die Schwestern Pietas, Contemplatio und Devotio die Seele mit den Speisen von Gebet und Andacht nähren. Im Dormitorium, das ein gedultiges herze (ebd., S. 87) meint, dienen dahingegen Sincera Conscientia, Pax sowie Quies und leiten die Seele zu Gelassenheit und Introspektion. Im Kapitelhaus, das ein diemutiges herze (ebd.) bezeichnet, schlichtet die Priorin Temperantia zwischen den streitenden Schwesterpaaren Honestas und Humilitas, Misericordia und Iustitia, Discretio und Amor, um einen harmonischen Ausgleich zwischen den Tugenden zu schaffen. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 331 <?page no="332"?> Die drit swester, das ist rüwe, der gehoret zu, das sie die sele inwendig vermane und spreche: slaffe und rüwe min aller liebste swester mit dinem gemahel, das ist verenige dich inwendige mit dinem schönen ewigen gott und herren; und das geschicht danne, so du aller ußlichen dinge vergissest und in allein von innen schowest. Da kumest du erst in ein jubiliren und mag dir danne zumal nicht bas gesin, danne alzo inwendige mit got dich vereinen. Danne so macht du öch sprechen: › ego dormio et cor meum vigilat ‹ [Ct 5,2]: ich slaffe, aber doch min herze wachet mit minem geminten. 216 Auf diese Weise evoziert der Traktat narrativ ein Bild, das, ähnlich wie das knappere Herzkloster, einerseits einen mithilfe der Allegorese von Personal und Gebäuden geordneten, hierarchisierten und funktional bestimmten Tugendkatalog einprägsam vermittelt, andererseits aber in apostrophischer Hinwendung an das Lesepublikum dazu auffordert, diese Tugenden in der Hoffnung auf die gnadenhafte Einkehr Gottes in sich selbst zu verwirklichen. Zu einem solchen Projekt der sowohl belehrenden als auch bessernden Selbsterbauung gibt der Text kleine Verhaltensanweisungen, Gebetsworte und Meditationsgegenstände an die Hand. Ihm ist also ein Programm des vorbildnehmenden Vollzugs eingeschrieben, dessen Zielsetzung die abschließenden Worte auf den Punkt bringen, mit denen die personifizierten Tugenden unisono zu ihrer Verwirklichung durch den Leser auffordern: mit der hilfe gotz so beger wir das alle tügent hie gescriben nu und hernach werdent war. 217 Die Erzählung ist, so wird impliziert, Vorbild für eine innere Wirklichkeit, die sich in ihrem Publikum figurieren solle. Verwandt mit diesem Traktat ist ein in Versform gehaltener niederdeutscher Text des ausgehenden Mittelalters, der das klosterallegorische Thema ebenfalls narrativ ausgestaltet, dabei aber den Streit der Tugenden untereinander ins Zentrum rückt. Auch hier geht es zunächst um en klosterlyn, / dat mot an dem herten syn / dar scal en convent wesen / van werden vrowen ut ghelesen. 218 Während die ersten vierzig Verse knapp den architektonischen Aufbau und die personifizierte Tugendgemeinschaft des Klosters beschreiben, verlagert sich die Handlung danach in den Kapitelsaal, wo die einzelnen Tugenden unter der Richterschaft der Caritas hitzige Streitgespräche führen - ein im Unterlindener Traktat zwar angelegtes, aber nicht im Vordergrund stehendes Thema. Zur gleichen Tradition gehört die niederdeutsche, in Prosa gehaltene Gleichniserzählung Des hilghen gheystes closter, die insofern jedoch eine Rand- und Sonderstellung einnimmt, als dass das Bild vom Tugendkloster hier vornehmlich dazu eingesetzt wird, die discretio spirituum, also die Unterscheidung zwischen guten und bösen Geistern und 216 »Die dritte Schwester, das ist die Ruhe, hat die Aufgabe, dass sie die Seele innerlich auffordere und spreche: › Meine allerliebste Schwester, schlafe und ruhe mit deinem Gemahl, das heißt, vereinige dich innerlich mit deinem schönen ewigen Gott und Herrn; und dies geschieht dann, wenn du alle äußerlichen Dinge vergisst und ihn allein im Inneren betrachtest. Dann erst kommst du zu einem Jubilieren, denn es kann dir nämlich nicht besser gehen, als wenn du dich auf diese Weise innerlich mit Gott vereinigst. Dazu kannst du auch sprechen: ego dormio et cor meum vigilat: Ich schlafe, aber mein Herz wacht dennoch mit meinem Geliebten«, ebd., S. 87. 217 »Mit der Hilfe Gottes wünschen wir, dass alle hier beschriebenen Tugenden jetzt und fürderhin Wirklichkeit werden«, ebd., S. 88. 218 »ein kleines Kloster, / das muss im Herzen sein. / Darin soll ein Konvent / aus edlen, auserwählten Damen sein«, abgedruckt nach der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl., cod. Helmst. 367, fol. 16r - 17r bei Karl Bartsch (Hg.): Klosterallegorie, in: Niederdeutsches Jahrbuch 11 (1885), S. 128 - 133. Eine längere Version ist überliefert in Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl., cod. Helmst. 1251, fol. 218r - 225r; vgl. Bauer 1980, Sp. 1157 f. 332 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="333"?> Gedanken zu thematisieren. 219 Der Heilige Geist, so beginnt der bislang nicht edierte Text, hat eine Vielzahl von Töchtern, die sich sogleich als Tugendpersonifikationen entpuppen, und beschließt, dat men dyssen dochtern eyn closter tymmeren scholde, dar se deme vadere inder ewicheyt to aller tiit ynne denen mochten. 220 Daraufhin wird ein Tugendkloster gegründet, in dem Gott die Demut zur Äbtissin, die Liebe zur Priorin, die Weisheit zur procuraterschen, also zur Schaffnerin, 221 die Keuschheit zur Küsterin, die Mäßigkeit zur Küchenmeisterin, die Barmherzigkeit zur Pförtnerin und die Wohltätigkeit zur Infirmarin ernennt. Hiervon erfährt nun jedoch eyn vorste, de in dem lande beseten was, de rike und mechtich was, und syn name was sathans, und he hadde des hat und nyd. 222 Der Teufel spinnt also einen Plan und taucht eines Tages, als Demut, Liebe und Weisheit gerade zur Visitation eines anderen Klosters verreist sind, gefolgt von seinen eigenen Töchtern Gier, Hochmut, Gefräßigkeit, Unkeuschheit, Hass und Neid, Zorn, gramscop ( › Bitterkeit ‹ oder › Boshaftigkeit ‹ ) sowie wretheit ( › Grausamkeit ‹ oder › Zanksucht ‹ ) und Ungehorsam im Konvent auf. 223 Mit Schmeicheleien, Geschenken und im Tonfall überraschend obrigkeitskritischen Berufungen auf den eigenen guten Stand beim päpstlichen Stuhl überzeugt der Teufel die monastische Gemeinschaft der Tugendpersonifikationen, seine Töchter aufzunehmen, 224 die daraufhin prompt sämtliche Klosterämter usurpieren. Als die Äbtissin Demut zusammen mit der Liebe und der Weisheit zurückkehrt, findet sie das Kloster fest in der Hand der Teufelstöchter. Den abgesetzten Tugenden bleibt nichts anderes übrig, als tagaus tagein voller Reue flehentlich zu Gott zu beten: Aldus quemen de seven juncfrowen alle daghe to sammene hemeliken, wur se mochten, und schryeden und wenden und repen in den himmel myd ghebogheden kneyn und myt ghevoldeden hánden, myt naten wanghen und myd opgheheveden oughen und spraken: O almechtighe ewighe vader, de du aller dynge mechtich bist und de du hemmel und erden ghemaket hevest, ghedenke, dat wy dyne kinder syn. O vader, al syn wy ghevallen, so eyn wille uns doch nicht 219 Dieser Text, der dringend eine Edition verdiente, wird hier zitiert nach der im 15. Jahrhundert angefertigten Handschrift Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl., cod. Helmst. 1251, fol. 226r - 233v, die aus dem niedersächsischen Zisterzienserinnenkloster Wöltingerode stammt. Zu Des hilghen gheystes closter siehe bislang wesentlich nur Bauer 1980, Sp. 1158 f. (mit Angaben zur weiteren Überlieferung) sowie die knappe Erwähnung bei Eichenberger 2019, S. 77 f., die diese Erzählung im Zusammenspiel mit dem Herzkloster als Beispiel dafür anführt, »dass sich narrative Elemente an diskursive Allegorien anlagern können« (ebd., S. 78). 220 »dass man diesen Töchtern ein Kloster bauen sollte, worin sie dem Vater in Ewigkeit zu allen Zeiten dienen könnten«, Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl., cod. Helmst. 1251, fol. 226r. 221 Ebd., fol. 226v. 222 »ein Fürst, der in dem Land ansässig war, der reich und mächtig war, und sein Name war Satan, und er war voll Hass und Neid darauf«, ebd., fol. 228r. 223 »Bitterkeit« oder »Boshaftigkeit«, ebd., fol. 230r. 224 So äußert Satan z. B.: ik will in korter tijd hir bullen vorwerwen, dat de pawes dut bestedeghen schal, vnd schal juk losen van der myssedat, vnd me schal nyge oversten maken, wante ik verkrige van dem pawese al, dat ik beghere. Vnd des eyn latet juw nicht vorwundern, wente alle, de by dem pawese synt, de mach ik hebben na mynem willen [ … ]. Ok so hebbe ik enen sonen, de dar cardinal is vnd het symonie, et eyn wer neyn wunder, he scholde noch pawes werden (»Ich werde in kurzer Zeit hier Bullen erwerben, mit denen der Papst dies alles bestätigen wird, und werde euch von Sünden freisprechen und euch zudem neue Obere geben, denn ich bekomme vom Papst alles, was ich will. Und dessen sollt ihr euch nicht wundern, denn alle, die den Papst umgeben, kann ich nach meinem Willen tanzen lassen [ … ]. Zudem habe ich einen Sohn, der dort Kardinal ist und Simonie heißt, und es wäre kein Wunder, wenn er selbst noch Papst würde«, ebd., fol. 229v). Für einen vorreformatorischen Text ist diese Polemik außergewöhnlich scharf und verdiente genauere Untersuchung. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 333 <?page no="334"?> laten vorderven. Vader, sunder dy eyn moghe wy nummer mer wedder opstan. O vader, reke uns de hant, de uns gheschapen hevet, so werde wy vor loset. O vader, verbarme dy vnser. 225 Diese Zeilen seien ausführlich zitiert, da sie erstens das für die gesamte Erzählung ausschlaggebende Programm der Selbsterbauung im Gebet in kondensierter Form enthalten. Zweitens wird hier die affektiv intensive, durch gebethafte Hinwendung zum Heiligen im Modus von Reue, Beichte und Buße eine innere Zerknirschtheit wiederaufrichtende Qualität dieses Prozesses der innerlichen Selbstgestaltung deutlich. Drittens tritt dabei auch deutlich die Gnadenbedürftigkeit eines solchen Wiederaufbaus des inneren Menschen hervor - denn erst nachdem Gott das Gebet der personifizierten Tugenden erhört und die Töchter des Teufels vertreibt, kann die gute vormalige Ordnung im Seelenkloster wiederhergestellt werden. Dass diese niederdeutsche Erzählung nicht allein als allegorische Reflexion auf die Unterscheidung der Geister, die Täuschungskraft der Laster oder die restaurative Kraft des reuigen Bittgebets zu verstehen ist, macht ein an Des hilghen gheystes closter angefügter Nachsatz deutlich, der den Text wie folgt auszeichnetet: Dyt is eyn geistlik syn ghesproken van dussem clostere, und leret uns wü eyn jewelk mynsche van syk sulven eyn closter und eyn tempel goddes maken mach. 226 Die Erzählung und vor allem das oben zitierte Gebet um innere Erbauung sind so als instruktives Programm religiösen Selbstumgangs gekennzeichnet. Der gläubige Mensch soll merken, wü eyn god ghebeldet und gheschapen hevet, und wo de vorghenomeden doghede in eme gheformeret syn. 227 Das Partizip gheformeret ist hier ein Schlüsselwort: Ziel des Textes ist es, dem Publikum ein normativ wirksames Bild von der Form seiner inneren Verfasstheit, eine sprachliche Präfiguration für das zu erbauende Selbst zu vermitteln. Denn dadurch wird der fromme - aber natürlich auch sündhafte - Mensch befähigt, sich dem Vorbild der Erzählung folgend im Gebet Gott zuzuwenden in der Hoffnung, auch aus seinem inneren Kloster flöhen dadurch die Laster, während die Tugenden einkehrten. Genau wie das Herzkloster gibt folglich auch dieser niederdeutsche Text seinen Rezipienten ein Erbauungsprogramm an die Hand, das auf Tugendlehre, innerer Schau, Hinkehr zum Heiligen ebenso wie auf der in diesem Falle narrativ vorgezeichneten Selbstfiguration des Lesers fußt. 225 »Also kamen die Jungfrauen alle Tage heimlich zusammen, wo immer sie es konnten, und schrien und weinten und riefen in den Himmel mit gebeugten Knien und mit gefalteten Händen, mit nassen Wangen und mit zum Himmel gerichteten Augen und sprachen: › Oh, allmächtiger ewiger Vater, der Du aller Dinge mächtig bist und der Du Himmel und Erde gemacht hast, erinnere dich, dass wir Deine Kinder sind. Oh Vater, obzwar wir gefallen sind, so mögest Du uns doch nicht verderben lassen. Vater, ohne Dich können wir uns nimmer mehr aufrichten. Oh Vater, reiche uns die Hand, die uns geschaffen hat, so werden wir erlöst. Oh Vater, erbarme dich unser! ‹ «, ebd., fol. 231v. 226 »Dies ist ein geistliches Sinnbild, das von diesem Kloster erzählt ist, und es lehrt uns, wie ein jeder Mensch aus sich selbst ein Kloster und einen Tempel für Gott machen kann«, ebd., fol. 233r. 227 »lernen, wie ihn Gott gebildet und geschaffen hat, und wie die vorgenannten Tugenden in ihm geformt seien«, ebd. 334 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="335"?> 3.6 Strenge Klausur des Inneren: Die Herzklosterallegorie in Johannes Meyers Buch der Ersetzung Spätestens seit den Arbeiten Kaspar Elms, die in der Erforschung der Religiosität des ausgehenden Mittelalters einen interdisziplinär wirksamen Perspektivenwechsel einleiteten, besteht kaum mehr ein Zweifel an der herausragenden Bedeutung der ab den letzten beiden Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts ordensübergreifend einsetzenden Observanzbewegungen. 228 Basierend auf der Idee der Restauration eines auf die vita apostolica in der Nachfolge Christi zielenden Religiosentums, die als Rückkehr zu ursprünglicher Strenge begriffen wurde, entfaltete sich, wie James D. Mixson erläutert, »a broad and sustained fifteenth-century effort to reform institutional religious life, known collectively as the Observance movement«. 229 Diese heterogene Bewegung prägte das Klosterleben und die mit ihm verbundenen Organisations- und Gemeinschaftsformen ebenso wie die theologischen Debatten, die Frömmigkeitspraxis und die geistliche Literatur ihrer Zeit. In der jüngeren Forschung sind diese Umwälzungen und ihr Einfluss auf die vor allem dominikanisch oder franziskanisch betreute Frauenklosterkultur ausgiebig untersucht worden. 230 Wie beispielsweise Marie-Luise Ehrenschwendtner oder Silvie Duval herausarbeiten, brachte die als Kernstück der Observanz geltende strenge Klausur, also die strikte Abschottung des Klosters gegenüber der Außenwelt, zugleich »greater protection and isolation to the nuns«, war also sowohl Schutz als auch Instrument der sozialen Kontrolle, das mitunter auf heftige Gegenwehr der Schwestern stieß. 231 Am Beispiel des Nürnberger Katharinenklosters zeichnet Barbara Steinke nach, wie diese Limitierung der Schwestern auf einen sehr eingeschränkten Lebens- und Tätigkeitsbereich zugleich mit einer »Rückbesinnung auf das Gebet als Proprium des weiblichen Klosterwesens«, also mit einer amplifizierten und auch nach außen hin sozial aufgewerteten Frömmigkeitspraxis verbunden war. 232 Zudem wurden reformierte Ordenshäuser, in denen, wie die Arbeiten 228 Von paradigmatischer Wichtigkeit sind hierzu die Beiträge in Kaspar Elm (Hg.): Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, Berlin 1989 (Berliner historische Studien 14; Ordensstudien 6). 229 James D. Mixson: Introduction, in: A Companion to Observant Reform in the Late Middle Ages and Beyond, hg. v. James D. Mixson u. Bert Roest, Leiden/ Boston 2015 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 59), S. 1 - 20, hier S. 1. 230 Die auch für diese Studie zentrale dominikanische Situation betrachten z. B. ausführlich Stefanie Monika Neidhardt: Autonomie im Gehorsam: Die dominikanische Observanz in Selbstzeugnissen geistlicher Frauen des Spätmittelalters, Berlin 2017 (Vita regularis 70); Ehrenschwendtner 2004; Huijbers 2018; Jones 2018; sowie Schiewer 1998. Allgemeinere Untersuchungen zu den Auswirkungen der Ordensreform im 15. Jahrhundert finden sich bei Gabriella Zarri: Ecclesiastical Institutions and Religious Life in the Observant Century, in: A Companion to Observant Reform in the Late Middle Ages and Beyond, hg. v. James D. Mixson u. Bert Roest, Leiden/ Boston 2015 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 59), S. 23 - 59; sowie Edeltraud Klueting: Monasteria semper reformanda. Kloster- und Ordensreformen im Mittelalter, Münster 2005. 231 Sylvie Duval: The Observance ’ s Women. New Models of Sanctity and Religious Discipline for the Female Dominican Observant Movement during the 15th Century, in: Religious Orders and Religious Identity Formation, ca. 1420 - 1620: Discourses and Strategies of Observance and Pastoral Engagement, hg. v. Bert Roest u. Johanneke Uphoffe, Leiden 2016, S. 13 - 31, hier S. 13. Zur Rolle der Klausur und den Versuchen einiger Konvente, ihre Einführung zu verhindern, vgl. Ehrenschwendtner 2010. 232 Barbara Steinke: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. NR 30), S. 39. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 335 <?page no="336"?> Werner Williams-Krapps zeigen, »die Einführung der strengen Observanz in der Regel mit der Pflege gemeinschaftlicher Lektüre, mit der Einrichtung einer Bibliothek, eines Skriptoriums und, nach Möglichkeit, eines zumindest rudimentären Schulbetriebs« einherging, oftmals erst infolge der Reform zu Schreib- und Literaturzentren. 233 Dass diese Reformbestrebungen auch die hier behandelten Texte aus dem Bereich der Gebetbuchliteratur beeinflussten, wurde oben bereits mehrfach angeschnitten. So waren die Rosenkranzautoren Alanus von Rupe, Jakob Sprenger und Michael Francisci allesamt in der dominikanischen Observanzbewegung engagiert, und Dominikus von Preußen äußert sich aus der selbstbewussten Haltung des ordensstrengen Kartäusermönchs heraus abschätzig über die Reformbedürftigkeit der Zisterzienser. 234 An keinem hier behandelten Text jedoch wird der Konnex zwischen Gebets- und Andachtsliteratur, Frömmigkeitspraxis und observanter Reform so deutlich wie an der Adaptierung der Herzklosterallegorie durch den Dominikaner Johannes Meyer (1422 - 1485), der als »der einflussreichste Schriftsteller für die Belehrung der observanten Schwestern« gilt. 235 Im Jahr 1442 in Basel in den Predigerorden eingetreten, wurde Meyer 1454 als Beichtvater ins Berner Dominikanerinnenkloster St. Michael berufen, wo er noch im gleichen Jahr das Amptbuch aus dem Lateinischen übertrug und adaptierte sowie kurz darauf das Buch der Ersetzung verfasste, aus dem die hier im Zentrum stehende Passage zum inneren Kloster stammt. Seine vorschriftshaft die Organisation und den Tagesablauf eines reformierten Konvents beschreibenden Schriften »über die Reform wurde[n] für die observanten Schwestern zum Regelwerk und führte[n] zur Normierung von Wissen, das die Dominikanerinnen aufnahmen und weiterführten«. 236 Nach einigen Aufenthalten in verschiedenen reformierten oberrheinischen Klöstern betätigte sich Johannes Meyer ab 1465 selbst als Reformer und führte unter anderem in den Freiburger Ordenshäusern Adelhausen, St. Agnes und St. Maria Magdalena die strenge Observanz ein. Unter Meyers zahlreichen Werken haben bislang vor allem seine ordenschronistischen Schriften ein größeres Forschungsinteresse erfahren. Sein Buch der Reformacio Predigerordens von 1468 gilt als Zentralquelle zur dominikanischen Ordensreform. 237 Ähnlich wie 233 Werner Williams-Krapp: Observanzbewegungen, monastische Spiritualität und geistliche Literatur im 15. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20,1 (1995), S. 1 - 15, hier S. 1 f. Siehe dazu ebenfalls überblickshaft Krapp 1986/ 1987; Willing 2004; Jones 2018. Relativierend anzumerken ist hierzu jedoch, dass über die Buchbestände vieler Frauenklöster vor der Reform auch deshalb wenig bekannt ist, da es im Zuge der Ordensreform vielfach zur Aussortierung von Texten kam, die als nicht-observant gelesen wurden. Für den kritischen Hinweis hierauf am Rande einer Freiburger Tagung im März 2023 danke ich Eva Schlotheuber. 234 Vgl. oben, S. 183 f.; 267 f. 235 Stefanie Monika Neidhardt: Magdalena Kremerin und ihr Umgang mit der Mystik in Zeiten der Observanz, in: Die deutschen Dominikaner und Dominikanerinnen im Mittelalter, hg. v. Sabine von Heusinger, Elias H. Füllenbach u. Walter Senner, Berlin 2016 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF 21), S. 481 - 498, hier S. 485. 236 Neidhardt 2017, S. 61. Alle Angaben zum Lebensweg Johannes Meyers sind entnommen aus ebd., S. 60 - 63; sowie Werner Fechter: Art. Johannes Meyer, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 474 - 489. 237 Ediert als Johannes Meyer OP: Buch der Reformacio Predigerordens, hg. v. Benedictus Maria Reichert, 2. Bd.e, Leipzig 1908 - 1909 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 2/ 3). Eine Neuedition durch Christian Seebald ist angekündigt. Siehe auch mit umfangreicher Einführung der Übersetzerin Claire Taylor Jones (Übers.): Women ’ s History in the Age of Reformation. Johannes Meyer ’ s Chronicle of the Dominican Observance, Leiden/ Boston 2019 (Mediaeval Sources in Translation 58). 336 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="337"?> auch im lateinischen Liber de illustribus viris OP, einer Sammlung von Elogien auf Mitglieder des Dominikanerordens, 238 betreibt Meyer hier Ordensgeschichte mit dem Ziel, die Reform als restauratives Unterfangen frommer Dominikaner zu präsentieren, deren Absicht darin liege, »to return their › estate ‹ (status) to its spiritual foundations, and to the rules and statutes prescribed for its way of life«. 239 Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit fanden hingegen die normativen Schriften Meyers, also das Amptbuch und das Buch der Ersetzung, in denen er den von ihm betreuten Schwestern Vorgaben für eine observante vita religiosa an die Hand zu geben sucht. 240 Erst eine kürzlich erschienene Studie von Christian Seebald sowie die Untersuchungen Stefanie Neidhardts und Claire Taylor Jones ’ bemühen sich darum, diese Werke aufzuarbeiten. 241 Im Amptbuch entwirft Meyer ein präskriptives Organigramm eines reformierten Dominikanerinnenklosters, indem er im Detail 23 Klosterämter und die mit ihnen je verknüpften Pflichten beschreibt. »Vorlage und Modell des Textes sind«, wie Seebald nachzeichnet, »die Instructiones de officiis ordinis des Humbert von Romans, die Meyer [ … ] für die spezifischen Interessen seiner Adressatinnen, der observanten Dominikanerinnen der Ordensprovinz Teutonia, adaptiert hat.« 242 Das Amptbuch gestaltet sich dabei »primarily practical in orientation and purpose«. 243 Sein Augenmerk liegt gänzlich auf Vorgaben in Bezug auf die Ämterhierarchie und Aufgabenverteilung im reformierten Konvent, wobei »Überlegungen zur spirituellen Anleitung und Erziehung der Schwestern [ … ] nahezu vollständig« fehlen. 244 Das Buch der Ersetzung, das bereits durch seinen in etwa als › Ergänzungsband ‹ zu verstehenden Titel an das Amptbuch anknüpft, versucht, diese Lücke zu schließen. Hier gibt Johannes Meyer in zehn Kapiteln allerlei güt vermanung und underweisung, wie sich ein swester prediger ordens halten so ᵉ l, 245 darunter Zusammenfassungen der dominikanischen consuetudines, ordenschronistische Erzählungen, verschiedene Passagen »normativer oder paränetisch-didaktischer Prägung«, 246 aber auch Andachtsübungen wie die Geistliche Meerfahrt der Margareta Ursula von Masmünster. 247 238 Ediert als Johannes Meyer: Liber de viris illustribus Ordinis Praedicatorum, hg. v. Paulus von Loë, Leipzig 1918 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 12). 239 James D. Mixson: Religious Life and Observant Reform in the Fifteenth Century, in: History Compass 11.3 (2013), S. 201 - 214, hier S. 201. 240 Das Amptpuch ist kritisch ediert nach Handschrift Bloomington (Indiana), University Libr., Ricketts Ms. 198 bei DeMaris 2015. Grundlage für die noch fehlende Edition des Buchs der Ersetzung müsste die gleiche Handschrift, fol. 135r - 244v, sein, nach der hier zitiert wird. Siehe dazu auch die Angaben in Björn Klaus Buschbeck, Annalena Dostalek, Mareike Elisa Reisch, Anna Velia Vogel: Dominikanische Selbstvergewisserung und Anweisungen für ein reformiertes Klosterleben: Eine Auswahledition aus Johannes Meyers Buch der Ersetzung, in: buochmeisterinne. Handschriften und Frühdrucke aus dem Dominikanerinnenkloster Adelhausen, hg. v. Balázs J. Nemes u. Martina Backes, Freiburg i. Brsg. 2021 (Stadt und Geschichte 24), S. 269 - 284. 241 Christian Seebald: Reform als Textstrategie. Untersuchungen zum literarischen Œ uvre des Johannes Meyer O. P., Berlin/ New York 2020 (Literatur - Theorie - Geschichte 16), S. 12 - 88; Jones 2018, S. 127 - 160; Neidhardt 2017. 242 Seebald 2020, S. 18. 243 Jones 2018, S. 142. 244 Ekkehard Borries: Schwesternspiegel im 15. Jahrhundert. Gattungskonstitution - Editionen - Untersuchungen, Berlin/ New York 2008, S. 421. 245 »gute Hinweise und Lehren, wie sich eine Schwester des Predigerordens verhalten soll«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 136r. 246 Seebald 2020, S. 53. 247 Eine tabellarische Inhaltsübersicht findet sich ebd., S. 56. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 337 <?page no="338"?> Den hohen Heterogenitätsgrad dieses Kompendiums versucht Meyer dabei zumindest ansatzweise durch einheitliche literarische Strukturierung auszutarieren. Die einzelnen Kapitel folgen »zumindest in ihren rahmenden Partien dem kommunikativen und rhetorischen Modell der Predigt und fügen sich mithin zu einem Zyklus von elf thematischen Sermones oder predigtartigen Traktaten«, wobei teils frei aus den Modellpredigten Humberts von Romans übersetzt und adaptiert wird. 248 Die Streubreite des Buchs der Ersetzung in Hinblick sowohl auf seine Inhalte als auch auf die Rezeptionsangebote der darin aufgegriffenen Textformen ist hierdurch nicht aufgehoben. Am ehesten lässt sich diese Schrift als teils disparate Textsammlung normativen Charakters verstehen, die der Identitätsbildung und Selbstseelsorge observanter Dominikanerinnen dient und deren einzelne Kapitel je eigenständig rezipierbar sind. Im zweiten, dem Thema der Klausur gewidmeten Kapitel dieses Werks findet sich eine ausgeweitete und idiosynkratisch gerahmte Version des Herzklosters. 249 Kernthema dieses predigtartigen Abschnitts, der das Hoheliedzitat vom verschlossenen Garten (Ct 4,12) zum Ausgangspunkt hat, ist die Forderung, dz an einer geistlichen swester prediger ordens zwifalt besliesung sol sin, geistlich und leiplichen. 250 Das Reformprogramm der strengen Klausur, das den Schwestern ein Verlassen des Klosters sowie Kontakte zur Außenwelt weitgehend untersagte, wird hier sowohl auf den äußeren wie auch den inneren Menschen bezogen. 251 Denn nur wenn sich eine Schwester einerseits dem Einfluss der Umwelt außerhalb ihres Konvents versperre und andererseits auch ihr Innenleben analog zu dieser äußeren Klausur einrichte, könne sie wahrlich als hortus conclusus und Braut Christi bezeichnet werden. 252 Die Vorgabe der äußeren Abschottung der Klosterschwestern macht Meyer dabei autoritativ an allerlei Schriftzitaten fest und begründet sie praktisch - und in der Misogynität dieses Arguments aus moderner Sicht hochnotpeinlich - damit, dass die frawen sint etwas geneigt zu unnu ᵉ tzen gengen, zu uppiger gesicht, zu ho ᵉ ren unfruchper 248 Ebd., S. 57. 249 Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 138v - 142v. Auf den Zusammenhang dieses Kapitels mit dem Herzkloster wies zuerst hin Dietrich Schmidtke: Rezension zu Gerhard Bauer: Claustrum Animae. Untersuchungen zur Geschichte der Metapher vom Herzen als Kloster. Bd. 1: Entstehungsgeschichte. München 1973, in: PBB 97 (1975), S. 451 - 459, hier S. 458 f.; sowie Schmidtke 1984, S. 258 f. und 262 f. Zum Herzkloster bei Johannes Meyer vgl. bisher Lentes 1996, S. 369 f.; Neidhardt 2017, S. 106 f.; mit einer Inhaltszusammenfassung des entsprechenden Kapitels aus dem Buch der Ersetzung DeMaris 2015, S. 57 - 62; sowie mit Fokus auf den predigtartigen Charakter dieses Kapitels Seebald 2020, S. 54 f. und 59 - 61. Genau wie der Rest des Buchs der Ersetzung harrt aber auch diese Redaktion der Herzklosterallegorie bislang einer detaillierten Untersuchung. 250 »dass eine geistliche Schwester des Predigerordens zweifache Klausur einhalten soll, geistlich und leiblich«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 140v. 251 So definiert Marie-Luise Ehrenschwendtner: »The term › enclosure ‹ designates the separation between the men or women living in traditional religious communities or hermitages from the surrounding secular world. It has an active and a passive connotation: In theory, no one who does not belong to the community is allowed to enter the space designated as enclosure and no member of the community is allowed to leave the enclosed premises« (Ehrenschwendtner 2010, S. 305). Zur Norm und zur Praxis der strengen Klausur siehe einführend R. Henseler: Art. Klausur, in: LThK 6 (1997), So. 118 - 120; sowie Heike Uffmann: Inside and Outside the Convent Walls. The Norm and Practice of Enclosure in the Reformed Nunneries of Late Medieval Germany, in: The Medieval History Journal 4.1 (2001), S. 83 - 108. 252 Vgl. Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 142v. 338 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="339"?> sachen und ander des gelichen. 253 Zur Sicherstellung der inneren Klausur jedoch soll die vorbildliche Nonne, die nun in der zweiten Person direkt apostrophiert wird, dein person regieren nach dem aller besten in tu ͦ genden, als dich beduncket, dz es got aller lo ᵉ blichest und genemest sey. 254 Wie jedoch kann eine dergestalte innere Tugendhaltung eingenommen und aufrechterhalten werden? Als Hilfsmittel hierzu empfiehlt Meyer seinen Adressatinnen eine introspektive Andachtsübung, die auf dem Bild des Herzensklosters aufbaut, das den Schwestern aus der zeitgenössischen Frömmigkeitsliteratur wohlbekannt gewesen sein dürfte. Zur Wahrung ihrer geistlichen Klausur nämlich solle eine fromme Dominikanerin, so der Ordensreformer, zunächst ihr Inneres als komplexe Klosteranlage imaginieren, die Gebäudestrukturen wie Klosterinsassinnen gleichermaßen umfasse: Dar umb, dz du so ᵉ lliches dester basz mo ᵉ gest in einer slechten, gu ͦ tten, einfaltigen weisz verbringen, so losz dir ein bilden, wie du habst ze versorgen ein grosz closter mit vil ampt personen, und dz du offt besehest und visitierest dz gantz closter, alle ampt huser und alle ampt personen, und wo du merckest su ᵉ mnu ᵉ s oder mangel und gebresten an dem closter, dz so ᵉ lt du teglichen nach aller deiner vermu ᵉ glicheit besseren, straffen und ersetzen und auch reformiren. 255 Im Bild dieser Introspektive ist die reformierte Schwester zugleich Reformerin, Aufseherin und Verwalterin ihres inneren Klosters, das sie gleich den mit der Observanzeinführung im äußeren Kloster betreuten Reformbrüdern und -schwestern visitieren, beaufsichtigen und umgestalten kann. 256 Der gemeinschaftlich realisierten Lebensform der Klausur im Frauenkloster entspricht somit die je individuell einzuhaltende innere Klausur, »bei der eine jede Schwester für sich selbst Grenzen zum Schutz ihrer eigenen Geistlichkeit zog« und sich zu diesem Zweck in das als Klosteranlage gestaltete eigene Innere versenkte. 257 Bei dieser immersiven Selbstvisitation, so Meyer, stünden der frommen Schwester eine Reihe kontemplativer Mittel und Techniken zur Verfügung, mit denen sie ihr Seelenkloster in die rechte Ordnung bringen könne. So leitet die oben zitierte Passage zu einer Form der textlich vorskizzierten Selbstfiguration an, die letztlich in ein besseren, straffen und ersetzen und auch reformiren, also in einen tiefgreifenden Wandel münden soll. An die Stelle des Motivs der architektonischen Selbsterrichtung und -erbauung, das die zuvor 253 »die Frauen etwas geneigt sind zu unnützen Ausflügen, zu ausuferndem Geschaue, zum Anhören unfruchtbarer Sachverhalte und weiteren Dingen«, ebd., fol. 140v. Dieser Teil des Kapitels ist »nur wenig adaptiert« einer unter dem Titel Ad mulieres religiosas inclusas quascunque stehenden Modellpredigt Humberts von Romans entnommen (Seebald 2020, S. 60). Das Herzklostermotiv ist darin nicht oder nur unterschwellig präsent. 254 »deine Person auf die beste Weise in den Tugenden regieren, so wie du denkst, dass es Gott am allerlöblichsten und liebsten sei«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 139r. 255 »Damit du dies [d. i. die tugendhafte innere Klausur] umso besser vermagst auf eine simple, gute und einfache Weise, so imaginiere, wie du ein großes Kloster mit vielen Amtsträgern zu verwalten habest, und dass du das ganze Kloster oft beschaust und visitierst, alle Wirtschaftsgebäude und Amtsträger, und wo du Versäumnisse oder Mängel oder Defizite bemerkst, sollst du das täglich nach deinem ganzen Vermögen verbessern, bestrafen und ersetzen und auch reformieren«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 139r/ v. 256 Zur Visitationspraxis der mit der Reform betrauten Dominikaner vgl. Eugen Hillenbrand: Die Observantenbewegung in der deutschen Ordensprovinz der Dominikaner, in: Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hg. v. Kaspar Elm, Berlin 1989 (Berliner historische Studien 14; Ordensstudien 6), S. 219 - 271, insb. S. 238. 257 Neidhardt 2017, S. 101. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 339 <?page no="340"?> behandelten Herzklostertexte prägt, tritt folglich das Bild der inneren Reformtätigkeit, in dem die Klosterstruktur des Inneren als vorgängig gegeben gedacht ist, allerdings Evaluation, Besserung und Aufsicht nötig hat. Der den Schwestern anempfohlene Imaginationsakt des ein bilden ihres seelischen Inneren als Klosteranlage gerät so zum Mittel der Selbstkontrolle und -transformation. Dabei werden die Modi der äußeren Disziplinierung und Reform, derer sich die dominikanische Observanz bediente, durch geistliche Analogien des introspektiv-eingreifenden Umgangs mit der eigenen Person ergänzt. Dass dieser innere Reformprozess den Rahmen je menschlicher Möglichkeiten überschreitet, wird auch bei Johannes Meyer hervorgehoben. Die seelische Neuordnung bedarf der gnadenhaften Unterstützung. Deshalb solle die fromme Schwester, wenn ihr die Kraft zum bessernden Eingriff in den eigenen Geist fehle, Gott, Maria und die Heiligen um Beistand anrufen, auf dass diese ihr hülfen: so dir kraft gebristet alle ding ze besseren, so nim ze hilff und ruff an die heilligen drifaltigkeit, den heilligen geist, die heilige muter gotes maria, die lieben heilligen und engel. 258 Anschließend werden auch die heiligen Priester, Beichtiger, Märtyrer und Jungfrauen als Fürsprecher und Mittler zwischen Gott und Mensch aufgezählt, an die Gebete zu richten seien, damit die Umgestaltung des Seelenklosters dank ihrer Interzession gelinge. Ähnlich wie auch der Kommentartraktat zum Herzkloster bringt Meyer so seine Anweisungen zur Errichtung einer inneren Klausur in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Vorstellungen der Hinbereitung des Menschen auf die Gnadenzuwendung Gottes, die auf der Annahme einer »Reziprozität der in freiem Willen erfolgten Zuwendung des tugendhaften Individuums zu Gott und von dessen Heilshandeln am glaubenden Menschen« gründen. 259 Die vertikale Hinkehr zum Heiligen im Bittgebet ist dabei neben der vom Text angeleiteten horizontalen Versenkung ins eigene Herzenskloster der zweite Angelpunkt dieser Gnadenvorbereitung, so dass Meyers Herzklostervariante als Gebets- und Andachtsübung gezeichnet ist. Diesen Ausführungen nun fügt Meyer einen allegorischen Text bei, der die seelische Reformtätigkeit der Nonnen strukturieren soll. Unschwer lässt sich hierin eine erweiterte und überarbeitete Variante des oben untersuchten Herzklosters erkennen, die wie folgt beginnt: Dis closter sol sein ein fridsames, ru ᵉ wiges, gut williges hertz. In disem closter sol got der herr selber apt sein, wann er hat ein wollust dar in ze beleiben, und also macht du gedencken der emsigen go ᵉ tlichen gegenwurtigkeit deines herren. Bescheidenheit sol der prior sein. Su ᵉ pprior gedult. Circator sein selbs eigen war nemen. Schaffner willige armu ͦ t. Kellner miltikeit. Cu ᵉ ster behutsamkeit und warnemen des zitts. Portner go ᵉ tliche vorcht. Siech meister erbarmhertzigkeit. Sengerin emsiges gotliches lob. Schulmeister der heillig geist. Gewand meister demu ᵉ tigkeit. Gast meister ausz treiben der unnutzen gedenck. Ku ᵉ chen meister gotlicher trost. 260 258 »wenn dir die Kraft fehlt, alle Dinge zu bessern, so suche Hilfe und rufe die heilige Dreifaltigkeit an, den heiligen Geist, die heilige Mutter Gottes Maria, die lieben Heiligen und Engel«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 139v. 259 Seebald 2020, S. 59. 260 »Dieses Kloster soll ein friedsames, reuiges, gutwilliges Herz sein. In diesem Kloster soll Gott der Herr selbst Abt sein, denn er hat Begierde danach, hierin zu weilen, und deshalb sollst du der stetigen göttlichen Gegenwart deines Herren gedenken. Verstand soll der Prior sein. Subprior die Geduld. 340 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="341"?> Im Vergleich mit der oben untersuchten Fassung des Herzklosters, die Meyer wohl als Primärvorlage diente, sind einige Abweichungen augenfällig. So wählt der Ordensreformer zumeist, wenn auch nicht durchgängig, die männliche Form für die Amtsbezeichnungen und erweitert die Liste der Klosterämter. Die Reihenfolge der allegorisierten Punkte ist zudem leicht umgeordnet, so dass alle Ämter ihrer Hierarchie nach in dieser Anfangspassage stehen, während im Herzkloster Schaffnerin und Kellermeisterin erst später bei der Auslegung der Wirtschaftsgebäude genannt werden. Auch bei der Allegorese beispielsweise von Subprior, Küster und Sängerin geht Meyer eigene Wege. Vielfach zeugen diese kleineren Eingriffe davon, dass Johannes Meyer mit mehreren Fassungen des Herzklosters vertraut war und diese in seiner Überarbeitung vermischte. Insbesondere die Frühfassung, die auf den Tituli des Claustrum anime cum dispositione beruht, muss der Dominikaner gekannt haben. Aus ihr überträgt er einige allegorische Punkte, folgt jedoch an anderen Stellen wiederum der späteren volkssprachigen Fassung des Herzklosters, die vorangehend besprochen wurde. So finden sich die Ämter des Circuitors, also des Aufsehers über das klösterliche Tagewerk, des Küchenmeisters, Gewandmeisters und Gastmeisters bloß in der lateinischen Tituli-Fassung, aus der sie Meyer wohl übernahm. 261 Die Bezeichnung des Klosters als ein fridsames, ru ᵉ wiges, gut williges hertz hingegen geht, wie auch viele andere Punkte, eindeutig auf die bekannte Hauptfassung zurück. Sarah Glenn DeMaris charakterisiert dieses Kapitel des Buchs der Ersetzung daher als eine »semi-original compilation, but one which relied upon several strands of tradition familiar to Meyer«. 262 Durch derlei kompilierende Übernahmen aus voneinander abweichenden Fassungen sowie eine Reihe eigener Zusätze bringt Meyer die Herzklosterallegorie in eine deutlich ausgeweitete und verlängerte Form. Denn während die deutsche Hauptfassung des Herzklosters und die lateinische Tituli-Fassung je 32 respektive 39 allegorische Elemente umfassen, ist Meyers Text auf insgesamt 47 Punkte erweitert. Bei dieser Umarbeitung verlagerte der dominikanische Reformer auch den Schwerpunkt des so entworfenen Idealbilds des inneren Menschen. Auffällig ist, dass Meyer dem Herzkloster gezielt solche Punkte aus früheren Fassungen oder eigener Feder beifügte, die auf den Bereich von Gebet und Andacht abzielen. Auf diese Weise finden das introspektive selbs eigen war nehmen ebenso wie die behutsamkeit und warnemen des zitts, also Beflissenheit beim monastischen Stundengebet, emsiges gotliches lob und das ausztreiben Circuitor die Wahrnehmung seiner selbst. Schaffner die freiwillige Armut. Kellermeister die Freigiebigkeit. Küster die Sorgfältigkeit und das Einhalten der Gebetszeiten. Pförtner die Gottesfurcht. Infirmar Barmherzigkeit. Sängerin stetiges Gotteslob. Schulmeister der Heilige Geist. Gewandmeister die Demut. Gastmeister das Vertreiben unnützer Gedanken. Küchenmeister der göttliche Trost«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 139v. Die Leithandschrift ist in dieser Passage fehlerhaft und muss nach der Parallelüberlieferung in Leipzig, UB, Ms. 1548, fol. 137v korrigiert werden (in Kursivdruck): Das in Ricketts Ms. 198 stehende hertzen ist im Kontext sinnlos und sollte herren heißen. 261 Vgl. die bei Bauer 1973, S. 309 - 313 abgedruckten Versionen der Frühfassung. Da der Gewandmeister nur dort vorkommt, liegt es nahe, dass Meyer jene Textversion kannte, die überliefert ist in der Handschrift Basel, UB, B VII 10, fol. 217r. Hier heißt es: Susceptor hospitum cogitacionum discussio, Vestiarius humilitas, Cocus diuina consolatio, Circuitor claustri sui ipsius uisitacio (»Der Empfänger der Gäste die Prüfung der Gedanken«, »Der Gewandmeister die Demut«, »Der Koch der göttliche Trost«, »Der Circator die Visitation des Klosters seiner selbst«, Bauer 1973, S. 313). 262 DeMaris 2015, S. 61. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 341 <?page no="342"?> der unnutzen gedenck ihren Eingang in die Herzklosterallegorie. 263 Der Fokus der Klosterallegorie verschiebt sich im Buch der Ersetzung somit auf Momente der Introspektion und betenden Hinwendung zu Gott. Dass diese teils durch die Benutzung des Texts selbst angeregt werden sollen, macht Meyer deutlich, wenn er dem zweiten Punkt seiner Herzklosterallegorie zwei Nebensätze zufügt: Gott solle der Abt des inneren Klosters sein, wann er hat ein wollust dar in ze beleiben, und also macht du gedencken der emsigen go ᵉ tlichen gegenwurtigkeit. 264 Hier wird erstens die in geistlichen Gebäudetexten omnipräsente Idee der Einwohnung Gottes im inneren Haus des entsprechend erbauten Menschen evoziert. Zweitens fordert der Ordensreformer davon ausgehend seine Adressatinnen auf, der stetigen göttlichen Gegenwart eingedenk zu werden. Mit dieser Anweisung zur gedanklichen Vergegenwärtigung wird die Herzklosterallegorie als geistliche Übung markiert, deren einzelne Punkte als Meditationsgegenstände genutzt werden sollen. Das Ziel des Textes liegt folglich darin, eine Andachtsform des introspektiven Selbstumgangs zu erleichtern und anzuleiten, in deren Verlauf Tugenden wie Selbstwahrnehmung, Gotteslob oder mentale Fokussierung auf das Heilige im Bewusstwerden der Gegenwart Gottes stimuliert und konsolidiert werden sollen. Genau wie die Hauptfassung des Herzklosters lässt Johannes Meyer der Auslegung der Klosterämter als Tugenden und Affekte eine auf das Messgeschehen und den Gottesdienst fokussierte zweite Passage folgen: Andacht ist der chor. Gotliche mynn der altar. Diener sind die heilligen engel. Erkantnu ᵉ sz ist dz creutz. Gelassenheit ist die kirch. Gotliche genad ist der priester. Warheit ist dz ewangelium. Gerechtigkeit die epistel. Gu ᵉ tte besserliche exempel der heilligen und der lieben freu ᵉ nde gottes sind die kertzen. Gu ᵉ tte gedenk ist der roch in dem rochfas. Gehorsamkeit sind die bru ᵉ der. 265 Abgesehen davon, dass Meyer auch hier trotz seines aus dominikanischen Monialen bestehenden Zielpublikums ein Männerkloster allegorisiert, überrascht der Großteil dieser Passage nicht. In veränderter Reihenfolge direkt aus dem Herzkloster übernommen, stehen die meisten dieser Punkte aus dem Bildfeld der liturgischen Feiern in der Klosterkirche für Wirkungen göttlicher Gnade. Allein die besonders betonte Rolle der Andacht, die hier an den Anfang des Sinnabschnittes versetzt wird, sticht hervor. 263 Die meisten dieser Punkte entstammen der frühen Tituli-Fassung (vgl. Bauer 1973, S. 313), bei der Allegorie des Küsters als behutsamkeit und war nehmen des zeites handelt es sich wohl um eine Eigenzufügung Meyers. Im späteren Herzkloster nämlich wird die Küsterin mit der Geduld und die Subpriorin mit der Demut gleichgesetzt. Nach der Einfügung des Gewandmeisters als Demut nun ordnete Meyer wohl dem so seiner Allegorese beraubten Subprior die Geduld zu, wodurch wiederum für den Küster eine Bedeutungslücke entstand, die der Autor füllen musste. 264 Die Inspiration hierfür dürfte wiederum die Tituli-Fassung gegeben haben, in der es in direkter Übernahme aus dem Claustrum anime cum dispositione (vgl. oben, Kap. III.3.3) heißt: Abbas claustri anime est iugis meditacio dei presencie (»Der Abt des Seelenklosters ist die stetige Andacht göttlicher Gegenwart«, Bauer 1973, S. 313). Johannes Meyer erweitert diesen Satz jedoch um die Vorstellung der Einwohnung Gottes und formuliert ihn zur apostrophischen Meditationsaufforderung an seine Rezipientinnen um. 265 »Andacht ist der Chor. Göttliche Liebe der Altar. Die Messdiener sind die heiligen Engel. Erkenntnis ist das Kreuz. Gelassenheit ist die Kirche. Göttliche Gnade ist der Priester. Wahrheit ist das Evangelium. Gerechtigkeit die Apostelbriefe. Gute, verbessernde Exempel der Heiligen und der lieben Gottesfreunde sind die Kerzen. Gute Gedanken sind der Rauch in dem Rauchfass. Gehorsam sind die Brüder«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 139v - 140r. 342 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="343"?> Erhellender ist jedoch, dass Meyer vier Zusatzelemente beifügt, die wohl von ihm selbst stammen und allesamt auf fromme Lektüre und ihre positiven Effekte abheben. 266 Das Evangelium, die Apostelbriefe, die Kerzen und der Weihrauch, die auf die Schriftlesung während der Gottesdienstfeier verweisen, stehen für Wahrheit, Gerechtigkeit, erbauliche Heiligenlegenden und Exempel sowie die dadurch angeregten guten Gedanken. Die Heilige Schrift wird hier dementsprechend allegorisch ausgedeutet, während geistliche Literatur und ihre Wirkung gleich anschließend auch als Ergebnis der Allegorese präsentiert sind, so dass sich beinahe ein Bedeutungszirkel ergibt. Hierin mag sich jene »Observants ’ bookishness« widerspiegeln, 267 in deren Zuge auch die Bildungskultur der reformierten Frauenklöster einen Aufschwung erfuhr. 268 Mit solchen Ergänzungen passte Johannes Meyer die Herzklosterallegorie wohl gezielt an den Kontext der dominikanischen Ordensreform an. Die Folgepassage, in der die verschiedenen Gebäude der Klosteranlage, ihre Funktionen und ihre Einrichtung ausgelegt werden, gleicht wesentlich der oben behandelten Fassung des Herzklosters, wenn auch wiederum mit Zusatzpunkten. Refektorium, Dormitorium, Einzelzelle, Hospital, Küche und Waschhaus stehen je für bestimmte Tugendideale des weiblichen Monialentums, wobei Aspekte des Gemeinschaftslebens und der Nächstenliebe im Vordergrund stehen. Stärker ausgeprägt ist jedoch der Teil der Gebäudeallegorie, der sich der inneren und äußeren Abschottung von der Welt widmet: Der funff synnen behutsamkeit ist der creutz gank. Gedechtnusz des todes ist der kirch hoff. Versmehnu ᵉ sz der welt ist die heimliche kammer. Verharrung in allem gu ᵉ tten ist die maur umb das closter. Gedechtnusz ewiger pein ist der kerker. 269 Zunächst betonen diese Punkte, bei denen es sich zumeist um abgewandelte Übernahmen aus der frühen Tituli-Fassung handelt, 270 die zentrale Rolle der Klausur als Abkehr von der Welt. Nicht nur ist das Hauptanliegen dieses Kapitels des Buchs der Ersetzung die Aufrechterhaltung der äußeren und inneren Klausur, Johannes Meyer maß ihr auch 266 Weder in der Tituli-Fassung noch in den sonstigen mir bekannten Versionen der Herzklosterallegorie findet sich vergleichbares. Ob der Unterlindener Herzklostertraktat, dessen Handschrift sich ja im Besitz Meyers befand (vgl. oben, Anm. 210), zumindest indirekt Einfluss auf diese und andere Beifügungen des Ordensreformers gehabt haben könnte, bleibt Mutmaßung und scheint ob des späteren Erstellungsdatums der entsprechenden Sammelhandschrift nicht sehr wahrscheinlich. DeMaris 2015, S. 60 f., spekuliert vorsichtig in diese Richtung. 267 Mixson 2015, S. 2. 268 Vgl. z. B. Jones 2018; Willing 2012; sowie Burkhard Hasebrink: Tischlesung und Bildungskultur im Nürnberger Katharinenkloster. Ein Beitrag zu ihrer Rekonstruktion, in: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts, hg. v. Martin Kintzinger, Sönke Lorenz u. Michael Walter, Köln u. a. 1996, S. 187 - 216. 269 »Die Behütung der fünf Sinne ist der Kreuzgang. Das Gedächtnis des Todes ist der Friedhof. Verachtung der Welt ist die heimliche Kammer [d. i. der Abort]. Verbleiben in allem Guten ist die Mauer um das Kloster. Gedenken der ewigen Pein ist der Kerker«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 140r. 270 In der Hauptfassung des Herzklosters werden allein der Kreuzgang als úbung und der Friedhof als Todesvorbereitung benannt (siehe oben, S. 316 f.). Ersteres Element deutet Meyer in seiner Konzentration auf die Thematik der inneren Klausur anders aus und übernimmt dabei aus der früheren Tituli-Fassung. In dieser stehen außerdem der Karzer für die Hölle (locus infernalis), der Abort (meatus sordes) für die Verachtung der Welt und die Klostermauer für die Beharrlichkeit (perseverantia), wobei der Ordensreformer in ersterem und letzterem Fall die Allegorese im Rahmen der Klausurthematik etwas anders akzentuiert (vgl. Bauer 1973, S. 313). 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 343 <?page no="344"?> generell eine derart große Bedeutung zu, »dass er sie mit der Reform gleichsetzte und in seinen Werken die Worte › beschlossen ‹ und › reformiert ‹ sinngleich verwendete«. 271 Dass die Dominikanerinnen, an die der Reformer sich mit seiner Schrift wandte, auch bei ihrer architektonischen Innenschau auf die Thematik der Klosterbeschließung stoßen sollten, scheint also folgerichtig. Insbesondere dass die Klostermauer, die wie kein anderes Bauelement die Abschottung des Klosters von seiner weltlichen Umgebung versinnbildlicht, hier als verharrung in allem gu ᵉ tten gezeichnet ist, illustriert dabei eine Interiorisierungstendenz der Klausuridee im Spätmittelalter, die Marie-Luise Ehrenschwendtner als Kennzeichen dominikanischer Spiritualität hervorhebt: »For the Dominican sister [ … ], the inner and the outer space merge into one. She internalizes her enclosure.« 272 Die Errichtung und Reformierung eines derartigen Sakralraums im tiefsten Selbst, die Herstellung eines Analogieverhältnisses zwischen dem abgeriegelten Kloster des Außen und dem wohlgehüteten Inneren der dominikanischen Schwester wird von Meyers allegorischer Introspektionsandacht bestrebt, angeleitet und vorgebildet. Erfüllung findet diese Figuration gesteigerter Innerlichkeit in der finalen Passage der observanten Spielart des Herzklosters. Der Baumgarten nämlich wird in einer einschneidenden Erweiterung der Vorlagentexte gleichsam als beschlossener Garten des Hohelieds und als Ort der inneren Einwohnung Gottes gezeichnet: 273 Begird ewiger und himelischer freude und frid des hertzen, dz sind die paum gartten, in den got der herr sein wonung haben wil. Sweigen halten zu rechter zeit und stat sind die paume. Undergan mit gedu ᵉ lt sind die bletter. Die manifaltigen fru ᵉ cht der loblichen beslossen garten sind manigfaltigkeit der tugend, bysunder der dreien gotlichen tugenden, der vier angel tugend und der sibend tugenden und gaben des heilligen geistes, der acht seligkeit, der zwolff retten unsers lieben herren Jesu Cristo. 274 Momente der Selbstnegation (sweigen, undergan) wurzeln hier in der Sehnsucht nach himmlischer Freude und Herzensfrieden. Sie treiben als Frucht die Gesamtheit der Tugenden hervor, die wesentlich bereits vorangehend aufgerufen wurden. Verschiedene christliche Tugendkataloge werden dabei aneinandergereiht und ergänzt. So entsteht jener innere Ort, an dem Gott seine Wohnstatt nehmen soll und aus dem gleichsam alles Gute am und im frommen Menschen entwächst. Gleichzeitig erlaubt dieses abschließende und höhepunktartige Gartenbild Meyer, auf das als Thema dem predigthaften Kapitel voranstehende, brautmystisch aufgeladene Hoheliedzitat zum hortus conclusus zurückzukommen. Denn nur wenn eine Schwester sich selbst nach dem Vorbild dieser Klosterallegorie forme, so macht du wol genant werden nit allein ein beschlossner gart [ … ], bysunder auch ein wol geordenetes, wol geziertes und wol 271 Neidhardt 2017, S. 100. 272 Ehrenschwendtner 2010, S. 312. 273 Im Herzkloster wie auch in seiner Tituli-Fassung ist der Baumgarten nicht als göttliche Wohnstatt gezeichnet. Auch die selbstreferentielle Tugendliste am Ende des Textes fehlt dort. 274 »Der Wunsch nach ewiger und himmlischer Freude und Frieden des Herzens, das sind die Baumgärten, in denen Gott der Herr seine Wohnung haben wird. Schweigen einzuhalten zur rechten Zeit und am rechten Ort sind die Bäume. Untergehen mit Geduld sind die Blätter. Die vielfältigen Früchte der lobreichen beschlossenen Gärten sind die Vielfalt der Tugenden, besonders der drei theologischen Tugenden, der vier Kardinaltugenden und der sieben Tugenden und Gaben des Heiligen Geistes, der acht Seligkeiten und der zwölf Räte unseres lieben Herren Jesus Christus«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 140r. 344 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="345"?> beschlossen closter. 275 Die tugendhafte Schwester lebt somit nicht allein in einem reformierten Kloster und hat sich dieses als allegorisches Tugendideal vorzuhalten, sie kann auch als Kloster und beschlossener Garten bezeichnet werden, so sie denn ihr Inneres nach diesem Bild figuriert. Mit seiner Variation auf die Herzklosterallegorie gibt Meyer ihr dazu ein textuelles Hilfsmittel an die Hand, das ihre innere Selbstgestaltung erleichtern und vorzeichnen soll. Anders als der Kommentartraktat zum Herzkloster, der diesem Text eine universale Erbauungsfunktion für christliche Menschen jedes Geschlechts und aller Stände zuschreibt, richtet sich Johannes Meyer gezielt an den begrenzten Kreis observanter Dominikanerinnen in seinem oberrheinischen Wirkungsgebiet. Die von ihm anempfohlene andächtig-introspektive Benutzung der ins Buch der Ersetzung montierten Klosterallegorie erscheint damit als Spezifikum des weiblichen Monialentums und, noch genauer, als Instrument der Einführung und Einhaltung einer strengen Observanz, die nicht allein auf die Reform der äußeren Lebensumstände im Kloster abzielt, sondern darüber hinaus eine innere Transformation der individuellen Schwester fordert. Auf diskursiver Ebene gliedert sich dieses Kapitel aus Meyers Buch der Ersetzung damit als appellative Vermittlung von Lebensform und -haltung ein in die Verbreitungsanstrengungen der dominikanischen Observanzbewegung. Als Andachtsübung dahingegen entwirft es ein wirkungsästhetisches Angebot der Selbstfiguration der einzelnen Schwester, die ihre eigene Person nach dem Modell des vom Text entworfenen Herzklosterbilds gemäß den Idealen der Ordensreform und in Analogie zum klausurierten äußeren Klosterleben gestalten, verändern und kontrollieren soll. 3.7 Geistliches Haus und Geistliche Klause: Die Vielfalt innerer Architekturen in der volkssprachigen Traktatliteratur Im Zentrum der Untersuchung standen bislang in erster Linie volkssprachige Texte, die mittels des Bildes einer Klosteranlage ein inneres Idealmodell für den frommen Christen entwerfen. Der Leser ist dabei implizit oder explizit aufgefordert, sich selbst nach diesem Modell zu formen. Somit wird die Struktur eines monastischen Gebäude- und Personenkomplexes als Figur präsentiert, zu der sich der einzelne Mensch erbauen soll. Zwar überwiegen derlei Klosterbilder unter den geistlichen Gebäudetexten des Mittelalters sowohl ihrer Überlieferungsdichte als auch ihrer Zahl nach, stellen indes aber keineswegs die einzigen textuellen Hilfsmedien zur inneren Erbauung nach architektonischem Muster dar. Vielmehr finden sich, vor allem im Bereich der Traktatliteratur, vielgestaltige Spielarten allegorischer Gebäudebilder, welche die Struktur und Beschaffenheit des inneren Menschen veranschaulichen, der sich auf die Einwohnung Gottes oder den Empfang der Gnade vorbereitet. Die Auseinandersetzung über die richtige geistige Haltung, über Ideale der Innenformung und die Verwirklichung religiöser Tugenden und Affekte im Menschen wird hier vielfach unter Rückgriff auf das Bild der Seele als Bauwerk geführt. Dabei 275 »dann kannst du wohl nicht nur ein beschlossener Garten genannt werden, sondern auch ein wohlgeordnetes und wohlgeziertes und wohlbeschlossenes Kloster«, Bloomington (Indiana), Lily Library, Ricketts Ms. 198, fol. 140v. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 345 <?page no="346"?> werden neben der Klosterarchitektur auch Haus, Hof, Tempel, Kirche sowie andere Gebäudetypen als Bildspender herangezogen. Traktate, die architektonische Modelle der Selbsterbauung anbieten, dürfen als Schlüsselgattung dieses Diskurses gelten. Anhand von zwei Beispielen soll dieses Feld knapp anskizziert werden, auch da die im Anschluss untersuchten Gebets- und Andachtsübungen eng mit derartigen Texten verknüpft sind. Besonders aufschlussreich ist hier eine vierteilige Gnadenlehre, der Kurt Ruh den Titel Das geistliche Haus gab und sie ihrem Inhalt nach als »scholastisch-dominikanisch« charakterisierte. 276 Dieser Traktat, der ab ungefähr 1400 in zwei Handschriften aus dem süddeutschen Raum überliefert ist und bislang unediert bleibt, 277 ist in Anlehnung an die Lehrpraxis der Scholastik in vier separat abgehandelte, jedoch thematisch ineinander überleitende Quaestiones gegliedert. Auf die einleitende Frage, was göttliche Gnade überhaupt sei, antwortet die anonyme Schrift bündig mit einer Thomas von Aquin zugeschriebenen Definition: Die gna ᵘ d gottes ist ein geschopfter zu ͦ val der sel, dù da mit schinend wirt und zu ͦ geistlichen dingen erlùhtet wirt. 278 Auf die daran anschließende zweite Frage, wie der Mensch sich auf und für den Empfang der Gnade vorbereiten soll, folgt die hier in erster Linie interessierende und titelgebende Gebäudeallegorie, die ihrem Umfang nach den Großteil des Geistlichen Hauses ausmacht. Die Antworten auf zwei Folgefragen nach den Zeichen, in denen sich Gnade im Menschen ausdrücke, sowie nach den Möglichkeiten der Distinktion zwischen teuflischen und göttlichen Einflüssen sind dagegen knapper gehalten und betreffen beide das Großthema der discretio spirituum. Die Gebäudeallegorie im Zentrum des Traktats trägt einerseits ausdrücklich instruktive Züge, die sich bereits in der ihm in der Nürnberger Handschrift vorangestellten Rubrik abzeichnen. Disz ist von dem geistlichen hawse und von den synnen und materien die dar zu geho ᵉ ren, überschreibt sie den Traktat und fügt am Rand hinzu: got dem heiligen geist zu pawen. 279 Die Verwirklichung des vom Text vorgezeichneten Baus steht folglich am Zielpunkt der so implizierten Rezeption des Textes. Wiederholt apostrophiert das Geist- 276 Kurt Ruh: Art. Das geistliche Haus, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 1162 f. 277 Es handelt sich dabei um die beiden Sammelhandschriften Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 42r - 63r; sowie Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VI 43 l , fol. 196r - 217v. Zitiert wird folgend nach der Zürcher Handschrift, die Stephen Mossman (Manchester), dem ich für einen entsprechenden mündlichen Hinweis danke, anhand der verschiedenen enthaltenen Ochsenkopfwasserzeichen auf um 1400 datieren konnte. Mit Ausnahme des Lexikonartikels von Ruh 1980(b) wurde das Geistliche Haus bislang nicht untersucht. Gemeinsam mit Linus Ubl (Jerusalem) bereite ich zurzeit eine Edition des Textes vor. 278 »Die Gnade Gottes ist ein geschaffenes Akzidens der Seele, die hierdurch glänzend wird und zu geistlichen Gegenständen erleuchtet wird«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 43r. Eine Dittographie (zu ͦ zu ͦ val) habe ich nach der Nürnberger Handschrift emendiert. Wahrscheinlich fügt der Traktat hier, vielleicht vermittelt durch eine Dicta-Sammlung oder ein Florilegium, zwei in der gleichen Quaestio der Summa fallende Gnadendefinitionen des Aquinaten zusammen: erstens eine Bestimmung der Gnade als Akzidens der Seele (Et quia gratia est supra naturam humanam, non potest esse quod sit substantia aut forma substantialis, sed est forma accidentalis ipsius animae«, »Und weil die Gnade über der menschlichen Natur steht, ist es nicht möglich, dass sie Substanz oder substantielle Gestalt sei, sondern sie ist die akzidentielle Gestalt dieser Seele«, Summa, Iª-IIae q. 110 a. 2 ad 2), und zweitens eine auf die Glossa ordinaria zurückgehende Definition der Gnade als Glanz der Seele (gratia es nitor animae, »die Gnade ist der Glanz der Seele«, Summa, Iª-IIae q. 110 a. 2 s.c). 279 »Dies sagt von dem geistlichen Haus und von den Bedeutungen und Materien, die dazugehören«, »Für Gott den Heiligen Geist zu erbauen«, Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VI 43 l , fol. 196r. In der Zürcher Handschrift hingegen fehlt die Rubrik, wo der Text lediglich in einem Register als Ein geistlich hus betitelt wird (Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 139r). 346 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="347"?> liche Haus sein Publikum mit der Aufforderung, das vom Text geschilderte und erläuterte innere Gebäude zur Gnadenvorbereitung in sich zu errichten. So erweist sich die Grenze zwischen Traktat und Andachtsübung als unscharf. Andererseits aber fundiert das Geistliche Haus sein titelgebendes Architekturbild durchgängig durch Rekurse auf die Bibel. 280 Im Rahmen dieser exegetischen Herleitung erscheint das in und aus der Seele des individuellen Christen aufzurichtende geistliche Haus in der Folge biblischer Präfigurationen und der durch sie vermittelten Glaubenssätze. Der Traktat betreibt also neben der Allegorie, durch die er ein konkretes Bauwerk als Bild für die gläubige Seele entwirft und auslegt, auch Typologie im Sinne einer heilsgeschichtlich orientierten Auslegung des Alten Testaments als Verheißung Christi, in der »das Alte auf das Neue als seine Steigerung herüberdeutet, immer hinweg über die Zeitengrenze und die Zeitenmitte des historischen Erscheinens Christi als des Wendepunkts der Heilsgeschichte«. 281 Das innere Haus bezeichnet somit einerseits allegorisch Glaubenssätze und Heilsereignisse, wird von ihnen andererseits aber auch typologisch präfiguriert und bildet ihre Verwirklichung im inneren Menschen vor, in der sie bis zur schließlichen Erfüllung fortwirken sollen. 282 So heißt es z. B. über das Fundament des Bauwerks, das in Anspielung auf das neutestamentliche Gleichnis vom auf Felsen und Sand gebauten Haus (vgl. Mt 7,24 - 27; Lc 6,47 - 49) aus Christus und der Befolgung seiner Lehren besteht: Zu ͦ dem ersten bereit din geistlich hus mit der grunt vesti und fùndmit einer steininern blatten oder eins vellsen. Dz ist unser lieber herr Jesus Cristus, also dz du in allem dinem leben und tu ͦ n und la ᵘ ssen solt und ein uff sehen habist und ein meinung, ze buwend uff die er und uff die ler und uff dz leben Cristi. 283 Mit beträchtlichem Aufwand plausibilisiert das Geistliche Haus diese Grundlegung auf Christus. Auf acht jeweils genauer erläuterte Weisen, führt der Traktat aus, lasse sich der Gottessohn einem steinernen Fundament vergleichen. So sei Christus, wie in der Bibel stehe (Lc 6,48), 284 ebenso beständig wie ein Fels, auf den der Mensch ein gegen Flut und 280 Das allegorische Gebäudebild wird dabei zudem immer wieder auch tropologisch, also in Hinblick auf seinen moralis sensus für das christliche Individuum gedeutet. Zur Tropologie als exegetischer Methode und ihrem Verhältnis zur Allegorie vgl. Brinkmann 1980, S. 244 - 250. 281 Ohly 1988, S. 29. 282 Dass, wie Hennig Brinkmann herausstreicht, in der mittelalterlichen Hermeneutik oft »allegorischer und typologischer Sinn zusammen[fallen]« (Brinkmann 1980, S. 251) und auch terminologisch ungetrennt bleiben, wird am Geistlichen Haus besonders augenfällig. Die Herleitung theologischer Positionen aus der Schrift und die typologische Inbezugsetzung alttestamentlicher und neutestamentlicher Bibelstellen fallen in diesem Text zumeist zusammen. Modellhaft abgegrenzt werden Typologie und Allegorie in dem oben aufgemachten Sinn von Friedrich Ohly, der jedoch auch anmerkt: »Begrifflich wird die Typologie im Mittelalter von der Allegorie nicht klar geschieden« (Ohly 1977b, S. 320). 283 »Statte erstens dein geistliches Haus mit der Grundfeste und dem Fundament eines steinernen Baugrunds aus. Das ist unser lieber Herr Jesus Christus, auf dass du in deinem ganzen Leben und Tun und Lassen darauf achten und die Absicht haben sollst, auf die Ehre und auf die Lehre und auf das Leben Christi zu bauen«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 43v. 284 similis est homini aedificanti domum, qui fodit in altum et posuit fundamenta supra petram. inundatione autem facta, inlisum est flumen domui illi et non potuit eam movere. fundata enim erat supra petram (»Gleich ist er einem Menschen, der ein Haus baut, der in die Tiefe gegraben und die Fundamente auf Fels gelegt hat. Als aber eine Überschwemmung kam, stieß der Fluss an jenes Haus und konnte es nicht bewegen. Es war nämlich gegründet auf Fels«). 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 347 <?page no="348"?> andere Gefahren gefeites Haus bauen könne. Zudem gleiche er der in den Psalmen erwähnten sicheren Zuflucht einer auf festen Fels gebauten Burg (Ps 17,3). 285 Drittens könne der Mensch den Schatz seiner Seele in Christus ebenso sicher verbergen und bewahren wie irdische Kostbarkeiten in einer Felsenfeste, 286 viertens gleiche die Unerschütterlichkeit und Ruhe Christi einem Felsblock. Fünftens, so zeigt der Traktat in einer Anspielung auf den Begriff der speculatio auf, 287 sei Christus ein spiegel eines beschowlichen lebens, als o ᵘ ch der vels ald ein stein, der wolgepoliert ist ald geglettet. 288 Im biblischen Hintergrund dieser Spiegeldeutung steht die vom Text explizit ausgewiesene Stelle aus dem Römerbrief des Paulus, die betont, die unsichtbaren Werke Gottes offenbarten sich an den Dingen der Schöpfung (Rm 1,20). 289 Deshalb, so das Geistliche Haus, bildeten die irdische Welt und insbesondere der inkarnierte Gottessohn Christus einen Spiegel und Ausgangspunkt für die Betrachtung des Göttlichen. An sechster Stelle aber gleiche Christus einer Waffe gegen den Teufel und sei darin wie Steine und Geschosse, die man mit bùchsen ald mit bliden wirft z ů ùberwindent die vient. 290 Ohnehin sei das Leben nichts als eine geistliche Ritterschaft im Kampf gegen den Teufel, weshalb der Mensch solche Bewaffnung ebenso benötige wie David, der mit einem Stein Goliath getötet habe (vgl. I Sm 17, 48 - 51). Siebtens dann sei Christus ein Trost aller Betrübten ebenso wie eine Felsenfestung, in der von Krieg und Gefahr bedrohte Menschen Zuflucht fänden. In diesem Sinne sei das Psalmenwort, in dem Gott gelobt werde, da er den Menschen aus höchster Not auf einen Felsen erhoben habe (Ps 60,3), 291 als Verheißung Christi zu verstehen. Schlussendlich präfiguriere auch der Fels, aus dem Moses Wasser schlug (vgl. Nm 20,12; Ps 77,20), den Gottessohn. Denn aus dem Leiden Christi, so wird unter Rekurs auf eine schon im ersten Korintherbrief angelegte exegetische Tradition (vgl. I Cor 10,1 - 12) erklärt, entspringe das Wasser der Reue, und auch der im Deuteronomium erwähnte Stein, aus dem Honig und Öl geflossen seien (Dt 32,13), weise typologisch auf 285 Domine petra mea et robur meum et salvator meus, Deus meus fortis meus sperabo in eo, scutum meum et cornu salutis meae susceptor meus (»Herr, mein Fels und meine Stärke und mein Retter, mein Gott, mein Starker, auf ihn werde ich hoffen, mein Schild und das Horn meines Heils, mein Beschützer«). Eine Verbindung besteht zudem zum ähnlich lautenden Bibelvers II Sm 22,3 - 4. 286 Die biblischen Referenzpunkte sind hier neben anderen Schriftzitaten vor allem Is 2,10: ingredere in petram abscondere fossa humo (»Geh in den Felsen hinein, verbirg dich in der ausgegrabenen Erde«); sowie Ct 2,14: columba mea in foraminibus petrae in caverna maceriae (»meine Taube in den Klüften des Felsens, in der Höhlung der Lehmwand«). Letzteres Schriftzitat wird im Geistlichen Haus zwar leicht fehlidentifiziert, ist aber eindeutig wiedergegeben: Als geschriben stant in dem bu ͦ ch der minnenden sel in dem iiij capitel: Min tub in den lo ᵉ chern (»Wie im Buch der Liebe im vierten Kapitel steht: Meine Taube in den Klüften«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 44v). 287 Die Darstellung von Christus als Spiegel im Geistlichen Haus lässt sich durchaus in Verbindung bringen mit einer Auffassung von Spekulation als »Technik der Entfaltung rhetorischer Mittel, die immer neu den Modus der Repräsentation und der Signifikation zugunsten der Wahrnehmung der Texteffekte hinter sich lässt« (Largier 2018, S. 57). 288 »ein Spiegel eines beschaulichen Lebens, genau wie auch der Fels oder ein Stein, der gut poliert ist oder geglättet«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 45r. 289 invisibilia enim ipsius a creatura mundi, per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur (»Denn seine unsichtbaren Taten, von der Erschaffung der Welt an, werden durch das, was geschaffen worden ist, erkannt und erblickt«). 290 »man mit Kanonen oder Katapulten schleudert, um die Feinde zu überwinden«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 45v. 291 dum anxiaretur cor meum: in petra exaltasti me (»als mein Herz sich ängstigte: Du hast mich auf den Felsen erhöht«). 348 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="349"?> Christus, denn dieser spende das Öl göttlicher Andacht und Innigkeit ebenso wie den Honig himmlischer Süße. Diese Zusammenfassung mag die auf fortlaufende Figuration abhebende Vermittlungsstrategie des Geistlichen Hauses verdeutlichen. Zunächst werden exegetische Perspektiven von Tropologie, Allegorie und Typologie in den Ausführungen zum Bau des Seelenhauses auf dem Felsen Christus verschmolzen. Gleichzeitig aber geht der Wirkanspruch, den dieses Deutungsverfahren verfolgt, über Auslegung und Versinnbildlichung hinaus. Denn indem das Geistliche Haus verschiedene alttestamentliche Motive und Ereignisse als Verheißungen und Präfigurationen Christi deutet, lässt der Traktat den Gottessohn zugleich selbst als Vorbild und innere Gegenwärtigkeit erscheinen, auf dessen Felsenfundament das Lesepublikum seinen Seelenbau errichten soll. Die biblischen Gegenstände und Motive, die der Text aufruft, verheißen und bezeichnen auf der einen Seite Christus, bilden auf der anderen Seite aber auch Präfigurationen des Seelenbaus, den der gläubige Mensch, der demgemäß Christus verinnerlicht, in sich erstellen soll. Somit bietet der Traktat ein instruktives Modell zur inneren Nachfiguration des textlich Dargestellten und biblisch Vorgegebenen, da von mentschlich gemu ᵉ t bewegt und geraitzet wirt zuo lieben und zu ͦ begeren ùnsern herren Jesum Cristum, 292 so dass dieser gnadenhaft in das für ihn vorbereitete Seelenhaus einkehren kann. Typologie, Allegorie und Tropologie leiten zusammen über in die Aufforderung zur Selbstfiguration der Einzelseele. In ähnlicher Manier doch unter Rückgriff auf verschiedene Diskurs- und Wissensfelder entwirft der Text den übrigen Aufbau des inneren Hauses. Gemäß der bereits aus dem Herzkloster hinlänglich bekannten Konventionen folgt hierbei zunächst ein religiöser Tugendkatalog. Sieben Säulen aus verschiedenen Materialien, die jeweils alttestamentlichen Erzählungen entnommen sind, werden aufgelistet und bedeuten einzelne Tugenden des Gläubigen, denn sùben sùl sint notdùrftig zu ͦ einem matierlichen gu ͦ ten hus und o ᵘ ch zu ͦ einem geistlichen hus, die man setzen und uff richten sol uff die gruntvesti des velsen, 293 also auf das durch Christus gebildete Seelenfundament. Eine Wolkensäule (vgl. Ex 13,21 - 22) bezeichnet den Glauben, eine Rauchsäule (vgl. Ide 20,40) steht für die Hoffnung und eine Feuersäule (vgl. Sap 18,3) für die Liebe. Nachdem die drei theologischen Tugenden somit beisammen sind, folgen die vier Kardinaltugenden. Hier wird die Tapferkeit (sterki) durch eine Marmorsäule verkörpert (vgl. Ct 5,15), die Gerechtigkeit durch eine Silbersäule (vgl. Ct 3,10), die Klugheit (fursichtikait) durch eine Erzsäule (vgl. I Sm 7,15 - 22) und die Mäßigung durch eine Säule aus Zedernholz (vgl. I Sm 7,2). Tropologische Exkurse zur Bedeutung der jeweiligen Tugendqualitäten ergänzen und erläutern dieses Bild. Innerhalb des von diesen Stützpfeilern getragenen und durch weitere allegorische Architekturelemente ergänzten Hauses befinden sich drei Haupträume, die den drei Seelenkräften entsprechen. Jeder Seelenkraft ist dabei eine der trinitarischen Personen zugeordnet: Der erste Raum ist das geda ᵉ chtnùss, in der gott der vatter nach siner maht wonet und wùrket, der zweite die vernunft, in der got der sun nach siner wishait wonet und wùrket und das dritte Zimmer schließlich der will, in der got der hailig gaist nach siner gu ᵉ ti 292 »wodurch das menschliche Gemüt bewegt und gereizt wird, unsern Herren Christus zu lieben und zu begehren«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 47r. 293 »sieben Säulen, die man auf das Fundament des Felsens setzen und aufrichten soll, sind notwendig für ein gutes materielles Haus und ebenso für ein geistliches Haus«, ebd. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 349 <?page no="350"?> wonet und wùrket. 294 Hier gibt das Geistliche Haus wesentlich das auf Augustinus zurückgehende Modell vom »menschliche[n] Geist als Bild der göttlichen Trinität« wieder. 295 Denn im Zusammenspiel von memoria, intelligentia und voluntas gestalte sich, so der Kirchenvater, die menschliche Seele als Abbild der dreieinigen Gottheit. Der Traktat veranschaulicht dieses Modell in der Raumaufteilung des entworfenen Gebäudes und integriert hierbei auch weitere Elemente der augustinischen Seelenlehre, darunter beispielsweise die entscheidende Funktion der Wahl- und Willensfreiheit (liberum arbitrium). Da nämlich, so der Traktat, in den derart beschaffenen Seelenbau tugendhafte ebenso wie sündige Gedanken einzukehren vermöchten, müsse die Tür des freien Willens den Zugang zum inneren Haus regulieren und der tùrhu ᵉ ter sol sin dù versta ᵉ ntlikait, dù wislichen warti a ᵛ n iersal uff nutz und uff schaden des huses. 296 Nachdem das Geistliche Haus also ein christologisches Fundament und einen als Säulenwerk verbildlichten Tugendkatalog entworfen hat, berührt es nun die Frage nach der Struktur der menschlichen Seele, die unter Rückgriff auf die trinitarische »imago-Dei-Lehre Augustins« beantwortet wird. 297 Den drei Haupträumen des Geistlichen Hauses sind sieben Nebenzimmer beigeordnet, die durch die Lebensstationen Jesu präfiguriert werden und jeweils einzelne, zumeist affektiv bestimmte Frömmigkeitsmomente bedeuten. Dies zeigt eine weitere inhaltliche Refokussierung an, durch die der Text auf das Thema einer inneren Haltung in der Nachfolge des Lebens und Leidens Christi umschwenkt. Das Erdendasein und die Himmelfahrt des Gottessohns, so ließe sich dieser Teil des Traktats zusammenfassen, sollen in der Seele der einzelnen Gläubigen stets in geistlicher Entsprechung präsent sein. An erster Stelle findet sich folglich die durch Maria präfigurierte brutkamer der unio, in der dù gaistlich gemahelschaft entzwùschent got und diner sel in demu ᵉ tiger kùschkait und rainikait volbra ᵛ ht sol werden. 298 Dass dieses brautmystische Liebeszimmer, das als Motiv auf die Hoheliedauslegung Bernhards von Clairvaux zurückgeht, 299 in der Nürnberger Handschrift von wohl zeitgenössischer Hand ausgestrichen wurde, mag darauf weisen, dass derlei Bilder der geistlichen Gemahlschaft am Ausgang des Mittelalters in ihrem Anspruch auf mystische Vereinigung sowie ihrer sexuellen Bildlogik nicht als unproblematisch betrachtet wurden. 300 294 »Gedächtnis, worin Gott der Vater seiner Macht nach wohnt und wirkt«, »Vernunft, worin Gott der Sohn seiner Weisheit nach wohnt und wirkt«, »der Wille, worin Gott der Heilige Geist seiner Güte nach wohnt und wirkt«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 53r. 295 Thomas Jürgasch: Theoria versus Praxis? Zur Entwicklung eines Prinzipienwissens im Bereich der Praxis in Antike und Spätantike, Berlin/ Boston 2013, S. 278; vgl. auch S. 278 - 282, wo Augustinus ’ Entwicklung dieses Modells kurz erläutert wird. Zusammengefasst wird die augustinische Position zudem bei Ruh 1990, S. 98 - 103. 296 »der Türwächter soll der Verstand sein, der weise ohne Irrung über Nutz und Schaden des Hauses wache«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 52v. 297 Ruh 1990, S. 98. 298 »Brautgemach, in dem die geistliche Ehe zwischen Gott und deiner Seele in demütiger Keuschheit und Reinheit vollzogen werden soll«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 53v - 54r. 299 Vgl. Ulrich Köpf: Art. Hoheslied III. Auslegungsgeschichte im Christentum III. 1. Alte Kirche bis Herder, in: TRE 15 (1986), Sp. 499 - 514. 300 Vgl. Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VI 43 l , fol. 213v - 14r. 350 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="351"?> Die übrigen Beigemächer gestalten sich weniger prekär. So folgen der Raum der u ᵉ bung des innern und des ussern mentschen und disciplin, 301 der Jesu Leben in der Welt entspricht, die mit dem Kreuz konvergierende Kammer der Passionsbetrachtung sowie das vom Heiligen Grab vorgebildete Zimmer der inneren Ruhe aines fridlichen hertzen und ainer lutren gewissni. 302 Fünftens entspricht das gemach der gevangen und der blinden 303 dem Abstieg Christi in die Unterwelt und bedeutet ein liebevolles Mitleiden des Lesers mit den im Purgatorium gefangenen Seelen, sechstens beinhaltet das innere Haus auch ein Pilgerzimmer, das die himmlische Herrschaft Christi meint und ain himelschù begird und senung zu ͦ got und zu ͦ himelschen dingen sein soll. 304 Schlussendlich wohne Christus siebtens auch in jedem gläubigen Herzen, weshalb das Seelenhaus zuletzt auch ein nach Süden entgegen der Sonne ausgerichtetes fro ᵉ lich sumer gemach haben solle, welches vorbilde, dass din hertz mit wa ᵛ rer gantzer rùw gewendet gegen got sei. 305 Die Gnadenvorbereitung des Menschen, nach deren Möglichkeit der Traktat anfänglich fragte, wird hier als Nachfolge Christi im Sinne einer an bestimmte Affekthaltungen und Frömmigkeitsformen gebundenen Verinnerlichung seines Lebens und Wirkens gezeichnet. Diese sieben Nebenzimmer repräsentieren damit eine Art imitatio Christi, die den Lebensweg des Heilands zu Eigenschaften und Haltungen generalisiert, die in der Einzelseele realisiert werden sollen. Darauf, dass die hierbei stimulierten und an christozentrische Betrachtungen gekoppelten Affekte weder von christlichen Tugenden noch von erhofften Heilswirkungen, ästhetischen Lektüreeffekten oder dem darüber vermittelten Glaubenswissen stets trennscharf abgegrenzt werden können, weist Susanne Köbele treffend hin. 306 Ein fließendes Bewirkungs- und Entsprechungsverhältnis dieser Dimensionen, das »Spannungen zwischen ästhetischen, pastoraltheologischen und hermeneutischen Erbauungsansprüchen« produziert, ist für Texte wie das Geistliche Haus vielmehr charakteristisch. Ganz in diesem Sinne bilden die Beigemächer, so der Traktat, gleichzeitig siben schickung zu ͦ got und zu ͦ sinen gna ᵛ den und sùbenerlay wùrken gottes in dem gaistlichen hus. 307 Ursache und Wirkung sind im Sinnbild bis zur Identität enggeführt. Ein Dach des festen Gottvertrauens schließlich vollendet dieses komplexe Seelenhaus, das in seiner Verspleißung von exegetischen Perspektiven, von Diskurssträngen der Soteriologie, der Tugend- und Seelenlehre, von Aufforderungen zur imitatio Christi und ihren frömmigkeitspraktischen Implikationen ein prägnantes Beispiel spätmittelalterlicher Erbauungsliteratur im Wortsinn darstellt. Obzwar besonders raffiniert, steht das Geistliche Haus dabei innerhalb der Traktatliteratur des Spätmittelalters nicht allein. 301 »Übung des inneren und des äußeren Menschen und der Askese«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 54r. 302 »eines friedlichen Herzens und reinen Gewissens«, ebd, fol. 54v. 303 »Gemach der Gefangenen und Blinden«, ebd., fol. 55r. Hier ist wohl eine Art Karzer gemeint. 304 »eine himmlische Begierde und Sehnsucht nach Gott und nach himmlischen Dingen«, ebd. 305 »fröhliches Sommerzimmer«; »dein Herz mit wahrer und vollständiger Reue Gott zugewendet«, ebd., fol. 55v. 306 So erläutert sie: »Die Lage ist ziemlich komplex. Denn seit der Spätantike gelten die zu erbauenden religiösen Affekte (zentral: Glaubensstärke, Gottesliebe, Heilszuversicht) zugleich als theologische Tugenden (fides, caritas, spes), die zudem Wissen und Erkenntnis disponieren und darüber hinaus im Sinn christlicher delectatio auch durch ästhetische Effekte zum Modus von Heilsvergegenwärtigung werden« (Köbele 2015, S. 424). 307 »sieben Ausrichtungen auf Gott und seine Gnade«; »siebenfaches Wirken Gottes in dem geistlichen Haus«, Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96, fol. 55v. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 351 <?page no="352"?> Eine Vielzahl vergleichbarer Texte folgt ähnlichen Verfahren von Allegorie und instruktiver Vorbildung. In dieses Korpus fällt ein zweites Textbeispiel, ein als Geistliche Klause bekannter Traktat des 15. Jahrhunderts, dessen Langfassung in zwei Handschriften aus dem Frauenkonvent bei St. Peter in Salzburg überliefert ist. 308 Diese Schrift skizziert ein inneres Gebäude, das in seiner allegorischen Motivik, exegetischen Herleitung und seinen teils andachtsartigen, auf nachahmende Selbstformung zielenden Rezeptionsangeboten zunächst starke Parallelen zum Geistlichen Haus aufweist. Freilich aber setzt die Geistliche Klause in zweierlei Hinsicht ihren Fokus entschieden anders als der vorweg untersuchte, ältere Traktat. Der erste Unterschied betrifft die Bildlogik der entworfenen Allegorie: Während das Geistliche Haus auf der Struktur eines generischen Hauses aufbaut, konstruiert die Geistliche Klause spezifisch eine Einsiedlerhütte samt ihrer Einrichtung und Regel. Damit steht sie, obzwar in Traktatform gehalten, nah bei Kurztexten in der Tradition des Herzklosters, mit dem sie zudem im Verbund überliefert ist. 309 Zweitens dessiniert dieser Traktat, anders als das Geistliche Haus, nicht in erster Linie ein universell anzustrebendes Idealpsychogramm des frommen Christen. Eher stellt seine geistliche chlosen eines tugentlichn lebens, dy ein yeder tugentlicher mensch wol gepawen, üeben und erheben mag, 310 einen zu errichtenden Rückzugspunkt der inneren Gottesbezogenheit des Menschen dar, zu dem hin er sich von den Dingen der Welt abkehren soll. In dieser Hinsicht scheint der Text an Vorstellungen der interiorisierten Eremitage anzuknüpfen, die aus der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ bekannt sind. So zeigt beispielsweise Burkhard Hasebrink auf, wie sich bei Meister Eckhart » › Abgeschiedenheit ‹ nicht auf eine Topographie des entlegenen Ortes, auf einen anderen Raum abseits der sozialen Welt bezieht, sondern eine Abstraktion meint«, die »den inneren Menschen in dessen Göttlichkeit unabhängig von Modalitäten, Ordensregeln und Orten dachte«. 311 In einem solchen Verständnis von 308 Zum Text vgl. bislang Siegfried Ringler: Art. Die geistliche Klause, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 1166 f. Die Langfassung des Traktats findet sich in den Handschriften Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 117r - 130r; sowie ebd., cod. b III 12, fol. 292r - 297r. Erstere Handschrift, aus der folgend zitiert wird, stammt aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und ist wohl in Salzburg geschrieben worden, vgl. Gerold Hayer: Die deutschen Handschriften des Mittelalters der Erzabtei St. Peter zu Salzburg, unter Mitarbeit von Dagmar Kratochwill, Annemarie Mühlbock u. Peter Wind, Wien 1982 (Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters III.1), S. 30. Die zweite Handschrift datiert auf 1499 und ist ebenfalls in Salzburg, wahrscheinlich in St. Peter, entstanden (vgl. ebd., S. 199 - 204). Eine erste Vorkollation legte nahe, dass es sich bei dem Text in b III 12 wohl um eine Abschrift von a III 9 handeln dürfte. Daneben existiert auch eine in mehreren Handschriften des bayrisch-österreichischen Raums verbreitete Kurzfassung dieses Textes, die nach Ringler ein Exzerpt der Langfassung darstellt und hier nicht weiter berücksichtigt wird (vgl. dazu die Angaben bei Ringler 1979, Sp. 1166). 309 In beiden Handschriften (Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 130v - 133r; ebd., cod. b III 12, fol. 297r - 298r) folgt direkt auf die Geistliche Klause das Herzkloster in seiner für ein Frauenkloster angepassten Hauptfassung. Zudem geht der Geistlichen Klause in beiden Handschriften ein längerer allegorischer Traktat zum Seelenkloster voran, der hier nicht näher untersucht werden kann (Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 82v - 116v; ebd., cod. b III 12, fol. 279r - 292r). 310 »geistliche Klause eines tugendhaften Lebens, die jeder tugendhafte Mensch in sich bauen, ausüben und aufrichten kann«, Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 117r. 311 Burkhard Hasebrink: Die Anthropologie der Abgeschiedenheit. Urbane Ortlosigkeit bei Meister Eckhart, in: Anthropologie der Theorie, hg. v. Thomas Jürgasch u. Tobias Keiling, Tübingen 2017 (Otium 6), S. 191 - 208, hier S. 192 u. 205. 352 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="353"?> Weltabkehr als Geisteshaltung streiche Eckhart gerade die Möglichkeit eines religiösen Lebens in den durch »Pluralität und Mannigfaltigkeit der Orte, Diskurse und Praktiken« gekennzeichneten urbanen Umgebungen des Spätmittelalters hervor. 312 Die Geistliche Klause lässt sich als späterer und um eine instruktiv-paränetische Ebene ergänzter Reflex einer solchen Sublimierung und Interiorisierung des abgeschiedenen Lebens lesen. Zunächst jedoch beruft sich auch dieses innere Bauwerk auf das neutestamentliche Gleichnis vom Hausbau (vgl. Mt 7,24 - 27; Lc 6,47 - 49) und bestimmt folglich Christus zum Fundament der allegorischen Klause, denn wer nicht pawt auf den grund und auf den fels, der pawt auf den sand. 313 Dies unterscheide das hier präsentierte Tugendgebäude von den Lehren der antiken Philosophie, denn Arestotilis, plato und dy andern weisen maister diser weld, dy doch vil tugent gelernet und geübet haben, hätten den grund der tugent nicht gepawet auf Cristum, darumb ist ir paw gefallen. 314 Im Gegensatz zum Tugendbau der vorchristlichen Philosophie habe die nachfolgend geschilderte Seelenklause also, so Siegfried Ringler, »ihre Grundlage im christlichen Glauben, der in der Liebe wirke«, und sei deshalb beständiger beschaffen. 315 Die chunst und maisterschaft, dar durch dy chlosen gepawet wirt, ist beschaidenhait, die hier als Wurzeltugend der Selbstformung gefasst wird und mit der die innere Einsiedlerklause auf dem Estrich des guten Willens (rechte maynung) erbaut werden soll. 316 Somit bietet auch der Klausentraktat ein instruktives Modell, das durch erbauliche Tugendarbeit am innersten Selbst erfüllt werden soll. Vor allem durch tropologische Auslegungen wird das so zu erschaffende Werk an die Bibel rückgebunden, wobei im Vergleich mit dem Geistlichen Haus typologische Deutungsmuster deutlich zurückgeschraubt sind oder völlig fehlen. Im Zentrum der Geistlichen Klause steht ein mittels der Architekturallegorie bildlich gegliederter und funktional systematisierter Katalog der Beziehung des Menschen zu Gott, die ihre Entfaltung sowohl in der Zuwendung göttlicher Gnade wie auch in den auf Gott hingewandten Tugendeigenschaften und -handlungen des Menschen findet. So soll die Einsiedelei durch drei Gräben von der Außenwelt geschützt werden, die je einen Aspekt der Gottesfurcht meinen, durch die sich der Mensch vor Sünden hütet. 317 Gleichzeitig ist der Innenraum der Klause umschlossen von den vier Mauern der Gotteserkenntnis, der göttlichen Gerechtigkeit, des göttlichen Gerichts und der göttlichen Güte, mit denen sich der im Inneren dieses Baus absondernde Eremit von den üblen Einflüssen der Welt abschirmt. Das Dach der gegenseitigen Liebe zwischen Gott und Mensch schütze den geistlichen Klausner vor unkeuschen Begierden nach weltlichen Dingen, und der Eingang der göttlichen Großzügigkeit und Gnade ermögliche es ihm erst, in einer solchen 312 Ebd., S. 205. 313 »wer nicht auf diesen Grund und diesen Fels baut, der baut auf Sand«, Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 117v. 314 »Aristoteles, Platon und die anderen weisen Gelehrten dieser Welt, die doch viele Tugenden gelernt und ausgeübt haben«; »das Fundament der Tugend nicht gebaut auf Christus, darum ist ihr Bau eingestürzt«, ebd., fol. 118v. 315 Ringler 1979, Sp. 1166. 316 »die Kunst und meisterliche Fähigkeit, durch die die Klause gebaut wird, ist die Klugheit [oder: der Verstand]«, Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 118v. 317 Vgl. ebd., fol. 119v - 120r. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 353 <?page no="354"?> Einsiedelei Zuflucht zu finden. 318 Dieser Eingang besitzt zwei den Eintritt in die innere Eremitage ermöglichende Türen, deren erste als Mäßigung (massichait) ausgelegt wird, während die zweite gleichgesetzt ist mit der beschaidenheit in reden, geschweigen in schimpf, in ernst, in zorn, in freiden und trawrichait und in aller geistlicher übung, dy der mensch mit yem selbs und seinem nagsten ze thuen hat. 319 Statt eine Architektur ethischer Tugenden oder frommer Affekte zu entwerfen, präsentiert die Geistliche Klause also einen aus der Gottesbeziehung des Menschen gebildeten geistlichen Bau. Dieser soll ermöglichen, in der Einsiedelei des eigenen Inneren Distanz zu und Schutz vor der als grundsätzlich bedrohlich gezeichneten Außenwelt zu finden. Diese Akzentuierung unterscheidet die Geistliche Klause vom Gros der übrigen Architekturtexte des Spätmittelalters. Sie entspricht grundsätzlich der bei Eckhart ausgeführten Interiorisierungsbewegung eines Verständnisses von abegescheidenheit, das nicht die äußere »Einöde, die als Lebensform abgelehnt wird«, als Kernbedeutung dieses religiösen Ideals bestimmt, sondern vielmehr einen inneren Zustand, der erlaubt, »daß der Mensch frei werde von sich selbst und von allen Dingen«. 320 Wodurch aber soll die innere Eremitage gefüllt werden? Dieser Frage widmet sich die Auflistung und Allegorese der Einrichtungsgegenstände, die sich in der geistlichen Klause finden. Bett und Bettzeug, Kissen, Schemel, Tisch, Kerze, Speise und Trank, Fliegenklatsche, Brunnen, Handtuch und Grab werden benannt und teils mit den arma Christi gleichgesetzt. Die Gegenstände beziehen sich je auf einzelne Stationen des Passionswegs oder auf Aspekte des Lebens Christi, die der geistliche Klausner verinnerlichen und in Form der Verwirklichung bestimmter Ideale eines religiösen Lebens imitieren soll. Die Abkehr von der Welt ist so gekennzeichnet von einer ständigen Vergegenwärtigung und inneren Nachahmung des Leidens und Wirkens Christi, die das Leben des geistlichen Klausners vorbilden. So verkörpert das Bett in der Klause das chreytz Cristi, daran sol der mensch suesslichen rwen durch ein gestrenges ernstlichs leben, die Betttücher sind die Schmerzen Christi, das Kissen ist die Dornenkrone und die Bank vor dem Bett der Schemel, auf dem Christus bei der Dornenkrönung saß, denn darauf sol der mensch treten, so er entwachet, und willichlich sich geben zw tugentlicher betrachtung. 321 Dass die einzelnen Teile des Mobiliars hier als Anknüpfungspunkte für die Passionsbetrachtung im Sinne einer »spezifischen Technik zur Meditation des Leidens Christi, die die mitleidvolle innere Anteilnahme stimulieren soll«, 322 dienen, macht deutlich, wie sehr diese Gebäudeallegorie sich auch als Andachtsübung anbietet. Teils schweift der Text dabei in winzige Einrichtungsdetails ab. So solle der Klausner, wenn er von den flewgen flyegunder gedänck angegriffen werde, sich der 318 Vgl. ebd., fol. 120r - 122v. 319 »Verstand beim Reden, Schweigen in Schimpf, in Ernst, in Zorn, in Freuden und in Traurigkeit sowie bei allen geistlichen Übungen, die der Mensch mit sich selbst und seinem Nächsten zu vollbringen hat«, ebd., fol. 124r/ v. 320 Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 347 f. Vgl. dazu auch ausführlich Hasebrink 2017. 321 »Kreuz Christi, an dem der Mensch durch ein strenges und ernsthaftes Leben süß ruhen soll«; »hierauf soll der Mensch treten, wenn er erwacht, und sich willentlich tugendhaften Betrachtungen widmen«, Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 124v - 125r. 322 Thali 2012, S. 252. 354 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="355"?> Fliegenklatsche (flewgen wadel) bedienen, mit der dy gaysel und die ruetten der Geißelung Christi gemeint sind. 323 Unter Gebrauch dieser allegorischen Klatsche könne er durch gedachtnüß und betrachtung dieser Passionsstation die Fliegen der torhait, müessichait und fürwitzichaitt, unnutzer gedänck, lust und begier vertreiben. 324 In solchen Kleinigkeiten präsentiert sich die allegorische Einrichtung der Geistlichen Klause als Anleitung zur Meditation und imitierenden Verinnerlichung des Lebens und Leidens Christi. Zuletzt ist diesem Traktat, bevor ganz am Ende noch das Grab als geistliche Todesvorbereitung allegorisiert wird, eine kurze regel des chlosner beigegeben. 325 Dabei geht der Text von einem Spruch aus den Klageliedern des Jeremias (Lam 3,28 - 29) aus: Er wirt sitzen allain und wirt geschweigen, wen er hat sich aufgehebt uber sich selbs, er wirt seinen mund in den stawb legen, ob yem hofnung chomm. 326 Mittels einer tropologischen Auslegung dieses Schriftzitats und in lockerer Anlehnung an die monastische Regelliteratur entwickelt die Geistliche Klause acht Grundsätze für das Leben in der eben entworfenen inneren Einsiedelei: Das erst capitel lernt in, das er gern allain sey. Das ander lernt wenig reden und geschweigen. Das trit wenig leytten haimlich sein. Das iiij allizeit an got gedencken und in allem thuen und lassen got allain entlich und lawterlich maynen. Das funft, das er sich gefellig aller menschen zimlich syten. Das vj, das er alle ding zw guet cher und yem daraus das pest nemb. Das vij, das er in aller bewegung unzerstort beleib. Das acht, das er gantzlich hinleg pillich und etwas. Das ist, das in nichts pillich sol tuncken, was yem guetz widerfert von got oder von den menschen und von allen creaturen, und er sol sich selbs gantz vernichten zw allen zeiten und in allen seinem thuen und lassen. 327 Viele dieser Punkte, darunter das Schweigegebot und die Ermahnung, schickliche Sitten und Gebräuche zu achten, stellen wenig spezifische Allgemeinplätze dar und finden sich auch in anderen zeitgenössischen Texten. 328 In den beiden letzten Punkten hingegen scheint das Vokabular der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ anzuklingen, deren Rekonzeptualisierung von Abgeschiedenheit als innere Haltung das Grundthema der inneren 323 »Fliegen abschweifender Gedanken«; »die Geißeln und Ruten«, Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 126v. 324 »Erinnerung und Betrachtung«, »Torheit, Untätigkeit, Vorwitz, nutzlose Gedanken, Lust und Begierde«, ebd., fol. 126v - 127r. 325 »Klausnerregel«, ebd., fol. 128r. 326 »Er wird einsam dasitzen und schweigen, weil er sich über sich selbst erhoben hat. Er wird seinen Mund in den Staub drücken, ob ihm Hoffnung komme«, ebd., fol. 128r/ v. Das lateinische Bibelzitat, das hier übertragen wird, lautet: Edebit solitarius et tacebit quia levavit super se. Ponet in pulvere os suum si forte sit spes (Lam 3, 28 - 29). 327 »Der erste Punkt lehrt ihn, dass er gerne allein sei. Der zweite lehrt, wenig zu reden und zu schweigen. Der dritte, wenig Menschen nahe zu stehen. Der vierte, allzeit an Gott zu denken und in allem Tun und Lassen schlussendlich und auf lautere Weise allein Gott zu meinen. Der fünfte, dass er sich aller schicklichen Sitten der Menschen nach gefällig verhalte. Der sechste, dass er alle Dinge zum Guten wende und daraus das Beste ziehe. Der siebte, dass er in aller Bewegung ungestört bleibe. Der achte, dass er gänzlich ablege, was rechtens und was etwas sei. Das heißt, dass ihm nichts rechtens erscheinen soll, was ihm an Gutem von Gott oder den Menschen oder von allen Geschöpfen widerfahre, und er soll sich selbst zu allen Zeiten und in allem seinem Tun und Lassen gänzlich vernichten«, Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 128r - 129v. 328 Siegfried Ringler merkt an: »Inhaltlich scheint vielfach allgemeines Überlieferungsgut verarbeitet zu sein«, und macht die ersten fünf Punkte der Regel auch in einem zeitgenössischen Tiroler Christenspiegel ausfindig (Ringler 1979, Sp. 1166 f.). 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 355 <?page no="356"?> Eremitage nahesteht. So weckt der siebte Punkt mit seiner Aufforderung, der Mensch solle in aller bewegung unzerstoret bleiben, Assoziationen zum traditionell Eckhart zugeschriebenen Traktat Von abegescheidenheit. 329 Dort wird Abgeschiedenheit auch insofern als innere Unbewegtheit definiert, als daz der ûzer mensche mac in üebunge sîn, daz doch der inner mensche des genzlîche ledic stât und unbewegelîch. 330 Zur Veranschaulichung dieses Zustands der inneren Ruhe und Unbewegtheit auch bei äußerer Aktivität wird in Von abegescheidenheit das Bild einer Tür angeführt, die sich in der Angel dreht. Während die Tür selbst dem äußeren Menschen verglichen werden könne, bedeute die Angel den inneren, denn wenn diu tür ûf und zuo gât, sô wandelt sich daz ûzer bret hin und her, und blîbet doch der angel an einer stat unbewegelich. 331 Inhaltlich und metaphorisch steht die Aufforderung des späteren Gebäudetexts, in aller bewegunge unzerstort zu bleiben, dieser Türmetapher sehr nah. Vergleichbares gilt für den achten Punkt, der an die Demutsdefinition aus Von abegescheidenheit erinnert, die ausführt: volkomeniu dêmüeticheit gât ûf ein vernihten sîn selbes. 332 Wenn es in der Geistlichen Klause heißt, der innere Eremit solle in seiner Demut sich selbs gantz vernichten, ist die Parallele evident. Ob hierbei ein direkter Einfluss des breit überlieferten Abgeschiedenheitstraktats vorliegt, oder ob derlei Wortwendungen im allgemeineren Rahmen der Mystikrezeption des 15. Jahrhunderts in die Geistliche Klause eingeflossen sind, dürfte sich kaum rekonstruieren lassen. Zusammengefasst lässt die Geistliche Klause also, anders als das primär auf selbstfigurierende Gnadenvorbereitung zielende Geistliche Haus, den geistlichen Bau als Ort der Weltabkehr und Gottesbegegnung in Andacht und Nachahmung Christi aufscheinen. Dabei lehnt sie sich scheinbar an eine aus der mystischen Literatur des 14. Jahrhunderts stammende Konzeptualisierung interiorisierter Abgeschiedenheit an, die »das Prinzip exklusiver Räume des Heils relativiert« und den Fokus stattdessen auf die Geistes- und Affekthaltung des Gläubigen legt. 333 Die beiden Traktate stehen somit für unterschiedliche Spielarten der auf Erbauung der Leserschaft abzielenden Gebäudeallegorik des ausgehenden Mittelalters, die jeweils eher tugendhafte Selbstformung oder gottzugewandte Innenkehr und geistige Absonderung von den Dingen der Welt akzentuieren. Das Geistliche Haus und die Geistliche Klause seien hier ausdrücklich als Beispiele aus einem weitaus größeren Textkorpus angeführt, das noch der Erschließung harrt. So ließe sich den beiden Traktaten beispielsweise eine in einer bayrischen Handschrift aus der 329 Ediert in: Meister Eckhart: Werke, Bd. 2: Deutsche Werke II. Lateinische Werke, Texte u. Übersetzungen von Ernst Benz u. a., hg. u. kommentiert v, Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 2008, S. 435 - 459. Zweifel an Eckharts Autorschaft hat Ruh 1996, S. 355 - 358, formuliert, der diesen Traktat eher als anonymes Werk in der direkten Nachfolge Eckharts einordnen will. 330 »daß der äußere Mensch sich in Betätigung befinden kann und doch der innere Mensch davon gänzlich frei und unbewegt bleibt«, Meister Eckhart: Werke II, S. 448 f. Vgl. auch ebd., S. 442 f.: Hie solt du wizzen, daz rehtiu abegescheidenheit niht anders enist, wan daz der geist alsô unbewegelich stande gegen allen zuovellen liebes und leides [ … ] als ein blîgîn berc unbewegelich ist gegen einem kleinen winde (»Hierzu sollst du wissen, daß rechte Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als daß der Geist so unbeweglich stehe gegenüber allem anfallenden Lieb und Leid [ … ] wie ein bleierner Berg ist gegenüber einem schwachen Winde«). 331 »die Tür auf- und zugeht, so bewegt sich das äußere Brett hin und her, und doch bleibt die Angel unbeweglich an ihrer Stelle«, ebd., S. 450 f. 332 »vollkommene Demut geht auf ein Vernichten des eigenen Selbst aus«, ebd., S. 436 f. 333 Hasebrink 2017, S. 205. 356 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="357"?> Mitte des 15. Jahrhunderts überlieferte Architekturallegorie an die Seite stellen, die das menschliche Herz als ein Wirtschafts- und Vorratsgebäude spiritueller Tugenden entwirft und in eine Speiseandacht überleitet. 334 Vielfache Vergleichspunkte bestünden zudem zum Geistlichen Mai des Straßburger Münsterpredigers Johannes Kreutzer, der allegorische Garten- und Hausmotive vermischt. 335 Auch ein zwischen Traktat und Andachtsübung changierender Text in einer Handschrift des späten 15. Jahrhunderts aus dem Frauenkloster St. Leonhard bei St. Gallen fordert dazu auf, dem König Christus an scho ᵉ n lustig hus zu bauen, das an ruhsams, ledig, frydlich hertz bedeute. 336 Ins Schlafgemach dieses Herzenshauses solle eine aus Tugenden bestehende Wiege für das Jesuskind gestellt werden, deren Aufbau und Allegorese sich der Hauptteil dieses Textes widmet, 337 der eine nähere Untersuchung verdiente. Ähnliches gilt für einen umfangreichen Klostergebäudetraktat, der in einer Handschrift des Nürnberger Katharinenklosters überliefert ist. 338 Zudem sind hier auch das gemeinsam mit der Geistlichen Klause überlieferte Seelenkloster 339 ebenso wie ein niederländisches Geistliches Haus von Bethlehem 340 zu erwähnen. Diese Liste volkssprachiger Gebäudetraktate des 15. Jahrhunderts ließe sich fortsetzen, 341 auch ihre lateinischen Pendants und Vorläufer müssten in eine nähere Untersuchung solcher › erbaulicher ‹ Gebäudeallegorien einbezogen werden. 342 Bislang bleibt eine entsprechende Studie allerdings ein Forschungsdesiderat. 334 Überliefert in Berlin, SBB-PKB, mgq 1200, fol. 344r - 356r. Vgl. zur Handschrift Schmidtke 1982, S. 53. 335 Ediert bei Natalija Ganina: › Bräute Christi ‹ . Legenden und Traktate aus dem Straßburger Magdalenenkloster. Edition und Untersuchungen, Berlin/ Boston 2016 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 7), S. 217 - 274. 336 »ein schönes, fröhliches Haus«, »ein geruhsames, freies, friedliches Herz«, St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 1014, S. 333 - 362, hier S. 333. Zur Handschrift vgl. die Beschreibung bei Gustav Scherrer: Verzeichniss der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen, Halle 1875, S. 386 f. Der dortige Hinweis auf eine mögliche Verwandtschaft mit der aus karolingischer Zeit stammenden Gebäudeallegorie De camera Christi ist allerdings irreführend. 337 Auch entsprechende Gebets- und Andachtsübungen zur Fertigung geistlicher Wiegen sind im Spätmittelalter verbreitet, vgl. dazu Lentes 1993, S. 129 - 135. 338 Überliefert in Augsburg, UB, Cod. III. 1. 8° 4, fol. 54r - 109v. Laut Karin Schneider geht dieser Traktat wohl nicht auf Hugos von Folieto De claustro animae zurück (Karin Schneider: Deutsche mittelalterliche Handschriften der UB Augsburg: Die Signaturengruppen Cod. I.3 und Cod.III.1, Wiesbaden 1988, S. 388). 339 Überliefert in Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9, fol. 82v - 116v; sowie ebd., cod. b III 12, fol. 279r - 292r. 340 Überliefert in Darmstadt, Hessische Landesu. Hochschulbibl., Hs. 982, fol. 325r - 328r. Die Handschrift stammt aus Sonsbeck und wurde um 1480 geschrieben. Vgl. Achten/ Knaus 1959, S. 72 - 74. 341 Genauer anzuschauen wäre z. B. auch die mit dem Incipit Ein yeglich kloster, das wol geschicket ist nach dem willen gottes, das ist ein yrdisch paradiß beginnende Allegorie in München, BSB, Cgm 7264, fol. 129r - 138r; oder die Tugendallegorie von den zwelff knecht und zwelff meyster, dye pauthen unserem herren got einen behegenlichen tempel, da er alle zeit gerne in wonet (»zwölf Dienern und zwölf Meistern, die bauten unserm Herrn Gott einen wohlgefälligen Tempel, in dem er für alle Zeit gern einwohnt«, München, BSB, Cgm 458, fol. 124r - 126v). Letzterer Text ist zudem überliefert in Berlin, SBB - PKB, mgo 517, fol. 86r - 90r; ebd., mgq 125, fol. 70r; Karlsruhe, BLB, Cod. St. Peter pap. 44, fol. 63r - 65r und anderswo, vgl. dazu Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 351 - 500, Wiesbaden 1973 (Corpus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V.III), S. 329. Siehe zu beiden Texten in ihrem Überlieferungskontext auch Weidenhiller 1965, S. 123 u. 154. 342 Einiges aus diesem Feld ist bereits erschlossen bei Whitehead 2003. 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel 357 <?page no="358"?> Ich habe oben geistliche Texte aus unterschiedlichen Gattungen in den Blick genommen, die jeweils das Innere des Menschen als Gebäude verbildlichen und dabei meist auch den Rezipienten auffordern, sich selbst nach dem so skizzierten Modell zu formen. Die Diskurskontexte dieser Architektursinnbilder, deren Motivtradition sich von Prudentius bis ins 15. Jahrhundert und darüber hinaus fortsetzt, sind ebenso vielfältig wie ihre literarischen Formen. Sie reichen von der Tugendlehre bis zum Visionsbericht, von seelenphysiologischen Modellen bis zur Spiritualisierung der Klausur im Zusammenhang der dominikanischen Observanzbewegung. Was allerdings an allen bislang analysierten Beispielen zutage tritt, ist erstens die Zentralität des semantischen Felds der Architektur und der mit ihm verknüpften Bildvorstellungen für spätmittelalterliche Modelle und Allegorien der menschlichen Seele. Facettenreich wird durch sie eine › bauliche ‹ Figuration des Inneren bemüht, das heißt › Erbauung ‹ im Wortsinn. Zweitens ist den untersuchten Texten gemein, dass sie implizit oder explizit zur Nachahmung auffordern. Der geistliche Bau soll innerlich realisiert werden und entfaltet so eine Dynamik der Vor- und Nachbildung, die eine innere Selbstwirklichkeit stiftet. Somit sind diese Bauarbeiten am eigenen Innersten eng mit dem Prozess der gebethaften Herstellung verwandt, den die vorweg in den Blick genommenen Rosenkränze und Mariengewänder instruieren. Geistliche Gebäude leiten ihr Publikum zu einer andächtigen Immersion ins eigene Innere an, die auf dessen fromme Formung nach dem allegorischen Vorbild abhebt, das der Text sprachlich vermittelt. Dieser Prozess ist zugleich als Akt der Hinwendung zum Heiligen gezeichnet, das im Inneren des Menschen gesucht wird bzw. darin einkehren soll. Die anschließend untersuchten geistlichen Architekturübungen verlagern den Schwerpunkt dieses vorbildenden Verfahrens hin auf die Frömmigkeitspraxis. Statt dem › Was ‹ der idealen inneren Verfasstheit und Haltung tritt dabei das › Wie ‹ ihrer Herstellung durch Gebet und Andacht in den Vordergrund. 358 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="359"?> 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 4.1 Gebetete Architekturen im Verbund: Die Straßburger Ursulabruderschaft Im institutionellen und ideellen Fahrwasser der Kölner Rosenkranzbruderschaft entstand 1476 mit der Straßburger Ursulabruderschaft auch im Elsass ein ähnlich ausgerichteter Gebetszusammenschluss. Wie André Schnyder in seiner Untersuchung zu dieser Institution ausführt, handelte es sich dabei ähnlich wie bei Jakob Sprengers Kölner Gründung prinzipiell um eine »allgemeine, jedermann zugängliche Vereinigung«, die auf die »Anhäufung eines Gnadenschatzes mit Hilfe frommer Werke der Mitglieder« zielte. 343 Vom Straßburger Kartäuserkloster, einem regionalen Zentrum der Verehrung der heiligen Ursula, ging der Impuls für die Gebetsbruderschaft aus, wobei die anfallenden Verwaltungsaufgaben bald den Dominikanerinnen der Klöster St. Matthäus und St. Nikolaus in undis oblagen. Der vormalige Beichtvater des Straßburger Nikolausklosters Johannes von Lindau, der nach seiner Versetzung ins niederösterreichische Tulln auch dort 1496 eine entsprechende Bruderschaft etablierte, 344 benennt den Kartäuser Johannes Neuweiler als ursprünglichen Gründer und betont, dieser habe alle klo ᵛ sster zu Strasburg vnd im Elsas vnd an dem Rein stram eingeschriben. 345 Tatsächlich fand die Straßburger Ursulabruderschaft im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert am gesamten Ober- und Mittelrhein und vereinzelt auch im übrigen süddeutschen Raum Anhänger, insbesondere im Umfeld der dominikanischen Observanzbewegung. 346 Auffällig ist im Vergleich mit der Kölner Rosenkranzbruderschaft, dass sie zwar prinzipiell auch für laikale Beteiligung offenstand, sich in der Praxis aber wesentlich um ein Klosternetzwerk herum entwickelt zu haben scheint, auf dessen Engagement die erhaltenen Schriften zur Ursulabruderschaft vornehmlich eingehen. 347 Das wohl kurz nach der Gründung verfasste, mehrfach in den Druck gelangte und 1496 umfangreich ergänzte Straßburger Bruderschaftsbuch erläutert die Zielsetzung, erbrachten Frömmigkeitsleistungen und Verpflichtungen der heyligen pruderschafft, die do genant 343 Schnyder 1986, S. 49. Auch die folgenden Angaben zur Geschichte der Straßburger Ursulabruderschaft basieren auf Schnyders verdienstreicher Studie; vgl. ebd., S. 49 - 55; S. 401 - 430. 344 Zu Johannes von Lindau vgl. zusammenfassend Werner Williams-Krapp: Die Literatur des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Teilbd. 1: Modelle literarischer Interessenbildung, Berlin/ Boston 2020 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III/ 2.1), S. 314 f. 345 »alle Klöster in Straßburg und im Elsass und am Rheinstrom eingeschrieben«, Tullner Bruderschaftsbuch, Schnyder 1986, S. 260. 346 Vgl. die Verbreitungskarte und die Auflistung der assoziierten religiösen Gemeinschaften bei Schnyder 1986, S. 459 und S. 538; sowie den auf 1496 datierten Zusatz zum Straßburger Bruderschaftsbuch (SBr II), Schnyder 1986, S. 229 - 242. Hier sind die monastischen Gemeinschaften, die sich in unterschiedlichem Maße an der Bruderschaft beteiligten, mit detaillierten Angaben verzeichnet. 347 Vgl. Schnyder 1986, S. 449 - 461. <?page no="360"?> ist sant Vrsule schiffleyn. 348 Bildgrundlage der gemeinschaftlichen Bestrebung, mit singen vnd lesen, vasten, petten, almusen geben vnd vil mit guten anderen wercken vnd dugentlichen ubüngen Gott und die Heiligen zu loben, 349 ist eine auf der Ursulalegende fundierende Schifffahrtsallegorie, 350 die mit dem zeitgenössisch verbreiteten Motiv der geistlichen Meer- und Pilgerfahrt verknüpft ist. 351 Das Hauptelement der Teilnahme an dieser imaginierten Reise liegt im gezählten Beten: Wer immer dies könne, erläutert das Bruderschaftsbuch, solle gewissermaßen als Basisleistung einen solt vnd schifflone aus Gebeten entrichten, der es ihm dann erlaube, auf dem geistlichen Schiff der heiligen Ursula und ihrer 11.000 Gefährten mitzufahren. 352 Ein solches Fahrgeld bestehe idealerweise aus jährlich 11.000 Ave Maria und Vaterunser, diese könnten bei Bedarf jedoch auch auf zwei Jahre verteilt oder durch elf Votivmessen ersetzt werden. 353 Durch diesen Beitrag werde der einzelne Mensch der von der Gemeinschaft erworbenen Gnaden teilhaftig. Zusätzlich statteten die teilnehmenden religiösen Gemeinschaften das geistliche Schiff und seine Insassen auch mit allerlei durch handwerkliches Beten produzierten geistlichen Gegenständen aus. Neben Schiffsgerät und Ausstaffierung verschiedenster Art umfassen diese im Bruderschaftsbuch aufgelisteten Schätze auch immer wieder gebetete Kränze und Kleider. So hätten die beteiligten Ordensleute und Weltpriester ij hündert male dausent rosen krentze akkumuliert, und eine Gruppe nicht näher ausdifferenzierter geistlicher Personen habe den xj dausent iungfrawen, iglicher besunder zu male ein zir[ … ]lich krentzlein von lilien vnd rosen bereit vnd sulche gezirde der krentzlein mit vil gross[em] gepette vnd lobegesang gezeüget. 354 Besonders diese zweite Stelle weist auf die Vorstellung gebeteter Kranzgaben hin, wie sie aus Rosenkranztexten bekannt ist. Im gleichen Atemzug werden zudem textile Gebetsübungen erwähnt, eine Gruppe von Nonnen habe auch etliche schöne cleydünge aus Reihengebeten hergestellt sowie vnser frawen mantel beigetragen. 355 An anderer Stelle konkretisiert das Bruderschaftsbuch, die Straßburger Augustiner hätten xxv male vnser 348 »heiligen Bruderschaft, die das › Schifflein der heiligen Ursula ‹ genannt ist«, Straßburger Bruderschaftsbuch (SBr I), Schnyder 1986, S. 193. 349 »mit Singen und Lesen, Fasten, Beten, dem Geben von Almosen und mit vielen anderen guten Werken und tugendhaften Übungen«, ebd., S. 196. 350 Ein Kurzzusammenfassung dieser Heiligenlegende, die im Spätmittelalter in einer Vielzahl von Versionen verbreitet ist, bietet Williams-Krapp 2020, S. 315. 351 Vgl. grundlegend die zweiteilige Arbeit von Dietrich Schmidtke: Geistliche Schiffahrt. Zum Thema des Schiffes der Buße im Spätmittelalter, in: PBB 91 (1969), S. 357 - 387; PBB 92 (1970) S. 115 - 177. Hervorzustreichen ist hier etwa die bislang unedierte Geistliche Meerfahrt, eine Andachtsübung der Margaretha Ursula von Masmünster (ca. 1400 - 1448), der Priorin des Basler Dominikanerinnenkloster an den Steinen. Zu diesem Text, der auch in Johannes Meyers Buch der Ersetzung integriert wird, siehe Dietrich Schmidtke: Art. Margareta Ursula (Gredursula) von Masmünster, in: 2 VL 5 (1985), Sp. 1250 - 1251; sowie Seebald 2020, S. 67 - 70. 352 »Gebühr und Schiffsfahrgeld«, Straßburger Bruderschaftsbuch (SBr I), Schnyder 1986, S. 205. Verteilt aufs Jahr ergibt dies 32 Ave Maria und Vaterunser am Tag, also einen durchaus überschaubaren und auch für in der Welt beschäftigte Laien ohne weiteres leistbaren Beitrag. 353 Vgl. ebd., S. 205 f. 354 »200.000 Rosenkränze«, »jeder einzelnen der 11.000 Jungfrauen einen schmucksamen Kranz aus Lilien und Rosen gemacht und diesen Kranzschmuck aus viel großem Gebet und Lobgesang hergestellt«, ebd., S. 198 f. 355 »viele schöne Kleidung«, »der Mantel unserer Frauen«, ebd. 360 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="361"?> liben frawen mantel beigesteuert, 356 oder empfiehlt den individuellen Gläubigen, sich mit rosen krenczen, mit vnser frawen manteln an der Anhäufung eines gnadenmächtigen Schatzes zu beteiligen, der allen Mitgliedern gemeinsam zugutekomme. 357 Neben dem Rosenkranz wurde also auch das Mantelbeten in die Frömmigkeitspraxis der Straßburger Ursulabruderschaft integriert. 358 Neben derlei, aus den vorangegangenen Kapiteln bekannten gebeteten Gewändern und Blumengebinden finden sich in der Liste der Beiträge zur Straßburger Ursulabruderschaft auch im Gebet errichtete Gebäude. So hätten z. B. die Schwestern von St. Nikolaus für alle Mitglieder der Bruderschaft nicht nur das Schiff selbst geistlich konstruiert, sondern auch gartten, brunnen, siechenhüser, werckhüser vnd schlaff hüser &, und alles das, das do den bilgern dieser merefart zu ͦ nucz, zu trost vnd zu ͦ lust bekummen mag, geistlichen zu ͦ verston. 359 Die so aufgezählten Gebäude stellen, anders als die oben untersuchten Gebäudetexte oder das Gros geistlicher Gärten, nicht primär Allegorien auf ein »Ideal christlicher Seelenkultur« dar. 360 Vielmehr gehören sie einer durch Frömmigkeitsleistungen erschaffenen, immersiv wirksamen und überaus prächtigen Umgebung an, welche die Mitglieder der Ursulabruderschaft im Geiste pilgerhaft durchreisen sollen. 361 Statt zur seelischen Selbstformung nach architektonischen Modellen dient das Bild des geistlichen Gebäudes hier der Errichtung einer kollektiven Imagination innerer Räumlichkeit. In diesem Rahmen sind die entstehenden Architekturwerke als Produkte eines betenden Bauprozesses gezeichnet, der Medialisierungsdynamiken des quantifizierten vertikalen Sprechens mit der Transzendenz, des horizontalen Eintauchens in eine innere Wahrnehmungswirklichkeit und der figuralen Konkretisierung von Frömmigkeit entfaltet. Auf die Fragen, ob und wie diese Bauwerke in der Straßburger Ursulabruderschaft sinnbildlich gedeutet wurden und welche Frömmigkeitsleistungen für sie zu erbringen 356 »25 Mal den Mantel unserer lieben Frau«, ebd., S. 203. 357 »mit Rosenkränzen, mit Mänteln unserer Frauen«, ebd., S. 205. 358 Dabei legen Gestalt und Überlieferungslage des Alemannischen Marienmantels sogar nahe, dass dieser Text im gleichen Umfeld entstand, aus dem später die Ursulabruderschaft entwuchs. Neben der Straßburger Herkunft und der gemeinsamen Überlieferung des Alemannischen Marienmantels mit Ursulalegenden weist auch die kartäusische Verbindung nach Trier und zu Dominikus von Preußen auf das Umfeld des Straßburger Kartäuserklosters, dessen Mitglied Johannes Neuweiler die Ursulabruderschaft begründete. Siehe dazu ausführlicher oben, Kap. III.2. Allerdings stellten die Bruderschaftsmitglieder geistliche Kleider und Kränze aus Gebeten nicht allein für Maria, sondern auch für ihre Patronin Ursula her - so heißt es beispielsweise, die Straßburger Mitglieder hätten unter Leitung der Dominikanerinnen von St. Nikolaus in undis über viele Jahre hinweg jedem von Ursulas Begleitern sowie auch den 10.000 Rittern eyn scho ᵉ nes rosen krenczlin von andechtigen gebettern gemacht, etliche iar habent sie sant Ursulen ein gülden kron gemacht oder ein kostbarlichen syden rock von carbosynen gemacht oder ein vast kostbarlichen mantel myt gülden spangen (»einen schönen Rosenkranz aus andächtigen Gebeten gemacht, viele Jahre haben sie der heiligen Ursula eine goldene Krone gemacht oder einen kostbaren seidenen Rock aus Karmesinstoff gemacht oder einen sehr kostbaren Mantel mit goldenen Spangen«, Straßburger Bruderschaftsbuch [SBr II], Schnyder 1986, S. 228). 359 »Gärten, Brunnen, Spitale, Wirtschaftsgebäude und Schlafgebäude und alles, was den Pilgern bei dieser Seefahrt zum Nutzen, zum Trost und zur Freude gereichen soll, alles im geistlichen Sinne«, ebd., S. 225. 360 Schmidtke 1982, S. 266. 361 Dies rückt die Übungen der Straßburger Ursulabruderschaft in die Nähe der zeitgenössisch verbreiteten geistlichen Pilgerschaften, die unter anderem mit dem Namen Felix Fabris verbunden sind und zu denen ich Mareike Elisa Reisch wertvolle Hinweise verdanke. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 361 <?page no="362"?> waren, gibt das Bruderschaftsbuch keine Antwort. Allegoresen der Produkte des handwerklichen Betens sind hier grundsätzlich ausgespart, der Bericht über den akkumulierten Hort spiritueller Dinge bleibt listenhaft: »Nirgends [ … ] wird die Allegorie systematisch entfaltet, kaum ausführlich den Bildelementen ihr jeweiliger Sinn gegenübergestellt.« 362 Außer der Menge der agglomerierten Meriten ist zunächst bloß festgehalten, dass überhaupt neben Rosenkränzen und gebeteten Textilien auch geistliche Bauarbeiten zum Frömmigkeitsrepertoire dieses weitverzweigten Gebetszusammenschlusses gehörten. Einzig eine heute in Berlin befindliche Handschrift, die zwischen 1497 und 1518 niedergeschrieben wurde und deren Inhalt eine Provenienz aus dem oberbayerischen Birgittenkloster Altomünster nahelegt, gibt näheren Aufschluss über derartige geistliche Bauwerke und die Modalitäten ihrer Errichtung. 363 Als Einschub zum Straßburger Bruderschaftsbuch enthält diese Handschrift neben einem Bericht davon, dass die Schwestern des Klosters Gnadenberg im Gebet eine ganze Kirche erbaut hätten, eine ins allegorische Detail gehende Beschreibung einer Geistlichen Padstube, 364 die die Altomünsterer Birgitten für die Bruderschaftsmitglieder errichtet hätten. Obzwar der Zweck dieses Texts wohl vornehmlich darin lag, im »Berichtsstil« die eigenen Beiträge zum Gesamtprojekt der Ursulabruderschaft zu dokumentieren, konnte die genaue Schilderung der erbrachten architektonischen Gebets- und Andachtsleistungen auch »in doppelter Hinsicht, quantitativer wie qualitativer, als Vorbild« für andere mit der Bruderschaft assoziierte Gemeinschaften dienen. Adaptierende Nachahmung wird von diesem Text zumindest ermöglicht, wenn nicht gar implizit gefordert. Zudem kann gemutmaßt werden, dass auch die übrigen im Bruderschaftsbuch erwähnten Gebetsgebäude im Rahmen ähnlicher Übungen gefertigt worden sein dürften. Dementsprechend bietet die Geistliche Padstube einen exemplarischen Einblick in das architektonische Beten, durch das sich die Mitglieder der Ursulabruderschaft eine immersive Umgebung für ihre imaginierte Pilgerfahrt auf dem geistlichen Schiff ihrer Patronin erschufen. 4.2 Ein Gebetsgebäude zur Sündenreinigung: Die Geistliche Padstube der Birgitten von Altomünster Vergleichbar z. B. mit dem Alemannischen Marienmantel benennt die Geistliche Padstube die einzelnen Details eines imaginativ konstruierten Badehauses, seiner Ausstattung und des darin stattfindenden Badebetriebs, beziffert die hierfür dargebrachten Gebets- und Frömmigkeitsleistungen und weist die so hervorgebrachten Architekturelemente sowie 362 Schnyder 1986, S. 445. 363 Es handelt sich hier um die Handschrift Berlin, SBB-PKB, mgq 405. Eine kurze Inhaltszusammenfassung bietet Schnyder 1986, S. 503 f. Zur vermutlichen Provenienz aus Altomünster und zur Datierung vgl. ebd., S. 243 f. 364 Dieser Text ist gesondert ediert und untersucht bei Schnyder 1984, hier S. 154 f. Schnyder zeigt auf, dass derlei Aufzeichnungen über erbrachte Frömmigkeitsleistungen wohl etappenweise von Ort zu Ort an die Straßburger Dominikanerinnen geschickt wurden, die die › Buchführung ‹ der Ursulabruderschaft übernommen hatten. Einerseits wurde so die Mitgliedschaft einzelner Gemeinschaften legitimiert, andererseits belegten diese Berichte auch, »wie sicher die Bruderschaft Heil vermitteln konnte« und dienten zudem als nachzuahmende Beispiele für die Art und den Umfang vorbildlicher Gebetsbeiträge (ebd., S. 154). 362 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="363"?> die beim Bad vorgenommenen Handlungsschritte gegebenenfalls als Teile eines übergreifenden Sinnbilds aus. Es handelt sich hier entsprechend um einen Text, der die Errichtung, Ausstattung und den Betrieb eines geistlichen Gebäudes schildert und in diesem Rahmen Andacht und Gebet als Prozess der baulichen Figuration konzipiert, der in einem ebenso allegorisch-zeichenhaften wie geistlich-konkreten Ergebnis mündet. Verschiedene Bildlogiken werden dabei amalgamiert: Dingallegorische Motive des geistlichen Erbauens sind eng mit vorgangsallegorischen Passagen verknüpft, die den imaginierten Badegang als Sinnbild für die Reinigung des Menschen von Sünden präsentieren. Auf diesem Gedanken der inneren Läuterung liegt der inhaltliche Schwerpunkt dieser Gebets- und Andachtsübung. Während die vorangegangen behandelten Texte zumeist allgemeine Tugendbauten entwarfen, setzt die Geistlichen Padstube ihren Fokus auf eine Verquickung von Hinkehr zum Heiligen im Gebet, innerer Figuration eines daraus entstehenden Bauwerks und allegorisch stimulierter Versenkung in die so entstehende Bildwelt und die durch sie bezeichneten Heilsgegenstände. Im Effekt soll den Betenden hierdurch zu Buße, Reue und der davon erhofften Sündenvergebung verholfen werden. Ähnlich wie die Vorstellung von der menschlichen Seele als Tempel ist dabei auch das Bild des spirituellen Bades neutestamentlich fundiert. Im Brief des Paulus an Titus erläutert der Apostel, dass Gott secundum suam misericordiam salvos nos fecit per lavacrum regenerationis et renovationis Spiritus Sancti (Tit 3,5). 365 In Anlehnung an diese biblische Bademetapher für die Erlösung der Menschheit durch die Barmherzigkeit Gottes und den Tod Christi entstand in Spätmittelalter und Früher Neuzeit eine Reihe religiöser Texte, die sich der Allegorie der geistlichen Waschung bedienen und in diesem Zuge vielfach auf das verbreitete Bild des Christus medicus rekurrieren, der die Gläubigen von inneren Gebrechen heilt. An prominenter Stelle steht darunter Thomas Murners 1514 entstandene Dichtung Ein andechtig geistliche Badenfahrt, 366 welche wiederum mit zwei weniger bekannten, in Liedform gehaltenen Badeallegorien des 15. Jahrhunderts aus der sogenannten › Pfullinger Liederhandschrift ‹ verknüpft zu sein scheint. 367 Die hier ausgeführte Vorstellung der Reinwaschung des Menschen von Sünden durch dz grundlose mere, dz 365 »nach seiner Barmherzigkeit hat er uns gerettet durch das Bad der Wiederherstellung und Erneuerung des Heiligen Geistes«. Ausführliche Badevorschriften und -metaphern finden sich im Alten Testament, so in Ps 50,9 und Is 1,16. Siehe dazu auch Schnyder 1984, S. 153. 366 Vgl. zu diesem Werk mit weiteren Angaben Simone Loleit: Wahrheit, Lüge, Fiktion. Das Bad in der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts, Bielefeld 2008, S. 197 - 252; sowie Jean Schillinger: Erbauungsliteratur zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Thomas Murners Badenfahrt (1514), in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 56 (2015), S. 55 - 80. Die Geistliche Padstube erwähnt der Autor ebd., S. 65 f. Aufschlussreich ist der auf Murners in Text und Bild realisierte Verfahren einer Veranschaulichung der »Verwobenheit von Heil und Heilung« abhebende Beitrag von Pia Selmayr: Baden, Beten, Büßen. Ebenen der Veranschaulichung in der Badenfahrt von Thomas Murner (1514), in: Jenseits der Dichotomie von Text und Bild. Verfahren der Veranschaulichung und Verlebendigung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Franziska Wenzel, Wiesbaden 2021 (Imagines Medii Aevi 54), S. 375 - 399, hier S. 378. 367 Es handelt sich dabei um die Handschrift Stuttgart, Landesbibl., cod. theol. et philos. 4° 190, die wohl zwischen 1468 und 1480 in Gebweiler oder Straßburg niedergeschrieben wurde und außerdem auch z. B. Johannes Kreutzers Geistlichen Mai enthält. Die beiden badeallegorischen Texte stehen unter den Titeln Ein Bad liedli und Ein ander Baden liet (ebd., fol. 175r - 176v). Zu dieser Liedsammlung im Ganzen vgl. mit weiteren Angaben Michael Curschmann u. Gisela Kornrumpf: Art. Pfullinger Liederhandschrift, in: 2 VL 7 (1989), Sp. 584 - 587. Simone Loleit diskutiert den Zusammenhang dieser Lieder mit 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 363 <?page no="364"?> vonn den wunden flúßt, 368 also im Blut Christi, findet sich auch in der zeitgenössischen bildenden Kunst. So stellt beispielsweise die Mitteltafel eines kurz nach 1508 entstandenen Triptychons des flämischen Malers Jean Bellegambe die Kreuzigung als allegorische Badeszene dar, in der sich die gläubigen Seelen im aus den Wunden des Gekreuzigten strömenden Blut waschen. 369 Ins Bild gesetzt ist so eine »Analogie zwischen dem Heil der Seele und einem ärztlichen Vorgang« des Badegangs, der die »Vorstellung Christi unter den Zügen eines Arztes (Christus medicus)« zugrundeliegt. 370 Den Gegenpol zu derlei drastischer Passionsbildlichkeit bildet ein eher abstrahierender, generell auf Sündenvergebung und Gewissensreinheit zielender spätmittelalterlicher Gebrauch von Bademetaphern im religiösen Bereich, wie er z. B. vom Titel des Lavacrum conscientiae illustriert wird, eines in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen Klerikerspiegels, dem eine Exempelsammlung sowie auf den Gebrauch durch Priester zugeschnittene Gebeten und Andachten beigegeben sind. 371 Übungen wie die Geistliche Padstube oder ein motivisch wie strukturell verwandter, von Hiram Kümper untersuchter Text 372 bewegen sich in diesem weiten Spektrum religiöser Badeallegorik und verknüpfen sie, wie besonders an ersterem Text deutlich wird, mit der Idee des gebethaft errichteten Gebäudes. Sowohl im Hinblick auf ihre Bildebene als auch bezüglich ihrer als Allegorese mitgegebenen Zeichendimension gliedert sich die Geistliche Padstube in drei Abschnitte: Eingangs berichtet der Text von der Errichtung des Badhauses. Beginnend mit den Wänden und endend mit dem Waschkessel präsentiert er architektonische Details als je durch Beten, Schweigen und innere Betrachtung konstruierte Werke. Zwar werden nicht alle diese Punkte von einer kurzen Allegorese begleitet, wo dies freilich der Fall ist, fällt die Deutung in den thematischen Bereich der inneren Reue angesichts der eigenen Sündhaftigkeit, der Fürbitte für andere Sünder und einem daraus resultierenden Verlangen nach Umkehr und göttlicher Gnade. Anschließend leitet die Geistliche Padstube über zum Vorgang des Schwitzbades und den dafür nötigen Utensilien wie z. B. der Seifenlauge, einem heißen Aufguss oder den aus Schnepper und Schröpfköpfen bestehenden Aderlassgeräten. 373 Auch hierzu werden Thomas Murners Badenfahrt sowie ihre »populäre Adaption mystischer Bildsprache« (Loleit 2008, S. 198 - 203, hier 203). 368 »das grundlose Meer, das aus den Wunden fließt«, Stuttgart, LB, cod. theol. et philos. 4° 190, fol. 175v. 369 Das Werk befindet sich heute im Palais des Beaux-Arts in Lille und wird ausführlich untersucht bei Hervé Boëdec: Allégorie et spiritualité monastique au début du XVI e siècle: le Triptyque du Bain mystique de Jean Bellegambe, in: L ’ allégorie dans l ’ art du Moyen Âge. Formes et fonctions. Héritages, créations, mutations, hg. v. Christian Heck, Turnhout 2011 (ETRILMA 2), S. 345 - 370. 370 Schillinger 2015, S. 64. 371 Das Werk gelangte 1498 zuerst in den Druck: Lavacrum conscientiae, Augsburg: Anton Sorg 1489 (GW 13877) und fand schnell große Verbreitung. Als Autor wurde traditionell der Lütticher Kartäuser Jacobus de Gruytrode angenommen, diese Zuschreibung hält jedoch wahrscheinlich nicht stand. 372 Vgl. Kümper 2010. Dieser Beitrag enthält auch einen Abdruck des in Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtenthal 103 unikal überlieferten Seelenbads und der dazugehörigen Geistlichen Wirtschaft (S. 94 - 99) sowie Hinweise auf eine Reihe weiterer frühneuzeitlicher Badeallegorien, die allerdings sämtlich nicht dem Bereich der Gebets- und Andachtsliteratur angehören (S. 92). 373 Die Verbindung von Phlebotomie und Schwitzbad war zeitgenössisch verbreitet, wobei der Aderlass auch in der Alltagsmedizin der Klöster eine mitunter sinnbildlich aufgeladene Rolle spielte. Vgl. dazu Jan Janzen, Odo Lang: Der Aderlass. Eine monastische Tradition, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 110 (1999), S. 57 - 71; sowie die allgemeineren Ausführungen zum Motiv des geistlichen Bads bei Schillinger 2015, S. 62 - 66. 364 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="365"?> jeweils spezifische Gebete und Frömmigkeitsübungen entrichtet, deren Fokus nun auf der Betrachtung der Passion Christi liegt. Die Schritte des imaginierten Saunagangs versinnbildlichen die Leidensstationen der Karfreitagsereignisse, deren Meditation und innere Imitation der Befreiung des Menschen von Sündenschuld diene: Vnd ist die meinung der reinigung alle gericht auff das leiden Christi vnd auff püß wirckung, dar durch wir müggen vnd müssen gereinigt werden. 374 Der so stimulierte Prozess der Immersion, also das affektive und sinnliche Eintauchen ins innerlich vergegenwärtigte Passionsgeschehen, wird hier - ganz gemäß der den Begriff fundierenden Metapher - als reinigendes Bad präsentiert. Auch der dritte Teil des Texts entwickelt eine Passionsallegorie, die nun allerdings eher der Veranschaulichung christologischer Glaubenssätze dient. Dargelegt wird hier die Anfertigung eines goldenen Brunnens aus Gebetsübungen, der im Zentrum des Badehauses steht und den gekreuzigten Christuskörper bezeichnet. Das säubernde Wasser, das aus den fünff gulden rören vnd auß flüssen des Springbrunnens fließe, meine das aus den fünf Wunden vergossene Blut Christi, durch das die menschheitserlösende Gnade Gottes in die Welt geflossen sei. 375 Dass dabei eine große Nähe zu Bildwerken wie dem oben erwähnten Kreuzigungsbad des Jean Bellegambe besteht, ist augenfällig. Einige abschließende Gebetsdienste für Maria, die sich um die Kleider der Badenden kümmern soll, runden die Geistliche Padstube ab. Vornehmliches Funktionsprinzip dieser Frömmigkeitsübung ist die für handwerkliche Gebete und Andachten charakteristische imaginierte Konkretisierung des Betens zum geistlichen Ding, die dem so gefertigten Gegenstand, hier also dem Badehaus und den darin vollführten Waschungshandlungen, mehrfache ästhetische und semantische Dimensionen verleiht. Auf der einen Seite nämlich ist dieses innere Funktionsgebäude ein allegorischer Betrachtungsgegenstand, der als Signifikant zeichenhaft-veranschaulichend zur Versenkung in verschiedene Heilsereignisse und Glaubensinhalte einlädt. Auf der anderen Seite aber wird das innere Badehaus auch von den Gebeten und sonstigen Beiträgen der Gläubigen bezeichnet, ist also Signifikat. 376 Drittens wird die so erschaffene Badestube als geistlich-konkretes Ding vorgestellt, als Figuration der Frömmigkeit, der eine überstoffliche Wirklichkeit und Wirkmacht zukommt. Dabei fällt auf, wie sehr die Geistliche Padstube auf Kürze ausgelegt ist. Im Vergleich sowohl mit den oben behandelten Traktaten ebenso wie mit Großformen wie dem Alemannischen Marienmantel fehlen hier ausführliche ekphrastische Passagen ebenso wie längere Andachtsanweisungen oder komplexe Allegoresen. Zumeist beschränkt sich der Text auf die Quantifizierung der erbrachten Gebete, ihre Gleichsetzung mit einem konkreten Bildelement und dessen Allegorisierung in »Notatatform«, also durch »einfache Gleichsetzung« mittels eines kurzen Genitivattributs oder einer Nebensatzkonstruktion. 377 Der gemauerte Ofen, der das Badehaus beheizt, wird z. B. so errichtet: 374 »Und die Bedeutung des Badegangs zielt gänzlich auf das Leiden Christ und auf Bußwirkung, wodurch wir gereinigt werden können und sollen«, Geistliche Padstube, Schnyder 1984, S. 148. 375 »fünf goldenen Röhren oder Ausflüssen«, ebd., S. 149. 376 Siehe dazu die Ausführungen am Beispiel des Alemannischen Marienmantel unten, Kap. III.2.5. André Schnyder spricht in Bezug auf die Geistliche Padstube schlüssig von einer »Verdoppelung« der Zeichenstruktur (Schnyder 1984, S. 151). 377 Schmidtke 1982, S. 298. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 365 <?page no="366"?> Item für stein auff den offen vij c mal die siben püß psalm mit der leteney vnd da mit vnssere hertzen vndertenig ze machen dem fewr des heiligen geists pis zu auß treibung der kelt der siben tod sünd. Item für das holtz, da mit man das pad heitzt, j m mal › Confiteor ‹ vnd ander schön gemein peicht. Item für das fewr j m › Veni sancte ‹ , damit angezint wirt das holtz, das ist vnßer gemüt. 378 Die von den Ofensteinen oder -kacheln vertriebene Kälte, Brennholz und Feuer stehen hier für die sieben Todsünden, das Gemüt der Betenden sowie den Heiligen Geist. Diese Bedeutungszuweisung sowie das dafür dargebrachte Reihenbeten der Bußpsalmen lassen vermuten, dass die Ofensteine wohl als Buße oder Bußfertigkeit gelesen werden können, also eine spezifische innere Tugend- und Affekthaltung meinen. Aus der Verbindung dieser allegorischen Eckpunkte mit der Bildlogik des Ofens verdeutlicht sich trotz der notatathaften Knappheit ein abstrakter Funktionszusammenhang von Gebet, innerer Haltung und erhoffter Gnadenwirkung, den die Übung auszulösen versucht: Durch das vielfach wiederholte Beten der sieben Psalmen soll der Mensch sich in eine Büßerposition versetzen. Mithilfe des immer wieder aufgesagten Schuldbekenntnisses Confiteor wird sein Gemüt reuig darauf vorbereitet, dass der durch die Pfingstsequenz Veni sancte spiritus herbeigerufene Heilige Geist es gnadenhaft erfülle und die Sündhaftigkeit vertreibe. 379 Innerliche Selbstaffizierung der Betenden im Sinne einer bewussten Formung des eigenen Fühlens, Wahrnehmens und Denkens hin auf die Möglichkeit göttlicher Einkehr steht im Zentrum dieser und vergleichbarer Passagen. Die Figur des Badehauses, welche die Betenden innerlich kreieren, dient zusammen mit den verlangten Gebeten als Instrument und Hilfsmedium zu einer solchen Herstellung einer Nähe zur Transzendenz. Die vergegenwärtigende Immersion in das Kreuzigungsgeschehen letztlich entspricht dem anschließend darin stattfindenden, von Sündhaftigkeiten reinigenden Bad. Zum Ziel hat diese Gebets- und Andachtsübung also zum einen die gottgefällige innere Ausrichtung der beteiligten Schwestern hin auf Reue und Buße und ihre seelische Reinigung durch die Passionsandacht. Zum anderen aber bezweckt das geistliche Bauvorhaben auch einen Beitrag zur Ursulabruderschaft, für die es geleistet wird. Nicht nur ist die Geistliche Padstube durch ihren Überlieferungskontext entsprechend markiert, sie fügt auch wiederholt Fürbitten ein, mit denen die erhoffte Reinwaschung von Sünden auf Dritte ausgeweitet wird, die nicht direkt an diesem Gebetswerk beteiligt sind. Darin divergiert ihre Wirkabsicht von den zuvor untersuchten geistlichen Gebäudetexten: Die Übung dient nicht nur der Erbauung des Einzelnen, sondern vielmehr dem frommen Dienst an der Gemeinschaft. Zudem handelt es sich hier um einen Text, der primär für die Schwestern eines einzelnen Klosters konzipiert ist, die dieses geistliche Bauwerk, nimmt man die Berichts- 378 »Item für die Steine auf dem Ofen siebenhundertmal die sieben Bußpsalmen mit der Litanei, [um] hiermit unsere Herzen dem Feuer des Heiligen Geistes zu unterwerfen bis zur Austreibung der Kälte der sieben Todsünden. Item für das Holz, womit man das Bad heizt, tausend Confiteor oder andere schöne allgemeine Beichten [bzw. Schuldbekenntnisse]. Item für das Feuer tausend Veni sancte, mit denen das Holz, das unser Gemüt ist, entzündet wird«, Geistliche Padstube, Schnyder 1984, S. 147. Ich gehe angesichts des Sinnkontextes davon aus, dass das vnd in der ersten zitierten Zeile durch Verschreibung von vmb zustande gekommen ist, und habe entsprechend übersetzt. 379 Zu dieser Sequenz (AH 54, Nr. 153) vgl. Petrus W. Tax: Zur Verfasserschaft und Entstehungszeit der Pfingstsequenz Veni, sancte spiritus, in: ZfdA 135.1 (2006), S. 13 - 20. 366 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="367"?> form des Textes für bare Münze, wohl nur ein einziges Mal errichtet haben dürften. Dies unterscheidet die Padstube zusätzlich von der prinzipiell uneingeschränkten Teilnahmeoffenheit und Wiederholbarkeit des Rosenkranzgebets oder von den Spielarten des Mantelbetens, denen z. B. Dominikus von Preußen sich widmet. Im Kontrast hierzu kann bezüglich der Geistlichen Padstube von einer exklusiv-gemeinschaftlichen Frömmigkeitsübung gesprochen werden, die klar als Proprium der Altomünsterer Brigitten gekennzeichnet ist. Dies schlägt sich auch in den aufgezählten Gebetsleistungen nieder. Hier werden lateinische ebenso wie volkssprachige Texte aufgeführt, die weit über das Repertoire formelhafter Standardgebete hinausgehen. Neben verschiedensten Psalmen, Sequenzen, Antiphonen und Hymnen 380 trugen, so wird berichtet, die Nonnen zu ihrem Badehaus auch Texte wie die Papst Urban V. zugeschriebenen und mit reichlich Ablass versehenen Tagzeiten vom Leiden Christi 381 oder die Acht Verse St. Bernhards bei. Lesungen aus dem Johannesevangelium samt Auslegung der entsprechenden Perikopen sind ebenfalls aufgelistet. All dies bindet die Geistliche Padstube an das mit dem zeitgenössischen Kanon religiöser Literatur vertraute Klostermilieu. Birgittinische Elemente wie die xv vermanung sant Birgitta oder der Ferialpsalter nach dem orden Salvatoris drücken zudem Ordenszugehörigkeit aus. 382 Da der Text wohl nicht unmittelbar zur exakten Nachahmung niedergeschrieben wurde, dürfte dieser hohe Grad an Spezifizität und Zugangsvoraussetzung kaum ein Problem dargestellt haben. Wenn so, wie Schnyder vermutet, 383 auch anderen Klostergemeinschaften ein Vorbild geboten wurde, so wohl eher dem Umfang und der allegorischen Struktur der Übung als ihrem exakten Wortlaut nach. Womöglich sollte die Mannigfaltigkeit der erbrachten Gebets- und Askeseformen den übrigen Mitgliedsklöstern der Ursulabruderschaft, durch deren Hände der Bericht auf seinem Weg nach Straßburg ging, sogar die Frömmigkeitsvirtuosität der Schwestern von Altomünster demonstrieren. In Anbetracht der Genauigkeit, mit der auch andere assoziierte Klöster ihre enormen Beitragsleistungen im Bruderschaftsbuch dokumentierten, liegt die Vermutung einer dergestalt repräsentativen Funktion zumindest nahe. Dass es sich bei dem geistlichen Bauwerk der Birgittinen von Altomünster dennoch nicht um ein vereinzeltes Gebetsprojekt gehandelt haben dürfte, belegt zunächst eine vergleichbare Badeallegorie, das in einer wohl aus einem südwestdeutschen Benediktinerinnen- oder Zisterzienserinnenkloster stammenden Handschrift des 16. Jahrhunderts überlieferte Seelenbad. 384 Obzwar mit der Geistlichen Padstube strukturell wie motivisch 380 Darunter sind neben allgemein verbreiteten Texten auch eher ungewöhnliche oder für den Erlöserorden spezifische Gesänge wie der Tropus Salve Christi cella, nobis mundi mella (vgl. Geistliche Padstube, Schnyder 1984, S. 150); siehe hierzu Ulrike Hascher-Burger: Gesungene Innigkeit: Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio moderna (Utrecht, Universiteitsbibliothek, MS. 16 H 34, olim B 113). Mit einer Edition der Gesänge, Leiden/ Boston 2002, S. 177. 381 Vgl. Geistliche Padstube, Schnyder 1984, S. 148; der referierte Tagzeitentext ist überliefert z. B. in Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VII,50, fol. 1v - 11v. 382 »15 Erinnerungen der hl. Birgitta«, »nach dem [Brauch des] Erlöserordens«, Geistliche Padstube, Schnyder 1984, S. 148 u. 150. Zu den Birgitta zugeschriebenen Gebeten vgl. Gejrot 2000 sowie mit weiteren Hinweisen oben, Kap. II.4.1. 383 Vgl. Schnyder 1984, S. 155. 384 Ediert und untersucht bei Kümper 2010. Die auf 1583 datierte Handschrift Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtenthal 103, in der das Seelenbad überliefert ist, war Teil der Klosterbibliothek Lichtenthal, muss 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 367 <?page no="368"?> eng verwandt, 385 ist dieser Text nicht als Bericht gehalten, sondern folgt der instruktiven Normalstruktur allegorischer Gebets- und Andachtsübungen. Einzelne Bilddetails werden im imperativischen Aufforderungsstil knapp beschrieben, in Notatatform mit einer Bedeutung verknüpft und mit einer quantifizierten Frömmigkeitsleistung beziffert. Das Seelenbad ist dabei für eine einzelne Person bestimmt: ein mensch soll es auf allerseelentag, oder wen er will, vollbringen. 386 Anders als in der Padstube sind hier die ungewöhnlicheren unter den geforderten Gebetstexten mitunter auch in ausgeschriebener Form enthalten, um den Vollzug der Übung zu erleichtern. Dass der Text aber dennoch »kaum für den laikalen Gebrauch bestimmt« war, legt vor allem der Umfang der verlangten Frömmigkeitsleistungen nahe. 387 Freilich ist das Seelenbad nicht als Konstruktionsanleitung für ein geistliches Bauwerk oder als Architekturmodell zur inneren Selbstformung konzipiert, sondern akzentuiert die Badeallegorie grundlegend anders. Der Betende wird hier in die Rolle des Baders versetzt, der durch sein Gebet die im Fegefeuer befindlichen Seelen von Sünden reinwaschen und somit zu ihrer Erlösung betragen soll. Dabei treten die Dingallegorie des Badehauses und seiner Konstruktion weitgehend hinter handlungsallegorische Bildlogiken zurück. Damit erscheint das geistliche Bad statt als Erbauung des eigenen Inneren als Dienst am Nächsten. Zahlreiche Heilige werden hierzu angerufen und in Gebeten dafür entlohnt, dass sie einzelne Badeaufgaben übernehmen und auf Gott einwirken, das er die gefanngnen selen baldt aus dem fegefewr erlöse. 388 Dies spiegelt auf der einen Seite generell die Stellung des Fürbittwesens für die frauenklösterliche Gebetspraxis am Ausgang des Mittelalters wider. 389 Auf der anderen Seite mag sich hier vielleicht auch eine im realhistorischen Kontext der Zeit verankerte Praxis niedergeschlagen haben, denn sogenannte Seelbäder, also Badestiftungen für Arme und Kranke, spielten als für das eigene Seelenheil geleisteten Wohltätigkeitsgaben im urbanen Umfeld des ausgehenden Mittelalters eine wichtige Rolle. 390 Das Seelenbad nun verlagert diese Form des karitativen Dienstes nach Innen. aber nicht notwendigerweise in diesem Zisterzienserinnenkloster angefertigt worden sein. Allerdings weisen die Nennung des heiligen Benedikt als Ordensvater sowie die Verwendung weiblicher Formen in der Handschrift (vgl. Kümper 2010, S. 87 f.) klar auf den Kontext eines Frauenklosters in der benediktinischen Tradition und würden somit gut zu Lichtenthal passen. 385 Über mögliche direkte Abhängigkeitsverhältnisse kann nur spekuliert werden, allerdings war das Kloster Lichtenthal, aus dessen Bibliothek der einzige Textzeuge stammt, mit der Ursulabruderschaft assoziiert und könnte über dieses Netzwerk leicht vom gebeteten Badehaus der Altomünsterer Nonnen erfahren haben. Das Bruderschaftsbuch berichtet, die Zisterzienserinnen von Lichtenthal hätten eine große Menge nicht näher spezifizierter Frömmigkeitsgaben zum Bruderschaftsschatz beigetragen; siehe Straßburger Bruderschaftsbuch (SBr II), Schnyder 1986, S. 233. 386 »ein Mensch«, »am Allerseelentag, oder wann er möchte«, Seelenbad, Kümper 2010, S. 94. 387 Kümper 2010, S. 90. Die Übung ist damit locker an den am 2. November begangenen Festtag gebunden. 388 »dass er die gefangenen Seelen bald aus dem Fegefeuer erlöse«, Seelenbad, Kümper 2010, S. 95. 389 Wie Berndt Hamm am Beispiel von Adelheit Langmann und Gertrud von Helfta illustriert, wurden »[m]ystisch begabte Frauen« im Spätmittelalter »zu Expertinnen im Losbeten von armen Seelen« (Hamm 2016, S. 315). Die Idee einer besonderen Heilswirksamkeit ihres Gebets schlug sich auch in der Organisation und im Selbstverständnis der Frauenklöster nieder. So zeigt Barbara Steinke auf, wie observante Dominikanerinnen im Nürnberg des Spätmittelalters geradezu als »zur Fürbitte berufener Personenkreis« galten: »Die Aufgabe der Fürbitte im Rahmen des Chorgebets stellte für die Nonnen sowohl ein Vorrecht als auch eine Verpflichtung dar« (Steinke 2006, S. 42). Eine ähnliche Gewichtung der Fürbitte im Frauenklosterkontext zeigt auch das Seelenbad. 390 Vgl. G. Baader: Art. Badewesen, in: LexMA 1 (1977), Sp. 1340 f. 368 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="369"?> Ähnlich ist auch die an den Text angegliederte Geistliche Wirtschaft, die ins Feld der geistlichen Bankette und Küchentexte gehört, 391 als spirituelle Armenspeisung zu verstehen. Während im Seelenbad also das Bild des inneren Gebäudes abgelöst wird von der Idee eines handlungsallegorisch veranschaulichten geistlichen Akts der Nächstenliebe, stehen andere Gebets- und Andachtsübungen des 15. und 16. Jahrhunderts in ihrer Verquickung von architektonischer Sinnbildlichkeit und handwerklichem Gebet näher an der Geistlichen Padstube. Im Anschluss rückt mit der Constructio des Dominikus von Preußen, die zur inneren Erbauung eines Gebetspalastes für Maria anleitet und eine rechtfertigende Erklärung dieser Übung anschließt, ein besonders komplexes Beispiel hierfür in den Fokus. 4.3 Sublime Stofflichkeit und Mehrdimensionalität allegorischer Betrachtung: Die Constructio domus sive aule Marie des Dominikus von Preußen Unter den Gebets- und Andachtsübungen des Trierer Kartäusers, dessen Rosenkranz- und Marienmantelschriften oben untersucht wurden, nimmt die Constructio domus sive aule Marie, die zum betenden Bau eines Hauses oder Palasts für die Gottesmutter anleitet, in mehrerer Hinsicht eine Sonderposition ein. 392 Anders als der Leben-Jesu-Rosenkranz und die mit dem Pallium beworbene gebethafte Fertigung eines Mariengewands richtet sich diese unikal überlieferte Schrift nicht an ein möglichst breites Publikum, sondern an die kartäusischen Mitbrüder des Autors. 393 Wenn Dominikus beispielsweise feststellt, die dieses Haus erbauenden Betenden könnten nicht persönlich in den Gemächern Marias dienen, cum nos viri sumus et peccatores (Constructio, Z. 84), oder spezifisch die habitantes in domo ista (Constructio, Z. 159) anspricht, wird deutlich, dass die Constructio sich primär ans engste Ordensumfeld des Verfassers wendet. 394 Zudem bildet der Gebetspalast weniger eine geistliche Gabe denn eine komplexe architektonische Figuration, die im Inneren der Gläubigen zur dauerhaften Wahrnehmungswirklichkeit werden soll. Dabei kann das imaginierte Gebäude zum einen als Verräumlichung der Zeitstrukturen des Kirchenjahres 391 Siehe zu derartigen Texten Buschbeck 2021. 392 Diese Schrift ist kurz angesprochen bei Klinkhammer 1972, S. 16 f.; sowie bei Schmidtke 1982, S. 242 und S. 264. Ansonsten blieb sie bislang unerforscht. Die Zuschreibung der Autorschaft ergibt sich erstens aus dem Überlieferungskontext in einer Sammlung der Werke des Dominikus von Preußen und zweitens aus der Erwähnung des Rosenkranzes sowie eines früheren Werks dieses Autors, der Corona gemmaria (vgl. Constructio, Z. 66 f.). Drittens nennt eine Chronik der Trierer Kartause aus dem 18. Jahrhundert eine Aula B. Virgini construenda, bei der es sich um diesen Text handeln dürfte, als Werk des Dominikus von Preußen (siehe Klinkhammer 1972, S. 7). Klinkhammer datiert die Constructio aufgrund recht allgemeiner Überschneidungen der ekklesiologischen Argumentation des Rechtfertigungsanhangs mit einem im Folgejahr geschriebenen Brief des Verfassers auf die Jahre 1446 bis 1447 (ebd., S. 17) - dies ist cum grano salis zu nehmen. 393 Außer Köln, Hist. Archiv, Ms Gbf 129, fol. 12v - 16r, konnte ich keine weiteren Textzeugen ausfindig machen. Der Text ist im Anhang dieser Arbeit nach dieser Handschrift ediert und übersetzt. Er wird im Fließtext als › Constructio ‹ zitiert. 394 »da wir Männer und Sünder sind«; »die Bewohner dieses Hauses«. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 369 <?page no="370"?> und vergegenwärtigende Engführung derselbigen mit der Betrachtung des Marienlebens gelesen werden. Zum anderen dient es als allegorischer Betrachtungsgegenstand zur Passionsmeditation ebenso wie zur inneren Versinnbildlichung der Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen. Gemäß dem Modell des mehrfachen Schriftsinns werden so verschiedene Sinnebenen des Marienpalastes aufgeworfen, die je der andächtigen Immersion des Rezipienten in die durch das Architekturbild referierten Heilsgegenstände dienen. Schließlich fügt Dominikus dieser Schrift einen teils polemischen Anhang bei, dessen dreizehn Punkte eine frömmigkeitstheologisch wie ekklesiologisch begründete, aufschlussreiche »Verteidigung der Nützlichkeit derartiger Andachtsübungen« bieten. 395 Bereits eine Rubrik, die angibt, der nachstehende Text führe aus, auf welche Weise man Maria construere sive edificare domum sive aulam spiritualem (Constructio, Z. 1) könne, 396 kennzeichnet die Constructio als geistliches Bauprojekt. Was folgt, ist eine zumeist im konjunktivischen Iussiv an ein den Leser einschließendes Wir gerichtete, überaus voraussetzungsvolle handwerkliche Gebets- und Andachtsübung, der sich der einzelne Gläubige über das Jahr hinweg widmen soll. Die so entworfene geistliche Architektur ist, anders als in der Herzkloster-Tradition, nicht als ideales Psychogramm des christlichen Menschen gestaltet. Vielmehr wird hier ein Raum- und Bauensemble konstruiert, dessen intensive Bildlichkeit sowohl einen Immersionseffekt auslösen soll als auch als komplexes dingallegorisches Zeichengeflecht aufscheint, das zur Betrachtung des Marienlebens, der Passion und der Gesamtheit der Kirche Christi einlädt. Am Zielpunkt der Übung stehen dabei die Abkehr von den Dingen der Welt und die gebethafte Versenkung in eine auf Selbstüberschreitung angelegte Bildwelt im eigenen Inneren, wo Gott und Maria gesucht werden. Dabei erweisen sich die Grundschritte der imaginierten Architektenarbeit noch als relativ einfach. Aus ausgewählten Psalmen, deren Metaphorik zumeist eine Verbindung zur Haus- und Baumotivik herstellt, sollen das Fundament und die acht Wände des Palastes entstehen. Klinkhammer nahm dabei aus Gründen, die im Unklaren liegen, an, Dominikus habe als Vorbild dieses Baus »die Burg Sierck an der Mosel vor Augen gehabt, den Lieblingssitz der Herzogin Margarethe von Bayern«. 397 So reizvoll die Annahme dieser regionalgeschichtlichen Verbindung auch sein mag - die allgemeine Beschreibung, die sich im Wesentlichen darauf beschränkt, acht Mauern ex psalmis [ … ] cum angelicis salutacionibus decoratis (Constructio, Z. 12 f.) aufzuzählen, 398 lässt eine solche These kaum zu. Eher lehnt sich die oktogonale Form des inneren Gebäudes an als Achteck gestaltete Sakralbauten an, 399 vor allem an den Jerusalemer Felsendom, dessen über die Kreuzzüge vermittelte bauliche Pracht auch die Architekturimagination des Westens beflügelte. Dies liegt besonders deshalb nahe, weil der Felsendom seit dem 12. Jahrhundert mit dem Ort der Darstellung der Gottesmutter identifiziert und in der vielverbreiteten Pilgerliteratur 395 Schmidtke 1982, S. 242. 396 »ein geistliches Haus oder einen Palast errichten oder erbauen«. 397 Klinkhammer 1972, S. 17. 398 »aus Psalmen [und] mit Englischen Grüßen verziert« 399 Eine Achteckform besitzt beispielsweise auch die Maria geweihte und als traditioneller Krönungsort der deutschen Könige dienende Aachener Pfalzkapelle; vgl. Hans Jürgen Roth: Ein Abbild des Himmels. Der Aachener Dom - Liturgie, Bibel, Kunst, Aachen 2011. 370 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="371"?> »with Mary ’ s life in the Temple« assoziiert wurde, ja sogar als »Mary ’ s residence« galt. 400 Auf diese Vorstellung des Felsendoms als irdischer Wohn- und Wirkungsstätte Marias dürfte auch die Oktagonform des geistlichen Gebäudes der Constructio referieren. Der achteckige Jerusalemer Sakralbau wird so als irdische Präfiguration der vom Text angeleiteten inneren Erbauung eines Marienpalasts aufgezeigt. Das Publikum dieser Gebets- und Andachtsübung konnte sein frommes Werk daher als sublimierende Verinnerlichung einer an das Erdenleben der heiligen Jungfrau rückgebundenen Sakralarchitektur imaginieren, deren Erbauung, Einrichtung und Zierde ihm als ständige Aufgabe oblag. Zumindest dieses Grundaufbauschema wird über die sinnschwere baugestaltliche Referenz nach Jerusalem hinaus noch nicht dingallegorisch aufgeladen. Wenn aber anschließend die Leserschaft aufgefordert wird, in den imaginierten Palastbau unter Abbeten weiterer Psalmen einzutreten, also in die entlang des Textes entworfene architekturbildliche Vorstellungswelt zu immergieren, 401 beginnt die Constructio prompt mit der Entfaltung eines vielschichtigen Bedeutungsnetzwerks. Innerhalb des Marienpalasts nämlich entstehen sieben Gemächer (thalami), welche die sieben marianischen Feste bezeichnen und die der Betende je an einem spezifischen Tag der Woche errichten und ausstatten soll. Somit entpuppt sich diese Gebetsübung als Fertigungsanleitung für einen ebenso sinnbildlichen wie figural wirklichen geistlichen Gegenstand. Der Montag beispielsweise ist der Empfängnis Mariä gewidmet: Feria secunda construat thalamum sanctificacionis beate Marie ex psalmis »Deus noster refugium« (Ps 45) et »Domine dominus noster« (Ps 8). Et in quolibet thalamo debent haberi vestes duplices, scilicet solempnes et feriales eiusdem coloris. Nam in die concepcionis et quacumque festum occurrit in secunda feria, tunc beata Maria debet habere vestam preciosam subrufam auro intextam, sed in aliis secundis feriis, qua non est festum, tunc debet habere vestem de simplici bono panno subrufo, que tamen serico et aliis pulchris sit adornata. Et omnes vestes singulis annis debent renovari et nove fieri appropinquante solempnitate eius. Et hoc modo in qualibet solempnitate et in quolibet thalamo fieri debent. Ex qua materia autem vestes iste spirituales fieri debent, inferius dicetur. (Constructio, Z. 17 - 26) 402 Die Constructio legt nahe, dass diese Gebetsleistungen wöchentlich zu wiederholen seien, so dass an jedem Montag die benannten beiden Psalmen für die Herrichtung des Gemachs der Empfängnis Marias gebetet werden. Im Anschluss an dieses Grundgebet soll der 400 Siehe mit zahlreichen entsprechenden Quellenverweisen zur Rezeption dieses Gebäudes im Westen Kathryn Blair Moore: The Architecture of the Christian Holy Land. Reception from Late Antiquity through the Renaissance, Cambridge 2017, S. 91. 401 Der Text verwendet hier explizit auffordernd die Begriffe ingredere und ingressus ( › eintreten ‹ , › Hineingehen ‹ ), vgl. Constructio, Z. 13 f. 402 »Am Montag errichte man das Gemach der Heiligung der seligen Maria aus den Psalmen »Gott ist unsere Zuflucht« (Ps 45) und »Herr, unser Herr« (Ps 8). Und in jedem Gemach sollen zweifache Gewänder vorhanden sein, nämlich festliche und alltägliche in der gleichen Farbe. Denn am Tag Mariä Empfängnis und wo auch immer ein Fest auf einen Montag fällt, soll die selige Maria dann ein kostbares, rötliches und mit Gold durchwirktes Gewand haben, an den anderen Montagen jedoch, an denen kein Fest ist, soll sie dann ein Gewand aus einfachem, gutem, rötlichem Stoff haben, das dennoch mit Seide und anderen schönen Dingen verziert ist. Und alle Kleider sollen jährlich erneuert und neu gefertigt werden, wenn sich ihr Hochfest nähert. Und auf diese Weise soll es an jedem Hochfest und in jedem Gemach gemacht werden. Aus welchem Material jedoch diese geistlichen Kleider gemacht werden sollen, wird weiter unten gesagt.« 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 371 <?page no="372"?> Gläubige dann an den geistlichen Kleidern Marias für die Montage arbeiten, wobei sowohl das prachtvolle rote Festkleid als auch die einfacheren Gewänder für die nicht durch ein Kirchenfest gefüllten Tage je im Jahresrhythmus erneuert werden müssen. Die Überschneidungen mit der Textilbildlichkeit des Marienmantelbetens sind hierbei evident. Sowohl zum Pallium und den zugehörigen Schriften Dominikus ’ von Preußen als auch zu Übungen wie der oben erwähnten, in einer Villinger Handschrift überlieferten Gebetsübung zur Einkleidung Marias an jedem Tag des Kirchenjahrs bestehen Verwandtschaften. 403 Die übrigen sechs Gemächer des Palasts gestalten sich analog zum ersten. Nach der Reihenfolge des jeweils gefeierten Ereignisses im Leben der heiligen Jungfrau werden aus einer überschaubaren Zahl von Psalmen, Cantica, Hymnen oder Evangelienperikopen imaginierte Räume errichtet, die Marias Geburt, ihrer Darstellung im Tempel, der Verkündigung, dem Besuch bei Elisabeth, der Reinigung im Tempel nach der Geburt Christi und schließlich der Himmelfahrt Marias entsprechen. In jedem Zimmer befinden sich ein oder mehrere gebetete Kleidungsgarnituren, die je nach Anlass unterschiedlich kostbar ausfallen können und die das Publikum jährlich zum jeweils bezeichneten Festtag neu anzufertigen aufgefordert ist. 404 Die farbliche Gestaltung dieser Mariengewänder scheint sich dabei locker an der Symbolik der liturgischen Farben für die jeweiligen Festtage zu orientieren. 405 Die Temporalität des so entstehenden Marienpalastes ist komplex multidimensional angelegt. Denn zunächst stellen die sieben Zimmer des im Geiste errichteten Baus eine Dingallegorie auf den Lebensweg Marias dar, der in seinen Stationen über die Wochentage hinweg vom Betenden andachtsvoll vergegenwärtigt werden kann. Dies ist zugleich verschränkt mit dem Ablauf des Kirchenjahres, über das die Marienfeste verteilt sind, welche die Fertigungszeitpunkte der in den einzelnen Kammern befindlichen geistlichen Textilien bestimmen. Schlussendlich noch entsprechen den einzelnen Kammern jeweils direkt der Bibel entnommene oder aus ihr abgeleitete Texte, die zur Hervorbringung dieses Raumensembles an den dazugehörigen Wochentagen gebetet werden sollen und durch ihre liturgische Verwendung wiederum mit den Zeitstrukturen des Gottesdienstes verknüpft sind. Dies lässt sich als mehrschichtige Spatialisierung temporaler Verhältnisse verstehen: Die imaginierte räumliche Struktur des Palasts vollführt eine Engführung der 403 Freiburg i. Brsg., UB, HS 1500,30, fol. 190v - 198r; siehe dazu oben, Kap. III.4. 404 Die Farb-, Fest- und Tagesaufteilung gestaltet sich wie folgt: Montag: Mariä Empfängnis (8. Dezember), rote Kleider mit besonderem Gewand für die Festtage; Dienstag: Mariä Geburt (8. September), weiße Kleider; Mittwoch: Gedenktag Unserer Lieben Frauen in Jerusalem (21. November), gelbe Kleider; Donnerstag: Verkündigung des Herrn (25. März), rote Kleider mit besonderem purpurnem Gewand für das eigentliche Fest; Freitag: Mariä Heimsuchung (2. Juli), graue Kleider oder nach Ostern schwarze Kleider; Samstag: Darstellung des Herrn (2. Februar), grüne Kleider; Sonntag: Mariä Himmelfahrt (15. August), goldene Kleider. 405 Vgl. überblickshaft Braun 1907. Eine exakte Übereinstimmung mit den liturgischen Farben für die Marienfeste liegt hier allerdings nicht vor, vielmehr bedient sich der Text bloß an der Farbsymbolik liturgischer Gewänder und greift diese anlassbezogen auf, indem z. B. Schwarz als Trauerfarbe nach Ostern oder Grün als Farbe des sich erneuernden Lebens zu Marias Tempelreinigung aufgegriffen werden. Zudem scheinen auch die farblichen Normen bildlicher Mariendarstellungen des Spätmittelalters hier hineinzuspielen: »Die Farben dieser Kleider Mariens waren in der zweiten Hälfte des Mittelalters die heraldischen: Gold und Silber (Weiß), die mit Blau und Rot wechselten« (Beissel 1909, S. 329). 372 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="373"?> jeweiligen Zeitlichkeiten von Marienleben, Wochenablauf, Jahreskreis, Liturgie und Schriftlesung. 406 Ähnlich wie viele Texte aus der Tradition der › Geistlichen Uhren ‹ , die in jüngster Zeit vor allem Christian Schmidt untersucht hat, leitet auch die Constructio den Betenden so »in ein ganzes System aufeinander verweisender [ … ] Zeitebenen«. 407 Im gleichen Zuge jedoch verleiht sie diesen vom Text evozierten Zeiten und Zeichen auch eine heilsvermittelnde Gegenwart. Denn der geistliche Bau ist nicht nur als Zeichen konzipiert, sondern stellt vielmehr eine wirklichkeitshafte Figuration der Frömmigkeit im Betenden dar, der in sich einen Palast für Maria erbaut, der ihm ebenso bedeutsam wie ästhetisch präsent ist. Wenn Christian Kiening in einem Überblick über die Präsenzdebatten der jüngeren Forschung aufzeigt, wie die meisten dieser Ansätze Momente des Präsentischen »eher mit Raumals mit Zeitverhältnissen verbinden« und eine »körperliche, sinnliche, aisthetische Dimension« ins Zentrum des Präsenzbegriffs rücken, 408 dann lässt sich dies passgenau auf die Wirkungsästhetik der Constructio beziehen, die eine synchrone Gegenwärtigkeit verschiedener temporaler Dimensionen eben durch ihre figurale Verräumlichung forciert. Dabei benennt Dominikus von Preußen zusätzlich zum Literalsinn des Gebäudes und seiner marianischen Bedeutung noch zwei weitere zu Betrachtung und Andacht empfohlene, nun christologische und ekklesiologische Sinnebenen seiner figura domus sive aule beate Marie (Constructio, Z. 105). 409 Dies entspricht strukturell dem Verfahren der Exegese nach dem vierfachen Schriftsinn, das für die polyvalente Ausdeutung des geistlichen Palastes Pate gestanden haben dürfte. Dass sich die figura domus, mittels derer dies entfaltet wird, in ihrer Form am Jerusalemer Felsendom orientiert, der wie oben ausgeführt als irdische Wirkungsstätte Marias galt, lässt sie als geistliche Nachbildung eines irdischen Vorbilds erscheinen. Dominikus ’ Übung sublimiert die historische und stoffliche Marienresidenz zur überräumlichen und überzeitlichen Nachfiguration in der Imaginationswirklichkeit der Betenden. Dabei solle man sich neben dem Palastbau selbst und dem von ihm bedeuteten Marienleben anhand der sieben Gemächer drittens auch den Passionsweg Christi vorstellen, dessen meditative Vergegenwärtigung auf die sieben täg- 406 Hierin gehört der Text in jenen Bereich, den Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius mit dem Stichwort der liturgischen Ästhetik charakterisieren als »sinnliche Wahrnehmung eines zeitlich und räumlich rhythmisierten und semantisierten, multimodalen Geschehensvollzugs aus Textlesung und Gesang, Musik, Duft und Geschmack, der insbesondere auf die Produktion von (inneren) Bildern zielt, die Heilsgeschehen vergegenwärtigen« (Bleumer/ Emmelius 2022, S. 198). 407 Christian Schmidt: Geistliche Uhren. Technologie, Heilsgeschichte und Letzte Dinge in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Horologium-Tradition, in: Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Andreas Bihrer, Timo Felber u. Julia Weitbrecht, Göttingen 2020 (Encomia deutsch 6), S. 195 - 223, hier S. 210. Das angeführte Zitat bezieht sich auf die Straßburger Leidensuhr. Im Gegensatz zu den von Schmidt analysierten Texten dient in der Constructio nicht die durch die Uhrentechnologie revolutionierte Aufteilung des Tages in 24 Stunden als strukturierender Ausgangspunkt der Gebets- und Andachtsübung, sondern vielmehr die Ordnung der sieben Wochentage, des Kirchenjahres, des Marienlebens und, im Falle der unten genauer erläuterten Nutzung des Textes zur Passionsandacht, der sieben Tagzeiten. Dennoch scheint mir die von Schmidt analysierte zeichenhafte Verschränkung der Zeitebenen der temporalen Logik der Constructio recht nahe zu stehen. 408 Kiening 2007, S. 17. 409 »Figur des Hauses oder Palasts der seligen Maria«. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 373 <?page no="374"?> lichen Gebetszeiten verteilt sei. 410 Hier ergibt sich eine weitere verräumlichende Verschlingung heilszeitlicher Ereignisse mit temporalen Strukturen des klösterlichen Alltags. 411 Zusätzlich sei es viertens angeraten, das gebetete Gebäude als ekklesiologischen Betrachtungsgegenstand zu verwenden: ymaginari possunt eciam vij staciones vij statuum bonorum Christi fidelium in ecclesia militante (Constructio, Z. 85 f.). 412 Indem Dominikus jeder der sieben Kammern einen geistlichen oder weltlichen Stand in der Christenheit zuordnet, ergibt sich den Meditierenden anhand des Gebetspalasts eine Art bildlicher Totale des im Spätmittelalter vorherrschenden »Verständnis[ses] der Kirche als der congregatio fidelium«. 413 Dieses Bild der Gemeinschaft der Gläubigen ist mit dem zugleich vergegenwärtigten, also dem momentanen inneren Erleben des Betenden vermittelten, als auch verallgegenwärtigten, das heißt durch die verräumlichende Verschränkung der Zeitebenen omnipräsent gewordenen Leben Marias und Leiden Christi sinnfällig verschränkt. Der gebetete Palast bezeichnet und umschließt auf diese Weise die Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen, die im Gebet und in der Hinwendung auf Christus und Maria verbunden sind. 414 Marianische, christozentrische und ekklesiologische Sinndimensionen werden anhand des geistlichen Baus somit überschneidend aufgezeigt und laden jeweils zur Versenkung in die mit ihnen verbundenen Heilsgegenstände ein. Viel ambitionierter kann eine Gebets- und Andachtsübung mit allegorischer Bildlichkeit nicht umgehen. Dabei ist das sinnbildliche Gebäude auch als geistlich-konkrete Residenz der Gottesmutter entworfen, durch deren Bau, Einrichtung, Zierde und Pflege sich das Lesepublikum Maria andienen könne. Die Betenden sollen die Prachtarchitektur imaginierend betreten und so in sie immergiert stetig zu ihrer Ausstattung und Verschönerung beitragen. Ebenso wie im Pallium, das in der Handschrift direkt vor der Constructio steht, erläutert Dominikus auch an dieser Stelle seine Konzeption des Gebets als übermaterielles Rohmaterial für geistliche Dinge: Vestes in solempnitatibus beate Marie, de quibus supra fit mencio, sicut et omnes res, que in thalamis eius sunt necessarie, quia spirituales sunt, eciam fieri debent de materiis spiritualibus, videlicet de ymnis suis et psalmo »Eructavit« (Ps 44), ubi fit mencio de vestimentis, et antiffonis et responsoriis congruis. Et debent consui et ornari cum angelica salutacione, pro quolibet nodulo devote repetita: ita quod loco auri et argenti et lapidum preciosorum in monilibus, in 410 Secundum possunt eciam circa prefatos viij thalamos ymaginari vij particule de passione domini secundum vij horas. (»Zweitens kann man sich für die besagten sieben Gemächer auch die sieben Teile der Passion des Herrn gemäß der sieben Tagzeiten vorstellen«, Constructio, Z. 100 f.). 411 Hier ähnelt der Text in seinem Umgang mit Temporalität noch einmal den von Schmidt 2020 untersuchten Texten der Horologium-Tradition. 412 »man kann sich für die sieben oben beschriebenen Gemächer auch die sieben Stände der sieben Ränge der guten Christgläubigen in der streitenden Kirche vorstellen«. 413 Josef Finkenzeller: Art. Kirche IV. Katholische Kirche, in: TRE 18 (1989), S. 227 - 253, hier S. 236. 414 Dies entspricht einem mittelalterlichen Verständnis des umfassenden Charakters der Kirche als communio, dessen Konsequenzen Arnold Angenendt ausskizziert: »Das gemeinsame Gebet wurde zur wechselseitigen Fürbitte, die Anteilnahme am gegenseitigen Geschick zur Stellvertretung in Sühne und Buße, die materielle Unterstützung zu Austausch von Güterschenkungen gegen geistlichen Beistand« (Angenendt 2009, S. 305). Deutlicher noch wird diese ekklesiologische Stoßrichtung der Constructio in der angehängten Rechtfertigung, siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel. 374 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="375"?> colnerio cum salutacione eadem et cum aliis devotis materiis ad placitum eius, qui facit vestes istas. (Constructio, Z. 70 - 76) 415 Der Gedankengang dieser Passage entspricht weitgehend dem, was auch in den Mantelschriften des Autors ausgeführt wird. 416 Geistliche Werkstücke müssen aus dem geistlichen Stoff der Gebete hergestellt werden. Im Fall der beispielhaft angeführten Kleider der Gottesmutter in ihren sieben Gemächern entstehen diese Textilien spezifisch aus dem Text der erwähnten marianischen Hymnen, Antiphonen, Responsorien und Psalmen. Doch nicht allein Wortgewebe und Stoffgewebe werden gleichgesetzt, denn auch die übrige Einrichtung ihres Palasts - der Text verlangt z. B. Wandbehänge und Mobiliar - sowie das Gebäude selbst entstehen aus Frömmigkeitsleistungen. Zudem sind auch andere Andachtsübungen Dominikus ’ von Preußen wie der täglich anzufertigende Rosenkranz und die mit kostbaren Steinen zu verzierende Marienkrone, die wöchentlich im Gebet hergestellt werden soll, Teil der Ausstattung dieses inneren Bauwerks. 417 Physische Materialität wird durch innere Figurationen der Frömmigkeit somit gleichermaßen ersetzt wie übertroffen. Freilich negiert oder schmälert dies keinesfalls den angenommenen Wirklichkeitsstatus der so hergestellten Dinge oder das imaginative Erlebnis der Pracht, die vor den inneren Augen aufscheint. Denn aus verschiedenen devotis materiis wird ein Prunkbau samt Einrichtung erschaffen, dessen exorbitantes Gepränge in der stofflichen Welt kaum möglich wäre. So sind die Wände der einzelnen Gemächer Marias ex aureis cancellis (Constructio, Z. 13) errichtet, 418 es gibt Wandteppiche aus kostbaren exotischen Textilien, deren lateinische Bezeichnungen Dominikus wohl dem Alten Testament entnahm, scilicet bissine, quaedam purpuree, quedam iacintinae, quedam coccinee, quedam polimite, quedam serice et auro intexte (Constructio, Z. 49 f.), 419 und jedes einzelne Zimmer ist mit allerlei preziösen Einrichtungsgegenständen ausgestattet, die ex materiis spiritualibus devotis fieri debent, et si ex solis salutacionibus angelicis videlicet Ave Maria fierent, satis esset (Constructio, Z. 67 - 69). 420 Handwerkliches Beten zeigt sich hier auch als Möglichkeit überbordender und absorbierender Materialimagination, die auf die innere Herstellung gesteigerter sinnlicher Evidenz abhebt. In der Logik des Texts kommt dieser Pracht ein sublimer Wirklichkeitsstatus zu, der zu ihren dingallegorischen Bedeutungsebenen in einem Aufschaukelungsverhältnis steht. Die hierzu immer wieder als materie verlangten Gebetsleistungen sind voraussetzungsvoll. Dominikus setzt bei seinem Lesepublikum nicht allein eine genaue Kenntnis des 415 »Weil sie geistlich sind, müssen die Kleider an den Hochfesten der seligen Maria, die oben erwähnt sind, genau wie alle anderen Dinge, die in ihren Gemächern notwendig sind, auch aus geistlichen Materialien gemacht werden, d. h. aus ihren Hymnen und dem Psalm »[Mein Herz] hat [ein gutes Wort] ausgestoßen« (Ps 44), wo Kleider erwähnt werden, und aus dazu passenden Antiphonen und Responsorien. Und sie sollen mit dem Englischen Gruß zusammengenäht und geschmückt werden, für jedes Knötchen andächtig wiederholt: so anstelle von Gold und Silber und kostbaren Steinen auf dem Halsschmuck [und] auf dem Kragen mit diesem Gruß und mit anderen andächtigen Materialien nach der Vorliebe desjenigen, der diese Kleider macht.« 416 Diese sind ausgiebig oben, Kap. III.3, diskutiert. 417 Vgl. Constructio, Z. 66 f. Zur Corona gemmaria vgl. Klinkhammer 1972, S. 10 f., sowie oben, S. 130; 134. 418 »aus goldenen Wänden« 419 »nämlich solche aus Byssus, solche aus Purpur, solche aus hyazinthfarbenem Tuch, solche aus Scharlach, solche aus buntgewebtem Stoff, solche aus Seide und mit Gold durchwirkt«. 420 »aus andächtigen geistlichen Stoffen gemacht werden sollen, und wenn sie allein aus Englischen Grüßen beziehungsweise Ave Maria entstünden, so genügte das schon«. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 375 <?page no="376"?> lateinischen Psalters und der Cantica voraus, sondern auch einen hohen Grad an Vertrautheit mit liturgischem Liedgut aus dem Bereich der Hymnen, Antiphonen und Sequenzen. 421 Schon deshalb ist wohl auszuschließen, dass dieser Text sich an ein breites Laienpublikum richtete. Wie oben erläutert, müssen als Primäradressaten der Constructio eher Dominikus ’ Mitbrüder angenommen werden, die über die vorausgesetzten Kenntnisse verfügt haben dürften. Dazu passt der ausführliche Anhang dieser Gebets- und Andachtsübung, der insgesamt dreizehn eine derartige Frömmigkeitspraxis rechtfertigende Nutzen und Gründe ausführt. Diese Beigabe ist in erster Linie als theologische Unterfütterung der Constructio zu verstehen, die sie teils typologisch aus der Heiligen Schrift herleitet, die von ihr zu erhoffenden Lektüreeffekte und Heilswirkungen erläutert sowie die Vorstellung des inneren Gebäudes in einem breiteren Diskurs um Ekklesiologie und religiöse Lebensformen situiert. Zunächst finden sich hier einige einleitende Punkte, die einen absorbierenden Effekt des gebeteten Marienpalasts auf die Imaginations- und Gedankenwelt des Betenden hervorstreichen, also seine immersive Qualität betonen. Für die Frage nach der wirkungsästhetischen Stoßrichtung der Constructio und den damit verbundenen Lektüre- und Vollzugsangeboten des Textes sind diese Thesen aufschlussreich. Der Mensch, so lässt sich diese erste Argumentkette zusammenfassen, könne sich - ganz gemäß der augustinischen Aufforderung Noli foras ire, in te ipsum redi 422 - durch die fromme Übung ins innerlich konstruierte Haus zurückziehen, um dort Gott und die Lehren des christlichen Glaubens zu finden. So bezweckten die geistliche Bauarbeit und das gedankliche Verweilen in ihr die Abkehr des Betenden von den Dingen der Welt und eine Hinkehr zur Transzendenz. Das Eintauchen in den vom Text konstruierten Bildraum unterstütze eine solche innere Ausrichtung auf das Heilige, quia per eius [d. i. des geistlichen Hauses] inhabitacionem cito obliviscantur mundi et omnium, que in mundo sunt, et non occupantur leviter factis aliorum et temptacionibus, sicut facerent ociosi. (Constructio, Z. 106 - 108) 423 Entsprechend ist das eindrückliche Bild des Marienpalastes lediglich Mittel zur Ermöglichung eines das Bildliche übersteigenden Transzendenzbezugs. Vergleichbar z. B. mit den letztlich jede gegenständliche Vorstellung überschreitenden Steigerungsstufen des Gebets bei David von Augsburg 424 oder der programmatischen Begründung der Bildrede in Heinrich Seuses Vita, deren allegorische Veranschaulichungen angesichts der Unveranschaulichbarkeit des Göttlichen eben dazu dienen sollen, daz man bild mit bilden us tribe, 425 betont auch Dominikus von Preußen, dass das von ihm entworfene Gebäudebild schlussendlich über sich selbst hinausweise. So diene es den Gläubigen dazu, 421 Alle verlangten Texte sind in der angehängten Edition identifiziert, sie seien deshalb und angesichts ihrer Zahl hier nicht einzeln aufgeführt. 422 »Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! «, Augustinus: De vera religione, S. 122 f. [XXXIX, 72]. 423 »weil sie durch ihr Bewohnen schnell die Welt und alle Dinge, die auf der Welt sind, vergessen und sich nicht leicht mit den Werken anderer und den Versuchungen beschäftigen, so wie es die Müßiggänger täten.« 424 Siehe dazu oben, Kap. I.1. 425 »dass man Bilder mit Bildern austreibe«, Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 191. Siehe dazu ausführlich Lentes 2004. 376 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="377"?> quod cicius pervenire poterunt ad mentis talem serenitatem, quod obliti etiam ymaginibus ipsius domus, ad vera spiritualia cor elevant et deum, qui spiritus est in spiritu et veritate, sicut Christus docet, adorant. (Constructio, Z. 109 - 111). 426 Die Umwandlung sprachlicher Darstellung in Aisthesis im Zuge der vom Text angebotenen immersiven Lektüre soll dementsprechend zur Einnahme einer inneren Haltung anregen, die gerade ein Loslösen von aller Sinneswahrnehmung ermöglicht und auf eine wirkliche Geistlichkeit (vera spiritualia) jenseits des Ästhetischen abhebt. Das Bild des Hauses dient somit als Mittel zu einer weltabkehrenden Annäherung an die Bildlosigkeit des Göttlichen, wobei seine allegorische Sinnebene auf die Glaubenswahrheiten der Heiligen Schrift weist, denen das Publikum sich statt der irdischen Dinge zuwenden soll. So führt Dominikus aus, dass die Betenden in ipsius domus quatuor partibus et omnibus in ea signatis concordiam sacre totius scripture semper reperiunt, ita quod omne, quod legitur vel cantitur, locum ibi poterit invenire (Constructio, Z. 112 - 114). 427 Damit ordnet sich die Constructio in einen Traditionsstrang ein, dem auch z. B. die Archenschriften Hugos von St. Viktor und vergleichbare mnemotechnische Gebäudetexte angehören. 428 Aus dieser Perspektive erscheint der Marienpalast als diagrammhafte Veranschaulichung der Bibel, die der memorierenden Verinnerlichung und verräumlichenden Indexikalisierung der Heiligen Schrift dient. Die architektonische Figur, die im Gebet erstellt wird, erlaubt somit nicht nur ein Eintauchen in die sich selbst übersteigernde Bildwelt des prachtvollen Baus und ein vergegenwärtigendes Versenken in das durch ihn versinnbildlichte Leben Marias, in die Passion Christi und in die allumspannende Kirche, sondern auch eine Vertiefung in den biblischen Text und seine Lehren. Daher sei es, so führt der Text aus, unter Zuhilfenahme des inneren Bauwerks auch einfacher, sich aufmerksam auf das Bibelstudium zu konzentrieren et distracciones melius vitare (Constructio, Z. 119). 429 Neben diesen Rechtfertigungen führt der Kartäuser noch insgesamt neun weitere Punkte auf, die zusammengefasst allesamt auf die gesteigerte Heilswirksamkeit des Betens in der Gemeinschaft der Kirche abheben. Dies knüpft zunächst an die ekklesiologische Sinndimension der Constructio an. Denn der einzelne Betende, so argumentiert Dominikus, konstruiere nicht allein in und aus seiner Frömmigkeitspraxis ein imaginiertes Haus, das die gesamte Kirche bedeute - er bete, wenn er die verlangten Texte spreche, vielmehr auch für und zusammen mit seiner ganzen Glaubensgemeinschaft, so dass er sich als membrum Cristi et corporis eius et eiusdem ecclesie (Constructio, Z. 122) erkenne. 430 Das dergestalt aus der Polyphonie der gesamtem Christenheit heraus geleistete Gebet finde 426 »dass sie schneller zu einer so heiteren Ruhe des Herzens gelangen werden können, so dass auch die, die vergessen haben, durch die Bilder dieses Hauses das Herz zu wahrhaft geistlichen Dingen aufrichten und Gott ehren, der da der Geist im Geiste ist und in der Wahrheit, wie Christus sie lehrt.« 427 »in den vier Teilen dieses Hauses und allem in ihm Bezeichneten stets eine Zusammenstellung der gesamten Heiligen Schrift entdecken, so dass alles, was gelesen oder gesungen wird, da einen Platz wird finden können«. Weshalb Dominikus hier von den vier Teilen des Hauses spricht, ist angesichts der vorangehenden Schilderung, die wie oben ausgeführt acht Wände und sieben Zimmer erwähnt, nicht vollends klar. Womöglich hat der Autor die vier zuvor ausgedeuteten Sinnebenen des Gebäudebildes (Literalsinn, Kirchenjahr nach dem Marienleben, Tagzeiten zur Passion, Aufbau der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen) im Sinn gehabt, vielleicht spielt er aber auch z. B. auf die vier Jahreszeiten an. 428 Vgl. oben, Kap. IV.3.2; sowie ausführlich Carruthers 1990. 429 »und Ablenkungen besser zu vermeiden«. 430 »Glied Christi und seines Körpers und derselben Kirche«. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 377 <?page no="378"?> deshalb eher Gehör bei Gott, lasse dem Betenden ebenso wie denen, für die er bete, größeres Heil zuteilwerden und mache ihn zum Nutznießer aller Gnadenschätze der Kirche. Es schütze zudem durch die geistliche Gemeinschaft der Gläubigen auch vor dämonischer Anfechtung und verbinde, in Anspielung auf das berühmte Körpergleichnis des Paulus, die Christenheit in »Teilhabe am Leib Christi« 431 untereinander wie die Gliedmaßen eines einzigen Körpers. 432 Hieran zeigt sich auch eine spezifisch kartäusische Stoßrichtung des Texts. Im Zusammenspiel von individueller Interiorität der Gottessuche und der Gemeinschaftlichkeit des gegenseitigen Betens fügt sich die Constructio ein in jenes für die monastische Lebensform der Kartäuser charakteristische »funktional[e] Zusammenwirken« von Vereinzelung und Miteinander, das Gert Melville wie folgt charakterisiert: »In der Abgeschiedenheit sollte Gott im Inneren der individuellen Seele gefunden, in der Gemeinschaft seine Herrlichkeit gepriesen werden.« 433 Ein je für sich erbrachter Akt der Frömmigkeit dient somit einerseits der individuellen Hinwendung zur Transzendenz, fügt sich andererseits aber auch in ein Konzert des gemeinschaftsstiftenden und -fördernden Gotteslobs ein. Frei von Ordensrivalitäten ist dieses Lob der architektonischen Gebets- und Andachtsübung und ihrer gnadenbringenden Wirkung sowohl für den einzelnen Betenden wie auch die Gemeinschaft aller Gläubigen nicht. Denn in polemischem Gestus kontrastiert Dominikus von Preußen das private Gebet mit und für die gesamte Christenheit mit der öffentlichen Predigt. Streitbar kommt er zu dem Schluss, dass derjenige utilior est et fructuosior in sancta ecclesia in secreto sic semper laborans in persona ecclesie, quam si in civitate publice predicaret (Constructio, Z. 133 f.). 434 Dieses Postulat einer grundlegenden Superiorität des zurückgezogenen, nach innen gekehrten Betens gegenüber der Tätigkeit des Predigens muss als kartäusischer Seitenhieb gegen die Lebensform der Mendikantenorden verstanden werden. Dabei gilt die Kritik vor allem den Dominikanern, deren institutioneller Fokus derart auf Predigt und Seelsorge lag, dass Humbert von Romans gegen Mitte des 13. Jahrhunderts hervorstrich: Studium enim est ordinatum ad praedicationem; praedicatio, ad animarum salutem, quae est ultimus finis. 435 Wenn Dominikus von Preußen im achten und längsten Rechtfertigungspunkt zur Constructio nun ein geradezu entgegengesetztes Modell des religiösen Lebens aufzeigt, setzt er an die Stelle der öffentlichen Predigt, also der C vel M homilias, de quorum tamen vix unus et sepe nullus convertitur (Constructio, Z. 145 f.), die akkumulierte Gnadenwirkung der Gebete derjenigen, die vero in secreto opere cum sancta ecclesia et in eius persona fideliter labora[nt] 431 Angenendt 2009, S. 304. 432 Dominikus referiert hier auf I Cor 26. Das gebethaft errichtete Gebäude wird auf diese Weise als Erfüllungsinstrument des apostolischen Gleichnisses von der Kirche als organischer Körperstruktur präsentiert. 433 Melville 2012, S. 96 f. 434 »der sich so stets im Geheimen für die Kirche anstrengt, in der heiligen Kirche nützlicher und fruchtbarer ist, als wenn er in der Stadt öffentlich predigte«. 435 »Das Studium zielt hin auf die Predigt, die Predigt auf das Heil der Seelen, was das letztendliche Ziel ist«, Humbertus de Romanis: Expositio super constitutiones fratrum praedicatorum, in: B. Humberti de Romanis Opera de vita regulari, Bd. 2, hg. v. Joseph Berthier, Rom 1889, S. 1 - 178, hier S. 28. 378 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="379"?> (Constructio, Z. 147 f.). 436 Dienst am Nächsten und an der Gemeinschaft bestehe, so der Kartäuser, eben nicht vornehmlich in äußeren Werken, sondern in der als Fürbitte verstandenen Hinwendung zu Gott, die in dem Vertrauen erfolge, dass andere Christen das Gleiche täten und somit alle guten Gläubigen der Gnade zuführten. Wer nun so bete, der verwirkliche damit tatsächlich, was die Prediger bloß in foris predicant et heu parvum faciunt (Constructio, Z. 151 f.), trage also zum Seelenheil der gesamten Kirche bei. 437 Dass Dominikus von Preußen diese Polemik gerade mit einem predigtkritischen Zitat aus dem Horologium sapientiae des Dominikaners Heinrich Seuse einleitet und seine Thesen unterfüttert z. B. durch Verweise auf das Neunfelsenbuch des im Umfeld der dominikanischen Mystik schreibenden Rulman Merswin und eine Margareta reclusa (Constructio, Z. 149), hinter der sich möglicherweise Margaretha Ebner verbirgt, ist als rhetorische Strategie zu begreifen. 438 Der Überlegenheitsanspruch des auf Zurückgezogenheit und Innenschau in der vita contemplativa fokussierten Lebensideals der Kartäuser wird hier durch selektiven Rückgriff auf die Innerlichkeitsdiskurse des rivalisierenden, auch in der Welt tätigen Predigerordens untermauert. 439 In vergleichbare Richtung geht auch eine Bemerkung zum religiösen Armutsideal, die auf der zeitgenössisch vieldiskutierten Seligpreisung der Armen im Geiste in der Bergpredigt Jesu aufbaut. 440 Ein wahrhaft Armer im Geiste sei allein derjenige, postuliert Dominikus von Preußen, der nicht nur alles weltliche Eigentum an die Gemeinschaft weggebe, sondern auch seine geistlichen Güter verteile, also sein Gebet, das er als Fürbitte für andere leiste und so an die Gesamtheit der Kirche verschenke. 441 Genau wie auch jenen, die in materieller religiöser Armut lebten, die notwendigen Verzehrgüter von der Kirche wieder zum Gebrauch überlassen würden, werde freilich auch einem dergestalt Armen im Geiste, der allein für die congregatio fidelium bete, aus dem Eigentum der Kirche zuteil, was er zum Heil der eigenen Seele brauche. 442 Hier rekurriert die Constructio auf die mendikantisch geprägten Debatten um religiöse Armut, die sich einerseits an der im franziskanischen Armutsstreit gipfelnden »juristische[n] Fiktion« entzündeten, »dass aller Besitz des Ordens [d. h. der Franziskaner] Eigentum der Römischen Kirche sei«, 443 436 »hundert oder tausend Predigten, durch die doch kaum einer und meistens gar keiner bekehrt wird »; »wahrhaft in geheimem Werk mit der heiligen Kirche und für sie treu sich bemüh[en]«. 437 »in der Öffentlichkeit predigen und leider schlecht tun«. 438 Vgl. Constructio, Z. 134 - 137; 148 f. 439 Eine Betrachtung z. B. der kritischen Auseinandersetzung Seuses mit der Predigtpraxis des eigenen Ordens findet sich bei Walter Senner OP: Heinrich Seuse und der Dominikanerorden, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2. - 4. Oktober 1991, hg. v. Rüdiger Blumrich u. Philipp Kaiser, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), S. 3 - 31. 440 Vgl. Mt 5,3: beati pauperes spiritu. 441 Vgl. Constructio, Z. 168 f.: Talis enim vere est pauper spiritum, quia non solum temporalia sua ad communitatem tribuit, sed eciam spiritualia bona, que agit. (»Derart beschaffen ist nämlich ein wahrhaft Armer im Geiste, weil er nicht bloß seine irdischen Besitztümer an die Gemeinschaft verteilt, sondern auch die geistlichen Güter, die er schafft«.) 442 Vgl. Constructio, Z. 170 - 172: Idcirco sicut temporalium necessitates sibi retribuuntur pro victu et amictu, eo quod propria iam non habet et ita et spiritualia sibi beneficia ex communitate sancte ecclesie sibi condividuntur. (»Genau wie ihm deshalb die Notwendigkeiten des Irdischen für Nahrung und Kleidung erstattet werden, er trotzdem aber weiterhin kein Eigentum hat, so werden ihm auch seine geistlichen Wohltaten aus der Gemeinschaft der heiligen Kirche heraus zugeteilt«.) 443 Melville 2012, S. 251; vgl. zum Armutsstreit auch ebd., S. 251 - 254. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 379 <?page no="380"?> weshalb den Ordensmitgliedern allein das Recht zu einem maßvollen Gebrauch (usus moderatus) an diesen Gütern zustünde. Andererseits wurde dieser Diskurs durch Meister Eckhart und die dominikanische Mystik des 14. Jahrhunderts in Richtung einer umfassenden Spiritualisierung des Armutskonzepts getrieben, die » › Armut ‹ auf eine geistig begründete Lebensform hin auslegt, die jeder einzelnen Handlung und somit auch dem Gebrauch der Dinge vorausliegt«. 444 Dominikus von Preußen nun zeigt im 15. Jahrhundert eine etwas weniger komplexe Konzeption innerer Armut auf, die nicht wie bei Eckhart einen sich auf die Entbildung hin zum Göttlichen zuspitzenden Zustand meint, in dem der Mensch niht enwil und niht enweiz und niht enhât. 445 Stattdessen hebt er in auf Übersteigung angelegter Analogie zum franziskanischen Armutskonzept ab auf den grundsätzlichen Verzicht auf Eigentum an geistlichen Dingen, das heißt an primär für das eigene Seelenheil geleisteten Frömmigkeitsakten. Auch hier führt der Kartäuser also eine idiosynkratische Gegenperspektive auf, die sich durch ihre Fokussierung auf für die Gemeinschaft geleistete individuelle Frömmigkeitspraxis vom Diskurs der Franziskaner abgrenzt. Auch weitere Aspekte der Constructio, beispielsweise das Kirchenverständnis dieses Textes oder seine typologische Bezugnahme auf biblische Bilder und Ereignisse, verdienten nähere Analyse. Allerdings führten derlei Exkurse zu weit weg vom eigentlichen Interesse dieser Untersuchung, also dem Entwurf eines im Menschen durch Gebet und Andacht errichteten geistlichen Bauwerks. In Bezug hierauf reiht sich, um zusammenzufassen, dieser Text zunächst in eine Traditionslinie christlicher Gebäudeallegorik ein, die sich vom Neuen Testament über die Gebäudetraktate des Hochmittelalters bis hin zu den vielfältigen spätmittelalterlichen Herzklosterallegorien nachvollziehen lässt und dabei die Begegnung des Menschen mit Gott grundlegend als formende Hinkehr zur eigenen Innerlichkeit begreift. Freilich jedoch erweitert und kombiniert der Trierer Kartäuser dieses Gebäudemotiv sowohl um ein immersives Wirkungsangebot, das von der sprachlich als innere Figuration der Frömmigkeit angeleiteten Prachtarchitektur stimuliert wird, als auch um mehrschichtige, am Modell des vierfachen Schriftsinns orientierte Bedeutungsdimensionen, die den Marienpalast als vielfältig allegorisierten Meditationsgegenstand anbieten. So nämlich veranschaulicht das innere Gebäude, dessen imaginierte Gestalt durch den Jerusalemer Felsendom präfiguriert ist, gleichzeitig auch die durch Engführung mit den Zeitstrukturen von Tag, Woche und Kirchenjahr permanent vergegenwärtigten Ereignisse der Passion Christi und des Marienlebens sowie schließlich die Totalität der daran teilhabenden Kirche. Das Motiv des geistlichen Baus ist hier in einer Gebets- und Andachtsübung realisiert, die in ihrer Komplexität ebenso wie ihrem universellen Heilsvermittlungsanspruch, der in den angehängten Rechtfertigungspunkten erläutert ist, weit über anlassspezifische Frömmigkeitskonstruktionen wie die Geistliche Padstube oder das anschließend untersuchte Geistliche Weihnachtshaus hinausgeht. 444 Hasebrink 2015, S. 440. 445 »nichts will und nichts weiß und nichts hat«, Meister Eckhart: Werke I, Texte und Übersetzungen v. Josef Quint, hg. u. kommentiert v. Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 2008 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 24), S. 550 f. 380 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="381"?> 4.4 Adventsvorbereitung auf die Eingeburt Christi: Das Geistliche Weihnachtshaus Die Kontextualisierung des niederdeutschen Geistlichen Weihnachtshauses bereitet Schwierigkeiten. Der Text ist unikal in einer Handschrift des beginnenden 16. Jahrhunderts überliefert, deren genaue Provenienz zwar bislang ungeklärt bleibt, die in ihrem Sprachstand jedoch, wie Wieland Schmidt ausführt, eine westfälische Herkunft nahelegt. 446 Aus der Verwendung weiblicher Formen für verschiedene Klosterämter und der Bezeichnung susteren (GWH, Z. 92) für die Betenden lässt sich schließen, dass die Übung primär für eine Gemeinschaft weiblicher Monialen verfasst wurde. Mehrfache Zitate aus der Benediktsregel sowie die Benennung des heiligen Benedikt als unse hylge vader (GWH, Z. 32 f.) weisen außerdem auf einen benediktinischen oder zisterziensischen Hintergrund. 447 Aus welchem Frauenkloster genau die Handschrift jedoch stammt, liegt im Dunkeln. Auch Rückschlüsse über die Autorschaft oder eine genaue Datierung des Texts sind angesichts der spärlichen Überlieferungslage nicht recht möglich. Allerdings lassen Inhalt und Form des Geistlichen Weihnachtshauses sowie des mit ihm im Verbund überlieferten fragmentarischen Marienmanteltextes 448 es unwahrscheinlich erscheinen, dass diese Schriften aus einer Zeit vor der Mitte des 15. Jahrhunderts stammen, also älter wären als die ersten besser belegten geistlichen Übungen, die den entsprechenden Motivtraditionen folgen. 449 Ähnlich wie die Geistliche Padstube ist auch das Geistliche Weihnachtshaus explizit für den klosterinternen Gebrauch bestimmt. Dabei ist diese Gebetsübung an einen bestimmten Zeitpunkt im Kirchenjahr gebunden. Der Text führt aus, man solle ihn am Samstag vor 446 Berlin, SBB - PKB, mgq 762, fol. 125r - 129v. Das Geistliche Weihnachtshaus ist im Anhang übersetzt und abgedruckt und wird folgend im Fließtext als › GWH ‹ zitiert. Die Handschrift enthält neben diesem Text und dem bereits erwähnten fragmentarischen Marienmantel (fol. 129v - 132v; vgl. oben, Kap. III.4) einen Auszug aus den Vierundzwanzig Alten Ottos von Passau sowie acht niederdeutsche Predigten für verschiedene Festtage und Heilige. Sie ist aus Lagen unterschiedlicher Schreiberhände und unterschiedlichen Papiers zusammengebunden, wobei die hier interessierenden fol. 125r - 132v einen zusammengehörigen Faszikel bilden. Das fragmentarische Wasserzeichen dieser Blätter (gekröntes Wappen mit Schnörkelornamenten) ist mithilfe der einschlägigen Wasserzeichenkataloge leider nicht zu identifizieren, legt in seiner Gestaltung jedoch nahe, dass auch dieser Teil der Handschrift ungefähr zeitgleich zu den übrigen Faszikeln entstanden sein dürfte, die sich durch Wasserzeichenanlyse gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts datieren lassen. Vgl. zur Handschrift vor allem die kurze Beschreibung in Die vierundzwanzig Alten Ottos von Passau, hg. v. Wieland Schmidt, Leipzig 1938 (Palaestra 212), S. 210 f. Der Katalogeintrag bei Hermann Degering: Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preussischen Staatsbibliothek. II. Die Handschriften in Quartformat, Leipzig 1926, S. 135, entspricht zwar nicht modernen Standards der Handschriftenbeschreibung, gibt jedoch eine nützliche Inhaltsübersicht und belegt eine jüngere Provenienz der Handschrift aus der Sammlung Friedrichs von der Hagen. Ein Besitzeintrag des 19. Jahrhunderts auf fol. 1r. (v. Westrem) weist auf einen Vorbesitzer aus dem bei Datteln im nördlichen Ruhrgebiet begüterten westfälischen Adelsgeschlecht von Westrem zum Gutacker. Hier aber endet leider die von mir rekonstruierbare Provenienzkette. 447 Die Handschrift Berlin, SBB - PKB, mgq 762 enthält auf fol. 93r - 106v zudem eine Predigt auf den Gedächtnistag des heiligen Benedikt (Rubrik: Up den dach der gedechtnysse unses gloryosen hylgen vaeders benedicti. Eyn sermoyn, ebd., fol. 93r). Dies erhärtet die Annahme eines benediktinischen oder zisterziensischen Hintergrundes zusätzlich. 448 Vgl. Berlin, SBB - PKB, mgq 762, fol. 129v - 132v. 449 Darüber, ob es sich hierbei um Texte des 15. Jahrhunderts handelt, die bloß in einer jüngeren Abschrift vorliegen, oder um erst im 16. Jahrhundert entstandene Nachfolger der handwerklichen Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters, lässt sich keine Aussage treffen. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 381 <?page no="382"?> dem ersten Advent (des saterdages vor der advent, GWH, Z. 2) lesen und in den Folgewochen dann wie instruiert in Vorbereitung auf Weihnachten kollektiv ein geistliches Haus aus Gebeten und weiteren Frömmigkeitsleistungen konstruieren, dar wy de juffer maria in untfengen, als se er leve kynt geberen sal (GWH, Z. 4 f.). 450 Die Geburt Christi, von der die Evangelien berichten (vgl. Lc 2,1 - 7; Mt 2,1 - 12) und dabei ein Haus (domus, Mt 2,11) bzw. die Krippe außerhalb der bereits voll belegten Herberge (praesepium, diversorium, Lc 2,7) erwähnen, bildet hierbei den biblischen Referenzpunkt des gebeteten Gebäudes. 451 Somit soll die Adventszeit, so ließe sich die Dynamik des Geistlichen Weihnachtshauses greifen, von den Schwestern gemeinsam dazu genutzt werden, ein inneres Haus zu errichten, in das der Gottessohn zu Weihnachten hineingeboren werden kann. Dass ähnliche Übungen in Frauenklöstern des Spätmittelalters auch z. B. im deutschsprachigen Südwesten gängig waren, illustriert die Vita der Margret von Zürich im Tösser Schwesternbuch, einer »vom 14. ins 15. Jh. gewachsene[n] Sammlung von 33 hagiographisch orientierten Gnadenviten einzelner auserwählter Nonnen des Dominikanerinnenklosters Töss« in Winterthur. 452 Dort heißt es, der mystisch begabten Nonne sei von ihren Schwestern aufgetragen worden, ze dem adfent únserm heren das ba ᵉ dly ze machen (als wir gewonhait hand im gaistlichen ze machen ain hus und alles das des er mangel hat, do er uff ertrich was). 453 Bereits lange vor der Niederschrift des Geistlichen Weihnachtshauses im 16. Jahrhundert, so legt diese Bemerkung nahe, scheinen die Tösser Dominikanerinnen eine vergleichbare Frömmigkeitspraxis für die Adventszeit gepflegt zu haben, in deren Rahmen die einzelnen Schwestern jeweils Teilelemente zu einer imaginierten Gesamtarchitektur beifügten. Wie genau sich die Übung, an der Margret von Zürich beteiligt gewesen sein soll, gestaltete, geht aus dem Schwesternbuch freilich nicht hervor. Das Geistliche Weihnachtshaus hingegen erlaubt hier detaillierte Einblicke. Dieser Text, der in allen Einzelheiten ausführt, wie das geforderte Pensum an Gebeten und sonstigen Akten der Devotion unter den individuellen Klosterinsassen aufzuteilen sei und was für Ausnahmen dabei gemacht werden müssten, gibt exemplarisch Aufschluss sowohl über Umfang und Charakter als auch über die praktische Organisation derartiger weihnachtlicher Gebetsgebäude im monastischen Kontext. Auffällig ist zunächst, dass die in der zeitgenössischen bildenden Kunst so verbreitete Krippenszene in dem niederdeutschen Text trotz seines weihnachtlichen Anlasses kaum 450 »in dem wir die Jungfrau Maria empfangen, wenn sie ihr liebes Kind gebären soll.« 451 Die bereits im Mittelalter populäre Ausschmückung der Weihnachtsgeschichte samt Lokalisierung im Stall und Erwähnung von Ochs und Esel geht auf die apokryphen Kindheitsevangelien zurück; vgl. dazu Gerhard Schneider (Hg.): Apokryphe Kindheitsevangelien. Evangelia infantiae apocrypha, Freiburg i. Brsg. 1996 (Fontes Christiani 18), S. 198 f. und 226 f.; sowie einführend Jens Schröter: Die apokryphen Evangelien: Jesusüberlieferungen außerhalb der Bibel, München 2020. Überraschenderweise spielen die hier ihren Ausgang nehmenden Weihnachtsmotive im Geistlichen Weihnachtshaus keine Rolle. 452 Alois M. Haas: Art. Stagel, Elsbeth OP, in: 2 VL 9 (1995), Sp. 219 - 225, hier Sp. 224. 453 »in der Adventszeit unserem Herren das Bad zu machen (so wie wir die Gewohnheit haben, ihm geistlich ein Haus zu machen sowie alles, dessen er Mangel litt, als er auf der Erde war«), Das Leben der Schwestern zu Töß, beschrieben von Elsbet Stagel samt der Vorrede von Johannes Meier und dem Leben der Prinzessin Elisabet von Ungarn, hg. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 6), S. 36. 382 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="383"?> präsent ist. Eher als der Nativitätsikonographie gleicht das vom Text entworfene Gebäudebild einem generischen Fachwerkhäuschen. 454 Die Reihenfolge der architektonischen Elemente, für die spezifische Frömmigkeitserweise erbracht werden sollen und aus denen sich das Weihnachtshaus allmählich zusammenfügt, folgt weitgehend der Bildlogik des Bauvorgangs. So werden zuerst die Vorbereitung des Bauplatzes und das Fundament genannt, anschließend folgen xij columnen (GWH, Z. 18), 455 die hier wohl als Ständerbalken vorzustellen sind, je zwei Seiten- und Giebelwände, eine Dachpfette, das Dach sowie eine nicht näher definierte Anzahl an Fenstern und Verzierungen. Ekphrastische Ausschmückungen, die absorbierende Raum- und Materialimaginationen heraufbeschwören würden, unterbleiben ebenso konsequent wie bildliche Schilderungen von Konstruktionsarbeiten oder sonstigen Handlungsvorgängen, wie sie z. B. in der Geistlichen Padstube prominent auftreten. Ausgestattet wird das Weihnachtshaus schließlich mit ebenfalls nicht näher geschilderter Inneneinrichtung, einem Bettchen für das Jesuskind, zu dem jede Schwester ix dage silencium (GWH, Z. 80 f.) 456 beiträgt und das verwandte geistliche Übungen zur Wiege Christi anklingen lässt, 457 sowie mit mannygerleye spyse (GWH, Z. 88), 458 womit dieser Text auch an die Tradition der geistlichen Speisegebete und -andachten anschließt. 459 Somit bleibt das Weihnachtshaus auf der Bildebene seiner Gestalt und Einrichtung weitgehend allgemein. Das hier evozierte Gebäudebild enthält, anders z. B. als der achteckige, auf den Felsendom weisende Marienpalast des Dominikus von Preußen, keine sinnstiftende Referenz auf konkrete Vorbilder. Auch eine explizite Allegorese der einzelnen Bestandteile des Hauses, wie sie gattungscharakteristisch wäre, fehlt überwiegend. Allenfalls in wenigen Passagen ergibt sich überhaupt ein rudimentärer »Bezug dieser Bildelemente auf einen geistlichen Sinn«, 460 der dieser Übung eine allegorische Note verleiht. Beispielsweise erwähnt der Text beiläufig, das Haus habe zwölf Ständerbalken, wante marien geborte ys upgegaen van xij konynges geslechte (GWH, Z. 18 f.). 461 Dies stellt einen sinnbildlichen Bezug zum Stammbaum Christi und Marias her, der zeitgenössisch meist als Wurzel Jesse dargestellt wurde. 462 Abgesehen von solchen vereinzelten dingallegorischen Basalverbindungen, die ihre Referenz zumeist über numerische Verhältnisse etablieren, werden die Bauteile des Weihnachtshauses der Regel nach zwar benannt und mit teils durch Bibelzitate oder Verweise auf die Benediktsregel begründeten Instruktio- 454 Vgl. z. B. die Beispiele bei Heinrich Stiewe: Fachwerkhäuser in Deutschland: Konstruktion, Gestalt und Nutzung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2 2015. 455 »zwölf Säulen« 456 »neun Tage Schweigen«. 457 Beispiele für eine geistliche Wiege sind untersucht bei Lentes 1996, S. 474 - 480; sowie Lentes 1993, S. 129 - 135. Das »Material«, das ein geistlicher Wiegentext aus dem Straßburger Kloster St. Nikolaus in undis fordert, sind dabei »nicht allein Gebete, sondern auch die Tugenden der Beter« (Lentes 1993, S. 129). Zudem soll diese Wiege auch während der Adventszeit gefertigt werden. Hier bestehen auf der Vollzugsebene also recht eindeutige Überschneidungen mit architektonischen Gebets- und Andachtsübungen. 458 »vielerlei Speisen«. 459 Vgl. zu diesem Thema Buschbeck 2021. 460 Schmidtke 1982, S. 280. 461 »denn Marias Geburt ist aufgegangen aus zwölf königlichen Geschlechtern«. 462 Zu derartigen marianischen Stammbäumen, die wesentlich an Is 11,1 - 10 anknüpften, vgl. mit zahlreichen Beispielen Beissel 1909, S. 567 - 578. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 383 <?page no="384"?> nen dazu verbunden, welche Frömmigkeitsleistungen zu erbringen seien. Eine allegorische Auslegung, wie sie für viele vergleichbare Texte zentral ist, wird jedoch ausgelassen. Die Gebete, Andachten und Askesehandlungen, die das Geistliche Weihnachtshaus fordert, sind vergleichsweise simpel. Anders als in den beiden vorweg behandelten architektonischen Gebets- und Andachtsübungen wird keine besondere Kenntnis eines breiteren Textkanons vorausgesetzt. Neben Standardformeln wie dem Ave Maria, dem Salve regina oder dem Paternoster beschränken sich die verlangten Gebete auf einzelne Psalmen oder Psalmengruppen sowie wenige sehr gebräuchliche Hymnen wie das Veni sancte spiritus oder das Ave maris stella. 463 Wenn das Weihnachtshaus z. B. psalteren van misereren (GWH, Z. 21) oder einen psalter van misericordias domini (GWH, Z. 28) erwähnt, dann meint psalter wohl schlicht eine hundertfünfzigfache Wiederholung der genannten Gebetsformel. 464 Neben diesen Gebeten, für die meist spezifiziert wird, ob alle teilnehmenden Klosterfrauen oder nur einzelne Personen oder Personengruppen sie erbringen sollen, müssen zudem ein recht hohes Schweige- und Beichtpensum, eine dissiplina (GWH, Z. 10) und mehrere dodekens (GWH, Z. 87) 465 sowie eine Reihe von Meditationsübungen zum geistlichen Bauwerk beigetragen werden. Letztere gestalten sich mitunter recht komplex, beispielsweise wenn für die Verzierungen des Weihnachtshauses jede Nonne eine Stunde schweigen und die sieben Bußpsalmen beten soll, wobei sie aufgefordert ist, sich das Leben und Leiden Christi vor Augen zu rufen. Als Hilfsmedium zu dieser christozentrischen Andachtsübung wird der Rosenkranz anempfohlen, wobei aus dem Kontext hervorgeht, dass damit eine Form des auf Dominikus von Preußen zurückgehenden Leben-Jesu-Rosenkranzes gemeint sein dürfte. Zusätzlich soll jeder Psalm mit der Betrachtung eines der sieben Blutvergießen Jesu, eines der Kreuzesworte, einem der Schmerzen Marias, einer der Erscheinungen des auferstandenen Christus und einer der Gaben des Heiligen Geistes verbunden werden: Dyt huseken moit bynnen versyrt syn myt mannygerleye syrheit. Dar to wylle wy enen yderen ordineren ene ure silencium to holden, flytelycken to betrachten dat leven, lyden und waldaden unses leven heren, eyn yder na syner gelegenheyt. Hyr to wylle wy ordineren de genen, de dat byblyven des herten so nycht en hebben, dat wy andechtlycken lesen den rosenkrans, dar doch dat leven und lyden und waldaden vele gealligeret werden. Und dar to ene seven psalmen vor unse sunde, in de er der seven blotstortyngen unses heren unde der seven worde he sprack an dem cruce, de vij bedröffnysse unser leven frouwen, de se hadde under dem cruce, de vij apenbarynge, de unse leve here dede na syner verrysynge, do he synen discipulen gaff de vij gaven des hylgen geystes. 466 (GWH, Z. 38 - 46) 463 Zur weiten Verbreitung letzteren Textes siehe ausführlich Rothenberger 2019. 464 »Psalter aus Miserere«, »Psalter aus Misericordias Domini (Ps 89,2)«. Dies entspricht z. B. Alanus ’ von Rupe Bezeichnung › Marienpsalter ‹ für eine Reihe von 150 Ave Maria, vgl. oben, Kap. II.4.1. 465 Mit dissiplina ist hier ein Akt der Selbstgeißelung gemeint, während die dodekens (wörtl. »Tode«) wohl einen Askese- oder Entsagungsakt bezeichnen, dessen genauer Charakter sich aus dem Text nicht erschließt. 466 »Das Häuschen muss innen mit vielerlei Zierrat geschmückt sein. Dazu wollen wir einen jeden dazu anweisen, eine Stunde Stille einzuhalten, fleißig das Leben, das Leiden und die Wohltaten unseres lieben Herren zu betrachten, ein jeder nach seinen Umständen. Hierzu wollen wir diejenigen, die so viel Aufmerksamkeit des Herzens nicht haben, dazu anweisen, dass wir andächtig den Rosenkranz lesen, worin doch das Leben und das Leiden und die Wohltaten vielfach bezeichnet sind. Und dazu einmal die sieben Psalmen für unsere Sünden zu Ehren der sieben Blutvergießen unseres Herrn und der sieben Worte, die er am Kreuz sprach, der sieben Schmerzen unserer lieben Frauen, die sie unter 384 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="385"?> Kennzeichnend ist an dieser Passage, dass zwischen den Verzierungen an dem geistlichen Gebäude und den verlangten Frömmigkeitsleistungen keine bildlogische Verbindung hergestellt wird. Das Gebäudemotiv dient vornehmlich der Strukturierung und Disposition der instruierten Übung. Seine Sinnbildlichkeit tritt hierbei in den Hintergrund bzw. wird durch die Bildlichkeit des Rosenkranzes ersetzt, der ja wie oben ausgeführt eine komplexe christozentrische Meditationsübung anleitet. Zwischen den einzelnen Psalmen und Betrachtungspunkten jedoch werden über die Siebenzahl als tertium comparationis vielschichtige Bezüge aufgebaut. So supplementieren die durchgängig auf das Oster- und Pfingstgeschehen bezogenen fünf Siebenergruppen von Meditationsgegenständen die sieben Bußpsalmen, durch die sie zudem übergreifend geordnet und gerahmt werden. 467 Die Verbindung dieser Listen von Betrachtungspunkten ist teils wohl vorgängig - eine adaptatio septem donorum Spiritus Sancti ad apparitiones Domini resurgentis findet sich bereits bei Bernhard von Clairvaux, und es ist davon auszugehen, dass das Geistliche Weihnachtshaus auf diese Tradition zurückgreift. 468 Wie der Text anschließend vorgibt, ist jeder Siebenerliste neben den Bußpsalmen auch ein kurzes Standardgebet zugeordnet, das zu den jeweiligen Punkten dargebracht werden soll. Beispielsweise wird bei der Betrachtung der Kreuzesworte so je das Paternoster gebetet, zu den Schmerzen Marias das Ave Maria und für die Gaben des Heiligen Geistes die Pfingstsequenz Veni sancte spiritus (vgl. GWH, Z. 50). Im Effekt fügt sich diese Verbindung von Psalmen- und Formelbeten mit in Punkte gegliederten Betrachtungen zu einer Christusmeditation zusammen, in deren Rahmen die Betenden die Ereignisse von Kreuzigung, Auferstehung und Pfingstgeschehen vergegenwärtigen und sich darein versenken. Durch das Psalmenbeten vor unse sunde (GWH, Z. 43) werden sie zugleich in eine Affekthaltung von Reue und Buße versetzt. Eine horizontale Vermittlungsebene, die so einen immersiven Prozess innerer Wahrnehmung und Affizierung stimuliert, ist hierbei untrennbar verflochten mit einer vertikalen Medialisierung der rhetorisch geformten Hinwendung zu Gott im Gebet und der inneren Figuration seines Geburtshauses. Die Stunde des Schweigens, die der Text von den Betenden fordert, schafft dafür den temporalen Rahmen. Ein solches Verfahren ist charakteristisch für das Geistliche Weihnachtshaus. Die geistliche Konstruktion der einzelnen Bauelemente bietet hier zumeist Anlass für marianische oder auf die Passion Christi gerichtete Betrachtungsübungen, durch die die jeweils aufgerufenen Heilsereignisse vor den inneren Augen der Schwestern präsent werden und sie auf die Transzendenz hinorientieren sollen. dem Kreuz erlitt, der sieben Erscheinungen, die unser Herr nach seiner Auferstehung tätigte, als er seinen Jüngern die sieben Gaben des Heiligen Geistes gab.« 467 Zu den passionsbezogenen › sieben Blutvergießungen ‹ Christi (Beschneidung, blutiger Schweiß beim Gartengebet, Dornenkrönung, Geißelung, Fußnagelung, Handnagelung, Seitenwunde) und den › sieben Kreuzesworten ‹ vgl. z. B. mit weiteren Hinweisen Christoph Gerhardt u. Nigel F. Palmer (Hgg.): Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717. Edition und Kommentar, Berlin 2002 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 41), S. 45. Zur Verehrung der unterschiedlich definierten › sieben Schmerzen Marias ‹ im Spätmittelalter siehe Beissel 1909, S. 406 - 410. 468 »Anwendung der sieben Gaben des Heiligen Geistes auf die Erscheinungen des auferstandenen Herrn«, Bernhard von Clairvaux: Opera, Bd. VI,2: Sermones III, hg. v. Jean Leclercq OSB u. Henri Rochais, Rom 1972, S. 16. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 385 <?page no="386"?> Als Resultat dieser Betrachtungen und Gebete schließlich entsteht ein geistliches Bauwerk. Der Ort dieses Weihnachtshauses, so stellt der Text gleich gegen Anfang heraus, befindet sich im Inneren der Klosterfrauen, die sich dieser Übung annehmen. Um nämlich de stedde zu reynigen (GWH, Z. 9), 469 an der dieser Bau errichtet werden soll, müssen die teilnehmenden Nonnen sich rituell geißeln und Maria bitten, dass sie ihre herte wyl purgeren und renygen van allen quaden gedachten (GWH, Z. 12 f.) und sie so vor schädlichen Worten und Gott missfälligen Werken bewahre. 470 Das Weihnachtshaus lokalisiert sich folglich in den Herzen der individuellen Nonnen. Vergleichbar dem Herzkloster oder den oben behandelten Passagen aus der Helftaer Mystik läuft diese Übung auf die Selbstfiguration der Gläubigen zur Wohnstatt des Heiligen hinaus, die auf die Einkehr bzw. Geburt Christi vorbereitet werden muss. 471 Analog zu den von Jeffrey Hamburger untersuchten visuellen Darstellungen des Herzenshausmotivs evoziert auch diese Gebets- und Andachtsübung auf sprachlichem Wege »an interior space, mental as well as physical, where the nun could enter into an intimate dialogue with Christ«. 472 Beten, Askese und Meditation stellen die Arbeitsgänge dieser formenden Arbeit am inneren Menschen dar, an dessen letztendlichem Hoffnungspunkt die unio mystica in Form der weihnachtlichen Einkehr Gottes in die einzelnen Schwestern steht, die als Resultat ihrer Frömmigkeitspraxis der werlt fromede (GWH, Z. 85) geworden sein sollen. 473 Gleichzeitig aber ist das Gebetshaus ein kollektives Werk, das aus den kumulierten Frömmigkeitsleistungen des gesamten Konvents besteht. Vorstellungen der individuellen Selbstherrichtung zur Wohnstatt des Heiligen sind hier folglich spannungsreich verbunden mit dem Anspruch der klösterlichen Lebensform, einen gemeinschaftlichen Ort für den Weg zu Gott zu bieten. Eine derart ambitionierte, für die Zeitspanne eines Monats ausgelegte und im Gebetspensum umfangreiche Übung für die Adventszeit dürfte im lebenspraktischen Kontext einer Klostergemeinschaft organisatorische Schwierigkeiten hervorgerufen haben. Zumindest lässt der Text dies durchscheinen, wenn er detaillierte Ausnahmeregelungen für Schwestern einfügt, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht in vollem Umfang an der Konstruktion des Weihnachtshauses beteiligen können. Teilweise von den Gebetsverpflichtungen befreit werden beispielsweise die im Kloster befindlichen Kinder, die Offizianten sowie als Schreiberinnen tätige Nonnen. Letzteren wird als Alternative zusätzlich zu behotheyt van bynnen und van buten (GWH, Z. 55) ein überschaubares Maß an Reihengebeten angetragen, das ihnen erlaubt, die Arbeit im Skriptorium nicht zu unterbrechen. 474 469 »den Bauplatz reinigen«. 470 »Herzen läutere und reinige von allen üblen Gedanken«. 471 Angesichts dieser Geburtsmotivik ist es sicher verlockend, eine Verbindung zu Meister Eckharts Predigtzyklus zur Gottesgeburt in der menschlichen Seele zu schlagen - inwiefern das Geistliche Weihnachtshaus hier freilich belastbare Thesen über intertextuelle Verbindungen zulässt, ist eher fraglich. Die motivische Nähe allerdings besteht; vgl. zum Thema Rodrigo Guerizoli: Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts, Leiden 2006. 472 Hamburger 1997, S. 151. 473 »der Welt fremd« 474 »innerer und äußerer Behütung«. Das den Schreiberinnen zusätzlich empfohlene Pensum von drei Magnificat mit zusätzlichen Ave Maria für jeden Vers, einem Ave maris stella, drei Miserere und 25 Ave Maria dürfte, im Gegensatz zu den teils tagesfüllenden Übungen der übrigen Konventsmitglieder, weniger als eine halbe Stunde in Anspruch genommen haben. 386 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="387"?> Die Offizianten dahingegen, also die Bediensteten des Klosters, werden ebenso wie die in der Küche arbeitenden Schwestern aufgefordert, vor allem dadurch zum Gelingen des geistlichen Bauvorhabens beizutragen, dass sie die ihnen zufallenden praktischen Aufgaben besonders fleißig erledigen. Gleiches gilt für die Infirmarin, die für die Frömmigkeitsübung schwerlich die Krankenpflege vernachlässigen kann. Sie bekommt deshalb neben besonderer Sorgfalt gegenüber ihren Patienten und einem kleinen Gebetspensum bloß auferlegt, sich allzeit das Bibelwort vor Augen zu halten, das ihre Tätigkeit als Dienst an Christus ausweise: Wat gy enen van mynen mynesten gedaen hebben, dat hebbe gy my gedaen (GWH, Z. 63 f.; vgl. Mt 25,40). 475 Auch die Kranken selbst werden entlastet. Sie sollen statt einer regulären Teilnahme am geistlichen Architekturwerk innerlich die Kindheit Jesu betrachten. Dass derlei Anpassungen und Ausnahmen explizit thematisiert werden, ist außergewöhnlich und gibt Einblick in die mit derlei Textgut verbundene und in ihrer historischen Realität zumeist schwer greifbare soziale Praxis. Ansonsten sind viele der verlangten Frömmigkeitsleistungen für alle Klostermitglieder verpflichtend, in Einzelaspekten gestaltet sich das geistliche Bauvorhaben jedoch auch gezielt arbeitsteilig. So wird die Konstruktion bestimmter Teile des Hauses spezifisch der Priorin und dem Konvent, also denjenigen Schwestern, die bereits die ewige Profess abgelegt haben, den Laienschwestern oder den Novizinnen zugeteilt. 476 Einzelne Aufgaben werden auch Nonnen zugewiesen, die im praktischen Klosterleben analoge Tätigkeiten ausführen. De suster, de de glase vinster maket, sal de glase vinster maken in unser leven frouwen huseken (GWH, Z. 93 f.), 477 heißt es beispielsweise. Auf diese Weise zeichnet das Geistliche Weihnachtshaus die Konturen einer gemeinschaftlichen Gebets- und Andachtsübung für die Adventszeit, die gleichsam auf die komplexe Vielfalt sich ergänzender Lebens- und Arbeitsrealitäten im Frauenkloster Rücksicht zu nehmen versucht. Die innere Zubereitung zum Geburtsort Christi gestaltet sich somit für die individuellen Schwestern je nach persönlicher Stellung und Situation unterschiedlich, deutet aber schlussendlich doch in jedem Fall auf das gleiche Ziel: Im Herzen einer jeden Klosterfrau soll durch Gebet und Betrachtung ein Raum für die weihnachtliche Eingeburt des Gottessohnes entstehen, der so auch in die klösterliche Gemeinschaft als Ganzes einkehrt. 4.5 Eucharistievorbereitung als Inneneinrichtung der Seele: Der Geistliche Herzensempfang Während die drei nun exemplarisch untersuchten Übungen zur Konstruktion geistlicher Funktionsgebäude durch Gebet und Andacht anleiten, die je nach Text als Badehaus zur Sündenreinigung der Seele, als mehrfach allegorisierte Marienresidenz oder als Geburtshaus Christi gezeichnet sind, führt mein letztes Beispiel wieder direkter zurück zur paulinischen Vorstellung vom inneren Menschen als templum Dei (I Cor 3,16). Der Geistliche Herzensempfang, den die Überlieferung in einen längeren Zyklus von braut- 475 »Was ihr für einen von meinen Geringsten getan habt, habt ihr für mich getan«. 476 Vgl. GWH, Z. 92 - 96. Die Bezeichnung scholers ( › Schüler ‹ ) in dieser Passage bezieht sich wohl auf die Novizinnen, während susters im Kontrast zum convente die Laienschwestern meint. 477 »Die Schwester, die die Glasfenster macht, soll die Glasfenster im Häuschen unserer lieben Frau machen.« 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 387 <?page no="388"?> mystisch gefärbten Gebets- und Andachtsübungen einbettet, 478 präsentiert das Innere der Betenden als vorgängigen Ort für das Göttliche, der mittels Meditation und betrachtender Lektüre ausgewählter Bibelpassagen so luxuriös eingerichtet und ausgestattet werden soll, dass Christus dort empfangen und bewirtet werden kann. Hierin vermischt der Text architekturallegorische Sprachbildlichkeit mit dem Motiv der geistlichen Speise und Bewirtung, das auch in anderen Texten eucharistische Implikationen besitzt. 479 Ausdrücklich wird der Herzensempfang dabei zur Vorbereitung auf die Kommunion empfohlen: Die Rezipientin soll sich dieser inneren Selbstbereitung widmen, wan du zu dem hailigen sacrament wilt gon (GHE, Z. 3). 480 Damit steht diese Anleitung zur inneren Erbauung eines palast dins hertzen (GHE, Z. 2), der für das Eintreffen des Gottessohnes hergerichtet wird, im Kontext der insbesondere für die Frauenklosterkultur des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit zentralen Eucharistiefrömmigkeit. 481 › Erbauung ‹ wird hier in doppeltem Sinne umschrieben, einmal aufbauend auf dem Bildfeld des Bauens und Einrichtens als »Modell einer umfassenden religiösen Wirkungsästhetik«, 482 sowie zweitens als alimentäre Stärkung durch betende Aufnahme des Textes und geistiges Einverleiben seines Inhalts. 483 Letzteres soll seine schlussendliche Realisierung im sakramentalen Empfang des Kommunion erfahren, auf den der Text die Leserin vorbereitet. Der Geistliche Herzensempfang ist unikal in einer Sammlung von Gebets- und Andachtsübungen überliefert, die neben diesem Text auch zwei Marienmanteltexte, den Colmarer Paradiesgarten, eine deutsche Übertragung der zeitgenössisch Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Oratio Rhythmica zu den Gliedern Christi und weitere verwandte Stücke enthält. 484 Angesichts ihres Dialektstands lässt sich die Handschrift im elsässischen Sprachraum lokalisieren. Eine Analyse ihrer Wasserzeichen legt eine Entstehung ab 478 Überliefert in Colmar, Bibliothèque des Dominicains, Ms. 267bis, fol. 98v - 118v. Dem Geistlichen Herzensempfang, der im Appendix ediert ist und folgend im Fließtext als › GHE ‹ zitiert wird, geht in dieser Handschrift eine längere Gebetsübung voraus, die die geistliche Einkleidung Christi als Himmelsherrscher zum Gegenstand hat (fol. 84r - 98r); es folgt eine weitere Übung, in deren Rahmen sich die Leserin nach einem Spaziergang durch einen imaginierten Passionsgarten mit Christi Gnadenhilfe die Kleider monastischer Tugenden erwerben soll (fol. 119r - 122r). Zu diesen beiden Texten vgl. oben, Kap. III.4. Beide Übungen sind in Form und Motivik vom Herzensempfang getrennt, werden aber durch die Rubriken mit ihm verbunden. 479 Vgl. dazu mit weiteren Hinweisen und Diskussionen Buschbeck 2021. 480 »wenn du zum heiligen Sakrament gehen willst«. 481 So spricht Caroline Walker Bynum von einer »centrality of the eucharist to women and of women in the propagation of eucharistic devotion«, Caroline Walker Bynum: Women Mystics and Eucharistic Devotion in the Thirteenth Century, in: Dies.: Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992, S. 119 - 150, hier S. 122. 482 Köbele 2019, S. 25. 483 Ein entsprechendes Erbauungsverständnis, das auf einen »Verzehr des Textes« hinausläuft und dabei das weite Feld der Speisemetaphorik bedient, untersucht für die Frühe Neuzeit Eybl 2005, S. 95 f. 484 Colmar, Bibliothèque des Dominicains, MS. 267bis. Vgl. zu dieser Handschrift Pierre Schmitt: Manuscrits de la Bibliothèque de Colmar (Catalogue Général des Manuscrits des Bibliothèques Publiques de France 56), Paris 1969, S. 101; Schmidtke 1982, S. 31 u. S. 466 - 469 (mit einem Teilabdruck des Colmarer Paradiesgartens); Lentes 1996, S. 485 u. 1085 f. (mit einem Abdruck des Marienmantels auf fol. 68r - 69v). Zu den Marienmänteln in dieser Handschrift siehe auch kurz oben, Kap. III.4. 388 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="389"?> den 1520er oder 1530er Jahren nahe. 485 Dietrich Schmidtke dahingegen ordnet sie erst dem späteren 16. Jahrhundert zu. 486 Anhaltspunkt dafür ist ihm das Schriftbild des von mindestens zwei sehr ähnlichen Händen geschriebenen Textzeugen, 487 das jedoch in Anbetracht seiner am 15. Jahrhundert orientierten Archaisierungstendenzen nur als ungefähres Datierungsindiz gewertet werden kann. 488 Gesichert ist allerdings, dass die Handschrift sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits im Colmarer Domininikanerinnenklosters Unterlinden befand: Ein Besitzeintrag weist sie als Eigentum der Schwester Agnes Wirtnerin (ca. 1572/ 1573 - 1649/ 1650) aus, die als langjähriges Mitglied dieses Klosters belegt ist und um 1650 dort verstarb. 489 Dabei gibt die Nonne an, diesen Kodex habe mins großvatters schwester geschriben, angnes minsingerin von frondeck, wohlerwürttig öpttdiße in dem loblichen gotzhuß zu augen. 490 Nun stellt sich die Identifikation dieser angeblichen Großtante als schwierig heraus. Zwar verweist der Name auf die »schwäbische Gelehrtenfamilie« der Münsinger von Frundeck, mit der Agnes Wirtnerin durchaus verwandtschaftlich verbunden gewesen sein könnte, 491 eine Äbtissin aus diesem Geschlecht ist allerdings nirgendwo belegt. 492 Auch eine Lokalisierung des erwähnten Klosters zu augen war 485 Die Handschrift ist aus Papier verschiedener Herkunft zusammengesetzt, wobei ich drei Wasserzeichen ausfindig machen konnte. Zwei davon, ein Bär und ein nicht bestimmter Vierfüßer, sind so stark fragmentiert, dass keine genaue Identifizierung möglich war - sie passen jedoch generell in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Das dritte Wasserzeichen allerdings, eine komplexe Krone mit Bügel und Sternenbeizeichen, ist mehrere hundert Mal in Urkunden belegt, die mit wenigen späteren Ausnahmen auf die Zeit zwischen ca. 1520 und 1535 datieren (vgl. Piccard 54340 - 54719). In diesen Zeitraum ist wohl auch die Entstehung der Handschrift anzusetzen. 486 Vgl. Schmidtke 1982, S. 31 f. 487 Die Hände wechseln teils im gleichen Text, so dass von einer planmäßigen Zusammenarbeit bei der Fertigung von Colmar, Bibliothèque des Dominicains, MS. 267bis auszugehen ist. Hand 1 schrieb fol. 1v - 18r, danach setzt Hand 2 ein und schreibt fol. 18v - 69r. Die Blätter 70r - 73v enthalten keinen Text, danach setzt auf fol. 74r - 183v, wo die Handschrift im Text abbricht, wieder Hand 1 oder zumindest eine sehr ähnliche Schreiberhand ein. 488 In elsässischen Klöstern der Frühen Neuzeit wurde noch bis ins späte 16. Jahrhundert hinein eine Bastarda nach dem Vorbild der Handschriften aus der Zeit der Ordensreform in der Mitte des 15. Jahrhunderts verwendet; ein gutes Beispiel dafür geben die Handschrift Oxford, Bodleian Library, Ms. Germ. e. 22 sowie der unter der Signaturengruppe Strasbourg, AVES, II 39 - 42 aufbewahrte Schriftnachlass des Straßburger Klosters St. Nikolaus in undis. Da sie generell stilistisch nicht in ihre Zeit passen und aus dem Rahmen des Erwartbaren fallen, ist bei diesen Textträgern eine Datierung anhand der Schrift notorisch unzuverlässig. 489 Vgl. Hieronymus Wilms: Geschichte der deutschen Dominikanerinnen 1206 - 1816, Dülmen i. W. 1920, S. 256. 490 Colmar, Bibliothèque des Dominicains, Ms. 267bis, fol. 1r. 491 Julius Kindler von Knobloch: Oberbadisches Geschlechterbuch, Bd. 3: M - R, Heidelberg 1919, S. 164. Die Familie ist weitverzweigt und ab dem 15. Jahrhundert nachweisbar. Joseph Münsinger von Frundeck (gest. 1560), der wohl 1538 geadelt wurde, hatte laut von Knobloch »[v]on seiner Gattin Agnes Breuning [ … ] viele Kinder« (ebd.), die mir nicht sämtlich nachvollziehbar sind. Dass der Großvater von Agnes Wirtnerin dieser Generation entstammte oder ihre Großtante in die Familie der Münsinger von Frundeck einheiratete und den entsprechenden Namen annahm, ist deshalb schwer nachzuprüfen, mag aber angehen. 492 Wegen ihres lutherischen Glaubens, ihres weltlichen Standes und ihrer niederdeutschen Sprachheimat scheidet Agnes Münsinger von Frundeck, geb. von Oldershausen (1535 - 1603), die Frau des Juristen Joachim Münsinger von Frundeck (1514/ 1517 - 1588), als Schreiberin oder auch Besitzerin dieser für ein katholisches Frauenkloster und in elsässischem Dialekt verfassten Handschrift wohl recht sicher aus; vgl. dazu Eva Labouvie: Münsinger (Mynsingern) von Frundeck (Frondeck), Agnes, geb. von 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 389 <?page no="390"?> bislang nicht möglich. 493 Ein Akrostichon in der Handschrift legt außerdem nahe, dass sie für eine Schwester namens Margaretha, nicht Agnes, angefertigt wurde. 494 Ob hier also tatsächlich eine sonst unbekannte Äbtissin als Schreiberin anzunehmen ist, oder ob sich vielleicht eher eine Art Familienlegende im Besitzeintrag Agnes Wirtnerins niedergeschlagen hat, scheint fraglich. Auch über die Entstehungszeit des Herzensempfangs selbst können, ähnlich wie im Fall des Geistlichen Weihnachtshauses, keine definitiven Aussagen gemacht werden - eine Abschrift eines etwas älteren Textes scheint hier ebenso möglich wie eine Abfassung erst im 16. Jahrhundert. All diese Datierungs- und Provenienzunsicherheiten tun dem Aufschlussreichtum des Herzensempfangs für das Verständnis spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte zur kontemplativen Selbstformung und -figuration nach dem Vorbild sprachlich entworfener Architekturbilder keinen Abbruch. Das Modell des eigenen Selbst als durch Andacht, Tugendbetrachtung und Schriftlektüre ausgestaltbarer Innenraum bildet geradezu das Fundament dieser Übung. Denn der Text leitet dazu an, den eigenen Herzenspalast zuerst zu reinigen, um ihn anschließend mit einem prachtvollen Deckenbehang, einem königlichen Thron, Wandbehängen und einem kostlichen deppiche (GHE, Z. 48) auf dem Fußboden, 495 allerlei Sitzkissen, einem Esstisch samt Tischtuch sowie verschiedenem und kostbarem Tafelgerät aus ausgesuchten Materialien auszustatten. Dazu kommen drei geistliche Weine, die erstens als wyn des rüwens (GHE, Z. 116) die Reue der Rezipientin, zweitens als wyn der innikeit (GHE, Z. 227) ihr Mitleid sowie schließlich drittens ihre Hoffnung auf das Paradies bezeichnen. 496 Komplettiert wird dieses innere Bankett, das, wie Jeffrey Hamburger ausführt, einen regelrechten Topos der eucharistischen Gebetbuchliteratur des ausgehenden Mittelalters darstellt, 497 durch das geröstete Brot des Christuskörpers (vgl. GHE, Z. 201 - 204) und die Gewürze seiner Wunden. Bereits die Bildlichkeit von Brot und Wein deutet auf den eucharistischen Charakter der imaginierten Mahlzeit hin, welche die Rezipientin gemeinsam mit Christus einnehmen soll, der gleichsam in Gestalt der aufgedeckten Speisen wie als herbeigesehnter königlicher Gast präsent wird. Anders als die vorweg untersuchten Texte konzipiert diese Übung die Herrichtung des Herzens zum Thron- und Speisesaal des himmlischen Herrschers nicht als Resultat einer in Quantität und Qualität festgelegten Anzahl von Gebetsleistungen. Vielmehr instruiert sie eine reine Andachtsübung, die für jeden Teil der imaginierten Inneneinrichtung ein Amalgam aus christozentrischer Meditation und vertiefender Bibellektüre verlangt. Die Oldershausen, in: Frauen in Sachsen-Anhalt: Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. Eva Labouvie, Köln/ Weimar/ Wien 2016, S. 270 f. Andere Namensträgerinnen waren mir nicht ausfindig zu machen. 493 Wie Schmidtke 1982, S. 31, ausführt, ist in Auggen (Baden) kein Kloster nachzuweisen und auch das »1527 aufgehobene Zisterzienserinnenkloster Marienau zu Breisach kommt nicht in Frage«. 494 Colmar, Bibliothèque des Dominicains, Ms. 267bis, fol. 80v - 83v. Es handelt sich hierbei um eine Anleitung, wie du dynen tauff namen solt zu ainer gezierd [ … ] ynsetzen (ebd., fol 80v), die Betende also eine Art geistliche Inschrift ihres Namens (margaretha, ebd.) anfertigen soll, wobei jedem Buchstaben eine bestimmte Andachtsleistung entspricht. 495 »kostbaren Teppich«. 496 »Wein der Reue«, »Wein der Innigkeit«. 497 »In the vernacular prayer books of nuns, preparatory prayers for the reception of the Sacrament, many of which speak of Communion as a banquet, often make up as much as half of the miscellaneous texts«, Hamburger 1997, S. 144. 390 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="391"?> Wandteppiche, die als figural bestickte Bildwerke vorgestellt werden können, werden beispielsweise durch die Betrachtung der einzelnen Leidensstationen des Karfreitagsgeschehens erzeugt: Die kostlichen güldin tiecher an den wenden oder kostlichen deppiche, das du betrachtest die döttlichen angst und blüttigen schweiß dins herren, syn gefencknuß, für gericht fürn, felschliches rügen, schweltwort, sin augen verbinden, backenschlege, halßschlege, verspyen, verspotten, geißlung, krönung und alles syn hailigs lyden, das er von grosser liebe durch dich litte. Die betrachtung gefellt im über alle maß wol in dem palast dins hertzen. Isaie xliii o : »Reduc me in memoriam, ut iudicemur simul« (Is 43,26). Idem in liii o capitulo: »Tradidit in morte animam suam et cum sceleratis reputatus est. Et ipse peccatum multorum tulit et pro transgressoribus rogavit« (Is 53,12). (GHE, Z. 48 - 56) 498 Ein Entsprechungsverhältnis zwischen den prunkvollen Wandteppichen des Herzenspalasts und der vom Text dafür verlangten Passionsandacht wird zunächst über die Subjunktion das hergestellt, die hier wohl im Sinne von › dadurch, dass ‹ oder › indem ‹ als Einleitung eines Instrumentalsatzes zu verstehen ist. Mittel und Material zur Fertigung des geistlichen Wandbehangs ist somit die Vergegenwärtigung des Leidenswegs Christi im Sinne eines »schrittweisen gedanklichen Abschreiten[s] der Heilsereignisse«, das als zeitgenössische Kernsemantik von betrachten und betrachtung im religiösen Kontext gelten kann. 499 Durch das Eintauchen der Rezipientin in diese Heilsereignisse und die typologisch darauf hingedeuteten Worte der alttestamentlichen Propheten sollen in ihrem innersten Herzensraum prächtige Wandbehänge entstehen. Dies entspricht, wenn auch unter Auslassung eines quantifizierenden Gebetszählens, handwerklichen Frömmigkeitsübungen, wie sie oben in verschiedenen Spielarten untersucht wurden. Die vertikale Medialisierung einer Nähe zum Heiligen ist hier vornehmlich in der Kommunion verortet, auf die der Text die Rezipientin mittels seines Angebots einer horizontalen Immersion in die sprachlich evozierten Heilsgegenstände vorbereitet und sie sich so zum Raum für die Einkehr der Transzendenz figurieren lässt. Zudem liegt hier auch der Gedanke einer visuellen Analogie im Sinne einer verschachtelten Bildlichkeit nahe: Was die Rezipientin sich im Rahmen eines imaginierenden Eintauchens ins Karfreitagsgeschehen vor die inneren Augen ruft, kann auch als Bilddarstellung auf den Wandbehängen des Palastgemachs visualisiert werden, deren Anschauung im Gegenzug dann wieder dem dahin eingeladenen Christus über alle maß wol gefällt. 500 Die für ein derartiges Handwerk des Geistes charakteristische »Evozierung 498 »Die kostbaren goldenen Tücher oder kostbaren Teppiche an den Wänden, dadurch, dass du die göttliche Angst und den blutigen Schweiß deines Herrn betrachtest, seine Gefangennahme, den Gang vor Gericht, die falsche Anklage, die Schimpfworte, die Schläge ins Gesicht, die Schläge auf den Nacken, die Schimpfworte, das Anspucken, das Verbinden seiner Augen, die Geißelung, die Dornenkrönung und sein gesamtes heiliges Leiden, das er aus großer Liebe heraus für dich erlitten hat. Diese Betrachtung in dem Palast deines Herzens gefällt ihm über allen Maßen gut. Jesaja 43: Führe mich zurück in dein Gedächtnis, damit wir gemeinsam vor Gericht gehen! (Is 43,26). Zudem im 53. Kapitel: Er hat seine Seele in den Tod gegeben und wurde zu den Verbrechern gerechnet und er selbst trug die Sünden vieler und bat für die Gesetzesübertreter (Is 53,12).« 499 Thali 2012, S. 244. 500 Dies entspräche zumindest der Dynamik der Präsentation von Passionsszenen und sonstigen heilsgeschichtlichen Ereignissen auf realen Bildteppichen des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die im Frauenklosterkontext verbreitet waren. Vgl. dazu die Teppichbeispiele in dem Katalog Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, hg. v. Kunst- und Aus- 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 391 <?page no="392"?> innerer Bilder, die ihrerseits zu einer religiösen Seelenprägung nach christlichen Idealen führen« sollen, 501 fächert an dieser Stelle dementsprechend auch einen Modus des Abbildens und Einprägens aus, in dessen Rahmen die als Palast visualisierte Seele des Menschen mit imaginierten Bildkunstwerken geschmückt wird. Auf diesen werden die Gegenstände der Betrachtung für den betenden Menschen ebenso wie für den ins Herzenshaus einkehrenden Christus sicht- und betrachtbar gemacht. 502 Den Stationen der Passion fügt der Geistliche Herzensempfang in der obigen Passage zwei Zitate aus dem Buch Jesaja bei, welche die vom Text stimulierte Andachtspraxis einerseits erläuternd unterfüttern. Andererseits aber verdeutlichen sie, insofern sie typologisch als auf Christus weisende Prophetie gelesen werden, eine heilsgeschichtliche Figurations- und Zeichenkontinuität, die vom Alten Testament nach Golgatha über den Text der Andachtsübung und schließlich bis zur von ihm angeregten Frömmigkeitspraxis reicht. 503 Im Rahmen des vom Herzensempfang vorgezeichneten Vollzugs soll all dies zur Selbstformung der Gläubigen vergegenwärtigt und als innere Wirklichkeit umgesetzt werden. Diese Verbindung bildhafter und oft auch sinnbildlicher Gegenstände, die als Herzenseinrichtung innerlich zu figurieren sind, mit einer sie konstruierenden Meditation ausgewählter Aspekte des Leidens oder Lebens Christi sowie typologisch darauf vorausweisenden Bibelstellen, die zur versenkenden Lektüre einladen, bildet das Funktionsprinzip dieser Andachtsübung. Jedes einzelne Objekt im dort entworfenen Palast des Herzens ist nach diesem Muster aufgebaut, wobei besonders der oftmals recht freie, kürzende und bricolagehafte Umgang mit biblischen Textbausteinen bemerkenswert ist. In der Engführung der Figura des inneren Hauses und seiner Einrichtung mit den innerlich präsent werdenden Gegenständen und Ereignissen des Heils sowie einer exzerpthaften Bibellektüre, die im affirmierenden Dialog mit dieser Versenkung ins eigene Innere und in die Erzählungen des Neuen Testaments steht, ergibt sich ein vielschichtiger Entwurf christlicher Interiorität. Denn das Innere des Gläubigen ist hier nicht allein als Ort für die Einkehr des Heiligen verstanden, die im leiblichen Kommunionempfang mündet und über das Hilfsmedium des Textes zuvor vorbereitend als Vorstellung evoziert wird, sondern eben auch als zur Immersion einladender Präsenzraum der Heilsgeschichte und als figurale Nachfolge der Zeichen und Prophetien des Alten Testaments. Darin, dass dieser Herzensraum frömmigkeitspraktisch hin zur Gottgefälligkeit verändert werden kann und der Text ein Modell und eine Anleitung zu einer solchen Selbstveränderung bietet, liegt der ambitionierte Anspruch derartiger geistlicher Gebäude. Im Geistlichen Herzensempfang äußert sich dies besonders, wenn die Andachtsübung gegen Ende auf die Möglichkeit eines Betens umschwenkt, dass an den als König und stellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn und dem Ruhrlandmuseum Essen, München 2005. 501 Lentes 1993, S. 126. 502 Hier zeichnet sich auch die Möglichkeit zum Gebrauch des geistlich gefertigten Innenraums als allegorischer Meditationsgegenstand ab, wie er z. B. explizit vom Alemannischen Marienmantel oder von der Constructio des Dominikus von Preußen anempfohlen wird. 503 Der Text verfolgt hier also jene »Annahme des Gewesenen durch ein Sichspiegeln als ein Sichdurchdringen«, die Friedrich Ohly als Kernmoment typologischer Betrachtungen von Vergangenheit und Gegenwart im Mittelalter herausarbeitet (Ohly 1988, S. 29). 392 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="393"?> Bräutigam eingekehrten Christus gerichtet werden könne. Wann du in nun mit grosser liebe hast yngefiert in dyn huß (GHE, Z. 308), so heißt es, solle die Nonne im klagen alle dyn anligenden sachen als dinem aller innigsten liephaber, dem dyn kommer on zwyfel zu hertzen gat, und der dir auch wol gehelffen kann. (GHE, Z. 317 f.) 504 Die Umgestaltung der eigenen Seele zum Haus Gottes schafft, so die Logik des Textes, eine Nähe zum Heiligen, die es wiederum ermöglicht, im gebethaften Gespräch mit der Transzendenz für sich selbst und die Nächsten Gnade und Heil zu erbitten. 504 »Wenn du ihn nun mit großer Liebe in dein Haus hineingeführt hast«; »sollst du alle Dinge, die dich bedrücken, ihm als deinem vertrautesten Geliebten klagen, dem dein Kummer zweifelsohne zu Herzen geht und der dir auch sehr wohl helfen kann«. 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis 393 <?page no="394"?> 5 Ausblick: Architektonische Interiorität und die Vielfalt des Erbaulichen Das nun zum Ende kommende Kapitel hat einen weiten Bogen gespannt. Sein Ziel war es, an einer Reihe von Beispielen vor allem die rezeptionsästhetischen Grundrisslinien eines umfangreichen Korpus geistlicher Texte des ausgehenden Mittelalters nachzuzeichnen, die dazu anleiten, das eigene Innere nach dem Bild eines stofflichen Bauwerks zu imaginieren und dieses Gebäude durch Gebet und Andacht zu errichten. Dazu war es auch notwendig, auf die Gattungsgeschichte entsprechender Architekturallegorien einzugehen. Ihre Tradition fundiert sich in den Paulusbriefen des Neuen Testaments, wird über Augustinus und Prudentius fest etabliert und entwickelt sich in der lateinischen Traktatliteratur des Hochmittelalters sowie in der Helftaer Mystik facettenreich zum produktiven Bildfeld für die Aushandlung und Veranschaulichung einer auf die Einkehr Gottes vorbereiteten Verfasstheit des inneren Menschen. Im Spätmittelalter schließlich geraten geistliche Gebäudetexte zum Hilfsmedium einer Frömmigkeitspraxis, die auf Selbstformung durch Gebet und Andacht abzielt. Bereits Texte wie das Herzkloster bieten dabei einen introspektiven Prozess der Immersion an, in dessen Rahmen das Lesepublikum sein innerstes Selbst als Tugendgebäude vorstellen und aufrichten kann. Dabei fungiert das sprachlich evozierte Bauwerk einerseits als allegorischer Betrachtungsgegenstand, der christliche Tugenden veranschaulicht und dessen Meditation den gläubigen Menschen direkt oder indirekt auf das Heilige hinorientiert. Andererseits aber entspricht das Bild vom inneren Haus auch einem zu verwirklichenden inneren Zustand, der durch den Text modellhaft vorgebildet und, insbesondere in zwischen Andacht und Traktat oszillierenden Stücken wie dem Geistlichen Haus, typologisch oder figural aus Altem und mitunter auch Neuem Testament hergeleitet wird. Die innere Erbauung der Gläubigen zum Haus Gottes ist hier als Figurationsprozess gezeichnet, der biblische oder sonstige textuelle Vorbildungen innerlich erfüllt. Gebets- und Andachtsübungen wie die Constructio des Dominikus von Preußen oder das Geistliche Weihnachtshaus geben hierzu ein kontrolliertes Verfahren zählenden Betens und mitunter am innerlich aufgerichteten Gebäude allegorisch entfalteter Andachtsübungen an die Hand. Die weltabkehrende Versenkung in die architektonische Gestaltung des eigenen Inneren gleicht damit auch einer vertikal medialisierten Hinkehr zur Transzendenz, die angewiesen und ermöglicht wird durch Formen der Bildrede, die einzeltextabhängig neben der Allegorie auch Metapher und Gleichnis umfassen kann. Dabei bildet ein mittels dieser Zeichenstrukturen angebotener Vollzug des Textes in Gebet und Andacht jedoch, ähnlich wie in Rosenkranz- und Marienmanteltexten, zugleich das überstoffliche Material, aus dem das geistliche Bauwerk zu erschaffen ist. Die davon erhofften heilsvermittelnden Wirkungen können variieren. Die Geistliche Padstube beispielsweise hebt vor allem auf die Bitte um Sündenvergebung für sich selbst und andere ab, das Weihnachtshaus dient der individuellen ebenso wie gemeinschaftlichen Hinbereitung auf die erhoffte Eingeburt Christi und der Herzensempfang ist als Eucharistievorbereitung gekennzeichnet. Ihre Möglichkeits- und Gestaltungsvielfalt scheint verschiedenste <?page no="395"?> Funktionalisierungen geistlicher Gebäude zuzulassen, die in letzter Hinsicht jedoch in allen oben angesprochenen Fällen auf ein verheißungsvolles Moment der nähestiftenden Einkehr und Hinwendung vorwegweisen. Freilich ist der hier gewählte Schlusspunkt nicht zwingend. Die Untersuchung ließe sich auf zahlreiche verwandte Texte ausweiten, die den aufgestellten Thesen weitere Facetten hinzufügen würden. So enthält eine gegen Mitte des 16. Jahrhunderts wohl von den Kölner Augustinerinnen des Klosters Maria zum Weiher in St. Cäcilien angefertigte Handschrift eine brautmystisch eingefärbte ripuarische Gebets- und Andachtsübung, die eine einzelne Nonne dazu anleitet, über den Zeitraum von acht Tagen hinweg das Haus ihres Herzens mittels eines vorgegebenen Gebetszyklus zur Passion zu erbauen und auf den eucharistischen Empfang Christi vorzubereiten. 505 Auch eine weitere Kölner Handschrift des 16. Jahrhunderts überliefert eine vergleichbare Übung zur Konstruktion eines inneren Hauses im Rahmen der Adventsvorbereitung. 506 Zudem widmet sich eine Reihe geistlicher Lieder dem Motiv des inneren Hauses, so das niederdeutsche Lied Ene möle ik buwen wil, 507 das die Errichtung einer geistlichen Mühle zum Gegenstand hat, die in typologischem Rückgriff auf das Evangelienwort von Christus als Himmelsbrot (vgl. Io 6,51) und unter Mithilfe der Heiligen und Evangelisten erbaut wird. Mit eucharistischen Anklängen verschafft diese Mühle allen Gläubigen geistliche Nahrung: De sine sele spisen wel / de schal sik here snellen, / to düsser mölen gesellen. / He si des bericht: / se malet und mattet nicht. 508 Im um 1460 geschriebenen Wienhäuser Liederbuch dagegen findet sich ein kurzer Liedtext, der schildert, wie Jesus Christus ins Herz des Sängerinnen-Ichs einkehrt, denn er wel darinne maken eyn hus / van claren eddelen stenen, / de muren schult jo vaste syn / van claren elpenbenen. 509 Schlussendlich ließen sich diese Texte ebenso wie die oben untersuchten Gebets- und Andachtsübungen auch produktiv mit entsprechenden Bildmotiven des Herzenshauses in der Klosterkunst des Spätmittelalters in Verbindung bringen. 510 Dabei bewegen sich all diese Texte und Bildmedien im Diskursumfeld eines Konzepts von Erbauung, das Susanne Köbele als »figuratives Wissen« fasst, das »auf der Grenze von Begriffs- und Bildlogik« stehe. 511 Vorstellungen und Modelle der geistlichen Innenarchitektur, wie ich sie im vorangegangenen Kapitel in den Fokus gesetzt habe, können 505 Überliefert ist dieser Text in der Handschrift Stanford, University Libraries, MSS CODEX 1181, fol. 62r - 115r. Die Handschrift ist bislang nur durch das Antiquariat Les Enluminures ausführlich beschrieben worden, vgl. German Prayer Book [TM 823] (online: https: / / www.textmanuscripts. com/ medieval/ german-prayer-book-91775, abgerufen am 24.04.2023). Diese interessante Quelle harrt der genaueren Aufarbeitung. 506 Köln, Hist. Archiv, GB 8° 133, fol. 98v - 105v. Diese Handschrift enthält zudem auch Rosenkranzübungen für die heilige Anna sowie einen geistlichen Garten, vgl. knapp Schmidtke 1982, S. 46. 507 Abgedruckt bei H. Jellinghaus (Hg.): Mittelniederdeutsche geistliche Lieder und Sprüche, Osnabrück 1928, S. 44 - 47. Vgl. dazu Eva Kiepe-Willms: Zum geistlichen Mühlenlied, in: ZfdA 105.3 (1976), S. 204 - 209; sowie Eva Kiepe-Willms: Art. Geistliches Mühlenlied, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 1169 - 1172. 508 »Wer seine Seele speisen möchte, / der soll schnell herbeieilen / zu den Gesellen dieser Mühle. / Ihm sei dies gesagt: / Sie mahlt und hört nicht auf«, Jellinghaus 1928, S. 47. 509 »will darinnen bauen ein Haus / von reinen Edelsteinen / die Mauern sollen gar fest sein / aus reinem Elfenbein«, Peter Kaufhold (Hg.): Das Wienhäuser Liederbuch, Wienhausen 2002 (Kloster Wienhausen 6), S. 132. 510 Aufschlussreiche Forschungsergebnisse hierzu finden sich bei Hamburger 1997, S. 137 - 175. 511 Köbele 2015, S. 423. 5 Ausblick: Architektonische Interiorität und die Vielfalt des Erbaulichen 395 <?page no="396"?> hierbei allerdings frei in andere Bildbereiche des Erbaulichen umschlagen, so z. B. in das metaphorische Feld des Acker- und Gartenbaus oder der Ernährung. 512 Nicht umsonst stellt ruminatio, also das › Wiederkäuen ‹ eines Textes, einen der gängigsten mittelalterlichen Termini für meditatives Lesen dar, 513 während Traktate wie die Geistliche Weinrebe und das Geistliche Weizenkorn erbauliche Betrachtungen durch agrarische Vorgangsallegorien vorzeichnen. 514 Freilich akzentuieren derlei Verschiebungen auf der Ebene der Sinnbildlichkeit stets auch den so veranschaulichten Erbauungsbegriff je anders, beispielsweise indem Speiseallegorien Analogien zum Kommunionempfang herstellen oder im Gartenmotiv die Liebessprache des Hohelieds mitschwingt. Die oben behandelten Architekturtexte dagegen erlauben Einblicke in die vielfältigen Semantiken des Erbaulichen, die für das ausgehende Mittelalter eine bestimmte Facette aufscheinen lassen: Hier realisiert sich Erbauung vornehmlich als bewusste und gezielte innere Umformung des christlichen Menschen hin auf die Möglichkeit der Einkehr des transzendenten Anderen. Ihre Modelle nimmt diese Selbsttransformation aus dem Bereich des Architektonischen. Allegorische Bildlichkeit und Dynamiken der nicht allein zeichenhaften, realitätsschaffenden Figuration des Inneren ergänzen sich dabei und gehen ineinander über. Den modernen Modellen expressiver Identität, bei denen dieses Kapitel begann, steht diese stets prekäre Erbauungsdynamik der vor- und nachbildenden Selbstfiguration, der Versenkung in die ebenso konkreten wie zeichenhaften Bilder des eigenen Inneren und der Hinkehr zur Einkehr des Anderen, die die untersuchten geistlichen Architekturen in ihren verschiedensten Varianten und Facetten schlussendlich eint, geradezu konträr gegenüber. Denn diese in Spätmittelalter und Früher Neuzeit so verbreiteten Texte siedeln sich an im Spannungsfeld zwischen der Annahme einer ebenso unbedingt möglichen wie nötigen Gestaltbarkeit des inneren Menschen und der Überzeugung von seiner grundlegenden Gnadenbedürftigkeit. An ihrem letzten Fluchtpunkt steht die Hoffnung auf die unio in der Einkehr des Heiligen, in der sich das dazu erbaute Ich weder ausdrückt noch verwirklicht, sondern vielmehr aufhört. Darin zeigen diese Texte nicht nur auf faszinierende Weise die vertikalen und horizontalen Vermittlungsdimensionen geistlicher Übungen im Spätmittelalter sowie ihre figurativen Wirkansprüche auf, sondern bilden auch einen zur Reflexionsfolie tauglichen, historisch-alteritären Gegenentwurf zu den Identitätsdiskursen der Postmoderne. 512 Dementsprechend zielen die bei Schmidtke 1982 untersuchten Gartentexte ebenso auf Erbauung wie die alimentären Gebets- und Andachtsübungen, denen ich mich in Buschbeck 2021 gewidmet habe. Vgl. dazu auch Eybl 2005 sowie Köbele 2015, S. 422. Mireille Schnyder spricht hier von einer »inkarnierenden« Lektüre, »die sich die Worte einverleibt, in der sich das Wort im Lesenden verfleischlicht und einnistet« (Schnyder 2009, S. 435). Auch dies ist als Spielart des Erbaulichen zu lesen, die allerdings über das alimentäre Bild anders semantisiert wird als die Vorstellung der geistlichen Bautätigkeit an sich selbst. 513 Vgl. Carruthers 1990, S. 164 f. 514 Vgl. dazu Dietrich Schmidtke: Art. Geistliche Weinrebe, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 1180 f.; sowie Albert von Schelb: Art. Geistliches Weizenkorn, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 1181 f. 396 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="397"?> Zusammenfassende Schlussbemerkungen »[ J]ede wissenschaftliche › Erfüllung ‹ bedeutet neue › Fragen ‹ und will › überboten ‹ werden und veralten.« 1 Diese Feststellung aus Max Webers berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf gilt für Untersuchungen zur geistlichen Literatur des ausgehenden Mittelalters wohl insbesonders. Zu groß ist die Masse der bislang unerschlossenen Texte aus diesem Bereich und zu viel schlummert noch unbekannt in den Handschriften, als dass eine philologische Arbeit hierzu die Hoffnung hegen könnte, nicht in kurzer Zeit korrektur- und ergänzungsbedürftig zu werden. So scheinen auch gerade in den letzten Jahren religiöse Textgattungen, die vormals meist ein literaturwissenschaftliches Schattendasein fristeten, zunehmend das Interesse der mediävistischen Forschung zu wecken. Denn zumindest dem Eindruck nach befinden sich derzeit mehr Studien zur mittelalterlichen Gebetbuchliteratur in Vorbereitung als bislang überhaupt abgeschlossen wurden - und auch für die vorliegende Arbeit ist deshalb zu hoffen (oder, je nach Perspektive, zu fürchten), dass neue Erkenntnisse bald einiges an ihr relativieren oder ins rechte Licht rücken werden. Demgemäß verstehe ich meine vorangegangenen Untersuchungen weniger als statische Thesen denn als Vorschläge zu einer literaturwissenschaftlichen Perspektivierung des vielfältigen Korpus der schriftlichen Gebete und Andachten des ausgehenden Mittelalters. Mein Ziel war dabei erstens, einen rezeptionsästhetisch orientierten Zugang aufzuzeigen, der sich den Medialisierungsdimensionen sowie dem an ihren frommen Vollzug gebundenen Wirkanspruch dieser Texte annähert, ohne sie dabei anachronistisch entweder auf die Stimulation ästhetischer Erfahrung oder auf soziale und rituelle Gebrauchsfunktionen zu reduzieren. Eine Perspektive, die stattdessen nach den verflochtenen Dynamiken der Vermittlung sowohl einer inneren Hinwendung zur Transzendenz als auch eines imaginativen Eintauchens in sprachlich evozierte Eindrücklichkeiten sowie schließlich nach den darauf fundierenden Versprechen einer vom Text vorgebildeten Medialisierung des Heils fragt, die spätmittelalterliche Gebets- und Andachtsübungen ihrem Publikum anbieten, verspricht Einsichten auch über die hier untersuchten Beispiele hinaus. Entsprechend hoffe ich, mit dieser Studie einen Beitrag zur methodischen Perspektivierung frömmigkeitspraktischer Texte vom Standpunkt einer literaturwissenschaftlich ausgerichteten germanistischen Mediävistik leisten zu können. 1 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, Nachwort v. Friedrich Tenbruck, Stuttgart 1995 (RUB 9388), S. 17. <?page no="398"?> Zweitens habe ich in den obigen Kapiteln versucht, mit den Rosenkränzen, Marienmänteln und geistlichen Häusern drei Untergattungen der Gebetbuchliteratur beispielhaft in den Blick zu nehmen und das vorgeschlagene methodische und terminologische Instrumentarium an ihnen auszuprobieren und zu schärfen. Dabei ging es mir auch darum, einzelne Texte und Motive zu erschließen und in ihren literarischen wie frömmigkeitspraktischen Kontexten und Entwicklungen nachzuzeichnen. Hierbei hat es sich als lohnend erwiesen, zusätzlich zu Gebets- und Andachtsübungen im engen Sinne auch darauf bezogene Texte einzubeziehen, so z. B. Mirakel, die von einer entsprechenden Frömmigkeitspraxis erzählen, Visions- und Offenbarungsberichte sowie Traktate, die bestimmte geistliche Übungen erläutern, propagieren oder verteidigen. Der Editionsanhang dieser Studie macht eine Auswahl sowohl der untersuchten Gebets- und Andachtsübungen als auch der darauf bezogenen Schriften einem breiteren Fachpublikum zugänglich. Dies geschieht in der Hoffnung, hierdurch zumindest ein wenig zur Erschließung eines noch unterforschten Feldes der mittelalterlichen Schriftkultur beitragen zu können. Die drei Leitbegriffe der Studie erlaubten es den obigen Untersuchungen, die jeweiligen Lektüre- und Vollzugsangebote der nacheinander in den Blick rückenden Textkorpora als Verflechtungen verschiedener Modi der Vermittlung zu begreifen. Zunächst eignet allen der betrachteten Beispiele eine vertikale Medialität, durch die sie ihr Lesepublikum in eine Nähebeziehung zur Transzendenz versetzen. Diese wird grundsätzlich über Formen der indirekten Zeichenhaftigkeit hergestellt, die das bezeichnete Heilige nur unscharf bedeutet oder betont übertragen veranschaulicht und die ich unter dem Überbegriff der Bildrede zu fassen versuche. Dies umfasst eine Vielzahl an sprachlichen Strategien, die von der rhetorischen Form des Gebets als an Gott gerichtete Apostrophe bis zu allegorischen Darstellungen von Glaubensinhalten in Andachtsübungen reichen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie über den grundsätzlich imperfekten Verweis eine Hinkehr zum Heiligen vermitteln, das jenseits des treffend Bezeichenbaren liegt. Die Verwendung sprachlicher Bilder, die etwas anderes meinen als sie darstellen, erlaubt es geistlichen Übungen, sich aus der Perspektive der Immanenz heraus an die Transzendenz zu richten, ohne dabei jedoch die fundamentale Alterität des Transzendenten durch vornehmlich direkte Bezeichnung zu überspielen. Zweitens geht dies einher mit einer Dynamik der Immersion in eine sinnlich wie affektiv wirksame, vom Text entworfene Umgebung, die den Betenden oder Meditierenden zur erfahrbaren inneren Wirklichkeit werden soll. Dieser Effekt kann stimuliert werden z. B. durch die Identifikation mit der Ich- oder Du-Rolle schriftlicher Gebete und Andachten oder durch absorbierende Anweisungen für die Wahrnehmung mit den inneren Sinnen, durch die ein Lesepublikum vom Text geschilderte Heilsereignisse vergegenwärtigen und sich in sie versenken kann. Derartige Prozesse der Imagination und Introspektion, die vom Text stimuliert und angeleitet werden, zielen auf ein Eintauchen in eine sprachmedial evozierte Welt aus Bildern, Dingen und Ereignissen, die den frommen Lesenden als ebenso gegenwärtig wie heilswirksam erscheinen soll. Verstanden als horizontale Medialisierungsdimension, die zwischen Text und Leser vermittelt, eignet solchen Immersionsangeboten ein enormes ästhetisches Potential, das durch die inkommensurable Bedeutsamkeit der so wahrnehmbar werdenden Gegenstände potenziert wird. 398 Zusammenfassende Schlussbemerkungen <?page no="399"?> Drittens verbinden sich diese vertikalen und horizontalen Vermittlungsebenen in Hinblick auf die so produzierten Effekte von Gebet und Andacht. Sie entfalten, was ich in Anlehnung an Erich Auerbach als Dynamik der Figuration begreife. So zielen Gebets- und Andachtsübungen nicht bloß auf ein Sprechen mit Gott und auf Versenkung in vom Text angebotene Bilder, sondern darüberhinausgehend auf Heilsvermittlung, die als Einlösung einer durch heilsgeschichtliche Ereignisse, biblische Schrift und gelesenen Text präfigurierten Verheißung begriffen ist. Vorgebildet durch historische und sprachliche Formen sowie nachgebildet im Vollzug durch die Gläubigen fügen sich geistliche Übungen ein in eine Figurationskette, die darauf orientiert ist, eine gnadenhafte Erfüllung der von ihnen aufgeworfenen Bitten und Hoffnungen in Aussicht zu stellen. In den hier in den Blick genommenen Textkorpora rücken diese drei Dimensionen in je unterschiedliche Beziehungen. So verknüpfen die wohl noch im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts verfassten Rosenkranzklauseln des Trierer Kartäusers Dominikus von Preußen eine Praxis des zählenden Betens, die ursprünglich als Surrogat für die Psalmodie des monastischen Offiziums aufkam, mit einer vergegenwärtigenden Betrachtung des Lebens und Leidens Christi und der Vorstellung eines handwerklichen Betens. Einerseits wird so die apostrophierende Hinwendung an Maria mit einem meditativen Eintauchen in die Heilsereignisse der Inkarnation und des Wirkens Christi auf Erden kombiniert. Andererseits soll sich diese Übung in Anlehnung an Mirakelerzählungen wie Marien Rosenkranz zu einem inneren Blumenkranz figurieren, der nicht allein Zeichen oder Bild ist, sondern als geistlich-konkretes Produkt der Frömmigkeit vorgestellt wird. Die zum inneren Gegenstand kondensierte Frömmigkeitsübung des Rosenkranzbetens, die später durch Alanus von Rupe und die Kölner Rosenkranzbruderschaft abgewandelt und zur gemeinschaftlichen Praxis gestaltet wird, ist als Gabe für Maria konzipiert, von der eine gnadenmächtige Gegengabe erhofft wird. Der in den 1440er Jahren wohl in oder nahe Straßburg verfasste Alemannische Marienmantel dagegen, der eine Praxis des textilen Betens instruiert, wie sie um 1300 bereits in Erzähltexten wie dem Marienmirakel Heinrichs des Klausners geschildert wird, leitet zunächst zur genau quantifizierenden gemeinschaftlichen Fertigung eines geistlichen Ornats für die Gottesmutter an, der als dingliche Figuration der erbrachten Frömmigkeitsleistungen ensteht. Das gebethaft gefertigte Kleid soll dabei zugleich als prunkvolles Gewand der Himmelskönigin Maria während ihres innerlich als Lichtmessprozession reinszenierten Tempelgangs ebenso wie als ihr Schutzmantel fungieren, unter dem die Gläubigen Zuflucht suchen können. Ein durch die ekphrastische Schilderung des Texts stimuliertes Eintauchen in die Pracht dieses vestimentären Gegenstandes, in dessen Rahmen sich die Worte der geistlichen Übung während des Betens in textile Aisthesis überführen sollen, verbindet sich dabei mit einer dingallegorischen Zeichendimension des geistlich gefertigten Dinges. Als sinnbildlicher Meditationsgegenstand nämlich orientiert das Marienkleid die Betenden zeichenhaft auf das Heilige hin und regt somit einen zweiten Prozess der Immersion an, der auf die Versenkung in die so bezeichneten und innerlich zu betrachtenden Heilsgegenstände abhebt. In seinem Pallium beate Marie virginis, einem wohl vom Alemannischen Marienmantel inspirierten Traktat zur Erläuterung und Propagierung des marianischen Mantelbetens, entwickelt Dominikus von Preußen darauf aufbauend die Konzeption einer überstofflichen Materialität von Gebeten Zusammenfassende Schlussbemerkungen 399 <?page no="400"?> und Frömmigkeitsübungen, die als Rohstoffe eines geistlichen Handwerksprozesses dienen und sich unter gnadenhaft gewährter göttlicher Mithilfe zu sublimen Gegenständen verdichten. Der Gebetsmantel Marias wird hierbei, auch um derartige Frömmigkeitsinnovationen des Spätmittelalters zu legitimieren, als überstoffliche Entsprechung zum alttestamentlichen Bundeszelts aufgezeigt, an dem alle Gläubigen unabhängig von Stand und Geschlecht mitwirken könnten. Diese biblische Präfiguration, so führt das Pallium aus, deute auf das geistlich-konkrete Gewand voraus und instruiere den Prozess seiner Herstellung, werde von dem Frömmigkeitswerk aber durch die Verwendung der sublimen Ausgangsstoffe des Betens und sonstiger Akte der Devotion sogar noch übertroffen. Durch an solche Gedanken anschließende textile Gebets- und Andachtsübungen, wie sie im Spätmittelalter vielfach überliefert sind, sollen sich der ascensus mentis in Deum im Gebet und die Immersion in die Bildlichkeit des Prunkornats zu einer überstofflichen figuralen Wirklichkeit des aus frommen Worten und Handlungen hervorgehenden geistlichen Kleids verdichten, das den Betenden den Beistand und Mantelschutz der Heilsmittlerin Maria zu erwerben vermag. In den zuletzt behandelten Gebäudetexten hingegen werden architektonische Modelle der tugendhaften Selbstformung des inneren Menschen entworfen. Der Rezipient soll sich, präfiguriert durch die sprachliche Darstellung sowie eventuelle biblische Vorbilder, zum geistlichen Kloster, Haus oder Palast erbauen, in den das Göttliche einkehren kann. Im Herzkloster z. B. wird diese Vorstellung des menschlichen Inneren als Bauwerk, die eine bis zu den Paulusbriefen zurückreichende Tradition besitzt, durch die allegorische Engführung von Klosteranlage und Tugendkatalog verwirklicht. Der Rezipient ist, wie die zahlreichen Derivate dieses Textes mit je unterschiedlicher Akzentuierung ausführen, dazu aufgefordert, diesen Bau im Rahmen einer introspektiven Erbauungsübung in sich selbst zu errichten. Gebets- und Andachtsübungen wie die Geistliche Padstube, die Constructio des Dominikus von Preußen, das Geistliche Weihnachtshaus oder der Geistliche Herzensempfang geben zu einem solchen Projekt der Selbstfiguration ein kontrolliertes Verfahren von zählendem Beten und sprachlich instruierten Betrachtungen an die Hand. Diese sind als Material des inneren Hauses vorgestellt, das auf verschiedene Weise funktionalisiert und allegorisiert wird. Stets aber zielen solche Texte auf einen Prozess der Erbauung im Sinne der inneren Umgestaltung und Selbstwirklichkeitsstiftung des gläubigen Menschen. Darin illustrieren sie sowohl eine Konzeption des Erbaulichen im Spätmittelalter, die aedificatio beim Wort nimmt und mit Praktiken des handwerklichen Betens engführt, als auch ein Verständnis des formungsbedürftigen Selbst, das quer zu expressiven Identitätsbegriffen der Moderne steht. Diese drei Korpora von Gebets- und Andachtstexten werfen somit auf der einen Seite literaturhistorische und frömmigkeitsgeschichtliche Schlaglichter auf die zeitgenössische geistliche Schriftkultur. An ihnen lassen sich z. B. literarische Netzwerke, Ordensrivalitäten, Gebetsverbrüderungen und Motiventwicklungen nachvollziehen, die teils bis in die Neuzeit hinein wirksam bleiben. Für die germanistische Mediävistik als Kulturwissenschaft sind dies aufschlussreiche kleine Einblicke, die dabei helfen mögen, die Vielzahl vergleichbarer Texte, die vor allem für das 15. Jahrhundert überliefert sind, zuverlässig zu kontextualisieren. Auf der anderen, darüberhinausgehenden Seite jedoch illustrieren diese Texte auch die nie spannungslosen Dynamiken einer sprachlichen Medialisierung zwischen Immanenz und Transzendenz im ausgehenden Mittelalter. In ihnen strahlen 400 Zusammenfassende Schlussbemerkungen <?page no="401"?> Facetten eines religiösen Umgangs mit Sprache auf, dem die Unmöglichkeit, das letztlich Angesprochene durch Wort und Zeichen vollständig zu vermitteln, gerade nicht als Mangel gilt, sondern als Möglichkeitsbedingung des Bezugs zu einer letztgültigen Fülle. Zusammenfassende Schlussbemerkungen 401 <?page no="403"?> Editionsanhang <?page no="405"?> Vorbemerkung: Allgemeine Editionsprinzipien Alle folgenden kritischen Editionen folgen dem Leithandschriftenprinzip. Dabei richtet sich die Ausgabe, wo mehr als eine Handschrift vorliegt, grundsätzlich nach dem Textzeugen, der dem Beginn der Überlieferung am nächsten steht und den erkennbar am wenigsten korrumpierten Text bietet. Die Überlieferungssituation sowie die davon abhängige Wahl der Leithandschrift werden in den jeweils beigegebenen › Bemerkungen zur Edition ‹ dargelegt und begründet. 1 In Anbetracht der sehr unterschiedlichen Breite der Überlieferung - einige der edierten Texte sind unikal überliefert, für andere dagegen existiert eine zweistellige Zahl an Textzeugen - muss hierbei stark einzelfallspezifisch vorgegangen werden. Sämtliche Eingriffe in den Text der Leithandschriften sind durch Kursivierung kenntlich gemacht sowie im Apparat erläutert. Emendiert wurden, wenn möglich unter Rückgriff auf die Parallelüberlieferung, in erster Linie offensichtliche Schreiberfehler (z. B. Dittographien, Haplographien, Zeilensprünge, Hastenfehler). In zweifelhaften Fällen, insbesondere bei milden grammatikalischen Unregelmäßigkeiten, bleibt der Text der Leithandschrift jedoch unberührt. Im textkritischen Apparat werden im Sinne einer möglichst vollständigen Dokumentation der Überlieferungsgeschichte des jeweils edierten Textes alle sinnverändernden Varianten ebenso wie Kürzungen, Auslassungen und Zufügungen ungeachtet ihrer Ursprungsnähe verzeichnet. Synonymverwendung (z. B. minne und liebe) ist dort ebenfalls dokumentiert. Nicht in den Apparat aufgenommen werden hingegen rein graphische Varianten ebenso wie dialektal bedingte Abweichungen im Lautstand. Dies gilt auch für dialektale Flexionsvarianten (z. B. sunderlich und sunderlichen) oder Wortformen (z. B. stein und gestain), insofern diese die Sinnangebote des Textes nicht berühren. Ebenfalls unberücksichtigt bleiben Unterschiede in der Schreibung von Zahlenangaben, die den numerischen Wert nicht verändern (z. B. x m und zehen tusent). Eindeutige Schreiberkorrekturen übernehme ich stillschweigend und vermerke sie gegebenenfalls auch nicht im Apparat. Wo zwei Textzeugen eine Variante teilen, folgt ihre Schreibung im Apparat der dort erstgenannten Handschrift. Im Sinne der Lesefreundlichkeit nehme ich einige Eingriffe in die Graphie der folgend edierten Texte vor und verfahre auch bei den im Untersuchungsteil aus Handschriften transkribierten Texten entsprechend. Abbreviaturen und nomina sacra werden grundsätzlich aufgelöst. Die Verwendung von v/ u und j/ i ist dem Lautwert angepasst. Langes ſ und rundes s werden ebenso wie das geschweifte z und das kleine z unterschiedslos als s und z wiedergegeben. Die ſ z-Ligatur ist als ß realisiert, cz-Ligaturen gemäß ihrem Lautwert als tz. Alle Texte werden zudem vorsichtig modern interpungiert, wobei, wenn erkennbar, der durch Virgeln, Majuskeln o. ä. angezeigten syntaktischen Gliederung der 1 Auf ausführliche Handschriftenbeschreibungen verzichte ich dabei aus Platzgründen bewusst und verweise stattdessen zusätzlich zu einem auf Datierung, Provenienz und Mitüberlieferung beschränkten Kurzbeschrieb auf die jeweils vorhandene Katalogliteratur. <?page no="406"?> Handschrift gefolgt wird. Großschreibung ist auf Namen, Titel- und Satzanfänge beschränkt. Rubrizierte Überschriften und hervorgehobene Initialen der Leithandschrift werden, wo sie der Textgliederung dienen, durch Fettdruck wiedergegeben. Auch in lateinischen Texten wird zur Herstellung einer besseren Lesbarkeit die Graphie vorsichtig angepasst: v/ u sind ebenso wie j/ i dem Lautwert angepasst (z. B. verbum statt uerbum). Typische schriftliche Merkmale des Mittellateinischen bleiben jedoch bestehen: ae ist z. B. handschriftengetreu durchgängig als e realisiert (z. B. celum statt caelum), y steht mitunter statt i (z. B. ymmo statt immo), ein -tikann in bestimmten lautlichen Umgebungen zum -ciwerden (z. B. annunciacio statt annuntiatio), zwischen m und n steht öfters ein zusätzliches p (z. B. solempnitas statt solemnitas). Auch mitunter ungewöhnliche Namensschreibungen werden nicht normalisiert. Die Schreibung (oft stark abbreviierter) lateinischer Bibelzitate und ihre Übersetzungen ins Deutsche folgen, so der Text keine offensichtlichen Abänderungen vornimmt, der Tusculum-Ausgabe der Vulgata. Als Lesehilfe füge ich allen Texten eine neuhochdeutsche Übersetzung bei. Kommentare und Erläuterungen zum jeweiligen Text werden dabei grundsätzlich in den Fußnoten zu diesen Übersetzungen gegeben. 406 Editionsanhang <?page no="408"?> 1 Alemannischer Marienmantel Dis ist der geistlich mantel unser lieben frowen, der do geordenett ist von den tugenden unsers lieben herren Jhesu Cristi und aller siner usserwelten frúnde, und sunderlichen der, die zu ͦ disem mantel gestúret hant mit tu ͦ nde und mit lossende, mit liden und mit midende - das alles zu ͦ dem mantel geben ist. Disen mantel zu ͦ volbringende und ußzu ͦ bereitende noch dem wolgevallen willen des vatters und noch der eren der wúrdigen mu ͦ ter Marien, so usserwelent wir die wúrdige sele unsers herren Jhesu Cristi und schenckent ir xxxiij tusent Ave Maria in die xxxiij jore, in den sú uns gedienet hett. Und begerent von ir, wo uns hie gebristett, das sú dz mit iren geworen túgenden denn erfúlle und volbringe noch dem willen gottes. Diser mantel sol sin geordent von x elen das kostberlichen guldin tu ͦ ches, das man gehaben mag, und je die ele sol kosten xv tusent Ave Maria. Dis gúldin tuch bezeichent uns die wore go ᵉ tliche mynne, in der ir hertze so kreffteclichen entzúndet was. Das fu ͦ ter under disem mantel sol sin von wissen hermelin zu ͦ einer bezeichnunge ir megtlichen luterkeit. Dis fu ͦ ter sol kosten hundert tusent Ave Maria. Das bort unden umb disen mantel sol sin von rotem golde, und dar in gewúrcket ein blu ͦ gende rebe mit iren frúchten. Dise rebe bezeichent uns unser liebe fro ᵘ we, die uns den edelen trúbel von zyppern hett brocht an dise welte, der durch unsern willen getretten und getrottet ist under dem trotbo ᵘ me des heiligen crútzes, und uns uß sinem minnenden hertzen geschencket het die zwen lebendige flússe. Und begerent, das die zwen lebendige flússe fruchtber machent alle die hertzen, die je zu ͦ disem mantel gestúret hant. Die trúbel an diser reben súllent sin geordenet von allen den mynnetrehen, die in disem dienste vergossen sint. Die bletter an diser reben so ᵉ llent sin alle die andechtigen wort, die in disem dienst gesprochen sint. Diser porte sol kosten zwen selter und xv tusent Ave Maria. Die borte vor abe an disem mantel sol sin von golde und sol kosten zwen selter und xxx tusent Ave Maria. In disem bort sol gewúrcket sin xij rot rosen und xij wisse gilgen. Die rosen súllent bezeichnen die xij stúcke des glouben, die do aller klerlichest in irem hertzen stu ͦ ndent. Die gilgen bezeichent die xij ra ᵉ te unsers herren Jhesu Cristi, die sú uff das aller ho ᵉ chst ervolget het. Die rosen súllent sin von fúnff blettern, die so ᵉ llent geordenet sin von allen synnlichen lústen, die von minnen hie zu ͦ geschencket sint. Mittel in disen rosen so ᵉ llent ston xij messen, die von mynnen hie zu ͦ geben sint. Die gilgen an disem borte sollent sin von vinen berlin. Dise bletter und dise berlin so ᵉ llent sin von xij tusent Ave 1 vorangestellte Titel Unser fro ᵘ wen mantel S - Von dem guldin mantel M den tugenden] trüwen M 2 lieben] fehlt SM sunderlichen] fúrderlich M 4 midende] mynne M mantel] fehlt M 5 ußzu ͦ bereitende] zu ͦ bereiten H - beraiten M wolgevallen] wolgefallenden H S - wol gevallen vnd M 6 noch der eren] fehlt M mu ͦ ter] magt M 7 unsers] erg. lieben M tusent] fehlt M 8 gedienet] verdienet M 9 geworen] trúwen M denn] fehlt KM 10 kostperlichen] köstlichen M 10 f. das man … tuch] das M 12 was] erg. und iegliche öl soll kosten xv tusent Ave Maria und M 13 von wissen hermelin] hermi M 14 megtlichen] minneglichen M 15 Das] der M disen] den M 17 an] in M 18 minnenden] minnen K 19 die] fehlt K das] erg. es M 20 je] ir M 21 sin geordenet] geordnet sin M mynnetrehen] trähen M 23 zwen] xx M 24 f. Die borte … Maria] fehlt K - der porte vor ab disem mantel M 25 - 33 In disem … sin] fehlt M 27 1 Die] erg. zwölff wisen H 29 allen] erg. den H 5 10 15 20 25 30 408 Editionsanhang <?page no="409"?> Dies ist der geistliche Mantel unserer lieben Frau, der da hergerichtet ist von den Tugenden unseres lieben Herren Jesus Christus und aller seiner dazu erwählten Freunde, 1 und insbesondere von denen, die zu diesem Mantel beigesteuert haben mit Tun und mit Lassen, mit Leiden und mit Meiden - all dies wurde zu diesem Mantel hinzugegeben. Um diesen Mantel nach dem wohlgefallenden Willen des Vaters und zu Ehren der würdigen Mutter Maria anzufertigen und herzustellen, wenden wir uns an 2 die würdige Seele unseres Herren Jesus Christus und schenken ihr 33.000 Ave Maria gemäß der 33 Jahre, in denen sie uns gedient hat. Und wir bitten sie, dass sie uns das, woran es uns hier mangelt, mit ihren wahrhaften Tugenden anschließend vervollständige und es vollende nach dem Willen Gottes. Dieser Mantel soll angefertigt sein aus zehn Ellen des kostbarsten goldenen Tuchs, das man nur haben kann, und jede Elle soll 15.000 Ave Maria kosten. Dieses goldene Tuch bezeichnet uns die wahrhafte göttliche Liebe, in der ihr Herz so heftig entflammt war. Das Futter innen an diesem Mantel soll zum Zeichen ihrer jungfräulichen Reinheit aus weißem Hermelin sein. Dieses Futter soll 100.000 Ave Maria kosten. Die Borte unten an diesem Mantel soll aus rotem Gold 3 gemacht sein, in das ein blühender Rebstock mit seinen Früchten hineingearbeitet ist. Dieser Rebstock bezeichnet uns unsere liebe Frau, die für uns die edle Traube von Zypern 4 auf die Welt gebracht hat, die um unseretwillen zerstampft und gepresst wurde unter dem Kelterbaum des heiligen Kreuzes, 5 und uns aus ihrem liebenden Herzen die zwei lebendigen Flüsse geschenkt hat. Und wir wünschen, dass die zwei lebendigen Flüsse all jene Herzen fruchtbar machen, die jemals zu diesem Mantel beigetragen haben. 6 Die Trauben an diesem Rebstock sollen hergerichtet sein aus all den Liebestränen, die in diesem Dienst vergossen wurden. Die Blätter an diesem Rebstock sollen all die andächtigen Worte sein, die in diesem Dienst gesprochen wurden. Diese Borte soll zwei Psalter und 15.000 Ave Maria kosten. Die Borte vorne an diesem Mantel soll aus Gold sein und zwei Psalter sowie 30.000 Ave Maria kosten. In diese Borte sollen zwölf rote Rosen und zwölf weiße Lilien hineingearbeitet sein. Die Rosen sollen die zwölf Stücke des Glaubens bedeuten, 7 die in größter 1 Die große semantische Spannweite von vriunt ( › Freund, Verwandter, Geliebter ‹ ) wird von dieser Übersetzung nicht komplett wiedergegeben. 2 Das Verb ûzerweln wird hier und folgend im Sinne von › einen Adressaten aussuchen/ wählen ‹ verwendet. Um die in eine andere Richtung gehende Konnotation von nhd. › erwählt ‹ oder › auserwählt ‹ zu vermeiden, wird sinngemäß übersetzt. 3 Gemeint ist wohl Goldfaden. 4 Referenz auf die im Spätmittelalter traditionell marianisch ausgelegten Bibelpassagen Ct 4,12 - 15 und Ct 1,14. 5 Metapher im biblischen Kontext von Io 15,1. Die in allen Textzeugen enthaltenen regionalspezifischen Lexeme trotten und trotteböm belegen eine Entstehung des Textes im südwestdeutschen Raum, siehe dazu den Art. Trottbaum und Trotte, in: DWB 22 (1952), Sp. 1076 f. 6 Anspielung auf Io 7,38. 7 Gemeint ist wohl das apostolische Glaubensbekenntnis, das im Mittelalter in zwölf Artikel unterteilt wurde. 1 Alemannischer Marienmantel 409 <?page no="410"?> Maria des aller innerlichesten gebettes, das hie zu ͦ gesprochen ist. Die ko ᵉ rner in disen gilgen so ᵉ llent sin alle die sunderlichen grossen willenbrechen, die hie zu ͦ gebrochen sint von mynnen. Die bletter zwúschent disen rosen und gilgen vorab an den borten so ᵉ llent sin gru ᵉ n, und bezeichent uns die manigvaltigen tugende unser frowen, und so ᵉ llent gemacht sin von allen tugenden, die von mynnen in disem dienst geu ᵉ bet sint. Das bendelin umb das houpt loch dises mantels sol sin von edelem golde, und dar in gewúrcket xv edel stein, gesetzet in xv wise rosen von vinen berlin. Die xv rosen bezeichent uns xv sunderliche tugende, die an ir gewesen sint. Die stein súllent sin die innerlichen zu ͦ kere, die hie zu ͦ geschencket sint. Dis bendlin sol kosten einen salter und zehen tusent Ave Maria. Das schloß an disem mantel súllent sin zwo guldin kettin, geslossen in einander zu ͦ einer bezeichnung der hohen vereinunge go ᵉ tlicher natur mit menschlicher nature in dem megtlichen hertzen Marien. Dise ketten súllent sin x tusent Ave Maria und hundert willen brechen, die der naturen aller wurst hant geton. Die fúrspang an disem mantel sol sin von vinem golde und dar in gewúrcket zwo ᵉ lff edel stein. Das súllent sin zwo ᵉ lff edel messen, die hie zu ͦ gesprochen sint. Der stein mittel in der spangen sol sin von drigen der aller minne richesten messen, die hie zu ͦ gesprochen sint zu ͦ einer bezeichnung der heiligen drúvaltikeit, die so edellich in irem hertzen gewúrcket hett. Dis golt an diser spangen sol kosten alle die innerlichesten súfftzen und die himelschen vermanung, die in mynnen ervolget sint und hie zu ͦ gegeben sint und zwentzig tusent Ave Maria. Diser mantel sol sin durchstro ᵉ wet mit edelem gestein und mit blowen vigelin, die bezeichent uns ir grundlose demu ͦ tikeit. Dise stein und dise vigelin so ᵉ llent sin drúhundert Salve regina und drúhundert willenbrechen und drútusent Ave Maria, die mit crútze venien gesprochen sint. An disem mantel súllent sunderlichen erschinen drye edel gestein. Das súllent sin drige grosse willen brechen, die dem turst unsers herren zu ͦ eren gebrochen sint und hie zu ͦ gegeben sint. Begerent, das der minnende turst unsers herren lo ᵉ sche in uns alle die ungeordente gelúste der creaturen. 33 willenbrechen] willen M 35 uns] fehlt M tugende] fehlt K unser] erg. lieben HM 36 in disem] fehlt M 38 2/ 3 xv] xij KS 1 rosen] erg. gemacht H 39 xv] fehlt K - xij S - lxx M 40 bendlin] erg. vmb disen mantel H zehen] v M 43 vereinunge go ᵉ tlicher natur mit menschlicher nature] vereinunge go ᵉ tlicher natur HS - göttlichen verdienung mitt menschlicher natur M 44 Dise ketten … Maria] fehlt M sin] kosten H 46 vinem] fehlt K 47 Das] die M zwo ᵉ lff] fehlt M mittel] en mitten M 48 drigen] trúwen M minne richesten] inneglichen M 50 diser] der M innerlichesten súfftzen] innerlichen seuffzungen M 51 ervolget] verfolget M 2 und] fehlt M 54 f. so ᵉ llent sin … willenbrechen] seint ccc l willenbrechen und ccc Salve regina M 57 An] in M sunderlichen erschinen] erschynen sunderlichen M 58 willen brechen] becher M unsers] erg. lieben H gebrochen] gesprochen M 58 f. hie zu ͦ gegeben sint] fehlt M 2 sint] erg. wir H 59 lo ᵉ sche in uns] in vnß erlösch M die] fehlt H 35 40 45 50 55 60 410 Editionsanhang <?page no="411"?> Klarheit in ihrem Herzen wohnten. Die Lilien bezeichnen die zwölf Ratschläge unseres Herren Jesus Christus, die sie aufs allerhöchste befolgt hat. 8 Die Rosen sollen je fünf Blätter haben, die aus den Sinnesfreuden hergerichtet sind, die aus Liebe hierzu hergeschenkt wurden. In der Mitte zwischen diesen Rosen sollen zwölf Messen stehen, die aus Liebe hierzu gegeben wurden. Die Lilien an dieser Borte sollen aus feinen Perlen sein. Diese Blätter und diese Perlen sollen aus 12.000 Ave Maria des allerinnigsten Gebets bestehen, das hierfür gesprochen wurde. Die Körner in diesen Lilien 9 sollen all die besonders großen Entsagungen sein, die hierzu aus Liebe erbracht wurden. Die Blätter zwischen diesen Rosen und Lilien vorne an der Borte sollen grün sein, und sie bedeuten uns die vielen Tugenden unserer Herrin, und sie sollen aus all den Tugenden gemacht sein, die aus Liebe in diesem Dienst geübt wurden. Das Band um die Kragenöffnung dieses Mantels soll aus edlem Gold sein, und dareingefügt [sollen sein] 15 Edelsteine, die in 15 weißen Rosen aus feinen Perlen gefasst sind. Die 15 Rosen bedeuten uns 15 besondere Tugenden, die an ihr waren. Die Steine sollen die innigen Zuwendungen sein, die hierzu beigetragen wurden. Das Band um diesen Mantel soll einen Psalter und 10.000 Ave Maria kosten. Die Schließe an diesem Mantel soll aus zwei goldenen Ketten bestehen, die ineinander verschlossen sind als Zeichen der hohen Vereinigung göttlicher Natur mit menschlicher Natur in dem jungfräulichen Herzen Marias. 10 Diese Ketten sollen 10.000 Ave Maria und 100 Entsagungen sein, die der [menschlichen] Natur das allerstärkste Leid zugefügt haben. Die Fürspange 11 an dem Mantel soll aus feinem Gold sein, und dareingefügt [sollen sein] zwölf Edelsteine. Das sollen zwölf edle Messen sein, die hierzu gesprochen wurden. Der Stein in der Mitte der Spange soll aus drei der allerliebreichsten Messen bestehen, die hierfür gesprochen wurden als Zeichen für die heilige Dreifaltigkeit, die so edel in ihrem Herzen gewirkt hat. Das Gold dieser Spange soll all die inniglichen Seufzer und himmlischen Ermahnungen kosten, die in Liebe erfolgt und hierzu gegeben sind, sowie 20.000 Ave Maria. Der Mantel soll mit edlen Steinen und blauen Veilchen verziert 12 sein, die uns ihre grundlos tiefe Demut bezeichnen. Diese Steine und diese Veilchen sollen 300 Salve Regina und 300 Entsagungen und 3.000 Ave Maria sein, die mit Kreuzvenien gesprochen werden. An diesem Mantel sollen drei Edelsteine besonders aufglänzen. Das sollen drei große Entsagungen sein, die zu Ehren des Durstes unseres Herren vollbracht und hierzu gegeben wurden. Wir begehren, dass der liebende Durst unseres Herren in uns alle ungezügelten Gelüste der Kreatürlichkeit lösche. 8 Siehe zu dieser katechetischen Tradition z. B. den vielverbreiteten Traktat Die zwölf Räte Jesu Christi, ediert bei Werlin 1963. 9 Gemeint sind wohl die Staubblätter. 10 Wohl eine Anspielung auf die menschlich-göttliche Doppelnatur Jesu. 11 Eine Art Fibel, die gleichzeitig zum Schließen des Mantels und als Schmuckstück dient: »eine spange zum zusammenhalten des kleides, auch zugleich zum schmucke vornen vor der brust« (Art. Fürspange, in: DWB 4 [1878], Sp. 829). 12 Welche Technik der Verzierung der Ausdruck durch ströwet hier meint, ist nicht vollkommen klar. Lexer gibt für ströuwen als Nebenbedeutung allgemein »zierraten od. als zierrat über ein gewand etc. hinsetzen« an (Lexer, Bd. 2, 1876, Sp. 1249). Dem wird in der Übersetzung sinngemäß gefolgt. 1 Alemannischer Marienmantel 411 <?page no="412"?> Under disem mantel sol getragen werden das mynneclich kindelin, unser herre Jhesus Cristus, von siner wúrdigen mu ͦ ter Marien. Dis kindelin sol gekleidet sin mit einem wissen hemdelin zu ͦ einem zeichen sines lutern lebens. Dis hemd sol gemacht sin von xxxj Paternoster und Ave Maria mit dem Gloria patri und fúnfftusent Ave Maria des aller lutersten gebettes, das hie zu ͦ gesprochen ist. Dis kint Jhesus sol haben ein fúrspenglin vor sinem hertzen, das sol sin von fúnff der aller edelsten gestein, die man haben mag. Das súllent sin fúnff edel messen, die von mynnen hie zu ͦ gesprochen sint. Dise fúnff stein bezeichent uns die fúnff mynnzeichen, die dis kint Jhesus in siner wúrdigen selen tru ͦ g. Mitteln in disem spenglin sol ston ein lúchtender karfunckelstein, und bezeichent uns, das dis kint Jhesus ist ein lúchtendes liecht aller der welte, und diser karfunckelstein sol sin von dryen der aller gro ᵉ sten demu ᵉ tigen gelossen, die von mynne hie zu ͦ geschencket sint. Dis kint sol haben ein krone von drigen zincken zu ͦ einer bezeichnung siner heiligen drúvaltikeit, und dirre zincken jeglicher sol sin von dryen edelen gesteinen. Das súllent sin drige messen. Und an jeglichem zincken zwúschent disen dryen an diser kronen súllent ston tusent viner berlin. Das súllent sin tusent Ave Maria, die mit crútz venien gesprochen sint. Die schin an diser kronen sol sin von vinem golde und dar in gewúrcket nún edel stein. Das súllent sin alle die sunderlichen liden, die in gedult gelitten sint und in disen mantel geschencket sint. Diß golde an diser kronen und ouch die vinen berlin, die hie zu ͦ geho ᵉ rent, súllent kosten x tusent Ave Maria. Die kron, die dise edele kúngin Maria uff irem houpt tragen sol, sol sin von dem aller vinesten edelsten golde, das man haben mag, und sol sin von xij sternen. Die sternen so ᵉ llent sin xij messen, und umb jeden sternen súllent ston hundert viner berlin. Das súllent sin xij hundert willen brechen, die sunderlichen zu ͦ diser kronen gegeben sint. Zwúschent disen sternen súllent ston xij edele lúchtende steine. Das súllent sin alle die innerlichen erlúchtende inhitzigen begirde, die hie zu ͦ gegeben sint. Dise krone edelichen zu ͦ zierende und zu ͦ volbringende bevelhent wir den, die sich von minnen dirre kronen underwunden hant. 61 unser] erg. lieber H 62 kindelin] erg. Jhesus H wissen] erg. sydin túchlin vnd M 63 von] fehlt M 64 1 Maria] erg. und M 65 gesprochen] geschriben M 66 2 sol] erg. gemacht H 66 f. von fúnff … gestein] von der aller edelsten staun v M 68 mynnen] liebe H zu ͦ ] fehlt M 69 dis] sin M Jhesus] fehlt K 71 diser] der M 72 gelossen] gelassenheit HM mynne] liebe H geschencket] gesprochen M 73 kint] kindelin Jhesus H bezeichnung] bezaigung M 74 jeglicher sol] sellent M 75 Und] fehlt K an jeglichem … kronen] fehlt M dryen] erg. steinen H 76 ston] sin H viner] fehlt H Maria] erg. die Ave Maria K, wohl Dittographie venien gesprochen] wamend M 78 - 80 Die schin … sint] fehlt M 81 x] v M 82 edele] fehlt M 83 edelsten] fehlt M Die sternen] fehlt K 84 xij] súben K jeden] yeglichen M 85 sunderlichen] sunlich M 86 ston xij … súllent] fehlt M steine] fehlt K 87 hie] fehlt M edelichen] fehlt M 88 dirre kronen] der M 65 70 75 80 85 412 Editionsanhang <?page no="413"?> Unter diesem Mantel soll das liebreizende Kindlein, unser Herr Jesus Christus, von seiner würdigen Mutter Maria getragen werden. Dieses Kindlein Jesus soll als Zeichen seines reinen Lebens mit einem weißen Hemdchen bekleidet sein. Dieses Hemd soll gemacht sein aus 31 Paternoster und Ave Maria mit dem Gloria Patri sowie 5.000 Ave Maria des allerreinsten Gebets, das hierzu gesprochen wurde. Das Jesuskindlein soll eine kleine Fürspange vor seinem Herzen haben, die gemacht sein soll aus fünf der alleredelsten Steine, die man nur haben kann. Das sollen fünf edle Messen sein, die aus Liebe hierzu gesprochen wurden. Diese fünf Steine bezeichnen uns die fünf Liebeszeichen, die das Jesuskind in seiner würdigen Seele trug. In der Mitte dieser Spange soll ein leuchtender Karfunkelstein 13 stehen, und das bezeichnet uns, dass dieses Jesuskind ein leuchtendes Licht für die ganze Welt ist, 14 und dieser Karfunkelstein soll aus drei der allergrößten demütigten Gelassenheiten 15 sein, die aus Liebe hierzu geschenkt sind. Das Kind soll als Zeichen seiner heiligen Dreifaltigkeit eine Krone mit drei Zacken haben, und jeder dieser Zacken soll aus drei edlen Steinen bestehen. Das sollen drei Messen sein. Und an jeglichem Zacken zwischen diesen dreien sollen an dieser Krone 1.000 Perlen angebracht sein. Das sollen 1.000 Ave Maria sein, die mit Kreuzvenien gesprochen wurden. Der Reif dieser Krone soll aus feinem Gold sein, und dareingefügt [sollen sein] neun Edelsteine. Das sollen all die besonderen Leiden sein, die mit Geduld gelitten und zu diesem Mantel hergeschenkt wurden. Das Gold an dieser Krone sowie die feinen Perlen, die hierzugehören, sollen 10.000 Ave Maria kosten. Die Krone, die diese edle Königin Maria auf ihrem Kopf tragen soll, soll aus dem allerfeinsten edelsten Gold sein, das man haben kann, und soll aus zwölf Sternen bestehen. Die Sterne sollen zwölf Messen sein, und um jeden Stern herum sollen 100 feine Perlen angebracht sein. Das sollen 100 Entsagungen sein, die speziell zu dieser Krone gegeben wurden. Zwischen diesen Sternen sollen zwölf leuchtende Edelsteine eingefasst sein. Das soll all das innerlich aufleuchtende, heiße Verlangen sein, das hierzu gegeben wurde. Diese Krone edel zu verzieren und zu vollenden befehlen wir jenen an, die sich aus Liebe dieser Krone angenommen haben. 16 13 karfunckelstein ist einerseits eine generische Bezeichnung für rotfarbene Edelsteine wie z. B. Rubin oder Granat; vgl. z. B. Lexer, Bd. 1, 1872, Sp. 1518. Andererseits bezeichnet das Wort auch ein kostbares, in der Dunkelheit leuchtendes Fantasiejuwel; vgl. DWB, 11 (1873), Sp. 212. 14 Anspielung auf Lc 2,32 und vergleichbare neutestamentliche Bezeichnungen Christi als lux mundi. 15 Welche Andachts- oder Askeseübung hier mit gelossen gemeint ist, lässt sich aus dem Kontext nicht erschließen. Zu diesem aus dem Neologismenschatz der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ stammenden Lexem siehe die Aufsätze in Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt u. Imke Früh (Hgg.): Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17). 16 Die Erwähnung der Krone mit zwölf Sternen bezieht sich auf die in Apc 12,1 - 6 beschriebene, im Mittelalter als Maria gedeutete Erscheinung der apokalyptischen Frau. Der Verweis auf eine weitere, spezifisch auf diese Krone bezogene Andachtsübung jedoch kann sich z. B. auf den in der Tradition des marianischen Rosenkranzes stehenden, bislang ebenfalls unedierten Andachtstext Die Krone unserer lieben Frau mit den zwölf Sternen zu beziehen, der überliefert ist u. a. in Bielefeld, Stadtarchiv und landesgeschichtliche Bibliothek, cod. Hgb 154; vgl. Hartmut Beckers: Art. Bielefelder Gebetbuch, in 2 VL 1 (1979), Sp. 858 f. Einen Überblick über die vielfältige Gebetsgattung der Marienkronen gibt Hardo Hilg: Art. Krone unserer lieben Frau, in: 2 VL 5 (1985), Sp. 384 - 392. 1 Alemannischer Marienmantel 413 <?page no="414"?> Disen mantel umbzu ͦ tu ͦ nde der edelen kúngin, so usserwelen wir den wúrdigen herren sanctum Dominicum und den wúrdigen sanctum Franciscum, die zwen orthaber gewesen sint der heiligen cristenheit. Den schenckent wir von disem gebet xx tusent Ave Maria, das sú erwúrdiclichen nebent diser kúngin súllent gon zu ͦ lobe ir und irem kinde. Dise krone uffzu ͦ tu ͦ nde dirre erwúrdigen kúngin und ir erlich vorzu ͦ gonde zu ͦ dem tempel, so usserwelent wir den wúrdigen gemynnten usserwelten junger sant Johans ewangelisten und den erwúrdigen hochgelopten herren sant Johans baptisten, und schenckent inen von disem gebette drissig tusent Ave Maria zu ͦ lob der wúrdigen mu ͦ ter Marien und irem kinde. Dirre kúngine und irem kinde den wege edelichen zu ͦ zierende zu ͦ dem tempel, so usserwelent wir den wúrdigen herren sanctum Paulum, das er die manigvaltiger leige blu ͦ mlin zette. Die súllent sin alles das ungezalte gebette und tugende, die hie zu ͦ geben sint. Und schenckent ime x tusent Ave Maria. Diser kúngin nochzu ͦ gonde zu ͦ dem tempel, so usserwelent wir die wúrdigen jungfrowen sant Cloren, sant Angnesen, sant Kathrinen, sant Margreden, sant Cecilien, sant Lucien und sant Dorotheen, die sol die túbelin tragen zu ͦ dem tempel. Dise túbelin súllent kosten zwey hundert willenbrechen. Disen jungfrowen allen schencken wir fúnff und drissig tusent Ave Maria, und allen reinen megden zehen tusent Ave Maria zu ͦ lobe dirre kúngin. Dem lieben Joseph, der ein getrúwer pfleger gewesen ist der wúrdigen mu ͦ ter Marien und ires kindes und ouch by disem wúrdigen ußgonde gewesen ist, dem schenckent wir ouch von disem gebette fúnff tusent Ave Maria zu ͦ lobe unser lieben frowen und irem kinde. Zu ͦ disem wúrdigen ußgonde der edelen kúngin so usserwelent wir die ix ko ᵉ re der engele zu ͦ dienst und zu ͦ lob der mu ͦ ter Marien und irem kinde und schenckent in ix tusent Ave Maria dis gebettes. Und begerent, das sú mit irem su ᵉ ssen gesang und lobe swebent in den luffte zu ͦ eren der wúrdigen kúngin und irem kinde. Dis wúrdige oppfer und alle die tugende, die hie zu ͦ geschencket sint, wúrdeclichen zu ͦ brisende und uß zu ͦ kúndende noch dem wúrdigen lobe der himelschen kúngin und ires kindes, so usserwelent wir die zwen hochgelopten herren sanctum Augustinum und sanctum Bernhardum, die do zwene sunderlich wúrdige ußkúnder gewesen sint des lobes und der manigvaltigen tugende unser lieben frowen und so manigen su ᵉ ssen spruch von ir gesprochen hant. Den schenckent wir ouch von disem gebette zwentzig tusent Ave Maria zu ͦ lobe der reinen megde Marien und irem kinde. 90 usserwelen] erwelen K 91 Dominicum und … Franciscum] Francizcen vnd sant Dominicum M gewesen] fehlt M 92 - 94 das sú … vorzu ͦ gonde] der kúnigin vnd irem kind zu ͦ lob vnd ze eren der wirdigen kúngin erlichen vor gang M 95 gemynnten usserwelten] lieb gehabten M 96 erwúrdigen] wirdigen M 98 Marien] fehlt M 99 Dirre kúngine und irem kinde] fehlt HM 100 er] fehlt M leige] mangelay M 101 hie] fehlt H 102 ime] inen M 104 Angnesen] erg. und M Margreden] erg. und M 104 f. sant Lucien] fehlt H 105 und] fehlt M sol die] fehlt M 106 allen] fehlt M 106 f. wir fúnff und drissig] xxxiiij S 107 megden] junckfra ᵘ wen M zehen] je H dirre] der M 109 gewesen ist] ist gewesen H - ist gewesen der kúngin vnd M 110 ires] erg. liebes M ußgonde] erg. der edelen kúnigin H gewesen ist] ist gewesen M 111 fúnff] fúr v S 111 f. und irem kinde] fehlt K 113 ußgonde] erg. ist M so] fehlt H usserwelent] erwelen S 115 begerent] begerung M 116 wúrdigen] fehlt M 117 und] fehlt M 118 uß zu ͦ kúndende] ze kúnden M 119 usserwelent] erwelen S 120 zwene sunderlich] sunderlich zwen M 122 ouch] fehlt M disem] erg. wirdigen M 123 irem] erg. lieben H 90 95 100 105 110 115 120 414 Editionsanhang <?page no="415"?> Um diesen Mantel der edlen Königin anzulegen, wählen wir den würdigen Herrn Sankt Dominikus und den würdigen Sankt Franziskus aus, die zwei Urheber der heiligen Christenheit gewesen sind. Denen schenken wir von diesem Gebet 20.000 Ave Maria dafür, dass sie ehrwürdig neben dieser Königin gehen sollen zu ihrem und ihres Kindes Lob. Um diese Krone der ehrwürdigen Mutter aufzusetzen und ihr ehrenvoll zum Tempel voranzuschreiten, 17 wählen wir den würdigen, geliebten und auserwählten Jünger Sankt Johannes den Evangelisten und den ehrwürdigen, hochgelobten Herrn Sankt Johannes den Täufer aus und schenken ihnen 30.000 Ave Maria von diesem Gebet zum Lob der würdigen Mutter Maria und ihres Kindes. Um für diese Königin den Weg zum Tempel edel zu schmücken, wählen wir den ehrwürdigen Herrn Sankt Paulus aus, damit er viele Sorten von Blumen streue. Die sollen all die ungezählten Gebete und Tugenden sein, die hierzu gegeben sind. Und wir schenken ihm 10.000 Ave Maria. Um dieser Königin auf dem Weg zum Tempel nachzuschreiten, wählen wir die würdigen Jungfrauen Sankt Klara, Sankt Agnes, Sankt Katharina, Sankt Margaretha, Sankt Cäcilia, Sankt Lucia und Sankt Dorothea aus, die sollen die Täubchen zum Tempel tragen. Diese Täubchen sollen 200 Entsagungen kosten. Diesen Jungfrauen schenken wir zusammen 35.000 Ave Maria, und allen reinen Jungfrauen 10.000 Ave Maria zum Lob dieser Königin. Dem lieben Josef, der ein treuer Behüter 18 der würdigen Mutter Maria und ihres Kindes gewesen ist und der auch bei diesem würdigen Auszug dabei war, schenken wir von diesem Gebet ebenfalls 5.000 Ave Maria zum Lob unserer lieben Frau und ihres Kindes. Zum Dienst und Lob der Mutter Maria und ihres Kindes bei diesem würdigen Auszug der edlen Königin wählen wir die neun Chöre der Engel aus und schenken ihnen 9.000 Ave Maria von diesem Gebet. Und wir bitten darum, dass sie mit ihrem süßen Gesang und Lobpreis durch die Lüfte schweben zu Ehren der würdigen Königin und ihres Kindes. Um dieses würdige Opfer und all die Tugenden, die hierzu hergeschenkt sind, würdig zu lobpreisen und zu verkünden gemäß dem würdigen Lob der Himmelskönigin und ihres Kindes, wählen wir die beiden hochgelobten Herren Sankt Augustin und Sankt Bernhard aus, die zwei besonders ehrwürdige Verkünder des Lobs und der mannigfaltigen Tugenden unserer Lieben Frau gewesen sind und auch so manchen süßen Satz über sie gesagt haben. Ihnen schenken wir ebenfalls 20.000 Ave Maria von diesem Gebet zum Lob der reinen Jungfrau Maria und ihres lieben Kindes. 17 Die folgenden Abschnitte des Andachtstexts nehmen Bezug auf die Darstellung Jesu im Tempel, eine Episode aus dem Lukasevangelium (Lc 2,22 - 39), die veraltet auch als Tempelopferung Jesu bezeichnet wird - die Verwendung des Wortes opffer reflektiert dies. 18 Das Wort pfleger, mit dem Joseph hier betitelt wird, bezeichnet im monastischen Sprachgebrauch des Spätmittelalters auch den männlichen Sachwalter und Rechtsbeistand eines Frauenklosters. Die entsprechende lat. Bezeichnung ist procurator oder provisor; vgl. auch den Art. Pfleger, in: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der ältesten deutschen Rechtssprache, hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 10: Notsache bis Ræswa, hg. v. Heino Speer, Stuttgart 2001, Sp. 925 - 932. 1 Alemannischer Marienmantel 415 <?page no="416"?> Diser wúrdigen himelschen kúngin und irem kinde engegenzu ͦ gonde und das heil aller der welte erwúrdiclichen zu ͦ entpfohende, so erwelen wir den lieben herren Symeon, der do zu ͦ von got erwelet was. Und schenckent im einen salter und fúnff tusent Ave Marie zu ͦ lobe der kúngin und irem kinde, und begerent, das ein jeglich luter hertze in mynnender begirde engegen gang der himelschen kúngin und irem kinde und das heile aller der welte geistlichen entpfohen in hitziger mynnender begirde, also in her Symeon entpfing liplichen an sin arme. Dis wúrdig oppfer zu ͦ volbringende noch dem wolgefallenden willen des himelschen vatters, so usserwelent wir den wirdigen herren sanctum Petrum und alle zwo ᵉ lffbotten und die vier ewangelisten und die vier lerer der heiligen cristenheit und alle heiligen, und schenckent inen allen von disem gebette drissig tusent Ave Maria zu ͦ lob der wúrdigen mu ͦ ter Maria und irem kinde. Unde zu ͦ troste den armen ellenden selen in dem vegefúr und zu ͦ hilff allen menschen uff ertrich, so schenckent wir ouch dis gebettes drissig tusent Ave Maria und alle die vigilien und alle Miserere, die zu ͦ disem mantel gesprochen sint, in das vegefúre den armen ellenden selen zu ͦ trost und allen menschen uff das ertrich zu ͦ besserunge ires lebens. Alles das gebette, das hie zu ͦ disem mantel gesprochen ist oder noch gesprochen wúrt, und alle die willen, die hie zu ͦ gebrochen sint oder noch gebrochen werdent von mynnen, und alle die gehorsamen und dienst, die do geschehen sint in disem mantel oder noch geschehent, und alle die tugende, die do geu ᵉ bet sint oder noch geu ᵉ bet werdent von mynnen in disem mantel - dis bevelhent wir alles der erwúrdigen wisen werckmeisterin diß mantels, der mynnenden selen unsers herren Jhesu Cristi, das sú dis gebette und alle dise tugende fúrbaß ordenen und zieren in disen mantel noch dem aller liebsten wolgevallen willen des himelschen vatters und noch eren der himelschen kúngin und ires kindes. Dis ist die ordenung des geistlichen mantels unser lieben frowen noch dem gemeinesten synne, also man es geworten kúnde. Doch bevelhen wir es allen mynnenden hertzen, das sú es neher und innerlicher mit begirde in ordenent in das vetterlich hertze, do alles gu ͦ t uß geflossen ist. Amen 124 irem] erg. lieben H 125 herren] fehlt S - erg. sant M 126 von] fehlt KS fúnff] xv M 127 der kúngin] dem kúnge M irem] erg. lieben M 128 das] fehlt M 131 Dis wúrdig] die wirdigen M dem] fehlt K wolgefallenden] wolgevallen vnd M 132 herren] erg. vnd fúrsten H 133 1 die vier] vier H - fehlt M 1 heiligen] fehlt H 136 ellenden] fehlt M 139 ellenden] fehlt HSM 140 gebette] geltes M hie] nye M 141 2 die] erg. je S - erg. nye M zu ͦ gebrochen] vßgesprochen M 2 gebrochen] gesprochen M mynnen] liebi M 143 1 und] oder M do] dar zu ͦ M 144 mynnen in] liebin zu ͦ M 145 mynnenden] liebhabenden M unsers] erg. lieben HM 147 wolgevallen] erg. und M 148 ires] erg. lieben H 149 gemeinesten] ainvältigosten M 150 geworten kúnde] gewarten kan K - zu ͦ worten mag bringen M mynnenden] liebhabenden M 151 neher und … ordenent] nächern und vnß bewert werd mitt verdienen M 152 Amen] fehlt H 125 130 135 140 145 150 416 Editionsanhang <?page no="417"?> Um dieser würdigen Himmelskönigin und ihrem Kind entgegenzugehen und das Heil der ganzen Welt in Würden zu empfangen, wählen wir den lieben Herrn Simeon aus, der von Gott dazu auserwählt wurde. 19 Und zum Lob der Königin und ihres Kindes schenken wir ihm einen Psalter und 5.000 Ave Maria und bitten darum, dass jedes lautere Herz der Himmelskönigin und ihrem Kind mit liebendem Verlangen entgegengehe und das Heil der ganzen Welt in heißem liebendem Verlangen geistig empfange, so wie Simeon es leiblich in seine Arme empfing. Um das würdige Opfer nach dem wohlgefallenden Willen des himmlischen Vaters zu vollbringen, wählen wir den würdigen Herren Sankt Petrus und alle zwölf Apostel und die vier Evangelisten sowie die vier Lehrer der heiligen Christenheit 20 und alle Heiligen, und schenken ihnen allen zusammen 30.000 Ave Maria von diesem Gebet zum Lob der würdigen Mutter Maria und ihres Kindes. Und zum Trost für die armen, elenden Seelen im Fegefeuer sowie zur Hilfe für alle Menschen auf Erden schenken wir auch 30.000 Ave Maria von diesem Gebet sowie all die Vigilien und Miserere, 21 die für diesen Mantel gesprochen wurden, in das Fegefeuer, den armen Seelen zum Trost und allen Menschen auf Erden zur Besserung ihres Lebens. Alle Gebete, die hier zu diesem Mantel gesprochen wurden oder noch gesprochen werden, und alle Entsagungen, die hierzu erlitten wurden oder noch aus Liebe erlitten werden, und all der Gehorsam und die Dienste, die in diesem Mantel geleistet wurden oder noch geleistet werden, und alle Tugenden, die dabei geübt wurden oder noch aus Liebe geübt werden in diesem Mantel - all das überreichen wir der ehrwürdigen, weisen Werkmeisterin dieses Mantels, der liebenden Seele unseres Herren Jesus Christus, auf dass er daraufhin diese Gebete und all diese Tugenden an dem Mantel weiter herrichte und verzierend anbringe 22 nach dem allerliebsten wohlgefallenden Willen des himmlischen Vaters und zu Ehren der Himmelskönigin und ihres lieben Kindes. Dies ist die Ordnung des geistlichen Mantels unserer lieben Frau in der einfachsten Weise, auf die man sie in Wort fassen kann. Jedoch fordern wir alle liebenden Herzen dazu auf, dass sie ihn noch genauer und inniglicher mit Begierde hineinordnen in das väterliche Herz, aus dem alles Gute ausgeflossen ist. Amen. 19 Gemeint ist hier der Prophet Simeon, vgl. Lc 2, 25 - 35. Im Lukasevangelium ist beschrieben, wie Simeon Jesus bei dessen Darstellung im Tempel auf den Arm nimmt und in ihm den Messias erkennt. Das Wort entpfahen meint hier dementsprechend zunächst das Halten des Jesuskinds, daneben jedoch stellt es auch den Terminus für den Empfang der geweihten Hostie bei der Eucharistie dar - mit dieser Ambivalenz spielt der Text. 20 Gemeint sind hier die lateinischen Kirchenväter Augustinus, Gregor der Große, Hieronymus und Ambrosius. 21 Die Vigil meint hier wohl den nächtlichen (bzw. zur hora matutina geleisteten) Teil des Stundengebets, der in den Frauenklöstern des Spätmittelalters oft zur kontemplativen Nachtwache erweitert wurde. Miserere bezieht sich auf das Eingangswort des Bußpsalms Ps 50, dessen 17. Vers (Domine labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam) das Invitatorium des Stundengebets einleitet. 22 Ob die Wendung ordenen und zieren in der Textilsprache des Spätmittelalters vielleicht einen spezifischen Werkschritt meinte, geht aus den einschlägigen Wörterbüchern nicht hervor und muss offenbleiben. Hier wurde daher bewusst allgemein übersetzt. 1 Alemannischer Marienmantel 417 <?page no="418"?> Nu ͦ begerent wir von grunde unsers hertzen an die wúrdige, usserwelte, hochgelopte mu ͦ ter Marien und an ir hertzeliebs kint Jhesus Cristus, das sú unseren kleinen dienst und unser armes gebette nút versmohent und es fruchtber machent vor dem anblicke des himelschen vatters in dem wúrdigen verdienen ires eingebornen kindes und in yren fruchtberen tugenden. Nu ͦ begerent wir an die wúrdigen mu ͦ ter Marien und an ir liebes kint, das sú den mantel ir grundelosen mu ᵉ terlichen erbermde uff tu ͦ gegen allen den, die von mynnen hie zu ͦ gestúret hant, und uns und allen menschen, von den sú gebetten wil werden, das sú uns alzit behu ᵉ te vor allem dem, das ir und irem kinde mißvallen mag an uns. Und sunderlichen an unserm tode, das sú uns denn unser sele entpfohe under den mantel ir mu ᵉ terlichen grundlosen erbermde und uns leite von disem ellende in das ewige vatter land, do wir sú und ir kint in fro ᵉ iden schowent ewenclichen. Amen. Wir armen und unwirdigen súndigen creaturen, durch die dise ordenung geschehen ist, begere von minnen und durch got, das ein jeglicher mensche, der dise ordenung ho ᵉ ret lesen oder liset, spreche ein Ave Maria zu ͦ lob unser lieben frowen und irem kinde zu ͦ besserunge unsers lebens noch dem liebsten willen gottes. Amen. Dis ist die summe dis gebettes: drige und fúnfftzig messen, sechs selter, sechs werbe hundert werbe tusent Ave Maria, drúhundert Salve regina, sechs tusent Ave Maria, die mit crútz venien gesprochen sint, und eins und drissig Paternoster und Ave Maria und Gloria patri und tusent fúnffhundert und drúhundert willen brechen und sunder drige grosse. One das ungezelte gebette und tugende und liden, das in gedult gelitten ist und zu ͦ einer gezierde an disem mantel gegeben ist von mynnen. 153 grunde unsers] gantzem M 156 verdienen] erg. verdienens K, wohl Dittographie ires] seines M kindes] súns M yren] den M 157 tugenden] erg. der junckfraw Maria M 160 uns und allen] fúr all die allen M von den] fúr die M 161 behu ᵉ te] behúten well M 162 den] iren M 163 uns leite] vnser gelayt sy M ewige] erg. leben vnd in das M 164 in] mit K schowent] bescho ᵘ wen M 165 Wir] mir S und] fehlt H die dise ordenung] die ordunge die M 166 begere von minnen] bitten wir von liebin M 166 got] gotz willen M 166 f. ho ᵉ ret lesen oder liset] liset oder höret lesen HM 167 liset] erg. der M 168 liebsten] fehlt M 169 - 174 Dis ist … mynnen] fehlt M 169 2 dis] erg. vorgeschriben H werbe] werde H 170 werbe] fehlt H 174 mynnen] erg. Amen S. 155 160 165 170 418 Editionsanhang <?page no="419"?> Nun bitten wir aus tiefstem Herzen die würdige, auserwählte, hochgelobte Mutter Maria und ihr herzensliebes Kind Jesus Christus, unseren geringen Dienst und unser dürftiges Gebet nicht zu verschmähen und es vor den Augen des himmlischen Vaters fruchtbar zu machen in dem würdigen Verdienst ihres eingeborenen 23 Kindes und in ihren fruchtbaren Tugenden. Nun bitten wir die würdige Mutter Maria und ihr liebes Kind, den Mantel ihrer grundlosen mütterlichen Barmherzigkeit aufzutun für alle die, die aus Liebe dazu beigetragen haben, und uns und alle Menschen, die sich je an sie wenden werden, allzeit 24 vor allem zu behüten, was ihr und ihrem Kind an uns missfallen könnte. Und besonders in unserer Sterbestunde möge sie dann unsere Seelen unter dem Mantel ihrer mütterlichen, grundlos tiefen Barmherzigkeit empfangen und uns aus diesem Elend in die ewige Heimat führen, wo wir sie und ihr Kind auf ewig in Freuden schauen werden. Amen. Wir armen und unwürdigen sündigen Geschöpfe, durch die diese Ordnung verfasst wurde, bitten aus Liebe und um Gottes willen, dass ein jeder Mensch, der diese Ordnung vorgelesen hört oder liest, zum Lob unserer lieben Frau und ihres Kindes sowie zur Besserung unseres Lebens nach dem liebsten Willen Gottes ein Ave Maria spreche. Amen. Das ist die Summe des obigen Gebets: 53 Messen, 6 Psalter, 600.000 Ave Maria, 300 Salve Regina, 6.000 mit Kreuzvenien gesprochene Ave Maria, 31 Pater Noster mit Ave Maria und Gloria Patri sowie 1.800 Entsagungen und dazu drei besonders große. Ungeachtet der ungezählten Gebete und Tugenden und des Leids, das geduldig gelitten wurde und als Zierde aus Liebe zu diesem Mantel hinzugegeben ist. 23 Hier als eingedeutschter theologischer Terminus für die Inkarnation verwendet. 24 Die im Original flüssigere rhetorische Doppelung von uns wurde in der Übersetzung ausgelassen. 1 Alemannischer Marienmantel 419 <?page no="420"?> Handschriften K: Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtenthal 87, fol. 215r - 220v. Sprache, Datierung und Provenienz: alemannisch, um 1450 - 1454, wohl Straßburg (Urkundenfragmente). Inhalt: Heiligenviten und Legenden, Traktate und Predigten, Gebetsübungen. Darunter finden sich zwischen kleineren Stücken eine Vita der Lidwina von Schiedam (fol. 1r - 85v), eine Legende von den 11.000 Jungfrauen der heiligen Ursula (fol. 88v - 126r), eine Cordula- Legende (fol. 125v - 127r), eine volkssprachige Übertragung des Liber revelationum der Elisabeth von Schönau (fol. 127v - 145r), Exempla von den 11.000 Jungfrauen der heiligen Ursula (fol. 145r - 153r), eine umfangreiche Passionsandacht (fol. 153v - 186v), Auszüge aus Meister Eckharts Rede der underscheidunge (fol. 193r - 198r) sowie die Fünf Ave Maria aus Mechthilds von Hackeborn Liber specialis gratiae (fol. 223v - 224v). Literatur: Felix Heinzer u. Gerhard Stamm: Die Handschriften von Lichtenthal, mit einem Anhang: Die heute noch im Kloster Lichtenthal befindlichen Handschriften des 12. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1987 (Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe 11), S. 204 - 208. S: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang 591, S. 265 - 289. Sprache, Datierung und Provenienz: alemannisch, 2. Hälfte 15. Jh., Klarissenkloster St. Dorothea in Freiburg im Breisgau (Besitzeintrag). Inhalt: Verschiedene Heiligenviten und Legenden, Gebetsübungen. Darunter die Legende von den 11.000 Jungfrauen der heiligen Ursula (S. 1 - 161), eine volkssprachige Übertragung des Liber revelationum der Elisabeth von Schönau (S. 162 - 233), Exempla von den 11.000 Jungfrauen der heiligen Ursula (S. 234 - 259), eine Cordula-Legende (S. 260 - 264), Gebetsexzerpte aus Mechthilds von Hackeborn Liber specialis gratiae (S. 295 - 302). Die Textzusammenstellung weist auf einen Zusammenhang mit K und H. Literatur: Beat Matthias von Scarpatetti: Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. Bd. 1, Abt. IV: Codices 547 - 669, Wiesbaden 2003, S. 129 - 131. H: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 108, fol. 86r - 90r. Sprache, Datierung und Provenienz: elsässisch-niederalemannisch mit schwäbischem Einschlag (vgl. Zimmermann 2003, S. 247), 3. Viertel 15. Jh., Südwestdeutschland. Inhalt: Heiligenlegenden und Gebete. Darunter die Legende von den 11.000 Jungfrauen der heiligen Ursula (fol. 1r - 47v), eine Cordula-Legende (fol. 48r/ v), eine volkssprachige Übertragung des Liber revelationum der Elisabeth von Schönau (fol. 49v - 62v), Exempla von den 11.000 Jungfrauen der heiligen Ursula (fol. 63v - 69r), Gebete zu Ursula und den 11.000 Jungfrauen (fol. 70v - 76r), eine Dorothea-Legende (fol. 77r - 85v), die Legende von den 10.000 Märtyrern (fol. 91r - 100v), die Agnes-Legende aus Der Heiligen Leben (fol. 101r - 105r). Die Textzusammenstellung weist auf einen Zusammenhang mit K und S, wobei die Ursulatexte auf fol. 1r - 69r auch in einigen weiteren Handschriften im Verbund überliefert sind (vgl. mit weiteren Angaben Zimmermann 2003, S. 247). Literatur: Karin Zimmermann unter Mitwirkung von Sonja Glauch, Matthias Miller u. Armin Schlechter: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1 - 181), Wiesbaden 2003 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 6), S. 246 - 248. 420 Editionsanhang <?page no="421"?> M: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 783, fol. 168r - 173r. Sprache, Datierung und Provenienz: alemannisch, 1477, Südwestdeutschland (die Erwähnung einer Schwester Elisabeth Schmidin auf fol. 167v weist eventuell auf das Terziarinnenkloster Unlingen, vgl. Schneider 1984, S. 329). Inhalt: Neben verschiedenen marianischen Gebeten und Predigten sowie geistlichen Kurztexten finden sich das Buch von geistlicher Armut (fol. 1r - 167v), die Erzählung Meister Eckharts Wirtschaft (fol. 180v - 182v), die Zwölf Räte Christi (fol. 185v - 190r), eine volkssprachige Teilübertragung von Bonaventuras Soliloquium (fol. 198r - 211v). Literatur: Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691 - 867, Wiesbaden 1984 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,5), S. 329 - 333. Bemerkungen zur Edition Ein Vergleich der Textzeugen ergibt, dass keine direkten Abhängigkeiten untereinander bestehen. Eine Stemmatisierung scheint somit nicht zielführend, obwohl die Überlieferung grob in zwei Zweige (KS und HM) unterteilt werden kann. Einige Bindefehler von K und S, besonders die bildlogisch sinnlose Verschreibung von xv zu xij in Z. 38 sowie eine Haplographie von von in Z. 126, zeigen, dass diese beiden Handschriften wohl auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen und somit einen ersten Überlieferungszweig bilden. Die Handschrift H ist durch diese Varianten von KS getrennt und muss einem zweiten, eigenen Zweig zugerechnet werden. In diesen zweiten Überlieferungszweig gehört auch der Textzeuge M, der durch einige Bindefehler mit H zusammenhängt. Allerdings bietet M einen generell stark korrumpierten Text, der zudem wohl aus einer falsch zusammengebundenen Vorlage abgeschrieben wurde, so dass einzelne Textabschnitte sinnlos durcheinander stehen und im Rahmen der Kollation zunächst in die richtige Ordnung gebracht werden mussten. Der Editionstext folgt der Leithandschrift K (Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtenthal 87). Diese Wahl plausibilisiert sich sowohl durch den im Vergleich mit den übrigen drei Überlieferungszeugen bloß wenige offenkundige Abschreibefehler aufweisenden Text dieser Handschrift als auch dadurch, dass es sich hier um den mutmaßlich ältesten erhaltenen Textzeugen handelt, der zudem aus Straßburg stammt, also aus dem vermutlichen Abfassungsort des Alemannischen Marienmantels. Emendiert wurden am Text von K neben offensichtlichen Hastenfehlern, Dittographien und vergessenen Nasalstrichen auch Stellen, an denen eine gemeinsame Variante aller drei übrigen Textzeugen einen Wort- oder Zeilensprung nahelegt. Dies birgt die Gefahr, bewusste Kürzungen der Leithandschrift rückgängig zu machen, ist aber vielfach zur Herstellung eines grammatikalisch stimmigen Texts nötig. Sinnvolle Ergänzungen in K (ellenden in Z. 139, mit menschlicher nature in Z. 43) werden dagegen stehengelassen. Wo Emendationen notwendig waren, wird grundsätzlich nach S emendiert, bei sinnentstellenden Bindefehlern des Überlieferungszweigs KS nach H. 1 Alemannischer Marienmantel 421 <?page no="422"?> 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis Pallium beate Marie virginis In Almania superiori, Argentine videlicet et in partibus circum adiacentibus, persone quedam religiose in tantum, prout audivimus, in Christi caritate et devocione sancta profecerunt, ut nulla prorsus alia cogente infirmitate lectulis decumbant, solo divino languentes amore desiderioque patrie celestis accensi. Ibidem et exercicium novum bonum atque devotum nuper, videlicet ante biennium, inchoatum est nobisque huc Treverim et aliis in partes alias est transmissum, ut quemadmodum ipsi illic ita et nos hic pallium similiter faciamus. Inceperunt enim pallium misticum quoddam preciosissimum conficere regine celi, perpetue virgini sancte Marie, quod tale et tantum tam latum et amplum fore debet, quod omnia genera hominum sub hoc ad se confugencium suscipere, protegere ac conforvere valeat. Fit autem hoc idem pallium non de mundi huius seu alia qualicumque corruptibili materia, auri videlicet vel argenti, purpure bissini vel iacincti. Sed offerunt ad hoc homines pii atque devoti preces varias, missas et virtuosas operaciones, spiritualia, ut docet apostolus, spiritualibus comparantes. Sed quia nemo mortalium artificum ad opus tam magnificum ydoneus reperiri posset in terris, eciam si Beseleel et socius eius Ooliab hic adhuc essent in mundo et omnis vir eruditus, cui deus dederat sapienciam et intelligenciam ad operandum in auro et argento, in purpura, bisso, opere gemmario ac polinitario, ad faciendum omne opus ad cultum tabernaculi illius, quod tempore Moisi fabricatum fuit, non sufficerent ad faciendum pallium dignum sanctissime dei genitrici regine celorum et imperatrici sanctorum angelorum. Hoc attendentes et intelligentes supermemorati homines devoti, qui spiritu sancto inspirati hoc opus primitus inceperunt, de propriis viribus et suis virtutibus non confidentes, ymmo de omni humana industria desperantes, angelorum quoque subtilitatem transcendentes magistram operum divinorum et virtutum omnium perfectissimam operatricem quesierunt. Et invenerunt ac elegerunt ad opus hoc agendum videlicet animam domini nostri Iesu Cristi experientissimam operum huiusmodi practicam. Ipsa quippe, unita dei verbo, per quod facta sunt omnia, et una persona cum illo effecta, archana omnia novit scilicet divina et scit sola pre omnibus creatis unde et qualiter istud gloriosum domine nostre pallium fieri possit ac debeat perfici, ut acceptum sit illi et placitum in conspectu summi dei, ad cuius laudem et gloriam omnia fieri debent quecumque bona sive in celo sive in terra. 1 Pallium beate Mariae virginis] de initio pallii gloriose virginis Marie K1 erg. P Dominici Carth Trevirensis oben am Rand von späterer Hand K2 2 Almania] Alamania K1 videlicet] fehlt K1 6 et] fehlt K1 7 partes] partibus K1 9 misticum quoddam] quoddam misticum K1 13 vel argenti, purpure bissini vel iacincti] et argenti purpure vel bissini aut iacincti K1 16 si] fehlt K2 adhuc essent] essent adhuc K1 17 dederat] erg. scienciam vel K1 18 bisso] bysso K1 19 Moisi] moysi K1 20 genitrici] genitricis K1 23 primitus] primo K1 26 agendum] erg. sacratissimam K1 videlicet animam] animam videlicet K1 28 et una persona cum illo effecta, archana omnia] fehlt K1, wohl Zeilensprung 30 illi] ei K1 5 10 15 20 25 30 422 Editionsanhang <?page no="423"?> Der Mantel der seligen Jungfrau Maria In Südwestdeutschland, d. h. in Straßburg und in den angrenzenden Gegenden, sind, wie wir gehört haben, gewisse geistliche Personen so sehr in der Liebe zu Christus und in heiliger Andacht fortgeschritten, dass sie, ohne durch andere Krankheit dazu gezwungen zu sein, auf ihren Betten darniederlagen, allein durch heilige Liebe kraftlos und entflammt von der Sehnsucht nach der himmlischen Heimat. Ebendort wurde vor kurzer Zeit, d. h. vor zwei Jahren, auch eine neue, gute und andächtige Übung begonnen, und sie wurde zu uns hierher nach Trier und zu anderen in anderen Gegenden geschickt, damit deshalb auch wir hier auf ähnliche Weise wie dort diesen Mantel anfertigen. 1 Sie fingen nämlich damit an, für die Königin des Himmels und ewige Jungfrau, die heilige Maria, eine Art mystischen und überaus kostbaren Mantel anzufertigen, der so beschaffen und so groß, so breit und weit sein muss, dass er alle Menschengeschlechter, die zu ihm flüchten, aufzunehmen, unter ihm zu beschützen und zu hegen vermag. Dieser Mantel entsteht jedoch nicht aus einem Stoff aus dieser Welt oder aus irgendeinem anderen vergänglichen Material wie Gold oder Silber, purpurner oder blaufarbener Leinwand. Stattdessen tragen fromme und andächtige Menschen verschiedene Gebete, Messen und tugendhafte Werke zu ihm bei, indem sie, wie der Apostel lehrt (I Cor 2,13), Geistiges mit Geistigem erwerben. Weil aber kein sterblicher Handwerker auf Erden gefunden werden könnte, der zu so einem großartigen Werk fähig wäre, würden sie, selbst wenn Bezalel und sein Gefährte Oholiab (Ex 31,2 - 6, 35,30 - 34) noch hier auf der Welt wären sowie jeder gelehrte Mann, dem Gott die Weisheit und den Verstand gab, mit Gold und Silber zu arbeiten, mit Purpurstoff, feiner Leinwand, Steinschneidearbeit und Damastweberei, um ein jedes Werk zum Schmuck jenes Bundeszelts zu verfertigen, das zur Zeit des Mose errichtet wurde (Ex 31,1 - 11; 35,35), nicht ausreichen, um einen würdigen Mantel für die allerheiligste Gottesgebärerin, die Himmelskönigin und Herrin der heiligen Engel zu machen. Dies beachtend und verstehend suchten die oben erwähnten andächtigen Menschen, die vom Heiligen Geist erfüllt zuerst mit diesem Werk begannen, ihrer eigenen Kräfte und ihrer Tugenden unsicher, ja vielmehr an jeglicher menschlicher Bemühung verzweifelnd, die Feinsinnigkeit sogar der Engel übertreffend, 2 nach einer Lehrerin göttlicher Werke und vollkommensten Werkmeisterin aller Tugenden. Und sie fanden und erwählten, um 1 Dies dürfte sich auf den Alemannischen Marienmantel beziehen. 2 Beide Textzeugen geben an dieser Stelle klar transcendentes, was sich grammatikalisch auf die homines beziehen muss, die mit dem Mantelbeten begonnen haben. Deshalb übersetze ich hier auch entsprechend. Inhaltlich wesentlich sinnvoller schiene jedoch ein auf die gesuchte magistra bezogenes transcendentem, das im Sinne von »eine die Feinsinnigkeit sogar der Engel übertreffende Lehrerin« übertragen werden müsste. Ich vermute darum hier einen Abschreibfehler in der gemeinsamen Vorlage beider Handschriften, nehme jedoch, da dies Spekulation bleibt, keine Konjektur am lateinischen Text vor. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 423 <?page no="424"?> Non ergo sumus nos hii, a quibus pallium hoc virgini fit gloriose, nec ex munusculis hiis conficitur, que obtulerimus nos ad hoc, quia nostrorum bonorum non eget anima Iesu Christi, que pallium hoc perficiendum electa est. Sed nutum tantummodo benivolencie nostre ostendimus, ut si quid boni ad opus hoc agere vel prestare possemus, libenter faceremus, querentes piam quandam occasionem, qua applicare nos, sic valeamus, ad matrem ipsam misericordie, quatenus eius protecti pallio a malis omnibus per eam liberari mereamur. Quantumvis enim Iesu Cristi anima thesauros habeat incomparabilis et nullius egeat, quia data est ei omnis potestas in celo et in terra, fructum tamen nostre industrie et fidelis laboris requirit propter nos. Legitur enim in pluribus devotorum scriptis, quod dominus ipse Sabaoth, deus universorum, plus delectatur in parvis, qui a devotis hominibus fiunt in terris, quam in magnis, qui sibi ab angelis exhibentur in celis. Quia in celis deo serviunt sine labore et cum gaudio magno cuncta faciunt. Sed homo hic in mundo corpore gravatus, terrena inhabitacione depressus, necessitatibus, infirmitatibus, temptacionibus et variis miseriis implicatus, si is sibi violenciam facit laudando deum et fideliter sibi serviendo et amore adherendo, hoc deus sacrificium amplius acceptat quam id, quod in celis absque labore sibi exhibetur. Quidquid ergo quilibet nostrorum prevalet, offerat ad pallium istud, et sciat indubitanter, quod laboris sui seu muneris, quod obtulerit, condignam et superhabundantem recipiet remuneracionem. Et sicut ad tabernaculum olim federis, quod beatam eciam virginem prefiguravit Mariam, voluntaria quivis dona offerebat, unusquisque quod potuit, sicut in Exodo legitur, ita et ad hoc pallium virginis gloriose ornandum offerat, quilibet, quod sibi placuerit et potest, ut particeps eius efficiatur, et sub eo in die furoris domini ab omnibus malis, qui meruit, abscondatur. Que tamen sint illa ad hoc offerenda, in scriptis nobis huc missa legimus, quod videlicet primi istius pallii adiuventores offere ceperunt. Qui enim litterati fuerunt, psalteria, cantica canticorum seu alias oraciones devotas ex scriptis dixerunt. Sacerdotes missas legerunt, quam plures laici vero innumeras milia Ave Maria ad pallium hoc obtulerunt, ementes quasi preciosissimum pannum et fimbrias aureas et reliqua varia ornamenta ad ornatum pertinencia, multis semper milibus angelicis salutacionibus pro singulis dictis. Insuper exercicia multa in religione militantibus consueta inserverunt ad ornandum pallium virtuosissime virginis virtutibus et disciplinis et studiis bonis, videlicet in frangendo proprias voluntates, in conpescendo in se insurgentes pravos motus, fugando a se desideria illicita, a licitis eciam non necessariis abstinendo, vicia fugiendo, aliena minime concupiscendo, propria largiendo, non sua sed ea, que Iesu Christi sunt, in omnibus hiis querendo, laudem videlicet et gloriam dei solius et sanctissime virginis Marie matris eius in cunctis, qui vel paterentur aut agerent, pure cupiendo. Talibus et similibus donis spiritualibus in pallium Marie mente devota oblatis valde sibi placent et plurimum adornant illud. 34 nostrorum bonorum] bonorum nostrorum K1 36 ut] fehlt K1 40 egeat] eget K1 42 erg. am Rand von späterer Hand Nota Istud sane intelligendum est quia simpliciter loquendo non est verum K2 44 et] fehlt K1 46 et] fehlt K1 47 si] sic K1 52 olim] fehlt K1 58 istius pallii] pallii istius K1 59 oraciones devotas] devotas oraciones K1 63 Insuper] erg. et K1 64 1 et] fehlt K1 68 1 et] fehlt K1 70 placent] placet K1 35 40 45 50 55 60 65 70 424 Editionsanhang <?page no="425"?> dieses Werk zu betreiben, selbstverständlich die in solcherlei Werken erfahrenste und tätige Seele unseres Herrn Jesus Christus. Denn diese selbst, eins mit dem Wort Gottes, durch das alle Dinge geschaffen wurden, und als eine Person mit ihm zusammen hervorgebracht, kennt nämlich alle heiligen Geheimnisse, und sie weiß als einzige vor allen Geschöpfen, woraus und wie der herrliche Mantel unserer Herrin entstehen kann und hergestellt werden muss, auf dass er jener willkommen sei und gefällig im Angesicht des höchsten Gottes, zu dessen Lob und Ruhm im Himmel wie auf Erden alle wie auch immer guten Dinge getan werden sollen. 3 Somit sind nicht wir diejenigen, von denen dieser Mantel für die ruhmreiche Jungfrau gemacht wird, noch wird er aus den kleinen Gaben gefertigt, die wir dazu dargebracht haben, denn die Seele Jesu Christi, die diesen Mantel zu verfertigen erwählt ist, bedarf unserer Güter nicht. Stattdessen erbringen wir lediglich einen Erweis unseres guten Willens, dass wir, wenn wir etwas Gutes zu diesem Werk tun oder beitragen könnten, dies gern täten, und jegliche fromme Gelegenheit suchen, uns, wenn wir denn können, dieser Mutter der Barmherzigkeit zuzuwenden, damit wir es verdienen, von ihrem Mantel beschützt durch sie von allem Bösen befreit zu werden. Obgleich nämlich die Seele Jesu Christi so unvergleichliche Schätze hat und keiner Sache entbehrt, weil ihr alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, verlangt sie um unseretwillen dennoch nach der Frucht unserer Mühe und frommer Anstrengung. Es ist zudem in vielen Schriften frommer Autoren zu lesen, dass der Herr Zebaot selbst, der Gott der gesamten Welt, sich mehr freut über die ärmlichen Dinge, die von frommen Menschen auf Erden geschehen, als über die großen Dinge, die ihm im Himmel von den Engeln dargeboten werden. Denn im Himmel dienen sie Gott ohne Anstrengung und tun alles mit großer Freude. Doch der Mensch hier auf Erden, der vom Körper beschwert, vom Bewohnen der Erde niedergedrückt, in Notlagen, Schwächen, Versuchungen und allerlei Übel verwickelt ist, wenn der sich Gewalt antut, um Gott zu loben und ihm treu zu dienen und mit Liebe an ihm zu hängen, so nimmt Gott dieses Opfer lieber an als jenes, das ihm im Himmel mühelos dargebracht wird. Was also auch immer wer auch immer von uns gut vermag, er trage es zu diesem Mantel bei und wisse ohne jeden Zweifel, dass er für seine Mühen oder für die Gaben, die er darbringt, eine angemessene und überreichliche Belohnung erhalten wird. Und wie einst zum Zelt des Alten Bundes, das auch auf die Jungfrau Maria vorauswies, ein jeder, wie er es vermochte, freiwillige Gaben darbrachte, so wie es im Buch Exodus heißt (Ex 35,4 - 29), so biete auch ein jeder dar, was ihm gefallen habe und was er kann, um den Mantel der ruhmreichen Jungfrau zu zieren, damit er zu seinem Teilhaber werde und am Tag des Zorns des Herrn unter ihm vor allen Übeln, die er verdient hat, verborgen werde. Was jedoch jene Dinge seien, die hierzu beizutragen sind, lesen wir hierher zu uns gesandt in den Schriften, nämlich was die ersten Unterstützer dieses Mantels darzubieten erdachten. Diejenigen nämlich, die lesen konnten, sagten Psalter, Hohelieder oder andere fromme Gebete aus den Schriften auf. Die Priester lasen Messen, in noch größerer Zahl aber boten Laien wahrhaft unzählige tausend Ave Maria zu diesem Mantel dar, so als ob 3 Das Motiv der Seele Christi als Werkmeisterin ist direkt aus dem Alemannischen Marienmantel übernommen. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 425 <?page no="426"?> Hec et nos pro modulo nostro offerre studeamus animo devoto et sincero corde, ut cooperatores simus pietatis et nos. Premittamus aliquid ante nos, quod hinc inveniamus, a nobis prius thesaurizatum in celis. Ubi enim fuerit thesaurus noster, ibi erit et cor nostrum. Et cum defecerimus hic, recipiant nos in eterna tabernacula ibi, ubi relique devotorum anime pausant sub pallio virginis gloriose latissimo, velut in umbraculo refrigerati ab estu mundi, in tentorio securitatis perpetue collocati, in pulchritudine pacis, in tabernaculo fiducie et requie opulenta, ut dicit Ysaias, sabbatum agentes delicatum. Hec et omnia bona sub amplissimo dei genitricis Marie pallio latentes hereditabunt iure perpetuo, quia filii ipsius et servi fideles inventi sunt et ideo cum ipsa gaudebunt in eternum. Festinemus igitur et nos ingredi in requiem eius, facientes singuli notabile quoddam pro ipsius honore et pallii eius ampliore decore. Qui missas ad hoc offerre volumus, possumus secundum ordinem sanctissime vite sue celebrare. Primo de eius generosa concepcione. Secundo de eius dignissima in utero sanctificacione. Tercio de regali ipsius nativitate. Quarto de devota ipsius in templum presentacione. Quinto de dominica sibi ab angelo facta annunciacione. Sexto de virgineo partu ipsius cum officio Salve sancta parens. Septimo de superhabundante illius purificacione. Octavo de suavissima ipsius dormicione scilicet officium Vultum tuum. Nono de gloriosissima eius assumpcione. Hiis ita dictis missis pallium Marie plurimum credimus ornari, quia tocius sacratissime ipsius vite series per ordinem in pallio recensita apparebit. Legitur enim in libro spiritualis gracie de vestimentis glorie ipsius, quod assumpta in celum speciali claritate vestes illius relucebant et miro modo sanctissime vite ipsius merita atque virtutes in ipsis apparebant ita, ut omnes sancti venientes coram ea singuli sua merita in ea contemplabantur, et ipsam sanctis suis meritis omnes ac singulos precellere incomparabiliter gaudentes admirabantur atque ad laudandum deum in ea nova leticia ineffabiliter accendebantur. Ipsa est mulier illa benedicta inter mulieres, mulier amicta sole, amicta lune sicut vestimento, cuius radii tamquam quatuor anguli pallii sui quatuor mundu partes illustrant et contegunt, et non est, qui se abscondat a calore caritatis illius, nisi, qui rennuit et refugit foveri ab ea. O, quanta et quam gloriosa est regina hec celorum, mundi domina, rectrix angelorum sic glorificata et illustrata ut ceteros illustrans, mater domini et virgo sancta Maria, circumdata varietate, fimbriis aureis adornata, monilibus immensis decorata, dyademate imperiali coronata et circumamicta varietatibus, variis videlicet virtutibus, divinis graciis, innumeris meritis, multis privilegiis, singularibus prerogativis, donis dicata celestibus et muneribus eciam terrestribus a nobis quibuscumque nobis possibilibus honorata! 73 pietatis et nos] et nos pietatis K1 76 velut] velud K2 83 sanctissime vite sue] vite sue sanctissime K1 84 ipsius] eius K1 erg. am Rand von späterer Hand modo ecclesia credit eam preservata ab omni originali peccato K1 85 devota ipsius in templum presentacione] eius devota presentacione K1 87 illius] eius K1 92 illius] ipsius K1 ipsius] illius K1 94 sanctis] fehlt K1 omnes] fehlt K2, wohl Wortsprung 98 illius] eius K1 100 ut] ac K1 75 80 85 90 95 100 105 426 Editionsanhang <?page no="427"?> sie damit einen überaus kostbaren Stoff kauften sowie goldene Borten und verschiedenen weiteren zum Gewand gehörigen Zierrat, für jedes einzelne Stück wurden stets viele tausend Englische Grüße gesprochen. Darüber hinaus haben sie auch viele Übungen, die denen, die in der Gottesverehrung streiten, vertraut sind, um den Mantel der Jungfrau höchst tugendhaft zu schmücken, mit Tugenden und Zucht und guten Anstrengungen eifrig betrieben, d. h. im Brechen des eigenen Willens, im Unterdrücken der schlechten Regungen, die sich in einem selbst erheben, durch Abweisen unerlaubter Begierden von sich, durch Sich-Enthalten sogar von erlaubten aber nicht notwendigen Dingen, durch Flucht vor Lastern, dadurch, dass man Fremdes gar nicht begehrt, durch Verschenken von Eigenem, dadurch, dass man in all diesen Dingen nicht Eigenes sucht, sondern das, was Jesu Christi ist, dadurch, dass man rechtschaffen Preis und Ruhm Gottes allein und der heiligsten Jungfrau Maria, seiner Mutter, bei allen wünscht, die etwas erleiden oder tätig sind. Aus solchen und ähnlichen mit frommem Sinn zum Mantel Marias dargebrachten geistlichen Gaben ziehen sie großen Gefallen und schmücken ihn sehr. So sollen auch wir uns bemühen, aus frommem Geist und reinem Herzen unser Maß beizutragen, damit auch wir Mitwirkende der Frömmigkeit seien. Lasst uns etwas vorausschicken, was wir hier erwerben mögen, [so dass es] von uns im Himmel vorher angelegt [sei]. 4 Denn da wo unser Schatz gewesen sein wird, da wird auch unser Herz sein (Mt 6,21; Lc 12,34). Und wenn wir hier verblichen sein werden, mögen sie uns dort in den ewigen Zelten aufnehmen (Lc 16,9), wo die Seelen der verstorbenen Frommen unter dem allerweitesten Mantel der ruhmreichen Jungfrau ruhen, wie im kühlen Schatten erfrischt von der Hitze der Welt, im Zelt der ewigen Sicherheit versammelt, in der Schönheit des Friedens, an einem sicheren Wohnort und sorgenfreien Ruheplatz, wie Jesaja spricht (Is 32,18), einen freudigen Sabbat feiernd. So werden ihnen auch rechtshalber alle unter dem allumfassenden Mantel der Gottesgebärerin Maria verborgenen guten Dinge auf ewig zu teil, denn sie wurden als ihre Kinder und treuen Diener aufgefunden und werden sich darum mit ihr in Ewigkeit freuen. So lasst also auch uns eilen, in ihre Ruhe einzutreten, ein jeder denkwürdig etwas für ihren Ruhm und zum größeren Schmuck ihres Mantels leistend. Insofern wir Messen dazu beitragen möchten, können wir diese der Ordnung ihres allerheiligsten Lebens folgend feiern. Die erste zu ihrer edlen Empfängnis. Die zweite zu ihrer würdigsten Heiligung im Mutterleib. Die dritte zu ihrer königlichen Geburt. Die vierte zu ihrem frommen Tempelgang. Die fünfte am Sonntag ihrer Verkündigung durch den Engel. Die sechste zu ihrer jungfräulichen Niederkunft und mit dem Offizium Salve sancta parens. Die siebte zu ihrer überprächtigen Reinigung. Die achte anlässlich ihrer allersüßesten Entschlafung, und zwar mit dem Offizium Vultum tuum. Die neunte zu ihrer allerglorreichsten Himmelfahrt. Wir glauben, dass durch die so gesprochenen Messen der Mantel der Marias vielfach verziert wird, weil der Ablauf ihres gesamten allerheiligsten Lebens der Reihe nach auf dem Mantel gefeiert erscheinen wird. So ist auch im Buch der besonderen Gnade von den Kleidern ihrer Herrlichkeit zu lesen, dass aufgefahren in den Himmel ihre Kleider in einem besonderen Glanz erstrahlten, und dass die Verdienste und Tugenden ihres allerheiligsten Lebens auf wundersame Weise 4 Das lateinische thesaurizare wird anderweitig oft als › einschatzen ‹ , › schatzbehalten ‹ oder › thesaurieren ‹ übersetzt. Um ein verständliches Neuhochdeutsch zu gewährleisten, verzichte ich auf derartige Archaismen und gebe das Wort, auch auf die Gefahr eines Anachronismus hin, als › anlegen ‹ wieder. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 427 <?page no="428"?> Oracio: Miserere nostri, domina, miserere nostri! In gloria summa collocata, memento velut altera Hester dierum humilitatis tue, quomodo in valle paupertatis nostre olim nutrita fueris. Ne exaltata super choros angelorum obliviscaris umquam pauperum tuorum! Populum tuum et domum patris tui ne tradideris oblivioni! Inclina aurem tuam ad preces nostras, manum tuam dexteram famulis et famulabus tuis pretende, pallium tuum super nos lacius extende. Omnes ad te confugentes apprehende ab ira iudicis, ab insidiis maligni hostis atque malis ab omnibus nos semper defende. Tutum habeamus, o domina, refugium ad te, securum inveniamus presidium apud te. Nemo tuorum repulsam umquam hic paciatur. A bonis iam tecum existentibus nullus nostrum abigatur, nec malorum quorumcumque violencia ad te venire prohibeatur. Liberum semper ad te habeamus accessum, per te ad filium, et per ipsum ad omnipotentem patrem suum. Hac de causa de pallio tuo, o virgo beata, nitimur operari. Hoc modo cupimus reconciliari, et hac gracia rogamus in perpetuum dicari et speramus salvari te, misericordissima mater pro nobis interveniente, et filio tuo Iesu Christo prestante, qui cum patre et spiritu sancto vivit et regnat in secula. Amen 106 erg. am Rand von späterer Hand Nota K2 109 tuam] fehlt K1 114 abigatur] erg. et K1 115 semper ad te] ad te semper K1 filium] erg. tuum K1 117 de] in K1 119 tuo] erg. domino nostro K1 110 115 120 428 Editionsanhang <?page no="429"?> dort auf ihnen erschienen, so dass alle Heiligen, die vor sie traten, je einzeln ihre Verdienste darin erblickten und freudig darüber staunten, dass sie in ihren heiligen Verdiensten alle und jeden einzelnen unvergleichbar übertraf, und unaussprechlich dazu entflammt wurden, in dieser neuen Freude Gott zu loben. 5 Dies ist jene gesegnete Frau unter den Frauen, die Frau, die von der Sonne umgeben und vom Mond umgeben ist wie mit einem Gewand (Apc 12,1), dessen Strahlen wie die vier Zipfel ihres Mantels die vier Erdteile erleuchten und schützen, und es gibt niemanden, der sich vor der Hitze ihrer Liebe verberge noch irgendjemanden, der es ablehnt oder dem entflieht, von ihr gewärmt zu werden. Oh, wie groß und wie glorreich ist diese Königin der Himmel, die Herrin der Welt, die Anführerin der Engel, die derart gerühmt und erleuchtet ist, dass sie die anderen erleuchtet, die Mutter des Herrn und heilige Jungfrau Maria! Sie ist umgeben von Vielfalt (Ps 44,10), mit goldenen Borten geschmückt (Ps 44,14), mit unermesslichen Juwelen geziert, mit einer kaiserlichen Krone gekrönt und umgeben von Vielfältigkeiten (Ps 44,10), d. h. von verschiedenen Tugenden, göttlichen Gnaden, unzähligen Verdiensten, vielen Vorrechten und einzigartigen Vorzügen, geweiht mit himmlischen Gaben, und wird auch mit irdischen Geschenken von uns auf jede uns mögliche Weise geehrt! Gebet: Erbarme dich unser, Herrin, erbarme dich unser! Thronend in der höchsten Herrlichkeit, erinnere dich wie eine zweite Esther an die Tage deiner Demut und daran, wie du einst im Tal unserer Armut aufwuchsest (Est 15,2). Erhoben über die Chöre der Engel, vergiss dennoch niemals deine Armen! Lass dein Volk und das Haus deines Vaters nicht dem Vergessen anheimfallen (Ps 44,11)! 6 Beuge dein Ohr nieder (Ps 44,11) zu unseren Gebeten, strecke deine rechte Hand deinen Dienern und Dienerinnen entgegen, breite deinen Mantel weit über uns aus. Bewahre alle, die zu dir fliehen, vor dem Zorn des Richters und verteidige uns auf immer gegen die Listen des bösen Feindes und gegen alles Übel. Mögen wir, oh Herrin, eine gewisse Zuflucht bei dir haben, mögen wir sicheren Schutz bei dir finden! Keiner der deinigen möge hier jemals Zurückweisung erfahren. Von den schon bei dir befindlichen Guten werde keiner durch uns vertrieben, noch werde wer auch immer von den Schlechten mit Gewalt davon abgehalten, zu dir zu kommen. Mögen wir stets freien Zugang zu dir haben, und durch dich zu dem Sohn, und durch ihn zu seinem allmächtigen Vater. Aus diesem Grund, oh selige Jungfrau, strengen wir uns an, an deinem Mantel zu arbeiten. Auf diese Weise wünschen wir versöhnt zu werden, und bitten, in Ewigkeit in dieser Gnade gesegnet zu werden, und hoffen, erlöst zu werden durch dich, die allerbarmherzigste Mutter, die für uns eintritt, und durch deinen vortrefflichen Sohn Jesus Christus, der mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebt und herrscht in Ewigkeit. Amen 5 Vgl. Mechthild von Hackeborn: Liber specialis gratiae, S. 91 [I,26]: Regina autem gloriæ stabat a dextris Filii, vestita lucidis simis speculis, in quibus omnia merita Sanctorum miro modo elucebant. Unde omnes Sancti ante thronum cum gaudio venientes, singuli sua merita contemplabantur, ac deinde in novas laudes prorumpentes dulcissime Deo jubilabant. Dominikus geht hier recht frei mit Mechthilds Text um, in dem Marias Kleider Spiegeln gleichen, in denen die Heiligen nicht das Marienleben, sondern ihre eigenen Taten sehen. 6 Dominikus kehrt hier die Aussage des Psalmworts um, das lautet: Audi filia et vide et inclina aurem tuam et obliviscere populum tuum et domum patris tui. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 429 <?page no="430"?> Et notandum, quod realiter dicendo veritatem pallium beate Marie recens non est nec novum a nobis fit, quia de hoc ante tempora nostra dicta et scripta quam plura reperimus, eciam exempla, que tamen nos ad operandum in hoc pallio amplius inflammant. Nam in Cesario legitur, quod domina nostra in tantum amavit ordinem Cisterciensem, quod personas ordinis illius pre ceteris sub pallio suo fovebat in celis. Sed quia ordo ille heu a primo suo fervore prolapsus est et pauci eorum, ut timendum est, iam anhelent ad illud pallium, nos aditum illum, quo veniatur illuc, apertum interim servare cupimus, donec reformentur, atque interim eciam inseri, ut et nos cohabitare ipsis possimus et ad pedes piissime matris nostre quiete residere atque sub pallii illius tentorio perpetue gaudere. Non egemus, fratres carissimi, vos alloquor personas ordinis prefati, timere, ne forte sufficiat nobis et vobis pallium istud, quasi angustus utrisque fieri posset locus, si videlicet et nos graciam virginis gloriose susceperit sub pallio protectionis ac dilectionis sue. Non egemus tale quid formidare nec emulari invicem aut contendere pro hac re. Satis amplum est et longum, magnum et latum pallium Marie, ita quod et demones eam ex hoc latam appelant, et omnes precipue confugientes ad se sine preiudicio alicuius suscipere valet. Non enim pallium beate Marie tale censendum est quale, commemorat Ysaias propheta, pallium videlicet breve, quod utrumque operire non valeat, nec palliolo illi Ruth paupercule assimilandum, quo vix sex modii ordii imponi poterant. Sed pocius regine Hester pallio regali comparari potest, cuius indumenta usque ad humum defluebant ita, ut a duabus pedissequis eius necessario habebat sustentari. Beatissima eterna virgo Maria, sole divinitatis amicta, regio decore fulcita, cum ad rogandum pro populo suo ad deum regem summum procedit, pallii sue protectionis magnificas fimbrias usque ad terram super nos pauperes se diligentes submittit, virginitate ac fecunditate sua quasi duabus pedissequis sustentatas ac dilatatas. Insuper pro securiore omnium nostrorum admissione ac pallii istius insuspicabili capacitate credenda addimus, ut super tactum est, de substancia non proprie nostra sed dei munuscula quedam et voluntaria dona, quibus philacteria pallii ipsius dilatare et fimbrias magnificare conamur, et variis quibus possumus clenodiis adornare. Et quicumque aliquid ad ornandum seu amplificandum hoc pallium ante se premiserit, ad inveniendum sub eo tutum latibulum ac certum refugium spem habebit. Solacium quoque pallii huius dominus nobis hic penitentibus atque lugentibus adhuc repromittit, dicens per propheta Ysaiam: Dabo eis coronam pro cinere, unctionem leticie pro luctu, et pallium laudis pro spiritu meroris. Beati igitur qui lugent, quoniam ipsi eciam consolabuntur sub pallio virginis et matris graciose. 122 plura] plurima K1 125 ordo ille heu] heu ille ordo K1 132 pallio] passio nachträglich korrigiert zu pallio K1 136 Marie] erg. pallium K1, wohl Dittographie 138 ordii] ordei K1 139 comparari potest] potest comparari K1 149 ornandum] orandum nachträglich korrigiert zu ornandum K1 154 graciose] gloriose K1 125 130 135 140 145 150 430 Editionsanhang <?page no="431"?> Und es ist anzumerken, dass, um die Wahrheit zu sagen, der Mantel der seligen Maria wirklich nicht neu ist noch erst jetzt durch uns entsteht, weil wir dazu auch gar vieles finden, was vor unserer Zeit gesagt und geschrieben wurde, darunter auch Exempel, die uns freilich zur Arbeit an diesem Mantel noch stärker entflammen. Denn bei Caesarius ist zu lesen, dass unsere Herrin den Orden der Zisterzienser so sehr liebte, dass sie die Mitglieder jenes Ordens vor den übrigen im Himmel unter ihrem Mantel bei sich hegte. Da aber leider jener Orden von seinem anfänglichen Eifer abgefallen ist und wenige von ihnen, wie zu fürchten ist, noch nach jenem Mantel streben dürften, wünschen wir jenen Zugang, durch den man dorthin kommt, in der Zwischenzeit offen zu bewahren, bis sie reformiert werden, und unterdessen auch uns einzureihen, damit auch wir vermögen, mit ihnen zusammenzuwohnen und uns zu Füßen unserer tugendhaftesten Mutter ruhig niederzulassen und uns unter dem Zelt ihres Mantels auf ewig zu freuen. Wir brauchen nicht zu fürchten, liebste Brüder, so sage ich zu euch Mitgliedern des vorgenannten Ordens, dass dieser Mantel nicht für uns ebenso wie für euch tüchtig ausreiche, so als ob der Platz zu eng für beide werden könne, wenn denn auch wir unter dem Mantel ihres Schutzes und ihrer Liebe die Gnade der glorreichsten Jungfrau erlangten. Wir brauchen vor so etwas keine Angst zu haben, noch müssen wir eifersüchtig aufeinander sein oder uns um diese Sache streiten. Denn groß und lang, breit und weit genug ist der Mantel Marias, so dass die bösen Geister sie deshalb › die Weite ‹ nennen und sie insbesondere alle, die bei ihr Zuflucht suchen, ohne irgendjemandes Nachteil aufnehmen kann. Denn der Mantel der seligen Maria ist nicht so zu bemessen wie der sicherlich kurze Mantel, den der Prophet Jesaja erwähnt, der nicht beide bedecken könne (Is 28,20), noch ist er mit jenem Mäntelchen der armen Ruth zu vergleichen, in dem sechs Maß Gerste kaum Platz finden konnten (Rt 3,15). Stattdessen kann er eher mit dem Herrscherinnenmantel der Königin Esther verglichen werden, deren Gewand so bis zur Erde herabreichte, dass sie es nötig hatte, von zwei Leibdienerinnen gestützt zu werden (Est 15,5 - 7). Die allerseligste ewige Jungfrau Maria, die von der Sonne der Gottheit umgeben ist (Apc 12,1) und angetan mit königlichem Schmuck (Dn 11,20), lässt, wenn sie, um für ihr Volk zu bitten, vor den höchsten Gott tritt, über uns sie liebende Arme die prächtigen Borten ihres Schutzmantels bis zur Erde herab, die von ihrer Jungfräulichkeit und Fruchtbarkeit wie von zwei Leibdienerinnen gestützt und ausgebreitet werden. Obendrein fügen wir für unser aller sicheren Zugang und um auf den erstaunlichen Umfang dieses Mantels zu vertrauen, wie oben ausgeführt ist, gewisse Geschenke und freiwillige Gaben aus einem Material, das nicht uns zu eigen sondern Gottes ist, hinzu, mit denen wir die Broschen 7 dieses Mantels zu vergrößern und seine Borten zu verherrlichen versuchen und mit denen wir ihn mit verschiedenen Kleinoden verzieren können. Und wer auch immer etwas zum Schmuck oder zur Vergrößerung dieses Mantels vor sich vorausgeschickt habe, wird Hoffnung haben, unter ihm einen geschützten Schlupfwinkel und sicheren Zufluchtsort zu finden. Den Trost dieses Mantels verspricht uns, die wir bisher hier büßen und leiden, auch der Herr, wenn er durch den Propheten Jesaja spricht: Ich werde ihnen eine Krone statt Asche geben, Freudenöl statt Trauer, und einen 7 Das Wort phylacterium meint ansonsten meist eine Art Amulett oder Medaillon oder einen kleinen, am Körper getragenen Reliquienbehälter. Ich vermute, dass es sich hier auf die Broschen und Fürspangen am Mantel Marias bezieht. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 431 <?page no="432"?> Qualiter Maria nos vocat Sciendum adhuc quod per pallium presens nil aliud intelligendum est quam beatissime dei genitricis fidelis protectio, materna dilectio et generalis affectio, quam habet et exhibet cunctis fidelibus in se confidentibus filii sui sanguine redemptis. Hos alloquitur et vocat ad se et velut invitat ad currendum sub pallium protectionis sue, in Ecclesiastico ubi dicit: Ego mater pulchre dilectionis etc. Transite ad me, omnes etc. Ecce, quod neminem excludit, sed omnes quasi materna voce advocat, ut ad se confugientes sub pallio sue materne dilectionis omnes suscipiat, velut aquila sive gallina sub alis et brachiis propriis protegat, foveat ac recreet. Non ergo ut olim Cisterciensibus tantum sed et Carthusiensibus et Praemonstratensis ac religiosis cunctis se emendantibus, ymmo omnibus eciam secularibus pie viventibus consorcium datur in hoc obsequio. Iuvenes et virgines, senes cum iunioribus, divites et pauperes, pusilli et magni, universi, qui voluerint, poterunt accedere, aliquid ad ornatum pallii Marie voluntarie offerre, se ipsos illi devote commendare et mercedem eterne vite se recepturos in futurum sperare. Nullum bonum irremuneratum manet, quod virgini gloriose mente fideli impensum fuerit. Quicumque igitur temptacionibus hostis maligni graviter pulsatur, vel mente vel corpore periculosius infirmatur, vel mundi pressuris intollerabiliter fatigatur, seu adversitatibus quibuscumque importunis molestatur, ad protectricem ac susceptricem omnium ad se confugiencium sanctam Mariam recurrat, sub oris immensi pallii ipsius se obvolvat et a malis omnibus secure ibidem latens se abscondat. Et quod maius est, homo reus consciencia propria confusus, iuste iudicandus atque dampnandus, si ad matrem misericordie confugerit et velut in tabernaculo federis pallium illius apprehendens quasi cornu altaris tenuerit, non avelletur neque tradetur, sed gracia illius reconciliabitur atque salvabitur et non peribit in eternum. Hoc satis clare in libro, qui dicitur Mariale, habetur expresso eciam nomine pallii huius, quo confugientes ad se abscondat et nullum prodat. Ubi et allegatur Ysaias, qui dicit ita capitula xvi: Absconde fugientes ad te, et vagos ne prodas! Habitabunt apud te profugi mei, esto latibulum eorum a facie vastatoris. Hoc quippe officium Marie est, quod promoveat et adiuvet nos peccatores, ut salvemur, pro ipsam nullam aliam spem talem habentes. 159 velut] velud K2 170 2 vel] aut K1 178 reconciliabitur] reconsiliabitur K2 181 Habitabunt apud te profugi mei] fehlt K2, wohl Kürzung des Bibelzitats 183 spem talem] talem spem K1 155 160 165 170 175 180 432 Editionsanhang <?page no="433"?> Lobesmantel statt eines betrübten Geistes (Is 61,3). Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden (Mt 5,5) unter dem Mantel der gnädigen Jungfrau und Mutter. Wie Maria uns ruft Es ist auch zu wissen, dass unter dem gegenwärtigen Mantel nichts anderes zu verstehen ist als der treue Schutz der allerseligsten Gottesgebärerin, ihre mütterliche Liebe und allgemeine Zuneigung, die sie gegenüber allen treu auf sie Vertrauenden hat und zeigt, die durch das Blut ihres Sohnes erlöst sind. Diese spricht sie an und ruft sie und lädt sie gleichsam ein, unter den Mantel ihres Schutzes zu fliehen, wo sie im Buch Ecclesiasticus sagt: Ich bin die Mutter der schönen Liebe etc. Kommt alle zu mir etc. (Sir 24,24 - 26). Seht, wie sie niemanden ausschließt, sondern alle wie mit mütterlicher Stimme anruft, auf dass sie alle, die Zuflucht zu ihr nehmen, unter dem Mantel ihrer mütterlichen Liebe aufnehme und sie genau wie ein Adler oder ein Huhn unter den Flügeln und eigenen Armen beschütze, wärme und kräftige. Folglich wird nicht nur wie einst bloß den Zisterziensern, sondern auch den Kartäusern und Prämonstratensern und allen sich vervollkommnenden Religiosen, ja sogar auch allen fromm lebenden Laien eine Teilhaberschaft an diesem frommen Dienst gegeben. 8 Jünglinge und Jungfrauen, die Alten mit den Jüngeren (Ps 148,12), die Reichen und die Armen, die Kleinen wie die Großen, alle, die wollen, werden sich anschließen können, aus freiem Willen etwas zum Gewand Marias beizusteuern, sich ihr andächtig anzuvertrauen und darauf zu hoffen, in der Zukunft den Lohn des ewigen Lebens zu empfangen. Kein Gut, das für die glorreiche Jungfrau in treuem Geiste aufgewandt wurde, bleibt unvergolten. Wer also auch immer von den Versuchungen des bösen Feindes heftig geschlagen wird oder an Geist oder Körper gefährlich geschwächt wird oder von den Bedrückungen der Welt unerträglich ermüdet wird oder von allerlei grausamem Unglück heimgesucht wird, er kehre sich der heiligen Maria zu, der Beschützerin und der Beschirmerin aller zu ihr Flüchtenden, er verstecke sich unter dem Saum ihres riesigen Mantels und verberge sich dort sicher und beschirmt vor allen Übeln. Und was noch wichtiger ist, wenn ein schuldiger Mensch, der vom eigenen Gewissen beschämt wird und rechtmäßig zu verurteilen und zu verdammen wäre, sich nun zur Mutter der Barmherzigkeit flüchtet und wie im Zelt des Alten Bundes zu ihrem Mantel eilend gleichsam die Hörner des Altars ergreift (I Sm 1,50), so wird er weder weggerissen noch preisgegeben werden, sondern wird durch ihre Gnade versöhnt und gerettet werden und wird nicht auf Ewigkeit zugrunde gehen. Davon wird recht deutlich gesprochen in dem Buch, das Mariale genannt wird, und auch vom ausdrücklichen Namen dieses Mantels, unter dem sie die Fliehenden verbirgt und niemanden preisgibt. 9 Darauf wird auch von Jesaja hingewiesen, der da sagt im 16. Kapitel: Verbirg die Verjagten und verrate die Flüchtigen nicht! Lass meine Flüchtlinge bei dir einkehren; sei ihnen ein Schirm im Angesicht des Verderbers (Is 16,3 - 4)! Denn dies ist das Amt Marias, dass sie uns Sünder unterstütze und uns helfe, damit wir, die wir außer ihr keine weitere Hoffnung haben, gerettet werden. 8 Der hier gebrauchte Begriff obsequium, der auf das Mantelbeten verweist, ließe sich wörtlich z. B. mit › Huldigung ‹ , › Gehorsam ‹ oder › Verehrung ‹ übertragen. Um den Bezug zu verdeutlichen, übersetze ich jedoch eher frei. 9 Mehrere Schriften dieses Titels zirkulieren im Spätmittelalter. Es ist mir nicht klar, auf welche genau referiert wird. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 433 <?page no="434"?> Item exemplum Unus ex nostris sepe beatam virginem Mariam consuevit rogare, ut sub pallio protectionis semper se protegere dignaretur, antequam fama ista huc veniret de fiendo pallio eius modi. Nam ante xxx annos in tractatulo de assumpcione eiusdem sic alloquitur animam devotam vestes beate Marie ascendentis colligentem, pro reliquiis dicens: Septenis exuviis Marie collectis et nudis, o anima, tuis inde tectis copulari poteris Marie dilectis sub illius pallio secure protectis. Nam ipsa, que hodie cum Cristo conscendit, latum suum pallium super nos extendit. Et omnes, qui fugerint, ad se comprehendit. Ibidem in persona Marie de eodem dicitur: Ego in altissimis quamvis sim locata et turbis angelicis hinc inde vallata, mundi tamen miseris semper sum parata, nam nomine mater sum vocata. Non in multitudine gaudiorum sita, in mundo sum pauperum meorum oblita. Nec mea sub gloria quamvis infinita, Oppressa despiciam corda vel contrita, sed pallium pocius meum dilatabo. Divites et pauperes meos congregabo. Opprimentes nequiter procul effugabo, meos meo filio reconciliabo. 184 Item exemplum] fehlt K2 185 Mariam] erg. sepe K2, wohl Dittographie 186 semper se protegere] se defendere semper K1 205 pocius meum] meum potius K1 208 reconciliabo] erg. explicit pallium K1 erg. am Rand von späterer Hand Hymnos duos eiusdem de pallio Mariae vide post tractatum Henrici Gorichem de Eucharistia K1 185 190 195 200 205 434 Editionsanhang <?page no="435"?> Nun ein Exempel Bevor die Kunde davon, wie auf diese Weise der Mantel zu machen sei, hierherkam, hatte sich einer der unseren angewöhnt, regelmäßig die selige Jungfrau Maria darum anzuflehen, dass sie ihn für würdig erachte, ihn auf immer unter ihrem Schutzmantel zu behüten. Denn vor 30 Jahren spricht er in einem Traktat über ihre Himmelfahrt so zu der andächtigen Seele, die die Kleider der auffahrenden seligen Maria aufsammelt, indem er in Bezug auf die zurückgebliebenen [Kleider] sagt: 10 Wenn du die sieben Kleider Marias aufgesammelt und damit, oh Seele, deine Blößen bedeckt hast, wirst du dich vereinigen können mit denen, die von Maria geliebt und unter ihrem Mantel sicher beschützt werden. Denn sie, die heute mit Christus aufsteigt, breitet ihren weiten Mantel über uns aus. Und alle, die geflüchtet sind, nimmt sie bei sich auf. Ebenda wird von Maria selbst hierüber gesagt: Obzwar ich in den höchsten Höhen verweile und dort von den Scharen der Engel umgeben bin, stehe ich allzeit bereit für die Elenden der Welt, denn ich werde bei dem Namen › Mutter ‹ gerufen. In der Vielfalt der Freuden sitzend vergesse ich dennoch meine Armen in der Welt nicht. Noch verachtete ich in meiner gleichsam unendlichen Glorie bedrückte und zerknirschte Herzen. Stattdessen werde ich lieber meinen Mantel ausbreiten und die Reichen wie meine Armen bei mir versammeln. Die schlimmen Bedränger werde ich weit fortjagen und die Meinigen mit meinem Sohn versöhnen. 10 Hier referiert Dominikus wohl auf eine kartäusische Traktatschrift oder geistliche Dichtung zur Legende von Maria Himmelfahrt und den dort erwähnten Textilreliquien, die ich nicht identifizieren konnte. Bereits das im Untersuchungsteil dieser Studie behandelte Marienmirakel Heinrichs des Klausners illustriert eine Verbindung zwischen dieser Episode des Marienlebens und der Idee textilen Betens. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 435 <?page no="436"?> Handschriften K1: Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, for. 9r - 12v. Sprache, Datierung und Provenienz: ripuarisch und lateinisch, 3. Viertel 15. Jh., Kartause St. Barbara in Köln. Inhalt: Sammelhandschrift der Werke des Dominikus von Preußen und weiterer kartäusischer Schriften. Von Dominikus ’ Werken enthält die Handschrift einen wohl von ihm kompilierten Auszug aus dem Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn (fol. 2r - 9r), das Pallium (fol. 9r - 12v), die Constructio domus sive aule spiritualem (fol. 12v - 16r), die Andachtsübung Educatio pueri Jesu (fol. 16r - 17v), den Traktat De fructuoso celebracione misse (fol. 17v - 37v), den ripuarischen Mantelpreis und die zugehörige Exempelsammlung (fol. 63r - 67r) sowie den lateinischen Mantelpreis (fol. 89v - 90v). Zudem enthalten sind verschiedene kartäusische Briefe (fol. 37v - 61r, 93v - 98r), diverse geistliche Kurztraktate verschiedener Autoren und vermischten Inhalts sowie ein mit einer Miniatur versehener Zyklus kurzer Andachtsübungen zur Herz-Jesu-Verehrung (fol. 91r - 93v). Literatur: Karl Menne: Deutsche und niederländische Handschriften, Köln 1937 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Sonderreihe: Die Handschriften des Archivs X,1), S. 608 - 615. K2: Köln, Historisches Archiv, Ms. Wkf 119, fol. 73r - 77r. Sprache, Datierung und Provenienz: vorwiegend lateinisch mit geringen ripuarischen Anteilen, Juni 1469, Kartause St. Barbara in Köln. Inhalt: Kartäusische Sammelhandschrift, mit Ausnahme einiger volkssprachiger Rosarien (fol. 112r - 121v) und eines Mariengebets (fol. 122r) durchgängig auf Latein. Enthalten sind unter anderem einen Messtraktat des Johannes von Braunschweig (fol. 1r - 26v), ein aus verschiedenen Quellen kompiliertes Marienlob (fol. 37r - 39r), diverse Briefe, Predigten und Traktate Heinrichs von Dissen (fol. 81r - 99r, 123r - 165r, 187v - 189v, 197v - 202r) sowie ein Fragment einer exegetischen Quaestio Heinrichs von Werle (fol. 166r - 177v). Aufschlussreich für diese Arbeit sind unter den hier versammelten Texten erstens mehrere Varianten der Rosenkranzklauseln sowie verwandte Rosenkranztexte (fol. 79v - 80r, 108r - 121v), die mehrheitlich abgedruckt werden bei Klinkhammer 1972, S. 222 - 251. Zweitens stellt diese die Handschrift einen maßgeblichen Textzeugen der kürzeren lateinischen Schriften des Dominikus von Preußen dar. Sie enthält außer dem Pallium auch Dominikus ’ lateinischen Mantelhymnus und das marianische Te Deum (fol. 77v - 79v) sowie die Traktate De vera et humili obediencia (fol. 40r - 60v) und De verecundis (100r - 108r). Literatur: Joachim Vennebusch: Die theologischen Handschriften des Stadtarchivs Köln. Teil 4: Handschriften der Sammlung Wallraf, Köln/ Wien 1986 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Sonderreihe: Die Handschriften des Archivs IV), S. 23 - 29. 436 Editionsanhang <?page no="437"?> Bemerkungen zur Edition Die Edition folgt der Leithandschrift Köln, Historisches Archiv, Ms. Wkf 119, fol. 73r - 77r (K2), die aus dem Bestand der Kölner Kartause stammt und laut Schreibereintrag auf fol. 151v im Juni 1469 fertiggeschrieben wurde. Nimmt man einen kurzen Entstehungszeitraum an, stammt diese Handschrift damit aus der Zeit kurz nach dem Tod Dominikus ’ von Preußen (1460). Die Herkunft aus der Kölner Kartause lässt außerdem darauf schließen, dass die Handschrift im engeren Ordensumfeld des Autors entstanden ist. Zusätzlich konsultiert wurde die ungefähr im gleichen Zeitraum abgefasste und ebenfalls aus der Kölner Kartause stammende Handschrift Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, for. 9r - 12v (K1), die allerdings im Vergleich mit K2 einen mutmaßlichen Zeilensprung (Z. 28) aufweist. Beide Handschriften gehen vermutlich auf die gleiche Vorlage zurück. Vorsichtig emendiert wurden am Text von K2 lediglich einige eindeutige Schreiberfehler, vor allem Dittographien und Textlücken mit sinnveränderndem Charakter, so z. B. die recht willkürliche Kürzung eines Bibelzitats (Z. 181). In diesen Fällen wurde dem Text von K1 gefolgt. Gleiches gilt für einige eigentümliche Schreibvarianten (z. B. velud statt velut, reconsiliare statt reconciliare). Alle Eingriffe sind im Text durch Kursivdruck markiert und im Apparat plausibilisiert. Die Übersetzung ins Neuhochdeutsche bemüht sich um Nähe zum lateinischen Original. Dennoch war es zur Herstellung eines lesbaren Textes nötig, insbesondere die von Dominikus abundant verwendeten Partizipkonstruktionen teils in Relativsätze umzuwandeln sowie übermarkierte Formen, insbesondere Konjunktive, nicht durchgängig als solche wiederzugeben. Idiosynkratrische Formulierungen des Mittellateinischen werden, wo zum Verständnis unabdingbar, dem neuhochdeutschen Sprachgebrauch angepasst, so wird z. B. das als Referenzmarker verwendete legitur in nicht als › es wird gelesen in ‹ , sondern als › es ist nachzulesen bei ‹ wiedergegeben. Zur besseren Lesbarkeit werden Bibelzitate im Fließtext der Übersetzung in einfachen Klammern angegeben. 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis 437 <?page no="438"?> 3 Dominikus von Preußen: Lateinischer Mantelpreis Sapientes anime et religiose laudes, preces offerunt satis copiose, quibus magnum pallium multum studiose conficiunt domine nostre graciose. Non suis ingeniis tamen innitentes, sed gloriam anime Christi tribuentes, ipsam singulariter ad hoc eligentes et opus hoc misticum sibi committentes. Felix est, ut credimus, prudensque persona, que huc liberaliter obtulerit dona: merces enim redditur sibi post hec bona perpetue scilicet glorie corona. Incrementum etenim acquiret virtutum et inexpugnabile sumet inde scutum. Fatigatus illico habebit ad nutum ad Marie pallium refugium tutum. Hic in multitudine pacis is gaudebit et in tabernaculo munito sedebit. Matris Christi pedibus semper adherebit, quod nullos iam hostium incursus timebit. Sancta dei genitrix, o virgo Maria, in summa iam residens celi iherarchia, suscipe munuscula tuorum in via, quecumque miserimus tibi mente pia. Ante nostra tempora tu es sublimata, ad dexteram filii tui collocata, regni diademate digne coronata, vestituque glorie summe decorata. 1 vorangestellte Rubriken von jeweils späterer Hand: Hi duo Hymni de pallio Mariae sunt dominici Carthusiani K1 - Hic Hymnus est Dominici Carthusiani et spectat ad pallium Maria Latinum de quo supra K2 Sapientes] sanctae K2 5 ingeniis tamen] tamen ingeniis K2 21 vorangestellte Rubrik von späterer Hand: Hic Hymnus est dominici Carthusiani et spectat ad pallium Mariae de quo supra Latinum K2 28 vestituque glorie … decorata] fehlt K2 5 10 15 20 25 438 Editionsanhang <?page no="439"?> Weise und gläubige Seelen bieten Lobgesänge und Gebete in großer Zahl dar, aus denen sie mit viel Eifer einen großen Mantel für unsere gnadenreiche Herrin fertigen. Nicht jedoch auf ihre eigenen Kräfte sich verlassend, sondern der Seele Christi die Ehre erweisend, wählten sie diese allein dazu aus und überließen ihr dieses mystische Werk. Glücklich und auch klug ist, so glauben wir, der Mensch, der hierzu freiwillig Gaben beiträgt. Denn ein guter Lohn wird ihm danach zuteilwerden: Nämlich die Krone der ewigen Ehren. In der Tat wird er einen Zuwachs an Tugenden erwerben und daher einen unüberwindlichen Schild gewinnen. Erschöpft wird er sodann auf Geheiß eine sichere Zuflucht unter Marias Mantel finden. Hier in der Fülle des Friedens wird er sich freuen und in einem festen Zelt wird er sitzen. Zu Füßen der Mutter Christi wird er auf ewig verweilen, da er nunmehr keinen Angriff der Feinde fürchten wird. Heilige Gottesgebärerin, oh Jungfrau Maria, 1 bereits in der höchsten himmlischen Ordnung weilend, nimm an die kleinen Gaben der Deinigen auf dem Wege, was immer wir dir aus frommem Sinn schicken mögen. Vor unserer Zeit wurdest du erhöht, zur Rechten deines Sohnes gesetzt, mit einer Herrscherinnenkrone würdig gekrönt und mit dem Gewand der Glorie aufs Höchste geziert. 1 Die Handschriften beginnen diese Zeile je mit einer rubrizierten Initiale. Dies ist als Unterteilung des Textes in zwei separate Abschnitte zu lesen. 5 10 15 20 25 3 Dominikus von Preußen: Lateinischer Mantelpreis 439 <?page no="440"?> Ita quod non indiges nostris adiumentis. Hec ullis mortalium nunc additamentis in ipsis pulcherrimis tuis indumentis tui tamen memores animi clementis. Cordis nostri volumus archas aperire, qerere, an possumus digna reperire, quibus tuum pallium possimus fulcire, quod expansum possit nos omnes operire. Amplum est, sed amplius est amplificandum et in latitudine magis dilatandum, decorum et inclitum sed plus adornandum et tuam in gloriam per nos augmentandum. Missas, preces, carmina suavi melodia, et quecumque possumus pauperes in via, ad hoc dare cupimus mente semper pia, sub quibus innumera sunt Ave Maria. Quecumque dederimus, o virgo beata, accepta sint omnia tibique sint grata, que vero reddideris nobis, fiant rata sempiterna gaudia tuis preparata. Tuum ergo pallium, domina, extende et omnis, qui fugerint, sub hoc comprehende, a persecutoribus potenter defende. Dexteram auxilii devotis pretende. Ob hoc a demonibus lata nuncuparis, quod tuos sub pallio magno tuearis. Calumpniam fieri nulli paciaris nec reos suscipere nos hic dedignaris. Lassatis umbraculum tutum es, regina, fixum tabernaculum lapsis a ruina. Sub alis filiolos tuos ut gallina foves, ab ingluvie protegis milvina. 40 et tuam … augmentandum] fehlt K2 41 suavi melodia] dulces melodiae K2 58 lapsis a] ab omni K2 30 35 40 45 50 55 60 440 Editionsanhang <?page no="441"?> Daher bedarfst du nicht unserer Unterstützung. Doch jeglicher Beigaben der Sterblichen zu deinen wunderschönen Kleidern mögest du dich nun trotzdem mit mildem Gemüt erinnern. Wir wollen die Archen unseres Herzens öffnen Und fragen, ob wir würdige Dinge finden können, mit denen wir deinen Mantel unterstützen könnten, der uns, [wenn er] ausgebreitet [ist], wird alle bedecken können. Er ist weit, doch ist er noch weiter zu erweitern, und in seinem Ausmaß noch mehr auszudehnen, die Zierde und die Pracht sind noch mehr zu schmücken und deine Herrlichkeit soll durch uns vermehrt werden. Messen, Gebete, Gesänge mit süßer Melodie und was immer wir Armen auf dem Wege vermögen, wollen wir aus stets frommem Geiste hierzu geben, darunter sind unzählige Ave Maria. Was auch immer wir gegeben haben, oh selige Jungfrau, sei alles angenommen und sei dir angenehm, was aber du uns zurückgeben mögest, werde betrachtet als für die Deinigen bereitete ewige Freude. Breite also deinen Mantel aus, Herrin, und nimm alle, die geflüchtet sind, darunter auf, verteidige sie mächtig vor den Verfolgern. Strecke deine Rechte den Frommen zur Hilfe aus. Darum wirst du von den bösen Geistern › die Weite ‹ genannt, weil du die Deinigen unter dem großen Mantel beschützt. Du mögest gestatten, dass keinem Verleumdung widerfährt, und nicht verschmähen, uns Schuldige hier aufzunehmen. Ein sicherer Ruheort für die Erschöpften bist du, Königin, ein einsturzfestes Zelt für die Gestrauchelten. Du wärmst deine Kinder wie eine Henne unter ihren Flügeln, beschützt sie vor der Fressgier des Falken. 30 35 40 45 50 55 60 3 Dominikus von Preußen: Lateinischer Mantelpreis 441 <?page no="442"?> Igitur diutius si sumus victuri sive si celerius sumus morituri, nescimus, quo tucius essemus ituri aut ubi subsistere possemus securi, nisi crucem filii tui teneamus et tuum sub pallium fessi fugiamus, quod ob hoc enceniis sacris decoramus, ut certum refugium ad id habeamus. Et non tamen ordinis iam Cistersienses fratres, sed hic foveas et Carthusienses. Ymmo tuis precibus et meritis immensis omnes tuos suscipe fimbriis extensis. Omnes huc, qui patimur iustum vel flagellum Aut iniuste premimus hostile per bellum, curremus amplissimum tuum sub mantellum adorantes tuorum pedum ad stabellum. Dominum, qui fecit nos, deum adoramus et pro beneficiis multis hunc laudamus. Omnesque, quos possumus, ad te convocamus ut in unum gracias uberes agamus pro eo, quod virginum virgo tu formosa, sancta dei genitrix tota gloriosa, mater nostra facta es, ita graciosa, quod rapere nequeant nos periculosa, quia diu vestigiis tuis adheremus atque confidentiam in te nos habemus. Dignum nunc et iustum est, te ut honoremus et cordis in iubilo laudes decantemus. 61 Igitur] ideo K2 62 sive si … morituri] fehlt K2 68 id] hoc K2 69 iam] fehlt K2 73 huc qui] qui huc K2 88 decantemus] erg. dicentes K1, wohl als Anschluss an das folgende marianische Te Deum. 65 70 75 80 85 442 Editionsanhang <?page no="443"?> Gleich daher ob wir noch lange leben oder bald sterben werden, wir wissen nicht, wodurch wir gefahrloser wandeln oder wo wir sicher verweilen könnten, wenn wir nicht das Kreuz deines Sohnes ansteuerten und ermattet unter deinen Mantel flöhen, den wir darum mit heiligen Geschenken schmücken, damit wir eine sichere Zuflucht zu ihm haben. Und nicht mehr nur die Brüder des Zisterzienserordens, sondern auch die Kartäuser mögest du hier hegen. Schütze vielmehr mit deinen Bitten und unermesslichen Verdiensten all die Deinigen mit den ausgebreiteten Mantelsäumen. Wir alle, die wir hier entweder die gerechte Strafe erleiden oder durch den Streit ungerecht in feindlicher Not sind, werden unter deinen riesigen Mantel eilen, flehend zum Schemel deiner Füße. Den Herrn, der uns geschaffen hat, Gott flehen wir an und loben ihn nun für die vielen Wohltaten. Und wir rufen alle, die wir können, zu dir zusammen, so dass wir gemeinsam üppigen Dank darbringen mögen, dafür, dass du schöne Jungfrau der Jungfrauen, heilige und gänzlich glorreiche Gottesgebärerin zu unserer Mutter gemacht bist, so gnadenreich, dass die Gefahren uns nicht hinwegzuraffen vermöchten, weil wir stets zu deinen Füßen verweilen und Vertrauen auf dich haben. Würdig und gerecht ist es nun, dass wir dich ehren und aus Herzensgrund im Jubel [dein] Lob singen. 65 70 75 80 85 3 Dominikus von Preußen: Lateinischer Mantelpreis 443 <?page no="444"?> Handschriften K1: Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, fol. 89v - 90v. Siehe die Angaben oben, S. 436. K2: Köln, Historisches Archiv, Ms. Wkf 119, fol. 77v - 78r. Siehe die Angaben oben, S. 436. Bemerkungen zur Edition Der Text ist überliefert in den beiden Handschriften Köln, Historisches Archiv, Ms. Wkf 119, fol. 77v - 78r (K2) sowie Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, fol. 89v - 90v (K1). Da es sich bei der Version in K1 um einen späteren Nachtrag handelt, der dem Schriftbild nach ins 16. Jahrhundert datiert, folge ich K2 als Leithandschrift. Sämtliche sinnverändernden Varianten in K1, darunter mehrere Zeilensprünge, sind jedoch im Apparat vermerkt. In beiden Handschriften beginnt V. 21 (Sancta dei genitrix) mit einer größeren rubrizierten Initiale. Der lateinische Marienpreis ist daher in zwei Textabschnitte bzw. sogar Texte unterteilt. Zumindest spricht ein späterer Nachtrag in K2 von duo Hymni und versteht diese beiden Abschnitte somit offenbar als separate Texte. Diese Unterteilung ist im Editionstext durch Fettdruck des Anfangsbuchstabens gekennzeichnet. In K2 schließt das marianische Te Deum direkt an den lateinischen Mantelpreis an, vgl. dazu den Abdruck und die Diskussion bei Heinz 2008. 444 Editionsanhang <?page no="446"?> 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum Hyr begynnet Marien mantel zu duytzsche Maria konyngin, juncgfrau reyn, hore dyne dyener alle gemeyn! Uns allen, dy wyr zo dyr wachen ind dyr diesen mantel machen, dar zo doen helpen ader machen geven: Erwerff unss allen dat ewige leven! Van missen, van gebeden, van psalmodyen, van vyl dusent Ave Marien wyrt der mantel ind dat foeder dyr gemacht, o wirdige moder. Hey sall werden also bereyt, so lanck, so gross, so wydt ind breyt, dat hie bedecke alle dyne kynder myt allen: Geyner bleyve dar hynder. Wye mal wir wenich vermogen unde selver wenich doegen - doch dynen mantel zo lengen, willen wir alles zo wege brengen, dat wir haven unser hant, want es muß syn gar tuwer gewant, dar mytte wyr dyr hoveren unde dynen mantel tzeren. Wyr willen unss ere bewaren ind geynes dynges sparen. Lyff und sele, guet ind leven, willen wir zo loeve geven Jhesu Cristo dynem sone ind dyner erwyrdigen persone. Du vermagest sere wael den zo lonen, die dir machen mantel ader kronen. Doch zo sulchen hoe sachen, dyr hymmel koningynnen kleyt zo machen, dorren wir van unss neyt bestaen ind des werckes nemen an. Sonder wir willen eren die sele Cristi unses heren, 17 unde] das Wort ist in K1 durch einen Tintenfleck überdeckt, nur der erste Buchstabe ist lesbar 20 unser] erg. unser K1, wohl Dittographie. 5 10 15 20 25 30 35 <?page no="447"?> Hier beginnt Marias Mantel auf Deutsch Königin Maria, reine Jungfrau, höre alle deine Diener miteinander! Uns allen, die wir für dich wachen und dir diesen Mantel machen, dabei helfen oder Gaben beisteuern: Erwirb allen das ewige Leben! Aus Messen, aus Gebeten, aus Psalmodien, aus vielen tausend Ave Maria werden der Mantel und das Futter für dich gemacht, oh würdige Mutter. Er soll so beschaffen sein, so lang, so groß, so weit und breit, dass er alle deine Kinder bedecke, alle zusammen: Niemand bleibe aus und vor. Zwar sind wir zu kaum etwas fähig und taugen für uns selbst genommen nur wenig - doch um deinen Mantel zu vergrößern, wollen wir alles zuwege bringen, was in unserer Kraft liegt, denn es muss ein sehr kostbares Gewand sein, mit dem wir dir aufwarten und deinen Mantel zieren. Wir wollen uns dieser Sache annehmen, und es an nichts mangeln lassen. Leib und Seele, Gut und Leben, wollen wir hergeben zum Lob Jesu Christi, deines Sohnes, und deiner ehrwürdigen Person. Du vermagst sehr wohl diejenigen zu belohnen, die für dich Mäntel oder Kronen machen. Doch wir wagen es nicht, solche hohen Dinge, wie für dich, Himmelskönigin, Kleider herzustellen, für uns alleine anzufangen und uns dieser Aufgabe anzunehmen. Stattdessen wollen wir uns ehrerbietig an die Seele unseres Herren Christi, 5 10 15 20 25 30 35 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum 447 <?page no="448"?> dynes sones Jhesu Crist, die aller kunst eyn meister ist. Die weyß bas ind alle dinck hait, die zo dyner maiestait, o konyngyn der eren, gehoret: Sulch werck unss neit gehoret. Wyr offeren unser goven ind begeren dich zo loven ind willen neyt ruen, sunder dat beste dar zo thuen, dat der mantel werde bereyt inde were es allen unssen vyanden leyt. In geschyt vil leyde myt dynes mantels kleyde. Darumb sy dich die breyte nennen, want sy wail wissen ind bekennen, wye du dynen mantel wijt uß treckest ind die dynen alle bedeckest, dat sy sicher dar under ruen ind sy in nichtes moghen duen. Den selven mantel wijt hastu gehat vur langer zijt ind was eyn tabernackel worden den broederen sent Bernardus orden, die du dar under wedest unde vur alle leyde behoedest. Den mantel gere wyr lengen ind so vil guedes dar an hangen, uß breyten, vuer unss trecken, dat hie unss allen moge bedecken wie eyn schones wytes getzeld ritter ind knecht deckt ind helt vur ungeweder, vur regen ind sne, dat yn dair van geschit geyn we. So syn dyne diener zo vermanen, dat sy blyven under dynen vanen, under dynem mantel sitzen, behuet vur kelde ind vur hitzen. 40 45 50 55 60 65 70 75 448 Editionsanhang <?page no="449"?> deines Sohnes Jesus Christus, wenden, die eine Meisterin aller Künste ist. Die weiß es besser und besitzt all die Dinge, die deiner Majestät, o Königin der Ehren, zustehen: Ein solches Werk steht uns nicht an. Wir bieten unsere Gaben an und wünschen uns, dich zu loben und wollen nicht ruhen, sondern unser Bestes geben, auf dass der Mantel angefertigt werde. Und dies sei allen unseren Feinden zuwider. 1 Ihnen geschieht großes Leid durch das Kleid deines Mantels. Darum nennen sie dich › die Weite ‹ , denn sie wissen und erkennen wohl, wie du deinen Mantel weit ausbreitest und all die Deinigen damit zudeckst, so dass sie sicher darunter ruhen und sie [d. i. die bösen Geister] ihnen nichts anhaben können. Denselben weiten Mantel hast du schon seit langer Zeit, und er wurde zum Tabernakel 2 für die Brüder des Ordens Sankt Bernhards, 3 die du darunter hütetest und vor allem Leid beschütztest. Diesen Mantel wollen wir verlängern und so viel Gutes daran anbringen, ihn ausbreiten, vor uns entfalten, dass er uns alle bedecken soll, so wie ein schönes großes Zelt Ritter und Knappen bedeckt und birgt vor Unwetter, vor Regen und Schnee, so dass ihnen davon keinerlei Leid geschieht. So sind deine Diener dazu aufzufordern, dass sie unter deinem Banner, also unter deinem Mantel verharren, geschützt gegen Kälte wie auch gegen Hitze. 1 Der Text bezieht sich auf das sowohl im Pallium als auch im Ripuarischen Marienmantel wiedergegebene Mirakel von den Dämonen, denen von Maria die Seelen der Sünder geraubt werden. 2 In der Bezeichnung tabernackel klingt die Vorstellung des Bundeszelts (lat. tabernaculum) als Präfiguration des Marienmantels an, die Dominikus im Pallium ausführt. 3 Gemeint sind die Zisterzienser. 40 45 50 55 60 65 70 75 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum 449 <?page no="450"?> Maria, dyne gude alle die dyne behude: Uns ind unsen nakomen sal dyn mantel fromen! Dyne genade unss alle enphoe, - myt allen, nymant uß floe! Die wile sonne ind maende geyt, die wile hymmel ind erde steyt, lais geynen mynschen verderven ader boeses dodes sterven, die yet zo dynem mantel geven: Erwirff yn dat ewige leven! Die roesenkrentz dir machen ader kronen, die salltu edel koninckynne wail lonen. Du bist doch milde ind bist seer rich, in hymmel und up erden ys nyet dyn gelich! So unser leibe werden slaiffen under der erden, dyn mantel die selen die wyle bedecke, bys dyn soen unsern lijff erwecke, dat wir froelichen dan up staen ind sichter vur den richter gaen. Nu willen wir alle zo samen schyssen ind den tuwern mantel besleissen myt vurspannen ind myt gulden borden: Ich meyne myt guden goetlichen worden. Myt allem gueden willen wir yn tzieren, dat wir koennen ymaginieren. Die engel ind die heilgen wyllent verlengen, dat wir armen neyt moegen volbrengen. Wyr willen unser hertzen zo gode keren ind die heilge dryveldicheit eren, die unss alleyne van sunden erlost ind vermytz dyner gnade trost, dat wir durch die hoelpe dyn werden erloist van ewiger pyn und mogen komen dair wir uns vreuwen, dat angesicht godes ewelich schauen. Erwerven hie myt kleynen gaven, dat wyr got unsern schepper loven, nu ind ymmer yem sagen danck ind dir ouch syngen dyesen love sanck. 80 85 90 95 100 105 110 115 450 Editionsanhang <?page no="451"?> Maria, deine Güte soll all die Deinigen beschützen: Uns und denen, die nach uns kommen, soll dein Mantel helfen! Deine Gnade empfange uns alle, - alle zusammen, niemand sei ausgelassen! Solange Sonne und Mond sich drehen, solange Himmel und Erde stehen, lass keinen Menschen verderben oder eines bösen Todes sterben, der etwas zu deinem Mantel beiträgt: Erwirb ihnen das ewige Leben! Diejenigen, die für dich Rosenkränze oder Kronen herstellen, sollst du, edle Königin, wohl belohnen. Du bist doch großzügig und bist so überaus vermögend, im Himmel wie auf Erden kann sich niemand mit dir messen! Wenn unsere Körper schließlich unter der Erde schlafen werden, soll dein Mantel solange die Seelen bedecken, bis dein Sohn unsere Körper erweckt, so dass wir dann fröhlich auferstehen und leichter vor den Richter treten werden. Nun wollen wir uns alle zusammentun und den kostbaren Mantel vollenden mit Fürspangen und mit goldenen Borten: Ich meine, mit guten göttlichen Worten. Mit allem Guten wollen wir ihn verzieren, [mit allem,] was wir uns vorstellen können. Die Engel und die Heiligen sollen weiterführen, was wir Unvermögenden nicht vollbringen können. Wir wollen unsere Herzen hin zu Gott kehren und die heilige Dreifaltigkeit verehren, die uns alleine und vermittels des Beistands deiner Gnade von Sünden erlöst, so dass wir durch deine Hilfe aus ewigem Leid erlöst werden und dahin kommen können, wo wir uns daran freuen, das Angesicht Gottes auf ewig zu schauen. Uns gelingt hier mit kleinen Gaben, Gott, unseren Schöpfer, zu loben und ihm jetzt und immer zu danken und auch für dich diesen Lobgesang anzustimmen. 80 85 90 95 100 105 110 115 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum 451 <?page no="452"?> Ind sprechen dyesen loeven sanck: Dych, edele koeninckynne, wir eren! frau van hemel, dyn loff wir meren! Dich loven ind eren van rechte aller creaturen geslechte. Eyne moder ewiger majestaet god dich usßerweldet haet. Dich umbgevet der sonnen schyn, der maende is under den voessen dyn. Up dynem hoefft is schone van sternen xij eyne krone. Des ewigen vaders dochter du bist, eyne moder des soenes Jesu Crist, des heilgen geistes kusche bruyt. Dich loven die engel uverlueyt: Cherubyn dich umryngen, Seraphin dyr sueslich syngen. Ave Maria, koninckynne werde, du ervreuwes hemel ind erde. Uns ist allen myt dir wol, want du bist aller genaden vol: der apostolen frauwe ind aller cristen, eyne ware lere der ewangelisten. Dich lovet der patriarchen schar, ind die propheten alle gar. Die merteler ind die heilgen alle, lovent dich myt groissem schalle. Die bloewende rosen roet ind wijß, in dem hemelsche paradijß, ich meynen dyne junckfrauwen kusch ind reyne, die lovent ind erent dich alle gemeyne. Dyn rosenkrantz, dyn schone krone erfreuwet sy ind tzieret alle schone. Die seligen all geliche lovent dich in ewigem riche. 120 125 130 135 140 145 150 452 Editionsanhang <?page no="453"?> Und [wir] sprechen diesen Lobgesang: 4 Dich, edle Königin, verehren wir! Himmelsdame, dein Lob wollen wir vergrößern! Zurecht und in allen Ehren loben dich alle Arten von Geschöpfen. Gott hat dich zu einer Mutter der ewigen Majestät auserwählt. Das Licht der Sonne umgibt dich, der Mond ist unter deinen Füßen. Auf deinem Kopf ist eine schöne Krone aus zwölf Sternen. 5 Du bist die Tochter des ewigen Vaters, die Mutter des Sohnes Jesus Christus, die keusche Braut des Heiligen Geistes. Die Engel loben dich überlaut: Die Cherubim umringen dich, die Seraphim singen süß dazu. Ave Maria, würdige Königin, du erfreust Himmel und Erde. Uns allen geht es gut mit dir, denn du bist voll der Gnaden: die Herrin der Apostel und aller Christen, eine wahre Lehrerin der Evangelisten. Die Schar der Kirchenväter lobt dich Und auch all die Propheten miteinander. Die Märtyrer und alle Heiligen loben dich mit lautem Klang. Die blühenden roten und weißen Rosen in dem himmlischen Paradies, damit meine ich deine keuschen und reinen Jungfrauen, loben und verehren dich alle zusammen. Dein Rosenkranz, deine schöne Krone erfreut und ziert sie alle sehr schön. All die Seligen loben dich gemeinsam im ewigen Reich. 4 Der folgende Text gehört nicht mehr eigentlich zum Mantelpreis, sondern stellt eine deutsche Übertragung von Dominikus ’ marianischem Te Deum dar, die hier allerdings beinahe nahtlos an den Mantelpreis angehängt ist. Dieser Text ist, allerdings ohne die vorangehende Dichtung, bereits abgedruckt bei Heinz 2008, S. 108 f. und dort auch ausführlich in seiner Abhängigkeit von der lateinischen Fassung und seiner Wirkung auf die frühneuzeitliche Kirchenlieddichtung besprochen. Da er jedoch gerahmt ist als möglicher Beitrag zum Marienmantel, sei er an dieser Stelle noch einmal wiedergegeben und übersetzt. 5 Anspielung auf die als Maria gedeutete apokalyptische Frau der Johannesoffenbarung (vgl. Apc 12,1 - 2). 120 125 130 135 140 145 150 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum 453 <?page no="454"?> Die selen losest du uss pyn ind deyles mit allen die gnade dyn: Darumb, o vrauwe, bidden wyr armen, lais dich unser ouch erbarmen! Erwerff unss vreude, gnade ind troist, want unss dyn son hait all erloist und sich gegeven in den doit. Darumb hilp uns uyß aller noit, Dat wir eme weder mogen geven loff ind ere yn ewigem leven - ind dich ouch loven in gloria, o soesse jungfrau Maria! Amen. 155 160 165 454 Editionsanhang <?page no="455"?> Du erlöst die Seelen aus dem Leid und teilst mit allen deine Gnade: Darum, oh Herrin, bitten wir Unvermögenden, erbarme dich auch unser! Erwirb uns Freude, Gnade und Trost, denn dein Sohn hat uns alle erlöst und sich in den Tod gegeben. Deshalb hilf uns aus aller Not heraus, so dass wir ihm im Gegenzug im ewigen Leben Lob und Ehre erweisen können - und auch dich in aller Glorie zu loben vermögen, oh süße Jungfrau Maria! Amen. 155 160 165 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum 455 <?page no="456"?> Handschrift K1: Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, fol. fol. 63v - 64v. Siehe die Angaben oben, S. 436. Bemerkungen zur Edition Der Text folgt der einzigen bekannten und erhaltenen Handschrift Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, fol. fol. 63v - 64v (K1). Nur der erste Abschnitt des edierten Textes stellt den eigentlichen Mantelpreis dar. Danach folgt eine deutschsprachige Fassung des marianischen Te Deum des Dominikus von Preußen, die hier jedoch nahtlos im Verbund mit dem Mantelpreis steht. Dieser Text (abgedruckt bei Heinz 2008, S. 108 f.) soll wohl einen exemplarischen love sanck aufzeigen, der zum Mantel beigetragen werden kann. Aufgrund der so hergestellten engen Verbindung beider Texte sei er hier ebenfalls wiedergegeben. Bei der Einrichtung des Textes wurden die Verse der besseren Lesbarkeit halber abgesetzt, allerdings wurde auf eine Stropheneinteilung, wie sie Heinz 2008, S. 107 - 109, für das marianische Te Deum vorschlägt, verzichtet. Titel und peritextuelle Beigaben sind fettgedruckt. 456 Editionsanhang <?page no="458"?> 5 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln Was Marien mantel bedudet ind we man die materie sulle verstaen mit exempell Marien der hogerloefften koenynckynnen mantel ys neit nuwe ind wird neit yrst nu gemacht, sunder sy hait eynen schonen, duren, groissen mantel gehait vur vil hundert jaren yn dem hemel, dar under sy ere besundere frunde gehoit hait und gevoet ind bedeckt. As wir lesen van den broederen sent Bernards orden tzwen exempel van dem mantel Marien. Exempel Eyn broder des orden vurgenant wart vertzuckt yn den hemel ind sach dar aller anderen orden personen, sunder alleyne syns ordens sach hey nyemant da. Dar umb wart hie sere zo unfreden, ind sprach zo der koenynckynne Maria: »Wie is deme, o eirwerdige moder der gnaden, dat ich geynen unser broeder hie seyn? Ind wir syn doch dyne kynder ind deynen ynnenclichen dyr dach ind nacht! War umb syn wir also aff gescheiden, dat geyner unser broeder her is? « Doe antwort ym die koeninckynne Maria unde sprach troistlichen zo eme: »Neyt bis bedroefft! Wisse, dat die broeder dyns ordens myr so leiff synt, dat ich sy durch besunder mynne, die ich zo yn haen, voede ind bedecke sy under mynem mantel.« Ind dede eren mantel wijt up ind leiss yn seen die personen syns ordens, brueder ind jungfrauwen, geleerte ind leybrueder yn groisser klaerheit ind yn freuden. Do wart der broeder wael zo freden. Inde sachte, wat hie geseyn haitte, anderen synen bruederen, die alle sere da van erfreuwet waren. Item eyn ander exempel van Marien mantell Eyn ander broeder des ordens sent Bernards, der eyn guet leven hait gevoirt, der stairff ind erscheyn eyme anderen broeder gueden ind bat yn, dat hie dem abt sagen sulde, wie hie yn lyden were ind begerte, dat hie vur yn lesen wulde eyn collectam van sent michael ind den broederen bevelen, dat sy got vur yn beden. Doe sprach der broder zo der selen: »O bistu yn pyn, want du doch eyn guedes leven vortes, wie wurt it dan mir gaen, dat ich so gebrechlich leven leider vuren? « Do sprach die sele: »Myne pyne, die ich lijden, is anders neit, dan dat ich neit geseyn en kan dat schone angesichte godes, want die sele mois gar luter syn, die zor stunt sall komen zo schauwen dat wonycliche godes angesichte.« Ind doe dese offenbarunge dem abt gesacht wart, do lass hie eyne misse van sent michael ind bat mit synen broederen vur die sele. Dar na wart die sele ouch geseyn under dem mantel der jungfrauwen Marien. 5 10 15 20 25 30 <?page no="459"?> Was Marias Mantel bedeutet und wie man diesen Gegenstand verstehen soll, mit Exempeln Der Mantel der hocherlauchten Königin Maria ist nicht neu und wird nicht erst jetzt gemacht, sondern sie hat im Himmel seit vielen hundert Jahren einen schönen, kostbaren, großen Mantel gehabt, unter dem sie ihre besonderen Freunde gehütet und gehegt und bedeckt hat. So lesen wir von den Brüdern des Ordens von Sankt Bernhard zwei Exempel von dem Mantel Marias. Exempel 1 Ein Bruder des vorgenannten Ordens wurde in den Himmel verzückt und sah dort Mitglieder aller anderen Orden, nur von seinem eigenen Orden sah er dort niemanden. Darum wurde er sehr aufgewühlt und sprach zu der Königin Maria: »Wie kann das sein, oh ehrwürdige Mutter der Gnade, dass ich keinen unserer Brüder hier sehe? Und wir sind doch deine Kinder und dienen dir inniglich Tag und Nacht! Warum sind wir so abgesondert, dass keiner unserer Brüder hier ist? « Da antwortete ihm die Königin Maria und sprach tröstlich zu ihm: »Sei nicht betrübt! Wisse, dass die Brüder deines Ordens mir so lieb sind, dass ich sie aufgrund der besonderen Liebe, die ich für sie empfinde, unter meinem Mantel hege und bedecke.« Und sie tat ihren Mantel weit auf und ließ ihn die Mitglieder seines Ordens in großer Klarheit und Freude sehen, Brüder und Jungfrauen, Gelehrte und Laienbrüder. Da war der Bruder wohl zufrieden. Und er erzählte, was er hier gesehen hatte, anderen seiner Brüder, die sich alle sehr darüber freuten. Nun ein anderes Exempel von Marias Mantel Ein anderer Bruder des Ordens von Sankt Bernhard, der ein gutes Leben geführt hatte, starb und erschien einem anderen guten Bruder und bat ihn, dass er dem Abt sagen sollte, wie er in Schmerzen sei und darum bitte, dass er für ihn eine Kollekte von Sankt Michael lesen wolle und den Brüdern befehle, dass sie Gott für ihn bäten. Da sprach der Bruder zu der Seele: »Oh, wenn du in Schmerzen bist, da du doch ein gutes Leben geführt hast, wie wird es dann mir ergehen, da ich leider ein so schwaches Leben führe? « Da sprach die Seele: »Meine Schmerzen, die ich leide, das ist nichts anderes, als dass ich das schöne Angesicht Gottes nicht sehen kann, denn die Seele muss sehr rein sein, die zugleich dazu gelangen soll, das freudvolle Angesicht Gottes zu schauen.« Und da diese Offenbarung dem Abt mitgeteilt wurde, las er eine Messe von Sankt Michael und bat mit seinen Brüdern für die Seele. Danach wurde die Seele auch unter dem Mantel der Jungfrau Maria gesehen. 1 Hier bezieht sich Dominikus auf das berühmte Zisterziensermirakel des Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum III, S. 1500 - 1503 [VII,59]. 5 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln 459 <?page no="460"?> By den tzwen vurgenanten exempel ind by vil anderen ist it zo mircken, dat die koeninckynne Maria lange vur unsen tzijden hait eynen schonen groissen mantell gehait, dar under sy ere besunder guede vrunde hait verborgen. Doch den selven mantel begeren wir noch me zo tzieren ind zo vermeyrren mit allem guede, dat wir dar zo vermogen offeren ind geven: missen, psalter, psalmen, vil dusent Ave Maria, die dar zo gesprochen werdent ind geoffert, ind manch ander gebet ind gaven geistlichen ind lijfflichen, ynnighe oenunge der doechden ind wat eyn yecklich mynsche mit guedem vryen willen dar zo will doen ader geven, dat der heilge mantel Marien mangfeldichlichen schone geschent ind geprijset werde, so wijt so groiss ind breit werde, dat neit alleyn der vurgenanter broedere sent Bernards ordens dar under sitzen sonder ouch wir ander geistliche personen ind guede ynnichge mynschen, alle unser frauwen Marien dyener ind dyeneryn, besunder die eyt zo erem mantel geven ader doen, wenich ader vijl. Want sy leist neyman verderven, die ir eyt eren doet ader zo dienste, als man erkennen mach by dem exempel, dat her na volget. Eyn guet troistlich exempel van unser frauwen yn dem mantel Eyn geistliche mynsche horte, wie die boese geisten klagenten van der junckfrauwen Marien ind sprachen eyn zo dem andern: »Ach we unss, dat die breite unss so vil groissen schaden doet! Sy berouffet unss also vil selen! Wie groiss nu eyn sunder is ind wie vil boisheit hait gedaen: Eyn kertze gebrant, eynen dach gevast, sy ye gegrust ader eyn gebetgyn gesprochen ader eren namen an roufft an syme lesten ende ader ander eyt umb eren willen gedaen - den wilt sy haven ind sprich: › Hey is myn diener gewest. ‹ Ind wat wir den gerechten richter an roiffen, dat en hilpt uns allit neit, sy beheldet eren willen, wie sy wil vur gaen vur gode, der doch vur was allit eyn strenger richter ind ernster. Also werden uns die selen der sundere genomen, als sy blyven zo der breyten.« Dar umb doen wir sundige mynschen wijslichen, dat wir Marien mantel na unsem vermogen lengen, groissen, wijden ind breyten, tzieren myt allem guede, dat wir dar zo geven ader gedoen kunnen, up dat wir mit merrer sicherheit zo der moder der barmhertzicheit fluwen. Der van gode dat ampt bevolen is, dat sy den sunderen helppen mach ind sall entfangen, die zo ir vleynt, ind under dem mantel erer gnaden bedecken vur dem zorne godes, als hie vur in dem latien geschreven steit. Dat der propheta ysaias spricht in syme xvi capittel. Do unss die materia dis mantels van Straesberch gesant wart vur dem gnadenrijchen jare, do wart unser broeder eyne gewijst yn dem slaeff eyn marienbilde, dat hatte eynen gulden mantel myt eyme wijssen silveren voeder und was unden ser wijt, zo entfangen die mynschen, die zo yr vleyn willen. Want die brudere sent Bernards orden synt leyder syr gevallen van der gnaden, da yn sy vur waren, dat zo forten ist, dat sy nicht alle also yrst nu komen under Marien mantel. Ind want sy sich nu unser moder nennet ind uns vil gnaden bewist, so begeren wir nu ouch, under dem wyden mantel yrer gnadenrichen bewarunge behuet werden hie vur allem quaden ind hijr na dar under ewelich zo resten yn dem rijchen gode. Doch willen wir ynniclichen gerne bidden vur die vurgenanten brueder sent Bernhards orden, dat in got weder helpe zo erem yrsten hilgen staet, dat sy under Marien mantel ouch entfangen werden. Want hie is groiß, dat hie unss alle wall verbergen ind 60 ir] ur K1, wohl Hastenfehler 35 40 45 50 55 60 65 70 460 Editionsanhang <?page no="461"?> Die zwei vorgenannten Exempel und viele andere bezeugen uns, dass die Königin Maria [bereits] lange vor unserer Zeit einen schönen großen Mantel hatte, unter dem sie ihre besonders guten Freunde verborgen hat. Doch diesen Mantel begehren wir noch mehr zu zieren und zu vergrößern mit allem Guten, das wir dazu beitragen und geben können: Messen, Psalter, Psalmen, viele tausend Ave Maria, die dazu gesprochen und beigetragen werden, und manch andere Gebete sowie geistliche und leibliche Gaben, innige Einung der Gedanken und was ein jeder Mensch mit gutem freien Willen dafür tun oder geben kann, dass der heilige Mantel Marias vielfach schön geschmückt und gepriesen werde, [dass er] so weit und so breit werde, dass nicht allein die vorgenannten Brüder des Ordens von Sankt Bernhard darunter sitzen, sondern auch wir anderen geistlichen Personen und guten innigen Menschen, alle Diener und Dienerinnen unserer Herrin Maria, besonders die, die etwas zu ihrem Mantel geben oder tun, wenig oder viel. Denn sie lässt niemanden verderben, der ihr etwas zu Ehren oder zu Diensten tut, wie man an dem Exempel erkennen kann, das hierauf folgt. Ein gutes tröstliches Exempel von unserer Herrin in dem Mantel Ein geistlicher Mensch hörte, wie die bösen Geister über die Jungfrau Maria klagten und einer zu dem anderen sprachen: »Ach weh uns, dass die Weite uns so viel großen Schaden zufügt! Sie raubt uns so viele Seelen! Gleich wie groß nun ein Sünder ist und wie viel Böses er getan hat: [Hat er] eine Kerze angezündet, einen Tag gefastet, sie je gegrüßt oder ein kleines Gebet gesprochen oder ihren Namen angerufen an seinem letzten Ende oder etwas anderes um ihrer willen getan - den will sie haben und spricht: › Er ist mein Diener gewesen. ‹ Und gleich wie sehr wir den gerechten Richter anrufen, das hilft uns alles nichts, sie behält ihren Willen, wenn sie vor Gott treten möchte, der doch zuvor stets ein strenger und ernster Richter war. So werden uns die Seelen der Sünder weggenommen, wenn sie bei der Weiten bleiben.« 2 Deshalb handeln wir sündigen Menschen weise, dass wir Marias Mantel so gut wir können verlängern, vergrößern, weiten und verbreitern und verzieren mit allem Guten, das wir dazu geben oder tun können, auf dass wir mit stärkerer Sicherheit zu der Mutter der Barmherzigkeit fliehen. Ihr ist von Gott die Stellung verliehen worden, dass sie den Sündern helfen kann und die empfangen soll, die zu ihr fliehen, und sie unter dem Mantel ihrer Gnade bedecken soll vor dem Zorn Gottes, wie oben auf Latein geschrieben steht. Das sagt der Prophet Jesaja in seinem 16. Kapitel. 3 Als uns die Materie dieses Mantels vor dem gnadenreichen Jahr aus Straßburg hergeschickt wurde, da wurde einem unserer Brüder im Schlaf ein Marienbild gezeigt, das trug einen goldenen Mantel mit einem weißen silbernen Futter und der war unten sehr weit, um die Menschen zu empfangen, die zu ihr fliehen wollen. Denn die Brüder von Sankt Bernhards Orden sind leider sehr von der Gnade abgefallen, in der sie voreinst waren, so dass zu befürchten ist, dass sie nun nicht mehr alle so wie einst unter Marias Mantel gelangen. Und da sie sich nun unsere Mutter nennt und uns viele Gnaden erweist, so wünschen nun auch wir, hier unter dem weiten Mantel ihres gnadenreichen Schutzes vor allem Unheil behütet zu werden und hiernach ewig darunter zu rasten im Reich 2 Hier bezieht sich Dominikus auf das lateinische Marienattribut lata. 3 Anspielung auf Is 16,3 - 4. 5 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln 461 <?page no="462"?> bedecken mach in hymmel ind up erden dar zo ouch in dem mere, als dyt nakomend exempel bewijset. Man list wie eyn busschoff voer up dem mere ind syn schijff reyß van ungewedder, dat em nyet zo helffen was. Do hoerte hie ind syn Capellaen alle die ir bichte, die yn dem schijff waren. Ind hie steich uss in eyn kleyn schijffgin mit etzlichen synen dieneren. Ind eyner woulde ouch zo eme springen ind viel yn dat mer ind verswant under dem wasser. Ind do die verdrunken, die yn dem groissen schijff bleven, do sach der busschoff, dat so vill wijsse duven flogen uss dem mer, also manche mynsche verdruncken was. Ind waren yrre selen, die da worden gefort in dat paradijß. Do was deme busschoff leyt, dat hie nyet by yn was bleven. Do hie nu zo lande quam, do vant hie staen den mynschen, der yn dat mer gevallen was gesunt ind druch, ind was neit nass worden. Do fraicht yn, wie eme geschien were. Ind hey sachte ym ind sprach: »Do ich in dat mer viel, do reeff ich die moder godes an ind zorstunt was sy mit yren gnaden bereit ind nam mich under eren mantel ind bracht mich gesunt ind druch her zo lande.« Do loffden sy got ind die gebenedide jungfrauwe mariam. Hie by sullen wir mircken, wie breit ind wie lanck der mantel Marien ist, dat hie neit alleyn bedeckt yr diener yn hemel ind up erden, sunder ouch in dem wilden mer, so man ynniclichen sy yn noeden anroefft. Wan sy is genant maris stella, eyn stern des mers, der nimmer under geit, na wichem sich die schifflude richten in der nacht, dat sy neit yrren. Den klaren sternen sullen wir ouch stetlich an seyn ind na deme schyne erer gnaden ind eres heilgen levens unss allzijt regeren. Eyn guet exempel van Marien mantell Eyn prior van sent Benedictus orden starff ind ee syn lijff begraven wart, so wart syne sele in dat capitell gevort, da Cristus ind Maria waren ind ouch sent Peter ind Paulus ind sent Benedictus. Vur den wart hie beklaget die sele des prioris, dat hie die brueder hait laissen slaiffen in dem chore ind hait sy neit geweckt. Darumb moiste hie syne discipline nemen, want sent Peter gaff sent Paulo eyn scharppe rode ind heische den priorem slaen. Do sloge sent Paulus die sele so hart myt deme yrsten slage, dat sy nye also sere vur in deme licham getzoichtiget wart. Ind zo deme tzweiden male sloech hie noch wil harder. Ind doe hie zo deme driten male wold hartlichen slaen, do hilde die moder godes Maria eren mantel vur yn ind leis yn neit me slaen. Also wart die sele verloiff durch die gnade der jungfrauwen Marien overmitz erem mantel, den sy oever yn hilde. Dar umb sullen wir gerne zo dem mantel helpen ind doen dat beste, dat wir kunnen, up dat wir ouch vur godes urdel dae mit bedeckt werden ind versonet dem zornigen richter vermitz die gnade der barmhertzichen moder Maria. Die wail is mechtich uns zu beschudden ind beschirmen under yrem breyten ind groissen mantel yr gnaden, is it, dat wir hie sy suecken mit ynnicheit unss hertzen. 89 wir] mir K1, wohl Verschreibung. 75 80 85 90 95 100 105 110 462 Editionsanhang <?page no="463"?> Gottes. Jedoch möchten wir gerne innig für die vorgenannten Brüder von Sankt Bernhards Orden bitten, dass Gott ihnen wieder zu ihrem einstmaligen heiligen Stand verhelfe, so dass auch sie unter dem Mantel Marias empfangen werden. Denn er ist so groß, dass er uns wohl alle bergen und bedecken mag im Himmel wie auf Erden und dazu auch auf dem Meer, wie das folgende Exempel illustriert. Man liest, wie ein Bischof auf dem Meer fuhr und sein Schiff durch ein Unwetter zerbrach, so dass ihm nicht zu helfen war. Da hörten er und sein Kaplan die Beichte von allen, die auf dem Schiff waren. Und er stieg um in ein kleines Boot mit vielen seiner Diener. Und einer wollte auch zu ihm springen und fiel ins Meer und verschwand im Wasser. Und als die ertranken, die auf dem großen Schiff geblieben waren, sah der Bischof, dass so viele weiße Tauben aus dem Meer aufflogen, wie Menschen ertrunken waren. Und das waren ihre Seelen, die da ins Paradies geführt wurden. Da tat es dem Bischof leid, dass er nicht dort bei ihnen geblieben war. Als er nun ans Land kam, fand er dort gesund und trocken den Menschen stehen, der in das Meer gefallen war, und er war nicht nass geworden. Da fragte er ihn, wie ihm geschehen sei. Und er sagte es ihm und sprach: »Als ich in das Meer fiel, da rief ich die Mutter Gottes an und sogleich war sie mit ihrer Gnade zur Stelle und nahm mich unter ihren Mantel und brachte mich gesund und trocken hierher an Land.« Da lobten sie Gott und die gebenedeite Jungfrau Maria. Hierdurch sollen wir verstehen, wie breit und wie lang der Mantel Marias ist, so dass er nicht allein im Himmel und auf Erden ihre Diener bedeckt, sondern auch auf dem wilden Meer, wenn man sie innig in Nöten anruft. Denn sie wird maris stella genannte, ein Stern des Meeres, der niemals untergeht, nach welchem sich die Seefahrer in der Nacht richten, damit sie nicht vom Kurs abkommen. 4 Diesen hellen Stern sollen auch wir stets ansehen und uns allezeit an dem Glanz ihrer Gnaden und ihres heiligen Lebens orientieren. Ein gutes Exempel von Marias Mantel Ein Prior von Sankt Benedikts Orden starb, und bevor sein Körper begraben wurde, wurde seine Seele in den Kapitelsaal geführt, wo Christus und Maria waren und auch Sankt Peter und Paul und Sankt Benedikt. Vor diesen wurde die Seele des Priors angeklagt, dass er die Brüder hätte im Chor schlafen lassen und sie nicht geweckt hätte. Darum musste er seine Disziplin nehmen, denn Sankt Peter gab Sankt Paul eine scharfe Rute und hieß ihn den Prior schlagen. Da schlug Sankt Paul die Seele so hart mit dem ersten Schlag, dass sie nie zuvor im körperlichen Leben so gezüchtigt worden war. Und beim zweiten Mal schlug er sie noch viel härter. Und als er zum dritten Mal hart zuschlagen wollte, da hielt die Mutter Gottes Maria ihren Mantel vor ihn und ließ ihn nicht mehr weiterschlagen. So wurde die Seele erlöst durch die Gnade der Jungfrau Maria vermittels ihres Mantels, den sie über ihn hielt. Darum sollen wir gerne bei dem Mantel mithelfen und das Beste tun, das wir nur können, damit auch wir vor Gottes Urteil hiermit bedeckt werden und mit dem zornigen Richter versöhnt werden durch die Gnade der barmherzigen Mutter Maria. Die ist wohl mächtig genug, uns zu beschützen und zu beschirmen unter ihrem breiten und großen Mantel ihrer Gnaden, wenn es denn so ist, dass wir sie hier mit Innigkeit unseres Herzens suchen. 4 Zum verbreiteten Marientitel maris stella vgl. Rothenberger 2019, S. 94 - 99. 5 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln 463 <?page no="464"?> Eyn ander exempel van dem mantel In Hessen ader na by Hessen lande licht eyn jungfrauwen cloister, dar uß die jungfrauwen gewont hatten, zo gaen in eynen walt, die neit verre van deme cloister lach. Ind up eyne tzijt geschach, do sy daer yn waren gegangen spacieren, wie dat eyn kleyn jungfraulyn so verre in den walt gegangen was van den anderen, dat it neit gewair en wart, wan die anderen heym gingen. Ind die susteren hatten ouch geyn acht up dat kynt, wae it were. Ind so bleijff it over nacht alleyne in dem wilden wailde. Ind die jungfrauwen worden yrst in der nacht gedencken ind eyn die ander vragen umb dat kynt. Ind do sy yt neit vunden in dem cloister, so wurden sy sere bedrufft ind wisten nu neit anders, dan it were van den woulfen gessen ind gans verloren ind gestorven. Doch zor stunt, do it dach wart, do gyngen sy geryng in den walt dat kynt zo soechen, aff sy ycht yrgen vinden kunden. Sunder zorstunt, als sy in den walt quamen, do vunden sy dat jungfrauwelin froelich ind gesunt gaen in dem walde. Des waren sy alle sere vroe ind vrageten, wie ym were gescheyn. Do sprach it: »Eyne schone frauwe hait mich die gantze nacht in erme schoisse gehalden bys ir komen sijt.« Do danckden sy goede ind der barmhertzicher moder Marien, want sy erkannen wal, dat sy dat kynt bewart hatte. Doch umb die sache wart yn verboden, dat sy neit me in den walt sulden gaen spacieren. Alsus breyt die konynckynne Maria den mantel yrer bewarungen over junck und alt, groisß ind kleyne, arm ind riche. Sy besorget unss alle ind bedeckt all die yren under den wijten geren yrs groesses mantels. Wie die sonne yren schijn breitet over all die werelt, also deylet Maria yre gnade allen, die yr begeren ind zo yr vleyn ind sy an roiffen. Nyemant iss ussgescheiden, dan der selver neit wyll. Eyn guede getruwe vermanunge zo allen mynschen Eya krystene mynschen, all die da erloest sijt mit dem duren blode unss herren Jhesu Cristi, dat hie intfangen hait van der reyner jungfrauwen Marien, gedenckt an urer selen selicheit yn der zijt der gnaden, die wile uch zo helffen is. Doet boesse vur ure sunden ind besser ur leven die wile ir gesunt sijt ind guet doen moicht, ee die kranckheit ind der doit oever uch komet. Ylet zo der offen porten des ewigen levens, ee sy uch verslossen wyrt. Sucket got ind syne gnade, die wyle sy zo vynden is, want die zyt kumpt ind is neit verre, dat sy nemant wirt kunnen vinden. Want it is dan zo lange gebeyt mit den unwijsen mynschen, die sich nu versumen ind nyeman gelouven willen ader volgen. Her umb sullen wir alle in der zijt der gnaden blyven under den fanen des vronen cruces Cristi, dar alle unse selicheit ynne is, ind under den breyten, wijten, langhen ind groissen mantel der hemel konynckynne Maria, die alle zijt gereit is, zo intfangen alle, die yre hulffe ind gnade begeren. Wie boese sy gewest synt, wie groisse ind mange sunden sy gedaen haven, wyllen sy alleyne aff laissen ind sich besseren, sy will yn allen zo gnaden helpen unde versonen yrem leven kynde Jhesu Cristo, der sy vort versonet syme hemelschen vader. Ind dat is der gerechte wech, unser selicht zo gode zo komen, yn zo seyn und zo loeven yn ewiger freuden. Dar help ind brenge uns hyn der vader ind der soen ind der heilger geist, eyn gewar got. Amen. Explicit pallium beate Marie virginis. 115 120 125 130 135 140 145 150 464 Editionsanhang <?page no="465"?> Ein weiteres Exempel von dem Mantel In Hessen oder in der Nähe von Hessen liegt ein Frauenkloster, in dem die Klosterfrauen die Gewohnheit hatten, in einen Wald zu gehen, der nicht fern von dem Kloster lag. Und zu einer Zeit geschah es, als sie dorthin spazieren gegangen waren, dass ein kleines Klosterfräulein so weit in den Wald gegangen war, dass sie es nicht bemerkte, als die anderen heimgingen. Und die Schwestern hatten auch nicht darauf geachtet, wo das Kind sei. Und so blieb es über Nacht allein in dem wilden Wald. Und den Klosterfrauen fiel dies erst in der Nacht auf und sie fragten einander nach dem Kind. Und da sie es nicht in dem Kloster fanden, wurden sie sehr betrübt und konnten nun an nichts anderes denken, als dass es von den Wölfen gefressen und ganz verloren und gestorben sei. Aber sofort, als es Tag wurde, da gingen sie eilig in den Wald, um das Kind zu suchen, ob sie es irgendwo finden könnten. Aber sofort, als sie in dem Wald kamen, fanden sie das Klosterfräulein fröhlich und gesund im Wald herumgehen. Darüber waren sie alle sehr froh und fragten, wie ihm geschehen wäre. Da sprach es: »Eine schöne Dame hat mich die ganze Nacht in ihrem Schoß gehalten, bis ihr gekommen seid.« Da dankten sie Gott und der barmherzigen Mutter Maria, denn sie erkannten wohl, dass sie das Kind gerettet hatte. Aber wegen dieser Sache wurde ihnen verboten, weiterhin in dem Wald spazieren zu gehen. So breitet die Königin Maia den Mantel ihres Schutzes über Junge und Alte, Große und Kleine, Arme und Reiche. Sie umsorgt uns alle und bedeckt all die Ihrigen unter den weiten Säumen ihres großen Mantels. Wie die Sonne ihren Schein über die ganze Welt ausbreitet, so teilt Maria allen ihre Gnade aus, die diese wünschen und zu ihr fliehen und sie anrufen. Niemand ist ausgenommen außer dem, der selbst nicht will. Eine gute wahre Ermahnung für alle Menschen Oh, ihr Christenmenschen, alle die ihr da durch das kostbare Blut unseres Herren Jesus Christus erlöst seid, das er von der reinen Jungfrau Maria empfangen hat, denkt an die Seligkeit eurer Seele in der Zeit der Gnade, solange euch zu helfen ist. Tut Buße für eure Sünden und bessert euer Leben, solange ihr gesund seid und Gutes tun könnt, bevor die Krankheit und der Tod über euch kommen. Eilt zu der offenen Pforte des ewigen Lebens, bevor sie für euch verschlossen wird. Sucht Gott und seine Gnade, solange sie zu finden ist, denn die Zeit kommt und ist nicht fern, in der niemand sie wird finden können. Denn dann ist es zu lange gewartet für die törichten Menschen, die sich nun versäumen und niemandem glauben oder folgen möchten. Darum sollen wir alle in der Zeit der Gnade unter dem Banner des Fronkreuzes Christi bleiben, an dem all unsere Seligkeit liegt, und unter dem breiten, weiten, langen und großen Mantel der Himmelskönigin Maria, die allzeit bereit ist, alle zu empfangen, die ihre Hilfe und Gnade wünschen. Wie böse sie auch gewesen sind, wie große und viele Sünden sie auch begangen haben, wenn sie nur davon ablassen wollen und sich bessern, dann will sie ihnen allen zur Gnade verhelfen und sie mit ihrem lieben Kind Jesus Christus versöhnen, der sie wiederum versöhnt mit seinem himmlischen Vater. Und das ist der gerechte Weg für uns, selig zu Gott zu kommen, ihn zu sehen und zu loben in ewiger Freude. Dazu helfe und führe uns der Vater und der Sohn und der Heilige Geist, ein wahrer Gott. Amen. Hier endet der Mantel der seligen Jungfrau Maria 5 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln 465 <?page no="466"?> Handschrift K1: Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, for. 64v - 67r. Siehe die Angaben oben, S. 436. Bemerkungen zur Edition Der Text folgt dem einzigen bekannten und erhaltenen Textzeugen Köln, Historisches Archiv, Ms. GBf 129, fol. 64v - 67r (K1). Unter Emendation zweier offensichtlicher Schreibfehler wurde dem Text dieser Handschrift nach den weiter oben ausgeführten Editionsrichtlinien gefolgt. Rubrizierte Zwischentitel und sonstige Beitexte sind abgesetzt und durch Fettdruck hervorgehoben. 466 Editionsanhang <?page no="468"?> 6 Herzkloster mit Kommentartraktat Hie merck von einem geistlichen closter, wie und wa mit du daz in dir pawen und machen solt nach der lere sant Bernhart Eyn fridsam hertz ist ein gaistlich closter, dar innen got selber der apt ist. Beschaidenhait ist aptissin darinnen. Diemütickeit ist die priolin. Gedultikeit ist cüsterin. Götliche forht ist pfortnerin. Miltikeit ist siechmaisterin. Die heilig drivaltikeit ist schülmaisterin. Genad ist der priester. Götliche mynne ist der alter. Die engel seint die diener. Beckantnüzze ist daz ckrewtz. Gehorsamkeit ist conventswester. Dankperckeit ist sanckmaisterin. Gelazzenheit ist die kirch. Andacht ist der chor. Übung ist der ckrewtzganck. Gedehtnüz dez todez ist der kirchoff. Armüt ist schafferin. Barmhertzikeit ist daz siechaws. Zuchtikeit ist der rebenter. Messickeit ist der tisch. Götlicher trost ist ckelnerin. 1 Hie] erg. na ᵛ ch Ber2 Hie merck] fehlt B3 - Item hie merck E2 - Nu merck N2 closter] erg. vnd A3 mit] fehlt M5 M8 dir] erg. selber B2 B3 Ber1 pawen und machen solt] pawen solt A1 - pawen solt vnd machen B3 - buwen machen solt E2 - pawen solt oder machen M3 - machen solt M5 1 f. Hie merck … Bernhart] fehlt E1 - Daz süllen mercken die gaystlichen menschen vnd auch die weltlichen dy mit sampt den gaistlichen begern ze besitzen daz ewig leben M1 M2 2 der lere sant Bernhart] sant bernhart ler A3 B1 B2 B3 Ber1 Ber 2 E2 L M6 N1 N2 N3 S Z - Sannt Bernhart M8 lere] erg O jesu esto nobis jesus Ber2 3 der] fehlt A3 selber der apt] selbs der praelat M1 M2 4 ist] erg. die A1 B2 Ber2 E1 M3 M4 M7 M8 - erg. ein Z - erg dar in. A3 B3 M1 M2 dar innen] fehlt A1 A3 B3 M1 M2 M3 M4 M5 M7 M8 5 die] fehlt B1 B2 B3 Ber1 L M6 N1 N2 N3 S Z - dar in A3 M1 M2 priolin] erg. dar jnn E1 - bröbstin E2 6 ist] erg. die A1 A3 E1 Ber2 M1 M2 M3 M4 M5 M7 M8 N3 cüsterin] erg. dar jnn E1 7 forht] werk E2 ist] erg. die E1 Ber2 M5 N3 8 ist] erg die. E1 M1 M2 M5 N3 Z siechmaisterin] erg. dar jnn E1 9 Die heilig … schülmaisterin] fehlt M3 M7 N3 ist] erg. die M1 M2 M5 10 priester] erg. dar jnn E1 11 mynne] lieb M3 N2 Z alter] erg. dar jnn E1 12 diener] erg. gehorsamigkeit is conuent swester B3 - erg. dar jnn E1 - erg. Gehorsamchayt ist des conuentt swester M1 M2 13 ist] fehlt M8 ckrewtz] erg. dar jnn E1 14 Gehorsamkeit] gehormikeit M4 M8 - gehorsam M5 Gehorsamkait ist conventswester] fehlt B3 M1 M2 ist] fehlt A1 M3 M4 M7 M8 - erg. die E1 Ber2 conventswester] conuentswesterin A1 A2 M4 M4 M7 M8 15 ist] fehlt A1 M3 M4 M7 M8 - erg. die E1 M1 M2 16 die] fehlt A3 18 der] fehlt E2 19 dez] fehlt S 20 ist] erg. die Ber2 E1 21 ist daz] fehlt M3 M4 M7 M8 - das A1 - ist M1 M2 22 Zuchtikeit] gu ͦ tichayt B3 M1 M2 der] daz B2 B3 L 24 ist] die E1 M1 M2 N2 5 10 15 20 468 Editionsanhang <?page no="469"?> Hier merke von einem geistlichen Kloster, wie und womit du das in dir bauen und herstellen sollst nach der Lehre des heiligen Bernhard. Ein friedsames Herz ist ein geistliches Kloster, worin Gott selbst der Abt ist. Verstand ist die Äbtissin darinnen. Demut ist die Priorin. Geduld ist Küsterin. Gottesfurcht ist die Pförtnerin. Großzügigkeit ist die Infirmarin. Die heilige Dreifaltigkeit ist die Schulmeisterin. Gnade ist der Priester. Göttliche Liebe ist der Altar. Die Engel sind die Diener. Erkenntnis ist das Kreuz. Gehorsam ist Klosterfrau. Dankbarkeit ist Kantorin. Gelassenheit ist die Kirche. Andacht ist der Chor. Übung [oder: Askese] ist der Kreuzgang. Todesgedenken ist der Kirchhof. Armut ist Schaffnerin. Barmherzigkeit ist das Spital. Anstand ist das Refektorium. Mäßigung ist der Tisch. Göttlicher Trost ist Kellnerin. 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 469 <?page no="470"?> Götliche süzzickeit ist die speise. Kewscheit ist daz slaff haws. Ainikeit ist die tzelle. Rewikeit dez hertzen ist der sel strosack. Frid ist der pawmgart. Sweigen daz seint die pawm. Untergien daz seint die pleter. Ein gut ebenpild getragen vor allen menschen, daz ist die pliude der pawmen. Volhertung und niht ablazzen in allen tugenden piz in daz ende, daz ist die fruht, die man ewiclichen nyezzen wirt hie in der zeit und dort in ewickeit. Hie sol ein ietlicher gaistlicher mensch, er sei pruder oder swester eben und wol merken und verstaen und auch wissen, welhes oder waz ordens er halt ist, swartz, weiz oder grawe, wie wol den sein closter und wie vest ez gemaurt und verslozzen ist und wie gaistlichen sein claider, sein haubt und sein schein ist und wie hertt und wie streng sein orden ist nach dem aussern menschen an herten claidern und an herttem geliger, an vasten, an wachen, an abstinencii und an andern cerimonien: Ist denn, daz er daz 25 ist] fehlt M3 M4 M5 M7 M8 25 f. die speise Kewscheit ist] fehlt B3 M1 M2 27 Ainikeit] gu ᵉ tikait L - einueltekeit N3 27 f. Ainikeit ist … strosack] fehlt A1 M3 M4 M7 M8 28 Rewikeit] rew A3 - rainikait B3 L M1 M2 N2 N3 sele] fehlt B2 E1 N2 strosack] pettgewant M1 M2 - sweygen in widerwa ᵉ rticheyt ist daz Capitel B3 M1 M2 29 pawmgart] buw wingart Ber2 30 Sweigen daz … pawm] fehlt B3 M1 M2 die] fehlt E2 pawm] erg. ainikeit ist die zelle rewikeit des hertzen ist der sele strosack M3 M4 M7 M8 31 Untergien] vndergang A3 S - vntertenikeit N3 Untergen daz … pleter] fehlt B3 M1 M2 daz] fehlt A3 B1 B2 Ber1 Ber2 E2 L M6 N1 N3 S die] seine A3 pleter] erg. aynigkait das ist die zelle rewigkait des hertzen ist der sel strö säck A1 32 getragen vor allen] tragen vor allen A2 Ber2 - getragen vor den E2 - vortragen den N2 menschen] fehlt L - leuten A3 B3 Ber2 E2 M1 M2 M6 N1 N2 N3 S Z daz] fehlt A3 ist die] seint M3 M4 M7 M8 - sein die N1 N3 pliude] frucht B3 M1 M2 33 Volhertung] harrung A3 - beha ᵉ rrung M1 M2 und niht] vnd aun B2 E1 - a ᵘ n Ber1 ablazzen] ablassung E1 N3 1 in] fehlt M8 tugenden] dingen B3 M1 M2 piz in das ende] pis an das endt B3 M1 M2 - fehlt Z ende] erg. daz A2 M5 Z - erg. gantz ann got ergeben A3 34 ewiclichen] fehlt M5 N2 nyezzen] einmessen N3 wirt] sol vnd wirt nyessen M1 M2 in der] im A3 - in B1 B2 B3 Ber1 L M1 M2 M5 M6 N1 N2 N3 S Z - vnd in E2 dort] fehlt E1 ewickeit] ewiklich B1 M5 M8 - erg. dz verlieh alla got vatter sun vn hailger gaist amen Nun merck wol vf E1 - erg. Nu merk wol E2 Ber1 Ber2 M6 S - erg. Nu merck gar wol ditz nach geschriben A3 - erg. Nu mercke woll was hernach geschriben stett B1 - erg. Nu merck eben vnd verste ez recht zu guten synnen N2 35 Hie] dye M1 M2 - erg. ist vnd M3 - nu Z mensch] erg. mercken M3 N2 und] oder M2 wol] erg. vf E1 35 f. eben und … wissen] fehlt N2 36 1 und] fehlt B3 M1 M2 - erg. auch A3 auch] fehlt A3 B2 oder waz] fehlt N3 - orden was Ber1 - ordens oder jn wz E1 er halt ist] er halt sei A2 - du auch bist A3 - er halt B1 M8 - er ist B2 Z - er halt oder ist B3 M1 M2 - er ioch sy das ist E2 - er joch ist Ber1 Ber2 E1 S - er ioch sy M6 - ist N2 - er sey N3 swartz] erg. oder M1 M2 N3 36 f. swartz weiz oder grawe] fehlt B2 N2 37 wol] fehlt B1 den] fehlt N2 - auch A3 sein] ir L und wie vest] vest ist vnd wie Ber2 und wie … und] fehlt N2 und wie … ist] ist woll beuestnet vnd gemuret vnd beschlossen A3 ez] erg. ist B3 - erg. denn E2 - er M1 M2 gemaurt] erg. ist A1 Ber2 M1 M2 M3 M4 M7 M8 N3 S und verslozzen] fehlt M5 3 und] fehlt N2 3 wie] fehlt L 38 gaistlichen] erg. denn E2 sein claider sein haubt und] fehlt N2 claider] erg. sind vnd A1 A3 B3 M1 M2 S - erg. sind Ber2 E2 N3 - erg. sint klaider L sein haubt] fehlt B1 N2 Z - auch der habitt A3 - habist Ber1 - vnd der habit Ber2 - hailig E2 - habit M6 - der habitt S haubt und … ist] fehlt M3 und sein] fehlt E2 - vnd N3 Z ist] fehlt A1 Z hertt und wie] fehlt L 2 wie] fehlt A3 38 f. ist und … orden] fehlt B2 Ber1 E1 - ist wie hert sein cleid vnd sein orden N2 39 an herten claidern und] fehlt B1 Z und] fehlt E1 M3 M4 M7 M8 2 an] fehlt A3 B2 und an herttem geliger] fehlt N3 39 f. an herten … denn] ist daz N2 40 1 an] fehlt B2 - vnd an B3 - vnd M1 M2 abstinencii und … cerimonien] abprechung dez leibs lust M3 und an andern] fehlt M5 Z - an andren A3 - vnd anderen M1 M2 M8 cerimonien] fehlt M5 Ist] erg. es B1 - erg. dz M5 er] esz E1 - fehlt M6 2 daz] ditz A3 B1 B2 B3 Ber1 Ber2 E1 E2 L M1 M2 M5 M6 N1 N2 N3 S 25 30 35 40 470 Editionsanhang <?page no="471"?> Göttliche Süße ist die Speise. Keuschheit ist das Dormitorium. Einsamkeit ist die Zelle. Reue des Herzens ist der Strohsack der Seele. Friede ist der Baumgarten. Schweigen, das sind die Bäume. Untergehen, das sind die Blätter. Ein allen Menschen aufgezeigtes gutes Vorbild, das ist die Blüte der Bäume. Ausdauer und das Nicht-Ablassen von allen Tugenden bis zum Schluss, das ist die Frucht, die man ewig genießen wird, hier in der Zeit und dort in der Ewigkeit. Hier soll ein jeglicher geistlicher Mensch, sei er Bruder oder Schwester, gleich und gut merken und verstehen und auch wissen, egal welchem Orden - schwarz, weiß oder grau - er angehöre, egal wie gut sein Kloster beschaffen und wie fest es gemauert und beschlossen sei, egal wie geistlich seine Kleidung und sein Habit und sein Ansehen sei und wie hart und wie streng es sein Orden hinsichtlich des äußeren Menschen halte mit harten Kleidern und hartem Lager, mit Fasten, mit Wachen, mit Abstinenz und mit 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 471 <?page no="472"?> vorgeschriben gaistlich closter nach dem innern menschen in im selber niht wol und auch gentzlich pawet, daz ist, ob er die vorgenanten tugent, do mit daz gaistlich closter gepawet wirt, niht alle besitzet, so ist im sein gemaurt closter, da er innen ist, und sein geistlicher schein und auch die hertikeit seins ordens niht nutz noch fruchtper. Und also ist er on sache in dem closter und in dem orden. Und wer im auch vil pesser, er wer in der werlt, denn daz er in dem closter ist. Wan stirbt er also, so stirbt er on zweifel niht wol und stirbt auch wirs, denn ob er in der werlt stürb. Und daz beweiset daz ewangelium und ander bewert lerer. Es müz auch ein ietlicher werltlicher mensch, wer er ist oder in welhem stat er ist oder wa und waz er ist, wil er denn früm und selig werden, so müz er ye daz vorgenant gaistlich closter auch pawen in im selber. Wan alz vorgesagt ist in dem puch nach den poten: Welher behalten wil werden, der müz alle tugent haben und einer niht mynner. Aber zu der helle hat man genung an einer untugent, wenn ez ein totsünde ist. Und dar umb so ist dez vorgenanten geistlichen closters pawe allen menschen notdurftig, gaistlichen und auch werltlichen. Nach allen disen vorgeschriben und vorbenanten dingen so möcht ein mensch also sprechen: Wie kan ich und wie mag ich ymmer zu disen vorgenanten tugenden und dingen 41 vorgeschriben] vorgenant oder vorgeschriben A2 - vorgenant M3 M5 Z gaistlich] fehlt A2 A3 L N3 Z nach] fehlt Ber1 innern] andren innern M8 wol] erg. buwet E2 und] fehlt A3 42 gentzlich] aigenlichen A1 M3 M4 M7 M8 closter] erg. mit N2 43 wirt] wir M8 alle] allein M3 M4 M7 M8 so ist] ist ist A2, wohl Dittographie ist im sein gemaurt] im sin gewa ᵉ ret L 1 sein] fehlt A1, Korrekturzeichen über der Zeile, jedoch ohne eingefügtes Wort und sein] fehlt L 44 auch] fehlt N2 niht] erg. weder A3 45 und in dem orden] fehlt B3 M1 M2 im auch vil] im vil B2 - o ᵘ ch im wil M6 er wer in] were in B1 - we wa ᵉ r in B2 - in B3 46 denn] wann M8 denn daz … ist] fehlt A3 B2 Ber2 S - dann in dem chlo ᵉ ster B3 M1 M2 so stirbt er] er stirbt B2 on zweifel] fehlt B1 B2 46 f. und stirbt … stürb] fehlt B1 B2 M3 47 wirs] fehlt M4 M7 M8 denn] wenn M5 ob er in der werlt stürb] stu ᵉ rb er in der werlt N2 daz] fehlt Z beweiset] erg. auch A1 M4 M7 M8 Z - erg. vns M3 47 f. Und daz … lerer] fehlt B1 49 werltlicher] fehlt L M3 M4 M7 M8 49 f. wer er … waz er ist] wer er ist oder wo vnd was er ist A1 - wer er ist oder inn wellem sta ᵘ t er ist oder waz er ist A3 - was er ist oder in welchem stat er ist B1 - wer er ist oder in welchem stant B2 - wer er joch ist oder in welhem sta ᵛ t er ist oder wa ᵛ vnd wz er ist Ber2 - wer er ist in welhem sta ᵘ t er ist oder wa ᵘ vnd wz er ist E2 - wer er ist oder in welchem stat er ist oder wes vnd was er ist L - wer er ist oder wo und was er ist oder in welchem stat B3 M1 M2 - in welhem stat er ist N2 - wer er ist oder in welichem stant er ist Z 50 denn] fehlt A3 B2 Ber1 Ber2 E1 E2 M6 N2 S früm und] fehlt A3 so] fehlt B1 ye daz vorgenant] dz A3 - ie disz N2 - das vorgenant N3 50 f. gaistlich closter] closter gaistlich A2 - closter A3 B2 M3 M4 M5 M7 51 auch] fehlt M6 auch pawen … poten] im im selber pawen wann N2 alz vorgesagt … poten] fehlt B3 M1 M3 - als geschriben stat also B2 vorgesagt ist] vorgeschriben stet B1 - vorgesagt M3 - wor geset ist M6 dem] disem A3 Ber1 E2 M6 N1 N3 S 52 Welher] wer M3 M4 M7 N2 wil werden] werden wil A3 alle tugent] di tugent alle B3 M1 M2 einer] aine M5 mynner] erg. zu mynsten heblich N2 53 an] fehlt A3 ein todsünde ist] im to ᵘ d sund ist M5 - ist eni totsunde N3 - anders ein todsünd ist Z Und] fehlt A2 so ist] fehlt B1 B2 - ist M3 M4 M7 M8 N2 N3 54 f. dez vorgenanten … werltlichen] ain so ᵉ llich closter gebuwen ist nottufftig allen menschen B2 allen menschen … werltlichen] allen menschen geystleychen vnd weltlichen ein gro ᵉ ssew ᵉ no ᵉ tdu ᵉ rfft B3 M1 M2 - not allen menschen geistlichen und werltlichen N2 54 geistlichen] fehlt Z notdurftig] erg. baide A3 55 auch] fehlt A3 B1 Ber1 Ber2 E1 E2 M5 M6 N1 N3 S Z 56 - 74 Nach allen … Amen] fehlt M3 56 Nach allen … so] nun B2 Nach allen disen] nun nach allan E1 - nach disen allen M4 M7 - nach allen N2 vorgeschriben und vorbenanten] vorgeschriben B3 M1 M2 N2 Z - vorgenanten B1 M5 so] fehlt N2 mensch also] mensch auch also A3 - mensch N2 Z 57 kan ich und wie mag] wie kann ich oder wie mag A3 - kann und wie mag B1 B3 - mag ich noch kan B2 - kann ich nun mag Ber2 - mach ich oder wie kan E1 - kann ich wie mag L - chem M4 M7 - kan wie mag M6 - kan vnd mag N2 - kann oder mag Z ymmer] fehlt M5 Z - nymmer B3 - nun jmer E1 - immermer N3 disen vorgenanten] den vorgenn vnd A3 57 f. tugenden und dingen] dingen vnd tugenden A2 Ber2 Z - tugenden A3 M5 45 50 55 472 Editionsanhang <?page no="473"?> anderen Übungen: Ist es denn so, dass er das oben aufgeschriebene geistliche Kloster in Hinblick auf den inneren Menschen in ihm selbst nicht gut und zur Gänze erbaut, das heißt, wenn er die obengenannten Tugenden, mit denen das geistliche Kloster gebaut wird, nicht alle besitzt, dann sind ihm sein gemauertes Kloster, in dem er lebt, und sein geistliches Ansehen und auch die Härte seines Ordens weder nützlich noch fruchtbar. Und somit ist er ohne Grund im Kloster und im Orden. Und es wäre für ihn auch viel besser, wenn er in der Welt wäre, als dass er im Kloster ist. Denn stirbt er in diesem Zustand, so stirbt er nicht gut und stirbt auch schlechter, als wenn er in der Welt stürbe. Und das zeigen uns das Evangelium und andere bewährte Lehrer. Es muss auch jeder weltliche Mensch, gleich wer er ist oder welchem Stand er angehört oder wo und was er ist - will er denn fromm und selig werden, so muss er jeweils das oben beschriebene Kloster in sich selbst erbauen. Denn wie es oben in diesem Buch nach den Geboten heißt: Wer gerettet werden möchte, der muss alle Tugenden haben und nicht eine weniger. Um aber in die Hölle zu kommen, genügt eine einzige Untugend, wenn es sich dabei um eine Todsünde handelt. 1 Und darum haben alle Menschen, geistliche und auch weltliche, den Bau des obenstehenden geistlichen Klosters nötig. Nach allen diesen oben geschriebenen und gesagten Dingen kann ein Mensch folgendes einwenden: »Wie kann und wie vermag ich es jemals, zu all den obengenannten Tugenden 1 Dies bezieht sich auf die in den meisten Handschriften des Traktatbündels Von einem christlichen Leben enthaltene Dekalogerklärung. 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 473 <?page no="474"?> allen kumen, wann ich doch nihtz gütz überal von mir selber hab und auch on die genad gotz ckain güt weder getün ckan noch mag? Und dar umb so ckan ich doch niht früm noch selig werden, mir helf denn got und geb mir genad, daz ich ez getün müg. Hie soltu gar eben mercken und wol vernemen und verstaen, daz daz vil war ist und daz auch dar zu ein mensch, der on all genad stet und ist, der mag die ersten genad mit nihte von wirdickait verdienen. Er mag sich selber aber wol dar zu schicken und lencken, daz im got die ersten genad von zimlickeit geb. Und daz geschiht, wenn daz ist, daz der mensch daz sein tüt. Und dar umb so soltu sicherlichen wissen on allen zweifel, daz sich selber ckain mensch entschuldigen mag gegen got. Wann wenn der mensch daz sein tüt, so tüt got ye daz sein auch on allen zweifel. Aber daz ein mensch daz sein tü, daz selb daz beslewsset und begreiffet drew dink. Daz ist, daz er lazz und meid daz werck der sünde und den willen zü sünden, und daz er sich gütz fleiz, alz vil ez im müglich ist. Und daz ist und haisset daz sein getan. Und dar umb, wenn der mensch die selben drew dink tüt, so ist er yetzunt geschickt zu der ersten genad. Will denn der mensch fleissig und endlich sein, so gibt im got ie mer und ie mer. Und also mag er denn mit gotz hilf wol früm und selick werden, ob er will. Daz uns daz geschehe und wider var, dez helf uns Jhesus Maria sün. Amen. 58 allen] fehlt L Z gütz] fehlt B2 - erg. vermag B2 E1 E2 Ber1 überal] erg. in kainn weg A3 - ubel al M2 hab] fehlt B2 E1 59 weder getün] getuon weder A3 - getan N2 - werck gethun Z 1 ckan] fehlt N2 noch mag] fehlt B3 M1 M2 - noch enmag A1 B1 L M4 M5 M7 M8 N1 N3 Z so] fehlt N2 2 ckan] enkan N3 - mag Z doch niht] weder A3 - nit L M1 M2 M6 N2 2 noch] vnd M5 60 got und geb mir] fehlt N3 und geb … müg] fehlt N2 2 mir] erg. dann M4 M7 getün müg] mug tu ͦ n A3 - tu ͦ n múg B2 61 soltu] solt B2 gar eben] fehlt N2 1 und] fehlt E1 - vil M8 und wol … verstaen] fehlt N2 - vnd wol versten A3 B3 M1 M2 vil] fehlt N2 - wol E2 - red M1 M2 61 f. und daz … ist] wenn ain mensch ist a ᵘ n all gena ᵘ d vnd die nit ha ᵘ t vnd gantz a ᵘ n sta ᵘ t A3 62 ein mensch] ainem ma ᵉ nschen E1 der on] daran M4 M7 M8 und ist] fehlt B2 B3 M1 M2 2 der] fehlt Z 62 f. die ersten … wirdickait] die ersten gnade mit nicht wirdigkeit B1 - wirdikeit mit nihte von gnad M5 - nicht des ersten genad von wirdigkeit Z 63 wirdickait] erg. wegen A2 aber wol] wol aber B2 und lencken] fehlt B1 B3 M1 M2 N2 Z - vnd fügen A3 - vnd laiten B2 64 zimlickeit] zunlich N3 1 daz] fehlt Ber1 daz ist] fehlt N2 65 so] fehlt B1 L N2 Z sicherlichen] sicher A3 B3 M1 M2 N2 on allen zweifel] fehlt B2 selber] selbs an E1 - fehlt N2 66 entschuldigen mag gegen got] mag gegen got entschuldigen L - entschuldigen N3 67 got ye] ye got auch A3 - ye got B3 Ber1 M1 M2 N3 - och got ye E2 auch] fehlt A3 B1 B2 B3 Ber1 Ber2 E1 E2 L M1 M2 M6 N1 N2 S on allen zweifel] fehlt B1 - a ᵘ n zwifel Ber2 S 68 sein tü] sein thu ͦ t M5 N2 N3 - thut M7 daz selb daz] das selb A1 A3 B1 B2 Ber1 M6 N3 S Z - das B3 M1 M2 N2 und begreiffet] fehlt B1 N2 drew] vier N2 5 Daz] erg. erst M1 M2 69 meid] erg. die sund vnd N3 daz werck … zü sünden] dy sünd Z werck] erg. vnd dy su ᵉ nde M1 M2 zü sünden] geb zesündent A3 - der súnde L - ze súndt M6 - furbasz zu sunden N3 70 vil] verr B3 M1 M2 - erg. als Ber2 - erg. vnd A3 Z ez] erg. an L - er S 1 Und] fehlt M1 M2 - erg. daz er gotz gnad vnd barmhertzikeit an rufet mit andechtigem gebet N2 haisset] erg. auch N3 71 die selben drew] dise N2 yetzunt] yetzent A3 - ietz B2 Ber1 Ber2 E1 E2 M6 S geschickt] geschehen A1 - geschick A2 genad] erg. wol B1 72 und endlich] fehlt B1 N2 - vnd emsig B3 M1 M2 Z - vnd ernstlich vnd endlich A3 B2 Ber1 Ber2 E2 M6 S - ernstlich vnd andlich E1 ie me und ie mer] ye mer B1 Z - ye mer vnd mer B3 N2 N3 - ymmer vnd ymmer L M1 - ymmer vnd mer M2 - mer vnd ye mer M6 73 er denn] denn der B1 - er B3 - er dz M5 - den M6 wol] fehlt N2 Daz uns daz] das disz uns B3 - nun dz vnsz disz E1 - daz disz M6 73 f. Daz uns … Amen] fehlt B2 geschehe und wider var] alles A3 - wider var B1 Ber2 E1 S - gescheh N2 - geschee vnd auch widerfare Z 74 uns] fehlt N3 Jhesus Maria sün] der allmächtig got A3 - marien sun iesus cristus Ber2 - Ihesus Cristus M5 S - Ihesus Cristus marien sun M6 M7 N1 N3 - Cristus Jhesus Marie der mynnrichen junckfrawen sun N2 Amen] fehlt A3 Ber2 M5 M6 M8 N3 S Z. 60 65 70 474 Editionsanhang <?page no="475"?> und Dingen zu kommen, wenn ich doch von mir selbst aus gar nichts Gutes besitze und auch ohne die Gnade Gottes nichts Gutes tun kann oder vermag? Und deshalb kann ich doch weder fromm noch selig werden, es sei denn, mir helfe Gott und gewähre mir Gnade, so dass ich es tun kann.« Hier sollst du ganz klar merken und gut zuhören verstehen, das dies sehr wahr ist, und dass zudem auch ein Mensch, der ohne alle Gnade dasteht und ist, die erste Gnade mitnichten durch eigenen Verdienst erlangen kann. Er kann sich selbst aber gut darauf vorbereiten und hinsteuern, dass Gott ihm die erste Gnade aus Angemessenheit heraus erteile. Und dies geschieht, wenn die Dinge so stehen, dass der Mensch das Seine tue. Und darum sollst du mit Sicherheit und ohne jeden Zweifel wissen, dass kein Mensch sich vor Gott selbst von Schuld befreien kann. Wenn aber der Mensch das Seine tut, so tut auch Gott zweifelsohne das je Seine. Dass aber ein Mensch das Seine tue, das umschließt und umfasst drei Dinge. Das ist, dass er das Werk der Sünde sowie den Willen zu sündigen sein lasse und meide, und dass er sich um Gutes bemühe, so sehr es ihm möglich ist. Und dies ist und heißt, das Seine getan zu haben. Und darum ist der Mensch nun, wenn er diese drei Dinge tut, prompt auf die erste Gnade hin vorbereitet. Denn wenn der Mensch sich fleißig und eifrig bemüht, so gibt ihm Gott je mehr und je mehr. Und somit mag er dann mit Gottes Hilfe wohl fromm und selig werden, wenn er möchte. Dass uns dies geschehe und widerfahre, dazu helfe uns Jesus, Marias Sohn. Amen. 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 475 <?page no="476"?> Handschriften A1: Augsburg, UB, Cod. III. 1. 2° 5, fol. 234v - 235v. Sprache, Datierung und Provenienz: mittelbairisch, 1413, aus der Bibliothek des Zisterzienserinnenklosters Kirchheim am Ries, durchgängig von der Hand des Johannes Ryethöfer (vgl. fol. 239v; Schneider 1988, S. 156). Inhalt: Enthält die Gemahelschaft Christi mit der andächtigen Seele (fol. 1r - 220r) sowie das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 220r - 232r) in Verbindung mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 232r - 233v), den Sechs Stücken zu einem christlichen Leben (fol. 233v - 234v), Vaterunser-Auslegungen (fol. 235v - 237r), Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 237r - 238v) und den Zehn Staffeln der Demut (fol. 238v - 239v). Katalogbeschreibung: Karin Schneider: Deutsche mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg. Die Signaturengruppen Cod. I.3 und Cod. III.1, Wiesbaden 1988 (Die Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg II,1), S. 156 - 158. A2: Augsburg, UB, Cod. III. 1. 2° 27, fol. 226r - 227r. Sprache, Datierung und Provenienz: nordbairisch, 1. Viertel 15. Jh., durchgängig von der Hand des Henricus König (vgl. fol. 231r; Schneider 1988, S. 192). Aus der Bibliothek des Zisterzienserinnenklosters Kirchheim am Ries; im 16. Jahrhundert im Besitz der Äbtissin Cordula von Seckendorf (Eintrag auf dem Vorderspiegel). Inhalt: Identisch mit A1: Die Handschrift enthält die Gemahelschaft Christi mit der andächtigen Seele (fol. 1r - 212v) ebenso wie das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 212vr - 224r) in Verbindung mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 224r - 225v), den Sechs Stücken zu einem christlichen Leben (fol. 225v - 226r), Vaterunser- Auslegungen (fol. 227v - 228v), Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 228v - 230r) und den Zehn Staffeln der Demut (fol. 230r - 231r). Katalogbeschreibung: Schneider 1988, S. 192 - 194. A3: Augsburg, Staats- und Stadtbibl., 2° Cod 160, fol. 37v - 38v. Sprache, Datierung und Provenienz: schwäbisch, 1447, von der Hand des Petrus Willen de Neuburg (vgl. fol. 104r; Spilling 1984, S. 96). Inhalt: Katechetische Sammelhandschrift, darin der Traktat Von den Staffeln der Geduld (fol. 1r - 13v), das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 13v - 28r, 30r - 31r, 31v - 32r), die Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 28r - 30r), Vaterunser-Auslegungen (fol. 31v, 32r - 33r), die Erläuterung Von der Siebenzahl (fol. 33r - 34v), Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 34v - 36r), die Zehn Staffeln der Demut (fol. 36r - 37v), Heinrich Seuses Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, fol. 38v - 40v), verschiedene Dicta (fol. 41r, 58r, 63v - 75v), das Speculum peccatoris, dt. (fol. 41r - 49v), der Traktat Von menschlicher Hinfälligkeit (fol. 49v - 58r), eine Passionspredigt (fol. 58r - 61v), Auszüge aus dem deutschsprachigen Dialogus rationis et conscientiae des Matthäus von Krakau (fol. 61v - 63v) sowie der Etymachietraktat (fol. 76r - 104r). Katalogbeschreibung: Herrad Spilling: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. 2° Cod 101 - 250, Wiesbaden 1984 (Handschriftenkataloge der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg III), S. 96 - 99. 476 Editionsanhang <?page no="477"?> B1: Berlin, SBB-PKB, mgq 74, fol. 118r - 120r. Sprache, Datierung und Provenienz: bairisch, 1. Hälfte 15. Jh., aus dem Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis in Straßburg (Besitzeinträge und chronistische Nachträge, vgl. Hornung 1956, S. 33 - 37.) Inhalt: Umfangreiche Sammlung verschiedenster geistlicher Traktatschriften und verwandter Texte. Darunter finden sich neben dem Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 97r - 115v) im Verbund mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 115v - 118r) auch ein deutscher Tundalus (fol. 121r - 141v) und eine deutsche Visio Fursei (fol. 142r - 143v). Genauere Angaben bei Hornung 1956, S. 33 - 37. Katalogbeschreibungen: Hermann Degering: Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek II. Die Handschriften in Quartformat, Leipzig 1926 (Mitteilungen aus der Preußischen Staatsbibliothek VIII), S. 10 f. Hans Hornung: Daniel Sudermann als Handschriftensammler. Ein Beitrag zur Straßburger Bibliotheksgeschichte, Diss. Tübingen 1956, S. 33 - 37. B2: Berlin, SBB-PKB, mgq 1131, fol. 15r - 16r. Sprache, Datierung und Provenienz: westschwäbisch, 1470/ 1473, Kartause Güterstein bei Urach, aus der Bibliothek der Laienbrüder, geschrieben von Johannes Schlecht (vgl. fol. 89v, 98v). Später in der Kartause Buxheim (vgl. fol. 1r). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift mit zahlreichen Predigten, unter anderem Texten von Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse und Konrad Bömlin (fol. 9r - 10v, 58r - 88r, 100v - 101v, 138r - 140v, 145v - 149v). Dazu enthält die Handschrift eine Prosalegende zur Gründung des Kartäuserordens (fol. 1r - 3v), die Augsburger Marienklage (fol. 7r - 8v), verschiedene Gebete (fol. 18v - 19v, 21r - 43v) und einige Traktatschriften, darunter der Hiob-Traktat Marquards von Lindau (fol. 102r - 120v). Das Herzkloster steht innerhalb einer gekürzten Zusammenstellung von Texten aus dem Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 12r - 18v). Katalogbeschreibung: Degering 1926, S. 192 f. B3: Berlin, SBB-PKB, mgo 565, fol. 259v - 262r. Sprache, Datierung und Provenienz: bairisch, Mitte 15. Jh., aus der Bibliothek des Augustinerchorherrenstifts Rebdorf bei Eichstätt. Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift mit theologischen Traktaten, darunter eine volkssprachige Übertragung von Johannes von Kastl: Spiritualis philosophia (fol. 28r - 100r), das Buch von geistlicher Armut (fol. 100v - 172v), volkssprachige Exzerpte aus der Imitatio Christi des Thomas von Kempen (fol. 2r - 14v). Das Herzkloster steht zwischen verschiedenen Kurztraktaten zum Thema des klösterlichen Lebens (fol. 240r - 259r) und Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 262r - 266r). Katalogbeschreibungen: Degering 1926, S. 195. Renata Wagner: Ein nücz und schone ler von der aygen erkantnuß. Des Pseudo-Johannes von Kastl Spiritualis philosophia deutsch. Text und Untersuchungen, München 1972 (MTU 39), S. 62 - 64. 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 477 <?page no="478"?> Ber1: Bern, Burgerbibliothek, Cod. 737, fol. 60r - 62r. Sprache, Datierung und Provenienz: alemannisch (alle drei Teile, vgl. Vollmer 1912, S. 49 u. 51), 2. Hälfte 15. Jh. Zumindest der erste Teil der Handschrift war wohl schon im 15. Jh. Teil der Bibliothek der Kartause Buxheim (vgl. Besitzeinträge auf fol. 1: Cartusae in Buxheim und fol. 37v: Item das bu ͦ ch gehört gen buchshain by memmingen). Ob dies auch für die hiermit zusammengebundenen Teile gilt, scheint nicht gesichert. Später befand sich der Kodex in Braunau, Privatbibliothek Eduard Langer, Ms. 404. Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, zusammengebunden aus drei ursprünglich nicht zusammengehörigen Teilen. Der erste Teil enthält eine fragmentarische Historienbibel (fol. 4r - 37v), der zweite Teil (fol. 38r - 83v) vornehmlich das Traktatbündel Von einem christlichen Leben in Verbindung mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 54v - 57v) und dem Herzklosters samt Kommentartraktat, zum dritten Teil (fol. 84r - 172v) siehe die Angaben zur Sigle Ber2 unten. Katalogbeschreibung: Hans Vollmer: Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln, Berlin 1912 (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters I.1), S. 49 - 61. Ber2: Bern, Burgerbibliothek, Cod. 737, fol. 134v - 135v. Sprache, Datierung und Provenienz: Siehe die Angaben zur Sigle Ber1 oben. Inhalt: Der dritte Teil (fol. 84r - 172v) dieser Sammelhandschrift, der unabhängig von den anderen beiden entstanden und erst später mit ihnen zusammengebunden worden sein dürfte, enthält vor allem mystische Predigten, Briefe, Gebete und Kurztraktate sowie eine weitere Abschrift des Traktatbündels Von einem christlichen Leben (fol. 119v - 144r), in dessen Kontext hier auch das Herzkloster und der Kommentartraktat stehen. Katalogbeschreibung: Vollmer 1912, S. 49 - 61. E1: Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 709, S. 175 - 177. Sprache, Datierung und Provenienz: ostalemannisch, 15. Jahrhundert. Genauere Datierungsversuche der Ochsenkopfwasserzeichen im Papier erscheinen leider unsicher. Alte Signaturen zeigen, dass die Handschrift ehemals Teil der Bibliothek der Benediktinerabtei Rheinau war. Inhalt: Enthält den pseudoalbertinischen Traktat Paradisus animae (S. 1 - 116) sowie das Traktatatbündel Von einem christlichen Leben (S. 116 - 230), in dessen Verbund hier auch das Herzkloster mit dem Kommentartraktat steht. Katalogbeschreibung: Odo Lang: Katalog der Handschriften in der Stiftsbibliothek Einsiedeln, Zweiter Teil: Codices 501 - 1318, Basel 2009, S. 275 f. E2: Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 710, fol. 201r - 202r. Sprache, Datierung und Provenienz: hochalemannisch-schwäbisch, nach 1455, Konstanz, geschrieben für das Konstanzer Ratsmitglied Heinrich Ehinger (1438 - 1479) und seine Frau Margaretha von Kappel (ca. 1440 - 1483). Ab 1503 Teil der Bibliothek des Dominikanerinnenklosters St. Peter in Konstanz. 478 Editionsanhang <?page no="479"?> Inhalt: Enthält Heinrich Seuses Exemplar (fol. 22v - 184v) inklusive der Miniaturen, Christus und die minnende Seele (fol. 2r - 21r), die Kreuztragende Minne (fol. 1r - 2r), den Disput zwischen der minnenden Seele und unserem Herren (fol. 21r/ v) sowie Von einem christlichen Leben mitsamt den auch in anderen Handschriften (z. B. E, A1, A2, M4, M5) daran angeschlossenen Kurztraktaten (fol. 185r - 232v) in Verbindung mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 198r - 198v) und dem Herzkloster mit dem Kommentartraktat. Katalogbeschreibung: Lang 2009, S. 276 - 280. L: Lindau, Ehemals Reichsstädtische Bibliothek, Cod. P I 30, fol. 270r - 271r. Sprache, Datierung und Provenienz: schwäbisch, 1416/ 17, Ulm, geschrieben von dem Goldschmied und Ulmer Münzmeister Hans Stockar (geb. 1350, 1404 Pfleger des Münsterbaus; Eintrag auf fol. 16v: claus stockar goltschmid ze ulme). Inhalt: Enthält Ottos von Passau Die vierundzwanzig Alten (fol. 25r - 221v), eine deutsche Apokalypse (fol. 1r - 16v), die Vision auf das Jahr 1401 (fol. 222r - 221v), einen Traktat vom anfangenden, zunehmenden und vollkommenen Leben (fol. 224r - 225r), die Dekalogerklärung Marquards von Lindau (fol. 226r - 251r) sowie das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 252r - 275v). Katalogbeschreibungen: Schmidt 1938, S. 92 - 94. Norbert H. Ott, Ulrike Bodemann u. Gisela Fischer-Heetfeld (Hgg.): Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, begonnen von Hella Frühmorgen-Voss, Bd. 1, München 1991, S. 176 f. M1: München, BSB, Cgm 29, fol. 77r/ v. Sprache, Datierung und Provenienz: bairisch, 1432 - 1448, geschrieben wohl im Augustinerchorherrenstift Indersdorf. Inhalt: Geistliche Betrachtungen und Gebete für Elisabeth von Ebran und Wilhelm III. von Bayern, als Verfasser und Kompilator gilt Johannes von Indersdorf. Daneben finden sich auch der Passionstraktat Heinrichs von St. Gallen (fol. 2r - 31r) sowie der Tochter-Sion- Traktat in der Prosafassung (fol. 31r - 33r). Im Register heißt es zum Herzkloster: Item daz geystlich Closter daz han ich nit gemacht (fol. 1v). Katalogbeschreibungen und Literatur: Petzet 1920, S. 48 - 52. Weiske 1993, S. 117 - 145. M2: München, BSB, Cgm 255, fol. 82v - 83v. Sprache, Datierung und Provenienz: mittelbairisch, 1448, genauere Provenienz unbekannt. Inhalt: Die Handschrift ist eine genaue Abschrift von M1, zum Inhalt siehe daher oben. Katalogbeschreibung: Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 201 - 350, Wiesbaden 1970 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,2), S. 149 - 158. 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 479 <?page no="480"?> M3: München, BSB, Cgm 454, fol. 190v - 193r. Sprache, Datierung und Provenienz: nordbairisch, teils mittelbairisch gefärbt (vgl. Schneider 1973, S. 308), 2. H. 15. Jh., Augustinerchorherrenstift Rebdorf, dort Teil der Bibliothek der Laienbrüder (vgl. den Eintrag auf Iv: Das puchlein gehort in das gemein der leyen brudern zu Rebdorf). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, enthält unter anderem die Vaterunserauslegung Unser aller liebster her Ihesus (fol. 1r - 49v), Exzerpte aus Predigten Johannes Taulers (fol. 52r - 61v), Johannes Niders 24 goldene Harfen (fol. 69r - 100v), den Novizentraktat Davids von Augsburg (fol. 108r - 168v), den Geistlichen Fastnachtskrapfen (fol. 171r/ v), die Legende vom Fegefeuer des heiligen Patricius (fol. 194r - 225r), verschiedene Gebete, vermischte Dicta, Predigten und Exzerpte. Katalogbeschreibung: Schneider 1973, S. 307 - 313. M4: München, BSB, Cgm 509, fol. 364r - 365v. Sprache, Datierung und Provenienz: nordbairisch, 1461, Augustinerchorherrenstift Rebdorf (vgl. Bibliotheksvermerk auf fol. VIv). Inhalt: Die Handschrift enthält die Gemahelschaft Christi mit der andächtigen Seele (fol. 1r - 341v), das Traktatbündel Von einem christlichen Leben in Verbindung mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 360v - 363r), den Sechs Stücken zu einem christlichen Leben (fol. 363r - 364r), Vaterunser-Auslegungen (fol. 366r - 368r), Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 368r - 370r), den Zehn Staffeln der Demut (fol. 370r - 371v) und Heinrich Seuse: Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, fol. 371v - 374r). All diese Stücke sind öfters als Zusammenstellung überliefert, die Reihenfolge und Zusammenstellung impliziert hier aber die Abhängigkeit von A1 und A2, die auch der Textvergleich des Herzklosters belegt. Katalogbeschreibung und Literatur: Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 501 - 690, Wiesbaden 1978 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,4), S. 31 - 34. Weidenhiller 1965, S. 140 f. M5: München, BSB, Cgm 519, fol. 269v - 270v. Sprache, Datierung und Provenienz: ostschwäbisch, 1454, Augsburg, Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra (vgl. den Eintrag auf auf fol. 274r: Das bu ͦ ch ist sant Ulrich und sant Afren zu ͦ Augspurg). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, in Inhalt und Reihenfolge der Stücke weitestgehend identisch mit A1, A2, M4 und M8. Es besteht jedoch keine direkte Abhängigkeit. Die Handschrift überliefert die Gemahelschaft Christi mit der andächtigen Seele (fol. 1r - 255v), das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 255v - 267r) in Verbindung mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 267r - 268v), den Sechs Stücken zu einem christlichen Leben (fol. 268v - 269v), Vaterunser-Auslegungen (fol. 270v - 271v), Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 271v - 273r) und die Zehn Staffeln der Demut (fol. 273r - 274r). Die charakteristische Zusammenstellung legt nahe, dass die Handschrift direkt oder indirekt auf die gleiche Vorlage wie der *X-Zweig zurückgeht. 480 Editionsanhang <?page no="481"?> Katalogbeschreibung und Literatur: Schneider 1978, S. 49 - 51. Weidenhiller 1965, S. 141 f. M6: München, BSB, Cgm 831, fol. 52r - 56r. Sprache, Datierung und Provenienz: schwäbisch, 1429, Biberach/ Ulm, geschrieben von Cu ͦ nrat knuss ze bibrach [ … ] anno 1429, dieser habe es geschenkt agnesen aytingerin u ͦ lrich fa ᵉ rbers zue vlm des Cra ᵉ mers frowen (fol. 123r). Vgl. zu dieser Provenienz auch Schneider 1984, S. 522. Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, die neben dem Herzkloster vornehmlich die Traktate überliefert, die auch sonst öfters an Von einem christlichen Leben (fol. 1r - 42r) anschließen: die Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 42r - 49r), die Sechs Stücke zu einem christlichen Leben (fol. 49r - 52r), Heinrich Seuses Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, fol. 56r - 63r), Vaterunser-Auslegungen (fol. 63r - 68r), die Erläuterung Von der Siebenzahl (fol. 68r - 72r), die Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 72r - 78r), die Zehn Staffeln der Demut (fol. 78r - 82r) und die Staffeln der Geduld (fol. 82r - 123r). Katalogbeschreibung und Literatur: Schneider 1984, S. 522 - 525. Weidenhiller 1965, S. 142 f. M7: München, BSB, Cgm 835, fol. 99r - 104v. Sprache, Datierung und Provenienz: bairisch mit ostschwäbischem Einschlag (vgl. Schneider 1984, S. 538), 2. Hälfte 15. Jh., Augustinerchorherrenstift Rebdorf (nach Schreiber und alter Bibliothekssignatur lokalisiert bei Schneider 1984, S. 538). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift mit Gebeten, Dicta und Traktaten, darunter verschiedene Kommuniongebete (fol. 1r - 12v), Mariengebete (fol. 21v - 33r), Gebete zu Gottvater (fol. 33v - 53v), Bernhardins von Siena Gebet zum Namen Jesu (fol. 54r - 56v), Exzerpte aus Heinrich Seuses Büchlein der ewigen Weisheit (fol. 56v - 74r) und dem Speculum artis bene moriendi (fol. 74r - 78v), Gebete aus dem Ebran-Gebetbuch des Johannes von Indersdorf (fol. 80v - 82v), die Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 84r - 94v), die Sechs Stücke zu einem christlichen Leben (fol. 94v - 99r), die Zehn Staffeln der Demut (fol. 104v - 111v), Gebete zum Leiden Christi, teils von Johannes von Indersdorf (fol. 111v - 127v), diverse Spruchsammlungen (z. B. 128r - 156v), der Novizentraktat Davids von Augsburg (fol. 157r - 228r), Passionspredigten des Hartwig von Erfurt (fol. 229r - 271v, 277r - 320v) und ein hier Albertus Magnus zugeschriebener Kurztraktat Von den Freuden Christi am Kreuz (fol. 321r - 322r). Katalogbeschreibung: Schneider 1984, S. 538 - 545. M8: München, BSB, Cgm 7241, fol. 99r - 104v. Sprache, Datierung und Provenienz: mittelbairisch mit schwäbischen Einflüssen (vgl. Wunderle 2009, S. 1), 1499, Ingolstadt (Datierung und Schreibervermerk auf fol. 319r: volenndt vnnd geschriben [ … ] von mir Johannes Rúff, die zeitt wonnhafft zw Inglstat). Laut den Angaben bei Wunderle 2009 war ein Johannes Ruf aus Wassertrüdingen ab 1496 an 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 481 <?page no="482"?> der Universität Ingolstadt immatrikuliert. Danach war die Handschrift Teil der Bibliothek des Benediktinerinnenklosters Neuburg und kam, vermutlich nach dessen Auflösung im Jahr 1554, in den Besitz des Benediktinerinnenklosters St. Mang in Kühbach (vgl. den Eintrag auf fol. 1r; sowie Wunderle 2009, S. 1). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, in Inhalt und Reihenfolge der Stücke weitestgehend identisch mit A1, A2, M4 und M5. Die Handschrift überliefert die Gemahelschaft Christi mit der andächtigen Seele (fol. 1r - 289v), das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 289v - 306r) in Verbindung mit der Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 306r - 308v), den Sechs Stücken zu einem christlichen Leben (fol. 308v - 309v), Vaterunser-Auslegungen (fol. 270v - 271v), Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 312v - 314r), die Zehn Staffeln der Demut (fol. 314v - 316v), Heinrich Seuses Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, fol. 316v - 318v). Katalogbeschreibung: Elisabeth Wunderle: Katalog der deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften Cgm 5255 ff. (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis Tomus V, pars IX), vorläufige Beschreibung von Cgm 7241, 2009, online unter: http: / / bilder.manuscripta-mediaevalia.de/ hs/ / projekt-BSB-cgm-pdfs/ Cgm%207241.pdf (Abruf 23.04.2023). N1: Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent V, App. 81, 153v - 157r. Sprache, Datierung und Provenienz: nürnbergisch, 3. Viertel 15. Jh., aus der Bibliothek des Dominikanerinnenklosters St. Katharina in Nürnberg, geschrieben wohl im Nürnberger Predigerkloster, Schenkung des Dominikaners Matthias Weinsperger an Schwester Margaretha Vornan (vgl. die Angaben bei Schneider 1965, S. 72). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, enthaltend Heinrich Seuses Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, fol. 3r - 22v); die Tagzeiten der ewigen Weisheit (übertragen aus dem Horologium sapientiae, fol. 23r - 39r), Gebete verschiedener Herkunft und Thematik (fol. 39r - 130v), eine Messauslegung (fol. 130v - 144v), die Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 145r - 150v), die Sechs Stücke zu einem christlichen Leben (fol. 150v - 153v), den Eberhard Mardach zugeschriebenen Brief eines Beichtvaters an sein geistliches Kind (fol. 157r - 175v), einen Lehrtraktat zum richtigen Klosterleben (fol. 175v - 186v) und die Allegorie vom geistlichen Wagen (fol. 193r - 207v). Katalogbeschreibung: Karin Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Beschreibung des Buchschmucks: Heinz Zirnbauer, Wiesbaden 1965 (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg I), S. 72 - 78. N2: Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 43e, fol. 196v - 198r. Sprache, Datierung und Provenienz: nürnbergisch, 1454, aus dem Besitz des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina, Schenkungsvermerk im Vorderspiegel: Das puch geho ᵉ rt in daz closter zu sant Kathrein prediger orden zu Nurmberg hat vns geben junckfraw Barbra Prucklerin. Laut Kolophon geschrieben 1454 von eim pruder prediger orden mit den Initialen C. Ff. hi in der stat zu Nu ᵉ remberg (fol. 236v; sowie die Angaben bei Schneider 1965, S. 87). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, darin u. a. Marquards von Lindau Eucharistietraktat (fol. 1r - 52v), der Paradisus animae, dt. (fol. 53r - 136r), das Traktatbündel Von einem 482 Editionsanhang <?page no="483"?> christlichen Leben (fol. 137r - 159v), vermischte Sprüche und Verse zu verschiedenen Themen (fol. 161r - 167v, fol. 204r - 205r, 208r, 214r, 215v - 219v. 224r - 226v, 233r, 282v - 290r); eine kurze Allegorie vom Menschen als Ritter im Kampf gegen die Sünde (fol. 168r - 169r), ein Beichttraktat (fol. 169v - 183v), die Erläuterung Von der Siebenzahl (fol. 184v - 190r), verschiedene katechetisch Kurztexte (fol. 190r - 194v), die Sechs Stücke zu einem christlichen Leben (fol. 194v - 196r), die Geistliche Geißel (fol. 198v - 204r), die Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 205r - 208r), volkssprachige Exzerpte aus dem Stimulus amoris (fol. 208r - 214r), der Geistliche Fastnachtskrapfen (fol. 214r - 215v), Passionsgebete (fol. 219v - 224r), die Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 227r - 230r), verschiedene Predigten (fol. 230r - 232v, 248r - 256r, 265v - 274r), Kurztraktate Vom Fasten (fol. 233v - 234r) und Von 15 Stücken göttlicher Liebe (gehören sonst meist zur Goldwaage, hier davon getrennt, fol. 234v - 237r), die Zehn Staffeln der Demut (fol. 237r - 239v), eine Lehre für Klosterleute (fol. 239v - 245r), einen Brief Gottes an die minnende Seele (fol. 245r - 247v), eine Messauslegung (fol. 259r - 265v), den Eberhard Mardach zugeschriebenen Brief eines Beichtvaters an sein geistliches Kind (fol. 274r - 282v) sowie eine Bernhard von Clairvaux zugeschriebene Versdichtung zu den Namen Marias in der Gestalt eines aus 50 Marienanrufungen bestehenden Blumenkranzes (fol. 290r - 298v). Katalogbeschreibung: Schneider 1965, S. 86 - 96. N3: Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VII, 42, fol. 29r - 31v. Sprache, Datierung und Provenienz: nürnbergisch, 1. Hälfte 15. Jh., aus der Bibliothek des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina, laut Eintrag auf fol. 177v ursprünglich eine Leihgabe aus dem Nürnberger Predigerkloster (vg. Schneider 1965, S. 347), Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, enthält das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 1r - 19r, 32r/ v), Heinrich Seuses Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, fol. 19r - 24r), die Erläuterung Von der Siebenzahl (fol. 24r/ v), Tagzeiten zum Leiden Christi (fol. 25r - 28v), Exzerpte aus Heinrich Seuses Büchlein der ewigen Weisheit (fol. 33r - 43r, 45r - 65r), eine Anweisung zum Beten (fol. 43v - 44r), eine Kurzfassung von Rulman Merswins Neunfelsenbuch (fol. 66r - 87v), verschiedene Kurztraktate und Exzerpte (fol. 87v - 92v), den auch architekturallegorische Züge tragenden Traktat vom dürren, grünen und goldenen Gebet (fol. 94r - 148v), christliche Lebensregeln (fol. 148v - 156v), Passionsbetrachtungen und Mariengebete (fol. 156v - 172v) sowie den Traktat von den Staffeln der Geduld (fol. 172v - 177r). Katalogbeschreibung: Schneider 1965, S. 247 - 351. S: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 967, S. 120 - 123. Sprache, Datierung und Provenienz: alemannisch, 1430 - 1436, Benediktinerinnenkonvent St. Georgen (St. Wiborada) bei St. Gallen, teils geschrieben durch den Beichtvater des Konvents, Friedrich Kölner (Scherrer 1875, S. 362). Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, darin verschiedene Predigten und Traktate Marquards von Lindau (S. 5 - 13, 51 - 68, 268 - 404), Rulman Merswins Neunfelsenbuch (S. 149 - 260), Predigten Heinrichs von St. Gallen (S. 405 - 457), Predigten Johannes Taulers (fol. S. 458 - 495), das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (s. 76 - 101), die Gold- 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 483 <?page no="484"?> waage der Stadt Jerusalem (S. 102 - 117), Heinrich Seuses Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, S. 123 - 128), Vaterunser-Auslegungen (S. 129), die Erläuterung Von der Siebenzahl (S. 132 - 135), Tagzeiten zum Leiden Christi (S. 135 - 140), deutsche Auszüge aus dem Stimulus amoris (S. 141 - 145, 262 - 263), verschiedene weitere Kurztraktate und Predigten. Katalogbeschreibungen und Literatur: Christiane Krusenbaum-Verheugen: Figuren der Referenz. Untersuchungen zu Überlieferung und Komposition der › Gottesfreundliteratur ‹ in der Straßburger Johanniterkomturei zum › Grünen Wörth ‹ , Tübingen/ Basel 2013 (Bibliotheca Germanica 58), S. 262 - 265. Scherrer 1875, S. 362. Z: Zürich, Zentralbibl., Ms. C 20, fol. 109r - 110v. Sprache, Datierung und Provenienz: mitteldeutscher oder böhmischer Sprachraum (? ), 1. Hälfte 15. Jh. (? ). Die Datierung aufs 14. Jh. bei Mohlberg 1932, S. 21, ist fehlerhaft, siehe dazu Schnell 1981, Sp. 94. Ruh 1953, S. 219, datiert die Handschrift wohl korrekter auf die 1. Hälfte des 15. Jh.s und weist sie dem böhmischen Sprachraum zu. Generell bleiben Datierung und sprachgeographische Lokalisierung dieses Textzeugen jedoch unsicher. Inhalt: Geistliche Sammelhandschrift, darin unter kürzeren Stücken die Hieronymus-Briefe des Johannes von Neumarkt (fol. 1v - 94v), das Traktatbündel Von einem christlichen Leben (fol. 107v - 109r), die Goldwaage der Stadt Jerusalem (fol. 107v - 109r), Heinrich Seuses Von der ewigen Weisheit Gemahelschaft (Exzerpt aus dem Horologium sapientiae, fol. 110r - 112r), die Hoheliedauslegung Meliora sunt ubera tua vino (fol. 119r - 133r, 180r/ v), Auszüge aus dem Speculum peccatoris, dt. (fol. 140r - 149v) und dem Bernhardin von Siena zugeschriebenen Speculum peccatorum, dt. (fol. 140r - 149v), Heinrichs von St. Gallen Passionstraktat (fol. 149v - 198r) sowie die Sechs Stücke zu einem christlichen Leben (fol. 198r - 199r). Katalogbeschreibungen und Literatur: Leo Cunibert Mohlberg: Mittelalterliche Handschriften, Zürich 1932 (Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich I), S. 21 f. Kurt Ruh: Studien über Heinrich von St. Gallen und den Extendit manum-Passionstraktat in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 47 (1953), S. 210 - 230, 241 - 278. Bernhard Schnell: Art. Die Goldwaage der Stadt Jerusalem, in: 2 VL 3 (1981), Sp. 93 f. Bemerkungen zur Edition Angesichts der breiten und recht variantenreichen Überlieferung dieses Textes sowie des Traktatbündels Von einem christlichen Leben, in dessen Verbund er zumeist steht, ergeben sich einige editorische Probleme. Eine erste Schwierigkeit besteht darin, dass manche Varianten im Text bei der Feststellung der Überlieferungsverhältnisse nur gering belastbar sind. So lassen geringfügige Kürzungen grammatikalisch nicht notwendiger Wörter (z. B. bestimmter Artikel in der Aufzählung der Allegoriebestandteile), klare Synonymverwendungen (z. B. menschen/ liute, minne/ lieb) oder mitunter gleiche Auslassungen in den kürzenden Textfassungen nur bedingt Rückschlüsse auf überlieferungsgeschichtliche Abhängigkeiten zu. Eindeutigere Binde- und Trennvarianten legen zumal nahe, dass solche Formen der kleinen Varianz sich in den verschiedenen Zweigen der Überlieferung 484 Editionsanhang <?page no="485"?> mitunter unabhängig ergeben haben dürften. Dies gilt auch für die durch die graphische Ähnlichkeit beider Wörter plausibilisierte Verschreibung von rewikeit zu rainikait in Z. 28, die sich in unterschiedlichen Überlieferungszweigen findet und wohl nicht zwingend eine gemeinsame Vorlage anzeigt. Zweitens erweist sich die Überlieferung grundsätzlich als recht stabil. Allein die in der Handschrift N2 überlieferte Fassung ist als umfängliche Redaktion zu werten, die auch inhaltlich gezielt in den Text eingreift. Die Textzeugen M1 und, direkt davon abhängig, M2 ändern die Rubrik des Textes und nehmen ansonsten einige charakteristische sprachliche Veränderungen vor, die für die Aussagen des Traktats jedoch weitgehend folgenlos sind. In der Handschrift B1 finden sich einige umfänglichere Kürzungen, und in der von M7 abhängigen Handschrift M3 fehlt der letzte Abschnitt des Traktats. Davon abgesehen handelt es sich freilich bei allen hier feststellbaren Textvarianten um die Folgen von kleineren Umformulierungen oder Abschreibefehlern. Dennoch lassen sich einige distinkte Überlieferungszweige unterscheiden: *X-Zweig: Die Handschriften A1, M3, M4, M7 und M8 teilen eine aufschlussreiche Vertauschung der Reihenfolge der allegorischen Klosterbestandteile und weisen auch ansonsten eine ganze Reihe von Bindevarianten auf, die es erlauben, sie einem gemeinsamen Überlieferungsstrang zuzuordnen. M4, M7 und M3, die allesamt aus dem Augustinerchorherrenstift Rebdorf stammen, dürften dabei in dieser Reihenfolge voneinander abhängig sein. Die Leithandschrift A2 ist durch eine Reihe von Bindevarianten ebenfalls diesem Überlieferungszweig zuzuordnen, muss aber auf eine frühe Vorlage zurückgehen, die die Vertauschungen im Allegorieteil noch nicht beinhaltete. *Y-Zweig: Die Handschriften A3, B2, Ber1, Ber2, E1, E2, M6 und S sind durch mehrere kleinere Varianten aneinander gebunden (z. B. Zufügung von vnd ernstlich in Z. 72; Zufügung von ioch in Z. 36 u. a.). Eine gemeinsame längere Auslassung in Z. 46 legt zudem nahe, dass A3, B2, Ber2 und S innerhalb dieses Zweigs enger zusammengehören, während zwei weitere Varianten (Ergänzung von vermag in Z. 58, gemeinsame Lücke in Z. 38 f.) wiederum die Handschriften B2, Ber1, E1 und E2 verbinden. Zu welchem der beiden Unterzweige B2 daher zu rechnen ist, scheint angesichts dieser Lage unsicher - hier könnte entweder eine zufällig übereinstimmende Variante oder ein Fall kontaminierter Überlieferung vorliegen. Die Zwischenrubrik Nu merck wol, die für diese Gruppe von Textzeugen mit Ausnahme der vielfach kürzenden Handschrift M6 charakteristisch ist, findet sich außerdem auch in N1 und in jeweils unterschiedlich erweiterter Form in B1 und N2. Diese Handschriften dürften daher wohl mit der genannten Gruppe eine frühe Vorlage teilen. Auffällig ist dabei, dass N1 trotz ihres jungen Alters im Textbestand sehr nahe bei den ältesten Handschriften A1, A2 und L steht und außer der genannten Rubrik noch keine der charakteristischen Varianten dieses Zweiges aufweist. In B1 und N2 dahingegen finden sich jeweils umfassende Kürzungen, Auslassungsfehler und sogar redigierende Eingriffe in den Text, die sie von den übrigen Textzeugen trennen und eine genauere Zuordnung erschweren. *Z-Zweig: Die Handschrift M2 ist eine direkte Abschrift von M1, dem vielfach behandelten Ebran-Gebetbuch des Johannes von Indersdorf. Auch B3 ist klar diesem Überlieferungszweig zugehörig. Eine einzelne, jedoch charakteristische gemeinsame Variante (emsig statt endlich in Z. 72) legt nahe, dass diese Handschriften zudem eine entferntere Vorlage mit Z teilen. 6 Herzkloster mit Kommentartraktat 485 <?page no="486"?> Fragliche Handschriften: Keinem der genannten drei Zweige können die Handschriften L, N3 und M5 zugeordnet werden. Diese Textzeugen weisen jeweils eigene Trennvarianten auf, die sie mit keiner der übrigen Handschriften teilen. Ein Vergleich mit der Leithandschrift A2 und der wie angemerkt einen allgemein wenig korrumpierten Text bietenden Handschrift N1 zeigt, dass L und auch M5 recht nah am ursprünglichen Text stehen, während N3 sich durch eine Reihe von Kürzungen und Überarbeitungen von diesem Textstand entfernt hat. Insgesamt lassen sich die Textzeugen daher wie folgt in ein Stemma bringen: In Anbetracht dieser Lage ediere ich den Text nach der Leithandschrift A2, die als eine der ältesten erhaltenen Handschriften recht am Anfang eines der ausgeprägtesten Zweige der Überlieferung steht. Ziel der Edition ist, einen ursprungsnahen, jedoch möglichst wenig rekonstruierten Text zu bieten. Da, wo A2 von den übrigen Vertretern des *X-Zweigs offensichtlich fehlerhaft abweicht, emendiere ich daher nach der ungefähr im gleichen Zeitraum und im gleichen Kloster entstandenen Handschrift A1. Sinnverändernde Bindefehler des *X-Zweigs, die gemeinsam durch die *Y- und *Z-Zweige sowie die eigenständige und ebenfalls früh in der Überlieferung stehende Handschrift L ausgewiesen werden, werden hingegen nach L emendiert. Varianten des *X-Zweigs, über deren Ursprungsnähe die Überlieferung keine Schlüsse zulässt, bleiben stehen. 486 Editionsanhang <?page no="488"?> 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie Quomodo debemus construere sive edificare domum sive aulam spiritualem gloriose virginis Mariae Volens gloriose virgini Marie regine celi domum sive aulam construere spiritualem, primo pro fundamenta domus et porta dicat psalmos »Fundamenta eius« (Ps 86) et »Domini est terra« (Ps 23). Deinde construat muros. Pro primo muro dicat psalmum »Nisi dominus edificaverit domum« (Ps 126). Pro secundo psalmus »Dominus reget me« (Ps 22). Pro tertio muro psalmus »Lauda Iherusalem dominum« (Ps 147). Pro quarto muro psalmus »Deus iudicium tuum regi da« (Ps 71). Pro quinto muro psalmus »Celi enarrant« (Ps 18). Pro sexto muro psalmus »Magnus dominus et laudabilis nimis« (Ps 47). Pro septio muro psalmus »Quam dilecta tabernacula« (Ps 83). Pro octavo muro psalmus »Levavi oculos meos« (Ps 120). Quibus muris seu parietibus domus ex psalmis supradictis cum angelicis salutacionibus decoratis tunc ingredi poterit quis et thalamos construere. Qui thalami ex aureis cancellis fieri debent. Ante ingressum domus dicat »Letatus sum« (Ps 121), et ingrediens dicat psalmus »Inclina domine aurem« (Ps 85). Deinde construat vij thalamos secundum festa beate Marie virginis, et hoc septem diebus in septimania. Feria secunda construat thalamum sanctificacionis beate Marie ex psalmis »Deus noster refugium« (Ps 45) et »Domine dominus noster« (Ps 8). Et in quolibet thalamo debent haberi vestes duplices, scilicet solempnes et feriales eiusdem coloris. Nam in die concepcionis et quacumque festum occurrit in secunda feria, tunc beata Maria debet habere vestam preciosam subrufam auro intextam, sed in aliis secundis feriis, qua non est festum, tunc debet habere vestem de simplici bono panno subrufo, que tamen serico et aliis pulchris sit adornata. Et omnes vestes singulis annis debent renovari et nove fieri appropinquante solempnitate eius. Et hoc modo in qualibet solempnitate et in quolibet thalamo fieri debent. Ex qua materia autem vestes iste spirituales fieri debent, inferius dicetur. 17 sanctificacionis] von späterer Hand zu concepcionis geändert. 5 10 15 20 25 488 Editionsanhang <?page no="489"?> Wie wir das geistliche Haus oder den Palast der ruhmreichen Jungfrau Maria errichten oder erbauen sollen Will man der ruhmreichen Jungfrau Maria, der Königin des Himmels, ein geistliches Haus oder einen Palast errichten, so spreche man erstens für die Fundamente des Hauses und für die Tür die Psalmen »Sein Fundament« (Ps 86) und »Dem Herrn gehört die Erde« (Ps 23). 1 Danach errichte man die Mauern. Für die erste Mauer spreche man den Psalm »Wenn nicht der Herr das Haus gebaut hat« (Ps 126). Für die zweite den Psalm »Der Herr wird mich leiten« (Ps 22). Für die dritte Mauer den Psalm »Preise, Jerusalem, den Herrn« (Ps 147). Für die vierte Mauer den Psalm »Gott, gib deine Entscheidung dem König« (Ps 71). Für die fünfte Mauer den Psalm »Die Himmel erzählen« (Ps 18). Für die sechste Mauer den Psalm »Groß ist der Herr und sehr preisenswert« (Ps 47). Für die siebte Mauer den Psalm »Wie geliebt sind deine Zelte« (Ps 83). Für die achte Mauer den Psalm »Ich habe meine Augen [zu den Bergen] erhoben« (Ps 120). In diese mit Englischen Grüßen verzierten Mauern oder Wände des Hauses aus den vorgenannten Psalmen wird man dann eintreten und die Gemächer errichten können. Diese Gemächer sollen aus goldenen Trennwänden 2 gemacht werden. Vor dem Betreten des Hauses spreche man »Ich freue mich« (Ps 121) und eintretend spreche man den Psalm »Neige, Herr, dein Ohr« (Ps 85). Danach errichte man sieben Gemächer gemäß der Feste der seligen Jungfrau Maria, und dies an den sieben Tagen in der Woche. Am Montag errichte man das Gemach der Heiligung der seligen Maria aus den Psalmen »Gott ist unsere Zuflucht« (Ps 45) und »Herr, unser Herr« (Ps 8). 3 Und in jedem Gemach sollen zweifache Gewänder vorhanden sein, nämlich festliche und alltägliche in der gleichen Farbe. Denn am Tag Mariä Empfängnis und wo auch immer ein Fest auf einen Montag fällt, soll die selige Maria dann ein kostbares, rötliches und mit Gold durchwirktes Gewand haben, an den anderen Montagen jedoch, an denen kein Fest ist, soll sie dann ein Gewand aus einfachem, gutem, rötlichem Stoff haben, das dennoch mit Seide und anderen schönen Dingen verziert ist. Und alle Kleider sollen jährlich erneuert und neu gefertigt werden, wenn sich ihr Hochfest nähert. Und auf diese Weise soll es an jedem Hochfest und in jedem Gemach getan werden. Aus welchem Material jedoch diese geistlichen Kleider gemacht werden sollen, wird weiter unten gesagt. 1 Wo er nicht in die erste Person Plural fällt, benutzt Dominikus vornehmlich die dritte Person Plural im hier als Iussiv zu verstehenden Konjunktiv Präsens. Das Subjekt ist dabei zumeist im Prädikat enthalten und wird nicht gesondert angeführt; wo ein entsprechendes Satzglied jedoch nötig ist, verwendet Dominikus unbestimmte Pronomen wie quis ( › jemand ‹ ). Auf diese Weise spricht der Text von einem › offenen Subjekt ‹ , mit dem sich der Leser beim Vollzug der Andachtsübung identifizieren soll. Da ein entsprechender Satzbau ohne eigenes Subjekt im Deutschen nicht möglich ist, steht eine Übertragung vor der Wahl, textnah z. B. mit einem exemplarisch gemeinten › er ‹ zu übersetzen oder aber etwas freier das unpersönliche › man ‹ zu wählen. Im Interesse der flüssigen Lesbarkeit habe ich mich für zweitere Option entschieden. 2 Eigentlich: › Gitter ‹ oder › Schranken ‹ . Hier sind wohl die Zimmerwände bezeichnet. 3 Das hier referierte Marienfest ist das Hochfest Mariä Empfängnis (8. Dezember). 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 489 <?page no="490"?> Feria tercia construat secundum thalamum nativitatis beate Marie ex cantico »Exultavit cor meum« (I Sm 2) et antiffona »Nativitas tua dei genetrix« (Cantus ID 007199). Vestesque eius in isto festo sint candide, quas semper induet, in hoc thalamo sinentur in scrinio pulchro. Feria quarta edificet tercium thalamum presentacionis beate Marie virginis de psalmo »Eructavit« (Ps 44) et ymno »Ave Maris stella« (AH 1, Nr. 4). Vestesque istius festi sint flave, quas semper induet, et in hoc thalamo sinentur per totum annum et tunc fiant nove. Feria quinta construat thalamum annunciacionis beate Marie ex ewangelio »Missus est angelus Gabriel« (Lc 1,26). Vestesque istius festi sint purpuree et auro intexte. Et per totum annum quintis feriis et vestes feriales debent esse de bono rubeo panno. Feria sexta construatur thalamus visitacionis beate Marie ex ewangelio »Exsurgens Maria« (Lc 1,39) et ex eius cantico »Magnificat anima mea« (Lc 1,46). Vestesque illius festi sint grisee. Et per totum annum feriatis diebus feriis sextis propter passionem filii sui sint nigre. Sabbato construatur thalamus purificacionis beate Marie ex duobus ymnis »Misterium ecclesie« (AH 51, Nr. 121) et »Veni redemptor gentium« (AH 50, Nr. 8) ex toto. Vestesque in purificacione a nativitate Christi sint virides, quas beata Maria portat sabbatum agens per totum annum. Et sinentur in hoc thalamo cum ceteris clenodiis, sicut et in ceteris thalamis fieri debet. Dominica die construatur thalamus assumpcionis beate Marie ex psalmo »Memento Domine David« (Ps 131). Vestesque eius in festo isto sint auree, quas, cum dominica dies fuerit, eciam super annum portare possit. Cortine eciam circa parietes et thalamos varie fiant, scilicet bissine, quaedam purpuree, quedam iacintinae, quedam coccinee, quedam polimite, quedam serice et auro intexte, secundum quod placuerit. Et iste, que circa thalamos fiunt congrue, ex illa antiffona fiunt: »Sancta Maria, succurre miseris, iuva pusillanimes« et cetera (Hesbert 4703), sed in fine variatur, sic videlicet quod circa primum thalamum dicatur »quicumque agunt tuam sanctificacionem«, circa secundum »tuam sanctam nativitatem«, et cetera de aliis. Et secundum hoc erunt eciam colores cortinarum differentes. Alie cortine possunt fieri ex antiffonis, circa primum parietem »Descendi in hortum« (Hesbert 2155), secundum »O florens rosa« (Cantus ID 203438), tercium »Ave regina celorum« (Hesbert 1542), quartum »Alma redemptoris« (Hesbert 1356), quintum »Anima mea liquefacta« (Hesbert 1418), sextum »Nigra sum« (Hesbert 3878), septimum »Tota pulchra es« (Hesbert 5161). Et cortine cum Ave Maria ornentur quasi titulis aureis, in quibus appendende sunt ad parietes et ad thalamos aureos et cancellatos. 54 sanctificacionem] von späterer Hand zu concepcionem geändert 30 35 40 45 50 55 60 490 Editionsanhang <?page no="491"?> Am Dienstag errichte man das zweite Gemach der Geburt der seligen Maria aus dem Canticum »Mein Herz hat gejubelt« (I Sm 2) und der Antiphon »Deine Geburt, Gottes Gebärerin« (Cantus ID 007199). 4 Und ihre Kleider an diesem Festtag, die sie stets tragen wird, sollen weiß sein, [und] in diesem Gemach werden sie in eine schöne Truhe gelegt werden. Am Mittwoch erbaue man das dritte Gemach der Darstellung der seligen Jungfrau Maria aus dem Psalm »[Mein Herz] hat [ein gutes Wort] ausgestoßen« (Ps 44) und dem Hymnus »Sei gegrüßt, Stern des Meeres« (AH 1, Nr. 4). 5 Und die Kleider dieses Festes, die sie stets tragen wird, seien gelb, und sie werden das ganze Jahr hindurch in diesem Gemach verwahrt werden und anschließend neu angefertigt. Am Donnerstag errichte man das Gemach der Verkündigung der seligen Maria aus der Evangelienstelle »Der Engel Gabriel wurde gesandt« (Lc 1,26). 6 Und die Kleider dieses Festes seien purpurfarben und mit Gold durchwirkt. Und das ganze Jahr hindurch sollen an Donnerstagen auch die alltäglichen Kleider aus gutem rotem Stoff sein. Am Freitag soll das Gemach der Heimsuchung der seligen Maria errichtet werden aus der Evangelienstelle »Maria [aber] stand auf« (Lc 1,39) und ihrem Canticum »Meine Seele rühmt« (Lc 1,46). 7 Und die Kleider dieses Festes seien grau. Und das ganze Jahr hindurch seien sie an gewöhnlichen Freitagen nach der Passion ihres Sohnes schwarz. 8 Am Samstag soll das Gemach der Reinigung der seligen Maria errichtet werden aus den zwei Hymnen »Das Geheimnis der Kirche« (AH 51, Nr. 121) und »Komm, du Erlöser der Völker« (AH 50, Nr. 8) zur Gänze. 9 Und die Kleider zur Reinigung von der Geburt Christi, die die selige Maria das ganze Jahr hindurch beim Begehen des Samstags trägt, 10 seien grün. Und sie werden in diesem Gemach gemeinsam mit weiteren Kostbarkeiten verwahrt werden, genau wie es auch in den übrigen Gemächern gemacht werden soll. Am Sonntag soll das Gemach der Himmelfahrt der seligen Maria errichtet werden aus dem Psalm »Denke, Herr, an David« (Ps 131). Und ihre Kleider an diesem Festtag, die sie, wenn Sonntag war, 11 auch über das Jahr hinweg tragen kann, seien golden. Es sollen auch unterschiedliche Behänge für die Wände und Gemächer gemacht werden, nämlich solche aus Byssus, solche aus Purpur, solche aus hyazinthfarbenem Tuch, solche aus Scharlach, solche aus buntgewebtem Stoff, solche aus Seide und mit Gold durchwirkt, ganz wie es gefalle. 12 Und diejenigen [Behänge], die passend für die Gemächer 4 Fest Mariä Geburt (8. September). 5 Gemeint ist hier der Gedenktag Unserer Lieben Frau in Jerusalem (21. November). 6 Hochfest Verkündigung des Herrn (25. März). 7 Fest Mariä Heimsuchung (2. Juli). 8 Die Farbe des imaginierten Mariengewandes wechselt also nach dem Osterfest. Die Wendung feriatis diebus feriis sextis (wörtlich: »an Wochentagen an Freitagen«) wird hier der Flüssigkeit halber als »an gewöhnlichen Freitagen« übersetzt. 9 Hochfest Darstellung des Herrn (2. Februar). 10 Das agens sabbatum spielt auf den jüdischen Schabbat an. 11 Das fuerit im Konjunktiv Perfekt drückt wie übersetzt Vorzeitigkeit aus, was hier nicht vollständig sinnig scheint. Da Dominikus mit der lateinischen Zeitenfolge eher frei umgeht, könnte man auch spekulieren, dass Gleichzeitigkeit gemeint sein könnte. 12 Dominikus benutzt eine Reihe lateinischer Bezeichnungen für kostbare exotische Textilien, die ihm aus der Vulgatalektüre geläufig gewesen sein dürften. Inwiefern er und sein Lesepublikum sich darunter das Gleiche vorstellten wie ein von der modernen Bibelphilologie informiertes modernes Publikum, muss offenbleiben. 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 491 <?page no="492"?> Item debemus beate Marie in quolibet thalamo preparare omnia necessaria utensilia, videlicet lectem pulchrum, sedem et sedilia, lavacrum, mensam et omnia commoda humana et regali honore digna. Sed hoc semel in singulis thalamis appropinquante solempnitate sancta non erit opus annis singulis nova facere, sed tantummodo vestes sunt renovande. Rosarium autem ei cotidie debet fieri novum et corona de lapidibus preciosis ad minus in ebdomada semel. Omnia ista utensilia eciam ex materiis spiritualibus devotis fieri debent, et si ex solis salutacionibus angelicis videlicet Ave Maria fierent, satis esset. Vestes in solempnitatibus beate Marie, de quibus supra fit mencio, sicut et omnes res, que in thalamis eius sunt necessarie, quia spirituales sunt, eciam fieri debent de materiis spiritualibus, videlicet de ymnis suis et psalmo »Eructavit« (Ps 44), ubi fit mencio de vestimentis, et antiffonis et responsoriis congruis. Et debent consui et ornari cum angelica salutacione, pro quolibet nodulo devote repetita: ita quod loco auri et argenti et lapidum preciosorum in monilibus, in colnerio cum salutacione eadem et cum aliis devotis materiis ad placitum eius, qui facit vestes istas. Et potest vestes subductas et duplicatas pellibus preciosis illi facere, licet Maria sancta tales vestes non habebat in mundo, tamen digna erat omni pulchritudine et ornatu. Et ideo non debemus hic cogitare de eius humili vestitu, sed quibus bene digna erat, et sicut nos eam voluissemus vestire, si fuissemus tunc. 77 licet] erg. von Schreiberhand gestrichenes anima mea 65 70 75 492 Editionsanhang <?page no="493"?> gemacht werden, 13 entstehen aus dieser Antiphon: »Heilige Maria, komme den Bedürftigen zu Hilfe, hilf den Kleinmütigen« und so weiter (Hesbert 4703). Aber am Schluss wird sie abgeändert, so dass nämlich für das erste Gemach gesprochen wird: »alle, die deine Heiligung begehen«, 14 für das zweite: »deine heilige Geburt ” , und so weiter für die anderen [Gemächer]. 15 Und demgemäß werden auch die Farben der Behänge unterschiedlich sein. Die übrigen Behänge können aus Antiphonen gemacht werden, für die erste Wand »Ich bin hinab in den [Nuss]garten gegangen« (Hesbert 2155), für die zweite »Oh, blühende Rose« (Cantus ID 203438), für die dritte »Sei gegrüßt, Königin der Himmel« (Hesbert 1542), für die vierte »Erhabene [Mutter] des Erlösers« (Hesbert 1356), für die fünfte »Meine Seele [ist] zerflossen« (Hesbert 1418), für die sechste »Ich bin schwarz« (Hesbert 3878), für die siebte »Ganz schön bist du« (Hesbert 5161). 16 Und die Behänge sollen mit Ave Maria verziert werden wie mit goldenen Inschriften, in denen sie [d. h. die Gebetsworte] anzubringen sind an den Mauern und an den goldenen Gemächern und an den Zimmerwänden. 17 Zudem sollen wir der seligen Maria in jedem Gemach alle notwendigen Einrichtungsgegenstände bereiten, nämlich ein schönes Bett, einen Stuhl und Bänke, ein Bad, einen Tisch und alles, was dem Menschen angenehm und der königlichen Hoheit würdig ist. Aber dies wird, [wenn es] einmal in den einzelnen Gemächern [vorhanden ist], kein Werk sein, das jährlich neu gemacht wird, wenn das heilige Hochfest näher rückt, sondern allein die Kleider sind zu erneuern. Der Rosenkranz jedoch soll ihr täglich neu gefertigt werden, und die Krone aus kostbaren Steinen mindestens einmal in der Woche. 18 All diese Einrichtungsgegenstände sollen auch aus andächtigen geistlichen Stoffen gemacht werden, und wenn sie allein aus Englischen Grüßen beziehungsweise Ave Maria entstünden, so genügte das schon. Weil sie geistlich sind, müssen die Kleider an den Hochfesten der seligen Maria, die oben erwähnt sind, genau wie alle anderen Dinge, die in ihren Gemächern notwendig sind, auch aus geistlichen Materialien gemacht werden, d. h. aus ihren Hymnen und dem Psalm »[Mein Herz] hat [ein gutes Wort] ausgestoßen« (Ps 44), wo Kleider erwähnt werden, und aus dazu passenden Antiphonen und Responsorien. Und sie sollen mit dem 13 Die lateinische Präposition circa ( › um, herum ‹ ) drückt hier aus, dass die Wände der Gemächer ringsum mit Behängen bedeckt werden sollen. Um eine flüssige neuhochdeutsche Übersetzung zu gewährleisten, übersetze ich sie hier und in den Folgesätzen mit dem deutschen › für ‹ , wodurch diese räumlichhandwerkliche Nuance freilich verloren geht. 14 In der Handschrift ist sanctificacionem von zeitgenössischer Hand zu concepcionem geändert. Hier stehen zeitgenössische theologische Debatten über die Unbeflecktheit Marias von der Erbsünde im Hintergrund, in denen die Frage, ob man die conceptio, also die Empfängnis Marias, oder ihre sanctificatio, also ihre von der Erbsünde befreiende Heiligung im Mutterleib feiere, große Bedeutung besaß. Siehe dazu Ulrich Horst: Die Diskussion um die Immaculata Conceptio im Dominikanerorden. Ein Beitrag zur Geschichte der theologischen Methode, Paderborn u. a. 1987 (Münchener Universitäts- Schriften. Katholisch-Theologische Fakultät. NF 34), S. 5 - 18. 15 Die Antiphon Hesbert 4703 endet eigentlich mit den Worten quicumque celebrant tuam admirabilem maternitatem (»alle, die deine bewundernswürdige Mutterschaft feiern«). Dominikus fordert dazu auf, den Text dieser Antiphon so abzuwandeln, dass er jeweils zu dem Fest passt, dem das imaginativ zu schmückende Zimmer im Marienhaus gewidmet ist. 16 Offenbar ist hier, vielleicht aufgrund eines Schreiberfehlers, die achte Wand ausgelassen. 17 Zu diesem Motiv der gebeteten goldenen Zierinschrift vgl. den Artikel Buschbeck 2022b. 18 Dominikus bezieht sich hier auf andere von ihm verfasste handwerkliche Gebetsübungen, nämlich auf den Leben-Jesu-Rosenkranz und die marianische Corona gemmaria. 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 493 <?page no="494"?> Debemus eciam beate marie assignare aliquas virgines et matronas, que ei in thalamis servant, eas videlicet ad quas nos ipsi habemus devocionem, videlicet vel sanctam Catherinam et sanctam Barbaram, vel sanctam Dorotheam et sanctam Margaretam, vel sanctam Agnem et sanctam Ursulam, quia nobis non licet secreta tantae virginis actitare, cum nos viri sumus et peccatores. Loqui tamen ei confidenter possumus. Notandum eciam quod circa septem thalamos prescriptos ymaginari possunt eciam vij staciones vij statuum bonorum Christi fidelium in ecclesia militante. Ita ut iuxta thalamum sanctificacionis beate Marie ymaginetur stacio unorum devotorum secularium, regum, militum, principum, civium, rusticorum et pastorum fidelium. Iuxta thalamum nativitatis eius ymaginetur stacio clericorum devotorum secularium, ut pape, cardinalium, episcoporum, canonicorum, plebanorum, sacerdotum et ceterorum litteratorum. Iuxta thalamum presentacionis eius ymaginetur stacio omnium religiosorum unorum. Iuxta thalamum annunciacionis ymaginetur stacio sanctimonalium et reclusarum. Iuxta thalamum visitacionis eius ymaginetur stacio virginum ecclesiasticorum. Iuxta thalamum purificacionis eius ymaginetur stacio mulierum legitimarum vel vipuarum, nobilium, civilium et villanarum. Iuxta thalamum assumpcionis eius ymaginetur stacio publicanorum et peccatorum tamen iam penitentium et humilium ac dicentium »Deus propicius esto mihi peccatori« singuli (Lc 18,13). Item retro ostium aule prefate potest ymaginari stacio non paratorum, humiliatorum et tribulatorum orantium psalmum »Ad te levavi oculos meos« (Ps 122) vel »Domine ne in furore« (Ps 37). 80 85 90 95 494 Editionsanhang <?page no="495"?> Englischen Gruß zusammengenäht und geschmückt werden, für jedes Knötchen andächtig wiederholt: 19 so anstelle von Gold und Silber und kostbaren Steinen auf dem Halsschmuck [und] auf dem Kragen mit diesem Gruß und mit anderen andächtigen Materialien nach der Vorliebe desjenigen, der diese Kleider macht. Und man kann jener [d. i. Maria] mit kostbaren Pelzen gefütterte und gedoppelte Kleider machen, denn obwohl die heilige Maria in der Welt derartige Kleider nicht hatte, so war sie doch aller Schönheit und Zierde würdig. Und daher müssen wir hier nicht an ihre bescheidene Kleidung denken, sondern an jene, der sie wohl würdig war, und mit der wir sie zu kleiden gewünscht hätten, wären wir damals da gewesen. Wir sollen der seligen Maria auch einige Jungfrauen und Damen zur Seite stellen, 20 die ihr in den Gemächern dienen, nämlich jene, für die wir selbst Verehrung haben, d. h. beispielsweise die heilige Katharina und die heilige Barbara, oder die heilige Dorothea und die heilige Margaretha, oder die heilige Agnes und die heilige Ursula, 21 weil es uns nicht ansteht, uns um die Geheimnisse einer solchen Jungfrau zu kümmern, 22 da wir Männer und Sünder sind. Trotzdem dürfen wir vertrauensvoll mit ihr sprechen. Es ist auch zu bemerken, dass man sich für die sieben oben beschriebenen Gemächer auch die sieben Stände der sieben Ränge der guten Christgläubigen in der streitenden Kirche vorstellen kann. Dazu stelle man sich bei dem ersten Gemach der Heiligung der seligen Maria den Stand sämtlicher frommer weltlicher Leute vor, der frommen Könige, Ritter, Fürsten, Bürger, Bauern und Hirten. Bei dem Gemach ihrer Geburt stelle man sich den Stand der frommen Weltkleriker vor, zum Beispiel des Papstes, der Kardinäle, Bischöfe, Kanoniker, Leutpriester, Priester und übrigen Gebildeten. Bei dem Gemach ihrer Darstellung stelle man sich den Stand aller vereinigten Religiosen vor. Bei dem Gemach der Verkündigung stelle man sich den Stand der Sanktimonialen und Reklusen vor. Bei dem Gemach ihrer Heimsuchung stelle man sich den Stand der kirchlichen Jungfrauen vor. Bei dem Gemach ihrer Reinigung stelle man sich den Stand der adligen, bürgerlichen und bäuerlichen Ehefrauen und Witwen vor. Bei dem Gemach ihrer Aufnahme in den Himmel stelle man sich den Stand der öffentlichen Sünder und Missetäter vor, die jedoch schon büßen und demütig sind und sprechen, ein jeder für sich: »Gott, sei mir Sünder gnädig! « (Lc 18,13). Dazu kann man sich draußen vor der Tür des besagten Palastes den Stand der Unbereiten vorstellen, der Entehrten und Gequälten, die den Psalm beten »Zu dir erhebe ich meine Augen« (Ps 122) oder »Herr, [klage mich] nicht [an] in deiner Wut« (Ps 37). 19 Das Wort nodulus ( › Knötchen ‹ ) bezieht sich hier eventuell auf den einzelnen Nadelstich beim Sticken oder Nähen. 20 Das lateinische matrona, das Dominikus hier verwendet, bezeichnet grundsätzlich die verheiratete Frau. Da eine Übersetzung mit › Ehefrauen ‹ in diesem Kontext jedoch etwas missverständlich erschiene, übertrage ich es weitgefasster als › Damen ‹ . 21 Dies sind allesamt im Spätmittelalter überregional verehrte Heilige. Allein die heilige Ursula, deren Kultzentrum in Köln lag, könnte als kleiner Hinweis auf das rheinische Wirkungsgebiet Dominikus ’ von Preußen gelesen werden. 22 Das Wort secreta kann sich hier auch auf den nicht-öffentlichen Wohnbereich Marias beziehen, den die männlichen Betenden im Gegensatz zu den als Kammerdienerinnen engagierten weiblichen Heiligen zwar erbauen, aber nicht ständig betreten dürfen. 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 495 <?page no="496"?> Secundum possunt eciam circa prefatos vij thalamos ymaginari vij particule de passione domini secundum vij horas. Ita ut circa primum thalamum ymaginetur dominus Ihesus captus. Circa secundum flagellatus. Circa tercium spinis coronatus. Circa quartum crucifixus. Circa quintum de cruce depositus. Circa sextum sepultus. Et circa septem ymaginetur resurrectio Christi. Notandum eciam est quod figura domus sive aule beate Marie suprascripta devotis religiosis ad multa utilis est. Primo quia per eius inhabitacionem cito obliviscantur mundi et omnium, que in mundo sunt, et non occupantur leviter factis aliorum et temptacionibus, sicut facerent ociosi. Secundum, quod cicius pervenire poterunt ad mentis talem serenitatem, quod obliti eciam ymaginibus ipsius domus ad vera spiritualia cor elevant et deum, qui spiritus est in spiritu et veritate, sicut Christus docet, adorant. Tercio, quod in ipsius domus quatuor partibus et omnibus in ea signatis concordiam sacre tocius scripture semper reperiunt, ita quod omne, quod legitur vel cantitur, locum ibi poterit invenire. Quia in scriptura sancta vel de celo agitur, vel de inferno, vel de paradiso, vel de purgatorio, vel de mundo, vel de diversis hominis gradibus, de oriente, de occidente, aquilone vel austrino, de dei trinitate, de Christi incarnacione, de beata Maria, de sanctis omnibus, de presenti sancta ecclesia, vel futura, preterita. De hiis per totum annum mencio fit in scripturis, et omnia ista partim tanguntur in descripcione huius domus. Unde et attencior quilibet esse poterit et distracciones melius vitare, et hec quarta est racio. Quinta utilitas est, quod homo cum tota sancta ecclesia, cuius typum domus hec gerit, psallens membrum Cristi et corporis eius et eiusdem ecclesie se fore sentit, quia magnam confidenciam parit illa iugis associacio fidelium in laudibus divinis. Sexta utilitas est, quod homo cicius exauditur in omnibus, que querit et petit cum tota sancta ecclesia, quam si solus accederet ad deum, quia, ut scriptum est, »impossibile est multorum preces non exaudiri«, unde beatus Ambrosius dicit. Si tantum tuum peccatum est, quod fletibus tuis purgare non poteris, fleat pro te mater ecclesia, que pro singulis suis filiis quasi pro unicis ut pia mater intervenit. 117 preterita] das Wort ist stark abbreviiert und könnte auch als prima gelesen werden. 100 105 110 115 120 125 496 Editionsanhang <?page no="497"?> Zweitens kann man sich für die besagten sieben Gemächer auch die sieben Teile der Passion des Herrn gemäß der sieben Tagzeiten vorstellen. 23 Dazu stelle man sich für das erste Gemach den Herrn Jesus gefangengenommen vor. Für das zweite gegeißelt. Für das dritte mit Dornen gekrönt. Für das vierte gekreuzigt. Für das fünfte vom Kreuz abgenommen. Für das sechste begraben. Und für das siebte stelle man sich die Auferstehung Christi vor. Es ist auch anzumerken, dass die oben beschriebene Figur des Hauses oder Palasts der seligen Maria für andächtige Religiose in vielerlei Hinsicht nützlich ist. Erstens, weil sie durch ihr Bewohnen schnell die Welt und alle Dinge, die auf der Welt sind, vergessen und sich nicht leicht mit den Werken anderer und den Versuchungen beschäftigen, so wie es die Müßiggänger täten. Zweitens, dass sie schneller zu einer so heiteren Ruhe des Herzens gelangen werden können, so dass auch die, die vergessen haben, 24 durch die Bilder dieses Hauses das Herz zu wahrhaft geistlichen Dingen aufrichten und Gott ehren, der da der Geist im Geiste ist und in der Wahrheit, wie Christus sie lehrt. Drittens, dass sie in den vier Teilen dieses Hauses und allem in ihm Bezeichneten stets eine Zusammenstellung der gesamten Heiligen Schrift entdecken, so dass alles, was gelesen oder gesungen wird, da einen Platz wird finden können. Denn in der Heiligen Schrift ist z. B. vom Himmel die Rede oder von der Hölle oder dem Paradies oder dem Fegefeuer oder der Welt oder den verschiedenen Stufen des Menschen, vom Osten, vom Westen, Norden oder Süden, von der Trinität Gottes, von der Inkarnation Christi, von der seligen Maria, von allen Heiligen, von der heiligen Kirche in der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Diese Dinge werden über das ganze Jahr hinweg in den Schriften erwähnt, und in Teilen werden sie alle in der Beschreibung dieses Hauses berührt. 25 Deswegen wird man auch aufmerksamer sein können und Ablenkungen besser vermeiden, und dies ist der vierte Grund. Der fünfte Nutzen ist, dass der Mensch, der gemeinsam mit der gesamten heiligen Kirche, deren Gestalt dieses Haus trägt, 26 die Psalmen singt, empfindet, dass er ein Glied Christi und seines Körpers und derselben Kirche werde, weil diese beständige Vereinigung der Gläubigen im Lob des Heiligen große Zuversicht erzeugt. Der sechste Nutzen ist, dass der Mensch schneller in allen Dingen erhört wird, die er gemeinsam mit der gesamten heiligen Kirche erfragt und erbittet, als wenn er allein an Gott heranträte, weil, wie geschrieben steht, »es unmöglich ist, dass die Bitte vieler nicht 23 Dominikus bezieht sich hier auf die weitverbreitete mittelalterliche Gebetstradition des dem Passionsweg Christi folgenden Stundengebets, das u. a. im Stundenlied Patris sapientia oder in den verschiedenen Horae crucis seinen Ausdruck fand. 24 Die Partizipkonstruktion quod obliti eciam bereitet Übersetzungsschwierigkeiten, die ich durch einen Relativsatz zu lösen versuche. Wörtlich wären die obliti die › Vergessenen ‹ , was hier allerdings weniger auf einen Zustand des Vergessen-Sein als vielmehr auf einen der (Selbst-)vergessenheit referieren dürfte. 25 Dominikus nimmt hier Bezug auf die mittelalterliche Mnemotechnik des Erinnerungsgebäudes, die im geistlichen Bereich verbreitet war. Siehe dazu z. B. Carruthers 1990, S. 71 - 91. 26 Der hier verwendete Terminus typus, der eine typologische Beziehung zwischen Kirche und gebetetem Haus impliziert, lässt sich durch das deutsche › Gestalt ‹ nicht in vollem Umfang übersetzen. 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 497 <?page no="498"?> Septima utilitas est, quod forcior efficitur contra demonum temptaciones. Ut dicit beatus Bernardus, quod bonum et securum est in congregacione habitare, ubi tot sunt auxiliarii, quot sunt socii, sicut Iosue, qui vallatus auxilio pugnatorum processit ad pugnandum contra hostes civitatis Hay (Ios 8). Octava utilitas est, quia utilior est et fructuosior in sancta ecclesia in secreto sic semper laborans in persona ecclesie, quam si in civitate publice predicaret. Unde legitur in Horologio sapiencie, quod angelus domini ostenderit cuidam, in quodam libello scriptum sit: fons et origo omnium malorum sunt inutiles discursus predicantium. Item fons et origo omnium bonorum est monachum iugiter in sua cella remanere. Quod eciam notari potest in hoc, quod temptatori tam maxime displicuit, quod beatus Anthonius cepit velle solus in in heremo habitare. Et eum ac ceteros monachos eciam inter nos, qui se abstinent ab exteriori conversacione, plus solet impugnare quam habitantes inter alios socios homines, quia temptator se magis sentit enervari et debilitari ex devocione solitarorum quam aliorum. Non est dubium quam virtus sancte ecclesie maior est iam in hiis, qui fideliter deo in secreto inherentes serviunt, quam in hiis, qui foris occupantur. Et roboratur ac conservatur ab eis sicut ossa a medullis suis et sicut capita a cerebro in se latente. Qui enim foris laborant, circa certas aliquas personas occupantur, videlicet cum predicant C vel M homilias, de quorum tamen vix unus et sepe nullus convertitur, et ipse predicator se ipsum pluries negligit huiusmodi occupacionibus. Qui vero in secreto opere cum sancta ecclesia et in eius persona fideliter laboraret, omnibus Christi fidelibus prodesse possit, pro ut legitur in Libello de ix rupibus, et in Libro doctrine laici et in Margareta reclusa. Et se ipsum non talis negligit sed optime promovet, multo plus faciens quam si eciam in secreto pro se ipso tantum oraret. Quid plura ipse per omnia facit et opere conplet, quod illi alii in foris predicant et heu parvum faciunt. Hos non reprobat beatus Gregorius in Pastoralibus et alibi, ubi hortatur fideles plus ad predicandum quam ad contemplandum. Quia, ut puto, hos contemplaciones notat, qui sibi ipsis vacant, non ut isti, qui pro tota sancta ecclesia laborant interius. Eciam eos idem reprobat, qui tedium in laboribus sanctis foris habent et ocium diligunt. De quibus in Moralia dicit et allegat illud Trenorum: »Viderunt eam hostes et deriserunt sabbata eius« (Lam 1,7), quia tales nec foris nec interius laborare volunt. Et sunt sicut ille servus nequam, qui talentum ligavit in sudario et abscondit (Lc 19,20 - 26). Presentes autem viri devoti, videlicet habitantes in domo ista, non vacant ocio, nec pro se solliciti tantummodo sunt, sed se ipsos imprimis Christo ad crucem totos offerunt, ut deinde pro sancta ecclesia liberius secum laborare valeant, et contra adversancia pugnare secum, secundum quod ait in Psalmis: »Quis consurget michi adversus malignantes aut quis stabit mecum? « (Ps 93,16). Quilibit autem hec agens plus debet confidere in aliis eciam laborantibus quam in suis meritis et in laboribus, et confidere, quod multi boni fideles sint intra sanctam ecclesiam, qui multo plus et devocius talia agunt quam ipse. Et debet confidere et non dubitare, quod ipse omnium illorum meritorum eciam particeps est, sicut ipse, que agere nititur bona, cum omnibus partitur. 136 fons] ffons 144 medullis] medulis. 130 135 140 145 150 155 160 165 498 Editionsanhang <?page no="499"?> erhört werde«, weshalb es der selige Ambrosius sagt. 27 Wenn deine Sünde so groß ist, dass du mit deinen Tränen nicht wirst sühnen können, so möge die Mutter Kirche für dich weinen, die wie eine fromme Mutter für jeden einzelnen ihrer Söhne wie für den einzigen eintritt. Der siebte Nutzen ist, dass er stärker wird gegen die Versuchungen der Dämonen. Wie der selige Bernhard sagt, ist es gut und sicher, in der Gemeinschaft zu wohnen, wo so viele Helfer sind, wie es Gefährten gibt, so wie bei Josua, der umgeben von der Hilfe einer Streitmacht vorrückte, um gegen die Feinde aus der Stadt Ai zu kämpfen (Ios 8). Achtens ist es ein Nutzen, da derjenige, der sich so stets im Geheimen 28 für die Kirche 29 anstrengt, in der heiligen Kirche nützlicher und fruchtbarer ist, als wenn er in der Stadt öffentlich predigte. 30 Daher ist im Horologium Sapientiae zu lesen, dass der Engel des Herrn jemandem zeigte, in welchem Büchlein geschrieben sei: Die Quelle und der Ursprung alles Schlechten, das ist das unnütze Gerede der Prediger. Die Quelle und der Ursprung alles Guten jedoch ist, dass der Mönch beständig in seiner Zelle verharrt. 31 Dies kann auch daran bemerkt werden, dass es dem Versucher aufs derart Schärfste verhasst war, dass der selige Antonius den Entschluss fasste, allein in der Wüste wohnen zu wollen. Und ihn und weitere Mönche auch unter uns, die sich äußerlichen Umgangs enthalten, pflegt er stärker anzugreifen als diejenigen, die unter anderen Mitmenschen wohnen, weil sich der Versucher von der Frömmigkeit der Einsiedler stärker geschwächt und entkräftet fühlt als von jener der anderen. Es gibt keinen Zweifel daran, wie sehr die Tugend der heiligen Kirche bereits größer ist in jenen, die Gott treu im Geheimen anhängend dienen, als in jenen, die sich öffentlich betätigen. Und sie wird von ihnen bewahrt und bestärkt wie die Knochen von ihrem Mark und die Häupter von dem in ihnen ruhenden Gehirn. Denn die, die öffentlich wirken, bemühen sich um bestimmte andere Personen, zum Beispiel tragen sie hundert oder tausend Predigten vor, durch die doch kaum einer und meistens gar keiner bekehrt wird, und der Prediger vernachlässigt sich vielfach selbst durch derlei Bemühungen. Wer jedoch wahrhaft in geheimem Werk mit der heiligen Kirche und für sie treu sich bemüht, der vermag allen Christgläubigen zu nützen, wie es zu 27 Das Zitat ist in der geistlichen Literatur des Mittelalters weitverbreitet und wird u. a. Augustinus, Hieronymus und Ambrosius zugeschrieben. Hauptquelle des Dictums ist jedoch scheinbar die Glossa ordinaria zu Rm 15,30 (vgl. Glossa ordinaria, in Patrologia Latina 114 [1852], Sp. 9 - 750, hier Sp. 517). Wie auch im Falle des mutmaßlichen Bernhardzitates im Folgeabsatz, das ich nicht identifizieren konnte, bedient sich Dominikus hier vermutlich aus einer der vielen mittelalterlichen Sammlungen von Dicta theologischer Autoritäten. 28 Die Wendung in secreta (»im Geheimen«) lässt sich wohl im übertragenen Sinne als › für sich alleine ‹ verstehen und bezieht sich auf die private Frömmigkeitshandlung. 29 Die Formel in persona ecclesiae (»betreffs/ in Bezug auf die Kirche«) wird im Sinne einer verständlichen Übersetzung durchgängig als »für die Kirche« übersetzt. 30 Die gesamte Passage lässt sich als Seitenhieb gegen den Predigerorden und als Idealisierung der kartäusischen Lebensform lesen. Dass Dominikus gerade hier Autoren aus dem Umfeld des Dominikanerordens als Gewährsleute nennt, verschärft die Kritik noch. 31 Dominikus referiert hier auf die Arsenius-Vision aus Kapitel II,3 des Horologium sapientiae, wo es heißt: Fons et origo omnium bonorum homini spirituali est in cella sua iugiter commorari, jedoch fons et origo omnium malorum sunt discursus inutiles evangelizantium (Heinrich Seuse: Horologium Sapientiae, S. 546). 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 499 <?page no="500"?> Et hec nona est utilitas non parva. Talis enim vere est pauper spiritum (Mt 5,3), quia non solum temporalia sua ad communitatem tribuit, sed eciam spiritualia bona, que agit. Idcirco sicut temporalium necessitates sibi retribuuntur pro victu et amictu, eo quod propria iam non habet et ita et spiritualia sibi beneficia ex communitate sancte ecclesie sibi condividuntur, licet forte ipse non multum sciat vel possit laborare, quia sufficit ad hoc bona voluntas in homine sic resignato. Et hec est decima utilitas, que pervenit ei, qui ita cum tota sancta ecclesia orat et psallat vel in persona illius sancte ecclesie. Quia si talis infirmaretur vel deficeret viribus corporis seu in sensibus, tunc sancta ecclesia eque sibi condividit omnia bona, qui in ipsa fiunt, et particeps aliorum beneficiorum efficitur, eo quod, et ipse quoniam laborare potuit, cum omnibus fidelibus tam sanis quam infirmis libenter divisit, et omnia bona, que agere potuit in sinum sancte matris ecclesie, cotidie obtulit. Et ideo retribuitur ei eciam, cum indiguerit, habundanter. 170 175 180 500 Editionsanhang <?page no="501"?> lesen ist im Neunfelsenbuch, im Liber doctrina laici und bei der Rekluse Margaretha. 32 Und er vernachlässigt sich selbst nicht so sehr, sondern kommt bestens voran, viel mehr bewerkstelligend als wenn er auch im Geheimen für sich selbst so viel betete. Kurz gesagt schafft und vollbringt er durch [seine] Mühe in jeder Hinsicht, was jene anderen in der Öffentlichkeit predigen und leider schlecht tun. Solche [Religiosen] tadelt der selige Gregor in der Regula Pastoralis und anderswo nicht, wo er die Gläubigen mehr zur Predigt als zur Kontemplation anhält. Denn er meint, so glaube ich, jene Kontemplationen, denen sie sich um ihrer selbst willen widmen, nicht aber jene, die sich innerlich für die gesamte heilige Kirche anstrengen. Diejenigen allerdings tadelt er, die einen Widerwillen gegen öffentliche heilige Arbeiten haben und den Müßiggang lieben. Von denen spricht er in den Moralia und führt, weil solche [Menschen] weder öffentlich noch innerlich arbeiten wollen, die folgende Stelle aus den Klageliedern an: »Seine [d. h. Jerusalems] Feinde haben es gesehen und seinen Sabbat verlacht« (Lam 1,7). 33 Und diese sind wie jener nutzlose Knecht, der ein Silbertalent in ein Schweißtuch wickelte und es versteckte (Lc 19,20 - 26). Die gegenwärtigen andächtigen Männer jedoch, d. h. die Bewohner dieses Hauses, widmen sich weder dem Müßiggang, noch sind sie lediglich um sich selbst besorgt, sondern sie bringen sich selbst in erster Linie gänzlich Christus am Kreuz dar, um somit mit sich für die heilige Kirche wirken und mit sich gegen das Widersachende streiten zu können, genau wie es in den Psalmen heißt: »Wer wird sich für mich erheben gegen diejenigen, die böse handeln, oder wer wird mit mir bestehen? « (Ps 93,16). Wer aber dies tut, muss mehr auf die anderen vertrauen, die sich auch anstrengen, als auf seine eigenen Verdienste und Anstrengen, und darauf vertrauen, dass viele gute Gläubige in der heiligen Kirche seien, die derlei weit mehr und andächtiger betreiben als er selbst. Und er muss darauf vertrauen und nicht daran zweifeln, dass er selbst auch ein Teilhaber aller dieser Verdienste ist, genau wie er selbst auch mit allen teilt, was an guten Dingen zu machen er sich anstrengt. Und dies ist der neunte und keineswegs geringe Nutzen. Derart beschaffen ist nämlich ein wahrhaft Armer im Geiste (vgl. Mt 5,3), weil er nicht bloß seine irdischen Besitztümer an die Gemeinschaft verteilt, sondern auch die geistlichen Güter, die er schafft. Genau wie ihm deshalb die Notwendigkeiten des Irdischen für Nahrung und Kleidung erstattet werden, er trotzdem aber weiterhin kein Eigentum hat, so werden ihm auch seine geistlichen Wohltaten aus der Gemeinschaft der heiligen Kirche heraus zugeteilt, 34 und dies gerade auch dann, wenn er selbst nicht viel weiß oder arbeiten kann, da in einem derart gelassenen Menschen hierfür der gute Wille genügt. 35 Und dies ist der zehnte Nutzen, der jenem zuteilwird, der so gemeinsam mit der gesamten heiligen Kirche oder für die heilige Kirche betet und die Psalmen vorträgt. Denn wenn so jemand krank würde oder es ihm an körperlichen Kräften oder Sinnen mangelte, dann teilt die heilige Kirche ihm gerecht alle guten Dinge zu, die in ihr hervorgebracht 32 Verwiesen wird hier auf das Neunfelsenbuch Rulman Merswins und die lateinische Übersetzung des Meisterbuchs. Vermutlich meint Margareta reclusa die Mystikerin Margareta Ebner, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass Dominikus sich hier auf eine Namensvetterin (z. B. Margaretha von Ungarn) bezieht. 33 Dominikus diskutiert hier Gregor der Große: Moralia in Iob, lib. V, cap. 31. 34 Das doppelte sibi im lateinischen Satz ist hier wohl überflüssig. Eventuell liegt eine Dittographie vor. 35 Das lateinische resignatus erscheint in diesem Kontext vermutlich als Entsprechung des volkssprachigen gelazzen. 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 501 <?page no="502"?> Undecima utilitas est, quod talis pro omnibus et cum omnibus in corde sibi sociatis filiis sancte ecclesie deo serviens satisfacit omnibus, pro quibus tenetur orare vel laborare, plus et salubrius, quam si multum secum illis in spem occuparet. Quia quoniam orat cum tota sancta ecclesia pro ipsa sancta ecclesia, tunc orat pro omnibus vivis et defunctis salvandis. Inter quos tunc eciam sunt hii, pro quibus tenetur, videlicet parentes seu benefactores et debitores. Si tamen aliquando vult spiritualiter pro illis orare vel celebrare, bene potest, sed magis credat aliquid illis boni fieri, si non solus ipse sed cum assumpta ad se sancta ecclesia oraverit, et eos generalis sancte ecclesie beneficii particeps fecerit. Tunc enim eis omnes misse, quas ipsi et alii legunt, illis poterit subvenire. Quod utique fructuosius est et ipsis, pro quibus desiderat, utilius, quam quod communi bono neglecto privatim vellet se cum illis occupare. Quia spirituale opus quanto communius tanto divinus et, et commune bonum semper preponendum est operi privato. Dominus autem Ihesus, distributor meritorum, dividit singulis, prout expedire sibi videtur fideliter. Qui nequaquam negligit talem servum suum fidelem vel eos, pro quibus desiderat, quos imprimis secum sibi obtulit et credidit, sed dat eis amplius, quam ille per se facere pro illis posset. Quia tamen nichil illis boni dare vel facere posset nisi per Christum, eciam si semper pro se et illis esset sollicitus neglecto operi communi, quod salubrium est. Duodecima utilitas est, quod talis ecclesie unitus Christi servus maiorem semper graciam a deo percipit. Quia cum ipse pie, quod habet, cum ceteris dividit, dominus eciam largius sibi graciam infundit, quia scriptum est: »Date, et dabitur vobis« (Lc 6,38); »Qui seminat in benediccionibus, de benediccionibus et metet« (II Cor 9,6). Tredecima utilitas est, quod sancta ecclesia, in cuius persona tunc orat et psallit, multa petit et impetrat sibi inter alios bona, que ipse per se rogare non ausus esset, secundum quod in collecta quedam dicitur, »ut adicias, quod oracio non presumit«. Quamvis enim multa et diversa sunt, qui in laudibus divinis occurrunt, omnia tamen sancte ecclesie conveniunt per synodichem, quia in sancta ecclesia sunt nobiles et ignobiles, sani et infirmi, pauperes et divites, »iuvenes et virgines, senes cum iunioribus« (Ps 148,12), magni et parvuli, leti et tristes, vivi et defuncti, iusti et peccatores. Et hii omnes, in quantum non sunt in peccatis mortalibus, tunc sunt filii sancte ecclesie et quasi diversa membra in uno corpore, cuius caput est Christus. Sicut ergo in corpore os comedit, non ut se solum saciet et confortet sed totum corpus, et oculus non solum sibi videt, sed toti corpori, et pedes non solum se portant, sed totum corpus portant, et manus operantur eciam pro necessitate tocius corporis, ita et in ecclesia sancta quasi multa membra sumus, ut dicit apostolus (I 185 190 195 200 205 210 502 Editionsanhang <?page no="503"?> werden, und er wird zu einem Teilhaber aller Wohltaten gemacht, weil er ja auch gerne das, was er selbst zu erarbeiten vermochte, mit allen Gläubigen, den Gesunden ebenso wie den Kranken, geteilt hat und alle guten Dinge, die er im Schoß der heiligen Mutter Kirche schaffen konnte, täglich dargebracht hat. Und deshalb wird ihm auch im Überfluss erstattet, was auch immer er entbehren sollte. Der elfte Nutzen ist, dass so jemand, der für alle und gemeinsam mit allen ihm im Herzen verbundenen Söhnen der heiligen Kirche Gott dient, mehr und heilsamer Buße tut für alle, für die er zu beten oder sich zu bemühen verpflichtet ist, als wenn er sich vielfach für sich [alleine] hoffnungsvoll für sie einsetzte. Denn da er ja mit der gesamten heiligen Kirche für dieselbige heilige Kirche betet, betet er dann auch für alle zu erlösenden Lebenden und Toten. Unter diesen sind dann auch diejenigen, denen er verpflichtet ist, d. h. die Eltern oder Wohltäter oder die, denen er etwas schuldet. Wenn er jedoch manchmal geistlich für sie beten oder Messe lesen möchte, so kann er das wohl tun, aber er soll darauf vertrauen, dass ihnen mehr Gutes getan wird, wenn er nicht allein für sich, sondern gemeinsam mit der um ihn versammelten heiligen Kirche betete, und sie der Wohltaten der heiligen Kirche allgemein teilhaftig machte. Dann nämlich werden ihnen alle Messen helfen können, die sie selbst oder andere lesen. Dies ist gewiss fruchtbarer und nützlicher für die, für die er [Hilfe] wünscht, als wenn er sich unter Vernachlässigung des gemeinschaftlichen Guten gesondert für sie einsetzen wollen würde. Denn je gemeinschaftlicher ein geistliches Werk ist, umso heiliger ist es, und das gemeinschaftliche Gute ist dem abgesonderten Werk stets vorzuziehen. Der Herr Jesus jedoch, der Verteiler aller Verdienste, teilt den Einzelnen aus, ganz so wie es ihm richtig erscheint, dies treu zu besorgen. 36 Und dieser [d. i. Christus] vernachlässigt keinesfalls einen solch treuen Diener 37 oder die, für die jener begehrt und die jener ihm mit sich besonders anempfiehlt und anvertraut, sondern gibt ihnen reichlicher, als jener es von sich aus für sie zu tun vermochte. Denn jener [d. i. der Diener] vermochte ihnen doch nichts Gutes zu geben oder zu tun, es sei denn durch Christus, auch wenn er stets um sie besorgt wäre unter Vernachlässigung des gemeinschaftlichen Werks, das heilsamer ist. Der zwölfte Nutzen ist, dass ein solcher mit der Kirche vereinter Diener Christi stets größere Gnade von Gott empfängt. Denn wenn er fromm das, was er hat, mit den anderen teilt, so spendet ihm der Herr auch großzügiger Gnade, denn es steht geschrieben: »Gebt, und euch wird gegeben werden« (Lc 6,38); »Wer mit Segnungen sät, wird auch mit Segnungen ernten« (II Cor 9,6). Der dreizehnte Nutzen ist, dass die heilige Kirche, in deren Namen er dann betet und die Psalmen vorträgt, ihm nebst anderen guten Dingen erbittet und erwirbt, was er selbst für sich zu erbitten nicht wagemutig [genug] wäre, genau wie es in einer bestimmten Kollekte heißt, »so dass er gebe, was das Gebet nicht [zu erbitten] wagte«. 38 Wenn auch diejenigen, die sich in den heiligen Lobpreisungen zeigen, noch so viele und verschieden sind, kommen sie doch alle durch die Versammlung in der heiligen Kirche zusammen, denn in 36 Dieser Satz, der als gnadentheologischer Vorbehalt zu lesen ist, lässt sich bloß schwer flüssig und textgenau übersetzen. 37 Das Possessivpronomen suum lässt sich, da eine Formulierung wie »solch einen treuen seinen Diener« im Deutschen unmöglich ist, nicht recht in den Satz integrieren und wird deshalb weggelassen. Dass hier ein Diener Christi gemeint ist, geht auch so aus dem Kontext hervor. 38 Dominikus zitiert hier die Kollekte für den 11. Sonntag nach Pfingsten. 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 503 <?page no="504"?> Cor 12,12 - 27), que tamen membra non eundem actum habent, sed unum quodque membrum non solum sibi servit sed toti corpori. Sic ipsa sancta ecclesia omnia, quae occurrunt in divinis scripturis, suscipit et dividit singulis ac apponit unicuique, quod illi congruit. Debet igitur sic psallens sibi ex humilitate attribuere specialius humilia non tamen exclusis aliis eciam indigentibus, ut est illud »Domine averte faciem tuam a peccatis meis« (Ps 50,11; Hesbert 1548). Aliis vero iustis et bonis id: »Custodi animam meam, quoniam sanctus sum« (Ps 85,2) vel illud: »Custodivit anima mea testimonia tua et dilexit ea vehementer« (Ps 118,167) et cetera. Et in hiis et similibus non se excludere debet, licet principaliter sibi talia non est ausus attribuere. Sic que omnia accipienda sunt et singulis sibi conveniencia attribuenda, que tamen omnia ad salutem et consolacionem tocius sancte ecclesie proveniunt, dum membra eius sana amplius ex bonis occurentibus fide, spe et caritate corroborantur, et infirma eius membra spiritualibus eciam medicinis refoventur. Quia »que unum membrum patitur, alia omnia membra sibi conpaciuntur. Et que unum membrum gratulatur, omnia alia congaudent ei ” , ut dicit apostolus (1 Cor 26). Plures sunt adhuc alie virtutes. 215 220 225 504 Editionsanhang <?page no="505"?> der heiligen Kirchen sind Adlige und einfache Leute, Gesunde und Kranke, Arme und Reiche, »junge Männer und junge Frauen, Alte mit Jüngeren« (Ps 148,12), Große und Geringe, Glückliche und Traurige, Lebende und Tote, Gerechte und Sünder. Und all diese, insofern sie nicht in Todsünden stehen, sind dann Söhne der heiligen Kirche und wie die Glieder eines Körpers, dessen Haupt Christus ist. Genauso nun, wie bei einem Körper der Mund nicht allein isst, um allein sich selbst, sondern um den ganzen Körper zu sättigen und zu stärken, und das Auge nicht allein für sich sieht, sondern für den ganzen Körper, und die Füße nicht nur sich tragen, sondern den ganzen Körper tragen, und die Hände auch für das Bedürfnis des ganzen Körpers arbeiten, so sind wir auch in der heiligen Kirche wie viele Körperglieder, wie der Apostel sagt (vgl. I Cor 12,12 - 27), wobei die Glieder freilich nicht die gleiche Aufgabe haben, jedes Glied aber nicht nur sich selbst sondern dem ganzen Körper dient. So übernimmt diese heilige Kirche alles, was in der Heiligen Schrift begegnet, unterteilt es in einzelne Punkte und trägt einem jeden auf, was zu ihm passt. Also soll, wer so aus Demut psalmodiert, sich, ohne dabei allerdings andere ebenfalls notwendige [Texte] auszulassen, insbesondere demütige [Texte] auferlegen, so wie dieser hier einer ist: »Herr, wende dein Gesicht von meinen Sünden ab« (Ps 50,11; Hesbert 1548). Für andere, wirklich Gerechte und Gute [passt] dieser: »Behüte meine Seele, denn ich bin unbescholten« (Ps 85,2) oder dieser: »Meine Seele bewahrt deine Zeugnisse, und ich liebe sie leidenschaftlich« (Ps 118,167) und so weiter. Und bei solchen und ähnlichen [Texten] darf er sich nicht ausschließen, auch wenn er es im Grunde nicht wagt, sie auf sich selbst zu beziehen. So sind all diese [Texte] anzunehmen und einzeln passend auf sich selbst zu beziehen, die doch alle zum Heil und zum Trost der ganzen heiligen Kirche geschehen, insofern ihre gesunden Glieder durch gute Begebenheiten noch mehr in Glaube, Hoffnung und Liebe bestärkt und ihre kranken Glieder auch mit geistlichen Heilmitteln erquickt werden. Denn »wenn ein einziges Glied etwas erleidet, erleiden das alle Glieder gemeinsam. Oder wenn ein einziges Glied sich rühmt, freuen sich alle Glieder gemeinsam« (I Cor 26), wie der Apostel spricht. Vielfältig sind weiterhin die zusätzlichen guten Eigenschaften. 39 39 Gemeint ist wohl, dass die geschilderte Gebetspraxis noch weitere gute Wirkungen habe, die hier nicht aufgelistet sind. 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie 505 <?page no="506"?> Handschrift Köln, Hist. Archiv, Ms Gbf 129, fol. 12v - 16r Vgl. die Angaben oben, S. 436. Bemerkungen zur Edition Die Constructio ist unikal überliefert in Köln, Hist. Archiv, Ms Gbf 129, fol. 12v - 16r (K1). Mein Text folgt unter Anwendung der einleitend ausgeführten Richtlinien dieser Handschrift. Dabei habe ich, da zum Verständnis des lateinischen Textes eine Kenntnis des enormen Repertoires der dort referierten liturgischen und biblischen Textpassagen notwendig ist, alle entsprechenden Zitate auch im Editionstext durch Anführungszeichen markiert. Dabei gebe ich in Klammern entweder die entsprechende Bibelstelle nach der Zählung der Vulgata an oder identifiziere liturgische Texte nach den Analecta Hymnica, Hesberts Corpus antiphonalium officii oder, sollte der entsprechende Text dort nicht abgedruckt sein, nach dem Cantus Index. Verweise auf zeitgenössische Autoren oder sonstige Quellen werden dahingegen im Übersetzungstext per Fußnote identifiziert und erläutert. 506 Editionsanhang <?page no="508"?> 8 Geistliches Weihnachtshaus Dit is dat gestlicke hueseken unses leven heren heren jesu cristi, dat men sal lesen des saterdages vor der advent. To love und to eren der hylgen drevoldycheyt und der jufferen marien, so wolde wy gerne eyn huseken maken, dar wy de juffer maria in untfengen, als se er leve kynt geberen sal. Myt mannygerhande syrheyt unde reschop dar to behort, als ener könyngyne des hemels und der erden wal betemet. To dem ersten wyl wy vör uns nemen de ler unses hylgen vaders benedicti, dar he secht: Wat wy gudes begynen, dat sölle wy begeren myt stedem gebedde, dattet van dem heren fullenbracht möete werden. To dem ersten so wylle wy de stedde reynygen, dat eyn ytlyck neme ene dissiplina vor syne versumenysse und sprecke iij ave marien up synen kneen to eren der purheyt eres herten, de behotheyt eres mundes und der fruchtberheyt eres levens und wercke. Und bydden er, dat se unse herte wyl purgeren und renygen van allen quaden gedachten, und unsen munt bewaren van allen schëdelycken worden, und unse wercke wyl schycken na dem wyllen godes. Dat fundament des huses sal swygen syn. De wyse man secht: In swygen und rusten sal juwe starckheyt gefunden werden. Dar umme sal eyn yder pynen, to swygen so vele he mach, sunderlynge der ersten tokomende sundach van der advent. Dat hus wylle wy up rychten van xij columnen to der ere godes, wante marien geborte ys upgegaen van xij konynges geslechte. Dar to wylle wy xij gulden psalters lesen van magnificat, vorsyrt up ytlyck versch ene ave maria. De muren up beden syden sollen wesen xij psalteren van misereren. De iij vor unse olders und iij vor de waldäders, der wy ere almyssen gebruken. De iij vor alle levendygen und doden de susterschep offte bröderschep myt uns hebben, und alle de gene, dar wy schuldych syn vor to bydden. De verden iij vor alle elendyge zelen. Dyt huseken moit to samen gevöget wesen myt gödtlycker leffte und understuttet myt bröderlycker leffte. Dat de ene des anderen kranckheyt drege, so solle wy verfullen de ee cristi, als sunte pauwel secht: Hebbe ick gyne leffte, yck en byn nycht. Der vorenste gevel van dem huse, dat sal wesen eyn psalter van misericordias domini. Eyn yder conventes juffer alle hylge dage to lesen enen psalm tussen dyt und myddewynter, up ittyck versch ene ave maria to eren der waldaden godes. De echterste gevel sal wesen van xxxiij psalm Deus deus meus respice to eren der passien unses heren. Und de balken des huses soll gehorsamheyt wesen, underlynge malckander deinen, als unse hylge vader benedictus vermanet in der regulen, syn gebot vor des aversten to setten und underlynge gehorsam to syn. 5 10 15 20 25 30 508 Editionsanhang <?page no="509"?> Dies ist das geistliche Haus unseres lieben erhabenen Herren Jesus Christus, das man am Samstag vor der Adventszeit lesen soll. Zum Lob und zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit und der Jungfrau Maria wollen wir gerne ein Häuschen errichten, in dem wir die Jungfrau Maria empfangen, wenn sie ihr liebes Kind gebären soll. Mit vielerlei Zierrat und Ausstattung, die dazu gehört, wie es einer Königin des Himmels und der Erde wohl ansteht. Zunächst wollen wir uns die Lehre unserer heiligen Vaters Benedikt vor Augen rufen, wenn er sagt: Was wir Gutes beginnen, das sollen wir mit beharrlichem Gebet begehren, so dass es vom Herrn vollbracht werden müsse. 1 Zum ersten wollen wir den Bauplatz reinigen, dass ein jeder eine Disziplin nehme für seine Versäumnisse und auf seinen Knien drei Ave Maria spreche zu Ehren der Reinheit ihres Herzen, der Zurückhaltung ihres Mundes und der Fruchtbarkeit ihres Lebens und ihrer Werke. Und er bitte darum, dass sie unsere Herzen läutere und reinige von allen üblen Gedanken, und unseren Mund behüte vor allen schädlichen Worten, und unsere Werke einrichten möge nach dem Willen Gottes. Das Fundament des Hauses soll das Schweigen sein. Der weise Mann sagt: Im Schweigen und Ruhen soll eure Stärke gefunden werden. Darum soll ein jeder sich bemühen, so viel zu schweigen als er nur mag, besonders am ersten kommenden Adventssonntag. 2 Das Haus wollen wir zur Ehre Gottes aufrichten aus zwölf Säulen, denn Marias Geburt ist aufgegangen aus zwölf königlichen Geschlechtern. Dazu wollen wir zwölf goldene Psalter aus Magnificat lesen, verziert mit einem Ave Maria zu jedem Vers. Die Mauern auf beiden Seiten sollen zwölf Psalter aus Miserere sein. Drei davon für unsere Eltern, drei für die Wohltäter, von deren Almosen wir zehren. Drei für alle Lebenden und Toten, die Schwesternschaft oder Bruderschaft mit uns haben, und für all diejenigen, denen wir Fürbitte schuldig sind. Die vierten drei für alle armen Seelen. Dieses Häuschen soll zusammengefügt werden mit göttlicher Liebe und gestützt von brüderlicher Liebe. Dadurch, dass der eine die Schwäche des anderen abstütze, sollen wir das Gebot Christi erfüllen, wie der heilige Paulus spricht: Wenn ich die Liebe nicht habe, so bin ich nichts (I Cor 13,2). Der Vordergiebel an diesem Haus soll ein Psalter aus Misericordias Domini sein (Ps 89,2). Eine jede Konventsjungfrau soll von jetzt an bis Mittwinter an jedem heiligen Tag einen Psalm lesen, zu jedem Vers ein Ave Maria zu Ehren der Wohltaten Gottes. Der hintere Giebel soll zu Ehren der Passion Christi aus 33 Psalmen Deus, Deus meus, respice (Ps 21) sein. Und der Dachbalken des Hauses soll der Gehorsam sein, gegenseitig einander zu 1 Benediktsregel, S. 7 f. [Prolog, 4]. 2 Dieses tokomende sundach bezieht sich auf die Lesesituation des Textes: Die Gebetsübung wird am Samstag vor Beginn der Adventszeit gelesen, der erste Adventssonntag ist also der Folgetag, für den das Schweigegebot gilt. 8 Geistliches Weihnachtshaus 509 <?page no="510"?> De flor eder esteryck sal wesen eyn otmoedych belien unser kranckheyt in der bycht und capitel und vor unsen aversten, eyn yder na syner gelegenheyt, und dat wy uns underlynge beschuldygen und ock otmödelycken nemen, dat men uns vermanet. Dyt huseken moit bynnen versyrt syn myt mannygerleye syrheit. Dar to wylle wy enen yderen ordineren ene ure silencium to holden, flytelycken to betrachten dat leven, lyden und waldaden unses leven heren, eyn yder na syner gelegenheyt. Hyr to wylle wy ordineren de genen, de dat byblyven des herten so nycht en hebben, dat wy andechtlycken lesen den rosenkrans, dar doch dat leven und lyden und waldaden vele gealligeret werden. Und dar to ene seven psalmen vor unse sunde, in de er der seven blotstortyngen unses heren unde der seven worde he sprack an dem cruce, de vij bedröffnysse unser leven frouwen, de se hadde under dem cruce, de vij apenbarynge, de unse leve here dede na syner verrysynge, do he synen discipulen gaff de vij gaven des hylgen geystes. Up den ersten psalm solle wy betrachten de blotstörtynge, do he besneden wort. Ave benigne. Dat erste wort, dat he sprack an dem cruce. Pater noster. De dröffnyssen marien, dat se er leue kynt so hoge sach hangen. Ave maria. De erste apenbarynge marien magdalenen, do gaff he de gave des anxtes. Veni sancte spiritus. O god, wes genedych my sunderschen! Dyt weder umme to halen up itlicken psalm, sunderlynge to bedencken enen van den blotstörtyngen und enen van den vij worden und eyn van der bedröffnyssen marien und eyn van den apenbaryngen und gaven des hylgen geystes. Hyr syn van utgescheden de officianten, de kynder und de schryvers. De nochtan em sollen beflytigen mede delhofftych to maken myt behotheyt van bynnen und van buten. Alle dage sollen se sprecken iij magnificat, up itlyck vers ene ave maris stella und dre miserere und xxv ave marien. De koken susteren und de officianten sollen syck flytigen eyn yder in synem denste, dat se nument en bedröven oder vorstüren. Als sunte benedictus secht: De wal deinet, de verdeynt enen guden grat. De sekenmestersche sal sorschvoldych syn vor de krancken und salt em vlytlycken andenen myt dem, solven se kan, und gedencken de flytycheyt unser leven frouwen und laten syck duncken, dat se jesum untfange van marien handen und em denstberheyt do in gedaente des krancken. Wante he wyl sölven seggen: Wat gy enen van mynen mynesten gedaen hebben, dat hebbe gy my gedaen. Und se sal vaken dat vers averhalen in erem herten und ock uth wendych myt dem munde sprecken: Suscepimus deus misericordiam tuam. Und de krancken sollen flytlycken betrachten de kyntheyt unses heren, als syne armöde und mannygerle gebreck he leyt in syner mensheyt. Dat he duldelycken leit uns in eyn exempel, wante de here secht: In juwer lysamheit solle gy juwe zele besytten. 46 gaven] gave, wohl vergessener Nasalstrich 53 apenbaryngen] apenbarygen B, wohl vergessener Nasalstrich 56 ene ave] erg. ene ave, wohl Dittographie 35 40 45 50 55 60 65 510 Editionsanhang <?page no="511"?> dienen, so wie es unser heiliger Vater Benedikt in der Regel vorschreibt, von den Oberen Anordnungen anzunehmen 3 und sich gegenseitig gehorsam zu sein. 4 Der Fußboden oder Estrich soll ein demütiges Bekennen unserer Schwäche in der Beichte, im Kapitel und vor unseren Oberen sein, ein jeder nach seinen Umständen, und dass wir uns gegenseitig kritisieren und auch demütig annehmen, worauf man uns hinweist. Das Häuschen muss innen mit vielerlei Zierrat geschmückt sein. Dazu wollen wir einen jeden dazu anweisen, eine Stunde 5 Stille einzuhalten, fleißig das Leben, das Leiden und die Wohltaten unseres lieben Herren zu betrachten, ein jeder nach seinen Umständen. Hierzu wollen wir diejenigen, die so viel Aufmerksamkeit 6 des Herzens nicht haben, dazu anweisen, dass wir andächtig den Rosenkranz lesen, worin doch das Leben und das Leiden und die Wohltaten vielfach bezeichnet sind. 7 Und dazu einmal die sieben Psalmen für unsere Sünden 8 zu Ehren der sieben Blutvergießen unseres Herrn und der sieben Worte, die er am Kreuz sprach, der sieben Schmerzen unserer lieben Frauen, die sie unter dem Kreuz erlitt, der sieben Erscheinungen, die unser Herr nach seiner Auferstehung tätigte, als er seinen Jüngern die sieben Gaben des Heiligen Geistes gab. Beim ersten Psalm sollen wir das Blutvergießen betrachten, als er beschnitten wurde. Ave benigne. Das erste Wort, dass er an dem Kreuz sprach. Paternoster. Den Schmerz Marias, dass sie ihr liebes Kind so hoch hängen sah. Ave Maria. Die erste Erscheinung vor Maria Magdalena, da gab er die Gabe der Furcht. 9 Veni sancte spiritus (AH 1, Nr. 141). Oh Gott, sei mir Sünderin gnädig! Dies ist zu wiederholen bei einem jeden Psalm, besonders an eines der Blutvergießen zu denken und eines der sieben Worte und einen der Schmerzen Marias und eine der Erscheinungen und Gaben des Heiligen Geistes. Hiervon ausgenommen sind die Offizianten, die Kinder und die Schreiber. Die letzteren sollen sich befleißigen, sich dessen teilhaftig zu machen mit innerer und äußerer Behütung. Sie sollen jeden Tag drei Magnificat sprechen, zu jedem Vers ein Ave, ein Ave maris stella (AH 51, Nr. 140) und drei Miserere und 25 Ave Maria. Die Küchenschwestern und die Offizianten sollen jeder bei seiner Aufgabe fleißig sein, so dass sie niemanden betrüben oder verärgern. Wie der heilige Benedikt sagt: Wer seinen Dienst gut versieht, erlangt einen hohen Rang. 10 Die Infirmarin soll fürsorglich den Kranken gegenüber sein und ihnen fleißig dienen mit dem, was sie kann, und des Fleißes unserer lieben Frauen gedenken und sich vorstellen, dass sie Jesus empfange aus Marias Händen und ihm Dienstbarkeit erweise im Dienst an den Kranken. Denn er selbst möchte sagen: Was ihr für einen von meinen Geringsten getan habt, habt ihr für mich getan (vgl. Mt 25,40). Und 3 Wörtlich: »sein eigenes Gebot durch das des Oberen zu ersetzen«. Hier muss etwas freier übertragen werden. 4 Benediktsregel, S. 164 f. [71,1 - 3]. 5 ure könnte hier auch die Hore, also einen monastische Tagesabschnitt meinen. 6 wörtlich: »Dabeibleiben«. 7 Dies meint einen Leben-Jesu-Rosenkranz in der von Dominikus von Preußen begründeten Tradition. 8 Hier sind die sieben Bußpsalmen gemeint. 9 Dies geht wohl zurück auf Bernhard von Clairvaux, der ausführt: Primo apparuit mulieribus, quibus dictum est ab angelo: Nolite timere: ecce spiritus timoris (»Zuerst erschien er den Frauen, denen vom Engel gesagt wurde: › Fürchtet euch nicht! ‹ - siehe den Geist der Angst«); Bernhard von Clairvaux: Opera, Bd. VI,2: Sermones III, hg. v. J. Leclercq O. S.B u. H. Rochas, Rom 1972, S. 16. 10 Benediktsregel, S. 88 f. [31,8]. 8 Geistliches Weihnachtshaus 511 <?page no="512"?> Dat dack des huses dar wylle wy to lesen de xv grade, dat erste deil vör de doden, dat ander vor uns solven, dat derde vor al de gemente, de susterschop offte broderschop myt uns hebben. Dyt huseken möet under behemelt wesen. Dar wyl wy to lesen sestich werve den ympnum Ave maris stella, up ytlych vers eyn ave maria in de eer der seven frouweden unser leven frouwen und in de eer, dat se sestich jaer was in dusser elende, und betrachten flytlych er leven und ere wanderynge und unse leven dar na to rychten na unsen vermögen. Nu mannygerley schone vynster, dar to gelesen den impnum O gloriosa domina, up ytlyck vers ene ave maria in de ere, dat maria xv jar olt was, do se er leve kynt geberde. Dar to O florens. Nu möte wy eyn schon bedde bereden myt synem tobehore. Dar wylle wy to vögen ix dage silencium enem yderen in dusser advent, de gyn sunderlynge officium hebben, in de eere, dat jesus ix manet besloten was in dat jufferlycke lycham marien. Eyn yder sal to seyn, dat he dat beddeken bequeme und sachte make, wante des heren stede ys in ruste und vrede. De here secht: Up wen sal rusten myn geyst, dan up den sachtmodygen und rustygen? Wy solt uns ock der werlt fromede maken, wante de here secht: De werlt und yck en hebben nycht gemeynes. Vor alle syrheit de to dem bedde hort, dar to vögen wy enem yderen xxv ave maria, eyn salve regina und v dodekens des dages. Nu möete wy marien vnd erem leven kynde mannygerleye spyse bereden, als et solcken groten konynck und konyngynen wal betemet. He secht: Myne spyse ys, dat yck den wyllen mynes vaders do. So ys ock des heren spyse, dat wy synen wyllen doen. Hyr en sal nument to verbunden syn, dan so vele em de leffte trecket. De priörin mit dem convente sölt dat dack van den huse maken. De susteren solt dat gehemelte maken. De suster, de de glase vinster maket, sal de glase vinster maken in unser leven frouwen huseken. De scholers sollen alle hilge dage lesen tuschen dit und middewinter den psalm deus deus meus respice to eren des liden cristi mit v pater noster in de eer de viff wunden unses leven heren. 89 konyngynen] konynnyngynen, Schreibfehler bei Trennung am Zeilenende 92 - 96 De priörin … heren] in der Handschrift rubriziert. 70 75 80 85 90 95 512 Editionsanhang <?page no="513"?> sie soll häufig diesen Vers in ihrem Herzen wiederholen und auch äußerlich mit dem Mund sprechen: Suscepimus deus misericordiam tuam (Ps 47,10). Und die Kranken sollen fleißig die Kindheit unseres Herren betrachten, als er in seiner Menschheit Armut und vielerlei Gebrechen litt. Dies litt er geduldig für uns zu einem Beispiel, denn der Herr spricht: In eurer Stille sollt ihr eure Seele behalten (vgl. Mt 29,11). 11 Für das Dach des Hauses wollen wir die 15 Gradualpsalmen (Ps 120 - 134) lesen, den ersten Teil für die Toten, den anderen für uns selbst, den dritten für die Gesamtheit all derjenigen, die Schwesternschaft oder Bruderschaft mit uns haben. Das Häuschen muss auch heimelig eingerichtet werden. Dazu wollen wir sechzigmal den Hymnus Ave maris stella (AH 51, Nr. 140) lesen, zu jedem Vers ein Ave Maria zu Ehren der sieben Freuden unserer lieben Frauen und zu Ehren, dass sie sechzig Jahre in dieser Einöde weilte, und [wir wollen] fleißig ihr Leben und ihren Wandel betrachten und unser Leben demgemäß ausrichten nach unserem Vermögen. Nun vielerlei schöne Fenster, dazu wird gelesen der Hymnus O gloriosa domina (AH 5, Nr. 87), zu jedem Vers ein Ave Maria zu Ehren, dass Maria 15 Jahre alt war, als sie ihr liebes Kind gebar. Dazu O florens (AH 5, Nr. 12). Nun müssen wir ein schönes Bett mit seiner Ausstattung bereiten. Dazu wollen wir jedem, der kein besonderes Amt innehat, neun Tage Schweigen auferlegen zur Ehre, dass Jesus neun Monate umschlossen war im jungfräulichen Körper Marias. Ein jeder soll zusehen, dass er das Bettchen bequem und weich mache, denn der Ort des Herrn ist in Ruhe und Frieden. Der Herr spricht: Auf wem soll mein Geist ruhen, wenn nicht auf den Sanftmütigen und Ruhigen (vgl. Is 66,2)? Wir sollen uns auch der Welt fremd machen, denn der Herr spricht: Die Welt und ich haben nichts gemein (vgl. Io 8,23). Für allen Zierrat, der zu dem Bett gehört, dazu erlegen wir einem jeden täglich 25 Ave Maria, ein Salve Regina und fünf Entsagungen auf. 12 Nun müssen wir Maria und ihrem lieben Kind vielerlei Speisen bereiten, wie es einem so großen König und einer Königin wohl ansteht. Er spricht: Meine Speise ist, dass ich den Willen meines Vaters tue (vgl. Io 4,34). So ist auch die Speise des Herrn, dass wir seinen Willen tun. Hierzu soll niemand mehr verpflichtet sein, als ihn die Liebe dazu hinzieht. Die Priorin mit dem Konvent soll das Dach des Hauses herstellen. Die Schwestern sollen die Einrichtung herstellen. Die Schwester, die die Glasfenster macht, soll die Glasfenster im Häuschen unserer lieben Frau machen. 13 Die Schüler sollen an allen heiligen Tagen von jetzt bis Mittwinter den Psalm Deus, Deus meus, respice (Ps 21) lesen zu Ehren des Leidens Christi mit fünf Paternoster zu Ehren der fünf Wunden unseres lieben Herrn. 11 Das referierte Bibelzitat, das hier sehr frei wiedergegeben ist, lautet: tollite iugum meum super vos et discite a me quia mitis sum et humilis corde, et invenietis requiem animabus vestris (»Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, dass ich sanft bin und demütig im Herzen, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen«). 12 dodekens übersetzt sich wörtlich mit »Tode«. Hier ist wohl eine Art von Askeseleistung gemeint, die ähnlich generell zu verstehen ist wie die in süddeutschen Texten häufig verlangten willenbrechen. 13 Auf welchen Arbeitsvorgang sich das niederdeutsche maken an dieser Stelle bezieht, ist nicht ganz klar. Denkbar ist sowohl, dass tatsächliche Glaserarbeiten gemeint sind, als auch, dass der Text auf Glasmalerei referiert. Christine Wulf (Göttingen) wies mich freundlicherweise darauf hin, dass zeitgenössische Glasmalereien aus Frauenklöstern regelmäßig auch Gebetsinschriften aufweisen, so dass hier eine Beziehung zwischen imaginiertem Frömmigkeitswerk und epigraphischer Ausstattung des äußeren Klosters denkbar ist. 8 Geistliches Weihnachtshaus 513 <?page no="514"?> Nu hebbe eyn yder orleff, dyt huseken to versiren myt guden gedachten und gebedekens. Dat bevele wy enes yderen devocie. Ock sal eyn yder sprecken der werdigen hylgen drevoldycheyt den erlicken ympnum Te deum vnd den psalm Benedictus dominus deus israhel und den ympnum Veni creator spiritus. Eyn yder schycke syck flytlyck to waken up syn ve, up syne dancken, worden und wercke, up dat he mach verdenen to hören de verkundynge van dem engel de geborte unses heren: Glorie sy gode in den hogen und vrede den menschen de van gudem wyllen synt. 100 514 Editionsanhang <?page no="515"?> Nun habe ein jeder die Erlaubnis, das Häuschen mit guten Gedanken und Gebeten zu verzieren. Das geben wir eines jeden Frömmigkeit anheim. Auch soll ein jeder der würdigen heiligen Dreifaltigkeit den ruhmreichen Hymnus Te Deum sprechen und den Psalm Benedictus Dominus Deus Israel (Lc 1,68 - 79) 14 und den Hymnus Veni creator spiritus (AH 2, Nr. 132 o. ä.). Ein jeder mache sich fleißig daran, auf seine Weise 15 zu achten, auf seine Gedanken, Worte und Werke, so dass er die Verkündigung des Engels von der Geburt unseres Herrn zu hören verdienen möge: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen, die guten Willens sind (Lc 2,14). 14 Es handelt sich hier nicht um einen Psalm, sondern um den Lobgesang des Zacharias. 15 Das Wort ve, dass die Handschrift hier enthält, bereitet Verständnisprobleme. Sowohl die übliche Bedeutung von vê ( › Vieh ‹ ) als auch eine kontrahierte Form von vege ( › feige ‹ ) können wohl eher ausgeschlossen werden. Das Wort ließe sich daher im Sinne von wê ( › Leid, Schmerz ‹ ) oder auch als das pronominale wê ( › wie, auf welche Weise ‹ ) verstehen. Letztere Möglichkeit scheint am treffendsten, die Uneindeutigkeit dieses kurzen Wortes, das auch auf einen Schreiberfehler zurückgehen könnte (z. B. eine Verschreibung von ee, › Gesetz, Gebot ‹ ), muss aber angemerkt werden. 8 Geistliches Weihnachtshaus 515 <?page no="516"?> Handschrift B: Berlin, SBB-PKB, mgq 762, fol. 125r - 129v Sprache, Datierung und Provenienz: niederdeutsch, um 1550, westfälisches (? ) Frauenkloster, wohl Zisterzienserinnen oder Benediktinerinnen. Inhalt: Predigtsammlung, zusammengebunden aus Faszikeln verschiedener Hände. Enthält niederdeutsche Predigten für verschiedene Anlässe (fol. 2r - 124v, 133r - 134v), das Weihnachtshaus sowie eine fragmentarische Marienmantelübung zur Vorbereitung auf das Fest Mariä Lichtmess (fol. 129v - 132v). Literatur: Degering 1926, S. 135. Wieland Schmidt: Die vierundzwanzig Alten Ottos von Passau, Leipzig 1938 (Palaestra 212), S. 210 f. Bemerkungen zur Edition Der Text folgt der einzigen bekannten Handschrift Berlin, SBB-PKB, mgq 762, fol. 125r - 129v (B) unter Anwendung der eingangs erläuterten Richtlinien. 516 Editionsanhang <?page no="518"?> 9 Geistlicher Herzensempfang Wan du nun dinen lieben herren und gespontzen also geziert, gekleit und gekrönt hast, so soltu in dann laden in den palast dins hertzen mit dißer nachgeschriben wyß. Und die magstu auch halten, wan du zu dem hailigen sacrament wilt gon. Zum ersten, wann du in nun geladen hast mit gantzer begirde dins hertzen und er zu dir kommen will, daran du kainen zwyffel hon solt, wann er selber spricht: »Delicie mee sunt esse cum filiis hominum« (Prv 8,31). Ob du wol vor in sünde bist gefallen und in erzürnt hast, vörcht dich nit vor im. Reynige nun dyn hertz myt warem rüwen und gantzem willen zu bychten und dich zu bessern. Und wisß fürwar, das du syn gantze früntschaft hast wider erworben. Auch soltu dyn hertz also reinigen, das du mit flyß ußschlahest alle gedenck, die du meinst dynem liebe mysßfellig syn. Item wesche und bade dich in dem milten blütt dines liebhabers und getrüwen erlößers. Wan du nun dyn hertz also gereyniget hast, so soltu dyn hertz oder palast behencken mit schönen gülden düchern. Zum ersten oben umb die gülden dücher, das du betrachtest die unußsprechenlichen wirdigkeit und herschafft deß herren, den du geladen hast, und der zu dir kommen will, dem da kein stat herlich gnüg mag sin nach wirdigkeit syner eren. Ysaias: »Factus est principatus super humerum eius et vocabitur nomen eius amirabilis consiliarius, deus fortis, pater futuri seculi, princeps pacis« (Is 9,6). Nabuch: »Regnum eius regnum sempiternum et potestas eius in generacione et generacionem« (Dn 3,100). Amos: »Dominus seus exercituum nomen eius« (Am 4,13). Zacharie: »Erit dominus rex super omnem terram« (Z. 14,9). Malachias: »Rex magnus ego, dicit sominus exercituum« et cetera (Mal 1,14) Ainen gulden tron soltu im setzen, das du betrachtest die übertreffenlichen unseglichen liebe und mynne, die den almechtigen keißer und herren des himmels und der erden hat gezogen von dem hohen trone siner keißerlichen maiestaut in diß jamerlant, in das landt des kriegs und des zorns, in dz landt volle aller jamerkeit und unselden, uff dz er verteidingt und zu süne brecht den grossen, schedlichen, unvertreglichen krieg und fyntschafft, die so manig tusent jar gewert hat zwischen got und dem menschen. »Post hec in terris visus est et cum hominibus conversatus est«, Baruch (Bar 3,38). Ysaias: »Parvulus enim natus est nobis et filius datus est nobis. Multiplicabitur eius imperium et pacis non erit finis« (Is 9,6 - 7). Aggeus: »Et venit desideratus cunctis gentibus« (Agg 2,8). Zacharias: »Lauda et letare, filia syon, quia ecce ego venio et habitabo in medio tui, ait dominus« (Z. 2,10). Die stülach allenthalben uff die bencke, das du betrachtest das leben und wandel unsers lieben herren, dins königs: wie er xxxiiij jar uff dißem ertrich gangen ist, suchende das verlorn schefflin mit vil arbeit, müdigkeit, armut und verschmecht, und dz in nye lydens verdroß durch dinen willent. 5 10 15 20 25 30 35 518 Editionsanhang <?page no="519"?> Wenn du nun deinen lieben Herren und Bräutigam auf diese Weise geschmückt, gekleidet und gekrönt hast, so sollst du ihn anschließend auf die folgende Weise in den Palast deines Herzens einladen. Und so kannst du es auch machen, wenn du zum heiligen Sakrament gehen willst. Wenn du ihn nun erstens mit ganzem Verlangen deines Herzens eingeladen hast und er zu dir kommen will, so sollst du daran keinen Zweifel haben, denn er spricht selbst: »Mein Vergnügen ist es, bei den Kindern der Menschen zu sein« (Prv 8,31). Ganz gleich ob du zuvor in Sünde gefallen bist und ihn erzürnt hast, fürchte dich nicht vor ihm. Reinige nun dein Herz mit wahrer Reue und vollem Willen zur Beichte und dazu, dich zu bessern. Und wisse in Wahrheit, dass du seine gesamte Freundschaft wiedererlangt hast. Zudem sollst du dein Herz so reinigen, dass du mit Fleiß alle Gedanken vertreibst, von denen du meinst, dass sie deinem Liebhaber missfallen. Bade und wasche dich zudem in dem freigiebigen Blut deines Geliebten und treuen Erlösers. Wenn du nun dein Herz auf diese Weise gereinigt hast, sollst du dein Herz oder den Palast mit schönen goldenen Tüchern behängen. Als erstes die goldenen Tücher oben [an der Decke], dadurch dass du die unaussprechliche Würde und Herrschaft des Herrn betrachtest, den du eingeladen hast und der zu dir kommen möchte, dem angesichts der Würde seiner Ehren kein Ort herrlich genug sein kann. Jesaja: »Die Herrschaft ist auf seine Schulter gelegt, und sein Name wird genannt werden › Wunderbarer Berater ‹ , › Starker Gott ‹ , › Vater des zukünftigen Zeitalters ‹ , › Friedensfürst ‹ « (Is 9,6). Nebukadnezzar: »Sein Reich ist ein ewiges Reich ist und seine Macht währt von Generation zu Generation« (Dn 3,100). Amos: »Sein Name ist der Herr, der Gott der Heere« (Am 4,13). Sacharja: »Und der Herr wird König über die ganze Erde sein« (Za 14,9). Maleachi: »Denn ich bin ein großer König, sagt der Herr der Heere« usw. (Mal 1,14). Einen goldenen Thron sollst du für ihn hinstellen, dadurch dass du die unübertreffliche Liebe und Minne betrachtest, die den allmächtigen Kaiser und Herrscher des Himmels und der Erde von dem hohen Thron seiner kaiserlichen Herrschaft in dieses Jammerland gezogen hat, in das Land des Krieges und des Zorns, in das Land voll allen Elends und Unheils, auf dass er beschütze und den großen, verheerenden, unheilvollen Krieg und die Feindschaft zur Versöhnung bringe, die für viele Jahrtausende zwischen Gott und dem Menschen geherrscht haben. Baruch: »Hiernach zeigte er sich auf der Erde und hielt sich unter den Menschen auf« (Bar 3,38). Jesaja: »Denn ein kleines Kind ist uns geboren und ein Sohn ist uns gegeben. Seine Herrschaft wird vervielfacht werden, und es wird kein Ende des Friedens sein« (Is 9,6). Haggai: »Der von allen Völkern Ersehnte kommt« (Agg 2,8). Sacharja: »Sprich Lob aus und freue dich, Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und werde in deiner Mitte wohnen, sagt der Herr« (Za 2,10). 9 Geistlicher Herzensempfang 519 <?page no="520"?> Isaie xliii o : »Servire me fecisti in peccatis tuis, prebuisti mihi laborem in iniquitatibus tuis. Ego sum, ego ipse sum, qui deleo iniquitates tuas propter me et peccatorum tuorum non recordabor« (Is 43,24 - 25). Eyn hüpsche tu ͦ ch uff den esterich, das du bedenckst die unschetzberlichen grossen demüttigkeit deß übermaßen grossen herren, das er, in deß namen sich biegen alle knye, sich knyende nider neigt für die unflettigen füsße der armen groben fischer und in die wüsche, darzu auch sinem unseligen verretter. »In nomine eius omne genu flectat« (vgl. Phil 2,10). Die kostlichen güldin tiecher an den wenden oder kostlichen deppiche, das du betrachtest die döttlichen angst und blüttigen schweiß dins herren, syn gefencknuß, für gericht fürn, felschliches rügen, schweltwort, sin augen verbinden, backenschlege, halßschlege, verspyen, verspotten, geißlung, krönung und alles syn hailigs lyden, das er von grosser liebe durch dich litte. Die betrachtung gefellt im über alle maß wol in dem palast dins hertzen. Isaie xliii o : »Reduc me in memoriam, ut iudicemur simul« (Is 43,26). Idem in liii o capitulo: »Tradidit in morte animam suam et cum sceleratis reputatus est. Et ipse peccatum multorum tulit et pro transgressoribus rogavit« (Is 53,12). Ein zierlich küssin uff synem trone, daruff er ist sitzen, das du betrachtest syn grondloße güttigkeit und senfftmüttigkeit deß ußerwelten hertzen lieben herren, wie er die siechen gesunde macht. Nit allein die rychen oder die in darumb batten, sonder auch die armen und alle, die er nun sach, die siner hilff nottürffig waren, die in joch nit darumb baten, noch nit gedachten zu bitten. Den bodt und gab er die gesuntheit selber nit allein des lybs sunder auch der selen, die es darzu nit begertten. Er het nit ein benügen, das er sie heilet mit der krafft siner almechtigen wort. Er verschmecht auch nit, sine fürstlichen gebenedytten hende uff sie zu legen. Der sieche by dem fischwyher, die todt dochter, ydropicus, paraliticus. Isaie xlii o : »non clamabit neque accipiet personam nec audietur foris vox eius. Calamum quassatum non conteret et linum fumigans non extinguet. Non erit tristis neque turbulentus, donec ponet in terra iudicium« (Is 42,2 - 4). 54 ut] im bibl. Text steht et 55 morte] mort C 68 ponet] im bibl. Text steht konjunktivisch ponat 40 45 50 55 60 65 520 Editionsanhang <?page no="521"?> Die Sitzkissen überall auf den Bänken, dadurch dass du das Leben und Wirken unseres lieben Herren, deines Königs, betrachtest: Wie er 34 Jahre 1 lang auf diesem Erdreich gewandelt ist und das verlorene Schaf mit großer Mühe, Erschöpfung und Erniedrigung gesucht hat, und dass er um deinethalben niemals ein Leid scheute. Jesaja 43: »Du hast mich geknechtet durch deine Sünden, hast mir Mühe bereitet durch deine Ungerechtigkeiten. Ich bin es, ich selbst bin es, der ich deine Ungerechtigkeiten lösche um meinetwillen, und deiner Sünden werde ich nicht gedenken« (Ic 43,24 - 25). Ein hübsches Tuch auf dem Fußboden, dadurch dass du die unschätzbar große Demut des über alle Maßen großen Herren bedenkst, dass er, in dessen Namen sich alle Knie beugen, sich auf Knien niederbeugte vor die schmutzigen Füße der armen Fischer und sie ihnen und dazu auch seinem unseligen Verräter wusch. »In seinem Namen beuge sich jedes Knie« (vgl. Phil 2,10). Die kostbaren goldenen Tücher oder kostbaren Teppiche an den Wänden, dadurch dass du die tödliche Angst und den blutigen Schweiß deines Herrn betrachtest, seine Gefangennahme, den Gang vor Gericht, die falsche Anklage, die Schimpfworte, die Schläge ins Gesicht, die Schläge auf den Nacken, die Schimpfworte, das Anspucken, das Verbinden seiner Augen, die Geißelung, die Dornenkrönung und sein gesamtes heiliges Leiden, das er aus großer Liebe heraus für dich erlitten hat. Diese Betrachtung in dem Palast deines Herzens gefällt ihm über alle Maßen gut. Jesaja 43: »Führe mich zurück in dein Gedächtnis, damit wir gemeinsam vor Gericht gehen! « (Is 43,26). Zudem im 53. Kapitel: »Er hat seine Seele in den Tod gegeben und wurde zu den Verbrechern gerechnet und er selbst trug die Sünden vieler und bat für die Gesetzesübertreter« (Is 53,12). Ein verziertes Kissen auf seinem Thron, auf dem er sitzt, dadurch dass du seine grundlose Güte und die Sanftmut des herzenslieben Herrn betrachtest, als er die Kranken heilte. Nicht nur die Reichen oder die, die ihn darum baten, sondern auch die Armen und alle, die er nur sah, die seiner Hilfe bedurften und die ihn dennoch weder darum baten noch ihn bitten wollten. Er verschaffte und gab denen, die nicht einmal danach verlangten, die Gesundheit nicht bloß des Körpers, sondern auch der Seele zurück. Er hatte keinen Unterlass, bis er sie mit der Kraft seiner allmächtigen Worte heilte. Er verschmähte es auch nicht, seine gesegneten fürstlichen Hände auf sie zu legen. Der Kranke bei dem Fischteich, die tote Tochter, der Wassersüchtige, der Gelähmte. 2 Jesaja 42: »Er wird nicht schreien und weder wird er auf die Person achten, noch wird seine Stimme draußen gehört werden. Das geknickte Schilfrohr wird er nicht zertreten und den rauchenden Docht wird er nicht auslöschen. Er wird nicht traurig noch aufgeregt sein, bis er auf der Erde das Recht aufstellt« (Is 42,2 - 4). 1 Das Lebensalter Christi müsste eigentlich 33 Jahre betragen, wird in diesem Text jedoch zweimal mit 34 Jahren angegeben, so dass hier wohl kein Schreibfehler vorliegt. Der Grund dafür ist mir nicht recht klar - eventuell wird hier die Schwangerschaft Marias zur Lebenszeit Jesu hinzugerechnet. 2 Hier führt die Andachtsübung anstelle von Bibelzitaten bloß neutestamentliche Figuren an, die von Jesus geheilt oder vom Tode erweckt werden. Referiert wird hier auf die Heilung bei dem See Genezareth (Mc 6,54 - 56), die tote Tochter (Mc 5,35 - 43), den Wassersüchtigen (Lc 14,2 - 6) und den Gelähmten (Lc 5,17 - 26). 9 Geistlicher Herzensempfang 521 <?page no="522"?> Auch wie güttlich er sich bewyßt den sündern, das er wart geheißen »amicus publicanorum« (Lc 7,34), »quia hic peccatores recipit« et cetera (Lc 15,2). Maria Magdalena, Zacheus. Adultera: »Ubi sunt, qui te accusant? Nemo te« et cetera. »Nec ego te condempnabo. Vade et amplius« (vgl. Io 8,10 - 11). Idem: »Ego Dominus vocavi te in iusticia et apprehendi manum tuam, et servavi et dedi te in fedus populi in lucem gencium, ut aperires oculos cecorum, ut educeres de conclusione vinctum de domo carceris sedentes in tenebris« (Is 42,6 - 7). Noch ein küssin uff deß herren tron leinen. Betracht syn große trüwe, die in ouch so sere bracht, dz er syn edle sele und leben gab für sine vinde, nit in einen schlechten dot, sonder in den aller bittersten, pynlichsten, jemerlichsten, verschmechtesten dot deß crützes. Wölche trüwe so groß wz, dz sie weder unser schnödigkeit noch unser grosse undanckperkeit, die er gentzlich wol erkant - er wißt und bekant, wie die menschen noch würden lesterlich schweren by synen heiligen glidern und lyden, und das so wenig menschen und auch die selben wenigen so selten syn hailigs bitters lyden betrachten würden mit gantzem hertzen und innigem mittlyden und im syn dancken - das alles mocht in nit abwendig machen, dz er deß mynsten leidens wolt überhaben syn. Isaie im xlvj o : »Audite me, qui portamini a meo utero qui gestamini a mea vulva. Usque ad senectam ego ipse et usque ad canos ego portabo et salvabo« (Is 46,3 - 4). Im xlviij: »Scio quia prevaricans prevaricabis, et transgressorem ex ventre vocavi te. Propter nomen meum longe faciam furorem meum et laude mea infrenabo te ne intereas« (Is 48,8 - 9). Aller hand hüpsche küssen allenthalb uff den bencken ligen. Betracht alle die guttdat, die dir got, dyn myniglicher schöpffer, hat getone, geistlich und zytlich in sonderheit und mit andern menschen. Osee et cetera: »Sponsabo te in sempiternum, et sponsabo te in iusticia et iudicio et in misericordia et in miseracionibus et sponsabo te in fide. Et scies quia ego dominus« (Os 2,19 - 20). Im xj: »Et ego quasi nutricius portabam eos in brachiis meis, et nescierunt quod curarem eos. In funiculis Adam traham eos, in vinculis caritatis« (Os 11,3 - 4), »de manu mortis liberabo te« (Os 13,14). Ein güldiner hüpscher tische. Bedenck syn grossen adel, das bedüt das golde. Syn almechtigkeit, die größe sins gewalts, sin wyßheit, die zierlicheit und wolgeformichkeit. Auch sin rycheit und miltigkeit, die kostlicheiten siner richeit. Ein hüpsches tischlache, das er die ungemessen edeln gotheit gekleidt hat mit unser blöden menscheit. O wir armen würmlin, unser schnöde natur hat unser edler schöpffer an sich genomen: »Exinanivit semet ipsum formam servi accipiens« (Phil 2,7). Ward nit allein mensche, ja ein armer verschmechter mensche. Grosse armüt und verschmecht wz er in allem sinem leben biß in den dot. 75 2 ut] im bibl. Text steht et 91 küssen] küsse C, wohl vergessener Nasalstrich 94 1/ 2 in] erg. in C 95 2 in] erg. in C 70 75 80 85 90 95 100 105 522 Editionsanhang <?page no="523"?> Zudem auch, wie gütlich er sich den Sündern gegenüber gebärdete, so dass er »ein Freund von Übeltätern« (Lc 7,34) genannt wurde, »weil er Sünder aufnimmt« (Lc 15,2). Maria Magdalena, Zachäus. Bei der Ehebrecherin: »Wo sind die, die dich anklagen? Niemand hat dich [verurteilt]« usw. »Auch ich werde dich nicht verurteilen. Geh und [sündige nicht mehr]! « (vgl. Io 8,10 - 11). Zudem: »Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und habe deine Hand ergriffen und ich habe dich bewahrt und dich zum Bund mit dem Volk, zum Licht der Völker gemacht, damit du die Augen der Blinden öffnest und den Gefesselten aus der Gefangenschaft herausführst, aus dem Haus des Kerkers diejenigen, die in der Finsternis sitzen« (Is 42,6 - 7). Jetzt ein Kissen auf der Thronlehne des Herrn. Betrachte seine große Treue, die ihn dazu brachte, dass er seine edle Seele und sein Leben für seine Feinde hergab, nicht in einen schlechten Tod, sondern in den allerbittersten, schmerzhaftesten, jammervollsten, erniedrigendsten Tod des Kreuzes. Diese Treue war so groß, dass sie weder unsere Schlechtigkeit noch unsere große Undankbarkeit, die ihm in ihrer Gänze voll bewusst war - er wusste und erkannte, dass die Menschen bei seinen heiligen Gliedern und Leiden noch lästerlich schwören würden, und dass so wenige Menschen und diese wenigen dazu noch so selten sein heiliges bitteres Leiden mit ganzem Herzen und innigem Mitleid betrachten und ihm danken würden - das alles konnte ihn nicht davon abbringen, so dass er nur dem kleinste Leid hätte entgehen wollen. Jesaja 46: »Hört auf mich, die ihr von meinem Mutterschoß an getragen werdet, die ihr von meinem Mutterleib an geführt werdet! Bis ins Alter werde ich selbst sein und bis zu den grauen Haaren werde ich tragen und werde retten.« (Is 46,3 - 4). Zudem 48: »Ich weiß, dass du pflichtverletzend deine Pflicht verletzen wirst, und › Übertreter vom Mutterleib an ‹ habe ich dich genannt. Um meines Namens willen werde ich meine Wut entfernen und wegen meines Lobes werde ich dich zügeln, damit du nicht zugrunde gehst« (Is 48,8 - 9). Allerlei hübsche Kissen, die überall auf den Bänken liegen. Betrachte alle Wohltaten, die Gott, dein liebreicher Schöpfer, [dir] erwiesen hat, besonders geistlich und in der Zeit und in Bezug auf andere Menschen. Hosea usw.: »Und ich werde dich für immer verloben und ich werde dich in Gerechtigkeit und Recht verloben und in Barmherzigkeit und Mitgefühl und ich werde dich in Treue verloben, und du wirst wissen, dass ich der Herr bin.« (Os 2, 19 - 20). Im elften [Kapitel]: »Und ich war wie ein Erzieher, ich trug sie in meinen Armen, und sie wussten nicht, dass ich mich um sie kümmerte. Mit den Stricken Adams werde ich sie schleppen, mit den Fesseln der Liebe« (Os 11,3 - 4) »werde ich dich aus der Hand des Todes befreien« (Os 13,14). Ein hübscher goldener Tisch. Bedenke seinen großen Adel, den das Gold bezeichnet. Seine Allmacht, die Größe seiner Kraft, seine Weisheit [bezeichnen] die Zierlichkeit und Wohlgeformtheit. Auch seinen Reichtum und seine Freigiebigkeit [bezeichnen] die Kostbarkeiten seiner [d. h. des Tisches] Pracht. Ein hübsches Tischtuch, dadurch, dass er die maßlos edle Gottheit mit unserer schlichten Menschheit eingekleidet hat. Oh wir armen Würmer, unser Schöpfer hat unsere schlechte Natur angenommen: »Er hat sich selbst zu nichts gemacht, indem er die Gestalt 9 Geistlicher Herzensempfang 523 <?page no="524"?> Ein guldins messer uff den tische, das er mit dem aller bittersten dot sin edle sele ließ gescheiden werden von sinem edeln lybe, nit von bezwang, dann von fryer unußsprechenlicher grosser liebe. Sechs kostlicher wyn. Der erst. Betracht mit leide dins hertzen, wie dick, wie schwerliche, wie mu ͦ ttwilliglich, wie unbillich du dynen schöpffer und liebhaber erzürnt hast. Und dar über hab ein gantzen rüwen. Ysaias: »Audite me duro corde, qui longe estis a iusticia! Prope feci iusticiam meam, non elongabitur. Et salus mea non morabitur« (Is 46, 12 - 13). Ein silber geschir zu dem wyn des rüwens, das du ein gantze hoffnung und getrüwen habest zu dinem dugentlichen herren, das er dir dine sünde wölle verzyhen. Und dz silber geschir soll haben ein güldin füß, und soll geziert sin mit güldin ringen der grondloßen barmhertzigkeit gotts, wann er spricht durch den mund des prophetten: »In quacumque hora peccator ingemuerit« (vgl. Ez 33,12). Ysaias xvj: »Preparabitur in misericordia solium et sedebit super eum in veritate in tabernaculo Davit, iudicans et querens iudicium et velociter reddens quod iustum est« (Is 16,5). Jonas: »Scio quia tu deus clemens et misericors es, paciens et multe miseracionis et ignoscens super malitiac (Ion 4,2). Micheas: »Deponet iniquitates nostras, et proiciet in profundum maris omnia peccata nostra« (Mi 7,19). Ysaias: »Delevi ut nubem iniquitates tuas et quasi nebulam peccata tua« (Is 44,22). Ezechiel: »Convertimini et agite penitenciam ab omnibus iniquitatibus vestris. Et non erit vobis in ruinam iniquitas. Et quare moriemini? Quia nolo mortem morientis dicit, sed ut revertatur et vivat, dicit dominus« (Ez 18,30 - 32). Der ander wyn. Bedenck mit innigkeit und mittlyden, mit wölcher schwerheit und bitterkeit er dich erlößt hat, und wie sur du im bist worden, und wie menig angst und betrieptnuß er gelitten hat, ee er kam zu dem bittern tode. Ysaie v: »Quid est quod debui ultra facere vinee mee et non feci ei? « (Is 5,4). Osee: »Sanabo contriciones eorum, diligam eos spontanee, quia aversus est furor meus ab eo« (Os 14,5). 129 penitenciam] potentiam C, wohl Verschreibung, nach dem bibl. Text korrigiert 110 115 120 125 130 135 524 Editionsanhang <?page no="525"?> eines Sklaven annahm« (Phil 2,7). War er doch nicht bloß ein Mensch, sondern ein armer, erniedrigter Mensch. Große Armut und Erniedrigung litt er sein Leben lang bis in den Tod. Ein goldenes Messer auf dem Tisch, dadurch, dass er durch den allerbittersten Tod seine edle Seele von seinem edlen Körper getrennt werden ließ, nicht aus Zwang, sondern aus freier und unaussprechlich großer Liebe. Sechs köstliche Weine. 3 Der erste. Betrachte mit leidendem Herzen, wie viel, wie schwer, wie mutwillig, wie unangebracht du deinen Schöpfer und Geliebten erzürnt hast. Und habe gänzliche Reue darüber. Jesaja: »Hört auf mich mit hartem Herzen, die ihr fern seid von der Gerechtigkeit! Nahe ließ ich meine Gerechtigkeit sein, sie wird nicht entfernt werden. Und mein Heil wird nicht zögern« (Is 46,12 - 13). Ein silbernes Trinkgefäß für den Wein der Reue, dadurch, dass du volle Hoffnung und Vertrauen zu deinem tugendhaften Herrn hast, dass er dir deine Sünde verzeihen möge. Und der Silberkelch soll einen goldenen Fuß haben und soll mit goldenen Ringen der grundlosen Barmherzigkeit Gottes verziert sein, denn er spricht durch den Mund des Propheten: »In welcher Stunde auch immer der Sünder aufseufze, [wird er gerettet werden]« (vgl. Ez 33,12). 4 Jesaja 16: »Und es wird in Barmherzigkeit ein Thron bereitet werden, und sitzen wird auf ihm in Wahrheit im Zelt Davids einer, der richtet und das gerechte Urteil sucht und rasch äußert, was recht ist« (Is 16,5). Jona: »Ich weiß, dass du, Gott, gnädig und barmherzig bist, geduldig und voll Mitleid, und Bosheit vergibst« (Ion 4,2). Micha: »Er wird unsere Ungerechtigkeiten niederlegen und all unsere Vergehen in die Tiefe des Meeres werfen« (Mi 7,19). Jesaja: »Ich habe deine Ungerechtigkeiten wie eine Wolke gelöscht und wie einen Nebel deine Sünden« (Is 44,22). Ezechiel: »Kehrt um und tut Buße für alle eure Ungerechtigkeiten! Und eure Ungerechtigkeit wird euch nicht zum Sturz werden. Und wodurch werdet ihr sterben? Denn ich will nicht den Tod des Sterbenden, sondern dass er umkehrt und lebt, spricht der Herr« (Ez 18,30 - 32). Der zweite Wein. Bedenke mit Innigkeit und Mitleid, mit welcher Schwere und Bitterkeit er dich erlöst hat, und wie sauer du ihm geworden bist, und wieviel Angst und Betrübnis er erlitten hat, bevor ihn der bittere Tod ereilte. Jesaja 5: »Was ist es, was ich mehr für meinen Weingarten hätte tun sollen und nicht für ihn getan habe? « (Is 5,4). Hosea: »Ich werde ihren Untergang heilen, ich werde sie freiwillig lieben, weil meine Wut sich von ihm abgewendet hat« (Os 14,5). 3 Eigentlich werden nur drei Weine genannt. Hier liegt eine Inkongruenz des Textes vor, die eventuell daher rührt, dass alle drei Weine anschließend noch ein zweites Mal behandelt werden, wenn die Betende sie imaginativ einschenken soll. Möglicherweise führte das zu einer inhaltlichen Verwirrung, die beim Abschreiben den Zahlenfehler dieser Rubrik hervorrief. 4 Bei dem Dictum In quacumque hora peccator ingemuerit, salvus erit handelt es sich eigentlich um eine locker an Ez 33,12 angelehnte Glosse zu dieser Bibelstelle, die hier jedoch mit dem Bibeltext selbst verwechselt worden zu sein scheint. Vgl. mit entsprechendem Nachweis Eva Schlotheuber: Gelehrte Bräute Christi. Geistliche Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaft, Tübingen 2018 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 104), S. 113. 9 Geistlicher Herzensempfang 525 <?page no="526"?> Das rubyn gefesß. Syn miltes hertz, das mit dem gold grosser liebe so wol geziert was, uß dem er dir schenckt den edeln wyn sins kospern milten blütts. Ysaias: »Ego dominus, sanctus vester, creans Israhel, rex vester« (Is 43,15), »dicit redemptor vester, sanctus Israhel« (Is 43,14). »Dedi in deserto aquas et flumina in invio, ut darem potum populo meo electo meo« (Is 43,20). »Hec dicit dominus, faciens et formans te ab utero auxiliator tuus: Noli timere, serve meus et rectissime, quem elegi effundam enim aquas super sicientem et fluenta super aridam« (Is 44,2). Der dritt wyn. Betracht die unsprechenlichen fröde und gezierd deß hymmelrychs, die dir dyn liep bereit hat! Wie schön die stat ist, dz kein dötlich auge grosser gezierde nye gesache! Wie schön der schöpffer ist in göttlicher und in menschlicher nature! Wie schöne die edeln selen sind und auch die lychname werdent! Wie süß dz gesang und seittenspile! Wie groß die ere und rychtum! »Gloria et divicie in domo eius« (Ps 111,3). Da ist jugent on alter, gesuntheit on kranckheit, stetigkeit on verdriessen, fryheit on allen bezwang, schönheit on alle mißfelligkeit, unlydlicheit, undöttlicheit, uberflüssigkeit on alle nottürftigkeit, frid über frid on abnemlich, sicherheit on vorcht, bekanttnuß on vergessen, ere on alles laster oder schmacheit, fröde on betrieptnuß. »Ubi nullum erit malum, nullum latebit bonum«, »ibi summa securitas, summa felicitas, felix libertas«. Do wirt kein betrieptnuß, kein arbeit, kein schmertz, kein forcht, kein tode, sonder ewige gesuntheit bleybt da. »Nullus intrinsecus morbus, nullus intrinsecus metus«. Isaie xxxv: »Tunc aperientur oculi cecorum et aures surdorum patebunt. Tunc saliet sicut cervus claudus et aperta erit lingua mutorum« et cetera (Is 35,5 - 6). Gedenck, das er umb so kleine kurtze arbeit gibt so grossen ewigen lon, wie recht milt er ist. Höre wie er spricht durch ysaiaz: »Ad punctum in modico dereliqui te et in miseracionibus magnis congregabo te. In momento indignacionis abscondi faciem meam parumper a te et in misericordia sempiterna misertus sum tui« (Is 54,7 - 8). Die kostlich triet. Bedenck, wie dyn liephaber sich selber hat gemacht dir zu einer krefftigen süssen triet. Da er gegeißelt ward und an dem crütz hieng, da ward gestossen der hitzig zymat. 142 populo] populum C, nach dem bibl. Text korrigiert 144 fluenta] fluentem C 140 145 150 155 160 165 526 Editionsanhang <?page no="527"?> Der Rubinkelch. Sein freigiebiges Herz, das mit dem Gold der großen Liebe so gut verziert war, aus dem schenkt er dir den edlen Wein seines kostbaren freigiebigen Bluts ein. Jesaja: »Ich bin der Herr, euer Heiliger, der Israel erschafft, euer König« (Is 43,15), »sagt der Erlöser, der Heilige Israels« (Is 43,15). »Ich habe in der Wüste Wasser gegeben, Ströme in der Wildnis, um meinem Volk, meinem auserwählten, zu trinken zu geben« (Is 43,20). »Dies sagt der Herr, der dich macht und formt vom Mutterleib an, dein Helfer: Fürchte dich nicht, mein Knecht Jakob, Gerechtester, den ich erwählt habe! Ich werde nämlich Wasser über den Dürstenden ausgießen und Bäche über die trockene Erde« (Is 44,2). Der dritte Wein. Betrachte die unaussprechliche Freude und Pracht des Himmelreichs, die dir dein Geliebter bereitet hat. Wie schön der Ort ist, so dass kein sterbliches Auge je größere Pracht gesehen hat! Wie schön der Schöpfer in göttlicher und menschlicher Natur ist! Wie schön die edlen Seelen sind und auch die Körper werden! Wie süß der Gesang und die Musik! Wie groß die Ehre und der Reichtum! »Ruhm und Reichtümer gibt es in seinem Haus« (Ps 111,3). Da ist Jugend ohne Alter, Gesundheit ohne Krankheit, Dauerhaftigkeit ohne Verdruss, Freiheit ohne jeden Zwang, Schönheit ohne Hässlichkeit, Schmerzlosigikeit, Unsterblichkeit, Überfluss ohne alle Notwendigkeit, unabnehmlicher Frieden über Frieden, Sicherheit ohne Furcht, Erkennen ohne Vergessen, Ehre ohne alles Laster oder Schande, Freude ohne Schmach. »Wo es kein Übel geben und kein Gut verborgen bleiben wird,« 5 »da werden höchste Sicherheit, höchstes Glück und glückliche Freiheit sein«. 6 Da gibt es keine Betrübnis, keine Mühe, keinen Schmerz, keine Furcht, keinen Tod, sondern allein ewige Gesundheit verbleibt dort. »Keine innere Krankheit, keine innere Furcht«. 7 Jesaja 35: »Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden, und die Ohren der Tauben offenstehen. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frei sein« usw. (Is 35,5 - 6). Gedenke, dass er für so kleine und kurze Mühe so großen und ewigen Lohn gibt, und wie gar freigiebig er ist. Höre, wie er durch Jesaja spricht: »Für einen Augenblick habe ich dich kurz verlassen und mit großen Beweisen meines Mitleids werde ich dich versammeln. Zum Zeitpunkt meines Zorns habe ich mein Angesicht eine kleine Weile vor dir verborgen und in ewiger Barmherzigkeit habe ich mich deiner erbarmt« (Is 54,7 - 8). Das köstliche Würzpulver. Bedenke, wie dein Liebhaber sich selbst für dich zu einem kräftigen süßen Würzpulver gemacht hat. Als er gegeißelt wurde und an dem Kreuz hing, da wurde der scharfe Zimt zerstoßen. 5 Dieser Teil des Zitats stammt aus Augustinus: De civitate Dei XXII,30; vgl. Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate Dei, Bd. 2, hg. u. in deutscher Sprache v. Carl Johann Perl, Paderborn/ München/ Wien u. a. 1979, S. 866. 6 Der zweite Teil dieses Zitats findet sich z. B. im um 1270 entstandenen Manipulus florum des Thomas von Irland; vgl. Thomas Hibernicus: Flores doctorum pene omnium, tam graecorum, quam latinorum [ … ], Wien: Georg Lehmann u. Johann Paul Krauß 1735, S. 309. Wahrscheinlich lag dem Andachtstext dieses oder ein vergleichbares Florilegium zugrunde. 7 Dies geht wohl zurück auf Augustinus: De civitate Dei CIV,26. Dort heißt es allerdings: nullus intrinsecus morbus, nullus ictus metuebatur extrinsecus (»Keine innere Krankheit, kein äußerer Anstoß waren zu befürchten«); Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate Dei, Bd. 1, hg. u. in deutscher Sprache v. Carl Johann Perl, Paderborn/ München/ Wien u. a. 1979, S. 982 f. Der Andachtstext korrumpiert diese Paradiesschilderung auf wenig sinnvolle Weise. 9 Geistlicher Herzensempfang 527 <?page no="528"?> Das edel gold ward funden uff dem hohen berg. »Cuius caput aurum optimum« (Ct 5,11), und zertriben mit der dörnyn kron. Die negelin findstu in synen henden und füsßen wol gestossen. Die muscatnuß, der findstu gnüg in synem gantzen lybe, der da was vol wunden, bülen und lynzeichen »quasi leprosus« et cetera (Is 53,4). Corellen: Syn edels kospers blüt, deß er nit ein dropffen behielt - gab dir es alles. Perlin: Sine milten trehen und edeln schweiß dropffen. Eya wie vil, wie groß, wie kosper! Die Mosgat blümen: Alle sin süssen wort und syn andechtigs gebet. Das zucker: Der groß unußsprechlich nütz und frücht, die uns von synem lyden kommen ist. Ein güldine kostliche lade ist syn hochgelopter wirdiger heiliger lychname, der da wol ein apptecke ist aller süssigkeit, in der die siechen finden heilsame artzny warer gesuntheit, die todten das ewig leben, die verwuntten betrüpten hertzen die süssen wolriechenden senfften salben alles trosts und freuden, die armen unzelichen schatz des rychtums. Und alles, dz einer yeglichen sele anlyt oder nottürftig ist, sie sy siech oder gesund, dz findt sie in dißer laden ein volle genügde. Ysaie: »Non confundemini neque erubescemini usque in seculum seculi.« (Is 45,17) »Congregamini et venite et accedite simul qui salvati estis ex gentibus« (Is 45,20). »Numquid non ego Dominus? Et non est ultra deus absque me. Deus iustus et salvans non est preter me. Convertimini et salvi eritis omnes fines terre, quia ego deus et non est alius« (Is 45,21 - 22). »Numquid abbreviata manus mea est et parvula facta, ut non possim redimere, aut non est in me virtus ad liberandum? «, dicit dominus omnipotens (Is 50,2). Ein hüpscher güldiner löffel, das er uns gantzen vollen gewalt hat geben über sich und über den grossen rychen schatz sins edeln verdienens, und so wir me daryn gryffen und nemen, dz wir ser rych würden. So im lieber wer, und nympt es größlich für übel, dz wir uns deß grossen schatz so wenig nemen und gebruchen. Ysaie: »Dabo tibi thesauros absconditos et archana secretorum, ut scias quia ego dominus qui voco nomen tuum deus Israhel. Et vocavi te in nomine tuo. Ego Dominus et non est amplius. Extra me non est Deus. Accinxi te et non cognovisti me. Ego Dominus et non est alter« (Is 45,3 - 6). Ein guldin schüsselin, damit man die treseny uff die schnydten dut und die schnidten ußhebt. Da by betracht, das sich der güttig herre menigen grossen sünder laßt in so menchen schweren todtsunden entpfahen on alle alle rüwe, on alle andacht, on willen zu bessern. Und er übersicht so gedultiglich, dz er nit also balde rauch darüber dütt. 195 deus] fehlt C, nach dem bibl. Text ergänzt 170 175 180 185 190 195 200 528 Editionsanhang <?page no="529"?> Das edle Gold wurde auf dem hohen Berg gefunden. »Sein Haupt ist bestes Gold« (Ct 5,11) und wurde mit der Dornenkrone zerrieben. Die Nelken findest du gut gestoßen in seinen Händen und Füßen. 8 Die Muskatnuss, davon findest du genug in seinem ganzen Körper, der voller Wunden, Beulen und Male war »wie ein Aussätziger« (Is 53,4) usw. Korallen: Sein edles kostbares Blut, von dem er nicht einen Tropfen behielt - er gab dir alles davon. Perlen: Seine freigiebigen Tränen und edlen Schweißtropfen. Oh wie viel, wie groß, wie kostbar! Muskatblüte: Alle seine süßen Worte und sein andächtiges Gebet. Der Zucker: Der große unaussprechliche Nutzen und die Früchte, die uns sein Leiden gebracht hat. Eine goldene kostbare Lade ist sein hochgelobter, würdiger, heiliger Leib, der gar eine Apotheke der Süße ist, in der die Kranken die heilsame Arznei wahrer Gesundheit finden, die Toten das ewige Leben, die verwundeten betrübten Herzen die süßen, wohlriechenden, sanften Salben allen Trosts und aller Freude, die Armen unzählige Schätze des Reichtums. Und alles, was einer jeden Seele ansteht oder was sie braucht, gleich ob sie krank oder gesund ist, das findet sie in dieser Lade zur Genüge. Jesaja: »Ihr werdet nicht verwirrt werden und nicht erröten bis in alle Ewigkeit« (Is 45,17). »Versammelt euch und kommt und tretet zusammen, die ihr gerettet seid aus den Völkern! « (Is 45,20). Bin etwa nicht ich der Herr? Und es gibt darüber hinaus keinen Gott außer mir! Einen gerechten und rettenden Gott gibt es nicht außer mir! « Wendet euch her und ihr werdet gerettet sein, alle Enden der Erde! Denn ich bin Gott und es gibt keinen anderen (Is 45,21 - 22). Wurde denn etwas meine Hand verkürzt und sehr klein gemacht, sodass ich nicht erlösen kann, oder ist in mir keine Kraft zum Befreien? « (Is 50,2), so spricht der allmächtige Herr. Ein hübscher goldener Löffel, darum, dass er uns ganze und volle Verfügung über sich und über den großen, reichen Schatz seines edlen Verdienstes gegeben hat, und wenn wir mehr darein griffen und davon nähmen, so würden wir sehr reich. So wäre es ihm lieber, und er nimmt es sehr übel, dass wir uns so wenig von diesem großen Schatz nehmen und es gebrauchen. Jesaja: »Ich werde dir verborgene Schätze geben und Geheimnisse verborgener Orte, damit du weißt, dass ich der Herr bin, der ich deinen Namen rufe, der Gott Israels. Und ich habe dich mit deinem Namen gerufen. Ich bin der Herr, und es gibt keinen weiteren. Außer mir gibt es keinen Gott. Ich habe dich gerüstet und du hast mich nicht erkannt. Ich bin der Herr, und es gibt keinen anderen« (Is 45,3 - 6). Ein goldenes Schüsselchen, woraus man die Gewürzmischung auf die Schnitten tut und womit man die Schnitten serviert. Betrachte dabei, dass sich der gütige Herr von so manchem großen Sünder in so manchen schweren Todsünden ohne alle Reue, ohne alle Andacht und ohne Willen zur Besserung [bei der Kommunion] empfangen lässt. Und er sieht davon so geduldig ab, dass er nicht sehr schnell Rache dafür übt. 8 Der Text spielt hier mit der Polysemie von negelin, das sowohl › Nelken ‹ wie auch › Nägel ‹ bedeuten kann. 9 Geistlicher Herzensempfang 529 <?page no="530"?> Gebewt brot, das er sich selber uns geben hat zu einer spyße: das lebendig hymmelbrot, dz da gebachen was in dem heissen eydofen unussprechlicher grosser götlicher liebe, die in auch bracht in so vil lydens und jamerkeit, dz er in xxxiiij jaren nye recht gutten dag gewann. Und darnach ward diß süsß brott gelegt uff den rost des crütz und gebeüwet. Dis edel brot lege in die guldin schalen dins hertzen mit der aller grösten danckperkeit, dz er dich in einen stautt geordnet und fürsehen hat, dz du in so dick magst sacramentlich entpfahen. Isaie: »Quia hec dicit excelsus et sublimis habitans eternitatem, et sanctum nomen eius in excelso et in sancto habitans et cum contrito et humili spiritu, ut vivificet spiritum humiliatum et vivificet cor contritorum. Non enim in sempiternum litigabo neque usque in finem irascar« (Is 57,15 - 16), »dixit redemptor tuus dominus. Sicut in diebus Noe istud mihi est cui iuravi ne inducerem aquas Noe ultra super terram. Sic iuravi ut non irascar tibi et non increpem te« (Is 54,8 - 9). Schenck inn den wyn des rüwens. Bedenck, dz du in so dick lewiglich und ungeschickt on große liebe und andacht und licht etwan von vorchten der lütt me dann von götlicher liebe entpfangen hast. Auch dick on sach dich nit darzu geschickt und darvon bliben und etwan durch kleiner dorlicher kürtzwyle willen hast gelaßen den heilmacher diner selen. Jeremias: »Recordatus sum tui miserans adulescenciam tuam et caritatem desponsacionis tue, quando secuta me es in deserto, in terra que non seminatur« (Ier 2,2). »Tu autem fornicata es cum amatoribus multis. Tamen revertere ad me, dicit dominus, et ego suscipiam te« (Ier 3,1). »Revertere aversatrix, ait dominus, et non avertam faciem meam a vobis, quia sanctus ego sum, dicit dominus, et non irascar in perpetuum« (Ier 3,12). »Convertimini filii revertentes, dicit dominus, quia ego vir vester« (Ier 3,14). »Convertimini filii revertentes et sanabo aversiones vestras« (Ier 3,22). Auch den wyn der innikeit. Betracht, das er hend und füsß und syn edels hertz und syn gantzen lyb hat lassen uff ton und hat sich gantz ußgossen in dyn heil. Und noch hüt zu tag flüsßt on underlaß heile und gnade uß sinen hailigen wunden. Ysaie: »Et dixit Syon: dereliquit me dominus et dominus oblitus est mei! Numquid oblivisci potest mulier infantem suum, ut non misereatur filio uteri sui? Et si illa oblita fuerit, ego tamen non obliviscar tui. Ecce in manibus meis descripsi te, muri tui coram oculis meis semper« (Is 49,14 - 16). »Et sciet omnis caro, quia ego dominus salvans te et redemptor tuus, fortis Iacob« (Is 49,26). 202 unussprechlicher] unusprechlicher C 212 irascar] rescar C 205 210 215 220 225 230 530 Editionsanhang <?page no="531"?> Geröstetes Brot, 9 darum, dass er selbst sich uns als Speise dargeboten hat: das lebendige Himmelsbrot, das in dem heißen Backofen unaussprechlicher göttlicher Liebe gebacken wurde, die ihn auch in so viel Leid und Elend brachte, dass er in 34 Jahren niemals einen guten Tag erlebte. Und danach wurde dieses süße Brot auf den Rost des Kreuzes gelegt und geröstet. Leg dieses edle Brot in die goldene Schale deines Herzens mit der allergrößten Dankbarkeit dafür, dass er dich zu einem Stand bestimmt und vorgesehen hat, in dem du ihn so häufig im Sakrament empfangen kannst. Jesaja: »Weil dies der Erhabene und Hohe spricht, der die Ewigkeit bewohnt, - und heilig ist sein Name, der im Erhabenen und im Heiligtum wohnt und zusammen mit dem zerschlagenen und demütigen Geist - , um den Geist der Gedemütigten zu beleben und das Herz der Zerschlagenen zu beleben: Denn ich werde nicht für immer streiten noch bis ans Ende zürnen« (Is 57,15 - 16), »sagte dein Erlöser, der Herr. Wie in den Tagen Noahs ist dies für mich: Ihm habe ich geschworen, dass ich die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde bringen will. So habe ich geschworen, dass ich dir nicht zürne und dich nicht schelte« (Is 54,8 - 9). Schenke den Wein der Reue ein. Bedenke, dass du ihn so oft nachlässig und unvorbereitet ohne große Liebe und Andacht und vielleicht auch mehr aufgrund der Erwartungen der Leute als aus göttlicher Liebe heraus empfangen hast. Zudem [bist du] oft ohne Grund nicht dahingegangen, und hast vielleicht um einer kleinen flüchtigen Kurzweil halber den Heilbringer deiner Seele versetzt. Jeremias: »Ich habe mich deiner erinnert, indem ich mit deiner Jugend und der Liebe deiner Verlobungszeit Mitleid hatte, als du mir gefolgt bist in der Wüste, in dem Land, das nicht besät wird« (Ier 2,2). »Du aber hast Unzucht getrieben mit vielen Liebhabern. Dennoch, kehr zurück zu mir, sagt der Herr, und ich werde dich aufnehmen« (Ier 3,1). »Kehre zurück, Aufsässige, sagt der Herr. Und ich werde mein Gesicht nicht von euch abwenden, weil ich heilig bin, sagt der Herr, und ich werde nicht für immer zürnen« (Ier 3,12). »Bekehrt euch, Kinder, indem ihr zurückkehrt! , sagt der Herr, weil ich euer Ehemann bin« (Ier 3,14). »Bekehrt euch, Kinder, indem ihr zurückkehrt, und ich werde eure Auflehnung heilen« (Ier 3,22). Zudem den Wein der Innigkeit. Betrachte, dass er Hände und Füße und sein edles Herz und seinen gesamten Leib hat aufschneiden lassen und sich vollends in dein Heil ausgegossen hat. Und noch heutzutage fließen ohne Unterlass Heil und Gnade aus seinen heiligen Wunden. Jesaja: »Und Zion sagte: › Der Herr hat mich im Stich gelassen, und der Herr hat mich vergessen! ‹ Kann etwa eine Frau ihr Kind vergessen, sodass sie sich des Sohnes ihres Leibes nicht erbarmt? Und wenn sie vergessen sollte, ich werde dich dennoch nicht vergessen. Siehe, in meine Hände habe ich dich eingeschrieben, deine Mauern sind stets vor meinen Augen« (Is 49,14 - 16). »Und alles Fleisch wird erkennen, dass ich der Herr bin, der dich rettet, und dein Erlöser, der Starke Jakobs« (Is 49,26). 9 In einigen Handschriften des Buchs des Lebens findet sich die Wendung gebeit oder gebewt schnitten brot; vgl. Johannes Adelphus: Ausgewählte Schriften, Bd. 3: Das Buch des Lebens, hg. v. Bodo Gotzkowsky, Berlin/ New York 1980 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 87), S. 296. Gemeint sind damit wohl geröstete Brotscheiben. 9 Geistlicher Herzensempfang 531 <?page no="532"?> Des dritten wyns. Gedenck, dz du den selben entpfachst in dem hailigen sacrament, der den himmel mit söllicher frödenrycher schöne geziert hat. »Ubi fundamentum xij lapides preciosi. Platee et muri eius ex auro purissimo. Porte nitent margaritis.« Da schynt die weßenlich sonne der ewigen clarheit, der schöpffer der sonnen und alle schönheit. Da sehent die augen der selen iren und aller creaturen schönen got, die ougen deß lybs den herren, einen menschen. »Homines conditorem, regem in decore suo videbunt« (vgl. Is 33,17). Bedenck, dz er dich darzu geschaffen und erlößt hat, das du dz schön, keißerlich, frölich, begirlich konigryche ewiglich mit im besitzen solt. »Ubi est corporis pulcritudo claritatis, agilitatis promptitudo, aptitudo subtilitatis, fortitudo impassibilitatis, ibi affluencia diviciarum, influencia deliciarum, confluencia honorum. Gaudeant supra de domini consolacione, infra de deliciarum amenitate, intra de corporis et anime glorificacione, iuxta de angelorum et hominum delectabili associetate. Ubi est evasio periculorum, distinctio mansionum, concordia voluntatum, ibi est amenitas vernalis, candor lucis estivalis, ubertas autumnalis, requies hyemalis. Ibi vita sine morte, dies sine nocte, certe sine forte, libertas sine timore, gaudium sine dolore, requies sine labore.« »In illa superna civitate morietur omnis necessitas, orietur summa felicitas.« »Gaudium sine fine, eternitas sine labe, serenitas sine nube.« »Iam non erit ibi amplius, neque luctus, neque clamor, sed nec ullus dolor.« »Non esurient neque sicient amplius, neque cadet super illos sol, neque ullus estus.« (Apc 7,16). »Oculus non vidit, nec auris audivit, nec in cor hominis ascendit« (I Cor 2,9). Ysaie xxxij: »Non caligabunt oculi videncium et aures audiencium diligenter auscultabunt et cor stultorum intelleget scienciam et lingua balborum velociter loquetur et plane« (Is 32,2 - 4). »Et ambulabunt, qui liberati fuerint, et redempti a domino convertentur, et venient in Syon cum laude et leticia sempiterna super capita eorum. Gaudium et leticiam obtinebunt et fugiet dolor et gemitus« (Is 35,9). »Gaudium et leticia invenietur in ea, graciarum actio et vox laudis« (Is 51,3), »quia in leticia egredimini et in pace deducimini« (Is 55,12). 260 f. quia in … decucimini] der Konjunktiv des bibl. Texts wird hier zum Indikativ 235 240 245 250 255 260 532 Editionsanhang <?page no="533"?> Zu dem dritten Wein. Gedenke, dass du denjenigen in dem heiligen Sakrament empfängst, der den Himmel mit solch freudenreicher Schönheit geschmückt hat. »Dort besteht das Fundament aus zwölf Edelsteinen. Die Straßen und Mauern sind aus reinstem Gold. Die Tore glänzen von Perlen.« 10 Da scheint die wesenhafte Sonne des ewigen Leuchtens, der Schöpfer der Sonne und alle Schönheit. Da sehen die Augen der Seele ihren und aller Kreaturen schönen Gott, die Augen des Körpers den Herren als einen Menschen. »Die Menschen werden den Schöpfer, den König in seiner Stattlichkeit sehen« (Is 33,17). Bedenke, dass er dich dazu geschaffen und erlöst hat, dass du das schöne, kaiserliche, frohe, erstrebenswerte Königreich auf ewig mit ihm besitzen sollst. »Wo es für den Körper den Glanz der Schönheit, den Eifer der Schnelligkeit, die Fähigkeit des Scharfsinns, die Stärke des Gleichmuts gibt, da ist Überfluss des Reichtums, ein Einfließen der Wonne, ein Zusammenströmen der Ehren. Dort mögen sie sich des Trosts des Herren über ihnen freuen, des liebreizenden Orts der Freuden unter ihnen, der Verherrlichung von Körper und Seele in ihnen, und der liebreizenden Gesellschaft der Engel und Menschen neben ihnen. Wo es ein Entkommen vor Gefahr, eine Verschiedenheit der Wohnungen, eine Harmonie des Willens gibt, da ist der Liebreiz des Frühlings, die Helle des Sommerlichts, die Fruchtbarkeit des Herbstes und die Ruhe des Winters. Da ist Leben ohne Tod, Tag ohne Nacht, Sicherheit ohne Zufall, Freiheit ohne Angst, Freude ohne Schmerz, Ruhe ohne Mühe.« 11 »In dieser erhabenen Stadt stirbt aller Zwang und es zeigt sich die höchste Glückseligkeit.« 12 »Freude ohne Ende, Ewigkeit ohne Verderben, Heiterkeit ohne Trauer.« 13 »Und es wird künftig nichts mehr sonst sein, weder Leid noch Geschrei und auch nicht irgendein Schmerz.« 14 »Sie werden nicht mehr hungern und nicht mehr dürsten, und die Sonne wird nicht auf sie fallen noch irgendeine Glut« (Apc 7,16): »Das Auge hat es nicht gesehen und das Ohr nicht gehört noch ist es bis in das Herz des Menschen hinaufgestiegen« (I Cor 2,9). Jesaja 32: »Die Augen der Sehenden werden nicht trüb sein, und die Ohren der Hörenden werden aufmerksam hören. Und das Herz der Dummen wird zur Einsicht gelangen, und die Zunge der Stammelnden wird fließend und deutlich sprechen« (Is 32,3 - 4). Und die befreit worden sind, werden gehen, und die durch den Herrn Erlösten, sie werden umkehren und nach Zion kommen mit Lobgesängen. Und ewige Freude wird über ihren Häuptern sein« (Is 35,9). »Freude und Fröhlichkeit wird man finden in ihr, Dank- 10 Dieses Zitat, das auf das himmlische Jerusalem der Apokalypse des Johannes (Apc 21,10 - 27) referiert, entstammt großteils dem verbreiteten Hymnus Urbs Ierusalem beata (AH 51, Nr. 102). Den Satz zu den zwölf Edelsteinen kann ich dort allerdings nicht nachweisen. 11 Dieser längere Text entspricht in leicht abgewandelter Form einer Passage bei Humbertus de Romanis: Epistola, in: B. Humberti de Romanis Opera de vita regulari, Bd. 1, hg. v. Joseph Berthier, Rom 1888, S. 1 - 41; hier S. 41. Zugleich ist dieser Text auch häufig in Gebetform überliefert und wird zeitgenössisch zumeist Thomas von Aquin zugeschrieben; vgl. mit englischer Übersetzung Robert Anderson u. Johann Moser: The Aquinas Prayer Book. The Prayers and Hymns of Thomas Aquinas, Manchester, NH 2000, S. 52 - 57. 12 Petrus Lombardus: Commentaria in Psalmos, in: Patrologia Latina 191 (1854), Sp. 61 - 1296; hier Sp. 1203. 13 Augustinus: In Iohannis evangelium tractatus CXXIV, hg. v. R. Willems, Leiden 1954 (CCSL 36), S. 281 [tract. 28, cap. 8]. 14 Hier wird das Responsorium Absterget deus omnem lacrimam (Cantus Index Nr. 006013) zitiert, das auf Apc 21,4 zurückgeht. 9 Geistlicher Herzensempfang 533 <?page no="534"?> »Non erit tibi amplius sol ad lucendum per diem nec splendor lune inluminabit te« (Is 60,19). Sonder der herre wirt dir in ein ewig liecht »et deus tuus in gloriam tuam« (Is 60,19). Nit wirt dyn sonne fürbas undergon, und dyn mone wirt nit gemyndert. Diß spricht der herre: › Nym war, ich schaffe nüwe himmel und ein nüwe erden. Und der ersten wirt nit mer gedacht, noch sie entstigent uff dz hertz, sonder ir werdent üch fröwen und fröwlich syn biß in die ewikeit in den, die ich schaffen: Wann sich, ich schaffe Jherusalem frölicheit und fröde sinem volck, und ich wirde frölich syn in Jherusalem, und wird mich fröwen in mynem folcke. Und fürbaß wird nit gehört in im die stymme deß weinens und die stymme des schryens ‹ (Is 65,17 - 19). Wann diß spricht der herre: »Ecce ego declinabo super eam quasi fluvium pacem et quasi torrentem inundantem gloriam« (Is 66,12). › Ir werdent es sehen und üwer hertz wirt sich fröwen und üwer gebein wirt grünen als dz krutt ‹ (Is 66,14). › Ich, der herre, schnelliglich in syner zyt wirde ich das ton ‹ (Is 60,22). Diß alles und noch vil me schrybt der edel prophet Ysaias. Item idem xiiij: »Et erit in die illa cum requiem dederit tibi dominus a labore tuo et a concussione tua et a servitute dura qua ante servisti. Sumes parabolam istam et dices: quomodo cessavit exactor quievit tributum? « (Is 14,3 - 4). »Et pascentur primogeniti pauperum et pauperes fiducialiter requiescent« (Is 14,30). Idem: »Ipsi videbunt gloriam domini et decorem dei nostri« (Is 35,2). Idem lj: »Consolabitur ergo dominus, Syon consolabitur omnes ruinas eius. Et ponet desertum eius quasi delicias et solitudinem eius quasi ortum domini. Gaudium et leticia invenietur in ea, graciarum actio et vox laudis« (Is 51,3). Ecce »ego, ego ipse consolabor vos« (Is 51,12). »Quomodo sicut mater blandiatur, ita ego consolabor vos et in Ierusalem consolabimini« (Is 66,13). Jeremias: »Et revertetur Iacob et requiescet et cunctis affluet bonis, et non erit quem formidet, quoniam tecum sum ego, ait dominus, ut salvem te« (Ier 30,10 - 11). »Abducam enim cicatricem tibi et a vulneribus tuis sanabo te, dicit dominus« (Ier 30,17). »In caritate perpetua dilexi te. Ideo adtraxi te miserans. Rursumque edificabo te, virgo Israhel. Adhuc ornaberis tympanis tuis, et egredieris in choro ludencium« (Ier 31,3 - 4). Idem: »Qui dispersit Israhel congregabit eum et custodiet eum sicut pastor gregem suum. Redemit enim dominus Iacob et liberavit eum de manu potencioris. Et venient et laudabunt in monte Syon et confluent ad bona domini. Eritque anima eorum quasi ortus inriguus et ultra non esurient. Tunc letabitur virgo in choro, iuvenes et senes simul« (Ier 31,10 - 13). › Und ich wird verkeren ir weinen in fröd und werd sie trösten und frölich machen von irem schmertzen. Und ich wirde druncken machen die selen der priester und myn volck wirt erfüllt mit mynen güttern, spricht der herre ‹ (Ier 31,13 - 14). »Hec dicit dominus« (Ier 31,15): › Dyn stymme soll ru ͦ wen von dem weinen und dyne augen von den trehen, wann es ist lon dinen wercken, ait dominus ‹ (Ier 31,16). 271 pacem] im bibl. Text steht pacis 291 liberavit] liberabit C, nach dem bibl. Text korrigiert 265 270 275 280 285 290 295 534 Editionsanhang <?page no="535"?> sagung und Preisrede« (Is 51,3), »weil ihr in Freude fortgehen und in Frieden weggeführt werdet« (Is 55,12). »Die Sonne wird für dich nicht weiter da sein, um am Tag zu scheinen, noch wird der Glanz des Mondes dich beleuchten« (Is 60, 19). Sondern der Herr wird für dich ein ewiges Licht »und dein Gott dein Ruhm« (Is 60,19). Weder wird deine Sonne mehr untergehen, noch wird dein Mond mehr abnehmen. Dies spricht der Herr: › Siehe, ich erschaffe neue Himmel und eine neue Erde. Und der vormaligen wird nicht mehr gedacht werden, noch wird sie auf das Herz emporsteigen, sondern ihr werdet euch freuen und froh sein bis in Ewigkeit in dem, was ich erschaffe: Denn siehe, ich erschaffe Freude für Jerusalem und Freude für sein Volk, und ich werde froh sein in Jerusalem und werde mich freuen in meinem Volk. Und fürderhin wird die Stimme des Weinens und die Stimme des Schreiens nicht mehr in ihm gehört werden ‹ (Is 65,17 - 19). Denn dies spricht der Herr: »Siehe, ich werde gleichsam einen Fluss des Friedens zu ihm hinlenken und wie einen überströmenden Bach den Ruhm« (Is 66,12). › Ihr werdet es sehen und euer Herz wird sich freuen und euer Gebein wird grünen wie das Gras ‹ (Is 66,14). › Ich, der Herr, werde zu seiner Zeit dies plötzlich tun ‹ (Is 60,22). Dies alles und noch viel mehr schreibt der edle Prophet Jesaja. Dann zudem [ Jesaja] 14: »Es wird geschehen an jenem Tag, wenn dir der Herr Ruhe gewährt von deiner Mühsal und von deiner Erschütterung und von der harten Sklaverei, in der du vorher gedient hast: Du wirst dieses Gleichnis aufnehmen und sagen: Wie hat der Steuereintreiber aufgehört, wie ist der Tribut zur Ruhe gekommen? « (Is 14,3 - 4). »Und die Erstgeborenen der Armen werden geweidet werden, und die Armen werden zuversichtlich ausruhen« (Is 14,30). Zudem: »Sie werden selbst die Herrlichkeit des Herrn sehen und die Pracht unseres Gottes« (Is 35,2). Zudem [ Jesaja] 51: »Daher wird der Herr trösten, Zion wird all seine Trümmerstätten trösten. Und er wird ihre Wüste wie einen Erholungsort gestalten und ihre Einöde wie den Garten des Herrn. Freude und Fröhlichkeit wird man finden in ihr, Danksagung und Preisrede« (Is 51,3). Siehe, »ich, ich selbst werde euch trösten« (Is 51,12). »Wie wenn eine Mutter liebkost, so werde ich euch trösten, und in Jerusalem werdet ihr getröstet werden« (Is 66,13). Jeremias: »Und Jakob wird zurückkehren und zur Ruhe kommen und an allem Guten wird er Überfluss haben, und es wird niemanden geben, den er fürchtet, weil ich mit dir bin, sagt der Herr, um dich zu retten« (Ier 30,10 - 11). »Ich werde dir nämlich die Narbe verschließen und von deinen Wunden werde ich dich heilen, sagt der Herr« (Ier 20,17). »Mit fortwährender Liebe habe ich dich geliebt. Deswegen habe ich dich an mich gezogen, weil ich Mitleid hatte. Und ich werde dich wieder aufbauen, Jungfrau Israel. Du wirst noch mehr geschmückt werden mit deinen Tamburinen und du wirst im Reigen der Tanzenden herausschreiten« (Ier 31,3 - 4). Zudem: »Derjenige, der Israel zerstreut hat, wird es sammeln und wird es behüten wie ein Hirte seine Herde. Denn der Herr hat Jakob erlöst und ihn aus der Hand des Stärkeren befreit. Und sie werden kommen und loben auf dem Berg Zion und sie werden zu den guten Dingen des Herrn zusammenströmen. Und ihre Seele wird wie ein bewässerter Garten sein, und sie werden nicht mehr hungern. Dann wird sich die junge Frau am Tanz freuen, Männer und Greise zugleich« (Ier 31,10 - 13). › Und ich werde ihr Weinen in Freude verkehren und werde sie trösten und froh machen aus ihrem Schmerz heraus. Und ich 9 Geistlicher Herzensempfang 535 <?page no="536"?> Sophonias: »Quoniam ipsi pascentur et accubabunt et non erit qui exterreat. Lauda, filia Syon, iubila tu, Israhel, letare et exulta in omni corde, filia Ierusalem! Abstulit dominus iudicium tuum, avertit inimicos tuos, rex Israhel dominus in medio tui. Non timebit malum ultra. In die illa dicetur: Ierusalem noli timere. Dominus deus tuus in medio tui fortis et ipse salvabit« (So 3,12 - 17). Darnach entpfahe in mit der aller grösten erwirdigkeit und früntlicheit, so du imer kanst und magst, und sprich das gebet sant Bernhardus, wan es gar bequem darzu zu betten wer. Es ist ain lustlich früntlich gespreche mit dem herren, und ist on zwyfel uß einem ynbrünstigen hertzen gangen. Wann du in nun mit grosser liebe hast yngefiert in dyn huß, so soltu im singen uff seittenspilen und ergetzlicheit machen. Das seytenspile ist dyn begird, die soltu im opffern. Und bitt in, das er die wöll vergütt nemmen für die wercke, das du in nit als andechtiglich und geschickliche kanst entpfahen, als du gern dettest. Und danck im siner grossen tugent, demüttigkeit und liebe, das er sich gewirdiget hat, zu dir yn zu gon in dyn arms hüslin. Darnach soltu im schencken ein kleinot, darinne er lust hab. Das ist allen ungunst und alles, das dir je zuleide geschache, dz du das gentzlich wöllest verzyhen durch siner liebe willen und dich syn nymmer mer annemen. Darnach soltu im klagen alle dyn anligenden sachen als dinem aller innigsten liephaber, dem dyn kommer on zwyfel zu hertzen gat, und der dir auch wol gehelffen kan und darzu auch gantz gu ͦ ttwillig ist. Darumb bitt in zum ersten füre alle dine sachen, geistlich und zytlich. Darnach für alle sachen der cristenheit und für alles das, da du schuldig bist, für zu bitten, und dz man dir in dyn gebett entpfolhen hat in der gemein und in sonderheit. Darnach für alle dine gebornen fründe und für alle din woltetter und für alle die, die von dir begert habent, für sie zu bitten. Darnach für die lieben selen im fegfüre. Darnach für alle die, die do nottürfftig synt, für sie zu bitten, ob sie sin joch nit begeren, als todsünder, juden und heiden. 301 timebit] im bibl. Text steht timebis. 300 305 310 315 320 325 536 Editionsanhang <?page no="537"?> werde die Seelen der Priester trunken machen und mein Volk wird erfüllt werden mit meinen guten Dingen ‹ (Ier 31,13 - 14). »Dies spricht der Herr« (Ier 31,15): › Deine Stimme soll ausruhen vom Weinen und deine Augen von den Tränen, denn es liegt Lohn in deinen Werken, spricht der Herr ‹ (Ier 31,16). Zefania: »Weil sie selbst geweidet und sich niederlegen werden und es keinen geben wird, der sie erschreckt: Lobe, Tochter Zion, jauchzt, Israel, freue dich und juble mit ganzem Herzen, Tochter Jerusalem! Der Herr hat deine Verurteilung beseitigt, er hat deine Feinde abgewendet, der König Israels ist der Herr in deiner Mitte, er wird kein Übel mehr fürchten. An jenem Tag wird gesagt werden: › Jerusalem, fürchte dich nicht! ‹ Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte, der Starke, und er selbst wird Rettung bringen« (So 3,12 - 17). Danach empfange ihn mit der allergrößten Ehrerbietung und Freundlichkeit, die du je aufbringen kannst und vermagst, und sprich das Gebet des heiligen Bernhard, 15 denn es ist gar passend, es hierzu zu beten. Es ist ein anmutiges und liebsames Gespräch mit dem Herrn, und ist zweifelsohne einem inbrünstigen Herzen entsprungen. Wenn du ihn nun mit großer Liebe in dein Haus hineingeführt hast, so sollst du für ihn zur Musik singen und ihm Genuss bereiten. Die Musik ist dein Verlangen, das du ihm darbringen sollst. Und bitte ihn, dass er die als Vergütung dafür annehmen möge, dass du ihn nicht so andächtig und vorbereitet empfangen kannst, wie du es gerne tätest. Und danke ihm für seine große Tugend, Demut und Liebe, dass er sich herabgelassen hat, zu dir in dein armes Häuschen einzukehren. Danach sollst du ihm ein Kleinod schenken, daran er Freude hat. Das ist, dass du alle Ungunst und alles, was dir je zuleide geschah, um seiner Liebe willen völlig verzeihen und dich darum niemals mehr kümmern sollst. Danach sollst du alle Dinge, die dich bedrücken, ihm als deinem vertrautesten Geliebten klagen, dem dein Kummer zweifelsohne zu Herzen geht und der dir auch sehr wohl helfen kann und hierzu vollends bereitwillig ist. Deshalb bitte ihn erstens für alle deine geistlichen und zeitlichen Angelegenheiten. Danach für alle Anliegen der Christenheit und für alles, was du zu bitten schuldig bist, und was man dir zu deinem Gebet im Besonderen wie im Allgemeinen angetragen hat. Danach für alle deine Verwandten und für alle deine Wohltäter und für alle diejenigen, die von dir verlangt haben, für sie zu bitten. Danach für die lieben Seelen im Fegefeuer. Danach für all diejenigen, die es benötigen, dass man für sie bittet und dies dennoch nicht verlangen, beispielsweise Todsünder, Juden und Heiden. 15 Hier ist wohl der vielüberlieferte, Bernhard von Clairvaux zugeschriebene Gebetszyklus zu den Gliedern Christi für die Tage der Woche gemeint, den die Handschrift auf fol. 58v - 67r überliefert. Dieser Text stellt eine Übersetzung des lateinischen Hymnenzyklus Salve mundi salutare (auch bekannt als Oratio Rhythmica) dar, der abgedruckt ist als [Pseudo-]Bernhard von Clairvaux: Rhythmica oratio an unum quodlibet membrorum Christi patientis et a cruce pedentis, in: Patrologia Latina 184 (1862), Sp. 1319 - 1324. Die deutsche Adaptation findet sich z. B. auch in Basel, UB, A XI 59, fol. 163r - 176r. Vgl. dazu auch Peter Ochsenbein: Bernhard von Clairvaux in spätmittelalterlichen Gebetbüchern, in: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, hg. von Kaspar Elm, Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), S. 213 - 232. 9 Geistlicher Herzensempfang 537 <?page no="538"?> Handschrift C: Colmar, Bibliothèque des Dominicains, Ms. 267bis, fol. 98v - 118v. Sprache, Datierung und Provenienz: elsässisch, ca. 1520 - 1540 (Datierung nach Wasserzeichen), aus dem Dominikanerinnenkloster Unterlinden in Colmar (frühneuzeitlicher Besitzeintrag der Schwester Agnes Wirtnerin auf fol. 1r). Inhalt: Umfangreiche Sammlung von Gebets- und Andachtstexten für eine Dominikanerin, darunter auch der Colmarer Paradiesgarten (Diskussion und Teilabdruck bei Schmidtke 1982, S. 31 u. S. 466 - 469) und eine umfängliche Marienmantelanleitung (Diskussion und Abdruck bei Lentes 1996, S. 485 u. 1085 f.). Vor dem hier abgedruckten Text enthält die Handschrift einen umfangreichen Zyklus aus lateinischen Gebetstexten und deutschen Anweisungen, durch die Jesus eingekleidet und mit allerlei geistlichen Juwelen ausgestattet werden soll (fol. 84r - 98r). Grundsätzlich leitet diese Handschrift die in ihr enthaltenen, inhaltlich je eigenständigen Texte mithilfe von Rubriken ineinander über. Im Anschluss an den Herzensempfang wechselt der Text der Handschrift das Motivfeld, ohne dass dies durch eine Rubrik oder graphische Trennung gekennzeichnet werden würde: Die Rezipientin soll sich nun zunächst vorstellen, wie sie mit Christus durch einen Garten spaziere, dessen Blumen die Passion Christi versinnbildlichen (fol. 118v - 119r). Anschließend soll sie die monastischen Tugenden, die ihr durch die Gnade Gottes zuteilgeworden seien, als verschiedenfarbige Kleidungsstücke imaginieren, die sie durch Tugendausübung erwerben und anlegen kann (fol. 119r - 122r). Daran schließt wiederum eine längere handwerkliche Gebets- und Andachtsübung für eine einzelne Nonne an, die zur Fertigung eines Marienornats samt Schmuckgarnitur und analogen Kleidern für das Jesuskind anleitet (fol. 122v - 137r). Zwar stehen diese Textteile im Verbund mit dem Herzensempfang, werden hier jedoch, da sie das Feld der architektonischen Andachtsübung verlassen, nicht abgedruckt. Katalogbeschreibung: Pierre Schmitt: Manuscrits de la Bibliothèque de Colmar (Catalogue Général des Manuscrits des Bibliothèques Publiques de France 56), Paris 1969, S. 101. Bemerkungen zur Edition Der Text folgt der einzigen bekannten Handschrift Colmar, Bibliothèque des Dominicains, Ms. 267bis, fol. 98v - 118v (C). In der Handschrift rubrizierte Passagen sind durch Fettdruck hervorgehoben. Die Hervorhebung einzelner Worte oder nomina sacra durch Rubrizierung wird nicht gesondert gekennzeichnet; wo diese aber zur inhaltlichen Gliederung des Textes dienen, ist ein Absatz eingefügt. Der Bricolagecharakter des Textes lässt es angebracht scheinen, Bibelzitate auch im Editionstext zu kennzeichnen. Direkte lateinische Zitate sind durch doppelte Anführungszeichen gekennzeichnet; indirekte Zitate, insbesondere freie deutschsprachige Wiedergaben von Bibelstellen, hingegen durch einfache Anführungszeichen. Bei Bibelzitaten oder Referenzen auf liturgisches Textgut wurde ein Verweis in einfachen Klammern in 538 Editionsanhang <?page no="539"?> den Fließtext der Edition eingefügt. Alle übrigen identifizierbaren Zitate werden in den Anmerkungen zur Übersetzung identifiziert und erläutert. Prinzipiell orientiere ich mich bei der Übersetzung aller Bibelzitate eng an der Tusculum-Edition der Vulgata. Offensichtliche Verschreibungen (z. B. Kasusfehler und Wortdoppelungen) in den Bibelzitaten sind emendiert, wobei ich alle sinnverändernden Eingriffe durch Kursivdruck markiere und gegebenenfalls im Apparat erkläre. Sonstige Abweichungen vom Bibeltext, z. B. Kürzungen und sinnvolle grammatikalische Anpassungen, habe ich grundsätzlich beibehalten und nur in markanten Fällen eine Anmerkung hierzu beigefügt. Der Text der Handschrift gliedert lateinische Bibelzitate syntaktisch durch Rubrizierung, Virgeln, Hochpunkte und Majuskeln. Eine Wiedergabe dieser Zitate ohne moderne Interpunktion, wie sie die verwendete Ausgabe der Vulgata nahelegt, würde daher nicht nur der Lesbarkeit Abbruch tun, sondern auch der Gestalt des Textes in der Handschrift nicht entsprechen. Deshalb wird auch in den Bibelzitaten in Orientierung an den Gliederungszeichen der Handschrift interpungiert. In zweifelhaften Fällen wurde dabei auch die veraltete, aber durch Satzzeichen ergänzte Sixto-Clementina vergleichend herangezogen. 9 Geistlicher Herzensempfang 539 <?page no="540"?> Abkürzungsverzeichnis AH: Guido Maria Dreves, Clemens Blume (Hgg.): Analecta hymnica medii aevi, 55 Bd.e, Leipzig 1886 - 1922. AM: Alemannischer Marienmantel (Edition in diesem Band). AVES: Archives de la ville et de l ’ Eurométropole de Strasbourg BLB: Badische Landesbibliothek BNU: Bibliothèque nationale et universitaire BSB: Bayerische Staatsbibliothek Cantus ID: Cantus Index: Catalogue of Chant Texts and Melodies (online: https: / / cantusindex.org/ , Abruf 02.09.2023). Constructio: Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie (Edition in diesem Band). DVjs: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte DWB: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm u. a. (Hgg.): Deutsches Wörterbuch, 33 Bd.e, Stuttgart 1852 - 1971. GHE: Geistlicher Herzensempfang (Edition in diesem Band). GWH: Geistliches Weihnachtshaus (Edition in diesem Band). Hesbert: René-Jean Hesbert: Corpus antiphonalium Officii, 6 Bd.e, Rom 1963 - 1979. HK: Herzkloster mit Kommentartraktat (Edition in diesem Band). LexMA: Robert-Henri Bautier u.a (Hgg.): Lexikon des Mittelalters, 10 Bd.e, München/ Zürich 1977 - 1999. LThK: Walter Kasper u. a. (Hgg.): Lexikon für Theologie und Kirche, 3., völlig neu bearbeitete Aufl., 11 Bd.e, Freiburg i. Brsg. 1993 - 2001. Mantelpreis D: Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis (Edition in diesem Band). Mantelpreis L: Dominikus von Preußen: Lateinischer Mantelpreis (Edition in diesem Band). Marienlexikon: Remigius Bäumer u. Leo Scheffczyk (Hgg): Marienlexikon, 6 Bd.e, St. Ottilien 1988 - 1994. MR: Marien Rosenkranz, in: Marienlegenden aus dem Alten Passional, hg. v. Hans-Georg Richert, Tübingen 1965 (ATB 64), S. 115 - 130. Pallium: Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis (Edition in diesem Band). Patrologia Graeca: Jacques-Paul Migne (Hg.): Patrologiæ cursus completes … . series græca, 161 Bd.e, Paris 1857 - 1866. Patrologia Latina: Jacques-Paul Migne (Hg.): Patrologiæ cursus completus … , 217 Bd.e, Paris 1844 - 1855. PBB: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur RAC: Theodor Klauser u. a. (Hgg.): Reallexikon für Antike und Christentum, 31 B.de, Stuttgart 1950 - 2023 [noch fortlaufend]. RG: Dominikus von Preußen: Unser Frauwen Marien Rosengertlin, in: Klinkhammer 1972, S. 135 - 156. 4 RGG: Hans Dieter Betz u. a. (Hgg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1997 - 2007. Ripuarischer Marienmantel: Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln (Edition in diesem Band). RK: Dominikus von Preußen: Rosenkranzklauseln (deutsch), in: Klinkhammer 1972, S. 222 - 224. RK lat.: Dominikus von Preußen: Rosenkranzklauseln (lateinisch), in: Klinkhammer 1972, S. 198 - 202. <?page no="541"?> RLW: Harald Fricke u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bd.e, Berlin/ New York 1997 - 2003. TRE: Gerhard Müller u. a. (Hgg,): Theologische Realenzyklopädie, 36 Bd.e, Berlin/ New York 1977 - 2007. UB: Universitätsbibliothek WA: Martin Luther: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 119 Bd.e, Weimar 1883 - 2009. ZES: Dominikus von Preußen: Zwanzig-Exempel-Schrift, in: Klinkhammer 1972, S. 173 - 187. 2 VL: Gundolf Keil, Kurt Ruh u. a. (Hgg): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearbeitete Aufl., Berlin/ New York 1978 - 2008. ZfdA: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfdPh: Zeitschrift für deutsche Philologie Abkürzungsverzeichnis 541 <?page no="542"?> Literaturverzeichnis Primärtexte Aufgeführt sind sowohl kritische Ausgaben und Abdrucke vormoderner Texte als auch moderne literarische Werke, aus denen im Untersuchungsteil zitiert wird. Grundsätzlich ordne ich alphabetisch nach dem Namen der Verfasserin oder des Verfassers. Anonym überlieferte Werke sowie Sammeleditionen werden hingegen unter dem Namen der Herausgeberin oder des Herausgebers einsortiert, liturgische und ohne Herausgebernennung gedruckte Texte unter ihrem Titel. 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III. 1. 8° 39. Augsburg, Staats- und Stadtbibl., 2° Cod 160. Basel, UB, A XI 59. Basel, UB, B VII 10. Basel, UB, E III. 13. Berlin, SBB - PKB, mgf 19. Berlin, SBB - PKB, mgf 1257. Berlin, SBB - PKB, mgq 74. Berlin, SBB - PKB, mgq 76. Berlin, SBB - PKB, mgq 125. Berlin, SBB - PKB, mgq 405. Berlin, SBB - PKB, mgq 762. Berlin, SBB - PKB, mgq 1131. Berlin, SBB - PKB, mgq 1200. Berlin, SBB - PKB, mgo 517. Berlin, SBB - PKB, mgo 565. Bern, Burgerbibliothek, Cod. 737. Bloomington (Indiana), University Libr., Ricketts Ms. 198. Colmar, Bibliothèque des Dominicains, Ms. 267bis. Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 70. Darmstadt, Hessische Landesu. Hochschulbibl., Hs. 982. Dessau, Landesbücherei, Hs. Georg 70.8°. Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 710. Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 155. Freiburg i. Brsg., UB, Cod. 30. Freiburg i. Brsg., UB, HS 1500,30. Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. II 203. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 108. Heidelberg, UB, Cpg 350. Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtenthal 87. Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtenthal 103. Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen 362. Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen B VI 2. Karlsruhe, BLB, Cod. St. Peter perg. 82. Karlsruhe, BLB, Cod. St. Peter pap. 44. Kiel, UB, Cod. ms. Bord. 58. Kiel, UB, Cod. ms. Bord. 58A - C (3 Bd.e). Koblenz, Landesarchiv, Ms. Abt. 701, Nr. 130. Köln, Hist. Archiv, Ms. GBf 47. Köln, Hist. Archiv, GB 8° 133. Köln, Hist. Archiv, Ms. Wkf 112. 1 Ohne die Auflistung der Textzeugen des Herzklosters und verwandter Texte in Anm. 171 auf S. 321 f. Literaturverzeichnis 577 <?page no="578"?> Köln, Hist. Archiv, Ms. Wkf 119. Köln, Hist. Archiv, Ms. Wf 152. Leipzig, UB, Ms. 1548. Lindau, Ehemals Reichsstädtische Bibliothek, Cod. P I 30. Mainz, Stadtbibl., Ms. 300. Mainz, Stadtbibl., Ms. 322. München, BSB, Cgm 29. München, BSB, Cgm 73. München, BSB, Cgm 87. München, BSB, Cgm 127. München, BSB, Cgm 136. München, BSB, Cgm 139. München, BSB, Cgm 255. München, BSB, Cgm 454. München, BSB, Cgm 458. München, BSB, Cgm 484. München, BSB, Cgm 509. München, BSB, Cgm 519. München, BSB, Cgm 783. München, BSB, Cgm 831. München, BSB, Cgm 835. München, BSB, Cgm 856. München, BSB, Cgm 7241. München, BSB, Cgm 7264. München, UB, 8° Cod. Ms. 266. München, UB, 8° Cod. Ms. 269. Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent V, App. 81. Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VI 43 l . Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 43 e . Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 43 v (aufgebrochen und heute München, BSB, Cgm 8498; anderer Teil in Privatsammlung Gerhard Eis, Heidelberg, Cod. 108). Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 58. Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 98. Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VII, 42. Oxford, Bodleian Library, MS Germ. e. 22. Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. a III 9. Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, cod. b III 12. Sarnen, Bibliothek des Benediktinerkollegiums, Cod. membr. 96. Stanford, University Libraries, MSS CODEX 1181. Stanford, University Libraries, MSS CODEX 1209 T. Stuttgart, Landesbibl., cod. theol. et philos. 4° 190. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 591. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 967. St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 1014. Straßburg, BNU, ms. 2748. Straßburg, AVES, II 39/ 17. Trier, Stadtbibliothek, Ms. 622/ 1554. Trier, Stadtbibliothek, Ms. 750/ 298. Trier, Stadtbibliothek, Hs. 751/ 299. 578 Literaturverzeichnis <?page no="579"?> Trier, Stadtbibliothek, Hs. 1149/ 451. Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 3650. Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 4119. Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 4348. Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 4745. Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl., cod. Helmst. 367. Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl., cod. Helmst. 1251. Zürich, Zentralbibl., Ms. C 20. Zürich, Zentralbibl., Cod. C 96. Frühdrucke bis 1550 Alanus de Rupe: Van die nutticheyt ende edelheit des Vrouwen Souter, Utrecht: t. G., nach 30.05.1480 (GW M39208). Alanus de Rupe: De utilitate Psalterii Mariae, Gripsholm: Kartäuserkloster Mariefred 1498 (GW M39205). Bertholdus: Zeitglöcklein des Lebens und Leidens Christi; Ps.-Birgitta: 15 Gebete; Lob der Glieder Mariä, Basel: Johann Amerbach 1492, fol. 214r - 224v. (GW 4167). Lavacrum conscientiae. Augsburg: Anton Sorg, 1489 (GW 13877). Mantel unserer lieben Frauen, Ulm: Johann Zainer d. J., [um 1500] (GW M20668). Marien Rosenkrantz und psalter. Das güldin Rosenkrentzlin. Sant Anna br ů derschafft, Straßburg: Johann Prüss 1495 (GW M38921; Nachtr. 309). Michael Francisci ab Insulis: Quodlibet de veritate fraternitatis rosarii BMV, Köln: Arnold ter Hoernen 1480 (GW 10260). Psalter Marie, Ulm: Konrad Dinckmut 1483 (GW M39197). Rosenkranz unserer lieben Frauen, Basel: Martin Flach ca. 1475 (GW M38913). Jakob Sprenger: Statuten des Rosenkranzbruderschaft, Basel: Bernhard Richel 1476 (GW M43168). Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1476 (GW M43164). Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1477 (GW M38911). Literaturverzeichnis 579 <?page no="581"?> Autoren- und Werkregister A Acht Verse St. Bernhards 367 Adelphus, Johannes 531 Adolf von Essen 130, 132 - 137, 139 f., 151, 169 Alanus von Rupe 99, 115, 127, 134, 157, 176, 183 f., 196, 214, 216, 336, 399 - Tractatus apologeticus 27, 101, 104, 130, 157 - 161, 163 - 170, 173, 175 - 178, 185 Albert von Dießen 321 Albertus Magnus 481 Alemannischer Marienmantel 27, 208 f., 223 - 230, 232 - 257, 260 f., 269, 274 f., 283, 361, 365, 399, 408 Alexander von Forli 192 Ambrosius 417 Anselm von Canterbury 50, 147, 310 Augsburger Marienklage 477 Augustinus, Aurelius 92, 252, 285, 294, 304, 311, 350, 376, 417 - De civitate dei 527 - De vera religione 285 - Enarrationes in Psalmos 39, 47 - In Iohannis evangelium tractatus CXXIV 533 B Bartholomäus Tridentinus 221 Beda Venerabilis 170 Benedikt von Nursia 170 Benediktsregel 38 f., 47 f., 54 f., 92, 321, 381, 383, 509, 511 Bernhard von Clairvaux 55 f., 62, 162 f., 170, 173, 252, 296, 310, 315, 350, 385, 388, 483, 511, 537 Bernhardin von Siena 163, 481, 484 Birgitta von Schweden 163, 222, 367 Bömlin, Konrad 477 Bonaventura 67, 421 Bordesholmer Marienklage 249 Bridoul, Toussain 279 Bruderschaftsbuch der Straßburger Ursulabruderschaft 359 - 361, 368 Buch von geistlicher Armut 421, 477 C Caesarius von Heisterbach 218 - Dialogus miraculorum 116, 219 f., 267, 459 Cassianus, Johannes 36 Celan, Paul 12 Christi Leiden in einer Vision geschaut 50, 148 Christina von Hane 118 f. Von einem christlichen Leben 94, 323, 473, 476 - 484 Christus und die minnende Seele 479 Cioran, Emil M. 11 f. Claustrum anime cum dispositione officiorum et officialium suorum 318, 341 f. Colmarer Paradiesgarten 388, 538 D David von Augsburg 40 - De exterioris et interioris hominis compositione 286 - Die Sieben Staffeln des Gebets 37, 40 - 42, 376 - Novizentraktat 321, 480 f. Dietrich von Apolda 221 Disput zwischen der minnenden Seele und unserem Herren 479 Dominikus von Preußen 130, 137, 258, 336, 369 - Constructio domus sive aule Marie 28, 93, 277, 369 - 371, 373 f., 376 - 380, 400, 488 - Corona gemmaria 130, 132, 134 - 136, 139, 141, 151, 258, 273, 369, 375 - Lateinischer Mantelpreis 222, 259, 438 - Liber experientiae 109 f., 124, 130 - 133, 135 f., 138 - 141, 152, 169, 175, 226 - Pallium beate Marie virginis 27, 130, 225, 227, 234, 236, 250, 259 - 275, 361, 372, 399, 422 - Ripuarischer Mantelpreis 259, 265 f., 446 - Ripuarischer Marienmantel 259, 267 f., 272 - 274, 458 - Rosengertlin 124, 132 f., 136, 151 - 155, 162, 190 - Rosenkranzklauseln 27, 72, 101 f., 109 f., 124 f., 128, 130 - 135, 137 f., 142 - 152, 155, 157, 159, 170, 183, 190, 197, 283, 375, 384, 399, 436 - Zwanzig-Exempel-Schrift 124 - 127, 132, 135 f., 141 f., 149 - 151, 177, 214 E Ebner, Margaretha 379 Eckhart, Meister 34, 44, 321, 352, 356, 380, 477 <?page no="582"?> Eleonore von Österreich (Herzogin von Mantua) 279 Eleonore von Portugal 194 Elisabeth von Schönau 420 Elsbeth von Oye 321 Engelberger Gebetbuch 51, 81 f., 86, 164 Engelberger Predigten 321 Evagrius Ponticus 35 F Fegefeuer des heiligen Patricius 480 Francisci, Michael 125 f., 171, 180 - 186, 191 - 193, 198, 336 Friedrich III. (Kaiser) 194 G Gautier de Coincy 219 Gebetbuch von Muri 50 Geistliche Geißel 483 Geistliche Klause 345, 352 - 356 Geistliche Padstube 362 - 367, 369, 400 Geistliche Weinrebe 396 Geistlicher Fastnachtskrapfen 480 Geistlicher Herzensempfang 72, 277, 387 f., 390 - 392, 400 Geistliches Haus 28, 346 - 352 Geistliches Mühlenlied 395 Geistliches Weihnachtshaus 28, 381 - 387 Geistliches Weizenkorn 396 Gelenius, Aegidius 194 Gemahelschaft Christi mit der andächtigen Seele 476, 480, 482 Gerardus de Fracheto 221 Gerson, Jean 321 Gertrud von Helfta 63, 163, 321, 329, 368 - Exercitia spiritualia 298 f. - Legatus divinae pietatis 210 - 213, 297 f. Goldwaage der Stadt Jerusalem 323, 476 - 484 Gregor der Große 417 Gregor von Tours 219 Guigo der Kartäuser 36, 41 H Hartwig von Erfurt 481 Der Heiligen Leben 420 Heinrich der Klausner 203 - Marienmirakel 27, 111, 203 - 208, 214, 399 Heinrich von Dissen 436 Heinrich von Langenstein, Erkanntnus der Sünd 322 Heinrich von St. Gallen 479, 483 f. Heinrich von Werle 436 Hermetschwiler Gebetbuch 20, 81 - 86 Herzkloster 28, 290, 315 - 323, 325 - 330, 332 f., 338, 340 - 344, 352, 400, 468, 477 - 479, 481 Hieronymus 417 Des hilghen gheystes closter 332 - 334 Hugo von Folieto, De claustro animae 312 - 315 Hugo von St. Viktor 38, 57, 68, 310 f. - De arca Noe morali 295, 298, 308 f., 311, 314, 377 - De arca Noe mystica 308 f. - De modo orandi 35 f., 56 f., 72, 78 Humbert von Romans 337 f., 378, 533 I Introduxit me Rex (anonyme Predigt) 329 f. J Jacobus de Cessolis, Schachzabelbuch 322 Jacobus de Gruytrode 364 Johannes von Braunschweig 436 Johannes von Damaskus 34 f. Johannes von Fécamp 50 Johannes von Indersdorf 258, 321, 479, 481, 485 Johannes von Kastl 477 Johannes von Lindau 359 Johannes von Neumarkt 20, 484 K Karl der Kühne (Herzog von Burgund) 180 Kommentartraktat zum Herzkloster 322 - 326, 345, 468 Konrad von Würzburg, Die goldene Schmiede 120 Konrad, Priester, Predigtbuch 330 Kreutzer, Johannes 357, 363 Kreuztragende Minne 479 Die Krone unserer lieben Frau mit den zwölf Sternen 413 L Langmann, Adelheid 53 f. Lavacrum conscientiae 364 Liber ordinarius der Essener Stiftskirche 251 Lidwina von Schiedam 420 Ludolf von Sachsen 148, 163 Luther, Martin 192, 222, 264, 279, 285 M Marcus von Weida 126, 171, 192 582 Autoren- und Werkregister <?page no="583"?> Mardach, Eberhard 482 f. Margareta Ursula von Masmünster, Geistliche Meerfahrt 337 Margret von Zürich 382 Marien Rosengarten 117 f., 120 Marien Rosenkranz 27, 101, 103, 108 - 127, 129 f., 141 f., 151 f., 169, 183, 230, 399 Marquard von Lindau 321, 477, 479, 482 f. Matthäus von Krakau 321, 476 Maximilian I. (Kaiser) 194 Mechthild von Hackeborn 135, 148, 154, 163, 291 - 294, 296 f., 301, 420, 429, 436 Mechthild von Magdeburg 64, 78, 137, 209 f., 293, 296, 328 f. Meister Eckharts Wirtschaft 421 Meliora sunt ubera tua vino (Hoheliedauslegung) 484 Merswin, Rulman 483 - Neunfelsenbuch 379 Meyer, Johannes - Amptbuch 336 f. - Buch der Ersetzung 290, 335 - 345, 360 - Buch der Reformacio Predigerordens 336 Mönch von Heilbronn 321 Murner, Thomas 363 N Neuweiler, Johannes 359, 361 Nider, Johannes 321, 480 O Origenes 59 f., 79 f., 116, 249 Öser, Irmhart 321 Otto von Passau 321, 479 Ovid 103 P Paradisus animae (Traktat) 478, 482 Passional 28, 110 - 112, 203, 292 Peter von Celle 310 Petrus Lombardus 533 Pfullinger Liederhandschrift 363 Pius V. (Papst) 104, 129 Prudentius, Psychomachie 304 - 307, 317 Ps-Engelhart von Ebrach 284 - Buch der Vollkommenheit 283 R Rilke, Rainer Maria 33 f., 42 Rodt, Stephan 279 S Schwabenspiegel 218 Sechs Stücke zu einem christlichen Leben 476, 480, 482 - 484 Seelenbad 367 - 369 Seuse, Heinrich 141, 175, 477, 480 - Büchlein der ewigen Weisheit 50, 60 - 62, 64 - 66, 70, 148, 175, 321, 481, 483 - Horologium sapientiae 61, 141, 321, 379, 476, 480 - 484 - Vita 167, 173, 236, 376, 479 Von der Siebenzahl 476, 483 Sigismund (Herzog von Bayern) 195 Sixtus IV. (Papst) 192 Speculum artis bene moriendi 481 Speculum peccatoris 484 Sprenger, Jakob 124, 181, 183 - 185, 188 - 191, 193 f., 336 St. Galler Weihnachtsspiel 321 Staffeln der Geduld 476, 481, 483 Stimulus amoris 323, 483 f. Stoeckhlin, Chonrad 279 T Tauler, Johannes 34 f., 37 f., 70, 477, 480, 483 Teresa von Ávila 222 Tertullian 46, 88, 91 Thomas von Aquin 533 Thomas von Cantimpré, Bonum universale de apibus 220 f. Thomas von Celano 307 Thomas von Irland 527 Thomas von Kempen 477 Tiroler Christenspiegel 355 Tochter-Sion-Traktat 479 Tösser Schwesternbuch 382 Tractatus de interiori domo 162, 309 - 312, 314 Traktat vom dürren, grünen und goldenen Gebet 483 Tundalus 477 V Väterbuch 236 Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi 20, 75, 236 Visio Fursei 477 Vision auf das Jahr 1401 479 Vitaspatrum 321 Autoren- und Werkregister 583 <?page no="584"?> W Wienhäuser Liederbuch 395 Wilhelm III. der Tapfere (Herzog von Sachsen) 195 Wilhelm von Auvergne 59 f., 65 f. Wirtnerin, Agnes 389, 538 Z Zehn Staffeln der Demut 323, 476, 480 - 483 Zwölf Räte Christi 239, 411, 421 584 Autoren- und Werkregister <?page no="585"?> Bibliotheca Germanica Handbücher, Texte und Monographien aus dem Gebiete der germanischen Philologie herausgegeben von Udo Friedrich, Susanne Köbele und Henrike Manuwald Die Buchreihe Bibliotheca Germanica wurde im Jahre 1951 von Friedrich Maurer, Heinz Rupp und Max Wehrli im Francke-Verlag Bern (jetzt: Tübingen) begründet. Seither versammelt die Bibliotheca Germanica Arbeiten der germanistisch-mediävistischen Grundlagenforschung in Texteditionen, materialerschließenden Monographien und textanalytisch-kulturhistorischen Studien. In enger Verbindung von Überlieferungsgeschichte, Textphilologie, kulturwissenschaftlicher Theoriebildung und komparatistischen Interessen vermitteln die in der Bibliotheca Germanica erscheinenden Arbeiten innovative Einsichten in die Textentstehungsprozesse, die Typenspezifik und die poetologischen Besonderheiten der deutschen Literatur der Vormoderne. Aktuelle Bände: http: / / www.narr-shop.de/ reihen/ b/ bibliothecagermanica.html 47 Michael Stolz Artes-liberales-Zyklen Formationen des Wissens im Mittelalter (2 Bände) 2003, XX, 992 Seiten €[D] 248,- ISBN 978-3-7720-2038-4 48 Bruno Quast Vom Kult zur Kunst Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit 2003, 237 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8019-7 49 Sandra Linden Kundschafter der Kommunikation Modelle höfischer Kommunikation im ‹Frauendienst› Ulrichs von Lichtenstein 2004, X, 451 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8045-6 50 Andreas Kraß Geschriebene Kleider Höfisches Identität als literarisches Spiel 2006, X, 421 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8129-3 51 Annette Gerok-Reiter Individualität Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik 2006, X, 350 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8169-9 52 Henrike Manuwald Medialer Dialog Die «Große Bilderhandschrift» des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte 2008, X, 638 Seiten €[D] 148,- ISBN 978-3-7720-8260-3 53 Justin Vollmann Das Ideal des irrenden Lesers Ein Wegweiser durch die ‹Krone› Heinrichs von dem Türlin 2008, X, 272 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8311-2 <?page no="586"?> 54 Bernd Bastert Helden als Heilige Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum 2010, X, 492 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8356-3 55 Balázs J. Nemes Von der Schrift zum Buch - vom Ich zum Autor Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des ‹Fließenden Lichts der Gottheit› Mechthilds von Magdeburg 2010, X, 555 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8362-4 56 Tanja Mattern Literatur der Zisterzienserinnen Edition und Untersuchung einer Wienhäuser Legendenhandschrift 2011, X, 446 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8375-4 57 Rachel Raumann Fictio und historia in den Artusromanen Hartmanns von Aue und im «Prosa-Lancelot» 2010, X, 330 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8376-1 58 Christiane Krusenbaum-Verheugen Figuren der Referenz Untersuchungen zu Überlieferung und Komposition der ‹Gottesfreundliteratur› in der Straßburger Johanniterkomturei zum ‹Grünen Wörth› 2013, X, 685 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8476-8 59 Stefan Matter Reden von der Minne Untersuchungen zu Spielformen literarischer Bildung zwischen verbaler und visueller Vergegenwärtigung anhand von Minnereden und Minnebildern des deutschsprachigen Spätmittelalters 2013, XII, 569 Seiten, 48 Farbtafeln €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8477-5 60 Astrid Lembke Dämonische Allianzen Jüdische Mahrtenehenerzählungen der europäischen Vormoderne 2013, 400 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8498-0 61 Coralie Rippl Erzählen als Argumentationsspiel Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition 2014, XII, 390 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8528-4 62 Anna Kathrin Bleuler Essen - Trinken - Liebe Kultursemiotische Untersuchung zur Poetik des Alimentären in Wolframs ‹Parzival› 2016, X, 351 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8541-3 63 Hans Rudolf Velten Scurrilitas Das Lachen, die Komik und der Körper in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit 2017, 538 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8541-3 64 Susanne Bernhardt Figur im Vollzug Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der ‹Vita› Heinrich Seuses 2016, 330 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8543-7 65 Cordula Kropik Gemachte Welten Form und Sinn im höfischen Roman 2018, 380 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8559-8 <?page no="587"?> 66 Daniel Eder Der Natureingang im Minnesang Studien zur Register- und Kulturpoetik der höfischen Liebeskanzone 2016, 458 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8592-5 67 Henrike Manuwald Jesus und das Landrecht Zur Realitätsreferenz bibelepischen Erzählens in Hoch- und Spätmittelalter 2018, 469 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8593-2 68 Margit Dahm-Kruse Versnovellen im Kontext Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften 2018, 392 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8646-5 69 Ramona Raab Transformationen des dû im Text Predigten Meister Eckharts und ihr impliziter Adressat 2018, 182 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8633-5 70 Thomas Poser Raum in Bewegung Mythische Logik und räumliche Ordnung im ›Erec‹ und im ›Lanzelet‹ 2018, 238 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8645-8 71 Bent Gebert Wettkampfkulturen Erzählformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters 2019, 510 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8653-3 72 Linus Möllenbrink Person und Artefakt Zur Figurenkonzeption im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg 2020, 514 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-7720-8707-3 73 Verena Spohn Vom Du erzählen Die Du-Anrede als narrative Strategie in volkssprachlichen religiösen Texten des späten Mittelalters 2023, 366 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8704-2 74 Hannah Rieger Die Kunst der ›schönen Worte‹ Füchsische Rede- und Erzählstrategien im Reynke de Vos (1498) 2021, 282 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8736-3 75 Eva Locher Kohärenz und Mehrdeutigkeit Vergleichende Fallstudien zur Poetik der Sangspruchdichtung Rumelants von Sachsen 2021, 278 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8752-3 76 Laura Velte Sepulkralsemiotik Grabmal und Grabinschrift in der europäischen Literatur des Mittelalters 2021, 264 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8753-0 77 Sebastian Winkelsträter Traumschwert - Wunderhelm - Löwenschild Ding und Figur im Parzival Wolframs von Eschenbach 2022, 396 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8774-5 78 Linus Ubl Konstruktion und Manifestation von ‚Frauenmystik’ Rezeptionsdynamiken in der oberdeutschen Überlieferung des Liber specialis gratiae 2023, 314 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8790-5 79 Björn Klaus Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration 2024, 5 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-7720-8792-9 <?page no="588"?> Gebete und Andachtsübungen zählen zu den am zahlreichsten überlieferten Texten des Spätmittelalters, wobei große Teile dieses vielfältigen Korpus bislang weitgehend unerforscht bleiben. Björn Buschbeck versucht, hier eine Lücke zu schließen, indem er schlaglichtartig drei Untergattungen aus diesem Feld in den Fokus rückt: Nacheinander werden mittelalterliche Rosenkranztexte, Gebetskleider für Maria und frömmigkeitspraktisch herzustellende innere Häuser sowohl literaturhistorisch als auch in Bezug auf ihre Rezeptionsangebote für ein zeitgenössisches Publikum untersucht. Dabei arbeitet der Autor hervor, wie diese Texte ein Programm sprachlicher Heilsvermittlung entfalten, das Strategien der Bildrede, immersive Wirkungsästhetiken sowie vom Text angeleitete Dynamiken der Figuration kombiniert. Ersteditionen einer Auswahl zentraler Primärtexte sind der Studie als Anhang beigegeben. ISBN 978-3-7720-8792-9 Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser BIBL. GERM. 79 Björn Klaus Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration
