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Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser

Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration

0826
2024
978-3-7720-5792-2
978-3-7720-8792-9
A. Francke Verlag 
Björn Klaus Buschbeckhttps://orcid.org/0009-0002-2363-5634
10.24053/9783772057922
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Gebete und Andachtsübungen zählen zu den am zahlreichsten überlieferten Texten des Spätmittelalters, wobei große Teile dieses vielfältigen Korpus bislang weitgehend unerforscht bleiben. Björn Buschbeck versucht, hier eine Lücke zu schließen, indem er schlaglichtartig drei Untergattungen aus diesem Feld in den Fokus rückt: Nacheinander werden mittelalterliche Rosenkranztexte, Gebetskleider für Maria und frömmigkeitspraktisch herzustellende innere Häuser sowohl literaturhistorisch als auch in Bezug auf ihre Rezeptionsangebote für ein zeitgenössisches Publikum untersucht. Dabei arbeitet der Autor hervor, wie diese Texte ein Programm sprachlicher Heilsvermittlung entfalten, das Strategien der Bildrede, immersive Wirkungsästhetiken sowie vom Text angeleitete Dynamiken der Figuration kombiniert. Ersteditionen einer Auswahl zentraler Primärtexte sind der Studie als Anhang beigegeben.

Schweizerischer Nationalfonds10.13039/501100001711
<?page no="0"?> Gebete und Andachtsübungen zählen zu den am zahlreichsten überlieferten Texten des Spätmittelalters, wobei große Teile dieses vielfältigen Korpus bislang weitgehend unerforscht bleiben. Björn Buschbeck versucht, hier eine Lücke zu schließen, indem er schlaglichtartig drei Untergattungen aus diesem Feld in den Fokus rückt: Nacheinander werden mittelalterliche Rosenkranztexte, Gebetskleider für Maria und frömmigkeitspraktisch herzustellende innere Häuser sowohl literaturhistorisch als auch in Bezug auf ihre Rezeptionsangebote für ein zeitgenössisches Publikum untersucht. Dabei arbeitet der Autor hervor, wie diese Texte ein Programm sprachlicher Heilsvermittlung entfalten, das Strategien der Bildrede, immersive Wirkungsästhetiken sowie vom Text angeleitete Dynamiken der Figuration kombiniert. Ersteditionen einer Auswahl zentraler Primärtexte sind der Studie als Anhang beigegeben. ISBN 978-3-7720-8792-9 Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser BIBL. GERM. 79 Björn Klaus Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, SUSANNE KÖBELE UND HENRIKE MANUWALD 79 <?page no="3"?> Björn Klaus Buschbeck Rosenkränze, Marienmäntel, Seelenhäuser Gebets- und Andachtsübungen des Spätmittelalters zwischen Bildrede, Immersion und Figuration <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Dr. Björn Klaus Buschbeck Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich bjoern.buschbeck@ds.uzh.ch https: / / orcid.org/ 0009-0002-2363-5634 DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057922 © 2024 · Björn Klaus Buschbeck Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8792-9 (Print) ISBN 978-3-7720-5792-2 (ePDF) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall . . . 11 I Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug: Wirkungsästhetische Dimensionen von Hinkehr, Eintauchen und Nachbildung 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes: Facetten eines mittelalterlichen Begriffs von Gebet und Andacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott . . . . . . . . 44 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität . . . . 59 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 72 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 II Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen: Der Rosenkranz im Spätmittelalter 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur 99 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit . . . . 105 2.1 Ein Wunder als Ursprungserzählung: Gebetsblumen im Mirakel Marien Rosenkranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.2 Nachahmung und Gebrauch: Die Rezeption von Marien Rosenkranz im 15. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 129 3.1 Quellenlage und Forschungssituation zum Trierer Rosenkranzkorpus . . . . 131 3.2 Das Vorbild des geläuterten Sünders? Dominikus von Preußen als Autorfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.3 Heilsereignisse als Blumen der Betrachtung: Die Trierer Rosenkranzklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.4 Blumenfigurationen des Betens: Der Rosengertlin-Traktat . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.1 Feste Form und freie Imagination: Alanus ’ Marienpsalter . . . . . . . . . . . . . . . . 160 <?page no="6"?> 4.2 Traditionskonstruktion und Visionsberichte im Tractatus apologeticus . . . . 169 4.3 Vergemeinschaftetes Beten: Alanus ’ Schilderung seiner fraternitas . . . . . . . 176 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.1 Übernahme oder Modifikation eines Gemeinschaftsmodells? Die Kölner Bezüge zu Alanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.2 Die Bruderschaft als Organisationsform der gegenseitigen Fürbitte . . . . . . . 187 5.3 Mitgliedschaft und Entwicklung der Kölner Rosenkranzbruderschaft . . . . . 193 6 Ausblick: Basisaspekte › handwerklichen Betens ‹ im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 198 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners . . 203 1.1 Lebens- und Blumenkleider: Geistliche Textilien in der Helftaer Mystik . . 209 1.2 Anspruchsvolle Fertigungen: Gebetskleider in Mirakeln des 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1.3 Das Bildmotiv der Schutzmantelmadonna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel . . . . . . . . . . . 223 2.1 Mit Worten weben: Der Marienmantel als geistliches Werkstück . . . . . . . . 227 2.2 Zählendes Beten als Herstellungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2.3 Geistliche Arbeitsteilung: Partizipationsangebote des Mantelgebets . . . . . . . 234 2.4 Zählen und Erinnern: Strategien der Vermittlung von Glaubensinhalten . 238 2.5 Allegorische Dimensionen des Mantelgebets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2.6 Marias Tempelgang im Gebetsornat: Eine innere Prozession als Reinszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3.1 Sublime Arbeiten und die überstoffliche Materialität der Gebete . . . . . . . . . 259 3.2 Fertigungsdynamiken: Göttliche Werkmeisterschaft und menschliches Unvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3.3 Egalisierte Frömmigkeit? Die Gebetsgemeinschaft des Pallium . . . . . . . . . . . 266 3.4 Autorisierung durch Typologie: Das Bundeszelt als Präfiguration des Marienmantels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3.5 Erhoffte Heilswirkungen: Der Marienmantel als Instrument der Gnade . . 271 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild . . . . . 276 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 6 Inhaltsverzeichnis <?page no="7"?> 2 Figuren des Ineinander: Innere Gebäude in der Helftaer Mystik . . . . . . . . . . . . . . . 291 2.1 Visionen göttlicher Einwohnung: Herzenshäuser im Liber specialis gratiae 291 2.2 Wörtliche › Erbauung ‹ : Die Konstruktion einer inneren Arche bei Gertrud von Helfta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2.3 Grunddynamiken geistlicher Architekturtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 3 Allegorische Architekturen: Herzensklöster und Tugendtempel . . . . . . . . . . . . . . . . 304 3.1 Am Beginn einer Allegorietradition: Der Tempelbau in der Psychomachie des Prudentius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 3.2 Mnemotechnik und Tugendlehre: Innere Bauarbeiten in der lateinischen Traktatliteratur des Hochmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3.3 Ein Vorbild für das eigene Innere: Die volkssprachigen Herzkloster-Texte. 315 3.4 Herzklosterallegorien im Kontext von Predigt- und Offenbarungsliteratur 328 3.5 Programme der Erbauung: Traktate und allegorische Erzählungen vom Herzkloster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 3.6 Strenge Klausur des Inneren: Die Herzklosterallegorie in Johannes Meyers Buch der Ersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 3.7 Geistliches Haus und Geistliche Klause: Die Vielfalt innerer Architekturen in der volkssprachigen Traktatliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4 Architektonische Gebete und Andachten: Imaginierte Funktionsgebäude für die Frömmigkeitspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 4.1 Gebetete Architekturen im Verbund: Die Straßburger Ursulabruderschaft . 359 4.2 Ein Gebetsgebäude zur Sündenreinigung: Die Geistliche Padstube der Birgitten von Altomünster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 4.3 Sublime Stofflichkeit und Mehrdimensionalität allegorischer Betrachtung: Die Constructio domus sive aule Marie des Dominikus von Preußen . . . . . . 369 4.4 Adventsvorbereitung auf die Eingeburt Christi: Das Geistliche Weihnachtshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4.5 Eucharistievorbereitung als Inneneinrichtung der Seele: Der Geistliche Herzensempfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 5 Ausblick: Architektonische Interiorität und die Vielfalt des Erbaulichen . . . . . . . 394 Zusammenfassende Schlussbemerkungen Editionsanhang Vorbemerkung: Allgemeine Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 1 Alemannischer Marienmantel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Inhaltsverzeichnis 7 <?page no="8"?> 2 Dominikus von Preußen: Pallium beate Marie virginis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 3 Dominikus von Preußen: Lateinischer Mantelpreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 4 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Mantelpreis mit marianischem Te Deum . 446 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 5 Dominikus von Preußen: Ripuarischer Marienmantel mit Exempeln . . . . . . . . . . . 458 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 6 Herzkloster mit Kommentartraktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 7 Dominikus von Preußen: Constructio domus sive aule Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 8 Geistliches Weihnachtshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 9 Geistlicher Herzensempfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Bemerkungen zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Autoren- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 8 Inhaltsverzeichnis <?page no="9"?> Vorbemerkung Die Grundlage der vorliegenden Studie bildet eine Dissertation, die ich im Sommer 2021 am German Department der Stanford University einreichte. Mein großer Dank gilt zunächst meiner Doktormutter Kathryn Starkey sowie meiner Zweitbetreuerin Fiona Griffiths, ohne deren anhaltende Unterstützung diese Arbeit wohl nie zustande gekommen wäre. Zudem möchte ich mich sehr herzlich bei Susanne Köbele, Henrike Manuwald und Udo Friedrich bedanken, die nicht nur einwilligten, dieses Buch in die Bibliotheca Germanica aufzunehmen, sondern auch mit wertvollen Anmerkungen zu seiner Überarbeitung für den Druck beitrugen. In Stanford bot mir während meiner Promotionszeit das interdisziplinäre Center for Medieval and Early Modern Studies (CMEMS) das inspirierendste akademische Umfeld, das ich mir nur hätte wünschen können. Insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen Robert Forke, Chris Hutchinson, Courtney Hodrick, Mae Lyons-Penner, Leonardo Grao Velloso Damato Oliveira, Landon Reitz, Andrea Capra, Emily Goodling, Victoria Zurita und Johannes Junge Ruhland prägten das Forschen unter der kalifornischen Sonne fachlich ebenso wie menschlich. Wichtige intellektuelle Impulse gab (oft sehr früh am Morgen) Hans Ulrich Gumbrecht. Amir Eshel übernahm die Drittbegutachtung und regte an, gelegentlich auch übers Mittelalter hinaus Brücken zu schlagen. Kathleen Smith und John Mustain teilten großzügig ihre buchgeschichtliche Expertise. Für die Zwischenverteidigung der Dissertation stellte sich als externer Gutachter freundlicherweise Niklaus Largier zur Verfügung, dessen Hinweise diese Arbeit entscheidend prägten. Gespräche mit Burkhard Hasebrink, der während meines Studiums mein Interesse an geistlicher Literatur erst geweckt hatte, gaben immer wieder den Anstoß zu Gedanken, die sich schließlich in den folgenden Kapiteln niederschlugen. Almut Suerbaum, Annette Volfing und Nigel F. Palmer eröffneten mir in Oxford ungeahnte Perspektiven auf die mittelalterliche Gebetbuchliteratur. In einer von Johanna Thali kundig betreuten Freiburger Masterarbeit konnte ich Grundvektoren, die hin zu der vorliegenden Untersuchung führten, erstmalig ausprobieren. Während einer Vertretung in Freiburg im schwierigen Pandemiewinter 2020/ 21 schufen Martina Backes und Racha Kirakosian den nötigen Freiraum, um diese Studie fertigzustellen. Ihnen sei hierfür ebenso gedankt wie auch Christian Kiening und meinen Zürcher Kolleginnen und Kollegen, die mir bei der Überarbeitung stets mit fachlichem Rat zur Seite standen. Der Schweizerische Nationalfond (SNF) ermöglichte finanziell großzügig die Drucklegung dieses Buches. Mareike Elisa Reisch schließlich korrigierte nicht bloß neben ihrer eigenen Forschung auch noch meine Manuskriptseiten, sondern begleitete scharfsinnig jeden Schritt hin zu diesem Buch. Nicht nur hierfür bin ich ihr zutiefst dankbar. Zürich, im Mai 2024 <?page no="11"?> Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall »Ich sehe den Tag kommen, an dem wir nur noch Telegramme und Gebete lesen werden.« 1 Diese Worte finden sich an recht unwahrscheinlicher und unmittelalterlicher Stelle, in der Schlusspassage eines geschichtsphilosophischen Aufsatzes des rumänischen Kulturkritikers Emil M. Cioran (1911 - 1995), der in den 1950er Jahren unter dem Eindruck der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts entstand. Sowohl Ciorans Unbehagen angesichts der ideologischen Expansionsbestrebungen des Sowjetkommunismus, dem die zeitgenössischen Intellektuellenzirkel im Pariser Exil des Autors oftmals blinde Begeisterung entgegenbrachten, als auch eine bereuende Reflexion der eigenen Verstrickungen in die rumänische politische Rechte, von der Cioran sich als Student zeitweilig hatte enthusiasmieren lassen, bilden die Hintergrundfolie des dichten Textes. 2 Gebet und Telegramm werden in dem zitierten Schlüsselsatz des Essays gleichermaßen parallelisiert wie als komplementäre Gegensätze begriffen. Denn als direkte Hinwendungen zum entweder Immanenten oder Transzendenten verkörpern, so Cioran, diese beiden Textformen sich ergänzende Pole eines kulturellen Spannungszustands, an dem »nur noch die Fragen der Strategie und der Metaphysik Interesse« verdienten, also »diejenigen, die uns in die Geschichte einfügen, und diejenigen, die uns ihr entreißen: die Aktualität und das Absolute, die Zeitung und die Evangelien«. 3 Der Bezug auf das nie begreifliche, stets unverfügbare Überweltliche, den das Gebet herstellt, erweist sich in diesem Zusammenspiel als reflektierendes Heraustreten aus dem Geschichtlichen, als zumindest partieller Ausweg aus dem Zugriff der immer unbedingteren Geltungsansprüche innerweltlicher Utopien, jener »Groteske[n] i n R o s a «, 4 an deren totalitäre Neigungen Cioran inständig mahnte. Dabei erscheint ihm das auf den Sog dieser immanenzfokussierten Ideologien reagierende, stets aber wiederum selbst unter Absolutierungsgefahr stehende »Bedürfnis, uns auf die Gegenseite zu stellen, so daß wir innerhalb des gleichen Augenblicks in der Welt und außerhalb der Welt leben«, 5 beinahe als Hoffnungsmoment - denn das »Unzerstörbare, das Anderswo, bleibt denkmöglich« allein im Aufrechterhalten dieser Bindung ans je unwissbare Heilige. 6 Es darf erstaunen, dass diese ambivalente Prognose, die angesichts der Wirkmächtigkeit von Tweets und Posts auch nach dem Aussterben des Telegramms als Kommunikationsmedium einen Aktualitätsbezug bewahrt, sich in prominenter Position im Werk eines vehement skeptizistischen Denkers der späten Moderne findet, dessen Verhältnis zum 1 E. M. Cioran: Russland und das Virus der Freiheit [zuerst 1958], in: Ders: Geschichte und Utopie, aus dem Französischen übers. v. Kurt Leonhard, Stuttgart 1965, S. 28 - 45, hier S. 45. 2 Siehe zu diesem Hintergrund Patrice Bollon: Cioran, der Ketzer, aus dem Französischen v. Ferdinand Leopold, Frankfurt a. M. 2006, S. 161 - 183. Bollon fasst Geschichte und Utopie als Ciorans politische Einsicht auf, »daß ein seines Namens würdiges Denken genau das Gegenteil dessen darstellt, woran er in seiner Jugend geglaubt hatte« (ebd., S. 136). 3 Cioran 1965, S. 45. 4 Ebd., S. 38. Hervorhebung im Original. 5 Ebd., S. 45. 6 Ebd., S. 44 f. <?page no="12"?> christlichen Glauben als hochgradig widersprüchlich gelten muss. 7 Ausdruck gab Cioran, zugleich Bewunderer Nietzsches und der spätmittelalterlichen Mystik, 8 seiner zwiespältigen Haltung zur Religion zumeist nur durch die negatio negationis, die er in seiner etwas früheren Lehre vom Zerfall in aufschlussreicher Weise eben gerade als Gebet formuliert: »Herr, verleihe mir die Gabe, niemals zu beten, bewahre mich vor der Unsinnigkeit der Anbetungen, wende sie von mir ab, jene Versuchung zur Liebe, die mich dir ausliefern würde auf immer und ewig.« 9 Ihre sprachliche Form, ohne die es scheinbar nicht geht, verneint die durch diese Zeilen vorgebrachte Verneinung - was stehen bleibt, ist das Gebet als Text und die Faszination angesichts der von ihm gebotenen Potentiale der Entfaltung und Erzeugung von Sinn, Affekt, Bindung, Ausdruck und Eindruck. »Die Hölle,« so bringt es der Autor an anderer Stelle auf die Spitze, »das ist die Unvorstellbarkeit des Gebets.« 10 Mit diesen Rückgriffen auf das Gebet stand Cioran unter seinen Zeitgenossen nicht allein. Auch sein erster Übersetzer aus dem Französischen, der jüdisch-deutschsprachige Dichter Paul Celan (1920 - 1970), verlieh mit dem programmatisch betitelten Gedicht Psalm einem nach den Katastrophen von Zweitem Weltkrieg und Schoah gebrochenen Neubezug auf das Sakrale eine prägnante Gestalt, die Lobgebet und moderne Lyrik eindrücklich engführt: Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unseren Staub. Niemand. Gelobt seist du, Niemand. Dir zulieb wollen wir blühn. Dir entgegen. 11 Auch diese Verse ziehen einen beträchtlichen Teil ihrer poetischen Wucht aus dem Kontrast zwischen der Haltung des Betens, die in ihnen eingenommen wird, und der Negation des Angebeteten als › Niemand ‹ , der durch seine Ansprache als Gegenüber jedoch gleichsam wieder positiviert wird. Selbst wenn das Transzendente unter den Bedingungen der Moderne und nach den Schreckenserfahrungen des 20. Jahrhunderts immer unnennbarer erscheint, so ließe sich Celan hier lesen, birgt die hergebrachte Sprachform des Gebets doch das Potential einer erhofften Erneuerung der Nähe des Menschen zu diesem Unnennbaren. 7 Vgl. dazu Bollon 2006, S. 184 - 203. Bollon sieht Cioran »hin- und hergerissen zwischen Achtung vor dem Göttlichen und mystischem Aufschwung einerseits und Atheismus, ja dem Willen zur Gotteslästerung andererseits« (ebd., S. 150). Gerade darin liege ein charakteristischer Zug im Denken dieses »Mystiker[s] ohne Absolutes« (ebd, S. 184). 8 Zu Ciorans Eckhartrezeption vgl. ebd., S. 193 - 198. 9 E. M. Cioran: Lehre vom Zerfall [zuerst 1949], übertr. v. Paul Celan, Stuttgart 1978, S. 111. 10 E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung [zuerst 1969], übers. v. François Bondy, Frankfurt a. M. 14 2017 (suhrkamp taschenbuch 550), S. 17. 11 Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange, hg. u. kommentiert v. Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2020 (suhrkamp taschenbuch 5105), S. 136. Viele Gedankenanstöße zu diesem Text verdanke ich der Lektüre von Amir Eshel: Dichterisch denken. Ein Essay, übers. v. Ursula Kömen, Stuttgart 2020. 12 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="13"?> Die Liste derartiger Neuanknüpfungen an das Gebet in der jüngeren und jüngsten Literatur ließe sich nun fast beliebig erweitern. Ihre vertiefende Untersuchung böte mehr als genug Material für ein ganz eigenes literaturwissenschaftliche Forschungsunterfangen - hier jedoch seien die angesprochenen Rückgriffe und Referenzen auf das Gebet bei Celan und Cioran in erster Linie exemplarisch angeführt: Sie illustrieren die nachhaltige Wirkmacht und Faszinationskraft einer religiösen Textgattung, deren formenvielfältige Entwicklung und Ausfächerung im ausgehenden Mittelalter ebenso wie die damit verbundenen Ausprägungen und Reflektionen ihrer rezeptionsästhetische Potentiale im Interessenzentrum der vorliegenden Studie stehen. Denn auch dort, so versuche ich in den untenstehenden Kapiteln nachzuzeichnen, entfalten sich Gebet und Andacht vielfach als komplexe Formen religiösen Schreibens und Sprechens, die sowohl vertikal zwischen Transzendenz und Immanenz als auch horizontal zwischen Text und Leser vermitteln sowie letztlich auf die figurative Herstellung einer innerlich geschauten, über Sprache und Sprechen entworfenen Wirklichkeit zielen. Wie nun kann sich einem solchen Gegenstand literaturwissenschaftlich angenähert werden? Zunächst scheint hier ein forschungsgeschichtlicher Blick nötig, ist doch der moderne Rückbezug auf das Gebet als literarische Form kein Proprium von Poesie und Essayistik. Vielmehr rückte es ab 1900 auch in den Fokus der sozialwissenschaftlichen und philologischen Forschung. Als beispielsweise Marcel Mauss (1872 - 1950), der später durch sein Essai sur le don zu einer Gründerfigur der modernen Soziologie werden sollte, 12 im Jahr 1897 an der Pariser École Pratique des Hautes Études damit begann, eine Doktorarbeit mit dem schlichten Titel La prière zu schreiben, plante er eine vollumfängliche Studie zum Gebet als sozialem, kulturellem und religiösem Phänomen. 13 Ihm muss schnell klargeworden sein, welch enormen historischen, philologischen, theologischen, ethnographischen, anthropologischen und religionswissenschaftlichen Umfang dieses Unterfangen hatte. In der Einleitung seiner geplanten Dissertation schildert Mauss sein ursprüngliches Vorhaben, sich in vier Einzelstudien von der in den »elementaren Religionen« 14 der australischen Indigenen angeblich noch sichtbaren Ursprungsform des Gebets über eine genaue philologische Analyse altindischer Ritualtexte bis zu den Entwicklungslinien von Liturgie und privatem Beten in Juden- und Christentum vorzuarbeiten, um abschließend Fragen nach Formalisierung und materieller Kultur des Gebets vom Mittelalter bis zur Gegenwart in den Fokus zu rücken. Angesichts dieser gigantischen Themenspanne wundert es nicht, dass Marcel Mauss seine Doktorarbeit nie beendete. 1909, zwölf Jahre nach Beginn des Projekts, hatte er trotz großzügiger Förderung durch seinen Onkel und Mentor Émile Durkheim bloß den ersten der geplanten vier Teile halbwegs fertiggeschrieben und sah sich nun in Anbetracht der Zeit dazu gezwungen, das Dissertations- 12 Siehe zu Marcel Mauss ’ soziologischem Werk überblickshaft Claude Lévi-Strauss: Introduction to the Work of Marcel Mauss, London 1987. 13 Zur Entstehungsgeschichte von La prière vgl. Marcel Fournier: Marcel Mauss. A Biography, übers. v. Jane Marie Todd, Princeton/ Oxford 2006, S. 37 - 55; sowie die Einleitung des Herausgebers in Marcel Mauss: On Prayer, hg. u. eingel. v. W. S. F. Pickering, übers. v. Susan Leslie, New York/ Oxford 3 2008, S. 1 - 15. In deutscher Übersetzung liegt diese Arbeit vor als Marcel Mauss: Das Gebet (1909), in: Schriften zur Religionssoziologie, hg. u. eingel. v. Stephan Moebius, Frithjof Nungesser u. Christian Papilloud, mit einem Nachwort v. Stephan Moebius, übers. v. Eva Moldenhauer u. Henning Ritter, Berlin 2012 (stw 2032), S. 463 - 598. 14 Ebd., S. 474. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 13 <?page no="14"?> vorhaben abzubrechen. Die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Teile der Studie wurden als Privatdruck veröffentlicht. Sie gehören allgemein nicht zu Mauss ’ vielgelesenen Schriften. Für die folgenden Untersuchungen nun ist diese fragmentarisch gebliebene Arbeit vor allem in jenen einleitenden Passagen aufschlussreich, in denen Mauss über den Doppelcharakter des Gebets als religiöse Praktik und literarische Form reflektiert: »Das Gebet ist ein Wort,« führt er aus, und mittels dieses Wortes »handelt und denkt der Gläubige«. 15 Definiert als »oraler religiöser Ritus, der sich unmittelbar auf die sakralen Dinge bezieht«, 16 kombiniert das Gebet in seiner Hinwendung zum Heiligen Mythos und Ritual, oder, Mauss ’ Terminologie etwas abwandelnd und entfrachtend, Text und performative Handlung. 17 Die sprachlich-literarische Gestalt des Gebets, so eine Kernthese des Dissertationsfragments, ist mit seiner operationalen Qualität, also seinen Angeboten eines Vollzugs in Form von Frömmigkeitspraxis, unauflöslich verbunden. Dieser Doppelcharakter mag ein Grund dafür sein, warum die volkssprachige Gebets- und Andachtsliteratur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis heute literaturwissenschaftlich eine Landkarte voll weißer Flecken bleibt. Denn obgleich Gebetbücher und geistliche Sammelhandschriften, die unter anderem auch Texte für den frömmigkeitspraktischen Gebrauch enthalten, die wohl meistüberlieferten Handschriftentypen des 15. und 16. Jahrhunderts darstellen und weit darüber hinaus kulturell bedeutsam bleiben, 18 spielen die in ihnen enthaltenen Texte in der germanistischen Mediävistik eine bloß marginale Rolle. Innerhalb der Literatur des Mittelalters ist, trotz entscheidender Fortschritte in den letzten Jahren, 19 immer noch »kaum ein Bereich so wenig erforscht und noch so weitgehend literaturhistorisches Niemandsland wie das kaum übersehbare Feld der Gebets- und Andachtstexte« 20 - diese Diagnose Peter Ochsenbeins gilt auch mehr als dreißig Jahre nach ihrer Aufstellung noch. Dass sprachliche Form und religiöse Praxis, wie schon Mauss hervorstrich, in diesen Texten untrennbar verquickt sind, plausibilisiert dies teilweise, stellt diese Verbindung den literaturwissenschaftlichen Blick doch vor ein Problem. Denn auf der einen Seite entziehen sich Gebete und Andachten einem hermeneutisch orientierten Literaturzugang, der nach dem Sinngehalt des Textes und seiner interpretierenden Erschließung fragt, oder erscheinen aus einem solchen Blickwinkel schlichtweg als wenig reizvoll. Der Versuch, solche Texte interpretativ auf ihre Aussage hin zu › entschlüsseln ‹ , führt zu verzerrenden Reduktionen - so ließe sich beispielsweise eine komplexe Passionsandacht nur sehr 15 Ebd., S. 469. 16 Ebd., S. 525. Im Original hervorgehoben. 17 Wie sehr Mauss mit seinem Begriff des › Mythos ‹ hier auf die sinnvermittelnden wie ästhetisch evokativen Effekte sprachlicher Darstellung zielt und unter › Ritus ‹ das in seinem Ablauf festgelegte, realitätsstiftende Handeln des Menschen fasst, verdeutlicht z. B. folgende Charakterisierung des Gebets: »Es ist voller Sinn wie ein Mythos und oft ebenso reich an Ideen und Bildern wie eine religiöse Erzählung. Es ist voller Kraft und Wirksamkeit wie ein Ritus, und es ist häufig ebenso schöpferisch wie eine sympathetische Zeremonie«, ebd., S. 470. 18 Vgl. zu späteren Gebetbüchern die aufschluss- und materialreiche Dissertation von Sebastian Eck: Katholische Gebetbücher im Bistum Münster (1850 - 1914): Heilsmediale Analysen und historische Kontextualisierungen, Münster 2017 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 108). 19 Siehe dazu den Forschungsüberblick unten in dieser Einleitung. 20 Peter Ochsenbein: Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400, in: Deutsche Handschriften 1100 - 1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. v. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 379 - 398, hier S. 379. 14 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="15"?> unbefriedigend auf die Deutung herunterbrechen, der Text besage, dass Christi Tod die Menschheit erlöst habe. Denn dies wäre zunächst selbst für Leser, die nur oberflächlich mit der christlichen Kultur des Mittelalters vertraut sind, eine bloß wenig überraschende Schlussfolgerung und ließe zudem jene auf Stimulation von Affekt, Wahrnehmung und ästhetischem Empfinden der Gegenwärtigkeit des Heiligen zielenden Rezeptionsangebote, die für Gebets-und Andachtstexte von konstitutiver Bedeutung sind, ebenso aus dem Blick wie die Modi ihres zeitgenössischen Gebrauchs und Vollzugs. Andererseits jedoch geraten, wird unabhängig von den dabei verwendeten Gebetstexten nach der Frömmigkeitspraxis des Betens gefragt, die zentrale Stellung der Schrift und damit des enormen Korpus der Gebetbuchliteratur für dieses Feld der religiösen Kultur des Mittelalters aus dem Blickfeld. Das Gebet als Praxis ist kaum von dem Textmedium zu trennen, von dem es wesentlich angeregt, instruiert und zumindest in Teilen auch vorgegeben wird. Forschungsgeschichtlich ist die Trennung dieser beiden Perspektiven auf das Gebet als Text auf der einen und Handlung auf der anderen Seite jedoch tief verwurzelt. So klammerte beispielsweise Friedrich Heiler, der sich zehn Jahre nach Marcel Mauss in einer großangelegten Monographie diesem Thema widmete, die literarische Tradition der Gebetbuchliteratur bewusst aus. Stattdessen rückte Heiler ein »[e]chtes, persönliches Beten« im Sinne einer spontanen Äußerung des religiösen Menschen in den Mittelpunkt. 21 Schriftlich festgehaltene Gebetstexte interessierten ihn hauptsächlich dort, wo er durch die »poetische Hülle hindurch [ … ] das leidenschaftliche und sehnsüchtige Beten« des Autors oder der Autorin zu erkennen vermeinte, 22 den Text also als Artefakt einer individuellen Frömmigkeitspraxis lesen konnte. Die für das späte Mittelalter typischen Formen des Abschreibens, Überarbeitens und Redigierens von Gebets- und Andachtstexten dahingegen wertete Heiler mit entschiedenem Gestus ab, denn »die meisten dieser künstlich gemachten Gebete« seien »nicht einmal das selbstständige Werk der Gebetbuchautoren«, sondern zeugten von einer »kompilatorische[n], bisweilen sogar plagiathafte[n] Abfassung von Gebetbüchern«. 23 Friedrich Heilers Auffassung des Gebets als persönliche, performative und erlebnishafte Frömmigkeitsübung, von der der geschriebene Gebetstext höchstens ein sekundäres Zeugnis abzulegen vermag, wirkte vor allem in der religionswissenschaftlichen Forschung noch lange nach. 24 Auf der anderen Seite entwickelte sich ebenfalls eine Forschungstradition, die das Gebet primär bis ausschließlich als schriftlichen Text und darin zumeist als religionsgeschichtliche Quelle begriff. So beabsichtigte beispielsweise Franz Xaver Haimerl in seiner 1952 veröffentlichten Habilitation, »durch das Gebetbuch ein Bild zu gewinnen von der 21 Friedrich Heiler: Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 3 1921, S. 26. 22 Ebd., S. 30. 23 Ebd., S. 32. Heiler forschte selbst nicht an der handschriftlichen Gebetbuchüberlieferung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, sondern übernahm seine Beurteilung in erster Linie von Paul Althaus: Zur Charakteristik der evangelischen Gebetsliteratur im Reformationsjahrhundert, Leipzig 1914. Die dortigen allgemeinen Beobachtungen zu den Überlieferungscharakteristika dieses Textgenres sind, obzwar Althaus ’ Abwertung sich nur unter dem Vorzeichen eines heute so nicht mehr vertretbaren Autor- und Originalitätsbegriffs plausibilisiert, insgesamt dennoch nachvollziehbar. 24 Für eine neuere, stark auf Heilers Überlegungen rekurrierende theologische Arbeit vgl. beispielsweise Gerda Riedl: Modell Assisi. Christliches Gebet und interreligiöser Dialog in heilsgeschichtlichem Kontext, Berlin/ New York 1998 (Theologische Bibliothek Töpelmann 88). Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 15 <?page no="16"?> G e i s t e s w e l t , in der es geworden ist und auf die es eingewirkt hat«. 25 Unter dieser Prämisse legte er einen frühen Versuch einer systematisierenden Untersuchung der deutschsprachigen Privatgebetbücher des Mittelalters vor, wobei dieses Textkorpus ihm nicht als Literaturgattung galt, die in einem historisch entfernten, alteritären Umfeld spezifische Formen des Vollzugs und Wirkungen auf ihre Leser entfaltete, sondern vielmehr als auf seine historische Aussagekraft hin auszuwertendes Quellengut. Die den untersuchten Gebetbüchern eingeschriebenen Rezeptionsangebote standen außerhalb von Haimerls Blickfeld. Für die frühe Forschung zu Gebetbüchern des Spätmittelalters stellt sich dies als durchaus charakteristisch dar. Aus ähnlicher Perspektive heraus wurden beispielsweise schon früh vereinzelt Gebetstexte und -sammlungen abgedruckt, wobei der philologische Anspruch dieser Ausgaben stark variiert und in ihrem Hintergrund oftmals zusätzlich verschiedenste sprach- und religionsgeschichtliche, heimatkundliche oder persönlich-religiöse Interessen standen. 26 Dass hingegen im Kontext der Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters, in die sich die überlieferten Gebets- und Andachtstexte einbetten, Vollzug und sprachliche Gestalt von Gebet und Andacht nicht getrennt voneinander zu denken sind, sondern sich vielmehr in gegenseitiger Bedingtheit und Verschränkung zeigen, wird in der mediävistischen Forschung wesentlich erst seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts diskutiert. Denn obwohl die Erschließung der mittelalterlichen Gebetbuchliteratur in vielen Bereichen immer noch erst am Beginn steht, erfährt dieses Textkorpus doch seit dieser Zeit verstärkte und in vielen Fällen auch erstmalige wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Insbesondere vier jüngere Paradigmenwechsel und Neuorientierungen innerhalb der mediävistischen Forschungsdisziplinen stehen mit diesem neuen Augenmerk auf Gebet und Andacht als Frömmigkeitspraktiken wie auch als Texte im Zusammenhang: die Entwicklung der germanistischen Mediävistik von der Philologie hin zur Kulturwissenschaft, die Etablierung eines überlieferungsgeschichtlichen Zugangs zu mittelalterlicher Literatur, die Debatte um die Literarizität geistlicher Texte sowie schließlich ein neues Interesse an Medialität und den Medialisierungspotentialen religiöser Schriftlichkeit. Erstens erweiterte sich der Fokus der akademischen Beschäftigung mit der geistlichen Literatur des europäischen Mittelalters zunehmend über das Studium einzelner prominenter Autoren und spezifischer theologischer Denkschulen hinaus und hin zu einer 25 Franz Xaver Haimerl: Mittelalterliche Frömmigkeit im Spiegel der Gebetbuchliteratur Süddeutschlands, München 1952 (Münchener theologische Studien I,4), S. 1. Hervorhebung im Original. 26 Hier sind vor allem zwei große, frühe Ausgaben zu nennen: Wilhelm Wackernagel (Hg.): Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1876, S. 213 - 248; sowie Joseph Klapper (Hg.): Schriften Johanns von Neumarkt, 4 Bd.e, Berlin 1930 - 1939 (Vom Mittelalter zur Reformation 6,1 - 4). Daneben finden sich Abdrucke einzelner Handschriften, so beispielsweise A. Puls (Hg.): Niederdeutsches Gebetbuch aus der Pergamenthandschrift des Königlichen Christianeums zu Altona, Tl. 1: Einleitung und Text, Altona 1898; oder Josef Pfanner (Hg): Das Gebetbuch der Caritas Pirckheimer, Landshut 1961 (Caritas Pirckheimer-Quellensammlung 1). Zudem kam es um 1900 im Bereich der katholischen Privatfrömmigkeit zu einer regelrechten Rückbesinnungsmode, die auch spätmittelalterliche Gebetstexte wiederentdeckte und in neuhochdeutscher Übertragung zumeist ohne philologischen Anspruch in den Druck brachte. Beispielhaft seien aus diesem Bereich genannt: P. Macherl: Schüsserlbrunner Gebetbuch. Nach einer alten Handschrift herausgegeben, Graz 1890; sowie die umfangreiche und mehrfach aufgelegte Sammlung Seelen-Gärtlein. Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, aus vielen der schönsten deutschen Gebete des Mittelalters zusammengestellt, 3., vermehrte Aufl., Augsburg/ München 1882. 16 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="17"?> umfänglicheren kulturwissenschaftlichen Perspektive. Dabei rückten neben den Höhenkämmen des gelehrten Diskurses und des mystischen Schrifttums seit den 1980er Jahren auch Fragen nach milieu- und zeittypischen Frömmigkeitsformen zunehmend ins Blickfeld der Forschung. 27 In Überschneidung mit dieser Entwicklung und zumeist inspiriert durch kulturtheoretische Anstöße von außerhalb der Mediävistik eröffnete sich eine Reihe neuer Untersuchungsansätze, die z. B. auf Performativität, Körperlichkeit, Emotionsgeschichte oder die Genderaspekte mittelalterlicher Religiosität besonderes Gewicht legen. 28 Auch Gebet und Andacht als Praktiken wie als Literaturformen des ausgehenden Mittelalters gerieten unter derartigen Vorzeichen mehrfach in den Fokus. Beispielsweise widmete sich Thomas Lentes 1996 in einer ebenso aufschlusswie umfangreichen Dissertation den Gebetbuchhandschriften des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis. Dabei verfolgte er explizit das Ziel, eine Studie »des religiösen Ausdrucksverhaltens, seiner Funktionen und Ziele« zu betreiben und ausgehend von diesem Erkenntnisinteresse, das heute wohl unter den Schlagworten von Performanz und Kulturtechnik zusammenzufassen wäre, die »Frömmigkeit, wie sie sich in den Gebetbüchern spiegelt«, zu beleuchten. 29 In den verdienstvollen Arbeiten Peter Ochsenbeins werden Orationalien und ihr Inhalt ebenfalls in erster Linie in Hinblick auf die mit ihnen verknüpften zeitgenössische Frömmigkeitsvorstellungen und -praktiken untersucht, wobei der Autor in diesem Zuge auch wichtige literaturgeschichtliche Entwicklungslinien der Gebetbuchliteratur rekonstruierte. 30 Einem etwas stärker auf die Texte selbst abzielenden kulturwissenschaftlichen Ansatz folgte Johanna Thali in einer 2003 erschienenen 27 Vgl. z. B. grundlegend Arnold Angenendt: Formen der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 2 2000; Ders.: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter, München 2004 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 68); Peter Dinzelbacher (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter, Paderborn u. a. 2000; Klaus Schreiner (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002. 28 Forschungsgeschichtlich einflussreiche Interventionen in derartige Richtungen finden sich z. B. bei Otto Langer: Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München/ Zürich 1987; Caroline Walker Bynum: Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley 1982; Dies.: Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992; Dies.: Why all the Fuss about the Body? A Medievalist ’ s Perspective, in: Critical Inquiry 22.1 (1995), 1 - 33; Peter Dinzelbacher: Über die Körperlichkeit in der mittelalterlichen Frömmigkeit, in: Bild und Abbild vom Menschen im Mittelalter. Akten der Akademie Friesach »Stadt und Kultur im Mittelalter«, Friesach (Kärnten), 9. - 13. September 1998, hg. v. Elisabeth Vavra, Klagenfurt 1999, S. 49 - 87; Niklaus Largier: Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001. 29 Thomas Lentes: Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg (1350 - 1550), Münster 1996 [Dissertation], S. 12 u. 17. 30 Siehe v. a. Peter Ochsenbein: Lateinische Liturgie im Spiegel deutscher Texte oder von der Schwierigkeit vieler St. Andreas-Frauen im Umgang mit der Kirchensprache im Mittelalter, in: Bewegung in der Beständigkeit. Zu Geschichte und Wirken der Benediktinerinnen von St. Andreas/ Sarnen Obwalden, hg. v. Rolf De Kegel, Alpnach 2000, S. 121 - 130; insb. S. 125 - 127; Ders.: Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form. Notizen zur Geschichte der abendländischen Frömmigkeit, in: Vox viva et ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters, hg. v. Clemens M. Kasper u. Klaus Schreiner, Münster 1997 (Vita regularis 5), S. 135 - 155; Ders.: Mystische Spuren im › Engelberger Gebetbuch ‹ , in: Homo Medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag, hg. v. Claudia Brinker-von der Heyde u. Niklaus Largier, Bern u. a. 1999, S. 275 - 283. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 17 <?page no="18"?> Monographie zur literarischen Aktivität des spätmittelalterlichen Frauenklosters Engelthal, die sich auch dem Konnex von Frömmigkeitspraxis und entsprechendem Schriftgut genauer widmet. 31 Während diese und vergleichbare deutschsprachige Forschungsbeiträge zumeist aus einem übergreifenden kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Interesse heraus einzelne Schreib- und Leseorte oder Handschriftenverbünde in den Blick nehmen, entstand in der englischsprachigen Mediävistik eine Reihe von Arbeiten, die mit teils enormer Spannweite kulturwissenschaftliche Modellperspektiven auf Andacht und Gebet im Mittelalter zu entwickeln und zu applizieren suchen. So schlägt Mary Carruthers in einer einflussreichen Monographie ein Verständnis monastischer Meditationspraxis des Früh- und Hochmittelalters vor, das diese durch ein Verfahren des »making [of] mental images or cognitive › pictures ‹ for thinking and composing« fundiert sieht, in dem sich rhetorische Sprachlichkeit, Mnemotechnik und imaginative Verbildlichung verbinden. 32 Sarah McNamer hingegen fasst aus einer Kombination von emotions- und geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten heraus das Korpus der lateinischen Passionsandachten des späteren Mittelalters als › Emotive ‹ auf, das heißt als »instruments for directly changing, building, hiding, intensifying emotions« und als »scripts for the performance of feeling«, die an den spezifisch mit der zeitgenössischen Frauenfrömmigkeit verbundenen »origins of affective devotion« ständen und darin geradezu eine › Erfindung ‹ des Mitleids bedeuteten. 33 Eine weit ausgreifende Kulturgeschichte des Mariengebets schließlich zeichnet Rachel Fulton Brown nach, die dabei auch detailliert und mitunter auf experimentelle Weise auf sprachliche und visuelle Prozesse der Herstellung affektiver und ästhetischer Effekte des Betens eingeht, das sie als »craft«, also als lehr- und lernbare Praxis versteht. 34 Diese Auswahl neuerer Studien, die sich der Gebetbuchliteratur aus einer im Spannungsfeld von Kulturwissenschaft und Frömmigkeitsgeschichte angesiedelten Perspektive nähern, ließe sich nun ausweiten und fortsetzen. 35 Die genannten Arbeiten seien dementsprechend nur als orientierungsgebende Ecksteine erwähnt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Gegensatz zu vielen älteren Forschungsstandpunkten Gebets- und Andachtsliteratur als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses für vollwertig nehmen, die Texte dabei freilich in erster Linie als Quellen und Artefakte einer zeitgenössischen, im sozialen 31 Johanna Thali: Beten - Schreiben - Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal, Tübingen/ Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 42). 32 Mary Carruthers: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400 - 1200, Cambridge 1998, S. 3. 33 Sarah McNamer: Affective Meditation and the Invention of Medieval Compassion, Philadelphia 2009, S. 12 u. S. 60. 34 Rachel Fulton Brown: Mary and the Art of Prayer. The Hours of the Virgin in Medieval Christian Life and Thought, New York 2018. 35 Frömmigkeitskulturelle Einzelaspekte von Gebet und Andacht im Spätmittelalter werden z. B. behandelt bei Arnold Angenendt u. Thomas Lentes: Gezählte Frömmigkeit, in: Florilegien, Kompilationen, Kollektionen. Literarische Formen des Mittelalters, hg. v. Kaspar Elm, Wiesbaden 2000, S. 107 - 114; Helmut Dworschak: Der Gebrauch des Körpers beim Gebet, in: Schwierige Frauen - Schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Alois Maria Haas u. Ingrid Kasten, Bern 1999, S. 177 - 199; Anne Bollmann: Bedehuis, spinhuis, kerk. Räume für Arbeit und Gebet in Frauengemeinschaften der Devotio moderna, in: Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter, hg. v. Nikolaus Staubach u. Vera Johanterwage, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 353 - 384. 18 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="19"?> Rahmen verankerten Kultur religiösen Denkens und Handelns fassen, auf deren Verständnis abgezielt wird. 36 Im Kontrast dazu stehen zweitens vor allem in der germanistischen Mediävistik entwickelte und verbreitete Neuansätze, die sich primär auf den Text und seine handschriftliche Überlieferung fokussieren. Den methodologischen Anstoß hierzu gab oftmals die in den 1970er Jahren von der Würzburger Forschergruppe um Kurt Ruh eingeleitete Wende hin zu einem überlieferungsgeschichtlichen Blick auf mittelalterliche Literatur, die programmatisch »das › Werk ‹ und seine › Wirkung ‹ und nicht allein die › Autoren ‹ und › Denkmäler ‹ in den Mittelpunkt [des] literarhistorischen Interesses« stellte. 37 Neben der handschriftlichen Überlieferung mittelalterlicher Texte, ihrer Varianz und ihren jeweiligen pragmatischen Funktionen wurden dabei auch die Dynamiken von Adaptation und Redaktion stärker ins Blickfeld gerückt. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit geistlicher Prosa im Allgemeinen und mit Gebets- und Andachtsliteratur im Besonderen fand dieser Vorschlag starke Resonanz. So behandelt beispielsweise bereits Gerhard Achtens 1980 im Rahmen eines Ausstellungskatalogs entworfener, wertvoller Überblick zur Geschichte des christlichen Gebetbuchs nicht nur einzelne Autoren, Texte und Handschriften, sondern berücksichtigt insbesondere für das Spätmittelalter auch überlieferungsbestimmende Dynamiken von »Sammel- und Exzerpiertätigkeit« im jeweiligen historischen Umfeld. 38 Neben einem wegweisenden Vorschlag Peter Ochsenbeins zur Typologie volkssprachiger Gebetbücher, den der Autor anhand einer ordnenden Sichtung der frühen Handschriftenüberlieferung entwickelte, 39 entstanden im gleichen Jahrzehnt auch einige überlieferungsgeschichtlich orientierte Studien, die weniger prominente Texte aus dem weiteren Umfeld der Gebets- und Andachtsliteratur beleuchteten. 1982 legte Dietrich Schmidtke eine materialreiche Monographie zu geistlichen Gartenallegorien vor, während André Schnyder 1986 das Schrifttum der Ursulabruderschaften des Spätmittelalters erschloss und edierte. 40 36 Dass kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Gebets- und Andachtsliteratur in diesem Rückschluss auf historische Frömmigkeitspraktiken des Spätmittelalters trotz ihres oft stark betonten Novitätsanspruchs methodisch teils sehr nah bei frühen Forschungen wie der Studie von Haimerl 1952 stehen, ist bemerkenswert und wäre stärker zu reflektieren. 37 Georg Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hg. v. Kurt Ruh, Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte 19), S. 5 - 36, hier S. 7. Richtungsweisend war auch der Aufriss von Klaus Grubmüller u. a.: Spätmittelalterliche Prosaforschung. DFG-Forschergruppe am Seminar für deutsche Philologie der Universität Würzburg, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 5 (1973), S. 156 - 175. Vgl. hierzu auch Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25.2 (2000), S. 1 - 21. 38 Gerhard Achten: Das christliche Gebetbuch im Mittelalter. Andachts- und Stundenbücher in Handschrift und Frühdruck, 2 Berlin 1987 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ausstellungskataloge 13), S. 39 [zuerst 1980]. 39 Ochsenbein 1988. 40 Dietrich Schmidtke: Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters. Am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982 (Hermaea. NF 43); André Schnyder: Die Ursulabruderschaften des Spätmittelalters. Ein Beitrag zur Erforschung der deutschsprachigen religiösen Literatur des 15. Jahrhunderts, Bern/ Stuttgart 1986 (Sprache und Dichtung 34). Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 19 <?page no="20"?> Nach wie vor bleibt die Methodik der Untersuchung religiöser Schriftlichkeit in ihren jeweiligen Kontexten der handschriftlichen Überlieferung, des Lesens und Benutzens, Schreibens und Abschreibens, Redigierens und Archivierens in je verschiedenen Ausprägungen wirksam. So entstanden in den letzten Jahren neben Studien bedeutsamer Gebetbuchkorpora, so z. B. Henrike Lähnemanns Arbeiten zu den Handschriftenbeständen des Lüneklosters Medingen, 41 auch maßgebliche Editionen und Untersuchungen einzelner Handschriften und Textverbünde, die diese je spezifisch im Überlieferungskontext situieren. So machte Ruth Wiederkehr mit ihrer Ausgabe des Hermetschwiler Gebetbuchs eine wichtige, frauenklosterspezifische Sammlung von Gebeten und mitüberlieferten Texten des Spätmittelalters erstmals einem weiteren Fachpublikum zugänglich. 42 Nigel F. Palmer und Jeffrey Hamburger gaben das auch kunsthistorisch aufschlussreiche Straßburger Gebetbuch der Ursula Begerin heraus und fügten ihrer Edition zudem die bislang wohl verlässlichste literaturgeschichtliche Einordnung zu diesem Bereich des religiösen Schrifttums bei. 43 Wertvoll ist auch die von Kathrin Chlench-Priber vorgelegte Untersuchung der Gebete des Prager Hofkanzlers Johannes von Neumarkt (ca. 1310 - 1380), die ein Schlaglicht auf die Entstehung, Verbreitung und zeitgenössische Rezeption eines zusammengehörigen, noch recht frühen Korpus volkssprachiger Gebete wirft. 44 Mit den Vierzig Myrrhenbüscheln vom Leiden Christi ediert und analysiert Richard Fasching Inhalt und Dissemination eines zur Passionsandacht anleitenden Traktats, dessen breite Überlieferung auch auf die Gebetbuchliteratur Einfluss nahm. 45 Zwar bleibt eine umfängliche Erschließung der volkssprachlichen Gebetbuchliteratur des ausgehenden Mittelalters und ihrer Überlieferung, die ein sicheres Zurechtfinden im Vielfaltsdickicht der entsprechenden Texte sowie ihrer Formen und Motive ermöglichte, nach wie vor ein Desiderat der Forschung - dennoch aber geben die genannten Arbeiten hierzu verlässliche Orientierungspunkte. Drittens schlägt sich in diesen Untersuchungen vielfach die Diskussion um die Literarizität geistlicher Texte nieder: Schriftliche Gebete und Andachten werden in der jüngeren Forschung zumeist nicht mehr als Aufzeichnungen spontaner Glaubensäußerungen oder als schlichte Gebrauchstexte begriffen, sondern vielmehr als eigener Gattungskomplex, der spezifischen sprachlichen Formen, Konventionen und Traditionen folgt. Entscheidend für diesen neuen Blick waren neben dem Paradigmenwechsel hin 41 Henrike Lähnemann: Bilingual Devotion in Northern Germany. Prayer Books from the Lüneburg Convents, in: A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages, hg. v. Elizabeth Andersen, Henrike Lähnemann u. Anne Simon, Leiden/ Boston 2014 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 44), S. 317 - 341. Von besonderer Bedeutung ist hier auch das von Lähnemann geleitete digitale Erschließungsprojekt »Medingen Manuscripts« (http: / / medingen.seh. ox.ac.uk/ , abgerufen 15.08.2023). 42 Ruth Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch. Studien zur deutschsprachigen Gebetbuchliteratur der Nord- und Zentralschweiz. Mit einer Edition, Berlin/ Boston 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 5). 43 Jeffrey F. Hamburger u. Nigel F. Palmer: The Prayer Book of Ursula Begerin, 2 Bd.e, Dietikon-Zurich 2016. Vgl. besonders ebd., Bd. 1, S. 401 - 458. 44 Kathrin Chlench-Priber: Die Gebete Johanns von Neumarkt und die deutschsprachige Gebetbuchkultur des Spätmittelalters, Wiesbaden 2020 (MTU 150). 45 Richard F. Fasching: Die Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi. Untersuchungen, Überlieferung und Edition, 2 Bd.e, Wiesbaden 2020 (Scrinium Friburgense 47). Vgl. insbesondere Faschings Ausführungen zu einer von diesem Text abhängigen Sammlung von Passionsgebeten ebd., S. 115 - 119. 20 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="21"?> zu einem › erweiterten Literaturbegriff ‹ 46 auch Ursula Peters ’ Interventionen zum Verständnis der sogenannten Frauenmystik. In ihrer Kritik an einem biographisch-kulturgeschichtlichen Zugang insbesondere zu Gnadenviten und Offenbarungsschriften zeigt Peters auf, wie sehr sich diese Texte als »eingespannt in hagiographische Deutungsmuster« darstellen und somit »nur bedingt als kulturhistorisch relevante Aussagen zu verwerten« sind. 47 Stattdessen seien sie als »literarisch konzipierte und intentional ausgerichtete Texte« zu verstehen, »die eine Unterscheidung hinsichtlich ihrer Nähe zu einem möglichen religiösen Erfahrungssubstrat nicht zulassen«. 48 Mit einigen Anpassungen lässt sich dieser Befund, der zu einigen der oben erwähnten kulturwissenschaftlichen Perspektiven in Spannung steht, auch insofern auf Gebets- und Andachtstexte übertragen, als dass diese zu befreien sind von den Annahmen einer Verankerung im persönlichen religiösen Erleben eines Autors oder einer Autorin oder einer direkten Reflexion historisch-sozialer Geschehnisse. Dies erlaubt einen wertungsfrei-analytischen Blick sowohl auf ihre sprachliche Gestalt als auch auf die dadurch aufgeworfenen Lektüre- und Vollzugsangebote. Dass ein derartiger Perspektivwechsel in der deutschsprachigen Forschung zu Gebets- und Andachtstexten inzwischen weitgehend stattgefunden hat, illustriert ein diachron-vergleichender Blick auf entsprechend einschlägige Publikationen: 49 Zwei Monographien von Eckart Conrad Lutz und Christian Thelen aus den 1980er Jahren, die wichtige Erkenntnisse vor allem zur rhetorischen Struktur schriftlicher Gebete erbrachten, stützten sich noch in erster Linie auf gebethafte Einschübe in der mittelhochdeutschen weltlichen Dichtung. 50 Die spezifische Einbettung dieser Einsprengsel insbesondere in den höfischen Roman ermöglichte es hier auch, eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Gebetstexten überhaupt zu legitimieren. Jüngste und gegenwärtige Forschungsprojekte hingegen, so z. B. die Arbeiten Stefan Matters zu Tagzeitentexten und Gebetsparodien, 51 tendieren wie selbstverständlich dazu, 46 Zu diesem Wandel erklärend Joachim Bumke: »Heute wird die Auffassung, daß Literaturgeschichte Dichtungsgeschichte sei, kaum noch vertreten. Es hat sich ein › erweiterter ‹ Literaturbegriff durchgesetzt, der der Literaturgeschichte weite Gegenstandsbereiche neu erschließt« (Joachim Bumke: Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe, Opladen 1991 [Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 309], S. 20). 47 Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea. NF 56), S. 37. 48 Ebd., S. 192. 49 Im englischsprachigen Raum dahingegen wurde die Forschungsdebatte um die Literarizität geistlicher Texte des Mittelalters bloß wenig rezipiert. Hier dominieren, wie oben angesprochen, zumeist kulturwissenschaftliche Ansätze, die mitunter auf zu hinterfragende Weise von einer Abbildungsbeziehung zwischen dem Text und einer von ihm mutmaßlich reflektierten historischen Realität ausgehen. 50 Eckart Conrad Lutz: Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin/ New York 1984 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 82); Christian Thelen: Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/ New York 1989 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 18). 51 Vgl. Stefan Matter: Tagzeitentexte des Mittelalters. Untersuchungen und Texte zur deutschen Gebetbuchliteratur, Berlin/ Boston 2021 (Liturgie und Volkssprache 4); sowie Ders: Gebetsparodien des hohen und späten Mittelalters, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 370 - 389; Ders: Die Tagzeiten von den Marienfesten im Cgm 4697, in: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven, hg. v. Eva Rothenberger u. Lydia Wegner, Berlin/ Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 47 - 64; Ders.: Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte im Spannungsfeld von Liturgie und Privatandacht. Zu Formen des Laienstundengebetes im deutschsprachigen Mittelalter, in: Lehren, Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 21 <?page no="22"?> auch bei der Untersuchung von Texten, die klar im Verbund von Gebetbüchern oder geistlichen Sammelhandschriften überliefert sind, literaturwissenschaftliche Fragen nach Form und Gattung, nach ästhetischer Wirkung und sprachbildnerischer Konvention, nach ihrer Variation, Anpassung an veränderte Kontexte und sogar nach ihrem gezielten Bruch anzugehen. Der hierbei oft zugrunde gelegte Terminus › Gebetbuchliteratur ‹ ist in der Regel trennscharf abgesetzt von den normativen Vorannahmen, die mit einem modernen Begriff von Literatur als künstlerischer Dichtung verknüpft sind. In pointiertester Form wird diese paradigmatische Abgrenzung von Peter Strohschneider und Burkhard Hasebrink vorgenommen, die vorschlagen, »die Begründungsfigur des › erweiterten Literaturbegriffs ‹ durch diejenige eines historisch ausgerichteten Textbegriffs zu ersetzen.« 52 Ein entsprechendes Verständnis der germanistischen Mediävistik als historische Textwissenschaft erlaube es, so die beiden Autoren, die »Aufspaltung in Ästhetisches auf der einen und Funktionales auf der anderen Seite« aufzuheben, der die Untersuchung religiöser Schriftlichkeit unter dem Vorzeichen des Literarischen stets unterworfen sei. 53 Im Hinblick auf Gebets- und Andachtstexte, auf die Hasebrink und Strohschneider nicht gesondert eingehen, eröffnet ein solcher Ansatz erstens fruchtbare Zugänge, die weder die Sakralqualität dieser Texte anachronistisch-entschärfend auf einen ästhetischen Kunstcharakter reduzieren, noch die Umwandlung von Schrift in Aisthesis, zu der sie den Rezipienten zu stimulieren versuchen, zugunsten einer in der postsäkularen Gegenwart unhaltbaren, rein funktionalen Bestimmung als › Gebrauchsliteratur ‹ zurückzustellen. Zweitens ermöglicht ein solches Verständnis, das unter Text vor allem »Rede mit Überlieferungsqualität« versteht, neue Blickwinkel einerseits auf die Performativität spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte und andererseits auf ihre variantenreiche »Überlieferung als Raum historischer Sinnmöglichkeiten des Textes«, vermag also neben der Textauch die Handlungsseite von schriftlichen Gebeten und Andachten zu berücksichtigen und somit ebenfalls ihre »Funktion [ … ] für die Medialisierung von Heil« in den Fokus zu rücken. 54 Hierin referiert dieser Vorschlag einer methodischen Neuperspektivierung des Literaturverständnisses der Altgermanistik hin zu einem historischen Textbegriff, dessen Impuls ich in den folgenden Untersuchungen aufzunehmen versuche, auf eine vierte Tendenz in der jüngeren Forschung, Gebet und Andacht im Mittelalter vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Medialität und besonders der Vermittlung einer Gegenwärtigkeit des Sakralen zu betrachten. Dabei rücken die zeitgenössischen Rezeptionsangebote und Wirkstrategien entsprechender Texte deutlich in den Vordergrund. Denn als »Kommunikation über die Grenze von Diesseits und Jenseits hinweg«, so werfen jüngst Christian Schmidt und Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters, XXIII. Anglo-German Colloquium Nottingham 2013, hg. v. Henrike Lähnemann, Nicola McLelland u. Nine Miedema, Tübingen 2017, S. 171 - 184. 52 Burkhard Hasebrink u. Peter Strohschneider: Religiöse Schriftkultur und säkulare Textwissenschaft. Germanistische Mediävistik im postsäkularen Kontext, in: Poetica 46.3/ 4 (2014), S. 277 - 291, hier S. 288. Meine folgenden Überlegungen und Untersuchungen wurden von diesem Vorschlag entschieden inspiriert. Wo ich dennoch in der Forschung etablierte Begriffe wie › Gebetbuchliteratur ‹ verwende, soll dies explizit weder ästhetische Auratisierung noch deskriptive Funktionsbestimmung ausdrücken. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 289. 22 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="23"?> Mirko Breitenstein auf, fundiert das Gebet auf Texten und anderen Medien, die die Aufgabe erfüllen sollen, eben diese Grenze »durchlässig zu halten« oder erst zu machen. 55 Derartige Strategien der Heilsvermittlung stehen im Mittelpunkt eines grundlegenden Beitrags von Johanna Thali, die anhand einer Untersuchung ausgewählter Text- und Bildbeispiele aus dem Frauenkonvent der Benediktinerabtei Engelberg aufzeigt, wie diese z. B. durch Anknüpfungen an die Liturgie, durch Aufforderungen zum Reihenbeten und zu Körperübungen, durch »sprachliche und rhetorische Mittel« oder gezielte »Kombination verschiedener Medien« für ihre Benutzer eine Kommunikationssituation mit dem Göttlichen evozieren. 56 Dabei jedoch sei im zeitgenössischen Verständnis des Mittelalters, so Thali, die »Wirksamkeit des Gebetstexts [ … ] an den Vollzug gebunden«, denn nicht »die Materialität der Worte [ … ] garantiere seine Heilswirkung, sondern die subjektive Verfasstheit und Intention des Betenden«. 57 Der Text des Gebets - und Vergleichbares ließe sich für schriftliche Andachten sagen 58 - kann in diesem Sinne, eine Typologisierung Berndt Hamms aufgreifend, als Hilfsmedium begriffen werden, das den Betenden eine frömmigkeitspraktische Partizipation am durch Christus in die Welt gekommenen Heil erleichtern soll. 59 Freilich erweist sich die sprachmediale Gestalt von Gebet und Andacht dabei keineswegs als unbedeutend oder willkürlich, zielt sie doch darauf ab, diese Heilsteilhabe im Vollzug zu rahmen und zu orientieren, Affekt und innere Perzeption der Betenden zu lenken sowie die Herstellung einer inneren Haltung zu forcieren, aus der heraus eine Hinkehr zum Heiligen erst möglich wird. Niklaus Largier spricht diesbezüglich in Anlehnung an Erich Auerbach von einer »Modifikation der Wahrnehmung und des Denkens«, die den mittelalterlichen Betenden vom Text angetragen werde und die in einer »Praxis des Neuwebens der Wahrnehmung mittels einer materialen, immer auch rhetorisch-strategischen Mimesis« münde. 60 Unter diesem Blickwinkel erscheinen Gebets- und Andachtstexte erstens als spezifischen Programmen ästhetischer wie semantischer 55 Mirko Breitenstein u. Christian Schmidt: Einleitung: Medialität und Praxis des Gebets, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 275 - 282, hier S. 278 f. 56 Johanna Thali: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur, in: Medialität des Heils im späten Mittelalter, hg. v. Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs u. Christian Kiening, Zürich 2009 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 10), S. 241 - 278, hier S. 248 u. S. 266. 57 Ebd., S. 268. 58 Siehe dazu den wichtigen Aufsatz von Johanna Thali: andacht und betrachtunge. Zur Semantik zweier Leitvokabeln der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transfomation, hg. v. Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt u. Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 226 - 267. 59 Vgl. Berndt Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter, in: Medialität des Heils im späten Mittelalter, hg. v. Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2009 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 10), S. 21 - 60. Dazu vgl. auch die ausführliche Diskussion unten in Kapitel I.4; sowie zudem die Beiträge in Berndt Hamm, Volker Leppin u. Gury Schneider-Ludorff (Hgg.): Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58); sowie in Johanna Haberer u. Berndt Hamm (Hgg.): Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 70). 60 Niklaus Largier: Spekulative Sinnlichkeit. Kontemplation und Spekulation im Mittelalter, Zürich 2018 (Mediävistische Perspektiven 7), S. 16. Vgl. auch Ders.: Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 23 <?page no="24"?> Wirksamkeit folgende Sprachmedien, denen zu eigen ist, was Christian Kiening als »operationale« Funktion bezeichnet, »bei der die Schrift das Programm eines Handlungsvollzuges in sich trägt«. 61 Darin sind die Bedingungen des Medialen - besonders der Schrift, sprachlichen Gestalt und textuellen Form - zumeist nicht kaschiert, sondern dienen geradezu als ausgestellte Ermöglichungselemente des je individuell zu realisierenden Mediengebrauchs. Zweitens ist diesen Texten die Hoffnung auf vermittelnde Wirksamkeit, auf die Möglichkeit der Medialisierung von Gnade eingeschrieben. Das Beten als Praxis ist entsprechend »getragen von der Annahme oder Hoffnung, die Welt lasse sich mit Hilfe der Sprache (zumindest im Kleinen) verändern.« 62 Drittens zielen schriftliche Gebete und Andachten auf die Herstellung einer Form von Gegenwärtigkeit, die sowohl die Vergegenwärtigung der vermittelten Ereignisse, Gegenstände und Figuren des Heils als auch die Präsenzentfaltung von Schrift und Sprache umfasst. Die vermittelnde Herstellung einer persönlichen Nähe zum Sakralen, die am Fluchtpunkt von Gebet und Andacht in Text und Frömmigkeitspraxis steht, erweist sich dementsprechend als besonders spannungsreich eingebettet in jene »Matrix aus dem medialen Aspekt von Gegenwärtigkeit und dem präsentischen Aspekt des Medialen«, die als allgemeines Charakteristikum medialer Vergegenwärtigung nicht nur in der geistlichen Literatur des Mittelalters gelten darf und, so Kiening, mit der grundlegenden Einsicht verbunden ist, »dass aus ontologischer Sicht nichts › bloß ‹ mittelbar wie aus epistemologischer nichts schlechterdings unmittelbar sei«. 63 Anknüpfend an diese vier Forschungsperspektivierungen von Gebet und Andacht als im kulturellen Kontext verankerte religiöse Praktiken, als überlieferte Schrift, als gestalteter Text sowie als Medium der Hinkehr zum Sakralen fragen die folgenden vier Kapitel einerseits nach der textuell angelegten Wirkungs- und Rezeptionsästhetik sowie den sich daraus ableitenden Lektüre- und Vollzugsangeboten ausgewählter, motivisch und formal zusammengehöriger Korpora aus der Gebetbuchliteratur vor allem des 15. Jahrhunderts. Andererseits versuchen sie, mit Rosenkränzen, aus Frömmigkeitsleistungen hergestellten Marienmänteln sowie inneren Architekturen, die ein Lesepublikum durch Andacht und Gebet in sich errichten soll, drei im ausgehenden Mittelalter verbreitete Formen geistlicher Übungen sowohl literaturgeschichtlich als auch in ihrer Bindung an historischkulturelle Kontexte zu erschließen. Hierbei rücken neben den entsprechenden Schriften selbst auch immer wieder zeitgenössische Texte in den Blick, die sich instruierend und kommentierend auf sie beziehen oder über die von ihnen vorgezeichneten Akte der Devotion narrativ reflektieren. In einem ersten Kapitel versuche ich, im Anschluss an eine überblickshafte Bestimmung des Gegenstands dieser Studie und seiner Position in der religiösen Kultur des Spätmittelalters zunächst ein methodisch-begriffliches Analyseinstrumentarium zu entwickeln, das es ermöglicht, sich derartigen Texten unter besonderem Augenmerk auf und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009, S. 953 - 969. 61 Christian Kiening: Mystische Bücher, Zürich 2011 (Mediävistische Perspektiven 2), S. 13. 62 Christian Kiening: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter, Zürich 2016, S. 132. 63 Christian Kiening: Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen - Semantiken - Effekte, in: Mediale Gegenwärtigkeit, hg. v. Dems., Zürich 2007 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 1), S. 9 - 70, hier S. 22 f. 24 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="25"?> die ihnen eingeschriebenen Modi der Entfaltung von Effekt und Vollzug im Rahmen der Lektüre zu nähern. Um einen dergestalt rezeptionsästhetischen Zugang zu ermöglichen, schlage ich vor, schriftliche Gebete und Andachten unter drei eng miteinander verflochtenen Aspekten zu betrachten. Erstens stellen diese Texte komplexe sprachliche Zeichengeflechte dar, die durch rhetorische Formung und darüberhinausgehende Spielarten der Bildrede, also auf dem Weg von Metapher, Allegorie und Typologie, einen ebenso deutenden wie den Leser innerlich affizierenden Bezug zum Heiligen herstellen, ja zumeist sogar eine Kommunikationssituation mit dem Göttlichen evozieren. In dieser Herstellung von kommunikativer und affektiver Nähe zum Transzendenten erweisen sich Gebets- und Andachtstexte nachdrücklich als Hilfsmedien der Heilsteilhabe, wird doch durch den Entwurf eines in festen sprachlichen Formen präfigurierten Gesprächs mit der Transzendenz den Betenden erlaubt, in eine vertikale Kommunikationsbeziehung mit dem Heiligen einzutreten, die mit der Erwartung bestimmter Wirkungen oder Wirkmächtigkeiten verbunden ist. Darin beruhen Gebete und Andachten zweitens auf einem Prozess der imaginativen Immersion in eine sprachlich entworfene Welt des inneren Erlebens. Dies kann als horizontale Vermittlungsdimension verstanden werden, die sich zwischen Leser und Text abspielt. Insbesondere für das Gebet ist hierbei die Identifikation des Lesers mit dem im Text sprechenden Ich ein rezeptionsästhetisches Zentralcharakteristikum. Andachtstexte dahingegen apostrophieren ihre Leser zumeist eher in direkten Aufforderungen zum inneren Aufrufen, Vorstellen und Wahrnehmen und entfalten auf diese Weise eine absorbierende Wirkung, die ein immersiv-erlebnishaftes Hineinversetzen in das sprachlich Dargestellte anregt. Grundsätzlich aber steht ein Effekt des vergegenwärtigenden Eintauchens in im jeweiligen Text dargestellte Momente oder Ereignisse einer direkten Präsenz des Heiligen, das die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz zumindest in der vom Text während der frommen Lektüre geformten Wahrnehmung überwindet, am Wirkungsziel beider Textgattungen. Drittens eignet sowohl der Erfahrung der frommen Lektüre als auch dem Faktum des geleisteten Vollzugs ein Status der Verwirklichung, der nicht als rein zeichenhaft oder ästhetisch wirksam gefasst werden kann und in dem sich horizontale und vertikale Vermittlungsdimensionen konkretisieren sowie amalgamieren. Unter Rückgriff auf eine Begriffsbildung Erich Auerbachs schlage ich deshalb vor, diese Texte als in einer Logik der Figuration verhaftet zu begreifen, die auf je eigen wirklichkeitshafte Dynamiken der verheißenden Vorbildgabe und erfüllenden Nachbildung von Text, Handlung und Effekt abhebt. › Wirklichkeit ‹ verstehe ich dabei mit Auerbach als ein »Textphänomen, bei dem der Text [ … ] als eine stabile (wenn auch nicht unveränderliche) Bezugsebene fungiert.« 64 In der Begegnung mit Texten oder anderen Medien konstruiert sich › Wirklichkeit ‹ in diesem Sinne einerseits als zumindest angenommene Faktizität des medial Vermittelten 64 Hanna Engelmeier: Die Wirklichkeit lesen. Figura und Lektüre bei Erich Auerbach, in: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des Figura-Aufsatzes von Erich Auerbach, hg. v. Friedrich Balke u. Hanna Engelmeier, Paderborn 2 2018, S. 89 - 118, hier S. 90. Vgl. zum Wirklichkeitsbegriff bei Auerbach auch den Aufsatz von Niklaus Largier: Die Figur des Realen. Zur Konvergenz von Realität und Möglichkeit, in: Die Wirklichkeit des Realismus, hg. v. Veronika Thanner, Joseph Vogl u. Dorothea Walzer, Leiden u. a. 2018, S. 41 - 56. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 25 <?page no="26"?> bzw. des durch diese Vermittlung innerlich oder äußerlich Wahrgenommenen. 65 Damit steht dieser schillernde Begriff andererseits aber auch für die Faktizität der Wirkung des auf diese Weise Erfahrenen - und hierbei gegebenenfalls durch ein Medium gezielt Evozierten - , das über den Prozess der Wahrnehmung hinausgehende Effekte auf die innere Verfasstheit der Rezipierenden oder die Realität der äußeren Welt zeitigt. 66 Frömmigkeitspraktische Texte des Mittelalters sind, so Niklaus Largier, in letzterem Sinne gekennzeichnet durch ein »Insistieren [ … ] auf dem Faktischen der Erfahrung, in der sich die Transformation der Wahrnehmung als Wirklichkeit gibt«. 67 Diese Bedeutungsebene von › Wirklichkeit ‹ steht nah am mittelalterlichen Ursprung dieses Wortes, das, wie Burkhard Hasebrink ausführt, »wohl erstmals von dominikanischen Theologen um 1300 verwendet« wird, die es »zur Bezeichnung eines Wirkens und Wirksamseins im Vollzug (in der Übersetzung von lat. actus und actualitas)« verwenden. 68 Gebets- und Andachtstexte sowie die ihnen eingeschriebenen Rezeptionsangebote partizipieren an einer auf diese Weise verstandenen »religiösen Wirklichkeitskonstruktion«, 69 indem sie, selbst oftmals z. B. durch biblische oder liturgische Modelle vorgebildet, das religiöse Sprechen, Denken, Fühlen und Handeln ihrer Rezipierenden präfigurieren sowie darüberhinausgehend vielfältige Prozesse der Vermittlung und Vergegenwärtigung von Heil anzustoßen versuchen. In dem nun anskizzierten wirkungsästhetischen Dreieck von in ihrer rhetorischen Form und Zeichenstruktur vertikal auf das Heilige orientierender Bildrede, horizontal vergegenwärtigender Immersion des Lesers in einen sprachlich konstruierten Erlebensraum sowie darauf aufruhenden Dynamiken einer wirklichkeitsstiftenden Figuration situieren sich, so versuche ich aufzuzeigen, die Rezeptionsangebote und -effekte spätmittelalterlicher Gebetbuchliteratur. Je nach Einzelfall variieren dabei Zusammenspiel und Gewichtung dieser drei Ebenen. Für die Untersuchung schriftlicher Gebete und Andachten ergibt sich daraus die Möglichkeit eines analytischen Blicks, der weder das Religiöse dieser Texte in einer Interpretation ad usum Delphini auf literarisches Kunsterleben unter vormodernen Bedingungen reduziert noch sie auf bloße Funktionalität im sozialen Gebrauchskontext verkürzt. 65 Methodisch abzutrennen ist dieser Wirklichkeitsbegriff von dem für die Begriffsverwendung in der Moderne ausschlaggebenden Kriterium einer intersubjektiven, empirischen Qualität. Insbesondere für die Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten ist dieser Punkt entscheidend. Denn, wie Linus Möllenbrink ausführt: » › Wirklich ‹ ist in mittelalterlicher, christlich fundierter Weltsicht etwas anderes als die empirische Welt: Die Wirklichkeit ist nicht in erster Linie empirisch evident, sondern garantiert von« Gott, der als Bürge für die Verlässlichkeit menschlichen Erkennens verstanden werde (Linus Möllenbrink: Person und Artefakt. Zur Figurenkonzeption im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Tübingen 2020 [Bibliotheca Germanica 72], S. 66). Vgl. hierzu grundlegend auch Hans Robert Jauß: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, hg. v. Hans Robert Jauß, München 2 1969, S. 9 - 27. 66 Zur Illustration dieses Punktes könnte eine Brücke zu den aktuellen medienwissenschaftlichen Diskussionen um › virtuelle Realitäten ‹ geschlagen werden, auf die ich in Kapitel I.4 näher eingehe. Siehe dazu unten S. 74 - 78. 67 Largier 2018, S. 18. 68 Burkhard Hasebrink: Die Ambivalenz des Erneuerns. Zur Aktualisierung des Tradierten im mittelalterlichen Erzählen, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, hg. v. Ursula Peters u. Rainer Warning, München 2009, S. 205 - 217, hier S. 209. 69 Breitenstein/ Schmidt 2019, S. 278. 26 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="27"?> Ausgehend von diesen drei wirkungsästhetischen Leitkategorien nehme ich anschließend drei Untergattungen aus dem Bereich der Gebetbuchliteratur in den Blick. In meinem zweiten Kapitel steht hierbei die vielfältige Gruppe der Rosenkranzgebete im Vordergrund, die ich vor allem im Hinblick auf das durch die jeweiligen Texte angeregte Verfahren eines quantifizierten Betens untersuchen möchte, das den Betenden einerseits das Leben und Leiden Christi innerlich präsentifiziert und andererseits als figurierendkonkretisierende Fertigung geistlicher Blumenkränze konzipiert ist, die als Gaben in der Hoffnung auf eine gnadenmächtige Gegengabe imaginativ an Maria zu überreichen sind. Neben dem Mirakel Marien Rosenkranz, das als Ursprungsnarrativ dieser Gebetsform gelten darf, rücken dabei nacheinander die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause, insbesondere der Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen, der diese Weise des Betens erklärende und propagierende Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe sowie schließlich die im Umfeld der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 entstandenen Gebetsanweisungen und -erläuterungen in den Blick. Hier lässt sich auch eine diachrone Entwicklungslinie nachzeichnen, im Laufe derer eine ursprünglich in der monastischen Privatfrömmigkeit verankerte und am Psalter orientierte Gebetsform sich über das Spätmittelalter hinweg zunehmend ebenso laikalisierte wie kollektivierte und dabei immer wieder neue Formen der Medialisierung von Heil, Verfahren der Vertiefung und figurale Verdichtungen von Frömmigkeit hervorbrachte. Verwandt mit dem Rosenkranz sind die zahlreichen vestimentären geistlichen Übungen des Spätmittelalters, die dazu anleiten, aus Gebeten und anderen Frömmigkeitsleistungen einen Ornat für Maria oder andere ausgewählte Heilige anzufertigen. Auch diese Gebetsform, die im Zentrum des dritten Kapitels der folgenden Studie steht, ist zuerst durch eine geistliche Verserzählung bezeugt und erläutert, die entsprechende Andachts- und Gebetstexte prädatiert: Das um 1300 entstandene Marienmirakel Heinrichs des Klausners erzählt von der wundersamen Fertigung eines Mariengewandes im Gebet. Mit dem Alemannischen Marienmantel und dem Pallium beate Marie virginis des Dominikus von Preußen entstehen dann gegen Mitte des 15. Jahrhunderts komplexe schriftliche Gebetsübungen und mit ihnen verknüpfte Frömmigkeitstexte, die keinen narrativen Charakter besitzen, sondern ihr Lesepublikum vielmehr dazu instruieren, aus dem Rohmaterial von Gebeten und Askeseleistungen ein geistliches Textilkunstwerk zu fertigen. Als Schutzmantel der heiligen Jungfrau verspricht dieses imaginierte Werkstück, den darunter geborgenen und an seiner Herstellung beteiligten Gläubigen die gnadenhafte Fürsprache Marias zu vermitteln. Derartige Mantelgebetsübungen, die bis in die Frühe Neuzeit in verschiedener Form verbreitet bleiben, verschmelzen, wie ich nachfolgend ausführe, erstens in einem Imaginationsverfahren des › handwerklichen Betens ‹ eine Versenkung der Betenden in überwältigende, ekphrastisch evozierte Prachtbilder des Materiellen mit komplexen Allegorisierungen dieser imaginierten Gegenstände. Darauf aufbauend konzipieren sie zweitens den Gebetstext und seinen Vollzug als Material, aus dem sich geistlich-konkrete Kunstgegenstände fertigen lassen, denen einerseits eine realitätshafte Wirkmächtigkeit eignet, die andererseits aber auch in einer zeichenhaften Kette des Figuralen stehen, in der sie sowohl biblische Präfigurationen der Vergangenheit sublimierend erfüllen sollen als auch auf das Versprechen zukünftiger göttlicher Gnade vorwegweisen. Während Rosenkränze und gebetete Kleider sowohl eine Dynamik der Verinnerlichung von Wahrnehmung und Herstellung als auch eine prinzipiell entgegengesetzte Logik der Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 27 <?page no="28"?> gabenhaften Veräußerung des dergestalt produzierten geistlichen Gegenstands anstoßen, richtet sich das an vierter und abschließender Stelle untersuchte Textkorpus denkbar eindeutig auf die Interiorität des gläubigen Menschen. Denn das weite Feld der schriftlichen Seelenhäuser und Herzklöster bedient sich der Allegorie vom inneren Gebäude, um auf diese Weise ein Ideal der Verfasstheit des christlichen homo interior zu veranschaulichen. Im gleichen Zuge entwerfen derartige Texte wiederum ein durch biblische Erzählungen oder klösterliche Lebensumstände präfiguriertes Vorbild, dem sich der individuelle Gläubige innerlich nachzubilden gefordert ist. Die Erfüllung der Figura des inneren Bauwerks ereignet sich, so der Anspruch entsprechender Gebets- und Andachtsübungen, letzthinnig im je einzelnen Leser, der sein tiefstes Selbst in Angleichung an den Vorentwurf des jeweiligen Texts zum auf die Einkehr des Heiligen harrenden Haus Gottes formt. Allegorische Bildrede erscheint demgemäß in Texten wie den unterschiedlichen Bearbeitungen des Herzklosters, Traktaten wie dem Geistlichen Haus oder Gebetsübungen wie der Constructio domus sive aule Marie des Dominikus von Preußen oder dem niederdeutschen Geistlichen Weihnachtshaus nicht als rein referentielle, konkrete Bezeichnung eines Abstrakten. Vielmehr bieten diese Texte einen Vollzug in Form einer Errichtung innerer Selbstwirklichkeit, das heißt › Erbauung ‹ im Literalsinn an. 70 Die Auswahl der in diesen drei Kapiteln untersuchten Textkorpora geschah nicht willkürlich. Rosenkränze, Marienmäntel und geistliche Häuser finden sich zunächst, wie unten genauer ausgeführt, vielfach gemeinsam überliefert und verbreiten sich oft über die gleichen klösterlichen Netzwerke. Zudem überschneiden sich auch die Abfassungsorte und sogar Verfasser der entsprechenden Texte mehrfach: Immer wieder weisen sie beispielsweise auf die Skriptorien der elsässischen Frauenklöster, entstammen der Trierer Kartause und insbesondere der Feder des Dominikus von Preußen, greifen auf Mirakel aus dem Umfeld des Alten Passional oder das Helftaer Mystikkorpus zurück, werden von den Gebetsbruderschaften des 15. Jahrhunderts an Nieder- und Oberrhein aufgenommen oder stehen im Zusammenhang mit der dominikanischen Observanzbewegung. Schließlich beruhen alle drei Textkomplexe, auf die ich hier ein Schlaglicht werfen möchte, auf dem Grundgedanken einer durch die Schrift angeleiteten Herstellung einer geistlichen Wirklichkeit, die sich bei der Lektüre vor den inneren Augen der Lesenden entfalten soll und dabei nicht bloß in einem Analogieverhältnis zur stofflichen Realität steht, sondern sie in ihrer gesteigerten Eindrücklichkeit und heilsvermittelnden Wirkung sogar zu übertreffen vermag. Auch dieser Punkt legt ihre gemeinsame Untersuchung nahe. Durch den Editionsanhang dieser Arbeit versuche ich, zumindest einige Zentraltexte aus diesem Feld einem weiteren wissenschaftlichen Publikum zugänglich zu machen. Hierbei ist nicht zu leugnen, dass sich diese Arbeit hätte weiter ausdehnen lassen. So konnte ein ursprünglich geplantes Kapitel zu Texten, die Andacht und Gebet vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Eucharistiefrömmigkeit als geistliche Speisen konzipieren, im gegebenen Rahmen nicht verwirklicht werden. Zentrale Ergebnisse der 70 Zu dem komplexen Begriff › Erbauung ‹ , auf den ich in den Kapiteln IV.1 und IV.2.2 genauer eingehe, siehe zuletzt vor allem die Beiträge in Susanne Köbele u. Claudio Notz (Hgg.): Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in › Erbauungs ‹ -Konzepten des Mittelalters, Göttingen 2019 (Historische Semantik 30). 28 Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall <?page no="29"?> entsprechenden Vorarbeiten habe ich jedoch inzwischen an anderer Stelle veröffentlicht. 71 Auch motivisch und strukturell angrenzende Typen geistlicher Übungen, so z. B. die zahlreichen geistlichen Gärten und Schmucktexte, 72 werden nachfolgend nur peripher angesprochen - eine detaillierte Aufarbeitung auch dieser Korpora bleibt ein Forschungsdesiderat. Zudem musste ich mich bei der Auswahl der exemplarisch einem close reading unterzogenen oder im Anhang edierten Texte aus pragmatischen Gründen beschränken. Trotzdem bleibt die doppelte Hoffnung, mit den folgenden Untersuchungen und Beispieleditionen erstens einen wenn auch begrenzten Bereich des geistlichen Schrifttums erstmalig zu erschließen, sowie zweitens eine vorsichtig auch auf andere Fälle übertragbare, rezeptionsästhetisch orientierte Perspektive auf die spätmittelalterliche Gebetbuchliteratur zu entwickeln, aus der heraus die besondere Wirk- und Faszinationsmacht dieser Texte auf ihr historisch alteritäres Umfeld auch für ein gegenwärtiges Lesepublikum greifbar wird. 71 Vgl. Björn Klaus Buschbeck: Eintauchen und Einverleiben. Die Andachtsübung Wirtschaft des Leidens Christi aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis, in: Vielfalt des Religiösen. Mittelalterliche Literatur im postsäkularen Kontext, hg. v. Susanne Bernhardt u. Bent Gebert, Berlin/ Boston 2021 (Literatur - Theorie - Geschichte 22), S. 23 - 49. 72 Zu geistlichen Gärten liegt mit Schmidtke 1982 bereits ein fundierter Überblick vor. Einleitung: Das Gebet als literaturwissenschaftlicher Gegenstand und Grenzfall 29 <?page no="31"?> I Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug: Wirkungsästhetische Dimensionen von Hinkehr, Eintauchen und Nachbildung <?page no="33"?> 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes: Facetten eines mittelalterlichen Begriffs von Gebet und Andacht Es giebt im Grunde nur Gebete, so sind die Hände uns geweiht, daß sie nichts schufen, was nicht flehte; ob einer malte oder mähte, schon aus dem Ringen der Geräte entfaltete sich Frömmigkeit. 1 Diese Verse finden sich im 1899 erschienenen ersten Teil von Rainer Maria Rilkes Stunden- Buch, den der Dichter, den ursprünglichen Arbeitstitel »Die Gebete« verwerfend, mit »Das Buch vom mönchischen Leben« überschrieb. 2 Sie entwerfen eine Vorstellung des Gebets, wie sie umfassender nicht sein könnte: Alles menschliche Handeln und Schaffen wird als gebethaft verstanden, nirgendwo ist dort etwas zu finden, › was nicht flehte ‹ . Künstlerische und handwerkliche Arbeiten, ja sogar das technische › Ringen der Geräte ‹ stellen sich notwendigerweise als implizite Hinwendung zur Transzendenz dar. Dieser Gottesbezug aller Tätigkeiten erscheint im Gedicht gleichsam als anthropologische Grundkonstante, denn › so sind die Hände uns geweiht. ‹ Das Schöpfen der Geschöpfe, so will es Rilkes Gedicht, realisiert sich auf diese Weise allenthalben als Rückbezug auf den göttlichen Schöpfer. Nun gehören diese Zeilen nicht nur ihrer Form und Sprache nach der Moderne an, auch die Ubiquisierung des Gebetsbegriffs, den sie betreiben, erscheint mehr als Ausdruck einer ästhetisierten Kunstsakralisierung um 1900 denn als konzeptuelle Übernahme aus der monastischen Kultur des Spätmittelalters, auf die der Gedichtzyklus auch jenseits seines Titels immer wieder referiert. Obgleich Rilke die geistliche Literatur des Mittelalters intensiv rezipierte 3 und den Wort- und Motivschatz christlicher Religiosität immer wieder »als Stoffreservoir und als Inspirationsquelle« 4 für sein eigenes Schreiben heranzog, unterscheidet sich das Stunden-Buch in seinem historisch-literarischen Kontext, intendierten Lesepublikum und künstlerischen Anspruch augenfällig von den Gebetbüchern des ausgehenden Mittelalters, auf die es verweist und zurückgreift. Trotz dieser Vorbehalte jedoch erlaubt es Rilkes Gedicht, eine grundlegende Frage- und Problemstellung zu illustrieren, die sich bei der Betrachtung des weiten Feldes der Gebets- 1 Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch, in: Werke in sechs Bänden, eingel. v. Beda Allemann, Band I.1: Gedicht-Zyklen, Frankfurt a. M. 3 1984, S. 5 - 126, hier S. 36. 2 Siehe zur Entstehung und Einordnung des Gedichtzyklus grundlegend Wolfgang Braungart: Das Stunden-Buch, in: Rilke-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hg. v. Manfred Engel, Stuttgart/ Weimar 2004, S. 216 - 227. Mit dem gebetsähnlichen Stil des Stunden-Buchs befasst sich Aris Fioretos: Prayer and Ignorance in Rilke ’ s › Buch vom mönchischen Leben ‹ , in: The Germanic Review 65.4 (1990), S. 171 - 177. 3 Siehe dazu z. B. Georg Steer: Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts, in: › Gott ‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, hg. v. Norbert Fischer, Hamburg 2014, S. 361 - 380; sowie Martina Wagner- Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 63 - 107. 4 Sascha Löwenstein: Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch. Theologie und Ästhetik, Berlin 2005, S. 128. <?page no="34"?> und Andachtstexte des 14. bis 16. Jahrhunderts auftut und als Kernschwierigkeit der literaturwissenschaftlichen Untersuchung dieses vielfältigen Korpus gelten darf. Denn wie lassen sich Begriffe wie › Gebet ‹ oder › Andacht ‹ , deren Umfang weit über literarische Gattungsbezeichnungen hinausgeht, vor dem Hintergrund der Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters sinnvoll definieren und für ein Verständnis der mit ihnen verbundenen Texte fruchtbar machen? Insbesondere da diese Bezeichnungen zeitgenössisch sowohl spezifische Frömmigkeitspraktiken und -texte als auch mit ihnen verbundene, übergreifende Vorstellungen der unentwegten Hinwendung zum Heiligen in allen Dingen meinen können, bedarf es hier eines genaueren Blicks. Die Semantik von Gebet und Andacht oszilliert unentwegt zwischen immanentem Sitz im Leben und Ausrichtung auf die Transzendenz, zwischen den äußerlichen Aspekten des Vollzugs und der Innerlichkeit der Schau, zwischen sozialer Praxis und individueller Hinkehr zu Gott. Welche Wege der Integration dieser noch bei Rilke aufscheinenden, partiell in Spannung stehenden Augenmerke einerseits auf eine innere Hinwendung des Menschen zum Heiligen und andererseits auf eine durch diesen Bezug hergestellte Strukturierung und Sublimierung des äußeren Alltags also entwirft die geistliche Literatur des Mittelalters? Grundsätzlich begreifen christliche Autoren des Mittelalters das Gebet im engeren Sinne religiöser Praxis zumeist als absichtsvolle und kommunikative Hinwendung eines immanenten Menschen zum transzendenten Heiligen, die affektive, perzeptive und heilsvermittelnde Effekte zeitigen soll. So findet sich in der 39. Predigt des Dominikaners Johannes Tauler (ca. 1300 - 1361) als Antwort auf die Frage danach, was das Gebet als solches ausmache, eine weite und denkbar untechnische Definition: Das wesen dis gebettes das ist ein ufgang dis gemu ᵉ tes in Got. 5 Diese Formel geht zurück auf eine im Mittelalter gängige Auffassung des Gebets als ascensus mentis in Deum, die ihren Ursprung wesentlich bei Johannes von Damaskus (ca. 650 - 754) nimmt. 6 Statt z. B. den performativen Akt des Betens, die Form des Gebetstexts oder seinen Inhalt hervorzuheben, bestimmt sich das Gebet nach diesem Verständnis durch die Herstellung einer geistigen Nähe des Gläubigen zu Gott, die sich zumeist als Kommunikation mit dem Überweltlichen ausprägt. In einer Steigerung dieses Gedankens versteht auch Meister Eckhart (ca. 1260 - 1328), der sich an anderer Stelle durchaus auch als scharfer Kritiker insbesondere des mit einer weltimmanenten Wirkungserwartung verbundenen Bittgebets äußert, das Gebet als Zwiegespräch mit Gott, an dessen Fluchtpunkt ein in der Einheit aufgegangenes Mitsprechen steht: oratio est cum deo confabulatio, heißt es in seiner lateinischen Predigt 47. 7 5 »Das Wesen des Gebets ist ein Aufgehen des Gemüts in Gott« (soweit nicht anders angemerkt oder aus zweisprachigen Ausgaben zitiert stammen alle folgenden Übersetzungen von mir), Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, S. 154,16 f. Zu dieser Stelle vgl. auch die Diskussion bei Wiederkehr 2013, S. 127. 6 In der Schrift De fide orthodoxa des Johannes von Damaskus heißt es: Oratio est ascensus mentis in Deum: aut eorum quae consentanea sunt postulatio a Deo (»Das Gebet ist ein Aufstieg des Geistes zu Gott oder eine Bitte an Gott um gemäße Dinge«, Joannes Damascenus: Expositio Fidei orthodoxæ, in: Patrologia Graeca 94 [1864], Sp. 790 - Sp. 1228, hier Sp. 1090 [III,24]). 7 »Das Gebet ist ein Zwiegespräch [oder: Mitsprechen] mit Gott«, Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die lateinischen Werke, Bd. 4: Magistri Echardi Sermones, hg. u. übers. v. Ernst Benz, Bruno Decker u. Joseph Koch, Stuttgart 1956, S. 404,13. Zu dieser Stelle im Besonderen sowie allgemein zu Eckharts Gebetsverständnis vgl. ausführlich Freimut Löser: Oratio est cum deo confabulatio. Meister Eckharts Auffassung vom Beten 34 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="35"?> Obschon gerade letztere Formulierung in ihrer Hintersinnigkeit hervorsticht, sind derartige Begriffsbestimmungen keine intellektuelle Neuerung Eckharts und Taulers oder idiosynkratisch für die Autoren der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ des 14. Jahrhunderts, der die beiden Dominikanergelehrten zugerechnet werden. Bereits Evagrius Ponticus (ca. 345 - 399) umschrieb, weit vor der ascensus-Wendung des Johannes von Damaskus, in dem Traktat De oratione das Gebet als geistige Unterredung mit Gott: Oratio est colloquium intellectus cum Deo. 8 In der Religionswissenschaft und christlichen Theologie der Gegenwart finden derartige Definitionen nach wie vor Anwendung. So bestimmt beispielsweise die Theologische Realenzyklopädie das Gebet grundlegend als »Ausdruck menschlicher Zuwendung zur Gottheit«. 9 Auch Karl-Heinrich Ostmeyer geht in einer einschlägigen Studie zum Gebet im Neuen Testament in diese Richtung: »Unter Gebet sei jede Form der Kommunikation mit Gott und Christus verstanden, sei sie verbal oder nonverbal.« 10 Wie Christian Schmidt und Mirko Breitenstein aufzeigen, erweist sich eine derartige Auffassung des Gebets »als Kommunikation über die Grenze von Diesseits und Jenseits hinweg« auch für literaturwissenschaftliche Untersuchungen, die sich auf entsprechende Schriften richten, als treffend und fruchtbar - erlaubt sie es doch, die komplex-prekären heilsmedialen Ansprüche und performativen Angebote dieser Texte zu berücksichtigen, ohne dabei in ein reduktiv-anachronistisches Deutungsschema von ästhetischer Qualität und sozialer Funktion zu verfallen. 11 Dementsprechend übernehme auch ich folgend prinzipiell diese Definition, zumindest wenn es um das Beten als schrift- und sprachmedial informierte Praxis geht. In Hinblick insbesondere auf die den in den Folgekapiteln untersuchten Gebets- und Andachtstexten eingeschriebenen Programme des Vollzugs halte ich jedoch drei zusätzliche, untergeordnete Ausdifferenzierungen für notwendig, die auf die affektiven wie kontemplativen Dynamiken mittelalterlicher Gebetsbegriffe, ihre davon abhängigen Überschneidungen mit zeitgenössischen Konzeptionen von Meditation und Andacht sowie die durch sie entworfenen Verhältnissetzungen von äußerer Welt und gottsuchender Innenkehr eingehen. Erstens nämlich kann eine dergestalte Grundbestimmung nicht kaschieren, dass das westliche Mittelalter ausgehend von einem Gebetsbegriff der kommunikativen Beziehung zu Gott vielfältige definitorische Akzentuierungen vornahm, die neben deprekatorischen vor allem affektive oder meditative Aspekte des Betens hervorstreichen. So hebt beispielsweise die kurze und seit dem Hochmittelalter vielverbreitete Schrift De modo orandi des Augustinerchorherren Hugo von St. Viktor (ca. 1097 - 1141) 12 insbesondere auf die und seine Gebetspraxis, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. v. Walter Haug u. Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 283 - 316. Die Bedeutung des Begriffs confabulatio in diesem Zusammenhang analysiert Largier 2009, S. 955 - 958. 8 »Das Gebet ist eine Unterredung des Verstandes mit Gott«, [Evagrius Ponticus: ] De oratione tractatus, in: Patrologia Graeca 79 (1865), Sp. 1165 - 1200, hier Sp. 1167. 9 Carl Heinz Ratschow: Art. Gebet I: Religionsgeschichtlich, in: TRE 12 (1984), S. 31 - 34, hier S. 31. 10 Karl-Heinrich Ostmeyer: Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, Tübingen 2006 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 197), S. 32. Im Original hervorgehoben. 11 Breitenstein/ Schmidt 2019, S. 279. 12 Zur Einordnung Hugos und der zeitgenössischen Bedeutung seines Werks vgl. Paul Rorem: Hugh of Saint Victor, Oxford u. a. 2009 (Great Medieval Thinkers Series). 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 35 <?page no="36"?> Affekthaltungen ab, die einer betenden Hinkehr des individuellen Christen zu Gott eigentümlich seien: Nihil ergo aliud est oratio quam mentis devotio, id est conversio in Deum per pium et humilem affectum, fide, spe, charitate subnixa. 13 Anliegen, Form oder mediale Struktur des Betens gelten dem Viktoriner als bloß akzidentiell - sie stellen keine definierenden Eigenschaften der mit lateinisch oratio oder mittelhochdeutsch gebête umschriebenen Frömmigkeitspraxis dar. Stattdessen fasst Hugo das Beten als ebenso voraussetzungsvolle wie folgenreiche geistige Ergebenheit oder Hingabe (devotio) und Hinkehr (conversio) zu Gott auf, die weniger im sprachlichen Inhalt des vorgebrachten Texts als in der emotionalen Verfasstheit des Betenden anklingt und sich fundiert in den theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung. Vor allem Niklaus Largier ist die Aufarbeitung eines auf diese Weise affektfokussierten Gebetsverständnisses für die mediävistische Forschung zu verdanken, demzufolge das Beten »first and foremost an art of arousing affects and emotions« darstelle. 14 Für die folgenden Textanalysen ist dies insofern von besonderer Bedeutung, als dass sich im Zusammenhang geistlicher Übungen beispielsweise rhetorische Figuren und Momente der Bildrede, die auf die gefühlsmäßige Affizierung des Lesers zielen, zumeist vor dieser Folie verstehen und greifen lassen. Darüber hinaus kennt das Mittelalter zweitens auch ein oftmals damit verschränktes, meditatives Gebetsverständnis, das vor allem nach Formen der inneren Vergegenwärtigung vergangener ebenso wie künftiger Heilsereignisse sowie nach Sensibilisierung des Gläubigen für die Allgegenwart und Allmacht Gottes trachtet. Das meditative Gebet »bildet in der Acht und Betrachtung das Heilsgeschehen in die eigene Innerlichkeit ein und erweckt es zu neuer Lebenskraft«. 15 Schon Johannes Cassianus (ca. 360 - 435) bettet in seinen Collationes das Beten demgemäß in eine »Lehre von der Discretio und Contemplatio sowie der stufenweisen Verinnerlichung des Schauens« ein, wobei discretio hier das »Gespür für die göttliche Allgegenwärtigkeit und Wirksamkeit« meint, das in der kontemplativen Frömmigkeitspraxis eingeübt und geschärft werden soll. 16 In einem in seiner Grundstruktur mit Cassianus ’ Stufenweg vergleichbaren Vierschritt von der Schriftlesung (lectio divina) zur innerlichen Betrachtung des Gelesenen (meditatio), zum dieses Betrachten zurückspiegelnden Gebet (oratio) und schließlich zur in brautmystischer Bildlichkeit beschriebenen inneren Gottesbegegnung (contemplatio) fügt in der Scala claustralium achthundert Jahre später auch Guigo der Kartäuser (vor 1174 - 1193) das Beten in einen umfassenden Zusammenhang der inneren Annäherung 13 »Nichts anderes ist also das Gebet als die Andacht (devotio) des Geistes (mens), es ist die Hinwendung zu Gott durch eine fromme und demütige Leidenschaft (affectus), die sich auf Glauben, Hoffnung und Liebe stützt«, Hugo von St. Viktor: De modo orandi, in: Patrologia Latina 176 (1854), Sp. 977 - 988, hier Sp. 979. 14 Niklaus Largier: The Art of Prayer. Conversions of Interiority and Exteriority in Medieval Contemplative Practice, in: Rethinking Emotion. Interiority and Exteriority in Premodern, Modern, and Contemporary Thought, hg. v. Rüdiger Campe u. Julia Weber, Berlin/ Boston 2014 (Interdisciplinary German Studies 15), S. 58 - 71, hier S. 62 f. 15 H. M. Biedermann: Art. Gebet, in: LexMA 4 (1989), Sp. 1155 - 1158, hier Sp. 1156. Vgl. ausführlicher den Überblick über das meditative Gebet des Mittelalters bei Ratschow 1984, S. 69 f. 16 Achten 1987, S. 15 f. Die Passagen, die hier referiert werden, finden sich in Johannes Cassianus: Collationes XXIIII, hg. v. M. Petschenig, editio altera supplementis aucta curante G. Kreuz, Wien 2004 (CSEL 13) [insb. Coll. VIII - X]. Vgl. zu Cassianus ’ Gebetsauffassung auch Rachel Fulton: Praying with Anselm at Admont. A Meditation on Practice, in: Speculum 81.3 (2006), S. 700 - 733, hier S. 701 f. 36 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="37"?> ans Transzendente ein. 17 In Schriftlesung und Meditation nämlich, so Guigo, erahne die Seele die Fülle göttlicher Schau und die Süße der Gegenwart des Heiligen, ohne sie jedoch aus eigener Kraft erreichen zu können: Non enim est legentis atque meditantis hanc sentire dulcedinem, nisi data fuerit desuper. 18 Deshalb bittet die Seele anschließend im Gebet Gott um die Gewährung dessen, was sie lesend und betrachtend nur schemenhaft verspürte: Da mihi, Domine, arrham hæreditatis futuræ, saltem guttam c œ lestis pluviæ, qua refrigerem sitim meam; quia amore ardeo. 19 In der kontemplativen Gottessuche im eigenen Inneren schließlich könne auf eine derartige, das Gebet beantwortende Gnade gehofft werden. Dieser und vergleichbare Entwürfe einer Frömmigkeit, die Gebet und Andacht als Teile eines weitgreifenden, oft stufenhaft modellierten Komplexes der inneren Gottsuche begreifen, prägten die Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters entscheidend. 20 Nicht nur gründet der zeitgenössische Gebetsdiskurs, so beispielsweise die unten noch genauer angesprochenen Sieben Staffeln des Gebets des Franziskaners David von Augsburg (ca. 1200 - 1272), vielfach auf einem dergestalt meditativen Gebetsbegriff, der sich mitunter ins Ubiquitäre ausweitet. Auch das Gros der in den Folgekapiteln dieser Untersuchung behandelten Rosenkränze, Marienmäntel und inneren Häuser kombiniert in unterschiedlichen Konstellationen Gebet, Meditation und Kontemplation. Besonders, wenn wie unten die immersiven Lektüreangebote derartiger Texte in den Blick gerückt werden, wird dies augenfällig. In vielen Fällen erschwert dies eine scharfe Trennung zwischen Gebet und Andacht sowohl als religiöse Praktiken wie auch als Textgattungen. Johanna Thali, die in einem erkenntnisreichen Aufsatz die Semantik der für die spätmittelalterliche Frömmigkeit als Leitvokabeln fungierenden Begriffe andacht und betrachtung untersucht, stellt heraus, dass andacht sich in diesem Kontext »zunehmend auf die religiöse Bedeutung › Denken an Gott, innere Sammlung beim Gebet ‹ « verenge. 21 Grundsätzlich bezeichne das Wort eine »gottergebene Haltung«, die sich »auf das liturgische wie auch das private Gebet, auf den Sakramentenempfang oder auf körperliche Frömmigkeitsübungen« ebenso wie auf die zeitgenössische Meditationspraxis beziehen könne. 22 Johannes Tauler beispielsweise benennt in diesem Sinne Andacht als notwendige Vorbedingung und Bestandteil des Betens: Zu ͦ dem gebett ho ᵉ rt andacht. 23 Die anschließende Frage, was andaht denn überhaupt sei, beantwortet er wie folgt: daz ist devocio, das ist also viel gesprochen also › quasi se vovere deo ‹ , ein innewendig verbinden mit Gotte mit einer bewegunge der ewikeit. 24 Nicht nur aufgrund von Taulers Bestimmung von andacht als zugehörig zum gebett illustriert diese 17 Vgl. [Guigo der Kartäuser: ] Scala claustralium sive tractatus de modo orandi, in: Patrologia Latina 184 (1862), Sp. 475 - 484, insb. Sp. 476 - 479; sowie die deutsche Übersetzung Guigo der Kartäuser: Scala claustralium. Die Leiter der Mönche zu Gott, übers. v. Daniel Tibi, Nordhausen 3 2011. 18 Guigo der Kartäuser: Scala claustralium, Sp. 478 (»Diese Süßigkeit kann nicht durch Lesung und Meditation erlangt werden. Sie kann nur von oben geschenkt werden«, Übers. Tibi 2011, S. 7). 19 Ebd. (»Gib mir, Herr, ein Unterpfand der künftigen Herrlichkeit, wenigstens einen Tropfen des himmlischen Taus, um mein Verlangen zu stillen, denn ich brenne vor Liebe.« Übers. Tibi 2011, S. 8). 20 Vgl. Achten 1987, S. 16 f. 21 Thali 2012, S. 265. 22 Ebd. 23 »Zu dem Gebet gehört Andacht«, Tauler: Predigten, S. 419 [Pr. 78]. 24 »Das ist devotio, das heißt so viel wie › sich gewissermaßen Gott versprechen ‹ , ein innerliches Sich- Verbinden mit Gott in einer Bewegung der Ewigkeit«, ebd. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 37 <?page no="38"?> Stelle eine konzeptuelle Teilüberschneidung von Andacht und Gebet. So entspricht die Definition von andacht als devocio oder innewendig verbinden zudem recht exakt Hugos von St. Viktor oben zitierter Auffassung des Gebets als mentis devotio. Das lateinische devotio wurde dabei, wie Thomas Lentes hervorstreicht, in der volkssprachigen religiösen Terminologie des Mittelalters regelmäßig mit innecheit übersetzt. 25 Damit heben Hugos Definition des Gebets und Taulers Begriffsbestimmung von Andacht beide ab auf einen innerlichen, »wesenhafte[n] Zustand der Gottesnähe«, der durch das Beten gesucht und in der Andacht erfüllt wird. 26 Die onomasiologisch verbundene Vokabel betrachten hingegen beschreibt, wie Thali z. B. an der Vita der Gutta Mestin aus dem St. Katharinentaler Schwesternbuch aufzeigt, zumeist eine imaginative »Technik des Betens« oder der Meditation, die auf die Herstellung dieser Nähe zum Heiligen zielt, also darauf, »sich etwas innerlich so lange und intensiv vorzustellen, bis es gegenwärtig wird«. 27 Sowohl andacht als auch betrachtung stehen also als Bezeichnungen für Voraussetzungen, Imaginationstechniken und Vollzugseffekte in einem engen Wechselverhältnis mit einem breiten Gebetsbegriff, der auf einen Akt der Hinkehr zur Transzendenz abhebt. An diesen semantischen Überschneidungen scheitert notwendigerweise der Versuch einer trennscharfen Differenzierung zwischen Gebet und Andacht. Denn »Meditation bildet bei den Exponenten der monastischen Theologie mit lectio und oratio eine Einheit. Es geht um geistliche Auslegung und affektive Aneignung des Textes, und sie ist dadurch bereits Gebet.« 28 Auch entsprechende Texte lassen sich oft bloß sehr formal abgrenzen. Heuristisch darf dabei dennoch gelten, dass Gebete stärker die kommunikativen Aspekte der in direkter Apostrophierung des Heiligen gesuchten Gottesgegenwart, Andachten dahingegen eher ihre affektiven und imaginativen Momente hervorheben, wobei die sprachliche Adressierung der Transzendenz als Gegenüber in letzterem Fall zumeist keine oder bloß eine untergeordnete Rolle spielt. Schlussendlich stellt sich, wird das spätmittelalterliche Gebet als Hinwendung zum Heiligen begriffen, in der kommunikative, affektive und meditative Wirkprinzipien zusammenfließen, die Frage nach Verortung und Stellenwert dieses Begriffs im religiösen Leben der Zeit ebenso wie nach seiner pragmatischen Einbettung in den persönlichen und gemeinschaftlichen Alltag der Betenden. Eine konzise Antwort hierauf gestaltet sich zwingend reduktiv. Denn zunächst kann eine religiöse Überformung und Semantisierung des gesamten Tagesablaufs, der damit gleichsam als (primär durch die Liturgie getragene) Frömmigkeitsübung konzipiert wurde, durchaus etwas generalisierend als distinktes Merkmal zunächst der benediktinisch-monastischen Spiritualität des Mittelalters verstanden werden. So gliedert die Benediktsregel nicht nur den Ablauf des Jahres durch genaue Anweisungen zum jeweils zu leistenden liturgischen Gebet, sie unterteilt auch die Woche des Mönchs nach demselben Prinzip und bestimmt seinen Tag durch die sieben 25 Siehe Thomas Lentes: › Andacht ‹ und › Gebärde ‹ . Das religiöse Ausdrucksverhalten, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400 - 1600, hg. v. Bernhard Jussen u. Craig Koslofsky, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), S. 29 - 67, hier S. 31 - 33. 26 Thali 2012, S. 255. 27 Ebd., S. 246. 28 Isnard W. Frank: Art. Gebet VI: Mittelalter, in: TRE 12 (1984), S. 65 - 71, hier S. 70. 38 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="39"?> Gebetszeiten von Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet und Matutin. 29 Auf diese Weise erlangen Gottesdienst und Psalmodie des Offiziums den Charakter einer allumfassenden Rahmenstruktur, die den Gottesbezug sämtlicher Aspekte des mönchischen Lebens hervorkehrt: Ubique credimus divinam esse praesentiam, führt die Regel aus. 30 Die vita religiosa, mit Gert Melville verstanden als »geregelte und gemeinschaftlich geführte Lebensform zur Selbstheiligung des Einzelnen in Begegnung und Verähnlichung mit Gott«, 31 begriff sich zumeist als Abkehr von der Welt, in der jede äußere Tätigkeit die Qualität einer inneren Hinwendung zum Heiligen erlangen sollte. Das Gebet in Chor und Zelle, das je nach Kloster- und später Ordenstradition in qualitativ und quantitativ unterschiedlicher Form gepflegt wurde, bildete dazu einen Überbau. Im weitesten Sinne gab es also für die Religiosen des Mittelalters, zumindest im metaphorischen Wortgebrauch des eingangs zitierten Gedichts von Rilke, › im Grunde nur Gebete ‹ . Zugleich jedoch verschränkte sich dieses Verständnis des (vor allem liturgischen oder paraliturgischen) Gebets als gesamtumfängliches Ordnungsprinzip des äußeren Lebens mit dem Anspruch auf tiefste Versenkung des Betenden ins eigene Innere. Letzteres, also die Betonung der je persönlichen Interiorität des (auch privaten) Betens, begründet sich in der frühen Exegese des Neuen Testaments, die vor allem ein Herrenwort aus dem Matthäusevangelium entsprechend verstand: »wenn du beten wirst, geh in dein Zimmer und bete, nachdem du deine Tür geschlossen hast, im Verborgenen zu deinem Vater! « (Mt 6,6). 32 Dieses Zimmer (cubiculum) wurde bereits in patristischer Zeit tropologisch als das Innere des individuellen Gläubigen gedeutet, in das dieser sich im Gebet zurückziehen solle: Cum ergo intras cubiculum tuum, intras cor tuum, legte dieses Logion beispielsweise Augustinus (354 - 430) aus, dessen Confessiones entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung eines Gebetsverständnisses nahmen, das dergestalt die Innerlichkeit der gesuchten Gottesnähe betont. 33 »Die Gebetspraxis des Mittelalters kannte« daher, wie Gerhard Achten treffend zusammenfasst, »zwei einander ergänzende und beeinflussende Richtungen: das ordnende benediktinische Prinzip, das den Tag in die liturgischen Gebetszeiten einteilt, und das emotionale augustinische Prinzip der Zwiesprache mit Gott.« 34 In den Texten des späteren Mittelalters, die unten im Zentrum stehen, sind diese beiden Gebetsverständnisse zumeist in verschiedener Gemengelage und Gewichtung amalgamiert. Die Ansprüche einer Strukturierung des äußeren Lebens und der nach innen gerichteten Weltabkehr werden hier zumeist nicht getrennt, sondern treten in beinahe kaleidoskopischen Konstellationen gemeinsam auf. Dabei darf eine Verallgegenwärtigung von Gebet und Andacht, in welcher die gottbezogene Versenkung zum stetigen Alltag und 29 Vgl. Die Benediktsregel. Lateinisch/ Deutsch, mit der Übersetzung der Salzburger Äbtekonferenz, hg. v. P. Ulrich Faust OSB, Stuttgart 2009 (RUB 18600), S. 57 - 75. 30 »Überall ist Gott gegenwärtig, so glauben wir«, ebd, S. 74 f. 31 Gert Melville: Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012, S. 272. 32 tu autem cum orabis intra in cubiculum tuum et cluso ostio tuo ora Patrem tuum in abscondito. Hier und im Folgenden zitiere ich die lateinische Vulgata und die deutschen Übertragungen der entsprechenden Stellen nach der Ausgabe Hieronymus: Biblia sacra vulgata, hg. v. Andreas Beriger, Widu-Wolfgang Ehlers u. Michael Fieger, 5 Bd.e, Berlin/ Boston 2018 (Sammlung Tusculum). 33 »Wenn du also in dein Zimmer eintrittst, so trittst du ein in dein Herz«, Aurelius Augustinus: Enarrationes in Psalmos, hg. v. E. Dekkers u. J. Fraipont, 3 Bd.e, Turnhout 1990 (CCSL 38 - 40), hier Bd. 1, S. 287 [XXXIII, sermo 2.8]. 34 Achten 1987, S. 7. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 39 <?page no="40"?> das Alltägliche zum Rahmen des Sich-Versenkens gedeiht, mitunter geradezu als Grunddynamik gelten. Dies begründet sich einerseits in generellen Veränderungen der religiösen Landschaft: So war ein besonderes Augenmerk auf das individuelle, über die Formvorgaben der Liturgie hinausgehende Ausgerichtet-Sein auf Gott zunächst charakteristisch für die Spiritualität der ab dem 13. Jahrhundert florierenden Mendikantenorden und intensivierte sich im Zuge der Devotio moderna sowie der Observanzbewegungen des 15. Jahrhunderts noch. 35 Damit hängt zusammen, dass im Zuge dieser Entwicklung hin zum Spätmittelalter das Privatgebet, zunehmend auch in der Volkssprache, stetig an Gewicht gewann und die diesbezüglichen Gebetbücher »immer stärker von der Liturgie gelöst« erscheinen, 36 so dass, wie Stefan Matter aufzeigt, bei der Kompilation der in ihnen enthaltenen Texte »in viel stärkerem Maße individuelle Vorlieben« der jeweiligen Betenden Berücksichtigung fanden. 37 Diese neue, individualisiertere Gebetskultur fand zudem neue Trägergruppen auch außerhalb des Mönchtums: Geistliche Frauen treten schon vor 1400 als »wichtigste Rezipientengruppe früher deutscher Privatgebetbücher« hervor und behalten diese Stellung bis in die Frühe Neuzeit inne. 38 Auch in der Laienfrömmigkeit, die oft monastische Gebets- und Andachtsformen adaptierte oder imitierte, wurde »das innere Beten in der Volkssprache im vollen Verständnis des Wortlauts« zum Zentrum persönlicher religiöser Praxis. 39 Die ihrer Form nach nun offenere geistige Hinwendung des Einzelnen zur Transzendenz war hierbei grundlegende Absicht einer Gebetsfrömmigkeit, die zugleich in verschiedene Alltagsumstände integriert werden konnte und, zumindest dem Ideal nach, einen Permanenzzustand des Gottesbezugs anvisierte. Dass dieser Wandel auch mit Ausweitungen des zeitgenössischen Gebetsbegriff koinzidierte, verdeutlichen die vielrezipierten Sieben Staffeln des Gebets des frühen Franziskanergelehrten David von Augsburg. 40 Die Wahl seines Gegenstands begründet dieser Text zunächst in Anlehnung an die oben skizzierten Gebetsauffassungen. Zunächst, so David, sei das Gebet heilbringender als andere religiöse Handlungen, denn es ʒ úhit das gemv ᵉ te mere vber ſ ich ʒ e gotte vnd ze himel ſ chen dingen. 41 Hier klingt Johannes ’ von Damaskus bekannte Wendung vom geistlichen Aufschwung (ascensus mentis in Deum) an. In dieser Hinwendung zu Gott nun erkenne der Mensch einerseits sich selbst al ſ e in eime ſ piegil, andererseits werde er auch wider braht ze der erkantnv ſſ e gottis vnde ſ iner 35 Vgl. dazu Achten 1987, S. 27 - 30; S. 36 - 44. 36 Lentes 1996, S. 83. 37 Matter 2017, S. 174. 38 Ochsenbein 1988, S. 392. 39 Andreas Erhard: Laien und Liturgie. Zur liturgischen Seite des volkssprachigen Gebetbuches Cgm 4701 aus der Bibliothek der Laienbrüder des Regensburger Benediktinerklosters St. Emmeram im 15. Jahrhundert, in: Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien, hg. v. Cornelia Herberichs, Norbert Kössinger u. Stephanie Seidl, Berlin 2015 (Lingua historica germanica 10), S. 287 - 321, hier S. 289. 40 Zu David von Augsburg vgl. einführend Kurt Ruh: Art. David von Augsburg, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 47 - 58. Hier findet sich auch ein kurzer Abriss der Forschungsdiskussion um die Autorzuschreibung und die verschiedenen Fassungen der Sieben Staffeln und ihr komplexes Verhältnis zur lateinischen Fassung des Texts (Septem gradus orationis). 41 »zieht den Geist mehr über sich hinüber zu Gott und zu den himmlischen Dingen«, David von Augsburg: Die Sieben Staffeln des Gebets, hg. v. Kurt Ruh, München 1965 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1), S. 49. 40 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="41"?> gelichnv ſ te vnde ze der enphindvnge siner minne. 42 Das Gebet, verstanden als Herstellung eines Zustands der Gottesnähe, sei somit geradezu ein auf Transzendenzbegegnung ausgerichteter inganc [ … ] ze gottis biwonunge. 43 Dieses Verständnis darf noch als Variation auf die Definition des Betens als kommunikativ bestimmte Hinkehr zur Transzendenz gelten, wobei die Sieben Staffeln neben Heilsvermittlung und der affektiven enphindvnge von Gottesliebe insbesondere Potentiale der mystischen Schau und Erkenntnis hervorheben. Wie breit der Gebetsbegriff hier allerdings gedacht ist, verdeutlicht sich in dem Bild des Stufenwegs, eines verbreiteten Strukturmodells geistlicher Texte, 44 das David anschließend entwirft. Anders als z. B. Guigo der Kartäuser bettet der Franziskaner dabei das Gebet nicht in einen frömmigkeitspraktischen Großzusammenhang ein, sondern schildert sieben fortschreitende Formen des Betens. Bloß die ersten beiden dieser Typen, das geno ᵉ te gebet mit dem munde und das lustvoll-ungebundene Beten von eime eigenem vr ſ prvnge des andehtigen hercen entsprechen einer Vorstellung des Gebets als mündliche Apostrophierung des Heiligen. 45 Bereits auf der dritten Stufe bedarf der Gläubige keiner sprachlichen Äußerung mehr, denn mit begirde me denne mit worten v ᵉ bit er ſ ich mit gotte inneclichen. 46 Die wortlose und affektiv geleitete innere Vergegenwärtigung des Heiligen, die ein moderner Leser wohl zumeist als Meditationsübung bezeichnen würde, stellt für David von Augsburg also schlicht eine Steigerungsstufe des lauten Betens dar. Auf dem vierten Grad schließlich verwirklicht sich diese geistige Hinkehr in lvterre irkantni ſ te gottis vnde in frvntlicher heinlichi mit gotte, auf dem fünften wirt das herce al ſ o be ſ offen in der andaht, das es ane alle arbeit mit gotte rv ͦ wit und ihm die äußere Sinneswahrnehmung schwindet. 47 Schon letztere, in der Metaphorik von Trunkenheit und Beilager an die brautmystische Hoheliedexegese angelehnte Formulierung verdeutlicht, wie Johanna Thali hervorhebt, die Stoßrichtung des Gebetsbegriffs der Sieben Staffeln: »Ziel der Einübung ins Beten ist bei David die unmittelbare Gottesbegegnung im Einssein mit Gott«. 48 Die letzten beiden Stufen schließlich bedeuten diesbezügliche Erfüllung, zuerst im gnadenhaft gewährten raptus, 49 in dem der für einen Moment verzückten Seele ein blich des go ᵉ tlichen liehtes gewährt wird, und schlussendlich auf der allerhöchsten Stufe in einer mystischen Schau 42 »wie in einem Spiegel«; »zurückgebracht zum Erkennen Gottes und zu seiner Gleichheit und zum Verspüren seiner Liebe«, ebd., S. 50 f. Zur hier angespielten Idee der speculatio im Gebet vgl. Largier 2018. 43 »Weg zum Beiwohnen Gottes«, ebd., S. 51. 44 Dazu führt Susanne Bernhardt unter Verweis auf zahlreiche mittelalterliche Textbeispiele aus: »Stufenmodelle in Kombination mit Zahlen erfreuen sich insgesamt großer Beliebtheit [ … ]. Die Vorstellung vom zählbaren Aufstieg, der letztlich die Zählung transzendieren muss und die letzten Staffeln im Durchbruch › überspringt ‹ , erweist sich als fruchtbares Strukturmodell« (Susanne Bernhardt: Figur im Vollzug. Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses, Tübingen 2016 [Bibliotheca Germanica 64], S. 56f). 45 »das mündliche Pflichtgebet«, »aus einem eigenen Ursprung des andächtigen Herzens«, David von Augsburg: Sieben Staffeln, S. 52 u. 54 46 »mit Begehren mehr als mit Worten betätigt er sich innerlich mit Gott«, ebd., S. 57. 47 »in reinem Erkennen Gottes und in inniger Vertrautheit mit Gott«, »wird das Herz derart trunken in der Andacht, dass es ohne jede Anstrengung mit Gott ruht«, ebd., S. 59 u. 61. 48 Thali 2009, S. 268. 49 Dazu vgl. die Diskussion bei Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 535 - 537. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 41 <?page no="42"?> Gottes von antlútze ze antlúze. 50 Diese Auffassung des Gebets als Aufstiegsweg, der vom pflichtgemäßen lauten Beten über innere Meditation bis zu einem letzten Punkt reicht, an dem der Mensch al ſ o in got virwandelt wirt, das er das i ſ t von genaden, da ʒ got i ſ t in ſ iner wi ſ e von nature, 51 ist denkbar ausgreifend und umfassend. Sie versteht das Gebet grundsätzlich als Stufenpfad zur Transzendenz, der von äußerer Frömmigkeitspraxis ausgeht, in der inneren Vergegenwärtigung des Heiligen seinen Lauf nimmt und in der mystischen unio mündet. Religiöse Überformung des Äußeren und Versenkung ins Innere sind hier schlussendlich verschmolzen. Freilich steht David von Augsburg hiermit an der Spitze einer zeitgenössischen Tendenz zur Ausweitung des Gebetsbegriffs - in den unten untersuchten Texten des Spätmittelalters aber schlägt sich ein solches Verständnis des Betens immer wieder nieder. Die späteren Kapitel dieser Studie nun fokussieren sich auf Texte, die dazu anleiten, Handlungen wie das Flechten von Blumenkränzen, das Nähen eines Kleidungsstücks oder den Bau eines Hauses im und durch das Gebet innerlich zu vollbringen. Auch diesen › handwerklichen Gebetsübungen ‹ liegt grundsätzlich eine Auffassung des Betens als ascensus mentis in Deum, als geistige Hinwendung zu Gott zugrunde, die affektive und meditative Effekte zeitigt und Bildern des Äußeren durch die Wendung nach innen einen Rahmen und eine Verankerung für den Bezug auf das Transzendente verleiht. 52 Sie verbinden dies mit einer mitunter komplex theoretisierten Vorstellung von einer, in den Worten Jeffrey F. Hamburgers, »interchangeability of objects and prayers«, die diesem Aufschwung des Geistes imaginative Gestalt verleiht. 53 Immer wieder führen diese Texte auch heilsgeschichtliche Ereignisse, vor allem die Passion Christi, ausgehend von einem derartigen Gebets- und Andachtsbegriff mit weltlichen Tätigkeiten wie dem Pflücken von Blumen, Näharbeiten oder der Errichtung eines Gebäudes eng und evozieren somit eine spezifische Nähebeziehung zwischen ganz profanen Dingen und dem Heilsgeschehen. Dabei unterstützen sie Praktiken von Gebet und Andacht als kommunikative oder mental vergegenwärtigende Hinkehr zum Heiligen durch Verfahren der sprachlichrhetorischen Stimulation, durch ein imaginatives Eintauchen in textuell evozierte Räume der inneren Wahrnehmung sowie durch eine Dynamik der Figuration, durch welche die Frömmigkeitshandlungen der Gläubigen als wirklichkeitsmächtige Erfüllungen des Textes ebenso wie als Verheißungen des künftigen Heils aufscheinen. Dies lässt eine gebethafte Neudeutung verschiedenster Tätigkeiten zu und eröffnet Möglichkeiten für ein geistliches Verständnis selbst weltlicher Gegenstände und Sachverhalte. In der Religiosität des Spätmittelalters › entfaltete sich Frömmigkeit ‹ , wie in Rilkes Stunden-Buch poetisch umschrieben, nicht exklusiv in von der profanen Wirklichkeit separierten Sakralhandlungen und -ritualen. Vielmehr darf eine spirituelle Semantisierung des Alltags geradezu als spezifisches Kennzeichen dieser religiösen Kultur gelten. In den › handwerklichen Gebets- und Andachtsübungen ‹ werden, so kann auf 50 »ein Augenblick des göttlichen Lichtes«; »von Angesicht zu Angesicht«, David von Augsburg: Sieben Staffeln, S. 63 u. 67. David lehnt sich hier deutlich an das berühmte Bibelwort I Cor 13,12 an. 51 »so in Gott gewandelt wird, dass er von Gnaden her das ist, was Gott auf seine Weise von Natur aus ist«, ebd., S. 65. 52 Die Bezeichnung › handwerkliches Beten ‹ für solche Übungen wird zuerst aufgeworfen von Schnyder 1986, S. 412. 53 Jeffrey F. Hamburger: Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent, Berkeley/ Los Angeles 1997, S. 75. 42 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="43"?> den Punkt gebracht werden, Gebete zu allem und alles zum Gebet. Dass schließlich diese Texte und die mit ihnen verbundenen Frömmigkeitspraktiken zwar grundsätzlich dem klösterlichen Bereich entstammen, sich zunehmend aber auch an ein laikales Publikum richten, illustriert, wie sehr vormals vornehmlich monastische Leitbilder einer Unentwegtheit und Ubiquität der inneren Hinkehr zum Heiligen am Ausgang des Mittelalters auch außerhalb der Klostermauern virulent wurden. 1 Sprechen mit Gott und Aufstieg des Geistes 43 <?page no="44"?> 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott Die obigen Ausführungen bezogen sich auf semantische Facetten des Gebetsbegriffs im Mittelalter, während der Großteil der folgenden Studie Gebete und Andachten als Texte in den Blick nimmt. Nun aber stehen sowohl diese Texte als auch die ihnen zugehörigen Begriffsbildungen im Rahmen einer Frömmigkeitskultur, die auf inneren ebenso wie äußeren Vollzug abhob. Ein knapp einleitender Blick auf das mittelalterliche Gebet als religiöse Praxis und seine hauptsächlichen Entwicklungslinien scheint daher an dieser Stelle nötig, um anschließend den Lektüre- und Vollzugsangeboten, die in entsprechenden Texten angelegt sind, gerecht werden zu können. Zunächst stellt sich das Gebet, wie schon z. B. in Eckharts oben erwähnter Definition als cum deo confabulatio anklingt, 54 als zumindest an ihrem Ausgangspunkt an das Medium der Sprache gebundene religiöse Handlung dar. Bereits etymologisch ist dieser sprachliche Charakter erkennbar sowohl an dem Wort › Gebet ‹ , abgeleitet von › bitten ‹ , 55 als auch an dem lateinischen oratio, einer Substantivform zum wiederum auf os, › der Mund ‹ , zurückgehenden Verb orare, › reden, sprechen, ansprechen, bitten ‹ 56 . Sprachlichkeit dient auf zumeist konstitutive Weise der Herstellung einer inneren Gottesnähe der Betenden. Das Gebet ist auf seiner Handlungsebene somit »kommunikative Praxis, in der sich Einzelne, Gruppen oder kultische Gemeinschaften an eine Gottheit wenden«. 57 Wie Christian Kiening formuliert, vollzieht sich auf diese Weise eine »besonders intensive wortbezogene Vermittlung zwischen Menschlichem und Göttlichem«. 58 Das Medium der Sprache stellt eine Brücke zwischen Immanentem und Transzendentem her, denn in einem verbalen Akt der Hinkehr adressiert der Mensch das, was jenseits der irdischen Welt liegt, der das Sprechen ebenso wie seine Sprecher zugehören. Sprachpragmatisch kann diese Überbrückung als performativer Sprechakt verstanden werden, das heißt als »Äußerung, durch die [eine] Handlung vollzogen wird« 59 . Insofern 54 Vgl. oben, S. 34 f. 55 Siehe Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Straßburg 6 1899, S. 41. 56 Vgl. zum lateinischen oratio, das ursprünglich allgemein › das Reden ‹ , › die Sprache ‹ oder › der Ausdruck ‹ meint und erst im nachklassischen Latein eine Bedeutungserweiterung hin zu › das Gebet ‹ erfährt, den ausführlichen Eintrag bei Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. Unveränderter Nachdruck der achten vermehrten und verbesserten Auflage von Heinrich Georges, 2 Bd.e, Bd. 2, Darmstadt 1998, Sp. 1384 - 1386. 57 Birgit Weyel: Art. Gebet, in: Handbuch Literatur und Religion, hg. v. Daniel Weidner, Stuttgart 2016, S. 236 - 240, hier S. 236. 58 Kiening 2016, S. 131. 59 Jörg Meibauer u. a.: Einführung in die germanistische Linguistik, Stuttgart/ Weimar 2 2007, S. 234. Funktional gesprochen handelt es sich beim Gebet, insbesondere beim Bittgebet, zumindest oberflächlich oft um ein Direktiv, also einen Sprechakt, mit dem »der Sprecher [versucht], den Adressaten dazu zu bekommen, etwas zu tun« (ebd., S. 238). Dass das Gebet in der Theologie des Mittelalters jedoch deutlich komplexer theoretisiert ist, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels aufgezeigt. Vgl. zur Diskussion des Gebets als performativem Sprechakt auch Johanna Thali: Qui vult cum Deo semper esse, frequenter debet orare, frequenter et legere. Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen <?page no="45"?> lässt sich das Gebet, wie Andreas Kraß ausführt, als eine »Sonderform der Apostrophe definieren, die sich durch ihre besondere Sprechsituation auszeichnet: Ein Mensch appelliert an ein übermenschliches - oder als übermenschlich vorgestelltes - Wesen«. 60 Die hierbei grundlegend entworfene Kommunikationssituation entfaltet sich je nach Gebetstyp als Anrede, Bitte, Lobe, Appell, Geständnis oder Darlegung. Dass mittelalterliche Reflexionen über das Gebet als Textgattung, wie unten ausgeführt, meist Rekurs auf Begriffe und Modelle aus dem Bereich der Rhetorik nehmen, verwundert daher kaum. Als religiöse Praxis ist das in diesem Sinne als »sprechender Vollzug des Glaubens« verstandene Gebet im Christentum zentral verankert und besitzt eine weitaus ältere Tradition als die im Zentrum dieser Studie stehenden Texte. 61 Das Paternoster des Matthäusevangeliums mit seinen sieben Bitten, das Jesus in der Bergpredigt seinen Anhängern lehrt (vgl. Mt 6,9 - 13), diente auch im Mittelalter zusammen mit dem Credo als neutestamentlich fundiertes »Grundgebet«, durch dessen repetitives Aufsagen, wie z. B. die vielfältig bezeugten Ersatzoffizien oder folgend besprochenen Rosenkränze illustrieren, selbst »Laien die klerikale Gebetsverpflichtung bewusst und reflektiert, wenn auch vereinfacht, nachahmen.« 62 Weitere neutestamentliche Gebetsformeln, so beispielsweise die Cantica Magnificat (vgl. Lc 1,46 - 55), Benedictus (Lc 1,68 - 79) und Nunc dimittis (Lc 2,29 - 32), fanden vergleichbare Verwendung, wenn auch weniger häufig und oft eher im klerikalen Bereich. Eine besondere Stellung nahm im Kanon der Basisgebete das Ave Maria ein, das neben dem Paternoster die wohl bekannteste christliche Orationsformel darstellt. Obgleich zusammengesetzt aus den biblischen Worten des Engels Gabriel und der Elisabeth (Lc 1,28; Lc 1,42) ist der Mariengruß wesentlich eine mittelalterliche Innovation. »Vor dem 12. Jahrhundert wurde das Ave Maria weder allgemein noch häufig als Gebet benutzt«, verbreitete sich anschließend jedoch rasend und wurde, allerdings noch ohne die erst im 16. Jahrhundert ergänzte Abschlussbitte um Interzession und Beistand in der Sterbestunde, zum verbreitetsten Gebetstext des späteren Mittelalters. 63 Zusammen mit dem Paternoster und dem Credo bildete es im für diese Untersuchung wesentlichen Zeitraum eine Trias, deren Kenntnis auch bei lateinunkundigen Laien angenommen werden kann. Eine normative Vorgabe zum stetigen Gebet, die sich vielfach als zählend-meditatives Reihenbeten dieser Standardtexte realisierte, 64 konnten mittelalterliche Gläubige biblisch Frömmigkeitskultur, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. v. Eckart Conrad Lutz, Martina Backes u. Stefan Matter, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 11), S. 421 - 457, hier S. 430 f. 60 Andreas Kraß: Art. Gebet, in: RLW 1 (1997), S. 662 - 664, hier S. 662. 61 Schnyder 1986, S. 404. 62 Matter 2019, S. 380. Zur Stellung des Vaterunsers im mittelalterlichen Gebetsleben siehe auch Manfred Seitz: Art. Vaterunser III. Kirchengeschichtlich und praktisch-theologisch, in: TRE 34 (2002), S. 515 - 529, hier S. 517 - 519. 63 Stephan Beissel S. J.: Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Religionswissenschaft und Kunstgeschichte, Freiburg i. Brsg. 1909, S. 228. Vgl. auch ebd., S. 228 - 251; sowie die ausführlichere Diskussion des Ave Maria im Kontext des Rosenkranzes unten, Kap. II.2.1. 64 Vgl. zu dieser, für die folgend betrachteten Texte entscheidenden Gebetspraxis den material- und einsichtsreichen Beitrag von Arnold Angenendt u. a.: Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1 - 71. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 45 <?page no="46"?> herleiten. So findet sich beispielsweise im Brief des Paulus an die Epheser folgende Aufforderung: »Durch jedes Gebet und 〈 jede 〉 Beschwörung betet jederzeit im Geist und seid in ihm selbst wachsam bei jeder Bitte und Beschwörung für alle Gesegneten« (Eph 6,18). 65 Bereits Tertullian (ca. 155 - 240) trug den frühen Christen daher an, mindestens dreimal am Tag nichtöffentlich und ohne äußeren Prunk auf Basis des Vaterunsers zu beten. 66 Der Rückgriff auf die Heilige Schrift erschöpfte sich freilich nicht in den genannten Standardgebeten. Besonders im monastischen Stundengebet und darüberhinausgehend im überaus komplexen Bereich der lateinischen Liturgie des Mittelalters, die verschiedene Formen des Betens integrierte, deren eingängigere Betrachtung diesen Rahmen sprengen würde, 67 entwickelte sich ein ausgefeiltes Repertoire an zum Gebet adaptierten biblischen Textbeständen. Oftmals wurden dabei, um eine Formulierung Felix Heinzers aufzugreifen, aus der Heiligen Schrift entnommene Stücke durch › dichterische Erweiterungen ‹ ergänzt. 68 Vor allem ein biblisches Buch diente dazu als Hauptquelle und Gerüst: »Grundlegender Träger des christlichen Gebets ist«, wie Ruth Wiederkehr feststellt, »bis heute der Psalter«. 69 Die Psalmen des Alten Testaments spielten nicht nur im monastischen Leseunterricht des Mittelalters eine entscheidende Rolle und mussten vor der den endgültigen Klostereintritt markierenden Profess in der Regel auswendig gelernt werden, 70 sie entfalteten auch eine »alles beherrschende Präsenz [ … ] in der christlichen Liturgie.« 71 Neben ihrer Nutzung in der Messliturgie bildete die Psalmodie »geradezu das Rückgrat des Offiziums, also des Chorgebets in Klöstern und Kathedralen«. 72 65 per omnem orationem et obsecrationem orantes omni tempore in Spiritu et in ipso vigilantes in omni instantia et obsecratione pro omnibus sanctis; vgl. zu dieser Bibelstelle und zum Gebetsbegriff des Epheserbriefs ausführlich Ostmeyer 2006, S. 128 - 135. Daneben siehe zum neutestamentlichen Gebet im Allgemeinen auch Oscar Cullmann: Das Gebet im Neuen Testament. Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen, Tübingen 2 1997. Eine an literaturwissenschaftlichen Kriterien orientierte Typologie des neutestamentlichen Gebets entwirft Angel González: La oración en la biblia, Madrid 1968 (Teología y siglo XX 9), dazu siehe die zusammenfassende Diskussion bei Lutz 1984, S. 109 - 114. 66 Vgl. Tertullian: De baptismo. De oratione. Von der Taufe. Vom Gebet, übers. u. eingel. v. Dietrich Schleyer, Turnhout 2006 (Fontes Christiani 76). 67 Vgl. einleitend Friedrich Kalb: Art. Liturgie I: Christliche Liturgie, in: TRE 21 (1991), S. 359 - 377. Besonders sind hier die Einzelgebete des Canon Missae hervorzuheben. Mit dem aufschlussreichen Beispiel der Apologien, also priesterlicher Gebete um Sündenvergebung, die im Hochmittelalter während der Messe geleistet wurden und davon ausgehend auch Einfluss auf die Entwicklung des Privatgebets nahmen, befasst sich Sebastian Eck: Die Apologien. Zur Prägekraft einer christlichen Gebetsform für die mittelalterliche Religiosität, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 337 - 369. 68 Vgl. Felix Heinzer: Figura zwischen Präsenz und Diskurs. Das Verhältnis des › gregorianischen ‹ Messgesangs zu seiner dichterischen Erweiterung (Tropus und Sequenz), in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013 (Philologie der Kultur 8), S. 71 - 90. 69 Wiederkehr 2013, S. 125. 70 Vgl. Franz Anton Specht: Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1885, Wiesbaden 1967, S. 60 - 63. 71 Felix Heinzer: › Wondrous Machine ‹ . Rollen und Funktionen des Psalters in der mittelalterlichen Kultur, in: Der Albani-Psalter. Stand und Perspektiven der Forschung, hg. v. Jochen Bepler u. Christian Heitzmann, Hildesheim 2013 (Hildesheimer Forschungen 4), S. 15 - 32, hier S. 18. 72 Ebd. 46 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="47"?> Während der › kathedrale ‹ Typ des Offiziums sich generell durch morgendliches und abendliches Beten sowie anlassbezogene Vigilien auszeichnete, also am natürlichen Tagesablauf orientiert war, kannte das › monastische ‹ Offizium sieben über Tag und Nacht verteilte Gebetszeiten oder Horen, in denen die neutestamentliche Aufforderung »Betet ohne Unterlass! « (I Th 5,17) Erfüllung finden sollte. 73 Bereits im spätantiken Mönchtum des Westens wurde auf diese Weise wöchentlich der komplette Psalter gebetet, wobei die 150 Psalmen nach je nach Regel variierendem Muster auf die einzelnen Wochentage und täglichen Gebetszeiten aufgeteilt wurden. 74 Diese Tradition entfaltete eine ungebrochene Kontinuität und wurde in den Klöstern des Mittelalters mit ordensspezifischen Besonderheiten weitergeführt. So entwickelten sich schon im Hochmittelalter in einzelnen monastischen Zusammenhängen Tendenzen zu einer Vermehrung und Ausweitung des Offiziums. Beispielsweise erhöhten die Benediktiner von Cluny Ende des 11. Jahrhunderts die in der Benediktsregel vorgeschriebene Zahl zeitweilig von 37 täglich zu betenden Psalmen auf bis zu 216 - einer der Gründe dafür, dass »die Abtei Cluny mit ihren zweihundert Psalmen als gnadenmächtigster Ort der Christenheit galt«. 75 Neben dem Umfang des Stundengebets changierte auch sein Text je nach Ordenstradition und -regel, wurden doch den Psalmen je nach Hore unterschiedliche Hymnen, Cantica, Responsorien und weitere Ergänzungstexte beigefügt. 76 Unbesehen all dieser Varianz aber gestaltete sich das monastische Offizium als verbindliches Beten, das trotz einer »Entwickung zur Privatisierung des Stundengebets«, 77 die auch durch die 1213 von Innozenz III. erlassene Brevierordnung begünstigt wurde, in seinem Textsubstrat weitgehend fixiert war. Bereits in frühchristlicher Zeit wurde die Psalmodie hierbei als Entfaltung eines Dialogs begriffen. So führt Augustinus (ca. 354 - 430) aus, dass der gelesene Psalmentext das Wort Gottes und das Nachbeten dieses Texts eine Erwiderung des betenden Menschen darstelle: Oratio tua locutio est ad deum: quando legis, deus tibi loquitur; quando oras, deo loqueris. 78 73 sine intermissione orate. Siehe dazu Albert Gerhards: Art. Stundengebet I. Geschichte, in: TRE 32 (2001), S. 268 - 276. Gerhards wendet ein, dass es sich bei der verbreiteten Unterscheidung zwischen kathedralem und monastischem Stundengebet »eher um ein Konstrukt« (ebd., S. 271) handele, das genauerer Differenzierung bedürfte. An dieser Stelle ist eine solche jedoch nicht zu leisten, weshalb auf dieses verbreitete aber grobe Unterscheidungsschema zurückgegriffen wird. 74 Siehe dazu die Erläuterung der Psalmodiesysteme von Magisterregel und Benediktsregel ebd., S. 273. Vgl. weiterführend Lutz 1984, S. 114 - 117; sowie Theresa Gross-Diaz: The Latin Psalter, in: The New Cambridge History of the Bible, hg. v. James Charleton Page u. Joachim Schaper, Bd. 2: From 600 to 1450, Cambridge 2012, S. 427 - 445. Eine tabellarische Übersicht über die Struktur des monastischen Offiziums für die einzelnen Tagzeiten nach der Benediktsregel findet sich zudem bei Matter 2021, S. 21 f. 75 Angenendt 2004, S. 37. 76 Zur Entwicklung der Organisation spätmittelalterlicher Psalterhandschriften für die Wochentage und zur Aufteilung der einzelnen Psalmen vgl. Andrew Hughes: Medieval Manuscripts for Mass and Office. A Guide to Their Organization and Terminology, Toronto u. a. 1982, S. 50 - 52 und S. 224 - 236. Mit dem Gebrauch des Psalters im Kontext der Devotio moderna beschäftigt sich exemplarisch Youri Desplenter: Programming Women ’ s Prayer. Textual and Pictorial Components in Middle Dutch Psalters, in: Speaking to the Eye. Sight and Insight through Text and Image (1150 - 1650), hg. v. Thérèse de Hemptinne, Veerle Fraeters u. María Eugenia Góngora, Turnhout 2013 (Medieval Identities: Socio- Cultural Spaces 2), S. 153 - 172. 77 Gerhards 2001, S. 274. 78 »Dein Gebet ist ein Gespräch mit Gott: Wenn du liest, spricht Gott zu dir; wenn du betest, sprichst du zu Gott«; Augustinus: Enarrationes in Psalmos, Bd. 2, S. 1181 f. Das vorliegende Zitat bezieht sich auf 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 47 <?page no="48"?> Wie sehr jedoch ein auf diese Weise als geregelte innere Kommunikation mit dem Transzendenten verstandenes Psalmenbeten das monastische Leben des Mittelalters auch äußerlich prägte und formte, lässt sich beispielsweise an der in der Benediktsregel festgehaltenen Verpflichtung zur Einhaltung der sieben Gebetszeiten ablesen: 79 Ut ait propheta: septies in die laudem dixi tibi. Qui septenarius sacratus numerus a nobis sic implebitur, si matutino, primae, tertiae, sextae, nonae, vesperae completoriique tempore nostrae servitutis officia persolvamus, quia de his diurnis horis dixit: Septies in die laudem dixi tibi. Nam de nocturnis vigiliis idem ipse propheta ait: Media nocte surgebam ad confitendum tibi. Ergo his temporibus referamus laudes Creatori nostro super iudicia iustitiae suae, id est matutinis, prima, tertia, sexta, nona, vespera, completorios, et nocte surgamus ad confitendum ei. 80 Das gemeinsame Chorgebet strukturierte und rhythmisierte auf diese Weise das klösterliche Leben. Siebenmal pro Tag und Nacht trafen sich nach dieser Regel lebende Klostergemeinschaften zum Stundengebet, in dessen Rahmen jeweils festgeschriebene Teile des Psalters gesungen und rezitiert wurden. Dadurch ordnete das monastische Offizium einerseits den Tagesablauf im Kloster in genau festgelegte Abschnitte und nahm andererseits viel Zeit in Anspruch: Bis zu fünf Stunden täglich dauerte das reguläre gemeinschaftliche Gebet in benediktinischen Klöstern. 81 Hinzu kam die Zeit, die für das private Beten der Klostermitglieder aufgewendet wurde. Wie Peter Ochsenbein ausführt, wurde dabei im Frühmittelalter allerdings noch »kaum ein Unterschied zwischen Gemeinschafts- und Privatgebet gemacht«: 82 Sowohl im Rahmen der gemeinschaftlichen Gebetszeiten als auch beim als religiöse Praxis schon früh gut belegten Beten für sich alleine wurden zunächst die gleichen Texte, das heißt vor allem Psalmen und Hymnen, verwendet. 83 Nicht nur deshalb ist es bei der Kategorisierung von Gebets- und Andachtstexten, wie Kathrin Chlench-Priber aufzeigt, oftmals »schwierig, eine genaue Trennlinie zwischen liturgischen und privaten Stücken zu ziehen«. 84 Liturgische Formen wie Messe und Stundengebet konnten gelegentlich um sehr offene, › privat ‹ erscheinende Zusatzoffizien und Messandachten ergänzt werden, Texte liturgischen Ursprungs wie die priesterlichen Apologien fanden Gebrauch in individualisierten Frömmigkeitspraktiken und volkssprachige Texte boten an, »liturgische Situationen im per- Ps 85,7. Zu dieser Stelle im Psalmenkommentar und zu damit verbundenen christlichen Vorstellungen des Gebets als Dialogform vgl. Lentes 1996, S. 28 - 30; sowie Thali 2009, insbesondere S. 242. 79 Zur im 6. Jahrhundert beginnenden Textgeschichte und zum Stellenwert der Benediktsregel für die Klöster des Mittelalters siehe Melville 2012, S. 31 - 52. 80 »Es gelte, was der Prophet sagt: › Siebenmal am Tag singe ich dein Lob ‹ [Ps 119,164]. Diese geheiligte Siebenzahl wird von uns dann erfüllt, wenn wir unseren schuldigen Dienst leisten zur Zeit von Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet; denn von diesen Gebetsstunden am Tag sagt der Prophet: › Siebenmal am Tag singe ich dein Lob ‹ [Ps 119,164]. Von den nächtlichen Vigilien sagt derselbe Prophet: › Um Mitternacht stehe ich auf, um dich zu preisen ‹ [Ps 119,62]. Zu diesen Zeiten lasst uns also unserem Schöpfer den Lobpreis darbringen wegen seiner gerechten Entscheide, nämlich in Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Auch in der Nacht lasst uns aufstehen, um ihn zu preisen«, Benediktsregel, S. 66 - 69. 81 Vgl. Peter Ochsenbein: Latein und Deutsch im Alltag oberrheinischer Dominikanerinnenklöster des Spätmittelalters, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100 - 1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. v. Nikolaus Henkel u. Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 42 - 51, hier S. 42. 82 Ochsenbein 1997, S. 138. 83 Vgl. ebd., S. 138 f. 84 Chlench-Priber 2020, S. 14. 48 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="49"?> sönlichen, freiwilligen Gebet nachzubilden«. 85 Eine liturgische Ästhetik, so Caroline Emmelius und Hartmut Bleumer, die »Modelle spiritueller Devotion« umfasst, in denen die intermedialen, intertextuellen und performativen Dynamiken der Liturgie auch jenseits der festen Formen des officium divinum zum Tragen kommen, durchzieht die Frömmigkeitskultur des ausgehenden Mittelalters weitreichend. 86 Die von Ochsenbein vorgeschlagene Trennung der mittelalterlichen Gebetspraxis in › privates ‹ Beten zur freiwilligen und individuellen Andacht auf der einen und › liturgisches ‹ Beten im formal festgelegten und pflichtgemäßen Rahmen auf der anderen Seite darf daher, wie ihr Urheber selbst hervorstreicht, bloß als heuristisch verstanden werden. 87 Freilich tut dies dem Befund keinen Abbruch, dass über das Mittelalter hinweg Gebets- und Andachtstexte überliefert sind, die nicht an liturgische Kontexte gebunden sind und einem Beten im Rahmen einer persönlichen Frömmigkeitspraxis dienen. Entsprechend soll hier, trotz aller Vorbehalte und Grauzonen, diese Heuristik vorsichtig beibehalten werden. Wann genau eine dergestalt › private ‹ Form des Betens in der Volkssprache in den Klöstern des Mittelalters als Ergänzung zum Chorgebet gängig wurde, lässt sich schwer bestimmen. Das Einsetzen einer handschriftlichen Überlieferung von Gebetstexten bildet hier das ausschlaggebende Indiz. Zunächst finden sich bereits in der althochdeutschen Sprachperiode Texte wie das Wessobrunner Gebet, das Fränkische Gebet, das St. Galler Paternoster und Credo oder Sigiharts Gebete. 88 Diese Zeugnisse belegen zwar eine vereinzelte volkssprachige Gebetspraxis und -schriftlichkeit schon im Frühmittelalter, stellen dabei aber herausstechende Ausnahmefälle dar. So sind sie beinahe ausschließlich unikal als Nachträge oder › Inserate ‹ in lateinischen Handschriften verschiedenster Art überliefert. 89 Lateinische Privatgebetbücher, die sich oftmals an der Liturgie orientierenden libelli precum, waren dahingegen schon in karolingischer Zeit recht verbreitet. 90 Zusammenhängende Gebetbuchhandschriften mit erwähnenswerten deutschsprachigen Textanteilen jedoch lassen sich erst ab dem 12. Jahrhundert vereinzelt belegen - Nigel Palmer zählt »some thirteen manuscripts with German vernacular prose prayers that are datable to before about 1250«. 91 Dabei ist auffällig, dass bis zum 13. Jahrhundert »die Überlieferung von deutschsprachigen Gebeten in lateinischen Gebetshandschriften den Regelfall darstellt, lateinische und volkssprachige Gebetsfrömmigkeit aufs Engste mit- 85 Ebd., S. 15. Vgl. auch Eck 2019; Erhard 2016. 86 Caroline Emmelius u. Hartmut Bleumer: Liturgische Ästhetik - Umrisse eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas zur Beschreibung, Analyse und Funktion geistlicher Literatur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 52.2 (2022), S. 191 - 208, hier S. 202. 87 Vgl. Ochsenbein 1988, S. 380 f.; Ochsenbein 1997, S. 138 f. 88 Vgl. die Liste von Gebetstexten bei Rolf Bergmann (Hg.): Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin/ Boston 2013, S. 124; sowie die dort referenzierten einzelnen Einträge. 89 Vgl. Ernst Hellgardt: Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8 - 12 Jh.), in: Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien, hg. v. Cornelia Herberichs, Norbert Kössinger u. Stephanie Seidl, Berlin 2015 (Lingua historica germanica 10), S. 23 - 46. 90 Vgl. ausführlich Susan Boynton: Libelli Precum in the Central Middle Ages, in: A History of Prayer: The First to Fifteenth Century, hg. v. Roy Hammerling, Leiden 2008 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 13), S. 255 - 318. Eine Auswahledition früher karolingischer libelli precum ist erschienen als Precum libelli quattuor aevi Karolini, hg. v. André Wilmart, Rom 1940. 91 Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 410. Vgl. grundlegend den Überblick ebd., S. 408 - 415 mit einer Auflistung und kurzen Beschreibung der entsprechenden Handschriften; sowie die Ausführungen bei Chlench-Priber 2020, S. 16 - 21. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 49 <?page no="50"?> einander verzahnt sind.« 92 Zumeist sind einzelne deutsche Textgruppen in größere lateinische Verbünde eingebettet. Mit seinem hohen volkssprachigen Anteil stellt das um 1150 entstandene deutsch-lateinische Gebetbuch von Muri hier einen aufsehenerregenden Sonderfall dar. 93 Vielfach leiten sich die in dieser Periode überlieferten mittelhochdeutschen Gebets- und Andachtstexte von vorgängigen lateinischen Werken ab. 94 Großen Einfluss nahmen beispielsweise die wohl noch vor 1028 verfasste Confessio theologica des Benediktiners Johannes von Fécamp (Ende 10. Jh. - 1078) oder die Orationes sive meditationes des Anselm von Canterbury (ca 1033 - 1109). 95 In der ersten Hälfte des 14. Jahrhundert schließlich entstand eine Reihe originär deutschsprachiger Passionsandachten und -gebetsübungen, darunter die Hundert Betrachtungen aus dem Büchlein der ewigen Weisheit des Dominikaners Heinrich Seuse (1295/ 7 - 1366) oder die anonymen Christi Leiden in einer Vision geschaut, 96 die teils enorme Verbreitung fanden. Diese Werke und ihre umfangreiche Überlieferung illustrieren erstens, dass die Benutzung deutscher Texte in der persönlichen Gebets- und Andachtspraxis im 14. Jahrhundert keineswegs mehr ein Randphänomen darstellte. Zweitens weisen sie auf neue soziale Trägergruppen der Frömmigkeit, die z. B. im Dominikaner- und Franziskanerorden, im weiblichen Religiosentum oder sogar in laikalen oder semireligiosen Milieus zu verorten sind. Obwohl einzelne entsprechende Texte auch davor relativ breit überliefert sind, bleiben zusammenhängende deutsche Gebetbuchhandschriften bis ins ausgehende Mittelalter die Ausnahme. Nach einer Auflistung Kathrin Chlench-Pribers sind für das 14. Jahrhundert bloß 29 vollständige deutschsprachige Gebetbücher und acht Fragmente erhalten, während ihre Zahl für das 15. Jahrhundert bei weitem vierstellig sein dürfte. 97 Ein auf Schriftlichkeit zurückgreifendes individuelles Beten in der Volkssprache muss dement- 92 Ebd., S. 17. 93 Sarnen, Bibliothek des Benediktinerkollegiums, Cod. membr. 96. Vgl. zu dieser Textsammlung Achim Masser: Art. Gebete und Benediktionen von Muri, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 1110 - 1112. Überaus aufschlussreich ist die Analyse der Handschrift auf ihre medialen Vollzugsangebote bei Christian Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (um 1150/ 1180), in: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. v. Cornelia Herberichs u. Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 3), S. 100 - 118; sowie der Wiederaufgriff dieses Themas bei Kiening 2016, S. 134 - 141. 94 Erkenntnisreich ist dazu der Aufsatz von Nigel F. Palmer: Manuscripts of the Earliest Middle High German Prayers, c. 1150 - 1250, in: Vernacular Manuscript Culture 1000 - 1500, hg. v. Erik Kwakkel, Leiden 2018 (Studies in medieval and Renaissance book culture), S. 51 - 104. 95 Vgl. Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 415 - 418. Anselms Gebetswerk wird in Hinblick auf seine Rezeptionsangebote untersucht bei Fulton 2006. Johannes ’ Werk dahingegen ist ediert und ins Französische übersetzt als Jean de Fécamp: La confession théologique, eingeleitet u. übers. v. Philippe de Vial OSB, Paris 1992. Zum Autor der Confessio theologica, dem Text selbst und seiner entscheidenden Bedeutung für die Entwicklung des Privatgebets vgl. die Diskussion des Werks bei Hugh Feiss OSB: John of Fécamp ’ s Longing for Heaven, in: Imagining Heaven in the Middle Ages. A Book of Essays, hg. v. Jan Swango Emerson u. Hugh Feiss OSB, New York/ London 2000, S. 65 - 82. 96 Siehe zum Thema der deutschsprachigen Passionsliteratur des Spätmittelalters grundsätzlich Tobias A. Kemper: Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006 (MTU 131). Ein Überblick zum Einfluss der genannten Texte findet sich bei Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 424 - 447; vgl. auch die etwas ausführlichere Diskussion unten, Kap. II.3.3. 97 Chlench-Priber 2020, S. 21 - 24. Dies bestätigt unter Ergänzung wichtiger weiterer Handschriften den Befund bei Ochsenbein 1988, S. 379 - 398. 50 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="51"?> sprechend vor allem als Phänomen des Spätmittelalters gelten, das erst nach 1400 den Höhepunkt seiner Verbreitung erreichte. Im Verlauf dieser Entwicklung erlangte das Privatgebet auch im Vergleich mit dem Offizium eine zunehmend zentrale Position. Besonders in den Mendikantenorden entwickelte sich schnell eine auf Subjektivierung und Verinnerlichung des religiösen Erlebens abzielende Spiritualität, die Privatgebet und -andacht gegenüber der pflichtmäßigen Erfüllung des liturgischen Ritus aufwertete. 98 So zeichnen sich in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts »[h]eiligmäßige Schwestern [ … ] dadurch aus, daß sie täglich über Stunden für sich allein beten und meditieren«, wobei gleichzeitig auch »das Chorgebet immer mehr verpersönlicht wird«. 99 Johanna Thali stellt für die Dominikanerinnen des Spätmittelalters fest: »Hauptaufgabe einer Ordensfrau, ihr Lebensinhalt und Lebenssinn, ist das Gebet, die vita contemplativa,« 100 während Claudia Höhle auch für die Gebetskultur der Devotio moderna zusammenfasst, dass hier »Individualität, Innerlichkeit, Emotionalität gegen Formalisierung, Routine und Äußerlichkeit gesetzt« wurden. 101 Mit dieser Aufwertung des individualisierten Betens ging die Erwartung einer persönlich heilsvermittelnden Wirkung einher. Obgleich gerade im Spätmittelalter, wie ich an anderer Stelle am Beispiel eines Texts aus dem Engelberger Gebetbuch dargelegt habe, 102 auch Gebete aufkommen, die in erster Linie um die beim Beten hergestellte Nähe zum Göttlichen bitten, ihre Absicht also im Vollzug selbst erfüllen sollen, visieren Gebets- und Andachtstexte dieser Zeit zumeist doch einen spezifischen Effekt außerhalb des von ihnen hergestellten Sprachgeschehens an. In der Regel verknüpft der Betende seine »verbale Kommunikation mit einer wie auch immer gearteten Unverfügbarkeit« 103 mit einer spezifischen Intentionsäußerung. Bitte und Fürbitte, Lob und Dank dürfen dabei, oft auch in Vermischung, als Grundformen gelten. 104 Das Bittgebet stellt den in der Gebetbuchliteratur des 14. bis 16. Jahrhunderts wohl verbreitetsten Typus dar. Grundsätzlich wurde eine solche absichtsvolle Hinwendung zu Gott als unabgeschlossener Sprechakt mit offenem Ausgang begriffen, bei der das Eintreten des erbetenen Ereignisses nicht in der Macht des Betenden lag, sondern gnadenhaft vom göttlichen Dialogpartner erteilt werden konnte - oder eben auch nicht. Das deprekatorische Gebet 98 Beobachtungen zu spirituellen Subjektivierungstendenzen in den Mendikantenorden finden sich bereits in der frühen Forschung zur Gebetsliteratur, so stellte beispielsweise Franz Xaver Haimerl fest: »Das Frömmigkeitsleben dieser Zeit trägt ein ganz individualistisches Gepräge. Die Lockerung und Durchbrechung der strengen Formen des traditionellen kirchlichen Lebens zeitigte persönliches Gebetsleben. Zeugin dafür ist uns auch die Gebetbuchliteratur« (Haimerl 1952, S. 34). 99 Ochsenbein 1992, S. 48. 100 Thali 2003, S. 102. 101 Claudia Höhle: Aspekte der Gebetskultur der Devotio moderna, in: Sprechen, Schreiben, Handeln. Interdisziplinäre Beiträge zur Performativität mittelalterlicher Texte, hg. v. Annika Bostelmann, Doreen Brandt u. Kristin Skottki, Münster/ New York 2017, S. 141 - 161, hier S. 141. 102 Björn Klaus Buschbeck: Sprechen mit dem Heiligen und Eintauchen in den Text. Zur Wirkungsästhetik eines Passionsgebets aus dem Engelberger Gebetbuch, in: Das Mittelalter 24.2 (2019), S. 390 - 408. 103 Rainer Flasche: Art. Gebet, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, unter Mitarbeit von Günter Kehrer u. Hans G. Kippenberg hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow u. Matthias Laubscher, Bd. 2: Apokalyptik - Geschichte, Stuttgart u. a. 1990, S. 456 - 468, hier S. 461. 104 Vgl. dazu Angenendt 2004, S. 36. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 51 <?page no="52"?> des Mittelalters verstand sich, obwohl teils in diese Richtung gehende Gebetsanweisungen, beispielsweise in Form von Ablassversprechen, durchaus auch überliefert sind, gerade nicht als magischer Sprechakt, bei dem auf das Aufsagen einer bestimmten Formel automatisch ein mit ihr korrelierender Effekt folgen sollte. Vielmehr gestaltete es sich, mit Christian Kiening gesprochen, als »vorläufig und unvollkommen, angewiesen auf die konstituierende Instanz, an die der Betende sich richtet und der die eigentliche Macht der Veränderung zugeschrieben wird.« 105 Obgleich also untrennbar mit einer Absicht verbunden, deren Erfüllung durch das Beten vorbereitet oder ermöglicht werden sollte, begriff sich das Bittgebet nicht als selbstwirkend. Die Absichtsgebundenheit des Betens und der zugrundeliegende Glaube an seine heilsvermittelnde Kraft wurden über das gesamte Mittelalter hinweg vielfach und kontrovers diskutiert. Besonders die Art und Weise, auf die gebetet werden sollte, um eine gnadenmäßige Erhörung des so geäußerten Wunsches zu begünstigen, war Gegenstand ständiger Debatte. In der sich im 10. Jahrhundert formierenden und im Hochmittelalter ihren Bedeutungshöhepunkt erreichenden cluniazensischen Tradition beispielsweise wurde dem vorgegebenen Text eine intrinsische Wirkmächtigkeit beigemessen, ganz gleich ob der Betende die lateinischen Worte des Gebets verstand oder sie intensiv durchdachte. Mit dem Argument, »dass ein Edelstein seinen Wert auch in der Hand des Nichtkenners behalte«, 106 wurde dabei auch das Beten der Lateinunkundigen begründet. Die Verpflichtung der Mönche von Cluny, für verstorbene Mitbrüder und Gönner mit dem Ziel zu beten, ihre Zeit im Fegefeuer zu verkürzen, konnte dementsprechend quantifiziert werden. Das Gebetswesen der Cluniacensis ecclesia besaß beinahe den Charakter eines heilsökonomischen Wirtschaftens. Die zu leistenden und geleisteten Pensa an Memorialgebeten wurden in den Totenrotuli des Klosterverbands mit buchhalterischer Präzision aufgezeichnet und gegeneinander aufgerechnet. 107 Verwandte Formen einer › gezählten Frömmigkeit ‹ wie das in Rosenkränze und Marienmäntel integrierte zählende Beten enormer Mengen von Paternoster und Ave Maria oder die Institution der Gebetsbruderschaften überdauerten bis ins Spätmittelalter und darüber hinaus. 108 Teils im Kontrast, teils in Verschränkung hierzu steht die bereits angesprochene, sich ab dem 13. Jahrhundert entfaltende und besonders von den Mendikantenorden angestoßene Tendenz zu einer verinnerlichten Form der Hinwendung zum Heiligen, die nicht in der Anzahl der rezitierten Gebete, sondern in der Intensität der über das Gebet hergestellten geistigen Haltung die Vervollkommnung dieser religiösen Praxis suchte. Otto Langer spricht in diesem Kontext von »Tendenzen einer Verpersönlichung und einer dadurch bedingten partiellen Auflösung des liturgischen Gebets durch subjektive Erfahrungen und Betrachtungen«. 109 Einerseits erfuhren so die Messe und das Offizium einen Rezeptionswandel, andererseits gewann eine die Liturgie komplementierende individuelle Frömmig- 105 Kiening 2016, S. 132. 106 Angenendt 2004, S. 37. 107 Siehe dazu Volker Leppin: Geschichte des mittelalterlichen Christentums, Tübingen 2012, S. 176 f.; Melville 2012, S. 56 f. und S. 70 - 72; sowie Jean Leclercq: Prayer at Cluny, in: Journal of the American Academy of Religion 51.4 (1983), S. 651 - 665. 108 Siehe dazu Angenendt u. a. 1995; sowie Lentes/ Angenendt 2000. Mit den Ursulabruderschaften des Spätmittelalters beleuchtet Schnyder 1986 eine vielfach auf Quantifizierung ausgerichtete Gruppe von Gebetsbruderschaften. 109 Langer 1987, S. 115. 52 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="53"?> keitspraxis zunehmend an Bedeutung: »Nicht mehr das liturgische, sondern das private Gebet gilt vielen wenigstens implizit als die höhere Stufe des geistigen Lebens.« 110 Freilich aber lehnten sich auch diese Praktiken des privaten Betens, die von den Klöstern ausstrahlend auch die Laienfrömmigkeit des Spätmittelalters erfassten, vielfach an das vorgängige Offizium an. Hier sind insbesondere die zahlreichen Tagzeitentexte zu nennen, »die ihrem Inhalt und teilweise auch ihrer äußeren Form nach auf die kanonischen Gebetsstunden der Geistlichen Bezug nehmen.« 111 Auch das lateinische oder volkssprachige Stundenbuch für Laien, das aufgrund der oft prächtig illuminierten Handschriften besonders bekannt ist und im deutschsprachigen Raum weniger verbreitet war als in Frankreich, Italien, den Niederlanden und England, gehört diesem Bereich an. 112 So stellt Stefan Matter fest: »Das lateinische Stundengebet des regulierten Klerus [ … ] breitete sich schon im 14. Jahrhundert in paraliturgischen Formen in weitere Kreise aus und fand hauptsächlich im Stundenbuch seinen Niederschlag«. 113 In der Welt lebende Gläubige adaptierten, so könnte generalisiert werden, mithilfe derartiger Handschriften und Textzusammenstellungen Techniken und Ordnungen der Frömmigkeit, die aus dem Chorgebet der Mönche und Nonnen stammten. Seine Nachahmung und Ausbreitung über die Klostermauern hinaus minderten den Status des klösterlichen Betens nicht, sondern unterstrichen ihn vielmehr. So galt das persönliche Gebet heiligmäßiger Klosterbrüder und -schwestern als besonders heilskräftig, was sich in Einrichtungen wie dem Seelgerät widerspiegelte, einer Art Stiftung, mit der sich der Wohltäter den Einschluss in die Fürbitte einer Klostergemeinschaft erwerben konnte. 114 Betonungen der Heilswirksamkeit innigen und oft privaten Betens finden sich in der Viten- und Offenbarungsliteratur des Spätmittelalters zuhauf. Die Gnadenvita der Engelthaler Dominikanerin Adelheid Langmann (1306 - 1375) beispielweise erzählt davon, wie Christus Adelheid in einer Vision zur Fürbitte auffordert, autorisiert und sie der gnadenmäßigen Erhörung ihrer Gebete versichert: do sprach unser herre: › mein libe, meine zarte, mein traute, pit mich swes du wilt, des wil ich dich geweren. du solt mich piten, wan ich kum nit allein dor umb daz du geseligt werdest, ich kum dor umb daz ander leut auch geseligt werden. alle di menschen do du mich für pitest, der sol keiner von mir nimmer gescheiden werden, und ob si uf der stat nit bekert werden von iren sünden, so wil ich si doch an iren letzten zeiten behalten. 115 110 Ebd. 111 Matter 2017, S. 171. 112 Vgl. Achten 1987, S. 30 - 36; Matter 2017; sowie in Bezug auf das Stundengebet in der Devotio moderna Höhle 2017. Eine maßstabsetzende Studie über das Stundenbuch in England findet sich bei Eamon Duffy: Marking the Hours. English People and Their Prayers, 1240 - 1570, New Haven 2006. 113 Matter 2021, S. 7. 114 Vgl. Karl Kroeschell: Art. Seelgerät, in: LexMA 7 (2002), Sp. 1680. 115 »Da sprach unser Herr: Meine Liebe, meine Teure, meine Traute, bitte mich, um was du willst, und ich will es dir erfüllen. Du sollst mich bitten, denn ich komme nicht allein aus dem Grund, dass du selig werden sollst, sondern auch aus dem Grund, dass andere Leute ebenfalls selig werden sollen. Von allen Menschen, für die du mich bittest, soll keiner von mir getrennt werden und auch wenn sie nicht sofort von ihren Sünden bekehrt werden, so will ich sie doch in ihrer Sterbestunde erretten«, Die Offenbarungen der Adelheid Langmann, Klosterfrau zu Engelthal, hg. v. Philipp Strauch, Straßburg/ London 1878 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 26), S. 20. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 53 <?page no="54"?> Im Verlauf der Vita wird diese Versicherung dann in einer iterativen Reihung visionsartiger Offenbarungen der außergewöhnlichen Wirkmächtigkeit von Adelheids Frömmigkeitshandeln noch bestätigt. Immer wieder wird betont, wie viele arme Seelen durch ihr Beten aus dem Fegefeuer befreit, wie viele Heiden bekehrt und wie viele Sünder zur gottgefälligen Umkehr bewegt worden seien: So erlöst ihre Fürbitte, nachdem sie Pfingsten 1331 die Kommunion empfangen hat und im Anschluss zu Gott betet, 30.000 Seelen, bei einer anderen Gelegenheit sogar 100.000 Seelen. 116 Adelheid Langmann ist dabei kein Ausnahmefall. In den Gnadenviten anderer Dominikanerinnen dieser Zeit wie der ebenfalls im Kloster Engelthal aktiven Christine Ebner (1277 - 1356) oder Margareta Ebner (1291 - 1351) aus dem Kloster Maria Medingen sowie in den zahlreichen Schwesternbüchern der Zeit finden sich vergleichbare Schilderungen: »Mystisch begabte Frauen wurden zu Expertinnen im Losbeten von armen Seelen«. 117 Als entscheidend für die Effizienz ihrer Fürbitten wird dabei immer wieder das besondere Näheverhältnis einzelner Klosterschwestern zu Gott oder Christus hervorgestrichen, mit dem sie im Gebet in ein Zwiegespräch treten, das ihre Viten zumeist als Visionserfahrung schildern. »Mit Gottvater, Jesus Christus, Maria, den Engeln und allen Heiligen wurde geradezu face-to-face kommuniziert«, charakterisiert Thomas Lentes die in derartigen Texten beschriebene religiöse Praxis. 118 Doch mit Gott konnte auch außerhalb der Vorschriften der Liturgie nicht form- und regellos geredet werden. Bereits Tertullians De oratione oder die Benediktsregel enthalten Anweisungen für den beim Gebet angemessenen Tonfall und die vom Betenden einzunehmende innere Haltung, von denen eine Traditionslinie hin zur individualisierten Auffassung und Praxis des Privatgebets im Spätmittelalter gezogen werden darf. Unter der Überschrift De reverentia orationis ( › Über die Ehrfurcht beim Gebet ‹ ) findet sich in letzterer Schrift folgende Ermahnung: Si, cum hominibus potentibus volumus aliqua suggerere, son praesuminus nisi cum humilitate et reverentia, quanto magis domino deo universorum cum omni humilitate et puritatis devotione supplicandum est. Et non in multiloquio, sed in puritate cordis et conpunctione lacrimarum nos exaudiri sciamus. Et ideo brevis debet esse et pura oratio, nisi forte ex affectu inspirationis divinae gratiae protendatur. 119 Aufschlussreich an dieser Passage ist neben der einleitend aufgezeigten Analogie zwischen dem Gebet und der Bittstellung an einen weltlichen Herrn sowie der Aufforderung zur Kürze vor allem, dass die richtige Haltung, zu der hier angeleitet wird, sowohl 116 Ebd., S. 8 u. 14. 117 Berndt Hamm: Iudicium particulare. Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vorstellung vom Individualgericht, in: Paradigmen personaler Identität. Bd. 1: Paradigmen und Medialität der Geschichtsschreibung, hg. v. Ludger Grenzmann, Burkhard Hasebrink u. Frank Rexroth, Berlin/ Boston 2016 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen NF 41,1), S. 287 - 319, hier S. 315. 118 Lentes 1996, S. 11. 119 »Wenn wir mächtigen Menschen etwas unterbreiten wollen, wagen wir es nur in Demut und Ehrfurcht. Um wieviel mehr müssen wir zum Herrn, dem Gott des Weltalls, mit aller Demut und lauterer Hingabe flehen. Wir sollen wissen, dass wir nicht erhört werden, wenn wir viele Worte machen, sondern wenn wir in Lauterkeit des Herzens und mit Tränen der Reue beten. Deshalb sei das Gebet kurz und lauter; nur wenn die göttliche Gnade uns erfasst und bewegt, soll es länger dauern«, Benediktsregel, S. 74 - 77. 54 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="55"?> innerlich als auch äußerlich eingenommen werden muss. › Demut ‹ (humilitas), › Lauterkeit des Herzens ‹ (puritas cordis) und › lautere Hingabe ‹ (puritatis devotio) beschreiben mentale bzw. affektive Zustände. Die Stimulation von Affekt und innerer Erfahrung, deren Rolle für die mittelalterliche Gebetskultur beispielsweise Niklaus Largier hervorhebt, ist bereits hier angelegt. 120 Dahingegen verweisen die › Tränen der Reue ‹ (conpunctio lacrimarum) sowie das › Flehen ‹ (suggerere), zu dem die Benediktsregel an dieser Stelle auffordert, auf äußere Handlungen, in denen die innere Verfassung des Betenden ihren Ausdruck findet - im ersten Fall in Form einer körperlichen Reaktion, im anderen in der eines Sprechakts oder, spezifischer, eines dem Sprechakt zugehörigen Tonfalls. Das mittelalterliche Beten war demgemäß »immer mit einer je und je unterschiedlichen G e s t i k verbunden«, 121 die einerseits dem gesprochenen Wort besonderen Nachdruck verleihen und andererseits die innere Haltung der Betenden zugleich unterstützen, amplifizieren und äußerlich manifestieren sollte. Die Formen einer solchen Gebetsgestik gestalteten sich vielfältig. Unter anderem gehörten Venien, d. h. spezifische Demutsgesten, die je nach Orden als Kniefall, Kniebeuge oder Prostration vollzogen wurden, 122 Weinen, Disziplinen, d. h. ritualisierte Selbstgeißelung, das Berühren, Betrachten oder Küssen von Kruzifixen und Andachtsbildern, die Verwendung einer Perlenschnur beim gezählten Reihengebet oder das Abgehen des klösterlichen Kreuzgangs zum Repertoire der empfohlenen gebetsunterstützenden Handlungen. 123 Nach Thomas Lentes kann spätmittelalterliches Beten dementsprechend als zentraler Teil eines »religiösen Ausdrucksverhaltens« 124 verstanden werden. In seinem Zentrum stand ein die Wahrnehmung und den Affekt der Betenden stimulierender, laut aufgesagter oder auch leise gedachter Sprechakt der Hinkehr zum Heiligen, der jedoch unter Zuhilfenahme diverser Zusatzmedien und -handlungen erweitert werden konnte. Der inneren Haltung, die durch eine derartige Frömmigkeitspraxis sowohl stimuliert, eingenommen als auch performativ verwirklicht und kommuniziert wird, kam auch in späteren Gebetslehren des Mittelalters eine zentrale Stellung zu. So entwickelt beispielsweise Bernhard von Clairvaux (ca. 1090 - 1153) ein detailliertes Modell, in dem unterschiedliche Gefühlszustände mit verschiedenen Typen des Betens korrelieren. 125 Die 120 Vgl. Largier 2014. 121 Flasche 1990, S. 461. Hervorhebung im Original. 122 Nach dem Zeremoniale des Dominikanerordens beispielsweise besteht eine Venia darin, sich nach bestimmten einstudierten Bewegungsabläufen mit dem gesamten Körper auf den Boden zu legen und wieder aufzurichten: Venia est extensio totius corporis in terram, non super ventrem, sed super latus dextrum, tibiam unam super aliam tenendo (»Die Venia ist das Ausstrecken des ganzen Körpers auf der Erde, nicht über den Bauch, sondern über die linke Seite, wobei das eine Bein über das andere zu schlagen ist«, C ӕ remoniale juxta ritum S. Ordinis Pr ӕ dicatorum, rev. Patris Fr. Alexandri Vincentii Jandel, ejusdem Ordinis Generalis Magistri, jussu editum, Mechliniae [Mechelen] 1869, S. 224). Zum genau vorgeschriebenen Bewegungsablauf siehe ebd., S. 224 - 226. 123 Vgl. z. B. Dworschak 1999 mit weiteren Angaben. 124 Lentes 1996, S. 12; ausführlicher dazu ebd., S. 38 - 55. 125 Bernhard führt dazu aus: obsecrationes verecundo, orationes puro, postulationes amplo, gratiarum affectiones [sic! ] fiunt affectu devoto (»Anflehungen sollen aus einen bescheidenen, (Bitt-)Gebete aus einem reinen, Fürbitten aus einem großmütigen und Danksagungen aus einem hingebungsvollen Affekt heraus erfolgen«, Bernhard von Clairvaux: Sermones de diversis, Sermo CVII: De affectionibus orantium, in: Patrologia Latina 183 [1862], Sp. 733 f., hier Sp. 734). Das unter Anrufung z. B. von Heiligen indirekt an Gott gerichtete flehentliche Gebet (obsecratio) solle aus einem › mäßigen ‹ oder › bescheidenen ‹ Affekt (affectus verecundus) heraus erfolgen, während das Gott direkt adressierende 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 55 <?page no="56"?> Affekte, in die der gläubige Mensch sich beim Beten hineinversetzt, bilden hierbei geradezu das Fundament eines Sprechens mit Gott. Vergleichbares findet sich auch in der oben bereits erwähnten Schrift De modo orandi des Hugo von St. Viktor (ca. 1097 - 1141), der zunächst zwischen drei Gebetstypen unterscheidet: Tres sunt species orationis, supplicatio, postulatio, insinuatio. Supplicatio est sine determinatione petitionis humilis et devota precatio. Postulatio est determinatæ petitioni incerta narratio. Insinuatio est sine petitione per solam narrationem, voluntatis facta significatio. 126 Diese drei Basisformen des Gebets werden anschließend weiter unterteilt und ausdifferenziert. Entscheidend ist, dass Hugo betont, diese unterschiedlichen Weisen des Betens dienten eben nicht dazu, dem allwissenden Gott etwas mitzuteilen - denn dieses Vorhaben wäre absurd - , sondern dazu, das Potential eines gnadenhaften Beistands zu kreieren, der quasi als Antwort gedacht ist: Deus non necesse habet doceri ut sciat, sed supplicandus est ut annuat. 127 Das Ziel des Gebets sei dabei in erster Linie, bestimmte Affekte oder Emotionen (affectus) zu wecken und diese auszudrücken, 128 wodurch eine innere Hinwendung zu Gott vollzogen und eine Gnadenwirkung des Betens ermöglicht werde: Sed nullo alio modo citius Deus ad annuendum flectitur, quam si precantis animus toto devotionis affectu ad ipsum convertatur. Quæcunque ergo sunt verba orantis, absurda non sunt, si tantummodo ad hoc competenter proferri possint, ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent, vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat, excitatum demonstrent. 129 Bittgebet (oratio) aus einer › reinen ‹ oder › gerechten ‹ inneren Verfassung (affectus purus) gesprochen werden müsse. Die Fürbitte (postulatio) dahingegen erfordere eine › großmütige ‹ Haltung (affectus amplus) und zum dankenden Gotteslob (gratiarum actio), für Bernhard die sublimste Form des Betens, sei besondere innere Hingabe (affectus devotus) nötig. Den Affektzustand des Betenden vergleicht der Zisterzienser dabei mit einem Licht, das entweder fehlen und so die Erkenntnis der Dinge verunmöglichen oder zu stark aufstrahlen und somit blenden könne. Eine Kultivierung und Regulierung der Gemütshaltung beim Beten sei aus diesem Grund notwendig. Temperanda est lux, ut peccata sua videat peccator et confiteatur, ac pro ipsis oret, ut remittantur (»Das Licht muss in die richtige Ordnung gebracht werden, auf dass der Sünder seine Sünden sehe und bekenne und für sie bete, damit sie vergeben werden«, ebd., Sp. 733). Vgl. zu der entsprechenden Predigt Bernhards von Clairvaux auch Thelen 1989, S. 1 - 7. 126 »Es gibt drei Arten des Gebets: supplicatio, postulatio und insinuatio. Die supplicatio ist das demütige und hingebungsvolle Gebet ohne eine Festsetzung der Bitte. Die postulatio besteht aus einer unspezifischen Erzählung zum Zweck einer bestimmten Bitte. Die insinuatio ist das ohne eine Bitte und allein durch die Erzählung verwirklichte Vorbringen eines Wunsches«, Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 979. 127 »Gott hat es nicht nötig, belehrt zu werden, damit er wisse, sondern er ist darum anzuflehen, dass er beistimme«, ebd., Sp. 982. 128 Siehe dazu ausführlich Anselm Rau u. Johanna Scheel: Meditation und Gebet - A ffektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der mittelalterlichen Devotionspraxis, in: Theologisches Wissen und die Kunst. Festschrift für Martin Büchsel, hg. v. Rebecca Müller, Anselm Rau u. Johanna Scheel, Berlin 2015, S. 267 - 290, insb. S. 271 - 274. 129 »Aber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht, als wenn die Seele des Betenden in gänzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird. Wie auch immer die Worte des Gebets sind, so sind sie nicht nutzlos, wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden könnten, damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder, was besser ist, wenn die Liebe schon brennt, sie die Erregung zeigten« (Übersetzung Rau/ Scheel 2015, S. 272), Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 982. Hugo listet in De modo orandi verschiedenste Formen dieses › Gebetsaffekts ‹ (affectus orantis) auf. Zuneigung (affectus dilectionis), Bewunderung (affectus admirationis), Mitfreude (affectus congratulationis), Demut (affectus humilitatis), Trauer (affectus moeroris), Furcht (affectus timoris), 56 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="57"?> Die Praxis der Stimulation persönlichen Fühlens, die Hugo hier theoretisiert, weist direkt auf die schriftmediale Seite des Betens, nämlich den Text. Denn der Viktoriner verknüpft mit einzelnen genannten Affekten spezifische Textgattungen, die wiederum jeweils jedem der vorher von ihm unterschiedenen Gebetstypen zugehören können. So ist beispielsweise das Lobgebet mit Zuneigung, Bewunderung und Beglückwünschung verbunden. Gebete, die »zur Erinnerung des Unglücks bzw. der eigenen Fehler« anregen, 130 erzeugen und äußern Demut, Furcht und Trauer, und Gebete, die eine erlittene Bedrängnis beklagen, führen zu Empörung, Ereiferung sowie der Erwartung der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und bringen diese inneren Zustände zum Ausdruck. 131 Anhand einzelner Psalmen exemplifiziert Hugo die so zu nutzenden Texttypen, die zudem jeweils im performativen Vollzug auf die Vergegenwärtigung bestimmter Teile des Heilsgeschehens und damit verknüpfte Resonanzen in Form einer Gnadenteilhabe abzielen. Das Gebet wird in De modo orandi somit als religiöser Kommunikationsakt aufgefasst, der deprekatorische, meditative und affektive Momente vereint. Vergleichbare Typologisierungen des Gebets und der beim Beten eingenommenen, erzeugten und zum Ausdruck gebrachten Haltungen und Affekte finden sich in der mittellateinischen geistlichen Literatur vielfach. Es wäre an dieser Stelle rahmensprengend, sämtliche dieser teils durchaus zueinander im Kontrast stehenden Gebetstheorien ausführlich zu behandeln - eine entsprechende Studie bleibt ein Forschungsdesiderat. Zur Illustration des hier entscheidenden Punkts jedoch genügen die Beispiele Bernhards von Clairvaux und Hugos von St. Viktor allemal: Mittelalterliche Typologien des persönlichen Gebets als religiöser Praxis verstehen es zumeist als auf Gott gerichtete kommunikative Handlung, die laut oder leise erfolgen und verschiedene Zusatzmedien zur Hilfe nehmen kann, vor allem aber den Betenden innerlich affiziert und sein Denken und Fühlen auf das Heilige hin ausrichtet. Sie klassifizieren Gebete dementsprechend nach ihrem Anlass und den mit ihnen verbundenen Affekten. Dabei verfolgen schriftliche Texte für Gebet und Andacht, mit denen eine derartige Praxis vielfach verknüpft ist, neben Affekterzeugung und -steuerung auch Programme der Strukturierung und Lenkung des Vollzugs, der inneren Wahrnehmungsformung und der erleichternden Medialisierung eines Kontakts zum Heiligen. Hierin dienen sie pragmatisch der persönlichen Hinkehr zu Gott und folgen dabei eigenen sprachlichen Gattungs- und Formtraditionen ebenso wie einer idiosynkratischen Rezeptions- und Wirkungsästhetik, die in der sprachlichen Gestalt und den historisch-alteritären Lektüreangeboten Empörung (affectus indignationis), Ereiferung (affectus zeli) und die freudige Erwartung einer Wohltat (affectus bonae praesumptionis) sind nur einige der zahllosen Haltungen der Ergriffenheit, die beim Beten wachgerufen und zum Ausdruck gebracht werden können: infiniti enim sunt affectus (»Denn unendlich sind die Affekte«, ebd., Sp. 985). Ebd. findet sich auch eine Definition und Aufzählung der genannten Affektbeispiele. Das Gebet als Praxis wird in dieser Weise bei Hugo als Entfaltungsraum von auf das Heilige orientierenden Affekten entworfen, die der Betende gleichzeitig in Form einer inneren Verfasstheit in sich erzeugt und kommunizierend nach außen trägt. 130 Rau/ Scheel 2015, S. 273. 131 Vgl. dazu Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 985 f. 2 Das mittelalterliche Gebet als Praxis: Grundlinien des Redens mit Gott 57 <?page no="58"?> dieser Texte angelegt ist. In den folgenden Abschnitten entwickle ich daher unter den drei Leitbegriffen Bildrede, Immersion und Figuration eine Perspektive, die eine methodisch fundierte Annäherung an die Lektüreeffekte spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte erlauben soll. 58 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="59"?> 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität Mit gebêt oder oratio kann, wie z. B. die in Gebetbuchhandschriften des 15. Jahrhunderts zahlreichen Rubriken zeigen, neben einer Frömmigkeitspraxis des Betens auch der Text gemeint sein, auf den hierbei zurückgegriffen wird. Im Falle einer Rubrik wie Das sind gebett z ů unserm herren jhesu cristi 132 dürfte ein zeitgenössischer Leser dementsprechend unter gebett sowohl den Vollzug des Betens als auch die ihm vorliegende Schrift verstanden haben. In den folgenden Abschnitten versuche ich, anhand einzelner Textbeispiele auf die charakteristischen Formmerkmale und Wirkstrategien einzugehen, die spätmittelalterlichen Gebets- und Andachtstexten eingeschrieben sind. Obschon ihre Vollzugsaufforderungen dabei stets mitreflektiert werden müssen - denn schließlich gilt: »it is the purpose of prayers to draw their readers in and stimulate them to pray« 133 - , fokussiere ich mich hierbei primär auf die Schrift und die in ihr angelegten wirkungsästhetischen Programme. Zunächst steht das mittelalterliche Gebet in enger Verbindung zur rhetorischen Tradition. Eckart Conrad Lutz arbeitet diese Verbindung zwischen Rhetorik und Gebet unter Rückgriff vor allem auf zwei Schriften zur Gebetspoetik heraus, zum einen den Traktat De oratione des frühchristlichen Philosophen Origenes (185 - ca. 254) und zum anderen die um 1240 entstandene Rhetorica divina seu ars oratoria eloquentiae divinae des Pariser Bischofs Wilhelm von Auvergne (ca. 1180 - 1249). 134 »Rede und Gebet gleichen sich [ … ] in wesentlichen Punkten«, 135 fasst Lutz die Kernthese dieser beiden Werke zusammen, die vor allem auf der Annahme einer Struktur- und Funktionsnähe beider Textgattungen fußt: Wie die in der antiken Rhetorik entworfene öffentliche Rede, die im Mittelalter unter anderem auch als Vorbild für die ars dictandi, also die Vorgaben der Epistolographie, und die ars praedicandi, das heißt die Predigtlehre, fungierte, besteht das Gebet aus einer mehr oder minder fest vorgegebenen Anordnung von spezifischen, an einen Adressaten gerichteten Textbestandteilen, die jeweils eigenen Regeln folgen und bestimmte Funktionen erfüllen sollen. Beginnend mit der Einleitung (exordium), die eine Anrede oder Anrufung (invocatio) sowie die Bitte um freundliche Aufnahme des Vorgetragenen (captatio benevolentiae) umfasst, fahren sowohl Rede als auch Gebet mit der Erzählung oder Darlegung eines Sachverhalts (narratio) fort, aus der eine Bitte oder 132 »Dies sind Gebete von unserem Herren Jesu Christi«, Stanford, University Libraries, MSS CODEX 1209 T, fol. 108r (Gebet- und Andachtsbuch für Dominikanerinnen oder Franziskanerinnen, alemannischer Sprachraum, 2. Hälfte 15. Jh.). 133 Fulton 2006, S. 707. 134 Einen detaillierten Vergleich beider Schriften und eine tabellarische Darstellung der dort vorgestellten Gebetsschemata liefert Lutz 1984, S. 118 - 137. Siehe zu De oratione auch Wilhelm Gessel: Die Theologie des Gebets nach De Oratione von Origenes, München u. a. 1975; sowie Eric George Jay: Origen ’ s Treatise on Prayer: Translation and Notes with an Account of the Practice and Doctrine of Prayer from New Testament Times to Origen, Eugene, OR 1954. Die Rhetorica Divina zitiere ich nach William of Auvergne: Rhetorica divina, seu ars oratoria eloquentiae divinae, hg., eingel., übers. u. kommentiert v. Roland J. Teske SJ, Paris/ Leuven/ Walpole, MA 2013 (Dallas Medieval Texts and Translations 17). 135 Lutz 1984, S. 124. <?page no="60"?> Aufforderung (petitio) folgt. Im Anschluss kann diese Bitte durch das Anführen weiterer Argumente unterstützt (confirmatio) oder, für das Gebet eher untypisch, der gegenteilige Standpunkt angegriffen (infirmatio) werden, bevor eine abschließende Zusammenfassung, Wiederholung der Bitte oder Schlussfloskel den Text bekräftigend enden lässt (conclusio). 136 Der Gebetstext folgt also, so die in der mittelalterlichen Theologie verbreitete Lehre, weitgehend den gleichen, durch die Rhetorik beschriebenen Strukturen wie die Rede. In der Gebetbuchliteratur des Mittelalters schlägt sich diese Parallelisierung eindrücklich nieder und begünstigt die Entwicklung von Textformen, die durch rhetorisch elaborierte und oftmals bildliche Sprachlichkeit einerseits theologische Lehre zeichenhaft vermitteln und veranschaulichen, andererseits den Betenden selbst affizieren und schlussendlich im Sinne eines Hilfsmediums zu einer Teilhabe am durch Christus in die Welt geflossenen Heil hinleiten sollen. Letzterer Punkt einer Hinkehr des immanenten Gläubigen zum transzendenten Heiligen kann als v e r t i k a l e V e r m i t t l u n g s e b e n e verstanden werden, auf der sich eine »dialogisch angelegte Kommunikation des Menschen mit einem höheren Wesen« ergibt. 137 Während einer dazu komplementären horizontalen Medialisierungsdynamik von Andacht und Gebet, die primär zwischen Text und Leser vermittelt, im Folgeabschnitt unter dem Stichwort der Immersion nachgegangen wird, steht im Fokus dieses Unterkapitels eine dergestalt vertikale Dimension, die Momente der affektiven ebenso wie der kommunikativen Hinorientierung des Rezipienten auf ein jenseitiges Gegenüber verschmilzt. Exemplifiziert sei dies an einem recht frühen volkssprachigen Kommuniongebet, das ursprünglich aus dem Büchlein der ewigen Weisheit des Dominikaners Heinrich Seuse stammt, jedoch im Gebetbuchkontext vielfach auch als exzerpierter Einzeltext überliefert ist. 138 Seuse, ein Schüler Meister Eckharts, der in Konstanz vor allem im Bereich der cura monialium, das heißt der seelsorgerischen Betreuung geistlicher Frauen, tätig war, 139 schrieb mit dem Büchlein der ewigen Weisheit um 1330 einen wahren »Bestseller« 140 des Spätmittelalters, der nahezu alle für die zeitgenössische Frömmigkeit entscheidenden Themen kursorisch abhandelte und mit Anweisungen für ein geistliches Leben verband. Mehr als 260 erhaltene deutschsprachige Handschriften 141 , über 400 Textzeugen der als 136 Eine tabellarische Übersicht über diese Teile des Gebets und der Rede bei Origenes und Wilhelm von Auvergne findet sich bei Wiederkehr 2013, S. 126 f. Für eine detailliertere Diskussion der Behandlung dieses Schemas durch Wilhelm von Auvergne siehe Lutz 1984, S. 131 - 137. 137 Chlench-Priber 2020, S. 131. 138 Ediert in Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte hg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 196 - 325. Eine vollständige Erschließung der enormen Streuüberlieferung dieses Gebets fehlt bislang leider, einschlägige Datenbanken wie http: / / www.manuscripta-mediaevalia.de/ (Abruf 15.08.2023) liefern jedoch bei einer Suche ein hohes zweistelliges Ergebnis an Textzeugen. 139 Zu Seuse und seinem literarischen Werk siehe Alois M. Haas u. Kurt Ruh: Art. Seuse, Heinrich OP, in: 2 VL 8 (1992), Sp. 1109 - 1129. 140 So wird die außergewöhnlich hohe Verbreitung dieser Schrift charakterisiert bei Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle. Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300 - 1500), übers. v. Bernardin Schellenberger, Freiburg i. Brsg. u. a. 2010, S. 351. 141 So fasst Antje Willing in ihrer editionsvorbereitenden Untersuchung der Überlieferung des Büchleins der ewigen Weisheit zusammen: »Es ist in mindestens 121 Textzeugen vollständig überliefert, in mindestens 145 Textzeugen ist das Werk auszugsweise überliefert. Hinzu kommt eine umfangreiche Überlieferung der Hundert Betrachtungen«, Antje Willing: Heinrich Seuses Büchlein der ewigen 60 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="61"?> Horologium sapientiae bekannten lateinischen Adaptation sowie zeitgenössische Übersetzungen in acht europäische Volkssprachen 142 zeugen vom einschlagenden Erfolg dieses Werks, dessen Einfluss auf die Entwicklung der geistlichen Literatur im deutschsprachigen Mittelalter kaum überschätzt werden kann. In dieser Schrift nun findet sich als Abschluss des 23. Kapitels, das sich mit der richtigen Vorbereitung auf und dem Verhalten während der Messfeier befasst, ein Gebet, das von den einzelnen Gläubigen beim Kommunionempfang gesprochen werden soll. Im Hintergrund steht hierbei die zeitgenössische Eucharistiefrömmigkeit, die zusätzlich zum liturgischen Geschehen, das vornehmlich vom zelebrierenden Priester getragen wurde, vielfältige individualisierte Formen des eucharistischen Betens und der Andacht für den empfangenden Gläubigen entwickelte. 143 Seuses Text, der demnach als privates Kommuniongebet verstanden werden kann, beginnt wie folgt: Eya, du lebendú vruht, du su ᵉ zú gimme, du wunneklicher paradiso ᵉ phel dez geblu ᵉ mten vetterlichen herzen, du su ᵉ zer trubel von Cyper in den wingarten Engaddi, wer git mir, daz ich dich hútte als wirdeklich enphahe, daz dich geluste zu ͦ mir ze komen, bi mir ze blibenne und von mir niemer ze scheidenne? Eya, grundloses gu ͦ t, daz da himelrich und ertrich erfúllet, neige dich hút gnedeklich zu ͦ mir und versmahe nit din armen kreature! Herr, bin ich din nit wirdig, so bin ich din aber notdúrftig. 144 Diese ersten Zeilen bilden ein inhaltlich komplexes exordium. Ins Auge fällt zunächst die dreifache invocatio, die hintereinander die trinitarischen Personen adressiert. Das grundlose gu ͦ t, an das sich wohl in Anlehnung an die seit Augustinus als Gottesbezeichnung gebräuchliche lateinische Formulierung summum bonum gerichtet wird, meint dabei den allgegenwärtigen Heiligen Geist. Als herr wird Gottvater angesprochen, während sich die Bezeichnungen lebendú vruht und su ᵉ zú gimme, wunneklicher paradiso ᵉ phel und su ᵉ zer trubel auf den Sohn Jesus Christus beziehen. In ihrer textlichen Einheit, die den wesenhaft selben Gott dreimal nacheinander in der Form der drei relational verschiedenen Hypostasen Weisheit. Vorstudien zu einer kritischen Neuausgabe. Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen 272), S. 13. Siehe auch die noch unvollständige Liste des Handschriftencensus: http: / / www.handschriftencensus.de/ werke/ 512 (abgerufen am 15.08.2023). 142 Zu den Textzeugen des Horologium sapientiae sowie seinen Übersetzungen findet sich eine äußerst umfangreiche und detaillierte, wenn auch ob der Fülle der Überlieferung unvermeidbar unvollständige Liste bei Pius Künzle OP (Hg.): Heinrich Seuses Horologium Sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benützung der Vorarbeiten von Dominikus Pflanzer OP, Freiburg/ Schweiz 1977 (Spicilegium Friburgense 23), S. 195 - 276. 143 Vgl. z. B. Andreas Odenthal: Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung. Studien zur Geschichte des Gottesdienstes, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 61), insb. S. 172 - 182; sowie Thomas Lentes: Dem Entsinnlichten Sinne verleihen. Vom produktiven Paradox der Eucharistie im späten Mittelalter, in: Trotz Natur und Augenschein. Eucharistie - Wandlung und Weltsicht, hg. v. Ulrike Surmann u. Johannes Schröer, Köln 2013, S. 267 - 276. 144 »Ach, du lebendige Frucht, kostbarer Edelstein, köstliche Paradiesfrucht des verherrlichten väterlichen Herzens, süße Traube Zyperns im Weingarten Engedi, wer gibt mir, daß ich dich heute so würdig aufnehme, daß du daran Wohlgefallen findest, zu mir zu kommen, bei mir zu bleiben, nie mehr von mir zu scheiden? O du unermeßliches Gut, das Himmel und Erde erfüllt, neige dich heute gnadenvoll zu mir und verachte nicht dein armes Geschöpf. Würdig bin ich deiner nicht, Herr, wohl aber bedarf ich deiner.« (Übersetzung aus Heinrich Seuse: Deutsche mystische Schriften, hg. u. übers. v. Georg Hofmann, Darmstadt 1966, S. 306); Seuse: Deutsche Schriften, S. 303,2 - 9. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 61 <?page no="62"?> anruft, reflektiert diese invocatio die christliche Dreifaltigkeitslehre. Dabei schließt an jede der drei Apostrophen ein Teil der captatio benevolentiae an: Christus wird in einer rhetorischen Frage darauf hingewiesen, wie sein Kreuzestod und dessen Erlösungswirkung im Eucharistiegeschehen vergegenwärtigt, erinnert und den Gläubigen zugänglich gemacht werden. Der Heilige Geist wird um gnadenhafte Zuwendung gebeten. An Gottvater gerichtet wird beteuert, das Bedürfnis nach göttlicher Nähe sei unbesehen des eigenen Unverdienstes groß. Auffällig ist bereits an diesen ersten Gebetssätzen die Aneinanderreihung von sprachlichen Bildern, die, einen von Susanne Köbele vorgeschlagenen Bildbegriff hier und für die folgende Untersuchung im Ganzen übernehmend, »als Modus übertragenen Sprechens, als Überschreitung des proprie-Raums« etwas anderes meinen als sie konkret bezeichnen. 145 Mit Wolfgang Iser können sie als »Muster strukturierter Anweisung für die Vorstellung des Lesers« begriffen werden, die zugleich konkret visualisierbare Gegenstände evozieren als auch intensiv zeichenhafte Qualität besitzen. 146 Vielfach entlehnen sich die Formulierungen, mit denen Christus hier angesprochen wird, der Liebessprache des alttestamentlichen Hohelieds. 147 Dabei verweisen die aufgerufenen Bilder der Süße, der Speisefrüchte und der Weintrauben gleichzeitig auf die Transsubstantiation von Brot und Wein im Rahmen der Eucharistie und damit auch auf den Empfang von Christi Leib und Blut bei der Kommunion, zu deren Anlass der Text gebetet werden soll. Sie nehmen Rekurs auf Traditionen der Exegese des Hohelieds hin auf die Beziehung der Einzelseele zu Gott, die ihren Ausgang wesentlich bei Bernhard von Clairvaux nehmen und über das Mittelalter hinweg bestimmend bleiben. 148 Diese Bilder konstituieren, einer Charakterisierung Paul Michels folgend, zumindest partiell »Pseudometaphern«, die nicht vorrangig »ein in einem Satz schief verwendetes Wort« mit Übertragungsfunktion darstellen. 149 Vielmehr beruhen ihre Verstehensmöglichkeiten grundsätzlich auf der »Kenntnis von Geschichten« und in diesem speziellen Fall auf der Vertrautheit des Lesers mit dem von Seuse angespielten vorgängigen Bibeltext und seinen zeitgenössischen Deutungen, insbesondere dem typologischen Bezug alttestamentlicher Erwähnungen von Wein auf das Blut Christi und damit auf die Eucharistie. 150 Während also Metaphern im eigentlichen Sinne, so Udo Friedrich, durch »Ersetzungen auf der Wortebene« eine »auf Similaritätsrelationen« aufbauende Form des Bedeutungstrans- 145 Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen/ Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 55. 146 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, Stuttgart 1994 (UTB 636), S. 20. 147 So greift das Gebet hier z. B. die Formulierung botrus cypri dilectus meus mihi in vineis Engaddi (Ct 1,13), die Rede vom paradisus malorum punicorum (Ct 4,13) oder die Bezeichnung des Geliebten als malum inter ligna silvarum (Ct 2,3) auf. Speziell zur Darstellung Christi als Weintraube und zu entsprechenden Bibelauslegungen und Bilddarstellungen siehe Alfred Weckwerth: Christus in der Kelter. Ursprung und Wandlung eines Bildmotivs, in: Beiträge zur Kunstgeschichte. Eine Festgabe für Heinz Rudolf Rosemann zum 9. Oktober 1960, hg. v. Ernst Guldan, München 1960, S. 95 - 108. 148 Vgl. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung der Mystik durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 234 - 268. 149 Paul Michel: Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede, Bern 1987 (Zürcher Germanistische Studien 3), S. 157. 150 Michel 1987, S. 158. Michels Beispiel hierfür ist die altnordische Kenning, seine Charakterisierung lässt sich aber, so meine ich, auch auf biblische Bildübernahmen übertragen. 62 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="63"?> fers leisten, 151 entfaltet sich bildhafte Rede in Seuses Kommuniongebet primär über die Referenzierung und Relationierung vorgewusster Narrative und ihrer Sinndimensionen. Aufgrund dieser Komplexität bereits der Zeichen, die sich im Erkennen der dahinterstehenden Schrift- und Auslegungstradition erschließt, können Seuses Sprachbilder auch als knappe Allegorien gelesen werden, d. h. als »fortlaufender Übertragungsvorgang mit konsistenter Bildgrundlage«. 152 Im Sinne eines Gleichnisses, in dem eine Metapher bereits zu einem mehrteiligen bildgebenden »Modell« ausgebaut ist, das »ein Explanandum erhellt«, führen die Bilder der Früchte und Weintrauben in der obigen Passage die Anwesenheit und Bedeutung Christi in der Kommunion vor. 153 Solche Sinnbilder ragen, stehen sie doch zeichenhaft für das letztlich unsag- und unbezeichenbare Heilige, in den Bereich des Symbolischen als »Form des Ausdrucks« hinein, deren Trennung von allegorischer und gleichnishafter Rede »als einer bloßen Weise der Bezeichnung« für die Literatur des Mittelalters, so Hans Robert Jauss, kaum sinnvoll vorzunehmen ist. 154 Mittels bildhafter Zeichen wird somit, wie Susanne Köbele für die Helftaer Mystik herausarbeitet, ein durch direkte Referenz nicht fassbarer Gegenstand erstens »überhaupt zugänglich«, damit zweitens fasslich mitteilbar und drittens ästhetisch wirksam »umkleidet«. 155 Ein dergestalt fluider Umgang mit veranschaulichender Sprache lässt sich in verschiedenen Ausprägungen in sämtlichen auch der folgend betrachteten Gebets- und Andachtstexte ausmachen. Vielfach werden hierbei die Grenzen zwischen unterschiedlichen Typen bildhafter Rede verwischt. So lassen sich beispielsweise die Bilder floraler Gebinde oder prächtiger Textilien, mit denen die unten untersuchten Texte die von ihnen angeregte Frömmigkeitspraxis bzw. ihre Produkte bezeichnen, einerseits als Symbole verstehen, bei denen das »Zeichen [ … ] in einer synekdochischen Beziehung zum metaphysisch Bezeichneten steht«. 156 Zugleich eignen ihnen andererseits ebenfalls metaphorische und dingallegorische Dimensionen, wenn die Einzelelemente des geistlichen Gegenstands auf bestimmte Glaubensinhalte oder Heilsereignisse verweisen, also, mit Friedrich Ohly gesprochen, das »in die Sprache gerufene Ding [ … ] weiter auf einen 151 Udo Friedrich: Historische Metaphorologie, in: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch, hg. v. Christiane Ackermann u. Michael Egerding, Berlin/ Boston 2015, S. 169 - 211, hier S. 169 f. 152 Köbele 1993, S. 55. 153 Michel 1987, S. 197. 154 Hans Robert Jauss: Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia, in: Medium Aevum Vivum. Festschrift für Walther Bulst, hg. v. Hans Robert Jauss u. Dieter Schaller, Heidelberg 1960, S. 197 - 206, hier S. 183. In eine ähnliche Richtung bezüglich des Verhältnisses von Allegorie und Symbol geht die Argumentation von David A. Wells: Die Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte. Möglichkeiten und Grenzen, in: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg. v. Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach in Verbindung mit Herfried Vogel, Tübingen 1992, S. 1 - 23. 155 Köbele 1993, S. 57 f. Köbele bezieht sich in der zitierten Passage auf Ausführungen zur »Funktion der Bild- und Gleichnisrede« (ebd., S. 56) bei Gertrud von Helfta, wobei mir die aufgezeigten Funktionsdimensionen jedoch auch auf frömmigkeitspraktische Texttypen übertragbar scheinen. 156 Bernhard Huss u. David Nelting: Zur Einführung: Schriftsinn und Epochalität, in: Schriftsinn und Epochalität. Zur historischen Prägnanz allegorischer und symbolischer Sinnstiftung, hg. v. Bernhard Huss u. David Nelting, Heidelberg 2017 (GRM-Beiheft 81), S. 9 - 18, hier S. 14. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 63 <?page no="64"?> höheren Sinn« deutet und damit »Zeichen von etwas Geistigem« ist. 157 Auch Allegorie und Typologie können »infolge gewisser innerer Verwandtschaften gleichsam › endogen ‹ ineinander übergehen«. 158 Unten wird je nach Einzelfall genauer zu präzisieren und auszudifferenzieren sein, wie und in welchen Spielarten und Kombinationen übertragenes Sprechen zum Einsatz kommt. Übergreifend kann aber dennoch mit Paul Michel von verschiedenen rhetorischen Strategien der Bildrede gesprochen werden, mit denen unter Anführung eines anschaulichen Konkretums »etwas anderes geäussert [wird] als gemeint ist«. 159 Auf diese Weise evozieren Gebete und geistliche Übungen komplex-zeichenhafte Bildvorstellungen, die den Leser erläuternd und vermittelnd auf ein Transzendentes orientieren, das jenseits von Bild und Sprache angesiedelt ist. 160 Im weiteren Sinne lässt sich auch die rhetorische Gestaltung von Gebetstexten in Analogie zur öffentlichen Rede dahingehend als bildgebendes rhetorisches Verfahren begreifen, erzeugt sie doch den anschaulichen Eindruck eines Gesprächs, in dem ein anwesendes Gegenüber adressiert wird. Im Dialog mit der Transzendenz dienen, wie Walter Haug für mystische Gesprächsszenen bei Mechthild von Magdeburg feststellt, »die Heilsgeschichte [ … ] sowie das metaphorisch-allegorische Bildarsenal, das die Exegese im Laufe der Jahrhunderte aufgebaut« hat, als »Elemente des Mediums, über das sich die Begegnung zwischen Mensch und Gott vollzieht.« 161 Im Falle von Gebet und Andacht ist hierbei mitzureflektieren, dass dort die sprachliche Gesprächssituation, die als selbst schon bildlicher Rahmen für entsprechende Verwendungen bildhafter Rede entworfen wird, vornehmlich als Instrument zur Vermittlung einer Hinkehr der Betenden zu Gott, d. h. des ascensus mentis in Deum dient. Das exordium von Seuses Kommuniongebet apostrophiert also mittels der invocatio erstens Gott in seiner Dreifaltigkeit und entwirft so eine rhetorisch strukturierten Kommunikationssituation zwischen dem Betenden und der Transzendenz, in deren Rahmen das Gebet als »vornehmlich › personhafte ‹ , dialogische Zuwendung eines Men- 157 Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (1958), in: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1 - 31, hier S. 5. Zu Problemen der scharfen Abgrenzung von Symbol und Allegorie vgl. auch Huss/ Nelting 2017. 158 Paul Michel: Übergangsformen zwischen Typologie und anderen Gestalten des Textbezugs. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg. v. Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach in Verbindung mit Herfried Vogel, Tübingen 1992, S. 43 - 72, hier S. 60. 159 Michel 1987, S. 13. 160 Hierbei klingen oftmals, so z. B. in den Hoheliedreferenzen von Seuses Kommuniongebet, auch typologische Bezugnahmen oder gar ein Figuralverständnis der referierten Bibelstellen ebenso wie des Gebets selbst an, auf das ich in Kap. I.5 näher eingehe. Dabei überführt ein dergestalt indirektes Sprechen in Bildern die Sprachlichkeit von Gebet und Andacht in imaginierende Wahrnehmung und je persönliche religiöse Erfahrung des Betenden. Niklaus Largier spricht diesbezüglich von »experiential events [that] are produced with the help of rhetorical stimuli and artifacts« (Largier 2014, S. 58), während Thomas Lentes hevorhebt, wie der visuelle ebenso wie sprachliche Bildgebrauch im Spätmittelalter »dem Verschluss der äußeren Sinne dient und einen inneren Bildraum öffnet« (Thomas Lentes: Der mediale Status des Bildes. Bildlichkeit bei Heinrich Seuse - statt einer Einleitung, in: Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, hg. v. David Ganz u. Thomas Lentes, unter redakt. Mitarbeit v. Georg Henkel, Berlin 2004 [KultBild 1], S. 12 - 73, hier S. 31). 161 Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur, in: Das Gespräch, hg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 2 1996 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 251 - 279, hier S. 269 f. 64 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="65"?> schen zu seinem Gott« erscheint. 162 In diesem Zuge ruft es zweitens eine Vielzahl komplexer Bilder auf, die im Rahmen des übergreifenden Bilds des Gesprächsvorgangs angebracht werden und gleichzeitig intensiv zeichenhaft wie in ihrer sinnlichen Konkretheit eindrücklich erscheinen. Hierauf aufbauend weist es drittens als captatio benevolentiae demütig auf die gnadenhafte Heilswirkung des bevorstehenden Kommunionempfangs hin, die trotz der beteuerten eigenen Unwürdigkeit erbeten und erhofft wird. Letzteres konvergiert eng mit den Ausführungen Wilhelms von Auvergne zur rhetorischen Zielsetzung der Gebetseinleitung. In der weltlichen Rede nämlich, so stellt Wilhelm fest, sei es der Zweck des exordium, das Wohlwollen des Publikums zu gewinnen (per ipsum captetur benevolentia judicis ac favor astantium sive audientium). 163 Im Falle des Gebets hingegen sei aufgrund der Ungleichheit des Sprechers und seines göttlichen Gegenübers zunächst ein Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit notwendig, das den Betenden in eine dankbar-demütige Haltung versetze, aus welcher heraus ein Flehen um göttliche Erhörung und gnadenhafte Zuwendung erst möglich sei. 164 Nachdem nun eine solche Demutsbeteuerung erfolgt ist, fährt Seuses Gebet mit einer kurzen narratio fort, in die bereits eine erste Bitte eingestreut ist: Herr, bin ich din nit wirdig, so bin ich din aber notdúrftig. Ach, zarter herr, bist du nit der, der himelrich und ertrich mit eime einigen worte geschephet hat? Herr, mit einem einigen worte macht du min siechen sele gesunt machen. Owe, zarter herr, tu ͦ mir nach diner gnade, nach diner grundlosen erbermde, und nit nach minem verdienenne. Du bist doch daz unschuldig osterlembli, daz hút vúr aller menschen súnde wirt geophert. 165 Auch in diesem kurzen erzählenden Teil richtet sich der Text in direkten Apostrophen an Gott und Christus. Im Unterschied zu den einleitenden Sätzen jedoch werden nun in aufzeigender Weise, die beinahe wie ein Memento-Gebet funktioniert, 166 mit dem Schöpfungsakt und der Passion Christi heilsgeschichtlich bedeutsame Ereignisse aufgerufen und auf die Eucharistiefeier in der Gegenwart des Betenden bezogen. Die Feststellung, Christus werde hút vúr aller menschen súnde [ … ] geophert, verdeutlicht die Vergegenwärtigung und Erneuerung des Ostergeschehens bei der Kommunion und verweist so auf die situative Verankerung des vom Text angeleiteten Betens. Wieder wird sich dabei komplexer Formen übertragenen Sprechens bedient. Nicht nur wird das neutestamentlich fundierte Sinnbild von Jesus als Opferlamm, als agnus Dei qui 162 Carl Heinz Ratschow: Art. Gebet I: Religionsgeschichtlich, in: TRE 12 (1984), S. 31 - 34, hier S. 31. 163 »mit ihnen werde das Wohlwollen der Richter und die Gunst der Anwesenden und Zuhörenden erlangt«, Wilhelm von Auvergne: Rhetorica divina, S. 36. 164 Ein exemplarisch-selbstreflexives exordium im Sinne des Erbittens einer solchen Gebetshaltung liefert Wilhelm gleich mit: Da, Domine misericordie mihi miserrimo peccatori vilissimo, mihi omni boni indignissimo, omni damnatione et morte dignissimo, orationis tibi acceptae exordium (»Gib, Gott der Barmherzigkeit, mir elendem und wertlosestem Sünder, mir alles Gutem unwürdigem und aller Verdammnis und des Todes würdigem [Menschen] einen dir angenehmen Anfang des Gebets«, ebd.) 165 »Würdig bin ich deiner nicht, Herr, wohl aber bedarf ich deiner. Ach, teurer Herr, hast du nicht Himmel und Erde mit einem einzigen Wort geschaffen? Mit einem einzigen Wort vermagst du meine kranke Seele zu heilen. Ja, Herr, verfahre mit mir nach deiner Gnade, deinem unergründlichen Erbarmen, nicht aber nach meinem Verdienste. Du bist doch das unschuldige Osterlamm, dass heute für aller Menschen Sünde geopfert wird« (Übersetzung Hofmann 1966, S. 306); Seuse: Deutsche Schriften, S. 303,9 - 15. 166 Diesen verbreiteten Gebetstyp charakterisiert Gerhard Achten treffend: »Der Betende bringt vor Gott, Christus oder Maria das Heilsgeschehen in Erinnerung, um sich der Bedeutung dieser Heilstaten Gottes für seine eigene Person bewußt zu werden« (Achten 1987, S. 38). 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 65 <?page no="66"?> tollit peccatum mundi (Io 1,29) aufgerufen - der Text lehnt sich auch beinahe wörtlich an die Evangelienepisode an (Mt 8,5 - 13, Lc 7,1 - 10), in welcher der Hauptmann von Kafarnaum sich demütig an Jesus richtet und dabei beteuert: »Herr, ich bin es nicht wert, dass du unter mein Dach eintrittst. Aber sag es nur mit einem Wort, und mein Diener wird geheilt werden.« (Mt 8,8). 167 In abgewandelter, auf die individuelle Seele bezogener Form bilden diese Bibelworte in der Messliturgie das Gebet der Gläubigen vor dem Kommunionempfang. Seuses Gebet nun ruft zugleich die neutestamentliche Erzählung, die liturgische Gebetsformel und das Bild von Christus als Lamm Gottes auf, um zeichenhaft auf das erlösende Selbstopfer der Passion zu referieren, das sich in der Eucharistie gnadenhaft aufs Neue ereignet. Die bildlichen Vorstellungen, die der Text hier evoziert, verweisen die Betenden so auf Glaubenswahrheiten, die jenseits von Sprache und Zeichen liegen. 168 Gleichzeitig stellen die Erwähnungen des Schöpfungsakts und der Passion Christi, wie Eckart Conrad Lutz als gattungstypisch für Gebetstexte hervorstreicht, eine »mahnende Aufzählung der früheren Wohltaten Gottes (Anamnese)« dar, »die als Zeichen größerer (jenseitiger) Gnaden verstanden werden müssen.« 169 Der Verweis auf die grundlose erbermde Gottes, dessen Gegenwart in der Eucharistie den Gläubigen allein durch die Gnade zuteil werde, entspricht hierbei der auch bei Wilhelm von Auvergne ausgeführten Idee, die narratio des Gebets müsse auf die Barmherzigkeit und den Großmut Gottes hinweisen, durch die eine Erhörung der anschließenden petitio des betenden Sünders erst ermöglicht werde: Nec praetereundem est quam diu, quam benigne, quam misericorditer, quam dulciter, in tot et in tantis malis sustinet peccatores, quod utique facit ut det eis locum et spatium poenitentiae. 170 Im Vergleich zum exordium und zu den nachfolgenden Bitten ist der narrative Teil von Seuses Komuniongebet vergleichsweise kurz. Er dient vor allem dazu, den Betenden auf bildhaft-evokative Weise die Allmacht des göttlichen Schöpfers vor Augen zu führen und die gnadenhafte Präsenz Christi bei der Kommunionfeier zu verdeutlichen. Damit skizziert er die Ausgangslage, aus der heraus ein motivisch und inhaltlich voraussetzungsreicher Katalog an Bitten angeschlossen werden kann: Ach, su ᵉ zes wolgesmackes himelbrot, daz da allen su ᵉ zen smak in im hat nach iedez herzen begirde, mache hút lústig in dir den túrren munt miner sele; spise und trenke, sterke und ziere und vereine dich minneklich mit mir! Ach, Ewigú Wisheit, nu kum húte als krefteklich in min sele, daz du alle mine viende vertribest, alle mine gebresten versmelzest und alle mine súnde 167 Domine non sum dignus ut intres sub tectum meum sed tantum dic verbo et sanabitur puer meus. 168 Zugleich jedoch resultieren die vom Gebetstext aufgerufenen Bilder, mit Erich Auerbach gesprochen, auch in einer »Evidenz des Dargestellten«, die jenseits des referentiellen Bezeichnens Dynamiken der Vergegenwärtigung und der Überführung von Sprache in Aisthesis, der Vorbildnahme und Nachbildung anstößt (Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. 2. Aufl. mit einem Nachwort v. Kurt Flasch, Berlin/ New York 2001, S. 6). Im Folgekapitel wird auf diese Aspekte der Konkretheit des Zeichens und der absorbierenden »Versinnlichung der Schrift«, die ich unter den Schlagworten von Immersion und Figuration zu fassen versuche, genauer eingegangen (Niklaus Largier: Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Manuel Braun u. Christopher Young, Berlin 2007 [Trends in Medieval Philology 12], S. 43 - 60, hier S. 44). 169 Lutz 1984, S. 133. 170 »Es ist hierbei nicht zu übergehen, wie lange, wie gütig, wie barmherzig und wie lieblich er [d. i. Gott] die Sünder in so großem und so vielem Unheil unterstützt, was er insbesondere tut, um ihnen einen Ort und einen Zeitraum zur Buße zu geben«, Wilhelm von Auvergne: Rhetorica divina, S. 54. 66 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="67"?> vergebest. Erlúhte min verstentnússe mit dem liechte dins waren gelo ᵛ ben, enbrenne minen willen mit diner su ᵉ zen minne, erklere min húgnisse mit diner vro ᵉ lichen gegenwúrtikeit, und gib allen minen kreften tugent und volkomenheit. Bewar mich an minem to ᵛ de, daz ich dich offenbarlich werd niessende in ewiger selikeit. Amen. 171 Verschiedene Anliegen werden in dieser petitio vorgebracht, die sich allgemein als Bitte um verschiedene Formen göttlicher Präsenz charakterisieren lässt. Erkenntnis und Bestärkung im Glauben, Sündenvergebung, Unterstützung im Willen und Handeln, Tugendhaftigkeit und allem voraus die über die Kommunion vermittelte Nähe Gottes zählen zu den so erflehten Momenten der Heilsvermittlung. Anknüpfend an die Verweise auf die sich in der Eucharistiefeier manifestierende Gnade und Barmherzigkeit Gottes in der vorangegangenen narratio gipfelt der Text im Ausdruck des Wunsches nach einem göttlichen Eingriff in die Lebensrealität der Betenden. Aufs Neue entspannt sich dabei ein dichtes Netz von Sprachbildern und Schriftreferenzen. So verweist die Bezeichnung wolgesmackes himelbrot für Christus auf das Manna des Alten Testaments, das Gott den Israeliten auf dem Weg durch die Wüste als Nahrung sendet (vgl. Ex 16) und das die mittelalterlichen Bibelexegese zumeist eucharistisch deutet. In Seuses Kommuniongebet folgt diese Anrede des in der Eucharistie präsenten göttlichen Gegenübers als Himmelsbrot einerseits einem Programm der Veranschaulichung des prinzipiell Unvorstellbaren durch die biblisch informierte Dingmetapher. Andererseits aber bewegt sie sich in einer Logik des Typologischen, wird doch durch den Bezug des alttestamentlichen Manna auf den Kommunionempfang das »Sakrament der Eucharistie [ … ] durch Präfiguration bestätigt«. 172 Ähnliches ließe sich beispielsweise für die in den Weisheitsbüchern des Alten Testaments fundierende Bezeichnung Ewigú Wisheit für Christus ausführen oder auch für die Ballung von imperativisch verwendeten Verben aus dem Wortfeld von Feuer und Licht (erlúhte, enbrenne, erklere), die auf eine zeitgenössisch verbreitete, z. B. bei Bonaventura prominente Vorstellung von Christus als lumen gratiae abheben. 173 Im Kontext des Gebetstextes sind solche Formen des übertragenen Sprechens zunächst als theologisch voraussetzungsreiche, rhetorische Strategie zu verstehen, die Glaubenslehre vermittelt und sie durch Rückgriff auf die Schrift untermauert, das Gebet in Verbindung zu den biblisch bezeugten Heilsereignissen setzt, Affekte stimuliert und vor den inneren Augen der Betenden Bilder heraufbeschwört, die 171 »Ach du angenehmes, wohlschmeckendes Himmelsbrot, das allen lieblichen Geschmack in sich hat nach jedes Herzens Verlangen, laß heute den dürren Mund meiner Seele dich verkosten; speise, tränke, stärke, schmücke und vereinige dich liebevoll mit mir. Komm, ewige Weisheit, so kraftvoll in meine Seele, daß du all meine Feinde vertreibest, meine Fehler schmilzest, all meine Sünden vergibst. Erleuchte meinen Verstand mit dem Lichte des wahren Glaubens an dich, entzünde meinen Willen mit deiner gütigen Liebe, erhelle meine Gedanken durch deine frohe Gegenwart und schenke all meinen Kräften Tugend und Vollkommenheit. Bewahre mich in der Stunde meines Todes, damit ich dich von Angesicht zu Angesicht verkoste in Seligkeit. Amen« (Übersetzung Hofmann 1966, S. 306 f.); Seuse: Deutsche Schriften, S. 303,15 - 25. 172 Hennig Brinkmann: Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 430. Brinkmann bezieht sich hier auf die Sequenz Ave praeclara maris stella, in der dieses Motiv ebenfalls vorkommt. 173 So führt z. B. Werner Detloff aus: »Die Vorstellung von Christus als dem Licht schlechthin wird bei Bonaventura zur Grundlage für eine Gnadentheorie, in der die Gnade selbst als eine Lichtwirkung angesehen wird, die von Christus, dem Licht schlechthin, ausgeht« (Werner Detloff: Licht und Erleuchtung in der christlichen Theologie, besonders bei Bonaventura, in: Wissenschaft und Weisheit 49 [1986], S. 140 - 149, hier S. 147). 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 67 <?page no="68"?> gleichzeitig zeichenhaft auf das Heilige verweisen wie auch die Unmöglichkeit des adäquaten Zeichens illustrieren. Mit einer formelhaften und zeittypischen Bitte um Beistand in der Sterbestunde schlussendlich schließt die petitio des Kommuniongebets. In der Gebetsrhetorik des Mittelalters konnte »[s]chon das einfache Amen [ … ] als Bekräftigung und Zusammenfassung des vorangegangenen Gebets gelten«. 174 Das › Amen ‹ bildet so auch an dieser Stelle die conclusio. An diesem Textbeispiel verdeutlicht sich also, wie sehr sich Gliederung und Struktur mittelalterlicher Gebetstexte an den Vorgaben der klassischen Rhetorik orientieren, die im Mittelalter auch in Predigt, Epistolographie, Poetik und Kanzleiwesen ihren Niederschlag fanden. Gebetstexte dürfen folglich als rhetorisch durchgeformte Textgattung verstanden werden. Die Regeln des Redens vor einem weltlichen Publikum standen dabei Pate für die sprachliche Form des Redens mit Gott: Neben biblischen und liturgischen Modellen, vor allem den Psalmen, dürfte »die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Anwendungsgebiete der Rhetorik [ … ] die Ausbildung traditioneller Gebetsstrukturen entscheidend mitbestimmt haben«. 175 Dieser Befund gilt für das Gros der folgend in den Fokus rückenden Gebete und Gebetsübungen des Spätmittelalters, und auch im weiten Feld der Andachtstexte lassen sich entsprechende Einflüsse oft ausmachen. Dabei ist die rhetorische Gestalt der Texte durch vielfältige Techniken der Bildrede geprägt, die sich als Formen übertragenen Sprechens fassen lassen, die innerhalb des Feldes von Metapher, Allegorie, Metonymie, Symbol und Gleichnis weiter ausdifferenziert werden können. Wozu jedoch dienten die rhetorische Form spätmittelalterlicher Gebetstexte und die mit ihr verbundenen Strategien der bildgebenden Bezeichnung und Apostrophierung des Heiligen? Diese Frage weist in den Bereich der Rezeptionsästhetik im Sinne der Untersuchung von an ein zeitgenössisches Lesepublikum gerichteten Angeboten von Vermittlung und Gebrauch, die entsprechenden Texten eingeschrieben sind. In der Terminologie Wolfgang Isers hebt dies ab auf die › Funktionen ‹ der Rezeption, die Gebets- und Andachtstexte zu erfüllen suchen - und »eine Funktion repräsentiert keine Bedeutung, sondern bewirkt etwas.« 176 Gebetstexte wie das oben in den Blick genommene Beispiel, so könnte geantwortet werden, erlauben ihrem Publikum zunächst eine vertikale Hinwendung zum Heiligen. Hierbei ist von besonderer Bedeutung, dass ein von der Schrift angeleitetes Beten sich analog zum rhetorisch durchgeformten Gespräch zwischen menschlichen Kommunikationspartnern gestaltet. Dass dies allerdings eine unzulängliche Analogie darstellte, da Gott, anders als ein menschliches Redepublikum, nicht durch rhetorische Kniffe manipuliert, belehrt und überzeugt werden konnte oder musste, wurde, wie oben am Beispiel Hugos von St. Viktor ausgeführt, in der Gebetstheologie des Mittelalters meist nachdrücklich betont. 177 Die rhetorische Struktur des Gebets vermittelt den Gläubigen also eine kommunikative Nähebeziehung zum Heiligen, ist hierin jedoch primär darauf ausgelegt, nicht beim göttlichen Adressaten, sondern auf Seiten der Betenden spezifische Effekte zu 174 Lutz 1984, S. 136. 175 Ebd., S. 125. 176 Iser 1994, S. 32. 177 Vgl. dazu oben, Kap. I.2. 68 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="69"?> zeitigen. So stimuliert der Gebetstext gezielt Affekte und Emotionen, innere Haltungen und imaginierte Bilder, Sprechsituation, Eindrücke und Erfahrungen, die eine Ausrichtung des persönlichen Denkens und Fühlens auf Gott anregen und erleichtern. 178 Damit gliedert sich das Gebet als Text zumindest pragmatisch in eine religiöse Medienkultur ein, die der evangelische Theologe Berndt Hamm unter dem Stichwort einer › Medialität der nahen Gnade ‹ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zusammenfasst. 179 In einem dreigeteilten Typologisierungsvorschlag versteht Hamm erstens das »grundlegende Kommunikations- und Kontaktgeschehen zwischen Gott und der sündigen Menschheit«, das heißt maßgeblich die Inkarnation und Passion Christi aber auch die »gnadenreiche Mitwirkung Marias, der Heiligen und der Engel«, als »Basismedialität des Heils«. 180 Zweitens charakterisiert er Handlungen, Rituale und Gegenstände, die eine Teilhabe an dieser Heilsvermittlung erster Ordnung ermöglichen, als »Partizipationsmedien«. Dazu zählen »z. B. die Heilige Schrift, die Sakramente und Sakramentalien, die Predigt, Ablässe, Gnadenbilder und Reliquien«, aber auch die religiösen Praktiken der Meditation und insbesondere des Gebets. 181 Drittens jedoch gestaltete sich der Gebrauch vieler dieser Partizipationsmedien so voraussetzungsreich, dass sie »durchaus Aspekte eines schwierigen und sogar elitären Heilserwerbs enthalten« konnten. 182 Eine vertiefende und verstehende Bibellektüre beispielsweise setzte Lateinkenntnisse und Literarisierung voraus, Pilgerfahrten zu bestimmten Reliquien und Wallfahrtsstätten die Verfügbarkeit ausreichender finanzieller Mittel, und auch die innerliche Herstellung einer kommunikativen Gottesnähe im Rahmen des Gebets ist als religiöse Kulturpraxis vorzustellen, die geübt und gelernt werden musste. Denn wie Rachel Fulton-Brown ausführt, begriff das Spätmittelalter die innere Versenkung ins Gebet meist als »end product of the practice of a particular skill, a craft that one might learn and that was believed to require tools.« 183 Die Herstellung einer intensiven inneren Bezogenheit auf das Transzendente, die aktualisierende Vergegenwärtigung des vergangenen Heilsgeschehens und die Einnahme einer dem angemessenen Affekthaltung bilden eine mühsame Geistestätigkeit, die Übung, Zeit, Hilfsmittel und Instruktion erfordert. Um also die Partizipation am göttlichen Gnadenwirken und am vergangenen Heilsgeschehen zu erleichtern, verbreitete sich vor allem im Spätmittelalter ein »dritte[r] Medientyp der erleichternden und unterstützenden Medialität«. 184 Am Beispiel von Einblattdrucken und gemalten Miniaturen, die Anleitungen zur Meditation des Abgebildeten enthalten, illustriert Hamm die Rezeptionsangebote und -dynamiken solcher Hilfsmedien des Heils: 178 Durch ihre vorgegebene Gesprächsstruktur und zumeist unter Rückgriff auf biblisch fundierte Sprachbilder bieten Gebets- und Andachtstexte somit auch an, »Wahrnehmungsmomente, Erfahrungsmöglichkeiten und -intensitäten [ … ] im Rekurs auf die Verwendung der Schrift artifiziell herzustellen und als Möglichkeitsformen des Lebens der Seele und einer virtuellen Sinnlichkeit zu verstehen« (Largier 2007, S. 51). Derartige erfahrungshafte Effekte des Umgangs mit evokativer, auf die Transzendenz gerichteter Sprachlichkeit, die ich als horizontale Medialisierung zwischen Text und Leser begreife, werden in den beiden Folgekapiteln in den Vordergrund treten. 179 Hamm 2009, S. 21. 180 Ebd., S. 36. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 41. 183 Fulton 2006, S. 707. 184 Hamm 2009, S. 41. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 69 <?page no="70"?> Indem sie den Betrachterinnen und Betrachtern ein Bild des kindlichen und leidenden Erlösers, seines geöffneten Herzens, seiner Wunden, seines Bluts und seiner umarmenden Nähe vor Augen stellten und ihnen auf den Bildinschriften in deutscher Sprache eine einprägsam belehrende, appellierende und anleitende Botschaft nahebrachten, wollten sie die meditative Andacht des Herzens, sein erinnerndes, innerlich betrachtendes und liebendes Sich-Versenken in die Gnadenschätze Christi befördern und erleichtern. 185 Ähnlich sind auch die Vermittlungs- und Rezeptionsangebote volkssprachiger Texte wie Seuses Kommuniongebet zu verstehen. Dabei wird hier jedoch statt visueller Medien eine elaborierte, rhetorisch geformte und imaginative Bildlichkeit evozierende Sprache benutzt, um den andächtigen Lesenden eine Vergegenwärtigung des vergangenen Heilsgeschehens zu vereinfachen, zentrale Glaubenswahrheiten über imperfekte Zeichenverbünde zu vermitteln und im vom Text informierten Akt des Betens eine Dimension der über sich hinausgreifenden Hinwendung zu Gott zu entfalten. Der Gebet und Andacht definierende ascensus mentis in Deum oder, in der Übertragung Taulers, der ufgang dis gemu ᵉ tes in Got 186 wird, so könnte der Funktionsanspruch entsprechender Textmedien auf eine Formel gebracht werden, dadurch erleichtert, dass die Hinkehr zur Transzendenz in ihrer sinn- und erfahrungsvermittelnden Sprachgestalt vorgebildet ist und den Gläubigen so ein anleitendes Programm des Vollzugs an die Hand gibt. Auf diese Weise unterstützen und strukturieren die rhetorische Form des Gebets als Gespräch mit Gott ebenso wie evokative Verfahren des Redens in Bildern einen Prozess der Hinwendung zum Heiligen in der lesenden Verwirklichung des Textes. Im Hinblick auf Heinrich Seuses Kommuniongebet sind hier beispielsweise die oben skizzierte Bildfülle des Textes, seine wiederholten Apostrophen, die parataktisch aneinandergereihten Bittformeln und sein rhetorisch durchgeformter Aufbau zu nennen. In ihrer Wirkung bilden diese Textmerkmale Mittel, die es den Rezipienten ermöglichen, sich aus der richtigen inneren Haltung heraus und im - so menschenmöglichen - Verstehen der eucharistischen Gebetssituation in eine intensive Nähebeziehung zur Transzendenz zu setzen. In diesem Sinne stellen spätmittelalterliche Gebetstexte religiöse Hilfsmedien dar, die darauf ausgerichtet sind, die Herstellung und Aufrechterhaltung eines vertikalen Bezugs zum Überweltlichen zu erleichtern, der sich mit der Hoffnung auf Partizipation am göttlichen Gnaden- und Heilswirken verbindet. Ein eingehenderer Blick auf die Wirkungsästhetik von Gebets- und Andachtstexten, der ergänzend zu den vorangegangenen Überlegungen zu einer vertikalen Vermittlung zwischen immanentem Rezipienten und transzendentem Adressaten die vom Text gewissermaßen horizontal offerierten Modi religiösen Lesens sowie ihre Effekte fokussiert, verspricht eine Präzisierung dieser Überlegungen. Zunächst werde ich hierzu die immersiv-partizipativen Rollenangebote ins Zentrum stellen, die derartige Texte für ihre Rezipienten entwerfen. Ein erfahrungsstiftendes Eintauchen in eine sprachlich vorentworfene Welt der Bilder und Vorstellungen stellt, so versuche ich zu zeigen, geradezu den Kern eines im Spätmittelalter vornehmlich durch Gebet und Andacht realisierten Umgangs mit geistlicher Schriftlichkeit dar. Die im Rahmen einer solchen Lektüreimmersion präsentische Qualität erlangenden, vielfach durch Bildrede heraufbeschworenen Gegen- 185 Ebd. 186 Vgl. oben, S. 34. 70 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="71"?> stände, Ereignisse und Personen werden erstens für den Leser gegenwärtig und verlieren zweitens hierbei ihre semantische Qualität nicht, sondern intensivieren sie eher noch. Drittens schreiben sie sich in typologische Entsprechungslinien ein, die vom Alten Testament bis zum Gebetstext und seinem heilsvermittelnden Wirkanspruch reichen. Ein derartiges, sich in Logiken von Vor- und Nachbildung plausibilisierendes Aufbrechen der Unterscheidung zwischen dem im Text Dargestellten, seiner Zeichen- und Repräsentationsqualität sowie seiner Verwirklichung und Wirklichkeit im und durch den Leser kann, so schlage ich abschließend vor, als für Gebets- und Andachtstexte charakteristisches Verfahren der über den Text hinausweisenden Figuration gefasst werden. 3 Vertikale Hinkehr: Rhetorische Form, Bildrede und partizipative Medialität 71 <?page no="72"?> 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung Gebet und Andacht sind, zumindest primär, keine narrativen Textgattungen. Die verknüpfende Darlegung von Informationen über einen »zeitlich vorausliegenden Vorgang [ … ], der als › Geschehnis ‹ oder › Begebenheit ‹ bestimmt werden kann«, 187 steht nicht in ihrem Zentrum. Zwar beinhalten Gebetstexte meist, wie oben besprochen, mit der narratio einen erzählenden Abschnitt, stellen als Ganzes aber dennoch keine Erzählungen dar. Vielmehr sind erzählerische Passagen für gewöhnlich bloß als knappe Vorbereitung oder Plausibilisierung des vorgebrachten Anliegens angelegt. Auch umfangreichere geistliche Übungen, wie unten z. B. am Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen oder am Geistlichen Herzensempfang aus dem Dominikanerinnenkloster Unterlinden illustriert wird, realisieren narrative Elemente in der Regel versatzstückhaft zur Entfaltung oder Untermalung einzelner Meditationspunkte. 188 Wenn Narration also in Gebet und Andacht bloß eine sekundäre Rolle spielt, wie lassen sich die horizontalen, also zwischen Schrift und Leser ansetzenden Wirk- und Medialisierungsstrategien dieser Textgattungen jenseits des Erzählbegriffs analytisch fassen? Ein kurzer Blick auf zeitgenössische Theoriebildungen ist hier aufschlussreich. So dient, wie oben bereits erwähnt, für Hugo von St. Viktor der Gebetstext mit Ausnahme der gegen Ende vorgetragenen Bitte vornehmlich dazu, den Betenden selbst das eigene Anliegen sowie die Gnadenmächtigkeit Gottes vor Augen zu führen, um sie dadurch schließlich in eine Affekthaltung zu versetzen, die der Gebetsabsicht angemessen ist: Homo igitur, qui rogatur, per narrationem nostram edocetur, ut sciat quid velimus; per supplicationem nostram pulsatur, ut annuat quod petimus. Sed in illa, quae ad Deum fit, oratione narratio necessaria non est, nisi forte homo ad hoc narret, ut ipse suam petitionem melius intelligat, ut et per narrationem suam admonitus quid petat consideret, et per considerationem petitionis suæ excitatus devotius oret. Sane quantum ad Deum pertinet, sola supplicatio sufficit, quia, ut diximus, Deus non necesse habet doceri ut sciat, sed supplicandus est ut annuat. 189 187 Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 8 2009, S. 9. 188 Zudem sind, wenn beispielsweise Texte wie das oben behandelte Kommuniongebet Heinrich Seuses kurz auf heilsgeschichtliche Zusammenhänge referieren, narrative Elemente oft aufs Verweishafte verkürzt. Dabei wird in der Regel vorausgesetzt, dass ein frommes Lesepublikum mit den biblischen Geschichten, die hier den Referenzhorizont bilden, bereits so vertraut ist, dass entsprechende Anspielungen und Motivaufgriffe sinnvoll eingeordnet werden können. Ohne ein solches Vorwissen gestalten sich die reduziert-narrativen Bestandteile spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte zumeist unzugänglich. 189 »Es soll also der Mensch, der gebeten wird, durch unsere Erzählung belehrt werden, damit er wisse, was wir wollen, und durch unsere Bitte [supplicatio] wird er angeregt, so dass er erhöre, was wir bitten. Aber in jenem Gebet [oratio], das an Gott gerichtet ist, ist die Erzählung nicht nötig, wenn nicht gerade der Mensch zu dem Zweck erzähle, dass er selbst sein Anliegen [petitio] besser verstehe, und dazu, dass er durch seine Erzählung ermahnt das, was er erbitte, bedenke, und so durch das Bedenken seines Anliegens begeistert hingebungsvoller bete. Soweit es freilich Gott betrifft, genügt die Bitte, da, wie wir gesagt haben, Gott es nicht nötig hat, belehrt zu werden, damit er wisse, sondern anzuflehen [supplicandus] ist, damit er erhöre«, Hugo von St. Viktor: De modo orandi, Sp. 982. <?page no="73"?> Insbesondere die narrativen Elemente des vorgetragenen Gebets haben also für Hugo zum Zweck, auf den Betenden und nicht etwa auf Gott einzuwirken. Sie affizieren auf der einen Seite (wie im vorangegangenen Kapitel besprochen) die Betenden innerlich, um eine andächtige Hinkehr zum Heiligen zu intensivieren und begeistert (excitatus) zu gestalten. Auf der anderen Seite vermitteln sie aber auch ein besseres Verstehen (intellegere) der betend an Gott gerichteten Bitte und der dabei aufgerufenen Gegenstände. Dem Gebetstext kommt somit neben der Herstellung einer vertikalen Kommunikationsbeziehung zur Transzendenz auch das zu, was Kathrin Chlench-Priber als horizontale, »autokommunikative Qualität« benennt. 190 Wie nun freilich lässt sich das Modell von Lektüre verstehen, das Hugos Schilderung der Wirkung des Gebetstextes impliziert und voraussetzt? Ein grundsätzliches Charakteristikum von Gebeten besteht darin, dass ihre in der Regel in der ersten Person auftretende Sprecherinstanz weder als Erzähler noch als lyrisches Ich zu fassen ist, das sich an ein Lesepublikum richtete, sondern vielmehr eine Rolle darstellt, in die der betende Mensch hineinschlüpfen kann. Wird mit Wolfang Iser davon ausgegangen, dass jeder »Text ein bestimmtes Rollenangebot für seine möglichen Empfänger parat« hält, 191 so gestaltet sich diese Rolle des › impliziten Lesers ‹ im Falle von Gebetstexten als Aufforderung zum Eintauchen und Aneignen der vorgängigen Worte. Denn die Rezipierenden werden vom Gebetstext nicht angesprochen, sondern sind vielmehr aufgefordert, sich selbst jeweils als dessen Sprecher wahrzunehmen. Die Aussagen, Haltungen und Erzählungen des im Gebet zu Wort kommenden und literarisch vorentworfenen Ichs sind demgemäß darauf angelegt, als eigene Positionierungen angenommen zu werden. Entsprechend setzt das Gebet den extradiegetischen Leser und die intradiegetische Sprecherinstanz nicht, wie es narrative Textgattungen gemeinhin tun, in eine Kommunikationsbeziehung, sondern lässt sie sich identisch werden. 192 Andachtsübungen und -anweisungen dahingegen apostrophieren den Rezipienten zumeist in der zweiten Person. Sie kreieren auf diese Weise eine Du-Rolle, in die ein Lesepublikum ähnlich wie in die Ich- Rolle eines Gebetstextes hineinversetzt wird und die oftmals mit exakten Instruktionen verbunden ist, wie der vorgegebene Text in innere Wahrnehmung, Affekthaltung und Frömmigkeitshandeln umgesetzt werden soll. 193 Um dieses implizite Rollenangebot, das auf die Einfügung der Lesenden in eine sprachlich vorentworfene Position abhebt, 194 zu greifen, scheint mir das Modell einer 190 Chlench-Priber 2020, S. 132. Mit dieser Wendung reflektiert Chlench-Prieber, eine Formulierung Paul Ingwers aufgreifend, dass der Betende »häufig selbst der wichtigste Empfänger der [ … ] übermittelten Botschaft ist« (Paul Ingwer: Rituelle Kommunikation. Sprachliche Verfahren zur Konstitution ritueller Bedeutung und zur Organisation des Rituals. Tübingen 1990 [Kommunikation und Institution 18], S. 37). Die besprochenen Ausführungen Hugos zeigen, wie sich ein vergleichbares Gebetsverständnis bereits im Mittelalter entwickelte. 191 Iser 1994, S. 61. 192 Vorüberlegungen hierzu habe ich am Beispiel eines Passionsgebets aus dem Engelberger Gebetbuch veröffentlicht in Buschbeck 2019. 193 Siehe dazu z. B. die zahlreichen aufschlussreichen Beispiele bei Henrike Lähnemann: Also do du ok. Andachtsanweisungen in den Medinger Orationalien, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, hg. v. Elke Brüggen u. a., Berlin/ New York 2012, S. 437 - 452. 194 Bloß wenige andere Textgattungen, so z. B. Eidformeln oder politische Parolen, scheinen eine ähnliche Rezipientenhaltung zu fordern. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 73 <?page no="74"?> immersiven Medienrezeption vorsichtig auf die mittelalterliche Gebetbuchliteratur übertragbar zu sein. › Immersion ‹ wird als Analyseterminus gegenwärtig vor allem in den Medienwissenschaften benutzt (und gelegentlich auch übernutzt), um die Effekte visueller Medien vom Panoramabild bis hin zu Videospielen zu beschreiben. 195 Der Begriff bezeichnet dabei grundsätzlich die Wirkung verschiedener Medien, ihrem Publikum den Eindruck zu vermitteln, bei Benutzung des Mediums in eine von diesem entworfene Umgebung überzuwechseln. Diese Umgebung kann als › virtuelle Realität ‹ begriffen werden, das heißt als wahrgenommene »Objektwelt, die Wirklichkeit zu sein verspricht, ohne sie sein zu müssen«. 196 Den Betrachtenden präsentiert sich diese Welt somit nicht als Repräsentation eines Zusammenspiels von Raum, Zeit, Personen, Dingen, Stimmen und Ereignissen, sondern kann (zumindest für den Moment) als eben dieses Repräsentierte selbst erfahren werden. Wenn auf diese Weise unter den Bedingungen von Virtualität › Wirklichkeit ‹ konstruiert wird, dann ist dieser schillernde Begriff zweifach zu verstehen. Erstens referiert er auf den durch Verfahren z. B. von Simulation oder Mimesis erzeugten Eindruck einer tatsächlichen Gegenwart des Dargestellten. 197 Zweitens meint er zudem die Tatsächlichkeit der ästhetischen Erfahrung von Rezipierenden, denen, eingetaucht in virtuelle Welten, diese ungeachtet ihres Faktizitätsgehalts als evident entgegentreten. 198 195 Mit der Geschichte immersiver Bildlichkeit beschäftigt sich aus kunsthistorischer Perspektive Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2001. Vgl. auch die ergänzte und übersetzte Version dieser Monographie Ders.: Virtual Art: From Illusion to Immersion, übers. v. Gloria Custance, Cambridge, MA 2003; sowie Ders.: Immersion and Interaction: From Circular Frescoes to Interactive Image Spaces, in: Medien Kunst Netz 1. Medienkunst im Überblick, hg. v. Rudolf Frieling u. Dieter Daniels, Wien 2004, S. 292 - 313. Einen guten Überblick über die Geschichte des Immersionsbegriffs bei der Betrachtung von Videospielen bietet Anja Kühn: Computerspiel und Immersion. Eckpunkte eines Verständnisrahmens, in: Jahrbuch immersiver Medien 2011, S. 50 - 62; siehe zudem Laura Ermi u. Frans Mäyrä: Fundamental Components of the Gameplay Experience: Analyzing Immersion, in: Worlds in Play: International Perspectives on Digital Games Research, hg. v. Suzanne de Castell u. Jennifer Jenson, New York 2007 (New Literacies and Digital Epistemologies 21), S. 37 - 54. 196 Dirk Vaihinger: Virtualität und Realität. Die Fiktionalisierung der Wirklichkeit und die unendliche Information, in: Künstliche Paradiese, virtuelle Realitäten. Künstliche Räume in Literatur-, Sozial-, und Naturwissenschaften, hg. v. Holger Krapp u. Thomas Wägenbauer, München 1997, S. 19 - 43, hier S. 21. 197 Auf der Seite der Produktion eines solchen Eindrucks lässt sich dies verstehen als besonders durchschlagende und medial voraussetzungsvolle Form der »Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung oder › Nachahmung ‹ «, die Erich Auerbach unter dem Schlagwort › Mimesis ‹ fasst (Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, S. 515). Auf der Seite der Rezeption hingegen ereignet sich hierbei jene › willing suspension of disbelief ‹ , mit der Samuel Taylor Coleridge den Effekt bestimmter Texte benennt, ihrem Publikum für den Moment der Rezeption zu ermöglichen, das von ihnen Dargestellte als tatsächliche Gegebenheit zu betrachten. Am Beispiel der romantischen Ballade führt Coleridge aus, wie solche Texte es anbieten »to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith« (Samuel Taylor Coleridge: The Collected Works, Bd. 7: Biographia Literaria, or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions II, hg. v. James Engell u. W. Jackson Bate, New York 1983 [Bollingen Series 75], S. 6). 198 In diesem Sinne betreiben virtuelle Welten, mit Hans Ulrich Gumbrecht gesprochen, eine besonders intensive Form der »Produktion von Präsenz« (Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2004 [edition suhrkamp 2364], S. 33). 74 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="75"?> Auf beiden Ebenen verweist › wirklich ‹ dabei »auf das Moment des Wirkens (lat. actus)«, 199 meint also ein weitreichend effekthaltiges Phänomen, für das nicht ausschlaggebend ist, ob es sich auf dem Wege der (ebenfalls nicht unvermittelten) Empirie als Erfahrung einer faktisch gegebenen Sache oder als Produkt geschickter medialer Evokationsverfahren ergibt. 200 Immersion ist in diesem Kontext als spezifische Form des Zugangs zu auf letztere Weise erzeugten Wirklichkeitsphänomenen zu verstehen. Abgeleitet vom lateinischen Verb immergere ( › in etwas eintauchen, untertauchen, versenken ‹ ) 201 bildet dabei die Metapher des Untertauchens unter eine Wasseroberfläche, die bereits im religiösen Kontext des Mitelalters begegnet und auch dort auf absorptive Formen von religiöser Erfahrung, Frömmigkeitspraxis oder geistlichem Lesen referiert, 202 199 Gottfried Gabriel: Die Wirklichkeitserkenntnis der Literatur. Überlegungen im Ausgang von Erich Auerbachs Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, in: Scientia Poetica 19 (2015), S. 172 - 180, hier S. 173. Wie Hasebrink 2009, S. 209 herausstellt, konvergiert dieser Begriff von Wirklichkeit mit der mittelalterlichen Bedeutung des Wortes, das sich vom lateinischen actualitas ableitet. Siehe dazu auch die Diskussion des Wirklichkeitsbegriffs oben, S. 24 f. 200 Dabei ist begrifflich zu trennen zwischen › Wirklichkeit ‹ in diesem Sinne und (nicht bloß virtueller) › Realität ‹ . Denn im Gegensatz zu einem auf Wirken und Wirksamkeit von Phänomenen abzielenden Wirklichkeitsbegriff verweist der von lateinisch res abgeleitete Ausdruck › Realität ‹ »auf eine Sache und meint daher › Sachhaltigkeit ‹ « (Gabriel 2015, S. 173). Auch empirische Zugänge zu dieser Realität der faktischen Sachen, deren Bestehen jenseits von Betrachter und Vermittlung anzunehmen ist, verlassen sich jedoch auf Formen medialer Vermittlung (z. B. durch den menschlichen Sinnesapparat, technische Verfahren der Bildgebung oder Aufzeichnung usw.). Insofern ist das Mediale grundsätzlich »als ein formales › Dazwischen ‹ aufzufassen, das nicht das Reale verbirgt oder verstellt, sondern Bedingung der Möglichkeit von dessen Erscheinen ist - insofern mit diesem untrennbar verknüpft und doch nicht identisch« (Kiening 2007, S. 22). 201 vgl. Georges 1998, Bd. 2, Sp. 69 f. 202 Beispielsweise spricht der der um 1475 entstandene Bibliothekskatalog der Kartause Erfurt in der Zusammenfassung einer volkssprachigen Taulerpredigt davon, dieser Text spreche de resignatione sui et immersione proprii spiritus in Deum per unionem (»von der Aufgabe seiner selbst und dem Eintauchen des eigenen Geistes in Gott durch die Einheit«, zitiert nach: Marieke Abram, Susanne Bernhardt u. Gilbert Fournier (Hgg.): Mystische Bücher in der Bibliothek der Kartause Erfurt. Digitale Edition, Freiburg: Universitätsbibliothek, Version 1.0 [https: / / making-mysticism.org/ edition/ 1.0/ html/ codex.html, abgerufen am 10.03.2023]). Der Katalog benutzt immersio hier als Begriff für das am Fluchtpunkt eines geistlichen Lebens stehende Eingehen in die mystische unio. Verwiesen wird dabei konkret auf die Signatur D 3 primo (heute Berlin, SBB-PKB, mgf 1257); zusammengefasst wird an der zitierten Stelle die Predigt 21 der Edition Vetter 1910. Für den Hinweis auf diesen Beleg danke ich sehr herzlich Burkhard Hasebrink. In den auch frömmigkeitsdidaktischen Vierzig Myrrhenbüscheln vom Leiden Christi dagegen wird versencken geradezu zum Schlüsselbegriff eines meditativen Umgangs mit den Passionsereignissen. Nicht nur charakterisiert sich der Text mehrfach selbst als ler und ermanung an die als Identifikationsfiguren für das Lesepublikum gezeichneten geistlichen Kinder, wie sy sich andechtiklich söltend in das bitter liden Cristi versencken (»Lehre und Erinnerung«, »wie sie sich andachtsvoll in das bittere Leiden Christi versenken sollten«, Fasching 2020, S. 427 [Prolog II, 2 f.]). Auf ihrem Weg hin zur gelingenden Passionsbetrachtung beklagen diese geistlichen Kinder auch all jene, die sich gaistlich tragent, aber von innan die edlen tugent Cristi nit erlebent und sich in sin edels liden nit recht und enpfintlich senckent (»die sich geistlich geben, die edlen Tugenden Cristi jedoch nicht innerlich erleben und nicht richtig und empfindend in sein edles Leiden eintauchen«, Fasching 2020, S. 546 [39. Büschel, 50 - 52]). Zwar wird versencken, das hier die intentionale und intensive innere Zuwendung des Menschen zur Passion Christi meint, auch in diesen Beispielen nicht völlig deckungsgleich mit einem Begriff von Immersion als absorbierender Wirkung medialer Darstellungen verwendet. Dennoch aber zeigen diese Belegstellen schon für das Spätmittelalter eine Produktivität der zugrundeliegenden Metapher bei der Beschreibung eines frömmigkeitspraktischen Umgangs mit entsprechenden Texten und ihren Gegenständen. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 75 <?page no="76"?> die Grundlage des Begriffs › Immersion ‹ . Die Medienwissenschaftlerin Janet H. Murray beschreibt das Verhältnis zwischen der Erfahrung einer virtuellen Umgebung und einem Tauchgang wie folgt: Immersion is a metaphorical term derived from the physical experience of being submerged in water. We seek the same feeling from a psychologically immersive experience that we do from a plunge in the ocean or swimming pool: the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water is from air, that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus. 203 Entscheidend ist hieran zunächst der von Murray betonte und durch die Metapher unterstrichene Totalitätscharakter von Immersionserfahrungen. Im Rahmen dieses Modus der Rezeption fordert ein Medium, gleich ob es sich dabei z. B. um ein Bild, einen Film, einen Text oder ein Computerprogramm handelt, »die völlige Hingabe der Geistes- und Sinneskräfte [ … ], die in einer Konzentration mündet, die das [ … ] Ich neu zu konstituieren vermag«. 204 Leser, Betrachter und Nutzer werden auf diese Weise zum Bestandteil und oft auch zu Akteuren innerhalb einer vom immersiven Medium entworfenen Welt, deren Bestandteile zugleich bedeutsam wie auch ästhetisch präsent erscheinen. 205 Dabei beruht das Bild des Eintauchens stets auf der Vorstellung des Überschreitens einer Grenze: Immersion impliziert stets einen Übertritt von einer faktisch realen in eine virtuelle, von den sich darin Bewegenden jedoch als im oben ausgeführten Sinn › wirklich ‹ erlebte Umgebung. In der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung wurde mehrfach versucht, die von bestimmten Texten und Texttypen erzeugten immersiven Effekte zu theoretisieren. So charakterisiert Marie-Laure Ryan aus narratologischer Perspektive ein immersives Leseerlebnis betont katechrestisch als Betreten einer › Textwelt ‹ : »For immersion to take place, the text must offer an expanse to be immersed within, and this expanse, in a blatantly mixed metaphor, is not an ocean but a textual world«. 206 Die Funktion von Sprache bei dieser Erschaffung einer virtuellen Umgebung bestehe, so Ryan, darin, 203 Janet H. Murray: Hamlet on a Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace, New York, NY 1997, S. 98 f. Zur Begriffsentstehung führt Robin Curtis aus: »Die Bezeichnung immersive für die Erfahrung einer gefühlten Präsenz in künstlichen oder digital erzeugten Räumen hat sich in der englischen Sprache erst zögerlich ab den 1960er Jahren eingebürgert« (Robin Curtis: Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 17.2 [2008], S. 89 - 107, hier S. 89 f). 204 Martin Baisch: Immersion und Faszination im höfischen Roman, in: Immersion im Mittelalter, unter Mitarbeit v. Susanne Kaplan hg. v. Hartmut Bleumer, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167), S. 63 - 81, hier S. 65. 205 Zu Interaktivität als häufigem Merkmal immersiver Medien vgl. ausführlich Florian Nieser: Immersion, Virtualität und Affizierung in mittelalterlicher Literatur und digitalem Spiel, in: PAIDIA - Zeitschrift für Computerspielforschung (2021) (https: / / paidia.de/ immersion-virtualitaet-und-affizierung-in-mittelalterlicher-literatur-und-digitalem-spiel/ , abgerufen am 18.05.2023). 206 Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore, MD/ London 2001 (Parallax: Re-Visions of Culture and Society), S. 90. Siehe zu dem von Ryan angesetzten, sehr breiten Erzählbegriff auch die Beiträge in Dies. (Hg.): Narratives across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln/ London 2004 (Frontiers of Narrative). Zwar ist das Gros der von Ryan betrachteten immersiven Texte modernen Datums, jedoch betont sie dabei, Immersionsstrategien seien bereits z. B. in den Exerzitien des Ignatius ausgeprägt zu beobachten (vgl. Ryan 2001, S. 115 - 119). Die Brücke zu geistlichen Übungen der Vormoderne wird von ihr also angeboten, wenn auch oft unter einem auf diese Texte nicht recht passenden Paradigma des Erzählens. 76 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="77"?> Gegenstände, Personen und Situationen imaginativ präsent werden zu lassen 207 Mit der Imagination spricht sie dabei jene »cognitive faculty« an, der im Verständnis des Mittelalters die Rolle zukommt, eine innere Gegenwart nicht-anwesender Gegenstände zu erzeugen. 208 Der immersive Text wird somit als eine Art Anleitung zur Konstruktion eines inneren Erfahrungsraums verstanden: »texts invite the reader to imagine a world, and to imagine it as a physical, autonomous reality furnished with palpable objects and populated by flesh and blood individuals«. 209 Dieser Gedanke besitzt in der Narratologie eine gewisse Tradition. Werner Wolf beispielsweise benennt das »Prinzip anschaulicher Welthaftigkeit«, das heißt die »Simulierung einer konkreten Außenwelt«, als zentrales Charakteristikum narrativen Illusionsaufbaus im Allgemeinen. 210 Überlegungen und Debatten zur Anwendbarkeit des Immersionsbegriffs bei der Analyse mittelalterlicher Texte wurden in der jüngeren Forschung in erster Linie durch eine von Hartmut Bleumer herausgegebene Sammlung von Beiträgen angeregt, die versuchen, Konzepte des Immersiven für die Untersuchung verschiedener Werke und Literaturgattungen vom höfischen Roman bis zum geistlichen Spiel fruchtbar zu machen. 211 Immersion, so Bleumer in der Einleitung dieses Bandes, müsse hierbei verstanden werden als »Metapher einer spezifischen Möglichkeit ästhetischer Erfahrung [ … ], die eine intensive Verbindung von Konstituierung, Semantisierung und Wahrnehmung erzählter oder dargestellter Räume ermöglicht«. 212 Dabei handele es sich um einen Begriff, den »nicht etwa die aktuelle technische Medienentwicklung [ … ] hervorgerufen hat«, sondern vielmehr um eine Form ästhetischen Erfahrens, die in der Gegenwart lediglich vorrangig bei der Rezeption neuer Medien zutage trete und somit auch anhand dieser verhandelt werde. 213 Prägnant weist Bleumer auf die Potentiale einer Untersuchung immersiver Rezeptionseffekte hin, ein Schlaglicht auf jene »Amalgamierung von historischer Semantik und Ästhetik« zu fassen, 214 die in der mediävistischen Forschung, angestoßen durch die Thesen Hans Ulrich Gumbrechts, vor allem entlang der Modellkategorien von › Präsenz- ‹ und › Sinnkultur ‹ diskutiert wurden. 215 Denn im Rahmen einer eintauchenden Lektüre wird in 207 »The function of language in this activity is to pick objects in the textual world, to link them with properties, to animate characters and setting - in short, to conjure their presence to the imagination«, ebd., S. 91. 208 Michelle Karnes: Imagination, Meditation, and Cognition in the Middle Ages, Chicago, IL 2011, S. 10. Ausgehend vor allem von Bonaventuras Meditationes vitae Christi arbeitet Karnes detailliert ein dergestaltes Verständnis von der Rolle der Imagination im Zusammenspiel mit dem Verstand, dem Erinnerungsvermögen und der Sinnlichkeit des Menschen hervor. 209 Ryan 2001, S. 92. 210 Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörendem Erzählen, Tübingen 1993, S. 134. Auch Erich Auerbachs Ausführungen zu literarischer Mimesis (vgl. Auerbach 1946) wären hier noch einmal prominent zu nennen. 211 Hartmut Bleumer (Hg.): Immersion im Mittelalter, unter Mitarbeit v. Susanne Kaplan, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167). 212 Hartmut Bleumer: Immersion im Mittelalter: Zur Einführung, in: Immersion im Mittelalter, unter Mitarbeit v. Susanne Kaplan hg. v. Hartmut Bleumer, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167), S. 5 - 15, hier S. 12. 213 Ebd., S. 5. 214 Ebd., S. 9. 215 Angestoßen unter anderem durch den provokanten Vorschlag Gumbrechts, das Mittelalter als eine › Präsenzkultur ‹ zu begreifen in welcher »der Leib Christi und sein Blut in den › Formen ‹ von Brot und 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 77 <?page no="78"?> der Regel ein hermeneutisch perspektivierbarer Text in ästhetische Erfahrung überführt, ohne dabei jedoch seinen Sinn- und Zeichencharakter zu verlieren. Somit bietet der Immersionsbegriff die Möglichkeit, Eindrücklichkeit und Bedeutung des Texts (zumindest auf der Rezeptionsebene) als Einheit sich gegenseitig amplifizierender Facetten zu begreifen: »Das Eintauchen in den Raum der Bilder während der Immersion wäre dann das intensive Aufgehen in Bedeutung«. 216 Für geistliche Texte und die mit ihnen verbundenen Lektüremodelle, die auf die Vermittlung und Vergegenwärtigung von Heil zielen, eröffnen, wie Balázs J. Nemes aufzeigt, solche Möglichkeiten, »die Textwelt als eine Evidenz zu erfahren«, in der Sinn und Präsenz deckungsgleich werden, tragschwere Spielräume. 217 Gebete und Andachten können dabei als Textgattungen gelten, für deren Wirkungsästhetik immersive Lektüreangebote eine besondere Schlüsselrolle spielen. So beruht z. B. die von Hugo von St. Viktor in der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Stelle vorgebrachte Auffassung, die sprachliche Gestalt des Gebets diene vornehmlich dazu, dass der betende Mensch per considerationem petitionis suæ excitatus devotius oret, grundsätzlich auf der Annahme, das Publikum eines Gebetstexts identifiziere sich mit dem dort zur Sprache kommenden Ich und fasse dessen Anliegen, Affekthaltungen und Wortäußerungen als seine eigenen auf. Dazu ist es, so Kathrin Chlench-Priber, »entscheidend, dass der Betende nicht nur in die Rolle der [ … ] Textinstanz des betenden Ich schlüpft, sondern mit dieser identisch wird, so dass idealerweise keinerlei Differenz zwischen beiden bleibt«. 218 Andachtsübungen hingegen adressieren zumeist instruierend ein Du, ebenfalls auf eine Annahme durch eine fromme Leserschaft anbietet. Das Eintauchen in eine vorentworfene Rolle, die innnerhalb einer sprachlich entworfenen Wirklichkeit verortet ist, kann folglich als rezeptionsästhetische Grunddynamik beider Textsorten aufgefasst werden. Wein substantiell greifbar wurden« (Gumbrecht 2004, S. 46), entspannte sich eine lebhafte mediävistische Kontroverse über die Präsenzeffekte mittelalterlicher Literatur, Kunst und materieller Kultur sowie deren zeitgenössische philosophische und theologische Reflexionen. Siehe dazu z. B. Burkhard Hasebrink: Diesseits? Eucharistie bei Meister Eckhart im Kontext der Debatte um › Präsenzkultur ‹ , in: Mediale Gegenwärtigkeit, hg. v. Christian Kiening, Zürich 2007 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 1), S. 193 - 206; Kiening 2007; sowie Thali 2012, insb. S. 266 f. Besonders kritisch gegenüber einer Anwendbarkeit von Gumbrechts Trennung zwischen Präsenz- und Sinnkultur auf die mittelalterliche Frömmigkeitskultur ist Chlench-Priber 2020, S. 253. 216 Bleumer 2012, S. 9. 217 Balázs J. Nemes: Der involvierte Leser. Immersive Lektürepraktiken in der spätmittelalterlichen Mystikrezeption, in: Immersion im Mittelalter, unter Mitarb. v Susanne Kaplan hg. v. Hartmut Bleumer, Stuttgart/ Weimar 2012 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, Heft 167), S. 38 - 62, hier S. 41. Am Beispiel der Rezeption des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg zeigt Nemes auf, wie auch Offenbarungsschriften eine implizite Leserrolle des Eintauchens und der Partizipation entwerfen, die er als »Typus des involvierten Adressaten bzw. Lesers« bezeichnet (ebd.). Die Überführung des geschriebenen Wortes in lesergebundene Wahrnehmung gestalte sich dabei, so lässt sich Nemes ’ Argument zusammenfassen, als Eingebundenheit des Lesers in das sprachliche Dargestellte, das in der engführenden Vermittlung sowohl von Präsenz als auch von Bedeutung seine eigene Vermitteltheit punktuell zu überspielen vermag. Dem immergierten Leser erscheine der Text auf diese Weise zumindest für den Moment nicht mehr als Medium, sondern als erlebte Unmittelbarkeit. Verwandte Überlegungen zur Herstellung präsentischer Rezeptionseffekte in der weltlichen Literatur des Mittelalters, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, finden sich bei Christina Lechtermann: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005. 218 Chlench-Priber 2020, S. 134. 78 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="79"?> Kraft dessen bewirken schriftliche Gebete und Andachten »Präsenzeffekte«, deren »Reiz [ … ] in ihrer Intensität [besteht], die allerdings nicht einfach die eines äußerlichen Erscheinens ist, sondern die eines innerlichen Vollzugs«. 219 Hierbei fazilitieren sie auf der Ebene der Frömmigkeitspraxis wie oben ausgeführt eine vertikale Kommunikation mit der Transzendenz, die auf Hinkehr und Heilsmedialisierung zielt. Auf der Ebene der Lektürewirkung hingegen entfalten sie eine horizontale Medialisierungsdynamik zwischen dem Text und seinen Lesern, die auf immersive Weise »eine Realisierung, eine Vergegenwärtigung des Geschriebenen« auf Seiten der Rezipienten erleichtert, wie Mireille Schnyder sie als Grundmerkmal religiöser Lesekonzepte ausmacht. 220 Um entsprechende Effekte zu zeitigen, bedienen sich Gebets- und Andachtstexte einer Vielzahl sprachlich-rhetorischer Mittel. 221 Dazu gehören die oben angesprochenen Verfahren des rhetorischen Textaufbaus und der Apostrophierung eines transzendenten Gegenübers ebenso wie gattungsspezifische Angebote einer Ich- oder Du-Rolle und die Evokation von Bildern sowie Sinneseindrücken. Solche charakteristischen Sprachstrategien, die eine immersive Lektüre begünstigen, fasst Johanna Thali zusammen: In Gebetstexten lassen sich eine Reihe von Strategien beobachten, welche die Kommunikation mit dem absenten Göttlichen ermöglichen und die Heilsvermittlung gewährleisten sollen. Dazu gehören sprachliche und rhetorische Mittel wie Apostrophen, Anaphern und andere Wiederholungen zur Steigerung der Eindringlichkeit, die formelhafte Nennung heilswirksamer Tatsachen wie des Leibes und Blutes Christi, seiner Wunden oder der Leidenswerkzeuge. Zu nennen sind auch die Häufung von räumlichen und zeitlichen Deiktika sowie Tempuswechsel zum Ineinanderblenden von vergangener Heilszeit und Jetztzeit des Betens. 222 Zum Ziel haben diese Mittel neben der Instruktion einer, wie Almut Suerbaum formuliert, »Kunst des gefügten Sprechens« mit dem Heiligen, 223 für das Gebets- und Andachtstexte ein Skript bieten, vor allem die Herstellung einer beim Beten bereits in der Immanenz erfahrbar werdenden Gegenwärtigkeit des Transzendenten. Dabei verfolgen sie, was Niklaus Largier unter Rekurs auf das wesentlich auf Origenes zurückgehende Modell einer analog zur äußeren gedachten inneren Sinnlichkeit als »Animation der Sinne durch künstliche Mittel« oder als rhetorisch stimulierte Produktion von »spheres and events of experience in an application of the senses« umschreibt. 224 Im Prozess der Immersion nämlich erlangen sprachlich vermittelte Inhalte audiovisuelle, taktile oder sogar gusta- 219 Kiening 2007, S. 35. 220 Mireille Schnyder: Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lektürekonzepten, in: Literarische und religiöse Kommunikation im Mittelalter. DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009, S. 427 - 452, hier S. 432. 221 In der gegenwärtigen Medienwissenschaft werden zumeist »apparative Aspekte der Immersionserfahrung« (Curtis 2008, S. 90) in den Fokus gerückt, das heißt technologische Voraussetzung von Immersionsangeboten. Diese erfüllen, so meine ich, eine ähnliche Funktion wie die hier benannten sprachlichen Strategien in Gebets- und Andachtstexten. 222 Thali 2009; hier S. 248 - 250. 223 Almut Suerbaum: Schreiben, lehren, beten. Zu einer Poetik geistlicher Sammelhandschriften am Beispiel von Yale, Beinecke Library, MS. 968, in: Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters, hg. v. Franz-Josef Holznagel u. a., Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24), S. 283 - 298, hier S. 298. 224 Niklaus Largier: Präsenzeffekte. Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung, in: Poetica 37.3/ 4 (2005), S. 393 - 412, hier S. 395; Largier 2014, S. 66. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 79 <?page no="80"?> torische Qualitäten. Der innere Mensch erscheint damit, so Thomas Lentes in Bezug auf durch Gebet und Andacht evozierte Eindrücke, »geradezu als Projektionsfläche von Bildern«, 225 die in einem sprachlich angeleiteten Prozess der Imagination mit den inneren Augen geschaut werden. Wie Mark McInroy in Anknüpfung an Karl Rahner zusammenfasst, ist die von Origenes etablierte und für das Verständnis innerer Wahrnehmung im Mittelalter ausschlaggebende Lehre der geistlichen Sinne charakterisiert durch »(1) a non-metaphorical use of sensory language in which (2) all five senses are used in the spiritual perception of immaterial realities«. 226 Dem, was der gläubige Mensch innerlich sieht, hört, riecht, schmeckt oder ertastet, kommt demnach also nicht bloß der Charakter einer Simulation zu. Vielmehr erschließt sich so eine phänomenale Wirklichkeit des erkennenden ebenso wie affektiv berührenden Erlebens, die den äußeren Sinnen verschlossen bleibt. Gebets- und Andachtstexte des Spätmittelalters zielen dementsprechend, so Largier, ebenso wie die mit ihnen verknüpften Praktiken des Frömmigkeit »nicht auf eine Realpräsenz oder einen metaphysischen Begriff unmittelbarer Gegenwart [ … ], sondern auf die absorbierende Kraft eines technischen Umgangs mit der Sinnlichkeit«. 227 › Absorption ‹ in diesem Sinne darf als vom Medium ausgehende ästhetische Wirkung verstanden werden, die auf Seiten der Rezipierenden einen Immersionseffekt anregt. 228 Dieser Effekt nun erzeugt innere Sinneseindrücke, die Perzeption und Affekt gleichermaßen berühren. Kennzeichnend für eine solche »Produktion absorbierender Gegenwart« 229 ist, dass sie zumeist auch extratextuelle Realitäten und hierauf fußende Erwartungshorizonte eines immergierten Lesepublikums einbezieht, die vorgängig und unabhängig von den medial erzeugten Wirklichkeitseindrücken der Immersionserfahrung bestehen. So regen gattungstypische Textelemente wie z. B. der Ausdruck von Reue angesichts der eigenen Sünden, die Bitte um Besserung oder Fürbitten für Eltern und Wohltäter dazu an, Erinnerungen an die eigenen Verfehlungen, Familienmitglieder oder sonstige je persönliche Wirklichkeitserfahrungen in den vorgegebenen Rahmen des Textes hineinzuprojizieren. In der Terminologie Wolfgang Isers integrieren Gebete und Andachten hier gezielt »Leerstellen«, die für die »Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellungsakte des Lesers frei« gehalten werden. 230 Derartige Leerstellen erlauben einerseits gerade 225 Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner in Zusammenarbeit mit Marc Müntz, München 2002, S. 179 - 220, hier S. 185. 226 Mark J. McInroy: Origen of Alexandria, in: The Spiritual Senses. Perceiving God in Western Christianity, hg. v. Paul L. Gavrilyuk u. Sarah Coakley, Cambridge 2011, S. 20 - 35, hier S. 22. Siehe dazu ausführlich Karl Rahner: Die › geistlichen Sinne ‹ nach Origenes, in: Ders.: Schriften zur Theologie, Bd. 12, Zürich 1975, S. 111 - 136, auf den McIroy sich hier bezieht. 227 Largier 2005, S. 409. 228 Ich danke Niklaus Largier für ein aufschlussreiches Kolloquiumsgespräch zum Thema › Absorption ‹ , das diesen Überlegungen seinen Stempel aufprägte. 229 Largier 2005, S. 393. 230 Iser 1994, S. 284. Isers Diskussion fokussiert auf Leerstellen in narrativen Texten, an denen der Leser einen Teil der Handlung imaginativ ergänzen muss. Im Falle von Gebets- und Andachtstexten dahingegen müssen derartige Positionen viel eher durch eigenbiographische Projektionen gefüllt werden - hier wäre Isers Konzept entsprechend zu differenzieren. Zur Funktion derartiger Leerstellen im Kontext geistlicher Übungen siehe auch Buschbeck 2019, S. 400, sowie Buschbeck 2021, S. 44 f. 80 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="81"?> eine immersive Lektüre, indem sie einen intradiegetischen Rahmen für extradiegetische Einfügungen schaffen. Andererseits stellen sie auch einen Rückbezug der immersiven Texterfahrung auf die Lebensrealität der Gläubigen her, der handlungsleitenden oder geschehensmächtigen Anspruch trägt. Während die Stimulation der inneren Sinne durch geistliche Übungen einerseits also Wirkungen auf ihr immanentes Publikum anzielt, richtet sich diese »mit Affekten und Sinnlichkeit Hand in Hand gehende kritische Neuformung der Wahrnehmung« jedoch zugleich auf ein Transzendentes, das sich den Sinnen ebenso wie dem menschlichen Verstehen verschließt. 231 In letzter Instanz ist eine horizontal zwischen Text und Lesenden vermittelte, sprachlich erzeugte Immersionserfahrung damit wiederum Mittel zur vertikalen Ausrichtung dieser Lesenden auf das, was Sprache nicht fassen kann. 232 Somit bieten Gebets- und Andachtstexte einen Prozess der lesenden Immersion an, der den Betenden intensive Momente innerer Sinneswahrnehmung vermittelt - einer Wahrnehumg freilich, die ihr Ziel nicht in sich selbst erfüllt, sondern vielmehr auf ein Übersinnliches hinorientiert ist, das jenseits des Wahrnehmens liegt. Ein Textbeispiel mag dies illustrieren. In dem von Ruth Wiederkehr edierten Hermetschwiler Gebetbuch, das im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts wohl »zwischen Basel und St. Gallen im alemannischen Raum« niedergeschrieben wurde und aus der Bibliothek des Benediktinerinnenklosters Hermetschwil im Schweizer Kanton Aargau stammt, 233 findet sich ein fünfteiliges Gebet, das sich an den gekreuzigten Christus richtet und hierbei gleichzeitig einzelne Szenen der Passion, die im späteren Mittealter vielfach zum unterschiedlich perspektivierten Gegenstand von »systematically constructed prayer cycles and meditations« wurde, 234 vergegenwärtigt als auch das betende Ich darum bitten lässt, an der Erlösungswirkung des Ostergeschehens teilzuhaben. 235 Parallel überliefert ist dieser Text auch in einer etwas älteren, um 1380 datierenden Abschrift im Engelberger Gebetbuch, 236 das zum Handschriftenbestand des benediktinischen Doppelklosters St. Andreas 231 Largier 2018, S. 34. 232 Niklaus Largier betont insbesondere die Rolle der durch die von Text und Frömmigkeitspraxis hergestellte Erfahrung eines Eintauchens oder Absorbiert-Werdens ausgelösten Affekte für diesen Prozess: »the evocation of the inner senses in the practice of prayer opens up a realm of emotions, an affective life which compensates for the lack of the intellectual understanding« (Niklaus Largier: Inner Senses - Outer Senses. The Practice of Emotions in Medieval Mysticism, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter, hg. v. Ingrid Kasten u. C. Stephen Jaeger, Berlin 2003 [Trends in Medieval Philology 1], S. 3 - 15, hier S. 5). Doch auch derartige Affizierungen sind eher als medial vermittelte Formen der Hinkehr zum Unverfügbaren zu verstehen denn als Modus der Verfügung. 233 Wiederkehr 2013, S. 249. Es handelt sich hier um die Signatur Sarnen, Bibliothek des Benediktinerkollegiums, Cod. chart. 208. Ruth Wiederkehr merkt an, dass im 15. Jahrhundert Handschriften »vorwiegend als Geschenke oder mit dem Eintritt einzelner Frauen ins Kloster kamen« (ebd., S. 42) - dies ist auch für das Hermetschwiler Gebetbuch zu vermuten. Zur Handschrift siehe auch die konzise Katalogbeschreibung bei Charlotte Bretscher-Gisiger u. Rudolf Gamper: Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Klöster Muri und Hermetschwil, Dietikon-Zürich 2005, S. 331 - 335. 234 Nigel F. Palmer: › Antiseusiana ‹ : Vita Christi and Passion Meditation before the Devotio Moderna, in: Inwardness, Individualization, and Religious Agency in the Late Medieval Low Countries. Studies in the Devotio Moderna and its Contexts, hg. v. Rijcklof Hofman u. a., Turnhout 2020 (Medieval Church Studies 43), S. 87 - 119, hier S. 91. 235 Ediert bei Wiederkehr 2013, S. 357, als Nr. 61: »Gebet zu Jesus am Kreuz«. 236 Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 155, fol. 131v - 133v. Die Texte dieser Handschrift waren, so Peter Ochsenbein, »höchstwahrscheinlich für Benediktinerinnen des Klosters St. Andreas in Engelberg zur Privatandacht bestimmt, dürften aber kaum in Engelberg geschrieben worden sein«, Peter 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 81 <?page no="82"?> in Engelberg im Kanton Obwalden gehörte und »eine der umfangreichsten und aufgrund ihres Alters bedeutendsten Sammlungen deutscher Privatgebete« darstellt, die zudem »viele Gebetstexte in Erstüberlieferung bietet«. 237 Nach dem Schema eines Memento-Gebets, durch das der Betende »vor Gott, Christus oder Maria das Heilsgeschehen in Erinnerung [bringt], um sich der Bedeutung dieser Heilstaten Gottes für seine eigene Person bewußt zu werden«, 238 mahnt der Text Christus in jeweils rhetorisch geschlossenen Abschnitten an seine Inkarnation, das Gebet im Garten Gethsemane, das Paradiesversprechen an den reuigen Schächer (Lc 23,43), die Anempfehlung Marias an Johannes (Io 19,25 - 27) sowie das Herabsinken seines Kopfes beim Sterben am Kreuz (Io 19,30). Dabei taucht das Lesepublikum in die Rolle des sprechenden Ich ein, das diese Szenen im Gespräch mit Christus aufruft und sie mittels einer anschließenden doppelten Bitte auf die eigene Beziehung sowohl zu Gott als auch zu den Mitmenschen bezieht. So lautet die einleitende Gebetspassage zur Menschwerdung Christi: Herre, ich manen dich der minne, die dich betwang, daz du dich neigtest von himelrich uf ertrich in daz heil aller creaturen, und bit dich, daz du dich all stunde neigest zu ͦ aller miner notturft sel und libes und ze allen minen schaden, daz du mir die richtest und ordnest nach allen minen willen, und bit dich milter got, daz du aller menschen, der minne und liebe ich beger, ir hertze und ir gemu ͦ te neigest und twingest zu ͦ aller miner notdurft und begird und willen. 239 Erstens entwerfen diese Zeilen ein »Beten als Akt des Gesprächs«, 240 in dem der lesende und betende Mensch zum Dialogpartner wird, der sich als sprechendes Ich mit Apostrophen wie Herre oder Herre Iesu Christe 241 in einem vertikalen Akt der Kommunikation dem Gottessohn zuwendet. Zugleich immergiert er hierbei horizontal in eine vom Text vorgezeichnete Dialogsituation. Ein je persönliches Eintauchen wird dabei auch dadurch erleichtert, dass das Gebet mit Formulierungen wie min[e] notturft und mi[n] schaden oder dem Verweis auf die menschen, der minne und liebe ich beger, gezielt Leerstellen kreiert, die in der Vorstellung der Betenden individuell-biografisch gefüllt werden können. Zweitens steht die Inkarnation, an die Christus hier gemahnt wird und durch die nach christlichem Glaubensverständnis »der himmlische Erlöser unverkürzt auch die Menschennatur angenommen« hat, 242 zwar zunächst bloß als in der Vergangenheit liegender Ochsenbein: Art. Engelberger Gebetbuch, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 529 f., hier Sp. 529. Zu dieser Handschrift vgl. außerdem Buschbeck 2019; Johanna Thali: Regionalität als Paradigma literarhistorischer Forschung. Das Beispiel des Benediktinerinnenklosters St. Andreas in Engelberg, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte, hg. v. Barbara Fleith u. René Wetzel, Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 229 - 262, insb. S. 259; Ochsenbein 1988, S. 384 f.; Ochsenbein 1999; sowie Ochsenbein 1997. 237 Thali 2009b, S. 259. 238 Achten 1987, S. 38. 239 »Herr, ich erinnere dich an die Liebe, die dich dazu brachte, dass du dich vom Himmelreich auf das Erdreich herabneigtest in das Heil aller Geschöpfe, und bitte dich, dass du dich jederzeit zu allen meinen seelischen und leiblichen Bedürfnissen neigst und zu allem meinem Leiden, dass du mir dies [alles] nach meinem Willen ordnest und hinwendest, und bitte dich, großzügiger Gott, dass du allen Menschen, deren Liebe und Zuneigung ich mir wünsche, ihr Herz und ihren Sinn neigst und richtest auf all meine Bedürfnisse und Wünschen und Wollen«, Wiederkehr 2013, S. 357. 240 Suerbaum 2017, S. 298. 241 Wiederkehr 2013, S. 357. 242 Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 4 2009, S. 122. 82 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="83"?> Gesprächsgegenstand im Raum, wird allerdings durch die angefügten Bitten, die daraus eine Heilshoffnung entwickeln, in ihrer Wirkung mit der Gegenwart des Betens enggeführt. Obzwar in der entfernten Heilszeit liegend, soll sich das neigen Gottes, der in der Person Christi auf die Erde hinabstieg, fortlaufend als gnadenhaftes Zuneigen in der Jetztzeit manifestieren. 243 Der Text leitet so aus dem Hinweis auf die einstmalige Anwesenheit Christi auf Erden die Hoffnung auf eine gegenwärtige Gottesnähe ab. In der immersiven Lektüre des Gebets wird diese Nähe zu Gott bereits partiell hergestellt, indem sie in Form einer Gesprächssituation evoziert wird. Intensiviert wird diese Dynamik in den folgenden vier, je in sich abgeschlossenen Teilabschnitten, die an Christus gerichtet jeweils einzelne Szenen der Passion vor Augen führen und darin einer Strategie sprachlicher Vermittlung folgen, die Roy Hammerling beschreibt als »vividly recalling a biblical or other holy scene to produce a prayerful attitude and/ or experience«. 244 An dritter Stelle führt der Text aus dem Hermetschwiler Gebetbuch aus: Herre Iesu Christe, ich manen dich, daz du dich an dem crütz neigtest zu ͦ dem gu ͦ ten schacher und du dem din ewig rich uff det und swert, er so ᵉ lt des tages bi dir ru ͦ wen in dem paradis. Herre, also neig dich all stund zu ͦ minem ewigen heil und zu ͦ aller miner liplichen notturft und neig hüt aller miner fründen und figende minne und liebe in all min begird und willen. 245 Gemahnt wird hier zunächst an die neutestamentliche Episode vom guten Schächer, der neben Christus gekreuzigt wurde. 246 Diese Szene des Karfreitagsgeschehens nun präsentiert sich auf eine Weise, die Christian Schmidt auch für weitere Beispiele aus der zeitgenössischen Gebetbuchliteratur aufzeigt, als »Rollenmodel[l] für das betende Ich«, ja geradezu als »Dialogskript«, 247 das dem Leser erlaubt, selbst in die Position des Schächers einzutauchen und einen vergleichbaren Erweis göttlicher Gnade zu erwünschen. Dass Christus sich zu dem gekreuzigten Schächer neigte, plausibilisiert in einer derartigen Logik der Immersion in biblisch vorentworfene und erfahrungshaft entfaltete Textumgebungen und Sprecherrollen eine analoge Zuwendung an den Betenden, die 243 Im Sinne Berndt Hamms unterstützt der Text so als Hilfsmedium einen Akt der Partizipation der Betenden an einer »Gnadenmedialität erster Ordnung«, in der Gott »durch Inkarnation und Passion und damit durch das Medium der Leibhaftigkeit des Erlösers in innigste leiblich-seelische Kommunikation zu den Menschen aller Zeiten« tritt (Hamm 2009, S. 27). 244 Roy Hammerling: Introduction. Prayer - A Simply Complicated Scholarly Problem, in: A History of Prayer. The First to the Fifteenth Century, hg. v. Dems., Leiden/ Boston 2008 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 13), S. 1 - 27, hier S. 10. 245 »Herr Jesus Christus, ich erinnere dich daran, dass du dich am Kreuz zu dem guten Schächer neigtest und ihm dein ewiges Reich eröffnetest und versprachst, er solle am gleichen Tag bei dir im Paradies ruhen. Herr, genauso neige dich auch jederzeit zu meinem ewigen Heil und zu allen meinen leiblichen Bedürfnissen und neige heute die Liebe und Zuneigung aller meiner Freunde in all mein Wünschen und Wollen«, Wiederkehr 2013, S. 357. 246 Die entsprechende Stelle im Lukasevangelium berichtet: et dicebat ad Iesum Domine memento mei cum veneris in regnum tuum et dixit illi Iesus amen dico tibi hodie mecum eris in paradiso (»Und er sagte zu Jesus: › Herr, erinnere dich an mich, wenn du in dein Königreich kommst! ‹ Und Jesus sagte ihm: › Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein«, Lc 23,42 f.). 247 Christian Schmidt: Andacht und Identität. Selbstbilder in Gebetszyklen der Lüneburger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents, in: Identität und Gemeinschaft. Vier Zugänge zu Eigengeschichten und Selbstbildern institutioneller Ordnungen, hg. v. Mirko Breitenstein u. a., Berlin 2015 (Vita regularis. Abhandlungen 67), S. 125 - 148, hier S. 126 f. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 83 <?page no="84"?> gleichzeitig als »äußerliche, körperliche Nähe« des Herabbeugens wie auch als Teilhabe am durch die Passion in die Welt gekommenen Heil verstanden wird. 248 Frömmigkeitsgeschichtlich steht der Text darin im Zusammenhang einer zeitgenössischen Passionsverehrung, die ihr Augenmerk auf das Leiden des Gottessohnes und damit auf die Menschlichkeit Christi richtete. Diesbezüglich vermerkt Ulrich Köpf eine »zunehmende Praxis meditativen Umgangs mit der Passion Christi« ab dem 13. Jahrhundert, die sowohl eine ins Detail gehende »inhaltliche Erweiterung der Passionserzählung« wie auch eine »Intensivierung der durch die Meditation erzeugten Affekte« umschloss. 249 Das Jesusgebet aus dem Hermetschwiler Gebetbuch gliedert sich insofern in diese Entwicklung ein, als dass es die Schmerzen und Wunden Christi, nicht das in Früh- und Hochmittelalter noch zumeist im Vordergrund stehende Bild des richtenden Weltenherrschers evoziert. 250 Auch die Bitten des Gebetstextes sind entsprechend an den Gekreuzigten gerichtet, dessen menschliches Leiden die jeweils mit ich manen dich eingeleiteten Memento- Elemente dem Leser gegenwärtig machen. Aus dieser über den Text hergestellten Anschauung der Kreuzigung heraus scheint es möglich, einerseits für das eigene Seelenheil und um Beistand in irdischen Dingen sowie andererseits auch um eine Beziehung gegenseitiger christlicher Nächstenliebe zu den Mitmenschen zu bitten. Diese Doppelbitte wird, wenn auch in etwas abgewandelten Formulierungen, weitgehend sinngleich in allen fünf Abschnitten des Textes wiederholt. Am ausgeschmücktesten ist sie in der finalen Passage des Gebets, die zunächst an Christi Kreuzestod erinnert und dabei die Worte des Johannesevangeliums (»er neigte sein Haupt und gab seinen Geist hin«, Io 19,30) 251 in beinahe ekphrastischer Weise aufgreift: Herre Iesu Christe, ich manen dich, daz du din minneklich gotlich ho ᵘ bt neigtest uf din verwundoten achslen zu ͦ einem sicher wortzeichen eins volkomenen su ͦ ne zwüschent got dem vatter und dem ellenden sünder. Herre min, ich bit dich, daz du dich hütt und iemer neigest zu ͦ aller miner notdurft sel und libes und neig alle stund aller menschen hertz und gemu ᵉ t zu ͦ aller miner liebe und notturft, min got 248 Wiederkehr 2013, S. 156. Wiederkehr zeigt auf, wie »das Amplexus-Motiv der bernhardinischen Passionsandachten, bei der die körperliche, konkrete Nähe von Bedeutung ist« (ebd. S. 150), diesen Gebetstext informiert haben dürfte: »Jesus neigt sich dabei mit offenen Armen vom Kreuz hinunter zum betenden Bernhard und umarmt diesen« (ebd.), was der »Bitte nach dem Neigen Jesu zu der Bittenden« (ebd., S. 151) im Hermetschwiler Gebetbuch entspricht. 249 Ulrich Köpf: Art. Passionsfrömmigkeit, in: TRE 27 (1997), Sp. 722 - 764, hier Sp. 728. 250 Dazu fasst Peter Dinzelbacher zusammen: »Wollte man den Gegensatz zwischen dem dominierenden Christusbild des frühen und dem des späten Mittelalters in einem Satz formulieren, so liegt er darin, dass Christus sich vom Herrscher zum Opfer wandelte«. Peter Dinzelbacher: Christus als Schmerzensmann, in: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd. 2: Mittelalter, hg. v. Inge B. Milfull u. Michael Neumann, Regensburg 2004, S. 200 - 225, hier S. 203. Palmer 2020 zeichnet dagegen ein differenzierteres Bild des spätmittelalterlichen Spektrums an Gebeten und Andachten zu »Christ in his humanity« (ebd., S. 115), das neben einem »focus on bitterness and pain« (ebd.) auch z. B. Texte umfasst, die auf »understanding the passion in a salvation history context« (ebd., S. 104) abzielen. Grundsätzliche Stationen der sich im Hochmittelalter ereignenden Entwicklung zu einer derartigen Passionsfrömmigkeit werden aufgezeigt und untersucht bei Rachel Fulton: From Judgment to Passion. Devotion to Christ and the Virgin Mary, 800 - 1200, New York 2002. 251 inclinato capite tradidit spiritum. 84 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="85"?> und min herre, und neig din verwundetes ho ᵘ bt zu ͦ miner siglosen sele im ellenden dot und heil min sele vor allen den wunden, die an min sele ie gevielen. In gotes namen. Amen. 252 Wenn das Gebet hier in der narratio den sterbenden Menschenkörper des Gottessohns aufruft, so verweist es zugleich auf die menschheitserlösende Wirkung des Kreuzestods, der für die Gläubigen eine Wiederaussöhnung Gottes mit dem durch den Sündenfall gezeichneten Menschengeschlecht bedeutet, 253 und ruft außerdem, charakteristisch für Passionsgebete und -andachten, »das Bild des Schmerzensmannes vor den inneren Augen des Beters auf«. 254 Tatsächlich durchbricht der Text dabei drastisch die temporalen Grenzen zwischen dem geschildertem Heilsereignis der Vergangenheit, der Jetztzeit des Betens und der Zukunft des Betenden, wenn Christus aufgefordert ist, sein verwundetes ho ᵘ bt dem Betenden in dessen eigener Sterbestunde zuzuneigen. 255 Das wichtigste Ereignis der Heilsgeschichte gerät so ebenso zur inneren Gegenwärtigkeit wie zur zukünftigen Verheißung, in die der betende Mensch im vom Text entworfenen Gespräch mit Christus immergiert. Die dabei vergegenwärtigten Ereignisse sind ebenso mit den inneren Sinnen wahrnehmbar wie als sinnfällige wortzeichen zu verstehen. Jenes »intensive Aufgehen in Bedeutung«, das Hartmut Bleumer als Kernmerkmal immersiver Lektüreerlebnisse beschreibt, 256 ergibt sich hier gerade im Zusammenspiel von präsentischen und zeichenhaften Aspekten des Betens. Zusammengefasst lassen sich derartige immersive Lektüreangebote spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtstexte als Medialisierung in zweifache Richtung fassen. Zum ersten setzt sich der betende Mensch, indem er sich mit einem spezifischen Rollenangebot des Textes identifiziert und in diesem Rahmen zum Sprecher, Betrachter oder Akteur wird, in eine kommunikative Beziehung zum Heiligen. Dies entspricht weitgehend einer Unterstützung jener vertikalen Hinkehr des Menschen zur Transzendenz, die das Gebet ob seiner rhetorischen Gestaltung wie oben ausgeführt vorformt. Hierin erscheint die Schrift als Hilfsmedium einer Frömmigkeitspraxis, die in der Hoffnung auf Partizipation an der Gnade Gottes erfolgt. 257 Zusätzlich jedoch entfaltet sich auch eine gewissermaßen horizontale Vermittlung zwischen Lesepublikum und Text. So bietet das Gebet eine immersive Lektüre an, die den betenden Menschen in eine sprachlich vorentworfene 252 »Herr Jesus Christus, ich erinnere dich daran, dass du dein liebliches göttliches Haupt auf deine verwundeten Schultern herabneigtest zu einem sicheren Wortzeichen einer vollständigen Aussöhnung zwischen Gottvater und dem armen Sünder. Mein Herr, ich bitte dich, dass du dich heute und stets zu allen meinen leiblichen und seelischen Bedürfnissen herabneigst, und neige jederzeit aller Menschen Herz und Sinn zu all meiner Liebe und meinen Bedürfnissen, mein Gott und mein Herr, und neige dein verwundetes Haupt zu meiner unterlegenen Seele im armen Tod und heile meine Seele von all den Wunden, die meine Seele je erlitt. In Gottes Namen. Amen«, Wiederkehr 2013, S. 357. 253 So versteht die typologische Bibelauslegung des Mittelalters Christus oftmals als › zweiten Adam ‹ , dessen Selbstopfer den göttlichen Zorn ob der Verfehlungen des ersten Menschen stillt und somit einen Neubeginn im Verhältnis zwischen Gott und Mensch herbeiführt; vgl. Angenendt 2009, S. 209 u. 216. 254 Thali 2009, S. 261. 255 Hier scheint wieder das aus der bernhardinischen Tradition stammende Amplexus-Motiv, in dem sich Christus vom Kreuz zu dem Gläubigen herabneigt, im Hintergrund zu stehen. Vgl. dazu die Ausführungen oben sowie das Beispiel für ein entsprechendes Andachtsbild des 15. Jahrhunderts bei Hamm 2009, S. 35. 256 Bleumer 2012, S. 9. 257 Siehe dazu Hamm 2009; sowie die Diskussion oben, Kap. I.3. 4 Horizontales Eintauchen: Immersion und die Stimulation innerer Wahrnehmung 85 <?page no="86"?> Gesprächssituation versetzt, heilswirksame Gegenstände präsent und mit den inneren Sinnen wahrnehmbar macht, die Affekte stimuliert und Glaubensinhalte durch Anschauung ebenso bezeugt wie vermittelt. Zentrale Bedeutung hierfür tragen, wie das Beispiel aus dem Hermetschwiler Gebetbuch in seinem Fokus auf die Inkarnation und Passion illustriert, Rückgriffe auf vorgängige und zumeist biblische Modelle, die im Gebet erneut zur geschauten Gegenwart werden und auf Heilswirkungen in der Seele ebenso wie in der äußeren Welt der Gläubigen vorausdeuten. So bittet der oben analysierte Text abschließend einerseits darum, dass das Erlösungswerk der Osterereignisse auch der Seele des Betenden zuteilwerde, und spiegelt dabei andererseits die zuvor aufgerufenen Wunden Christi in den inneren Wunden des sich Christus annähernden Menschen: neig din verwundetes houbt [ … ] und heil min sele vor allen den wunden, die an min sele ie gevielen, heißt es dort. Wie sehr sich dieser Text mit der Erwartung verbindet, dass sein betender Vollzug schließlich extratextuell einen Effekt zeitige, belegt die Rubrik, die ihm im Engelberger Gebetbuch vorangestellt ist. Dort ist er überschrieben mit den Worten: War v´ber man dis spricht, daz beschicht. 258 Das Verhältnis von Vorbildung und Nachbildung, von Gegenwart und Zeichenhaftigkeit, von Verheißung und Erfüllung, das Gebete und Andachten sowohl in ihrer vertikalen Bezugnahme auf das Heilige als auch horizontal in der immersiven Wirkung des Textes auf den Leser entwerfen, lässt sich, so schlage ich im folgenden Unterkapitel vor, am ehesten unter den Begriffen von Figuralität und Figuration fassen. 258 Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 155, fol. 131v. 86 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="87"?> 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration Geistliche Texte zum Beten und zur Andacht, so kann ein Kernpunkt der vorangegangenen Überlegungen zusammengefasst werden, wirken darauf hin, ihre Rezipierenden medial vermittelte Gegenstände und Ereignisse innerlich so wahrnehmen zu lassen, dass sie dabei zu einer immersiven Erfahrungswirklichkeit geraten, die sowohl sinnliche als auch zeichenhafte Qualität besitzt. Eine solche horizontale Vermittlungsebene, auf der ein Text ästhetische Erfahrung stimuliert, die sich affektiv ebenso wie perzeptiv niederschlägt, konvergiert zugleich mit einer vertikalen, oftmals rhetorisch als Apostrophe gestalteten Orientierung des frommen Lesepublikums auf eine Transzendenz, die jenseits des Verstehens, der Wahrnehmung und der Möglichkeiten sprachlicher Repräsentation liegt. Auf beiden Ebenen greifen geistliche Übungen dabei einerseits regelmäßig auf biblische Vorlagen (z. B. die Psalmen, das Hohelied oder das Herrengebet) zurück oder »beziehen [ … ] Rollenmodelle für das betende Ich aus dem biblischen Prätext«. 259 Andererseits sind sie angelegt auf eine diese Vorbilder erfüllende Frömmigkeitspraxis, an deren Fluchtpunkt eine Teilhabe an dem durch die Transzendenz gnadenhaft in die Immanenz vermittelten Heil steht. 260 Sowohl auf der horizontalen ( › Text - Leser ‹ ) als auch auf der vertikalen ( › Immanenz - Transzendenz ‹ ) Medialisierungsachse ergeben sich folglich einzeltextspezifisch je eigen konzipierte und miteinander verflochtene Verhältnisse von Verheißung und Erfüllung bzw. Vor- und Nachbildung. In Anlehnung an die vieldiskutierten Theoretisierungen Erich Auerbachs möchte ich vorschlagen, hier von Dynamiken der Figuration zu sprechen. 261 Zugrundeliegender Text, äußerer und innerer Vollzug, immersive Lektüre, apostrophische Hinkehr zum Heiligen sowie eine davon erhoffte Heilswirkung erscheinen aus dieser Perspektive als jeweils für sich reale figurae von Andacht und Gebet, die zugleich aber in komplexen Verweisbeziehungen von Vorausdeutung und Ausführung stehen. Den diese Überlegungen fundierenden Begriff des Figuralen entwickelte Auerbach zunächst ausgehend von einem Blick auf das semantische Spektrum von figura in der griechischen und lateinischen Literatur der Antike und mit besonderem ideengeschichtlichem Augenmerk auf typologische Verfahren der Schriftexegese in der Patristik. Bereits bei Varro, so Auerbach, löse sich das etymologisch vom Verb fingere ( › formen, gestalten, bilden, darstellen ‹ ) herstammende Lexem allmählich »von seinem Ursprung, dem engeren Begriff des plastischen Gebildes«. 262 Bei Cicero erweitere es sich zum »sinnlichen Gestaltbegrif[f] figura«, der sowohl all das meine, was zumindest scheinbar den Sinnen zugäng- 259 Schmidt 2015, S. 126. 260 Das heißt ein durch Partizipations- und Hilfsmedien gewährleisteter Zugang zur »nahen Gnade« nach dem Verständnis der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie (Hamm 2009, S. 21). 261 Einen wichtigen Anstoß hierzu gaben mir die in diese Richtung gehenden Ausführungen bei Largier 2018, insb. S. 55 f. 262 Erich Auerbach: Figura [zuerst 1938], in: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des Figura- Aufsatzes von Erich Auerbach, hg. v. Friedrich Balke u. Hanna Engelmeier, Paderborn 2 2018, S. 121 - 188, hier S. 122. <?page no="88"?> lich werde, als auch als »technischer Ausdruck der Rhetorik« für Verfahren der sprachlichen Veranschaulichung und Stilisierung diene. 263 In den Werken der Kirchenväter, beginnend mit Tertullian, sieht Auerbach schließlich eine »eigentümlich neue Bedeutung des Wortes« aufkommen. 264 Nun nämlich bezeichne figura vornehmlich eine sich in der historischen Realität manifestierende »Vorausdeutung zukünftiger Ereignisse«, meine also »eine Realprophetie oder vorausdeutende Gestalt des Zukünftigen«. 265 Dementsprechend läuft ein christlich-hermeneutisches Verfahren, das auf einer solchen Annahme eines realprophetischen Potentials der Phänomene des Wirklichen fußt, primär auf ein Schriftverständnis hinaus, das, wie Friedlich Ohly hervorhebt, eine »typologische Entsprechung zwischen Altem und Neuem« Testament annimmt und herauszuarbeiten sucht. 266 Anders als Ohly betont Auerbach diesbezüglich jedoch nicht vornehmlich den Zeichencharakter des Typus, der, so Hennig Brinkmann, in der Bibelexegese des Mittelalters als »ein Fall (meist der Grundfall) der Allegorie« gilt, 267 sondern legt besonderes Gewicht auf die als Phänomen einer Sache erfahrbare Wirklichkeit des Figuralen: 268 Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere hingegen das eine einschließt oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide [ … ] in dem fließenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist, und nur das Verständnis, der intellectus spiritualis [ … ], ist ein geistiger Akt; ein geistiger Akt, der sich bei jedem der beiden Pole mit dem gegebenen oder erhofften Material des vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Geschehens zu befassen hat, nicht mit Begriffen oder Abstraktionen [ … ]. 269 Figuren in diesem Sinne sind folglich zugleich aus eigener Kraft wirklichkeitsmächtig und weisen über sich hinaus auf andere, ebenfalls wirklichkeitsmächtige Gegenstände, Personen oder Ereignisse. Dabei lassen sie sich einerseits raumzeitlich als reale Begebenheiten verorten, transzendieren diese Verortung unterdessen jedoch auch in einem Zusammenspiel von Verheißung und Erfüllung. Auf die oben diskutierten Dynamiken von Gebet und Andacht, vorgängige Texte und vergangene Geschehnisse in im gegenwärtigen Vollzug wirksame Erfahrung zu überführen, die wiederum ein künftiges Wirken des Heils verspricht, scheint ein derartiger Begriff der Figuration in besonders treffender Weise applizierbar. 263 Ebd., S. 130 f. Letzteres bezieht sich auch auf jene rhetorischen Mittel von Metapher, Metonymie und Allegorie, die ich mit Michel 1987 unter dem Stichwort › Bildrede ‹ einordne, ist tendenziell aber weiter gefasst. So sei, wie Auerbach ausführt, beispielsweise bei Quintilian »Figur [ … ] jede Formung der Rede, die vom gewöhnlichen und nächstliegenden Gebrauch abweicht« (ebd., S. 136). 264 Ebd., S. 139. 265 Ebd., S. 139 f. 266 Friedrich Ohly: Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung (1966), in: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 312 - 337, hier S. 318. Siehe hierzu auch detailliert Friedrich Ohly: Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: Typologie, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a. M. 1988, S. 22 - 63. 267 Brinkmann 1980, S. 253. 268 Zu dem bei Auerbach zugrundeliegenden Wirklichkeitsbegriff siehe Gabriel 2015; Engelmeier 2018; sowie die Ausführungen oben auf S. 24 f. und 74 f. 269 Auerbach 2018, S. 164. 88 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="89"?> Dabei verspricht es weitere Klärung, einige Ebenen, die in Auerbachs Figura-Begriff enggeführt sind, etwas genauer auszudifferenzieren. Christian Kiening betont in einem Perspektivierungsvorschlag, der auch für diese Untersuchung treffend scheint, besonders eine semiotische, eine ästhetische sowie eine mediale Dimension des Begriffs. 270 So stelle sich zunächst die Frage, »inwiefern figura als Zeichen fungiert bzw. Zeichen umfasst, die komplexe Referenzen eröffnen: auf das eine Signifikat Christi, aber auch auf verschiedene in der Vergangenheit wie der Zukunft gelegene Ereignisse, Personen und Situationen«. 271 Auerbach selbst blieb in seinem Essay diesbezüglich betont ambig. Zwar rechnet er die »Figuraldeutung«, insofern sie »ein Ding für das andere setzt, indem eines das andere darstellt und bedeutet, [ … ] zu den allegorischen Darstellungsformen im weitesten Sinne«, stellt aber im gleichen Zuge auch fest, sie sei von »den meisten anderen uns sonst bekannten allegorischen Formen durch die beiderseitige Innergeschichtlichkeit sowohl des bedeutenden wie des bedeuteten Dinges klar geschieden«. 272 Die Figur stellt nach diesem Verständnis einerseits ein Zeichen dar, das auf etwas anderes referiert, besteht aber auch jenseits dieser Referenzialität als wirkmächtige (in der Regel historische) Gegebenheit. Die Rezeption des »Figura«-Aufsatzes, die sich primär im angloamerikanischen Raum abspielte, hob lange Zeit vornehmlich auf diese semiotische Dimension des Figuralen ab. Man »hatte sich darauf eingestellt«, so Niklaus Largier, »den Begriff der figura fast ausschließlich auf die Figuraltypologie zu beziehen und die Typologie primär als eine Technik der Lektüre zu sehen«, 273 die zuerst ein Verständnis des Alten Testaments als Vorausbedeutung des Neuen ermöglichte und schließlich darüberhinausgehend auch das säkulare Geschichtsverständnis des Westens prägte. 274 Frank Ankersmit beispielsweise versteht Auerbachs Essay in erster Linie als Vorschlag einer Methodik der Interpretation historischer Ereignisse, die auf der Annahme basiere, dass »only a close and detailed scrutiny of an actual, concrete historical event can give us access to the meaning of the other event to which it is › figurally ‹ related«. 275 Prominent widmete sich auch Hayden 270 Vgl. Christian Kiening: Einleitung, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013 (Philologie der Kultur 8), S. 7 - 20, hier S. 15 f. 271 Ebd., S. 16. 272 Auerbach 2018, S. 164 f. 273 Niklaus Largier: Zwischen Ereignis und Medium. Sinnlichkeit, Rhetorik und Hermeneutik in Auerbachs Konzept der figura, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013, S. 51 - 70, hier S. 52. 274 Friedrich Balke trennt deswegen bei Auerbach »zwei Dispositive, ein geschichtstheologisches und ein geschichtsphilosophisches« wobei ersteres im Figura-Aufsatz entfaltet werde, letzteres dahingegen sowohl Auerbachs späteres und bekannteres Mimesis-Buch als auch seine Rezeption geprägt habe (Friedrich Balke: Mimesis und Figura. Erich Auerbachs niederer Materialismus, in: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des Figura-Aufsatzes von Erich Auerbach, hg. v. Friedrich Balke u. Hanna Engelmeier, Paderborn 2 2018, S. 13 - 88, hier S. 16). Der Unterschied zwischen diesen beiden Dispositiven mache sich vor allem daran fest, dass für die geschichtsphilosophische Figuraldeutung eine »immanente Struktur der literarischen Sinngebung« entscheidend sei, die historische Ereignisse in ein Entwicklungsverhältnis setze, während die geschichtstheologische Figuraldeutung ein Ereignis in Zusammenhang mit der göttlichen Ordnung bringe »und sich daher um seine immanente Verknüpfung mit weiteren Ereignissen, die es auslösen und die es ermöglicht, nicht weiter kümmern muss« (ebd., S. 25). 275 Frank R. Ankersmit: Historical Representation, Stanford 2001, S. 204. Vgl. dazu auch Frank R. Ankersmit: Why Realism? Auerbach on the Representation of Reality, in: Poetics Today 20.1 (1999), S. 53 - 75. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 89 <?page no="90"?> White den geschichtsphilosophischen Implikationen der Figuraldeutung und hob dabei neben ihrer teleologischen Ausrichtung auf eine je noch kommende Erfüllung der figura ebenfalls ihre Qualität als interpretatives Verfahren der Geschichtsbetrachtung hervor, bei dem »the principal weight of meaning on the act of retrospective appropriation of an earlier event by the treatment of it as a figure of a later one« liege. 276 Für meinen Blick auf figurale Elemente und Rezeptionsangebote in der Gebetbuchliteratur sind derlei semiotische Aspekte hauptsächlich insofern von Belang, als dass sich durch sie erstens eine Vorbildungsbeziehung zwischen einer vergangenen Sache, ihrer sprachlichen Darstellung im und als Text sowie schließlich einer diese Sache in der Vorstellung eines Lesepublikums aktualisierenden Lektüre ergibt. Zweitens eröffnet die Zeichendimension des Figuralen eine Perspektive, die es erlaubt, die von Gebets- und Andachtstexten stimulierten Momente innerer Wahrnehmung und frommen Handelns als nachbildende Vergegenwärtigungen vorgängiger Verheißungen zu verstehen, die von den lesenden Gläubigen erinnert, affirmiert, und in ihrem Versprechen der Erfüllung aktualisiert werden. Als Präfigurationen künden derartige Realisierungen frömmigkeitspraktischer Texte von einem noch kommenden Heil, das wiederum seine volle Signifikanz erst im einschließenden Rückbezug auf das vom Text vergegenwärtigte Vorangegangene aufzuzeigen vermag. Freilich aber reduziert sich das Figurale hierbei nicht zur Zeichenstruktur, sondern bildet, wie Auerbach wiederholt hervorhebt, »etwas Wirkliches, Geschichtliches, welches etwas anderes, ebenfalls Wirkliches und Geschichtliches darstellt und ankündigt«. 277 John David Dawson bringt dies auf eine Formel: »Auerbach ’ s characterizations of figural reading do not distinguish things and meanings [ … ], but instead describe a relationship between things.« 278 Als Sache, die sich nicht auf ihre Referenzfunktion beschränkt, geht die figura nicht im Allegorischen auf, sondern besitzt einen »energische[n] Realismus«, 279 der als ihre ästhetische Dimension verstanden werden kann, durch die sie ein »erscheinungshafte[s] Moment« entfaltet, das als »sinnliche Darstellung« bzw. als Wirklichkeitsphänomen auftritt. 280 Insbesondere Niklaus Largier hat in der jüngeren Forschung wiederholt auf diese Seite des Figuralen aufmerksam gemacht und sie dabei auch als Verständniszugang zur geistlichen Literatur des Mittelalters angewandt. Unter dieser Nuancierung ist figura »nicht Spiegel eines historischen Ereignisses und Medium eines geistigen Sinns, sondern die Ausdrucksform, unter der das historische Ereignis in der Lektüre › realistisch ‹ - als absorbierendes Wahrnehmungsereignis - Gestalt annimmt, ohne dabei zunächst abstrahierender Spiritualisierung preisgegeben zu werden.« 281 Die horizontalen und vertikalen Vermittlungsebenen geistlicher Übungen, die ich in den beiden vorangegangenen Unterkapiteln als immersive Lektüreangebote sowie Vorzeichnungen einer inneren Hinkehr zur Transzendenz aus einer Position der Immanenz heraus beschrieben habe, 276 Hayden White: Figural Realism. Studies in the Mimesis Effect, Baltimore/ London 1999, S. 90. 277 Auerbach 2018, S. 140. 278 John David Dawson: Christian Figural Reading and the Fashioning of Identity, Berkeley/ Los Angeles/ London 2001, S. 87. 279 Auerbach 2018, S. 142. 280 Kiening 2013, S. 15. 281 Largier 2013, S. 53. In dieselbe Richtung geht auch der Aufsatz von Largier 2018b. Hier spricht Largier in Anlehnung an Auerbach von der figura als etwas › Konkretem ‹ . 90 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="91"?> können demgemäß auch als unterschiedlich orientierte Effekte einer Figurationsdynamik geistlicher Übungen begriffen werden. Diese Dynamik wird auf der einen Seite von einer figuralen Darstellung der Heilsereignisse und -gegenstände im und durch den Text angestoßen, auf der anderen Seite resultiert sie wiederum in als wirklichkeitshaft erfahrenen Figurationen, die sich sowohl in der je inneren Wahrnehmung des Lesers manifestieren als auch in der Praxis des Vollzugs und, zumindest der Hoffnung nach, in der Realität des Künftigen, d. h. von Text und Frömmigkeitshandeln Präfigurierten. Die »Figuralwahrnehmung des sprachlichen Ausdrucks« kommt, so Largier, hierbei nicht einem Erkennen des Gleichnishaften gleich, sondern bildet vielmehr bloß die » › Stütze ‹ der Allegorese« und »gewissermaßen ihr immanentes, irreduzibles und immer auch resistentes materielles Fundament«. 282 In seinem bereits 1929, also noch vor dem Figura-Aufsatz, erschienenen Buch Dante als Dichter der irdischen Welt hatte Auerbach dies als »Evidenz der poetischen Wirklichkeit« umschrieben, der eine »unerhörte Konkretheit und Intensität« eigne. 283 Sein ungleich bekannteres Hauptwerk Mimesis findet hierfür später die Titelformulierung › dargestellte Wirklichkeit ‹ . 284 Bereits der › Ausdruck ‹ - so ein Schlüsselwort Auerbachs 285 - eines Texts wird dabei nicht als Referenz oder Zeichen für etwas verstanden, sondern vielmehr als etwas beim Lesen Wahrgenommenes, das durch »Konkretheit, Intensität, Sinnlichkeit, Affekt, Partikularität, irreduzible Vielheit« ästhetische Erfahrung produziere. 286 Aus dieser Sichtweise eignet sowohl der rhetorischen Form von Gebets- und Andachtstexten mitsamt ihrer oben unter dem Stichwort der Bildrede zusammengefassten Elemente als auch ihrer Realisierung in der religiösen Praxis und dem Gegenwärtig-Werden des von ihnen Evozierten in der immersiven Lektüre eine je eigene figurale Qualität. Diese kann mit Hanna Engelmeier als eine »Eigenmächtigkeit des Gegenstandes« aufgefasst werden, 287 die durch die Signifikanz dieses Gegenstandes nicht geschmälert oder aufgelöst wird. 288 Geistliche Übungen geraten so zu etwas › Konkretem ‹ , »das sich mit partikularen Momenten nicht der Referenz, sondern der Attraktion und Absorption im Akt des Lesens verbindet«. 289 Zugleich aber ist das, was auf diese Weise konkret erscheint, zumeist als Vergegenwärtigung eines Vergangenen zu verstehen, das über den Gebrauch des Textmediums in die Gegenwart des Rezipienten vermittelt wird. Hier zeigt sich eine mediale Dimension des Figuralen, das, so Kiening, ein »Mittel [verkörpert], veritas sinnlich erscheinen zu lassen, andererseits eine Vermittlung, in der das Abwesende und Kommende schon anwesend ist«. 290 Bei Auerbach wird diese vermittelnde Wirkung des Figuralen, das dennoch nicht allein einem Medium gleichkommt, durch das etwas anderes medialisiert wird, immer wieder vor allem in Bezug auf ihre Temporalität und Historizität skizziert. Fürs Erste stelle die »prophetische Figur« des Alten Testaments bereits bei Tertullian 282 Largier 2013, S. 60. 283 Auerbach 2001, S. 212 u. 21. 284 Vgl. Auerbach 1946. 285 Vgl. dazu Largier 2018b, S. 45. 286 Ebd. 287 Engelmeier 2018, S. 110. 288 In diese Richtung gehend stellt Dawson fest: »the spiritual character of figural interpretation does not alter its concern for real, historical entities« (Dawson 2001, S. 95). 289 Largier 2018b, S. 45. Auf den Begriff des Konkreten gehe ich unten in Kap. II.1 noch genauer ein. 290 Kiening 2013, S. 16. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 91 <?page no="92"?> vorrangig eine »sinnlich-geschichtliche Tatsache« dar, die »keineswegs [ … ] als bloße Allegorie« verstanden werden dürfe, sondern »ebenso geschichtliche Wirklichkeit wie das durch sie Prophezeite« sei. 291 In seiner Verankerung in vergangenen Ereignissen, z. B. der typologisch als Präfiguration der Passion Christi gedeuteten Bindung Isaaks (Gen 22,1 - 19), erscheint das Figurale somit raumzeitlich eingebettet und fixiert. Mit Augustinus stellt sich für Auerbach jedoch eine Ausweitung der Figuraldeutung ein, die ein zweipoliges Verhältnis von Figur und Erfüllung ersetze durch einen »dreistufigen Vollzug«, der nicht nur vergangene Ereignisse in eine derartige Beziehung setze, sondern aus ihnen zudem eine »neue Verheißung« ableite, die »schließlich das künftige Eintreffen dieser Ereignisse als endgültige Erfüllung« verspreche. 292 Hier nun scheint »das Jederzeitliche der Figuren« auf, 293 in dem sie sich ausdruckshaft in Gegenwart und Zukunft vermitteln. Durch mediale Formen wie den Gebetstext oder die schriftliche Meditationsübung beispielsweise treten vergangene Heilsgeschehnisse in die Gegenwart der Lektüre über und figurieren sich darin stets neu als Verheißungen des Künftigen. Niklaus Largier verortet dementsprechend »die Figur zwischen Ereignis und Medium« und legt besonderes Gewicht auf ihre sinnlich-wahrnehmungsformende Kraft, die sich auf Seiten der Wahrnehmenden als Wirklichkeitsphänomen niederschlägt. 294 Hierdurch kommt dem Figuralen eine Dynamik zu, die über die erinnernde Betrachtung und Deutung eines zeitlich entfernten und medial repräsentierten Geschehnisses hinausgeht. Vielmehr ereignet sich hierin punktuell das, was schon immer einstmalig, ewig und kommend ist - und es sein wird. Ein Beispiel aus dem weiten Bereich der Tagzeitentexte und -gedichte des Mittelalters illustriert auf prägnante Weise, wie die Gebetbuchliteratur des ausgehenden Mittelalters auf entsprechende Prozesse der Figuration abhebt. Tagzeitentexte, so Matter, zeichnen sich zunächst dadurch aus, »dass sie nach dem temporalen Schema der kanonischen Gebetszeiten gegliedert sind«, 295 den Tagesablauf der Betenden also siebenteilig in Matutin, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet untergliedern. Bereits dies ist als Erfüllung einer biblischen Präfiguration zu verstehen, heißt es doch in den Psalmen: Septies in die laudem dixi tibi (Ps 118,164). 296 Als wirkenden Vollzug dieses Bibelworts versteht die Benediktsregel das monastische Offizium. 297 Das daran angelehnte nichtliturgische Tagzeitengebet des Mittelalters, das auch Laien zugänglich war, folgte ebenfalls den Worten des Psalmisten, die so in der Frömmigkeitspraxis immer wieder zur historischen Realität des religiösen Handelns wurden. 291 Auerbach 2018, S. 141. 292 Ebd., S. 152. 293 Ebd., S. 154. 294 Largier 2013, S. 67. Dieser Zwischenstatus begründet sich für Largier im weitesten Sinne rezeptionsästhetisch. Die Figur sei nämlich »nicht das Ereignis selbst, sondern die sinnlich-konkrete Ausdrucksform, in der sich dieses in der Erzählung in Ähnlichkeits- und Unähnlichkeitsbeziehungen niederschlägt, welche die Wahrnehmung bestimmen. Die Figur ist zunächst kein Medium, obwohl sie immer dazu zu werden vermag, da sie - als Wahrnehmungsereignis - noch ganz im Partikularen steckt. Der Begriff des Mediums würde gerade dieses Moment verschwinden lassen« (ebd.). 295 Matter 2021, S. 27. 296 »Siebenmal am Tag habe ich dir Lobpreis gesagt«. 297 Vgl. Benediktsregel, S. 66; sowie die eingehenderen Ausführungen oben, Kap. I.2. 92 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="93"?> Darüber hinaus aber regen Tagzeitentexte des Spätmittelalters auch zur Betrachtung von Heilsereignissen an, die der Gläubige über Momente der Hinkehr im Vollzug und der immersiven Lektüre mit dem eigenen Tagesablauf überblenden und somit in die je persönliche Gegenwart überführen kann. Vergangene Ereignisse finden auf diese Weise ihren figuralen Ausdruck im Text, der sich beim Lesepublikum zu konkreter Wahrnehmung kristallisiert. Unterschiedliche Geschehnisse können dergestalt medial heraufbeschworen werden. Unter den von Matter erschlossenen Texten finden sich beispielsweise Tagzeiten zu Marias Mitleiden unter dem Kreuz, zum Leben der heiligen Barbara oder zur Betrachtung der Werke Gottes. 298 Auch die unten noch genauer betrachtete Constructio des Dominikus von Preußen bietet eine die Zeitebenen von Tag, Woche und Jahr verschmelzende Betrachtung des Marienlebens, der christlichen Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen sowie des Leidens Christi an. 299 Letzterem Meditationsgegenstand ist auch ein an dieser Stelle aufschlussreicher, gereimter Text gewidmet, der sich in zwei in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrten Handschriften findet, 300 deren ältere (München, BSB, Cgm 87) nach Einschätzung von Karin Schneider wohl noch aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammt und der Schreibsprache nach im südbairischen Dialektraum entstanden ist. 301 In insgesamt sieben je als Gebet für eine der Horen gestalteten Strophen ruft dieses Tagzeitengedicht, das sich in eine zeitgenössisch sowohl auf Latein als auch in der Volkssprache verbreitete Gattungstradition eingliedert, 302 die einzelnen Stationen der Passion Christi vor dem inneren Auge des Rezipienten auf und überlagert sie mit der Temporalität der Jetztzeit des Betens. Indem der Text sowohl zu Beginn als auch im weiteren Verlauf der einzelnen Abschnitte Apostrophen an den Gekreuzigten einfügt, macht er trotz der Reimform seine Verwendbarkeit als Gebet deutlich, in dessen Ich-Rolle das Lesepublikum zu immergieren angeregt ist: ze der Tertzz Herr iesu christ, ze der tertzz du durch uns geslagen / pist: an der sawl daz ward vertragen / von dir gedultickleich. / Du santest von himelreich / den iungern deinen heiligen geist, / der aller gúten ding ist ein vollaist. / Mach in durch deiner marter chraft / in unserm hertzen wonhaft / und hilf uns von seinem suzzen trost, / daz wir von unsern sunden werden erlost. / Gib uns seine 298 Vgl. Matter 2021, S. 109 - 147; S. 155 - 154. 299 Vgl. dazu die Ausführungen unten, Kap. IV.4.3; sowie die Edition dieses Texts im Appendix. 300 Es handelt sich dabei um München, BSB, Cgm 87, fol. 53v - 56v; sowie um München, BSB, Cgm 136, 197v - 201r. Der Text ist unediert. Folgend wird nach Cgm 87 zitiert. 301 Vgl. Karin Schneider: Die datierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 1: Die deutschen Handschriften bis 1450, Stuttgart 1994 (Datierte Handschriften in Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland 4,1), S. 8. Die Datierung der Handschrift gestaltet sich insofern komplex, als dass fol. 1 - 5 sowie 148 Zusätze einer auf 1442 datierenden Hand darstellen, die deutlich jünger als die Haupthand zu sein scheint. Schneider wertet diese Teile als »Ergänzungen einer zu Anfang und Ende defekten HS. aus der Mitte des 14. Jh.s« (ebd.); die Datierung des Hauptteils dürfte aufgrund der Schrift erfolgt sein. Die kleinformatige, komplett volkssprachige Pergamenthandschrift enthält neben dem behandelten Tagzeitengedicht ein längeres Marienoffizium, die Bußpsalmen samt Litanei, das Totenoffizium sowie eine Sammlung von Messformeln. Siehe dazu auch den ansonsten durch Schneider 1994 abgelösten Katalogeintrag bei Erich Petzet: Die deutschen Pergament-Handschriften Nr. 1 - 200 der Staatsbibliothek in München, München 1920 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis 5,1), S. 155 f. 302 Vgl. Nigel F. Palmer: Art. Tagzeitengedichte, in: 2 VL 9 (1995), Sp. 577 - 588. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 93 <?page no="94"?> minne, / daz unser hertz werd inne / von seiner fewcht nas, / daz wir unser sund pas, / herr, dir mugen chunden. / Wan von augen wunne / werdent tru ᵉ be hertz liecht: / der verzeich uns herr nicht. / amen 303 Auffällig ist hier die Verquickung aus vergegenwärtigendem Bericht über die vergangenen Ereignisse der Passion und des Pfingstwunders, ihrer Bindung an die Tagzeit der Terz, zu der sich die hier referierte Geißelung Christi ereignet haben soll, und ihrem als Wirklichkeitsverheißung gestalteten Rückbezug auf die Lebensrealität des Sprechers. Hierbei folgt das Tagzeitengedicht einer wirkungsästhetischen Doppelstrategie. Zum einen lässt es den betenden Menschen in die Rolle des sprechenden Ichs eintauchen und ihn das zeitlich entfernte Heilsgeschehen aus dieser Position heraus als historische Tatsache aufrufen, an die der himmlische Gesprächspartner Christus gemahnt wird und die so als Gesprächsgegenstand präsent wird. 304 Ähnlich wie in liturgischen Texten wird dabei in der ersten Person Plural aus der Perspektive eines kollektiven Wir gesprochen. 305 Zum anderen stellt diese Strophe des Tagzeitentexts über die Bitten, welche die Vergangenheit von Passions- und Apostelgeschichte als Modell der intendierten Gebetswirkung aufrufen, eine Figuralbeziehung zwischen dem Karfreitags- und Pfingstgeschehen auf der einen und der Gegenwart des Betens auf der anderen Seite her, in der diese Ereignisse innerlich nacherlebt und eine zukünftige Teilhabe an ihrer Gnadenwirkung erbeten werden. Entscheidend hierfür gestaltet sich die temporale Überblendung, die das Tagzeitengedicht zwischen der jeweiligen Passionsstation - hier der Auspeitschung - und der dazugehörigen Gebetszeit herstellt. 306 Über diese zeitliche Überlagerung ergibt sich ein Berührungspunkt, der einen Kontakt zwischen der in der Immersion in den Gebetstext Präsenz erlangenden Zeit der Kreuzigung und dem Heute des Betens ermöglicht. Dabei 303 »Zu der Terz. Herr Jesus Christus, zur Terz wurdest du für uns geschlagen: Das wurde an der Säule geduldig von dir erlitten. Du sandtest aus dem Himmelreich den Jüngern deinen Heiligen Geist, der aller Güte übervoll ist. Lasse ihn durch deine Kraft in unserem Herzen wohnhaft werden und hilf uns, dass wir durch seinen süßen Trost von unseren Sünden erlöst werden. Gib uns seine Liebe, auf dass unser Herz innig von seiner Feuchtigkeit nass werde, so dass wir unsere Sünden dir, Herr, besser mitteilen können. Denn von freudigem Anblick klaren sich trübe Herzen auf. Herr, enthalte uns dies nicht vor. Amen«, München, BSB, Cgm 87, fol. 54v - 55r. 304 Wieder steht hier die verbreitete Form des Memento-Gebets im Hintergrund, siehe dazu Achten 1987, S. 38. 305 Dazu stellt Peter Ochsenbein fest: »Gebete liturgischer Herkunft etwa sind meist in der Wir-Form gestaltet, während der private Text das Ich des Betenden bevorzugt« (Ochsenbein 1988, S. 381). Zwar handelt es sich bei dem Tagzeitengedicht um einen für das Privatgebet bestimmten Text, der allerdings schon in seiner Aufteilung nach den kanonischen Horen an der Liturgie des Offiziums orientiert ist. Daher verwundert diese weitere Anlehnung nicht. 306 Ähnlich funktioniert neben den meisten der bei Palmer 1995 aufgezählten Tagzeitengedichten auch ein in dem Traktatbündel Von einem christlichen Leben enthaltener Text (abgedruckt bei Matter 2021, S. 102 - 105), durch den »in stichwortartig-anaphorischer Reihung die Passionsereignisse den einzelnen Horen des Stundengebetes zugeordnet« werden (Matter 2021, S. 80). Dieser Liste ist ein kurzer Paratext beigeben, der ausführt, ein jeder Christ solle diese Punkte mit fleyß und mit erenst und mit iniger andacht unnd mit inigem mitleidenn und auch mit einem nachvolgenden leben dem leben Ihesu Christi alle tag, zú yeder zeit besunder, oder auff ein zeit mit einander betrachten und bedencken (ebd., S. 104). Es wird hier also freigestellt, die Tagzeiten entweder imaginativ am Stück zu meditieren oder sie tatsächlich mit den entsprechenden Zeitpunkten des eigenen Tages zu parallelisieren. Stefan Matter sieht hierin »eine Anleitung zum Tagzeitengebet für Laien« (ebd., S. 80), die sich gerade durch ihre besondere Adaptierbarkeit auszeichnet. 94 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="95"?> werden die Leiden Christi und das Pfingstwunder nicht bloß erinnert, sondern zumindest der vom Text vorgeformten Bitte nach verwirklicht, soll doch durch der marter chraft der Heilige Geist in unserm hertzen wonhaft werden. Die aufgerufenen Heilsereignisse präfigurieren somit eine Erfüllung im Kleinen, die den Betenden zuteilwerden soll. Dass Geißelung und Ausgießung des Heiligen Geistes darin sowohl zeichenhafte Züge tragen, die auf die Möglichkeit der Erlösung weisen, als auch als sinnlich-konkrete Ereignisse aufgerufen werden, die aus der Vergangenheit heraustreten und in Gegenwart und Zukunft der Betenden hereinbrechen sollen, lässt sich als ein vom Text vermittelter Prozess der Figuration im oben geschilderten Sinn fassen. Im Abschnitt dieses Tagzeitengedichts, der zur Non gebetet werden soll und den Kreuzestod Christi behandelt, wird diese Dynamik durch wiederholte Unterstreichungen der temporalen Parallelität des Ereignisses von Christi Sterben und des sich ereignenden Betens noch intensiviert: ein gepet ze der non Do man ich 307 dich zu ͦ der selben vrist, daz du dich gaebd in den grimmigen tod / dich selben durch uns in die not: / daz geschach ze non, / da ward dein geist vil schon / gefu ᵉ rt in deines vater gewalt / mit suzzem lob manickvalt. / Herr, dein tod hat himel und erd versert, / di sunn hat iren liechten schein verchert./ Daz man ich dich, herr, durch deinen pittern tot, / daz du vns helffest auz aller not. / Geruch vns, herr, staet wesen / an deinem lob, daz wir genesen / heut vnd immer mer: / dez man ich dich, lieber herr, / durch deiner pittern marter er. 308 Dadurch, dass der nun ausdrücklich als gepet bezeichnete Text betont, zu ͦ der selben vrist den Gottessohn anzusprechen, zu der er am Kreuz gestorben sei, wird eine erste Entsprechungsbeziehung zwischen der vom Text sprachlich dargelegten vergangenen und der im Gebet hergestellten gegenwärtigen Situation etabliert. In seiner Verflechtung von intensiver Bedeutung, an die Christus in Erwartung einer Einlösung des Bedeuteten gemahnt wird, und der Evokation sinnlich-konkreter Bildvorstellungen wie der sich verdunkelnden Sonne und der bebenden Erde bei der Kreuzigung scheint der Text dabei zudem jene figurale »Mischung von Wirklichkeitssinn und Spiritualität« zu etablieren, die Auerbach als Charakteristikum des europäischen Mittelalters begriff, als »so schwer zugänglich« bezeichnete und der er mit seinem Begriff der figura beizukommen suchte. 309 Denn auf der einen Seite vergegenwärtigt der Text im Sinne einer memoria passionis das vergangene Kreuzigungsgeschehen, das im immersiven Vollzug des Textes erlebbar heraufbeschworen wird und dessen Erlösungsbedeutung, daz du uns helffest auz aller not, das Tagzeitengedicht nicht nur benennt, sondern auch erbittet. Gerade diese Bitte aber markiert auch die Jetztzeit des Betens als Moment innerhalb der Heilsgeschichte, der durch den erlösenden Tod Jesu vorgebildet ist und auf eine kommende Erfüllung hofft. 307 Bei dem Wort ich liegt in München, BSB, Cgm 87, einer Handschrift, die generell viele Flüchtigkeitsfehler aufweist, eine Haplografie vor. Da die Parallelüberlieferung in München, BSB, Cgm 136, fol. 199r es enthält, wird es hier zur Gewährleistung eines sinnvollen Texts zugefügt. 308 »Ein Gebet für die None. Nun erinnere ich dich zu derselben Zeit, dass du dich für uns in die Qual [und] dem grimmen Tod anheimgegeben hast: Dies geschah zur None, da wurde dein Geist sehr lieblich mit vielerlei süßem Lobpreis in die Gewalt deines Vaters geführt. Herr, dein Tod hat Himmel und Erde versehrt, die Sonne hat ihren hellen Schein abgewendet. Daran erinnere ich dich, Herr, durch dein bitteres Sterben, so dass du uns aus aller Not heraushelfest. Gewähre uns, Herr, dass wir in deinem Lobpreis beständig bleiben, so dass wir heute und immer erlöst werden: Daran erinnere ich dich, Herr, durch die Ehre deines bitteren Leidens«, München, BSB, Cgm 87, fol. 55v - 56r. 309 Auerbach 2018, S. 172. 5 Wirklichkeitsphänomene: Dynamiken der Figuration 95 <?page no="96"?> Das Lesepublikum des Texts wird so zu einem Akt der Figuration angeleitet, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander überführt. Dabei gerät der betende Mensch zum zugleich erinnernden wie auch innerlich vergegenwärtigenden Zeugen des Heilsgeschehens, das seinen eigenen Tagesablauf überformt und intensiv auf die erbetene Gnadenwirkung verweist, daz wir genesen / heut und immer mer. Im Effekt vermittelt eine derartige Lektüre des Textes, die gleichsam vertikal auf Hinkehr zum Heiligen wie horizontal auf Immersion in eine sprachliche Darstellung zielt, sinnhafte Erfahrung und erfahrenen Sinn gleichermaßen. Sie ergeht sich in einem Prozess der Figuration, der über den Text hinausweist, jedoch wiederum von ihm vorgebildet ist und die historische Wirklichkeit des Vergangenen in der Gegenwart des Betens als Hoffnung für die Zukunft umsetzt. 96 Kapitel I: Mittelalterliche Gebete und Andachten zwischen Text und Vollzug <?page no="97"?> II Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen: Der Rosenkranz im Spätmittelalter <?page no="99"?> 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur Das Rosenkranzgebet darf getrost als die am nachhaltigsten wirksame Innovation der weitverzweigten Frömmigkeitskultur des deutschsprachigen Raums im 15. Jahrhunderts bezeichnet werden. Unter den vielfältigen Formen spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtsübungen ist der Rosenkranz nicht bloß die bekannteste, sondern auch wesentlich die einzige, die in veränderter Form auch sechshundert Jahre nach ihrer Entstehung noch praktiziert wird. Die dem gleichen historischen Kontext entspringenden und dem frühen Rosenkranz eng verwandten gebeteten Marienmäntel und meditativ errichteten inneren Häuser, mit denen sich die Folgeteile dieses Buchs beschäftigen, fielen, obgleich zeitgenössisch weitverbreitet, in der Frühen Neuzeit aus dem Gebrauch und sind heute weitgehend vergessen. Das Rosenkranzbeten stellt hier folglich die große Ausnahme dar. Auch in der Forschungslage zu dieser Gebetsform spiegelt sich dieser Sonderstatus wider. Während das Gros der übrigen Gebetbuchliteratur des Mittelalters unerschlossen bleibt, geriet der Rosenkranz bereits um 1900 in den Fokus der frömmigkeitsgeschichtlichen Erforschung. Vor allem der Dominikanergelehrte Thomas Esser wies in einer Reihe von Publikationen nach, dass diese Gebetsweise als Verbindung von gezählten Standardgebeten, dem dinghaften Vorstellen eines geistlichen Blumenkranzes und meditativer Betrachtung des Lebens und Leidens Christi ihren wesentlichen Anstoß durch die unten genauer behandelten Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause nahm. 1 Esser gelang es damit nicht nur, das wesentlich durch die unten ebenfalls schlaglichthaft untersuchten Werke des Dominikaners Alanus von Rupe verbreitete Ursprungsnarrativ, der Ordensgründer Dominikus habe diese Weise des Betens entwickelt, als historisch unhaltbar zu entkräften, er wies zudem auch auf ein großes Korpus von bis dato unbekannten Rosenkranztexten vornehmlich des 15. Jahrhunderts hin. Darauf aufbauend ergänzten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Herbert Thurston, Heribert Holzapfel, Wilhelm Schmitz und Jakob Hubert Schütz das von Esser nachgezeichnete Bild. 2 1 Thomas Esser: Beitrag zur Geschichte des Rosenkranzes, in: Der Katholik 77 (1897), S. 346 - 360, 409 - 422, 515 - 528; Ders: Über die allmähliche Einführung der jetzt beim Rosenkranz üblichen Betrachtungspunkte, in: Der Katholik NF 30 (1904), S. 98 - 114, 192 - 217, 280 - 301, 351 - 373; Der Katholik NF 32 (1905), S. 201 - 216, 252 - 266, 323 - 350; Der Katholik NF 33 (1906), S. 49 - 66; Ders: Unserer lieben Frauen Rosenkranz, Paderborn 1889; Ders: Zur Archäologie der Paternoster-Schnur, Fribourg 1898. 2 Vgl. Herbert Thurston: Our Popular Devotions: II. The Rosary, in: The Month 96 (1900), S. 403 - 418, 513 - 527, 620 - 637; The Month 97 (1901), S. 67 - 97, 172 - 188, 286 - 304; P. Heribert Holzapfel OFM: St. Dominikus und der Rosenkranz, München 1903 (Veröffentlichungen aus dem Kirchenhistorischen Seminar München 12); Wilhelm Schmitz SJ: Das Rosenkranzgebet im 15. und im Anfange des 16. Jahrhunderts, Freiburg i. Brsg. 1903; Jakob Hubert Schütz: Die Geschichte des Rosenkranzes unter Berücksichtigung der Rosenkranz-Geheimnisse und der Marien-Litaneien, Paderborn 1909. Diese Arbeiten sind von sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Qualität, illustrieren aber dennoch zusammen ein frühes Interesse an der frömmigkeitsgeschichtlichen Erforschung des Rosenkranzbetens. <?page no="100"?> Modernere Versuche einer philologischen und religionshistorischen Aufarbeitung der Rosenkranzfrömmigkeit setzten vor allem ab den 1970er Jahren ein. In einer unten noch kritisch zu besprechenden Monographie machte Karl Joseph Klinkhammer auf der einen Seite eine Auswahl wichtiger Texte zugänglich, leistete durch eine Reihe tendenziöser Verzerrungen der weiteren Forschung zugleich aber auch einen nachhaltigen Bärendienst. 3 Rainer Scherschel und Andreas Heinz bemühten sich im ungefähr gleichen Zeitraum, die in der Schriftüberlieferung fassbaren Anfänge des Rosenkranzbetens herauszuarbeiten und es kulturgeschichtlich in die Entwicklungslinien christlicher Glaubenspraxis einzuordnen. Viele von Klinkhammers Irrtümern konnten dabei ausgeglättet werden. 4 Mit den in den 1990er Jahren erschienenen Studien von Thomas Lentes und Anne Winston-Allen hingegen rückten einerseits erstmalig auch volkssprachige Texte prominent in den Blick, andererseits verlagerte sich der Fokus des Forschungsinteresses hin zu Fragen von Textualität, Bildlichkeit und damit verbundener religiöser Praxis. 5 Dieser Neuansatz war ebenfalls maßgebend für drei großangelegte Ausstellungskataloge zum Rosenkranz, die in den 2000er Jahren erschienen. 6 Flankiert und ergänzt werden diese jüngeren, primär auf Rosenkranztexte sowie ihre frömmigkeitsgeschichtliche Situierung abzielenden Arbeiten von einer Reihe von sozial- und institutionshistorischen Studien zum mit dem Rosenkranzgebet seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert eng verbundenen Bruderschaftswesen. 7 3 Karl Joseph Klinkhammer S. J.: Adolf von Essen und seine Werke. Der Rosenkranz in der geschichtlichen Situation seiner Entstehung und in seinem bleibenden Anliegen. Eine Quellenforschung, Frankfurt a. M. 1972 (Frankfurter theologische Studien 13). 4 Andreas Heinz: Lob der Mysterien Christi. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Leben-Jesu- Rosenkranzes unter besonderer Berücksichtigung seiner zisterziensischen Wurzeln, in: Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, hg. v. Hansjakob Becker u. Reiner Kaczynski, Bd. 1, St. Ottilien 1983 (Pietas liturgica 1), S. 609 - 639; Ders.: Die Zisterzienser und die Anfänge des Rosenkranzes. Das bisher unveröffentlichte älteste Zeugnis für den Leben-Jesu-Rosenkranz in einem Zisterzienserinnengebetbuch aus St. Thomas a. d. Kyll (um 1300), in: Analecta Cisterciensia 33 (1977), S. 262 - 309; Rainer Scherschel: Der Rosenkranz. Das Jesusgebet des Westens, Freiburg i. Brsg. 1979 (Freiburger Theologische Studien 116). Aufschlussreich wenn auch teils überholt ist aus dieser Zeit auch der Katalog 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976]. 5 Thomas Lentes: Die Gewänder der Heiligen. Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Gebet, Bild und Imagination, in: Hagiographie und Kunst. Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, hg. v. Gottfried Kerscher, Berlin 1993, S. 120 - 151; Lentes 1996; Anne Winston-Allen: Stories of the Rose. The Making of the Rosary in the Middle Ages, University Park, PA 1997. 6 Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler (Hgg.): Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, Wabern/ Bern 2003. Im gleichen Jahr entstand zudem der Katalog Heinz Finger (Hg.): Der heilige Rosenkranz. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln zum Rosenkranzjahr 2003, Köln 2003 (Libelli Rhenani 5). In vielerlei Hinsicht bleibt der Kölner Katalog jedoch stark der älteren Forschung der 1970er Jahre verhaftet. Etwas jüngeren Datums ist der Band von Peter Keller (Hg.): Edelsteine, Himmelsschnüre. Rosenkränze & Gebetsketten, Katalog zur 33. Sonderschau des Dommuseums zu Salzburg, 9. Mai bis 26. Oktober 2008, Salzburg 2008. Die inhaltlichen Schnittmengen dieser Publikation mit dem von Frei und Bühler veranstalten Katalog sind jedoch groß. 7 Vgl. dazu zuletzt die qualitätvolle Monographie von Christian Ranacher: Heilseffizienz aus Gemeinschaftssinn. Die Rosenkranzbruderschaft als innovative Form der Jenseitsvorsorge um 1500, Berlin/ Boston 2022 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF 26). Diese aufschlussreiche Studie erschien leider erst nach der Fertigstellung des Dissertationsmanuskripts, das diesem Buch zugrunde liegt, weshalb ich ihre wichtigen Thesen bloß nachträglich und verweishaft 100 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="101"?> Damit kann für das Rosenkranzgebet auf eine vergleichsweise komfortable Forschungslage zurückgegriffen werden, wobei ein literaturwissenschaftlich informierter Blick auf die dementsprechenden Texte des Spätmittelalters und die von ihnen angebotenen Formen der gebethaften Lektüre bislang jedoch noch fehlt. Diese Lücke soll folgend zumindest teilweise geschlossen werden, indem vier Texte bzw. Textverbünde, die jeweils zentrale Evolutionsschritte dieser Gebetsform markieren, einem close reading unterzogen werden, das auf den oben angestellten Überlegungen zur Wirkungsästhetik geistlicher Übungen aufbaut. Mit dem Mirakel von Marien Rosenkranz steht dabei an erster Stelle ein Text, der nicht nur im Verlauf des Spätmittelalters zunehmend als Ursprungsnarrativ und instruktiver Paratext des Rosenkranzes gebraucht wird, sondern auch bereits sehr früh eine Praxis des zählenden Betens auserzählt, das sich als imaginierendes Kranzflechten gestaltet. Zweitens treten die Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen und die damit verbundenen Texte aus der Trierer Kartause St. Alban in den Fokus, die in für die weitere Entwicklung des Rosenkranzes entscheidender Form eine sich gegenseitig ergänzende Verbindung von zählendem Wiederholungsgebet, imaginierender Fertigung eines geistlich-konkreten Gegenstandes und durch einen Gebets- und Andachtstext geleiteter Meditation des Lebens Christi herstellen. Auf den Autor Dominikus und sein Umfeld, dem auch mehrere in den Folgekapiteln ins Blickfeld rückende Marienmanteltexte sowie eine Anleitung zur gebethaften Konstruktion eines geistlichen Palasts zuzuschreiben sind, wird in diesem Zuge genauer eingegangen. Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe hingegen, den ich im Anschluss untersuche, ist einerseits als Ideengeber für spätere Gebetsverbrüderungen sowie als Vehikel der autorisierend-charismatischen Aufladung dieser Frömmigkeitsinnovation der Trierer Kartäuser zu betrachten. Andererseits entwickelt sich hier auch die schlussendlich ausschlaggebende Textstruktur des Rosenkranzes. Abschließend wird mit der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 ein Schlaglicht auf jene religiöse Vergemeinschaftung geworfen, die wesentlichen Anteil daran hatte, das Rosenkranzgebet von einer eher obskuren geistlichen Übung des Spätmittelalters zu einem nachhaltig wirksam bleibenden katholischen Massenphänomen zu transformieren. einarbeiten konnte. Ebd. findet sich auf S. 6 - 14 auch eine ausführliche Besprechung des Forschungsstands zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen. Besonders relevant sind für den Blick auf die frühen Rosenkranzbruderschaften neben Ranachers Arbeit die Studien von Gilles Gerard Meersseman: Ordo Fraternitatis. Le antiche confraternite domenicane. Continuazione, Freiburg 1977 (Italia sacra 26); Wolfgang Kliem: Die spätmittelalterliche Frankfurter Rosenkranzbruderschaft als volkstümliche Form der Gebetsverbrüderung, Diss. Frankfurt a. M. 1963; Jean-Claude Schmitt: La Confrérie du Rosaire de Colmar (1485): Textes de fondation, exempla en Allemand d ’ Alain de Roche, liste des Prêcheurs et des Soeurs dominicaines, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 40 (1970), S. 103 - 124; Klaus Militzer: Laienbruderschaften in Köln - Eine Einführung, in: Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1563/ 63, bearb. v. Klaus Militzer, Bd. 1, Düsseldorf 1997 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 71); Henri Dominique Saffrey: La fondation de la Confrérie du Rosaire à Cologne en 1475. Histoire et iconographie, in: Gutenberg Jahrbuch 76 (2001), S. 143 - 164; Stefan Jäggi: Rosenkranzbruderschaften: Vom Spätmittelalter bis zur Konfessionalisierung, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 91 - 105; Siegfried Schmidt: Die Entstehung der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475, in: Der heilige Rosenkranz. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln zum Rosenkranzjahr 2003, hg. v. Heinz Finger, Köln 2003 (Libelli Rhenani 5), S. 45 - 62. 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur 101 <?page no="102"?> Immer wieder wird dabei der Blick auf die Texte zeigen, wie sich im Rosenkranz Momente der vertikalen Apostrophierung des Transzendenten im zählenden Wiederholungsgebet, der immersiven Lektüre, die auf die horizontal-vergegenwärtigende Herstellung einer inneren Evidenz des Heiligen zielt, sowie der imaginativen Herstellung einer dinglich-konkreten Figuration der Frömmigkeitspraxis verbinden und ergänzen. Denn das Beten einer Reihe von Ave Maria, so der Wirkanspruch früher Rosenkranzübungen, verdichtet sich zum geistlich produzierten Blumenkranz, der als Figura nicht allein ein allegorisch bedeutsames oder diagrammatisch nutzbares Bild darstellt, sondern »als konkrete Gabe vorgestellt« ist und als solche auch veräußert werden kann. 8 Zugleich stimuliert diese Gebetsform, die stets auch mit der Hoffnung auf eine gnadenhafte Gegengabe verbunden ist, ein Eintauchen in einen »innere[n] Bildraum [ … ], der mit den Bildern des historischen Geschehen der Heilsgeschichte angefüllt werden soll« und »in dem die Bilder des Heils ihre Wirkung entfalten«. 9 Geleitet und präfiguriert wird dies zumeist von schriftlichen Gebetsübungen wie dem Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen und ihren Paratexten. Diese Texte entfalten hierbei eine auratisierte Medialität, die, mit Christian Kiening gesprochen, »beansprucht, das, auf das sie sich bezieht, zugleich hervorzubringen« beziehungsweise ihm Augenscheinlichkeit zu verleihen. 10 Die Trias aus einer repetitiven Quantifizierung der rhetorisch geformten Hinkehr zum Heiligen, die gleichsam eine Immersionserfahrung anregt und darin auf die geistliche Produktion des Figuralen abhebt, stellt kein idiosynkratisches Merkmal allein der Rosenkranztradition dar. Vielmehr kann diese Gebets- und Andachtsübung zumindest in Teilen als Leitmodell auch für verwandte Frömmigkeitspraktiken und Texttraditionen wie beispielsweise die verbreiteten Marienkronen oder die unten genauer besprochenen Mantelgebete und Seelenhäuser betrachtet werden. 11 Eine Untersuchung des Rosenkranzgebets bietet in diesem Rahmen somit zweierlei Chancen: Einmal erlaubt sie, diese recht bekannte Gebetsform und die sie informierenden textuellen Wirkungsästhetiken in einen literaturebenso wie frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext einzubetten und so zu veranschaulichen, dass es sich hierbei nicht um eine singuläre Ausnahmeerscheinung, sondern vielmehr um ein Teilstück einer umfassenderen Gebetskultur des ausgehenden Mittelalters handelt. Zusätzlich kann der Rosenkranz anschließend jedoch auch als Erklärungsmuster und Vergleichsfall für die weniger bekannten Textkorpora dienen, mit denen sich die beiden Folgekapitel dieser Arbeit beschäftigen. Bevor allerdings mit diesem Unterfangen begonnen werden kann, steht zunächst eine Definitionsfrage im Raum: Was ist überhaupt ein › Rosenkranz ‹ ? Wie Anne Margreet W. As-Vijvers ausführt, erweist sich der gegenwärtige Sprachgebrauch im Deutschen ebenso wie im Englischen hierbei als mehrdeutig: »The rosary is not only a kind of prayer exercise, but the word also refers to the chain of beads used while reciting this prayer, as 8 Lentes 1993, S. 125. 9 Lentes 2002, S. 180. 10 Kiening 2007, S. 31. 11 Auch die Verbindung von mehr oder minder organisiert kollektivierender Frömmigkeit, intensivpersönlichem Privatgebet und gleichzeitiger leistungsökonomischer Quantifizierung ist kein Alleinstellungsmerkmal der Rosenkranztradition, sondern wird in den in dieser Arbeit betrachteten Texten immer wieder auftauchen. 102 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="103"?> well as a garland made of roses, which is both the factual and the symbolic result of praying the exercise.« 12 Das lateinische Wort rosarium trägt ursprünglich keine dieser drei Bedeutungen. In der Literatur der römischen Antike meint es schlicht einen Blumen- oder Rosengarten. Ovid zum Beispiel kann in diesem Sinne in den Tristia schreiben, es laste ein so bedrückendes Unglück auf ihm, wie sich litora quot conchas, quot amoena rosaria flores fänden. 13 Das lateinische Mittelalter verstand den Begriff zunächst ganz in diesem Sinn, verwendete ihn darüber hinaus jedoch auch zur Bezeichnung von Florilegien und sonstigen literarischen › Blütenlesen ‹ . 14 Als »Bezeichnung für die Gebetskumulation« hingegen erscheinen Worte wie rosarium und rosen crantz, wie Hans-Georg Richert in einer kurzen Abhandlung zur Genese dieses Lexems aufzeigt, »zum erstenmal im Ausgang des 13. Jahrhunderts« und sind eng mit dem Mirakel Marien Rosenkranz verknüpft, auf das ich im Anschluss eingehe. 15 Die Perlenschnur, die auch im Mittelalter beim Beten einer Reihe von Standardtexten regelmäßig verwendet wurde, ist deutlich älteren Ursprungs. 16 Derartige Zählgeräte kennen die meisten Weltreligionen, und auch im Christentum tritt die Gebetskette bereits früh als Hilfsinstrument für unterschiedlichste Gebets- und Meditationspraktiken auf. 17 Als › Rosenkranz ‹ wurde diese materielle Andachtshilfe in Mittelalter und Früher Neuzeit freilich kaum bezeichnet - bis ins 17. Jahrhundert hieß sie zumeist › Paternoster ‹ . 18 Dies 12 Anne Margreet W. As-Vijvers: Weaving Mary ’ s Chaplet: The Representation of the Rosary in Late Medieval Flemish Manuscript Illumination, in: Weaving, Veiling, and Dressing: Textiles and their Metaphors in the Late Middle Ages, hg. v. Kathryn M. Rudy u. Barbara Baert, Turnhout 2007 (Medieval Church Studies 12), S. 41 - 79, hier S. 46. 13 »so viele Muscheln am Strand, so viele Blumen in den lieblichen Rosengärten«, Ovid: Tristia. Ex Ponto, hg. u. übers. v. Arthur Leslie Wheeler, Harvard/ London 1939 (Loeb Classical Library), S. 214 [Tristia V. 2,23]. 14 Vgl. Robert Black: Ovid in Medieval Italy, in: Ovid in the Middle Ages, hg. v. James G. Clark, Frank T. Coulson u. Kathryn L. McKinley, Cambridge 2011, S. 123 - 42, hier S. 133. Zur Verwendung im Sinne von › Blütenlese ‹ siehe Scherschel 1979, S. 91. 15 Hans-Georg Richert: Rosenkranz, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 21 (1965), S. 153 - 159, hier S. 153. Richert kann nicht recht feststellen, wo der Begriff zuerst auftaucht, hält aber fest, dass lateinische Bezeichnungen wie rosarium, sertum, capeletum, capellus rosarum, capellus beatae virginis usw. für eine Gebetsform im 13. Jahrhundert zumindest noch nicht verbreitet waren, ebd., S. 154 f. Wahrscheinlich entstehen sie ungefähr gleichzeitig mit dem volkssprachigen Begriff. 16 Zum gezielt hergestellten Prachtgegenstand wird diese Schnur im Hochmittelalter: »Von den Anfängen einer individuellen Gebetshäufung wandelt sich das Gebet zum geregelten Reihengebet. Aus der zufälligen und persönlichen Anfertigung des Gebetszählgerätes kommt es zu einer organisierten Herstellung. Nachrichten lassen vermuten, daß im 11. und 12. Jahrhundert die Gebetszählschnur unter Umständen eine Veränderung ihrer Bedeutungsstruktur erfuhr, daß sie etwa aus Edelsteinen gefertigt, als Nachlaß vergeben werden konnte« (Gislind Ritz: Der Rosenkranz, in: 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976], S. 51 - 101, hier S. 62). Dieser Artikel ist im Sinne einer Zusammenfassung eng angelehnt an die leider nur als Typoskript erschienene Dissertation von Gislind Ritz: Die christliche Gebetszählschnur. Ihre Geschichte - ihre Erscheinung - ihre Funktion, Diss. München 1955. 17 Einen Überblick gibt, wenn auch in methodisch veralteter Form, Willibald Kirfel: Der Rosenkranz. Ursprung und Ausbreitung, Walldorf-Hessen 1949 (Beiträge zur Sprach- und Kulturgeschichte des Orients 1). 18 Vgl. Urs-Beat Frei: Der Rosenkranz/ die Andachtskette als Attribut von Heiligen. Grundsätzliche Überlegungen zur Bezeichnung des Objekts › Rosenkranz ‹ sowie drei Thesen zu Bruder Klaus, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 183 - 193, hier S. 185 - 187. 1 Zur Einführung: Der Rosenkranz im Kontext spätmittelalterlicher Gebetskultur 103 <?page no="104"?> kreiert eine semantische Schwierigkeit, denn wenn in spätmittelalterlichen Texten vom › Rosenkranz ‹ die Rede ist, dann meint dies fast immer die Gebetspraxis, den ihr zugrundeliegenden Text oder ihr imaginiertes Produkt, zumeist aber nicht die Perlenschnur. Letztere taucht dort wenn überhaupt nur als Hilfsinstrument für die instruierte geistliche Übung auf, 19 bildet im heutigen Sprachgebrauch aber geradezu die Kernbedeutung des Wortes › Rosenkranz ‹ . Dies macht es nötig, terminologisch unmissverständlich zwischen dem Rosenkranzgebet und einem dabei optional verwendeten Objekt zu trennen. 20 Wenn daher folgend von einem › Rosenkranz ‹ die Rede ist, so bezieht sich dieses Wort ausschließlich auf die Gebetsübung oder den als ihr Produkt entstehenden geistlichen Blumenkranz. Auf derartige im Geiste figural konkretisierte Kränze und ihre Bedeutung für die entsprechenden Imaginations- und Andachtsübungen wird besonderes Augenmerk zu legen sein, insbesondere, da sie für das Rosenkranzgebet in seiner heutigen Form keine Rolle mehr spielen. Denn dieses ist, wie Andreas Heinz zusammenfasst, wie folgt definiert: Rosenkranz meint in seiner seit Pius V. (1569) kirchenamtlich geregelten Form [ … ] eine in Zehnergruppen gegliederte Reihe von 150 Ave Maria [ … ], wobei jede Dekade von einem Vaterunser eingeleitet und mit der Doxologie › Ehre sei dem Vater ‹ beschlossen wird. Wesentlich gehört zu dem so gegliederten Wiederholungsgebet die gleichzeitige Betrachtung der › Geheimnisse ‹ . Ihr Inhalt ist das in einzelne Heilsereignisse aufgefächerte Mysterium der erlösenden Menschwerdung, der Passion und der Erhöhung des Sohnes Gottes. 21 Diese Gebetsweise stellt grundsätzlich ein Artefakt der Gebetbuchliteratur und Frömmigkeitskultur des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit dar. Freilich hat sie, wie die folgenden Betrachtungen herauszeichnen, zwischen ihren ersten Erwähnungen um 1300 und ihrer Fixierung im 16. und 17. Jahrhundert sowohl formal als auch bezüglich ihrer motivischen Schwerpunktsetzungen mehrere Transformationen durchlaufen. Anders als die große und vergessene Masse vergleichbarer Übungen eignet ihr dabei jedoch eine erstaunlich widerständige und in der katholischen Gebetspraxis andauernde longue durée. Der Rosenkranz ist darin als Produkt eines langwierigen Prozesses zu begreifen, der im späteren Mittelalter seinen Ausgang nahm und aus dem das folgende Kapitel mit besonderem Augenmerk auf die dabei zur Wirkung kommenden Textmedien einige Episoden in den Blick nimmt. 19 So ist im Tractatus apologeticus häufiger von der corona die Rede, die beim Beten benutzt werden kann, und die Holzschnitte des Ulmer Rosenkranzdrucks von 1483 zeigen entsprechende Gebetsketten. Diese sind hier jedoch schlicht als Hilfsmittel einer gezählten Frömmigkeit porträtiert; vgl. dazu ausführlicher unten, Kap. II.4.3. 20 Urs-Beat Frei zeigt präzise die Notwendigkeit einer solchen Trennung auf (vgl. Frei 2003, S. 185 - 187). 21 Andreas Heinz: Art. Rosenkranz. II. Im Christentum, in: TRE 29 (1998), S. 403 - 407, hier S. 403. 104 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="105"?> 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit Dass die frühen Rosenkranzgebete und -andachten auf der Vorstellung aufbauten, »dass sich das Gebet auf Erden im Himmel zu Rosen und Kränzen für die Heiligen materialisierte«, wurde in der Forschung vor allem durch Thomas Lentes wiederholt angemerkt. 22 Hierbei ist das Motiv des Heiligenkranzes neutestamentlich begründet: Wer heiligmäßig lebe, so der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief, wetteifere ähnlich den sich körperlich anstrengenden Athleten um einen Siegespreis, »jene freilich, um einen vergänglichen Kranz zu erhalten, wir aber einen unvergänglichen« (I Cor 9,25). 23 Teils in Abgrenzung zu vorchristlichen Bräuchen und teils, da diese Ehrenkränze den Heiligen eben von Gott und nicht von menschlicher Hand verliehen werden sollten, lehnten die frühen Christen ein Bekränzen von Heiligenbildern jedoch zumeist ab. 24 Dies wandelte sich zum Mittelalter hin entscheidend. Nun wurde einerseits problemlos auch in religiösen Kontexten materieller Blumenschmuck dargebracht, 25 andererseits aber entwickelte sich zunehmend eine Frömmigkeitspraxis, in deren Rahmen die Gläubigen durch Gebete nicht nur Blumen ersetzten, sondern sie auch in sublimierter Form figurierten. Den sprachmedialen Verfahren sowie den ihnen zugrundeliegenden Narrativen, mit deren Hilfe schriftliche Gebets- und Andachtsübungen ein intensiviertes Imaginieren einer derartigen Materialisierung des Betens in Form überweltlicher Blumengebinde ermöglichten, sollen die folgenden Ausführungen nachgehen. Ein solches gebethaftes Herstellen geistlicher Gegenstände ist nicht voraussetzungslos. Vielmehr muss es als komplexe, eine Vielzahl von Hilfsmedien nutzende Technik des gleichsam immersiven wie konkretisierenden Vorstellens begriffen werden - wobei die beiden Attribute einen gewissermaßen als doppelwegig zu verstehenden Vermittlungsprozess umschreiben sollen, in dessen Rahmen sich der Betende sowohl selbst in das Heilsgeschehen hineinversetzt als auch das Heilige zu sich in die Welt hineinzuholen sucht. Dem in der Imagination angefertigten Blumenkranz kommt dabei eine Art Scharnierfunktion zu zwischen der Frömmigkeitspraxis des Betens und seiner dinglichen Manifestation im Himmel, zwischen der äußeren Umwelt der Gläubigen und ihrem inneren Bezug aufs Überweltliche, zwischen dem intendierten Eintauchen des immanen- 22 Thomas Lentes: Bildertotale des Heils. Himmlischer Rosenkranz und Gregorsmesse, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 69 - 89, hier S. 77. Wegweisend ist zu dieser These der Beitrag von Lentes 1993. 23 illi quidem ut corruptibilem coronam accipiant nos autem incorruptam. 24 Vgl. umfassend Karl Baus: Der Kranz in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung Tertullians, Bonn 1940 (Theophaneia 2); sowie mit Bezug auf Baus Lentes 1993, S. 121 f. 25 So gibt beispielsweise Johanna von Orleans in ihren Verhörprotokollen an, sie habe regelmäßig Kränze für ein Marienbild in Domrémy geflochten und dargebracht, was ihr und den Verhörführenden offenbar als gängige Frömmigkeitspraxis galt. Siehe Ruth Schirmer-Imhoff (Hg. u. Übers.): Der Prozeß der Jeanne d ’ Arc. Akten und Protokolle 1431 - 1456, München 1978, S. 26 f. Auch Henk van Os führt aus: »The custom of decorating and dressing images was unknown in the early church, but had become accepted practice in the Middle Ages« (Henk van Os: The Art of Devotion in the Late Middle Ages in Europe. 1300 - 1500, Princeton 1994, S. 170). <?page no="106"?> ten Andächtigen in die transzendente Wirklichkeit und dem Einfließen der Transzendenz ins Immanente. In dieser Grundidee des inneren Produzierens eines Welt und Himmel verbindenden geistlichen Dings fügt sich die Tradition des Rosenkranzes ein in ein großes Korpus vergleichbarer Andachtsübungen des › handwerklichen Betens ‹ , die, mit den Worten Jeffrey F. Hamburgers, auf einen für moderne Leser oftmals befremdlichen »process [ … ] of prayers crystallizing into objects« zielen. 26 Obgleich die Forschung angesichts des Sonderstatus, den der Rosenkranz innehat, oftmals dazu tendiert, ihn abgelöst von seinem Entstehungsumfeld zu betrachten, scheint eine Kontextualisierung dieser Frömmigkeitsübung in der Gebets- und Andachtskultur des Spätmittelalters gerade in Hinblick auf die ihr zugrundeliegende Vorstellung der gebethaften Gabenfertigung doch nötig. Dementsprechend gilt es erstens, einen Blick sowohl auf die frühen Texte des Rosenkranzbetens als auch auf die ihnen vorgängigen Narrativierungen einer solchen Frömmigkeitspraxis der betenden Fertigung geistlicher Dinge zu lenken. Die Verbindungen zu den unten untersuchten › handwerklichen Gebetsübungen ‹ werden so augenscheinlich. Zweitens benötigt in diesem Zuge auch die all diese Texte fundierende Vorstellung eines über die Sphäre der menschlichen Imagination hinausgehenden Realitätsstatus gebeteter Gegenstände genauere Untersuchung und Explikation. In der Binnenperspektive entsprechender geistlicher Übungen wird den im, durch und aus Gebeten imaginativ hergestellten Blumenkränzen in Abgrenzung sowohl zu materiellen Dingen der äußeren Welt als auch zu inneren Bildern, die als auf den mentalen Apparat des Denkenden begrenzt vorgestellt sind, eine dritte Wirklichkeitsform zugewiesen, die gewissermaßen zwischen den Kategorien des empirisch wie faktisch Gegebenen und des gedanklich Gegenwärtigen schwebt. In diesem Sinne stellen Blumenkränze, die in der Immersion in einen sprachlich evozierten Wahrnehmungsraum der Gegenwart Christi und Marias hergestellt werden, geistliche Figurationen des Betens dar, die zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, Gegenstand und Vorstellung, Zeichen und Bezeichnetem, ja »zwischen Ereignis und Medium« oszilllieren. 27 Dabei stehen gebethaft gefertigte Dinge nicht für sich, sondern sind Teil einer komplexen Kette von Vor- und Nachbildungen: In ihnen erfüllen sich das Frömmigkeitshandeln der Gläubigen ebenso wie die Vorgaben des Texts und die Verheißungen der Schrift, wobei sie jedoch gleichzeitig wiederum ein himmlisches Heil präfigurieren, dessen Teilhaftigkeit im Gebet gesucht wird. Aus der Außenperspektive einer wirkungsästhetisch orientierten Literaturwissenschaft hingegen ist es möglich, derartige Produkte des › handwerklichen Betens ‹ als virtuelle Gegenstände zu fassen. › Virtualität ‹ meint in diesem Kontext eine »quasi-wirkliche, nachgebildete Wirklichkeit«, die »den Schein des Bildseins verneint« und darum als identisch mit dem Abgebildeten erfahren wird. 28 Ein virtueller Gegenstand in diesem Sinne ist also phänomenal ebenso wie in Hinblick auf seine Effekte und Gebrauchsmöglichkeiten vor- und zuhanden, ohne hierbei jedoch seiner Substanz nach gegenwärtig oder überhaupt existent sein zu müssen. Die Erzeugung virtueller Wirklichkeit ist als Folge jener »Praxis des Neuwebens der Wahrnehmung mittels einer materialen, immer 26 Hamburger 1997, S. 75. 27 Largier 2013, S. 67. 28 Vaihinger 1997, S. 21. Siehe dazu auch die Diskussion des Virtualitätsbegriffs oben, S. 74. 106 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="107"?> auch rhetorisch-strategischen Mimesis« zu verstehen, 29 deren Wirkung auf die Leser von Gebets- und Andachtstexten ich als Prozess der Immersion zu fassen versuche. 30 Nun aber ergibt sich ein solches Verständnis der Produkte eines › handwerklichen Betens ‹ erst durch einen analytischen Außenblick auf entsprechende Texte und die Modalitäten ihres Vollzugs - den intendierten Rezeptionseffekten auf ihr spätmittelalterliches Publikum entspricht es nicht. Denn wie die folgenden Kapitel in unterschiedlichen Spielarten beleuchten, werden gebetete Gegenstände in der geistlichen Literatur des ausgehenden Mittelalters nicht bloß als Virtualisierungen (und damit als tendenziell defizitäres Surrogat) ihrer physischen Gegenstücke begriffen, sondern vielmehr als ins Geistige überführte und dadurch mitunter sogar höherwertige Sublimierungsstufen ihrer materiellen Präfigurationen. Theoretisiert und mit einem kennzeichnenderweise oftmals typologisch hergeleiteten theologischen Fundament versehen wird diese Vorstellung einer überstofflichen Dinglichkeit des Gebeteten vor allem bei Dominikus von Preußen. 31 Aus der Binnenperspektive mittelalterlicher Gebets- und Andachtsübungen geht dies über einen Anspruch auf › Virtualität ‹ hinaus, präsentieren diese Texte ihre Wirkungen doch nicht als Nachbildung des Realen oder als › Quasi-Realität ‹ , sondern vielmehr als Schau oder gar Schaffung eines evident werdenden Überwirklichen. Ein derart konzeptualisierter Status gebeteter Dinge kann, so möchte ich vorschlagen, am ehesten als › geistliche Konkretheit ‹ begriffen werden, die gleichsam im Kontrast wie auch in hierarchisierter Analogie zu › physischer Konkretheit ‹ oder Stofflichkeit zu denken ist. 32 Den Kern dieses Begriffs bildet dabei die dem Wort etymologisch zugrundeliegende Metapher. Abgeleitet vom lateinischen concrescere, das in ungefähr mit › verdichten, gerinnen, verhärten, erstarren ‹ zu übersetzen ist, 33 bezeichnet › Konkretheit ‹ grundlegend etwas, das sich in einem Prozess der evidenzschaffenden Figuration bis hin zur Möglichkeit des unmittelbaren oder unmittelbar scheinenden Anschauens und Verfügens verdichtet oder verfestigt hat. Für diese Metapher ist es zunächst zweitrangig, ob als Ausgangsstoff solcher Verfestigungen Blumen, Fasern und Atome oder Texte, Wörter und Gedanken dienen - auf unterschiedlich qualifizierte Weise können daher gebethaft 29 Largier 2018, S. 16. 30 Marie-Laure Ryan beispielsweise versteht immersives Lesen grundsätzlich in diesem Sinn als Herstellung virtueller Realitätserfahrung, d. h. als »mental simulation [that] goes far beyond the attribution of thought to characters; it creates a rich sensory environment, a sense of place, a landscape in the mind« (Ryan 2001, S. 112). 31 So vor allem im Pallium beate Marie virginis, siehe unten, Kap. III.3.1. 32 Ich lehne mich in dieser Formulierung an Erich Auerbach an, der eine »unerhörte Konkretheit und Intensität der eschatologischen Vorstellungen«, die sich in der »Geschichte Christi« manifestieren, gerade in jener »Evidenz des Dargestellten« sah, die durch das sprachliche Medium mimetisch evoziert werde und sich schließlich hin zu einer profanierten »Evidenz der poetischen Wirklichkeit« entwickle (Auerbach 2001, S. 21, 6 und 212). Niklaus Largier versteht das Konkrete dementsprechend mit Auerbach als »etwas, das sich mit partikularen Momenten nicht der Referenz, sondern der Attraktion und Absorption im Akt des Lesens verbindet« (Largier 2 2018, S. 45). Hierin klingen vordergründig Momente des Immersiven an, die von einer Konkretheit des Dargestellten ausgelöst werden. Zugleich ist in diesem Kontext aber auch eine Konkretheit des Wahrnehmungsereignisses und seiner wirklichkeitshaften Folgen mitzudenken, auf die ich mich folgend vornehmlich beziehe, wenn ich von geistlich-konkreten Gegenständen spreche. 33 Georges 1998, Bd. 1, Sp. 1410. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 107 <?page no="108"?> hergestellte geistliche Gegenstände im Vergleich mit materiellen Gegenständen der empirischen Welt als ebenso konkret oder sogar noch konkreter verstanden werden. 34 Was die Vorstellung des Flechtens von demgemäß geistlich-konkreten Blumenkränzen aus in Reihe dargebrachten Ave Maria betrifft, so nimmt sie, ähnlich wie die später behandelte Idee einer geistlichen Anfertigung von Kleidern für Maria und andere Heilige, zumindest ihren Ausgang nicht in der Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters. Vielmehr lässt sie sich zunächst in Mirakelerzählungen und Visionsberichten belegen, also in Textgattungen, die dem Programm einer mit in der Glaubenslehre fundiertem Wahrheitsanspruch verbundenen narrativen Darstellung folgen, für das Elke Koch zuletzt den Begriff des »fidealen Erzählens« vorgeschlagen hat. 35 So wird vom Rosenkranz als gebetetem Blumenschmuck zuerst in dem gegen Ende des 13. Jahrhunderts niedergeschriebenen Mirakel Marien Rosenkranz erzählt. 36 Derartige Mirakel stellen, wie Siegfried Ringler definiert, der Heiligenlegende verwandte Texte dar, für die allerdings nicht »die Person des Heiligen im Mittelpunkt« steht, »sondern das Wunder«. 37 Das Wunder, von dem das fragliche Mirakel, das folgend genauer analysiert wird, berichtet, besteht nun in eben jener Transformation der Gebete zum Blumenkranz, die auch die Gläubigen des Spätmittelalters, die den Rosenkranz praktizierten, innerlich forcierten. Diese in späteren Texten immer wieder betonte Herkunft aus der Sphäre des Mirakulösen ist fundamental bedeutsam für das Verständnis der Rezeptionsangebote, die Rosenkranztexte im Spätmittelalter entfalteten. 34 Vgl. dazu die Vorüberlegungen in meinem Artikel Björn Klaus Buschbeck: Producing Spiritual Concreteness: Prayed Coats for Mary in the German Late Middle Ages, in: Things and Thingness in European Literature and Visual Art, 700 - 1600, hg. v. Jutta Eming u. Kathryn Starkey, Berlin/ Boston 2022 (Sense, Matter, and Medium 7), S. 65 - 90. 35 Vgl. Elke Koch: Fideales Erzählen, in: Poetica 51.1/ 2 (2020), S. 85 - 118. Koch schlägt vor, die in der Erzähltheorie häufig angenommene Dichotomie von faktualem und fiktionalem Erzählen aufzubrechen und für religiöse Texte einen (weitere Modelle des Erzählens ausdrücklich nicht ausschließenden) Begriff des fidealen Erzählens anzusetzen: »Religiöse Texte sind weder als › faktual ‹ noch als › fiktional ‹ zu beschreiben; die Begriffsopposition ist nicht mit Blick auf solche Texte gebildet worden und sie geht an ihren Bedingungen vorbei« (ebd., S. 92). Unter › fidealem Erzählen ‹ versteht Koch dabei ein »Erzählen aus dem Glauben heraus, um Glauben zu erzeugen oder zu stärken, und zwar im Sinne einer existenziellen Vertrauenshaltung auf etwas, das man nicht wissen kann, oder über das man jedenfalls nicht so verfügen kann, wie über irgendeinen anderen Wissensbestand« (ebd., S. 100). Der eminente Wahrheitsanspruch fidealer Erzählungen begründe sich deshalb, anders als bei faktualen Texten, nicht in einer Entsprechung zur empirischen oder sonstig wissbaren Weltwirklichkeit, »sondern als Entsprechung zur Glaubenslehre, die für gültig gehalten wird, oder auch zur anderweitig (noch) nicht abgesicherten › Glaubenswirklichkeit ‹ , in der z. B. ein Wunder ein Wunder ist« (ebd., S. 105). Für die folgend betrachteten Mirakeltexte, die mit dem Rosenkranz- und Marienmantelbeten eng verknüpft sind und dabei auch narrativ mit religiösem Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch verbundene Vorbilder für eine entsprechende historische Frömmigkeitspraxis und den Horizont ihrer Heilserwartung entwerfen, scheint Kochs Begriffsbildung geradezu maßgeschneidert. 36 Siehe dazu einführend Ulla Williams: Art. Marien Rosenkranz, in: 2 VL 5 (1985), Sp. 1278 - 1280 u. 2 VL 11 (2004), Sp. 969; sowie die ausführliche Diskussion unten. 37 Siegfried Ringler: Zur Gattung Legende. Versuch einer Strukturbestimmung der christlichen Heiligenlegende des Mittelalters, in: Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, hg. v. Peter Kesting, Würzburg 1975 (Würzburger Prosastudien 2), S. 255 - 270, hier S. 269. 108 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="109"?> 2.1 Ein Wunder als Ursprungserzählung: Gebetsblumen im Mirakel Marien Rosenkranz Seinen für die Entstehung des Rosenkranzgebets ausschlaggebenden Clausulae, die unten in den Fokus rücken, fügte der Kartäuser Dominikus von Preußen zumindest in der Fassung, die dem zweiten Teil seines 1458 fertiggestellten, semiautobiografischen Liber experientiae angehängt ist, 38 eine kurze Ursprungserzählung dieser Gebetsweise bei. Diese Erzählung fungiert als erklärender Paratext zum Leben-Jesu-Rosenkranz, der im Grunde eine Passionsmeditation aus 50 Ave Maria mit je entsprechenden Betrachtungspunkten darstellt. 39 Dominikus überschreibt sie mit den Worten: Qualiter Rosarium praedictum imprimis ortum habuerit, Exemplum sequens indicat. 40 Erzählt wird in knapper lateinischer Prosa von einem Mönch, der nach seinem Eintritt ins Kloster die liebgewonnene Gewohnheit, täglich eine Marienstatue mit einem Blumenkranz zu schmücken, aufgeben muss und deshalb anfängt, ihr aus je 50 Ave Maria gefertigte imaginierte Kränze zu sprechen, die der Gottesmutter sogar super omnia materialia serta gefallen. 41 In einer Vision sehen schließlich zwei Räuber, die ihm im Wald auflauern, wie sich die von dem Mönch gesprochenen Gebete als tatsächliche Rosen manifestieren und von Maria entgegengenommen werden. Dieses Gebetswunder, ut legitur divulgato, sei der Beginn des Rosenkranzbetens gewesen, das Dominikus mit seinen Klauseln in eine neue, der Passion Christi zugewandte Form gebracht habe. 42 Die so wiedergegebene Geschichte geht zurück auf das seit dem 13. Jahrhundert in Schriftform fassbare Marienmirakel vom Mönch mit den Rosenkränzen. Wie Nancy Vine Durling feststellt, handelt es sich hier um »a story widely known in the Middle Ages: Latin, French, Galician-Portuguese, and German versions, dating from 1200 to 1600, are extant.« 43 So druckte Joseph Dobner neben zwei deutschen auch eine französische und sieben lateinische Versionen des Mirakels ab, ohne dabei jedoch eindeutige textgenetische 38 Der maßgebliche Textzeuge ist hier Trier, Stadtbibl., HS. 751/ 299, wo sich die entsprechende Mirakelerzählung auf fol. 180r findet. Der Text ist nach dieser Handschrift abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 198 - 202; sowie in zuverlässigerer Form in der leider ohne Register, Apparat oder Übersetzung erschienenen Ausgabe Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, hg. v. James Hogg, Alain Girard u. Daniel Le Blévec, Salzburg 2013 (Analecta Cartusiana 283,2), S. 355 - 363. 39 Unter einem Paratext verstehe ich in Anlehnung an Gérard Genette ein textuelles »Beiwerk«, das dem Leser hinsichtlich seines Bezugstexts »die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet«. Paratexte lassen sich dabei unterteilen in Peritexte, die in direktem Überlieferungszusammenhang mit dem Text stehen, von dem sie abhängig sind, sowie in Epitexte, die von ihm getrennt disseminieren. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, mit einem Vorwort v. Harald Weinrich, aus dem Französischen v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 7 2019, S. 10. Als Paratexte des Betens überlieferte Mirakel können beide dieser Rollen einnehmen. 40 »Wie der besagte Rosenkranz seinen ersten Anfang nahm, zeigt das folgende Exempel«, Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 361. 41 »besser als alle stofflichen Kränze«, ebd. 42 »wie wir gemeinhin [oder: in der Volkssprache] lesen«, ebd. 43 Nancy Vine Durling: Li Miracles del capiel de roses. A Heretofore Unpublished Marian Miracle, ca. 1250, in: Medievalia et Humanistica 38 (2012), S. 1 - 20, hier S. 2. Für weitere Literaturangaben zur Überlieferung der verschiedenen Versionen des Mirakels in unterschiedlichen Volkssprachen siehe ebd., S. 16 f. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 109 <?page no="110"?> Abhängigkeiten ausmachen zu können. 44 Nicole Eichenberger schlägt daher schlüssig vor, hier von der für geistliche Kleinepik häufigsten Überlieferungssituation auszugehen, in der ein Stoff zwar »allgemein bekannt und im literarischen Referenzrahmen verankert ist, aber keine engere Verwandtschaft zwischen den einzelnen Ausformungen festgestellt werden kann«. 45 In jedem Fall prädatiert diese Erzählung die Niederschrift von Rosenkranzgebeten und war im Abfassungszeitraum der Trierer Rosenkranzklauseln bereits europaweit verbreitet. Im deutschsprachigen Raum ist der Erzählstoff vom Mönch mit den Rosenkränzen für das späte 13. Jahrhundert vor allem in Form von zwei eng verwandten kleinepischen Verserzählungen fassbar. Von einer entsprechenden wunderbaren Transformation von Gebeten zu Blumen berichten erstens der zumeist eigenständig überlieferte Marien Rosenkranz II sowie zweitens eine meist schlicht als Marien Rosenkranz betitelte Fassung. Letztere ist im Kontext der Marienlegenden des Passional überliefert, der um 1300 entstandenen monumentalen Legendensammlung aus dem literarischen Dunstkreis des Deutschen Ordens. 46 Ein Vergleich mit der späteren Kurzfassung bei Dominikus von Preußen legt nahe, dass er aus dieser deutschsprachigen Tradition schöpfte und die Geschichte gemäß der Version des Passional gekannt haben dürfte, 47 die hier folglich im Zentrum steht. Seiner narrativen Struktur nach stellt Marien Rosenkranz ein gedoppeltes marianisches Konversionsmirakel dar, in dem beide Bekehrungsvorgänge jeweils mit einer wundersamen Begebenheit einhergehen, in der Gebet und Blumenkranz enggeführt werden. Ein junger Schüler, so beginnt die Geschichte, hat trotz seiner Lernfaulheit, durch die aus ihm zunächst ein ribalt / und ein tumber betschelier (MR, V. 24 f.) 48 wird, die fromme Angewohnheit, täglich eine Marienstatue mit einem Kranzgebinde zu schmücken. Schließlich entscheidet er sich konversionshaft, ins Kloster zu gehen. Dort allerdings kann er das Maria gemachte Versprechen, ihr täglich einen Kranz zu flechten, nicht mehr einhalten. 49 Ein älterer Ordensbruder empfiehlt ihm daraufhin, Maria statt der floralen Kränze täglich ein geistliches Gebinde darzubringen, das statt aus Blumen aus 50 Ave Maria bestehen 44 Vgl. Joseph Dobner: Die mittelhochdeutsche Versnovelle Marien Rosenkranz, Leipzig 1928. Dobners weitgehend noch gültige Studie lieferte mit beträchtlichem philologischem Aufwand auch einen detaillierten Fassungsvergleich der deutschen Texte. 45 Nicole Eichenberger: Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters, Berlin/ München/ Boston 2015 (Hermaea 136), S. 109. 46 Vgl. Williams 1985. Das Passional-Mirakel ist in zugänglicher Form ediert bei Hans-Georg Richert (Hg.): Marienlegenden aus dem Alten Passional, Tübingen 1965 (ATB 64), S. 115 - 130 (im Fließtext zitiert als › MR ‹ ). Weiterführend zum Passional siehe Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional, Berlin 2015 (Literatur - Theorie - Geschichte 10); sowie die Neuedition von Annegret Haase, Martin Schubert u. Jürgen Wolf (Hg.): Passional, 2 Bd.e, Berlin 2011 (Deutsche Texte des Mittelalters 91,1/ 2). Einen inhaltlichen Vergleich der beiden deutschsprachigen Verserzählungen liefert Eichenberger 2015, S. 111 f. 47 Die Formulierung ut legitur divulgato impliziert, dass der Autor der Rosenkranzklauseln diese Geschichte in einer volkssprachigen Fassung kannte. Einige Details von Dominikus ’ Zusammenfassung, z. B. das bloße Beten des Mönches im Wald ohne unterstützendes Flechten eines physischen Blumenkranzes, entsprechen dem Mirakel des Passional, unterscheiden sich aber von Marien Rosenkranz II. Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 361. 48 »ein Taugenichts / und ein dummer Jüngling«. 49 Weshalb es einem Mönch nicht möglich sein sollte, täglich Blumen zu pflücken, führt die Erzählung dabei allerdings nicht aus - dies bleibt ein schwach motiviertes oder sogar blindes Motiv. 110 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="111"?> soll. Der Protagonist folgt dieser Empfehlung und nimmt als Folge seines Betens wundersam an Tugend und Weisheit zu. Als er schließlich während einer Reise auf einer Lichtung im Wald seinen Gebetskranz spricht, wird zwei Räubern, die ihm auflauern, eine Marienerscheinung zuteil: Sie sehen, wie aus seinem Mund Rosen wachsen, die eine schöne Dame pflückt und sich zu einem Kranz bindet. Beeindruckt von dieser Vision und den frommen Erläuterungen des Mönchs, den sie um die Bedeutung des Geschauten fragen, treten schlussendlich auch die beiden Räuber in einem zweiten Konversionsereignis ins Kloster ein. Marien Rosenkranz fügt sich damit inhaltlich in ein Korpus von Marienlegenden im und um das Passional ein, deren Thema die wundersame und heilbringende Wirkung des gebeteten Ave Maria ist. Hierzu zählen unter anderem auch das im Folgekapitel genauer analysierte Marienmirakel Heinrichs des Klausners sowie die Legenden von der Rettung des gehängten Diebes oder der Ave-Maria-Lilie, die sich ebenfalls im Passional finden. 50 Im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext des ausgehenden 13. Jahrhunderts sind diese Texte insofern signifikant, als dass sie als Werbung für eine noch recht junge Praxis des Ave- Betens zu lesen sind. Denn anders als das Paternoster, das Credo oder die Psalmen gehört das Ave Maria nicht zum seit frühkirchlicher Zeit verwendeten Basisbestand christlicher Gebetstexte. 51 Der aus dem biblischen Gruß des Erzengels Gabriel in der Verkündigungserzählung (Lc 1,28), den Namenszusätzen › Maria ‹ und › Jesus ‹ sowie den Segensworten der Elisabeth (Lc 1,42) zusammengesetzte Text des Ave Maria entstand vermutlich Ende des 7. Jahrhunderts als Offertorium zum Fest Mariä Verkündigung. 52 Lange Zeit blieb er auf diesen liturgischen Kontext beschränkt. Erst ab dem 11. Jahrhundert beginnen »sich die Zeugnisse für das privat gebetete und häufig wiederholte Ave Maria zu mehren«. 53 Die früheste bischöfliche Verordnung des Ave Maria als Gebetsformel für Laien datiert auf 1198. 54 Im Verlauf des Folgejahrhunderts schließlich etabliert sich das Ave Maria als drittes christliches Standardgebet neben dem Vaterunser und dem Credo. 55 Dass daher im späteren 13. Jahrhundert eine Vielzahl von Legenden und Mirakeln aufkam, die diese Gebetsformel bewerben und ihre heilsvermittelnde Wirkmacht ausstellen, scheint zunächst wenig erstaunlich, fallen diese Texte doch gerade in den Zeitraum einer rasanten Popularisierung des Ave Maria. In diesem ursprünglichen Kontext sind Marien Rosenkranz 50 Zum Marienmirakel Heinrichs des Klausners siehe unten, Kap. III.1, zu den anderen beiden Texten vgl. Richert 1965, S. 35 - 39 u. S. 80 - 84. Allgemein stellt Hans-Georg Richert dabei fest, dass »von den 25 Marienmirakeln« des Passional »allein zehn dieser Absicht«, also dem Lob des Ave-Gebets dienen (ebd., S. 158). Vgl. zur Propagierung des Ave-Gebets in Marienmirakeln um 1300 auch meine Ausführungen in dem Beitrag Björn Klaus Buschbeck: In goldenen Lettern. Gebetete Inschriftlichkeit im Spätmittelalter, in: Literatur und Epigraphik. Phänomene der Inschriftlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Laura Velte u. Ludger Lieb, Berlin 2022 (Philologische Studien und Quellen 285), S. 27 - 52, insb. S. 36 f. 51 Siehe dazu ausführlich Scherschel 1979, S. 49 - 90; Thomas Esser: Geschichte des englischen Grußes, in: Historisches Jahrbuch 5 (1884), S. 88 - 116; sowie F. L. Cross u. E. A. Livingstone (Hgg.): The Oxford Dictionary of the Christian Church, 3. Aufl., Oxford 2005, S. 734. 52 Vgl. D. Lipphardt: Art. Ave Maria. III. Das Ave Maria in der Liturgie, in: Lexikon der Marienkunde I (1967), S. 487. 53 Scherschel 1979, S. 57. 54 Sie stammt von Bischof Odo von Paris; vgl. Beissel 1909, S. 228 f. und Scherschel 1979, S. 65. 55 Ein zuverlässiger historischer Überblick findet sich ebd., S. 56 - 68. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 111 <?page no="112"?> und vergleichbare Mirakel also zunächst als »Propaganda des Avegebetes«, 56 als narrative Vehikel zur Verbreitung der neuen marianischen Standardgebetsformel zu verstehen. Die weitere Wirkungsgeschichte der Erzählung von Marien Rosenkranz jedoch, die sich auch über den Zeitraum der Einführung des Mariengrußes hinaus weiterverbreitete, fokussierte primär auf das Motiv der Entsprechung von zählend aufgesagten Ave-Gebeten und Kränzen, die in konkreter Form vorgestellt und schließlich auf wundersame Weise in der Marienerscheinung auch für die heimlichen Beobachter zur Evidenz werden. Dieses Narrativ des wunderhaften Durchlässig-Werdens der Grenze zwischen inneren und äußeren Gegenständen sowie der Sublimierung des Materiellen durch seine überwirkliche Nachfiguration im Gebet gab ein gutes Jahrhundert nach Niederschrift des Passional einerseits dem Rosenkranzbeten seinen Namen. 57 Andererseits informierte es auch die im Hintergrund dieser Gebetsform stehenden Ideen der frommen Fertigung geistlicher Gaben und lieferte dem individuellen Leser ein narratives Skript für die eigene religiöse Praxis. 58 Wie Hildegard Elisabeth Keller ausführt, vollzieht der Protagonist von Marien Rosenkranz, wenn er der Heiligen Jungfrau als Surrogat für das stoffliche Blumengebinde einen Gebetskranz spricht, innerlich eine »Metamorphose [ … ], welche die Blume im Gebet - als eine wundersame Zeichendoppelung - präsent sein lässt.« 59 Die gebeteten Worte erscheinen dabei allerdings nicht mehr bloß als sprachliche Zeichen, sondern auch als die im Geiste gegenständlich werdende Blumengabe. Immergiert in einen Raum des inneren Wahrnehmens nehmen die eigenen Worte für den Mönch die Gestalt floraler Geschenke an. Hierbei entfalten die gebethaft hergestellten Gebinde eine gleichsam bedeutsame wie präsentische Qualität, die über ihre von Keller primär in den Blick genommene Zeichenfunktion hinausweist. Denn für den Protagonisten des Mirakels sind seine Gebetsblumen nicht allein Zeichen einer gnadenvermittelnden Hinkehr zu Maria, sondern auch der konkrete Gegenstand innerer Erfahrung. Sie besitzen dementsprechend einen Doppelcharakter gleichzeitiger Zeichenhaftigkeit und Gegenwart, der in die Sphäre des Figuralen weist. Erfahrbar für Dritte wird diese Konkretheit des Gebeteten erst dann, wenn sich in der Vision der zuschauenden Räuber wundergleich das »Wort des mit Hingabe betenden Mönchs verselbstständigt, ja materialisiert«. 60 Anstatt dass wie zuvor Blumen durch 56 Dobner 1928, S. 43. 57 Dass der Name des Rosenkranzgebets auf diese Legende zurückgeht, ist in der Forschung allgemein akzeptiert und wurde zuerst nachgewiesen bei Esser 1904 sowie ausführlich in der quellenreichen und trotz ihres historisch distanten Stils immer noch gewinnbringend zu lesenden Studie von Herbert Thurston: The Name of the Rosary II, in: The Month 111 (1908), S. 610 - 623. 58 Mit Niklaus Largier gesprochen hat diese Erzählung damit im Sinne einer exemplarischen Anleitung Teil an einer durch das Rosenkranzgebet stimulierten »Produktion affektiver und kognitiver Konstellationen, die auf zwei Dinge abhebt: das Überschreiten einer als natürlich empfundenen Wahrnehmungs- und Gefühlsordnung einerseits, die Orientierung an exemplarischen Texten und Skripts der Dramatisierung andererseits« (Niklaus Largier: Gloria passionis. Zur Affektkultur der christlichen Mystik des Mittelalters, in: Handbuch Literatur & Emotionen, hg. v. Martin von Koppenfels u. Cornelia Zumbusch, Berlin/ Boston 2016 [Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 4], S. 244 - 260, hier S. 244). 59 Hildegard Elisabeth Keller: Rosen-Metamorphosen. Von unfesten Zeichen in spätmittelalterlichen Texten: Heinrich Seuses Exemplar und das Mirakel Marien Rosenkranz, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 49 - 67, hier S. 62. 60 Ebd. 112 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="113"?> Gebete ersetzt werden, nimmt nun Maria in einer zweiten Transformation Gebete in der Gestalt von Blumen an. Die Trennung zwischen Blume und Gebet, zwischen innerer und äußerer Welt und zwischen Vorgestelltem und Vorhandenem wird in Marien Rosenkranz somit doppelt verwischt durch zwei Ersetzungsszenen, die je einen genaueren Blick erfordern. Bereits zu Beginn des Mirakels gelobt der Protagonist, gezeichnet noch als Schüler, über den es heißt, sin kunst was ungehebe / und an schonen witzen kalt (MR, V. 22 f.), 61 Maria täglich einen Blumenschmuck zu flechten. Derartige religiöse Praktiken des physischen Bekränzens von Marienstatuen sind für das 13. Jahrhundert historisch gut belegt. 62 Gleichzeitig spielt das Motiv des Kranzflechtens und Bekränzens aber auch in der Minnedichtung des deutschsprachigen Mittelalters eine große Rolle. 63 Ob der Dichter des Mirakels hier direkte Anspielungen macht oder bloß Motivähnlichkeiten vorliegen, muss spekulativ bleiben. Wenn jedoch beispielsweise in Marien Rosenkranz geschildert wird, wie der Schüler blumen unde gras / an einen crantz immer las (MR, V. 38 f.), 64 so denken mit der Literatur des Mittelalters vertraute Leser unwillkürlich an jene gebrochen bluomen unde gras aus dem Lindenlied Walthers von der Vogelweide, 65 und auch weitere Formulierungen muten wie Übernahmen aus der höfischen Minnesprache an. Wie ein Minnediener seiner Dame bringt also der Protagonist des Mirakels täglich einem bilde, / gesniten und gehouwen / nach unser lieben vrouwen (MR, V. 52 - 54) 66 prächtige Kränze dar, die er zu jeder Jahreszeit in der Natur zusammensucht. Obgleich er mit sunden vlumen / gewonlich ander sache treib (MR, V. 64 f.), 67 so bleibt er in diesem einen Dienst doch treu und beständig. Auch der genaden stoz (MR, V. 71), der einen epiphanieartigen Sinneswandel auslöst und ihn zum Eintritt in den Zisterzienserorden anspornt, scheint mit der täglichen Kranzdarbringung kausal verbunden. Nun aber kommt es zur Krise: Das Versprechen, Maria täglich einen Blumenschmuck darzubringen, kann im geistlichen Stand nicht mehr eingehalten werden. In der älteren Forschung deutete Dobner dies unter Bezug auf den verwandten Text Marien Rosenkranz II als Zeichen für »eine genaue Kenntnis des zisterziensischen Klosterlebens« beim Autor der Dichtung. 68 Jedoch kann die an Maria gerichtete Klage des Mönches, daz ich dir von tage zu tage / min loben nicht gehalden mac, / als ich hi bevor pflac (MR, V. 116 - 118) 69 auch ohne Rekurs auf die angenommene historische Realität eines von Chorgebet und Arbeit lückenlos ausgefüllten Zisterzienseralltags als final motiviertes Erzählelement gelesen werden. Zentrales Thema nämlich des ersten Teils der Mirakelerzählung ist die Kehre des Protagonisten zu einem geistlichen Leben kraft seiner Hinwendung zu Maria. Eine materialbezogene Frömmigkeitsform 61 »sein Können war grobschlächtig / und verlassen von gutem Verstand«. 62 Vgl. dazu Scherschel 1979, S. 92; sowie oben, S. 105. 63 Vgl. Lentes 1993, S. 122; sowie Winston Allen 1997, S. 82 - 88. 64 »Blumen und Gras / stets für einen Kranz pflückte«. 65 »gebrochene Blumen und Gras«, Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2: Liedlyrik: Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, hg., übers. u. komm. v. Günther Schweikle, Stuttgart 1998 (RUB 820), S. 228. 66 »einer Statue, / geschnitzt oder gemeißelt / als Bildnis Unserer Lieben Frau«. 67 »mit sündiger Geläufigkeit / gewöhnlich andere Dinge trieb«. 68 Dobner 1928, S. 12. Im Original hervorgehoben. 69 »dass ich dir von Tag zu Tag / mein Versprechen nicht halten kann, / wie ich es vorher tat«. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 113 <?page no="114"?> entspricht dabei einem Leben in der Welt - auf dem Weg zur monastischen Innerlichkeit muss sie folglich erhöhend abgelöst werden. Dennoch aber ist das Ablassen vom Kranzflechten für den jungen Mönch zunächst schmerzhaft. Erst im Gespräch mit einem älteren und erfahreneren Bruder, dem er sein Leid klagt, wird ihm ein Ausweg aus dem Dilemma aufgezeigt: Statt wie zuvor Blumen zu sammeln und physische Gebinde zu fertigen, wird dem kurz vor der Verzweiflung stehenden Protagonisten nahegelegt, Maria von nun an doch besser geistliche Kränze aus Gebeten darzubieten. Die Anweisung des alten Mönches, die gewissermaßen den Angelpunkt des Mirakels bildet, ist dabei einerseits für das Verständnis der Erzählung aufschlussreich und war andererseits für seine spätere, die Praxis des Rosenkranzbetens informierende Rezeption folgenschwer: wiltu der wandels vrien, der kunigin Marien, tegelich in edelen sachen ein rosen crentzlin machen und daz mit lobe zieren, so saltuz ordinieren, daz du uber dine tage zit, di dir din regele sprechen git, immer sprechest ie dar na vumfzic Ave Maria, da mite ist das schepil gantz. und wizze, daz si disen crantz vur lilien und vur rosen nimt, wand er ir verre baz gezimt. (MR, V. 183 - 196) 70 Die materiellen Blumenkränze sollen, so lässt sich dieser Ratschlag zusammenfassen, durch Kränze aus Gebeten ersetzt werden. Dabei stellt das geistliche Kranzflechten aus 50 Ave Maria, die hier ausdrücklich als Privatgebet außerhalb der vorgeschriebenen Gebetszeiten gefasst sind, sowohl ein Surrogat für das physische Blumenbinden als auch seine Sublimierung dar. Umschrieben wird diese Verbindung von Ersetzung und Erhöhung durch die prägnante Verwendung des polysemen mittelhochdeutschen vur, wenn es heißt, Maria nehme die Gebete vur lilien und vur rosen an. Da diese Präposition sowohl eine stellvertretende Beziehung wie auch ein Übertreffen oder eine Bevorzugung implizieren kann, 71 muss der Vers gleichzeitig in dem Sinne gelesen werden, dass Maria die Gebete anstatt der Blumen annehme, wie auch dahingehend, dass sie die 50 Ave Maria noch lieber als Lilien und Rosen empfange. Beides ist hier impliziert. Der Akt des Betens ersetzt das Pflücken materieller Blumen, subtilisiert diese ursprünglich veräußerlichend-materialitätsgebundene Frömmigkeitspraxis, indem sie in die Innerlichkeit der aus Sprache und Imagination bestehenden, geistlich-konkrete Form annehmenden Kränze überführt wird, und versteht dies nicht bloß als Entsprechung, sondern sogar als Erhöhung der täglichen 70 »Willst du der Wankellosen, / der Königin Maria, / jeden Tag aus edlem Stoff / einen Rosenkranz fertigen / und diesen mit Lobpreis schmücken, / so sollst du es so einrichten, / dass du zusätzlich zu deinem Stundengebet, / das dir die Ordensregel zu sprechen auferlegt, / im Anschluss stets / 50 Ave Maria sprichst, / damit ist das Schapel vollendet. / Und wisse, dass sie diesen Kranz / anstelle von [oder: lieber als] Lilien und Rosen annimmt, / weil er ihr viel besser ansteht.« 71 Siehe Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1878, Sp. 584. 114 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="115"?> Kranzgabe. Das nuwe schepil (MR, V. 208) 72 aus Gebeten, das der junge Mönch von nun an täglich darbringt, ist ein besserer Dienst an der Gottesmutter als die Gebinde von blumen oder von boumblaten (MR, V. 165 f.), 73 mit denen er ihr vormals aufwartete. Die hier empfohlene Gebetsform, die wie oben beschrieben als Spielart des › handwerklichen Betens ‹ , also als Herstellen einer gleichzeitig zeichenhaft wie gegenständlich imaginierten Konkretisierung des Betens zu verstehen ist, bettet sich ein in den Kontext mehrerer religiöser Diskurse des späteren Mittelalters. So bewegt sie sich im Fahrwasser einer generelleren »Kritik am äußeren Werk«, die in der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ des 14. Jahrhunderts zugespitzt wurde und im ausgehenden Mittelalter sowie der Frühen Neuzeit vielfach in der auch im Kontext der Reformation bedeutsamen Position gipfelte, dass »[r]eligiöse Erfahrung nun [ … ] im Geist, nicht mehr im Fleisch ihren Ort« habe. 74 Auf einer frömmigkeitsgeschichtlichen Ebene werden hier zudem zwei entsprechend interiorisierende Formen religiöser Praxis miteinander verbunden, die in der geistlichen Literatur um 1300 je eine gewichtige Rolle spielen: einerseits das zählende Reihenbeten einer vorgegebenen, zumeist am Psalter orientierten Zahl an Ave Maria, andererseits mentale Techniken einer immersiv wirksamen Betrachtung, das heißt eines vergegenwärtigenden Vorstellens, das hier darüberhinausgehend als Herstellungsvorgang dargestellt ist. 75 »In der spätmittelalterlichen Frömmigkeit«, so führen Arnold Angenendt und Thomas Lentes aus, »war das Zählen geradezu allgegenwärtig. Nicht nur Quantifizieren und Multiplizieren kennzeichnete das religiöse Leben, vielmehr war das Zählen wesentlicher Bestandteil der gesamten Frömmigkeitspraxis.« 76 Dabei gestaltet sich die Rolle des Zählens in Gebet und Andacht vielschichtig. Wie Niklaus Largier aufzeigt, basieren derartige Formen der Quantifizierung erstens auf der Annahme »that through the accumulation of prayers and ascetic acts humans could acquire a trove of grace«. 77 Zweitens folgen sie festen Zahlensymboliken, so dass die Anzahl der verlangten Gebete zum zeichenhaften Element wird. Drittens erlangt das zählende Beten dabei »a specific role, which is intimately connected with the emergence of images and the absorption through images«. 78 Insbesondere letztere Funktion ist für das › handwerkliche Beten ‹ ausschlaggebend, wobei das Rosenkranzgebet als besonders prominente Spielart einer derartigen Stimulation immersiver Erfahrung durch das gezählte Gebet zu begreifen ist, durch die den auf diese Weise produzierten Bildern schließlich sogar der Status geistlichkonkreter Dinge zugesprochen wird. Vertikale und horizontale Medialisierungen münden hier in der als wirklichkeitshaft behandelten Figura des geistlichen Blumengebindes. Einem solchen Rosenkranz kommt im Mittelalter, zumindest bis zur Erweiterung dieser Gebetsform durch Alanus von Rupe (ca. 1428 - ca. 1475), meist entsprechend der Ausführungen in Marien Rosenkranz eine Reihe von 50 Ave Maria gleich. Dabei ist diese Form und Zahl des Reihengebets nicht willkürlich gewählt, sondern lehnt sich an den betenden 72 »neue Schapel«. 73 »aus Blumen oder Baumblättern«. 74 Lentes 1999, S. 32 u. 53. 75 Zum Begriff betrachtung siehe grundlegend Thali 2012. 76 Angenendt u. a. 1995, S. 41. 77 Niklaus Largier: Praying by Numbers: An Essay on Medieval Aesthetics, in: Representations 104 (2008), S. 73 - 91, hier S. 86. 78 Ebd. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 115 <?page no="116"?> Gebrauch der 150 Psalmen im monastischen Offizium an. Zunächst lässt sich die Aufteilung des Psalters in drei Fünfzigergruppen bereits für das spätantike Christentum nachweisen. 79 Frühe, meist aus Paternoster und ab dem 13. Jahrhundert zunehmend auch aus Ave Maria bestehende Gebetsreihen stellten ein hieran orientiertes, vor allem unter Laien verbreitetes Surrogat für das Psalmenbeten der Mönche dar. Sie entsprangen der Notwendigkeit, die Psalmen »zu ersetzen durch ein Wiederholungsgebet, dessen Kenntnis man auch beim einfachsten Gläubigen voraussetzen konnte.« 80 Das Vaterunser oder Ave Maria »ersetzt dabei den Psalm«, dessen Text illiteraten Gläubigen nicht zugänglich war. 81 Ein Gebet aus 50 wiederholten Standardformeln ist dementsprechend als Ersatz für das Abbeten einer Reihe von 50 Psalmen zu verstehen, wie es im monastischen Bereich Tradition hatte. 82 In der Gebetbuchliteratur können »etwa Wiederholungsgebete mit dem Ave Maria als Marianischer Psalter [ … ] oder ähnlich bezeichnet werden«, wobei zumeist 50 oder 150 Gebete verlangt werden. 83 Der Psalter und die damit verbundenen Formen des aufteilenden und zählenden Betens bilden somit die Schablone für Fünfzigergruppen aus Ave Maria, wie sie in Marien Rosenkranz dem Protagonisten als geistliche Kränze empfohlen werden. Dass eine derartige Praxis, die eine vereinfachende Imitation des Stundengebets der Mönche und Kleriker darstellt, unter Laien und Semireligiosen im 13. Jahrhundert zumindest bekannt, wenn nicht gar geläufig war, belegt eine Passage aus dem Dialogus miraculorum des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (ca. 1180 - ca. 1240). Caesarius berichtet dort von einem Inklusen namens Marsilius, der in den 1160er Jahren in Köln gelebt habe und beim Aussprechen des Namens Maria stets eine himmlische Süße habe schmecken können. Gefragt, was es damit denn auf sich habe, führt Marsilius dies auf sein tägliches Beten von gezählten Englischen Grüßen zurück: Singulis diebus in honore eius quinquaginta Ave Maria, cum totidem venis dicere consuevi, per quae tantam dulcedinem merui, ut omnis oris mei saliva orationis tempore in mel videatur conversa. 84 Jenseits der 79 Vgl. Heinrich Schneider: Die Psalterteilung in Fünfziger- und Zehnergruppen, in: Universitas. Dienst an Wahrheit und Leben. Festschrift für Bischof Dr. Albert Stohr, Bd. 1, hg. v. Ludwig Lenhart, Mainz 1960, S. 36 - 47. Siehe dazu auch Andreas Heinz: Die Entstehung des Leben-Jesu-Rosenkranzes, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 23 - 47, hier S. 28 f. Heinz und Schneider können die Psalterteilung bis zu Origenes nachverfolgen und führen zusätzlich zahlreiche Belege aus der irischen Kirche des Frühmittelalters sowie, davon abgeleitet, aus der Zeit der iroschottischen und angelsächsischen Mission in Mitteleuropa an. 80 Heinz 2003, S. 29. 81 Scherschel 1979, S. 63. 82 So führt z. B. Thomas Lentes aus: »In Cluny sahen die um 1080 niedergeschriebenen Consuetudines vor, daß jeder Priester für einen verstorbenen Mitbruder einmal die Messe singen sollte. Die Nicht- Priester sollten dies durch 50 Psalmen oder ebensoviele Paternoster ersetzen« (Lentes 1996, S. 507). An derartige, festetablierte Gebetsweisen lehnt sich auch das Mirakel Marien Rosenkranz in seiner Beschreibung des aus Gebeten zu fertigenden Blumenkranzes an. 83 Lentes 1996, S. 508. Dazu auch Scherschel 1979, S. 61 f.: »das wiederholende Beten des Ave Maria bewegt sich vielfach in einem bestimmten, am Psalter orientierten Zahlensystem. 50 Ave oder 150 oder ein Vielfaches von 50 bzw. 150 bilden das verbreitetste Zahlenmaß«. 84 »Täglich bete ich für gewöhnlich zu ihrer Ehre fünfzig Ave Maria mit ebenso vielen Kniebeugen. Dafür werde ich mit einer so intensiven Süßigkeit belohnt, daß aller Speichel meines Mundes zur Zeit des Gebetes in Honig verwandelt zu sein scheint«, Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Dialog über die Wunder, Bd. 3, eingeleitet v. Horst Schneider, übers. u. kommentiert v. Nikolaus Nösges u. Horst Schneider, Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86,3), S. 1472 f. [lib. 7, cap. 49]. 116 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="117"?> erstaunlichen Sinneseffekte des Reihengebets, die hier betont werden, erwähnt Caesarius also auch die Fünfzigergruppe, die Marien Rosenkranz und den späteren Rosenkranzgebeten zugrunde liegt. Vergleichbare Quellen, die möglicherweise bereits auf den Gedanken eines geistlichen Herstellens verweisen, führt Gilles Gerard Meersseman an, der belegt, dass die »Regel der Beginen zu Gent, die um 1242 eingeführt wurde«, den geistlichen Frauen »das tägliche Beten von drei Fünfzigern« auferlegte, »die hier hoedekins, d. h. Hütchen (capelletum), heißen und zusammen einen Marienpsalter ausmachen«. 85 In eine ähnliche Richtung geht eine deutschsprachige Mariengrußdichtung, die Karl Bartsch unter dem Titel Marien Rosengarten edierte und die vermutlich gegen Anfang des 14. Jahrhunderts verfasst wurde. 86 Wird dieser recht unsicheren Datierung gefolgt, ist ein Entstehungszeitraum kurz nach dem Mirakel vom Mönch mit den Rosenkränzen anzusetzen, mit dem Marien Rosengarten auch im Verbund überliefert ist. 87 Der Text, der einer kleinen Reihe gereimter volkssprachiger Marienpsalter des Mittelalters angehört, 88 besteht aus 50 Mariengrüßen zu je vier Versen, deren Dialektstand auf den mitteldeutschen Raum verweist. 89 Formal ist Marien Rosengarten damit, genau wie auch zahlreiche ähnlich strukturierte Texte in lateinischer Sprache, 90 an die am Psalter orientierten Fünfzigergruppen aus Ave-Gebeten angelehnt. Motivisch spielt der Text zudem mit den 85 Gilles Gerard Meersseman OP: Der Hymnos Akathistos im Abendland. Bd. 2: Gruß-Psalter, Gruß- Orationen, Gaude-Andachten und Litaneien, Freiburg/ Schweiz 1960 (Spicilegium Friburgense 3), S. 26. 86 Der Text ist abgedruckt bei Karl Bartsch (Hg.): Die Erlösung. Mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen, Quedlinburg/ Leipzig 1858, S. 284 - 290. Zur Datierung aufgrund sprachlicher, stilistischer und inhaltlicher Merkmale siehe ebd., S. LVI; sowie auch Peter Appelhans: Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Mariendichtung. Die rhythmischen mittelhochdeutschen Mariengrüße, Heidelberg 1970 (Germanische Bibliothek, Dritte Reihe: Untersuchungen), S. 39. Eine genauere Datierung dieses interessanten Textes dürfte schwer möglich sein, da eine Überlieferung vor dem 15. Jahrhundert fehlt. Die Angaben zum Entstehungszeitraum müssen daher mit Vorsicht betrachtet werden - denn inhaltlich wie sprachlich würde auch eine deutlich spätere Abfassung infragekommen. 87 Beide Texte finden sich in der im Zweiten Weltkrieg entwendeten und später in einzelnen Faszikeln wieder aufgetauchten ehemaligem Handschrift Nürnberg, Stadtbibl., Cent. VI, 43 v , einer Sammelhandschrift des Nürnberger Katharinenklosters aus dem 15. Jahrhundert. Das Marien Rosengarten enthaltende Bruchstück trägt heute die Signatur München, BSB, Cgm 8498. Der Faszikel mit Marien Rosenkranz II ist wohl noch Teil der Privatsammlung Gerhard Eis, Heidelberg, Cod. 108; siehe dazu Ulla Williams: Art. Marien Kranz (Nachtr.), in: 2 VL 11 (2010), Sp. 969. Andere Teile der Handschrift bleiben verschollen. 88 Vgl. dazu zunächst Burghart Wachinger: Art. Mariengrüße, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 1 - 7; sowie Karl Joseph Klinkhammer: Art. Marienpsalter und Rosenkranz, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 42 - 50, insb. Sp. 43 f. Zum Hintergrund dieser Texte merkt Beissel an: »Neben der Sitte, Maria durch wiederholte, meist durch 50 oder 150 Ave zu ehren, ging eine andere, viel zu wenig beachtete her. Sie bestand darin, Unsere Liebe Frau zu grüßen durch Gedichte, welche anfangs in jeder Strophe mit Ave begannen« (Beissel 1909, S. 241; vgl. mit vielfach jedoch neu zu bewertenden Textbeispielen auch ebd., S. 241 - 250). Im Hinblick auf den Rosenkranz werden einige frühe Mariengrüße besprochen bei Winston-Allen 1997, S. 18 - 22. Ausführliche Literaturangaben finden sich ebd., S. 166 f. 89 Zur Lokalisierung vgl. Bartsch, S. LVI; Appelhans 1970, S. 39. 90 Eine Liste von 15 derartigen, vom 12. bis ins 15. Jahrhundert datierenden gereimten Marienpsaltern in lateinischer Sprache samt weiteren Literaturangaben bietet Meersseman 1960, S. 15 - 17. Die Bezeichnung rosarium o. ä. fällt hier nicht. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 117 <?page no="118"?> vielverbreiteten geistlichen Gartenallegorien und Listen der Namen für Maria. 91 So heißt es beispielsweise unter Aufgriff der gängigen Bezeichnung Marias als Himmelsrose: 92 Ich grûze dich du hemelische rôse, ich rûfe dich an mange pôse, ich bete dich mit innicheit, hilf mir zu der êwigen sêlikeit. 93 Derartige gereimte Mariengrüße in »Einheiten von 50 bzw. 150 mit oder ohne Ave und ähnlich eingeleiteten Preis- und Bittstrophen« dürfen als gängige, zu Gebet und Andacht nutzbare Untergattung innerhalb der geistlichen Lyrik des Mittelalters gelten. 94 Für mein Untersuchungsinteresse aufsehenerregend ist an Marien Rosengarten vor allem eine Grußstrophe, in der sich der Text selbst als Rosenkranz benennt: Ich grûz dich mit disem rôsenkranze, hilf uns zu dem hemelischen tanze und in den wunneclîchen schîn, dâ alle ûzerwelten in sîn. 95 Unter der Bedingung, dass die angenommene Datierung zutrifft, würde dieser Text belegen, dass die deutsche Bezeichnung Rosenkranz für eine Reihe von 50 Mariengrüßen, anders als von Richert angenommen, 96 bereits im frühen 14. Jahrhundert in Gebrauch kam. Aufgrund der erst im 15. Jahrhundert einsetzenden Überlieferung von Marien Rosengarten ist dieser Befund allerdings mit beträchtlicher Unsicherheit verbunden. Eine Visionsepisode aus der Vita der pfälzischen Prämonstratenserin Christina von Hane (ca. 1269 - 1292) hingegen berichtet von einer zählenden Gebetspraxis, die nicht bloß mit floralen Metaphern bezeichnet wird, sondern in einem Gnadenerlebnis gipfelt, in dem die mystisch begabte Nonne ihr Beten als konkreten Blumenschmuck schaut. 97 Zu Weihnachten nämlich habe Christina für sich allein im Chor xij funffzich Pater noster gebet, 98 also eine wie oben erläutert als Psaltersurrogat entstandene Fünfzigergruppe aus Standardgebeten mit der in der christlichen Zahlensymbolik auf die Begegnung des 91 Vgl. zur Tradition der marianischen Namen z. B. Fulton Brown 2018, S. 93 - 99; zu geistlichen Gartenallegorien vgl. Schmidtke 1982. 92 Vgl. Margot Schmidt: Art. Rose, in: Marienlexikon 5 (1993), Sp. 548 - 550. 93 »Ich grüße dich, du Himmelsrose, / ich sehr geringe [Person] rufe dich an, / ich bitte dich inniglich, / hilf mir zu der ewigen Seligkeit«, Bartsch 1858, S. 285 (V. 37 - 40). 94 Dorothea Klein: › Ave Maria ‹ meisterlich. Der englische Gruß in Spruchsang und Meisterlied, in: Traditionelles und Innovatives in der geistlichen Literatur des Mittelalters, hg. v. Jens Haustein, Regina D. Schiewer, Martin J. Schubert u. Rudolf Kilian Weigand, Stuttgart 2019 (Meister-Eckhart-Jahrbuch. Beihefte 7), S. 333 - 360, hier S. 333. 95 »Ich grüße dich mit diesem Rosenkranz / hilf uns zu dem himmlischen Tanz / und in das wonnevolle Licht / in dem alle Auserwählten sind«, Bartsch 1858, S. 286 (V. 77 - 80). 96 Richert sieht in dem Mirakel Marien Rosenkranz bloß »das sehr frühe Stadium einer Herausbildung der Bezeichnung, die erst wesentlich später [d. h. im 15. Jahrhundert] allgemeine Verbreitung erfuhr« (Richert 1965, S. 155). 97 Siehe Racha Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane. Untersuchung und Edition, Berlin/ New York 2017 (Hermaea 144), S. 286 f. 98 »zwölfmal fünfzig Vaterunser gebetet«, ebd., S. 286. 118 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="119"?> transzendenten Göttlichen mit der irdischen Welt verweisenden Zwölfzahl multipliziert. 99 Daraufhin sei der Visionärin zunächst das Christkind in einem Rosenhain erschienen, von dem es heißt: Iß waren keyn yrdeschen roißen, sie waren hemelsche. 100 Diese Himmelsrosen, so teilt Christus der Beterin mit, weisen in den Bereich der Bildrede - sie betzeychen yre na komen leben, das geziert sein solle myt hemelschen roißen, daz ist myt allen doegenden. 101 Doch bleibt es nicht bei dieser Schau vornehmlich zeichenhafter Blumen. Denn als anschließend zur Mette geläutert wird, hat Christina eine zweite Vision: Da sache sie aber daz zarte aller suberlichstes kyntgen stayn vor dem elter yn eyner wegen vnd iß was gedecket myt eym dechelach van roißen vnd vff eynem yecklichen blaytde der roißen stontde geschreben › Pater noster ‹ vnd iß hait eyn crantze vff sym heubt van xij gar schonen roißen vnd got gaiffe yre so verstayn, daz iß waren die czwolff funfftzich Pater noster, die sie dem kynde Jhesu gesprochen haitte. 102 Hier nun erscheinen die Visionsrosen nicht mehr allein als Zeichen für christliche Tugenden, sondern bilden vielmehr Figurationen eines Betens, das sich im Himmel zum geistlich konkreten Blumenschmuck verdichtet und auf diese Weise eine dinglich vorstellbare und im Gnadenerlebnis geschaute Gabe an Christus darstellt. Das Reihengebet wird hier nicht nur als Rosenkranz bezeichnet, vielmehr ist es ein überwirkliches Blumengebinde bzw. wird zu diesem. Ähnlich wie das Mirakel Marien Rosenkranz stellt dieser Visionsbericht eine außergewöhnlich frühe narrative Darstellung einer Gebetspraxis dar, die in der Herstellung derartiger geistlicher Rosengaben kumuliert. Wie Racha Kirakosian anmerkt, lässt sich dabei jedoch schwerlich bestimmen, inwiefern die Episode aus Christinas Vita »Ausdruck oder Folge solcher Praktiken war«, 103 also schon um 1300 eine extratextuell reale Gebetsweise widerspiegelt, wie sie gut hundert Jahre später z. B. durch den Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen angeleitet und verbreitet wurde. Zudem ist ähnlich wie im Fall von Marien Rosengarten unklar, inwiefern im Laufe der Überlieferung deutlich spätere Frömmigkeitspraktiken in die Vita eingeflossen sein könnten. 104 Unabhängig von derlei Fragen nach der Chronologie der Gebetspraxis und Begriffsgeschichte des Rosenkranzes zeichnet sich sowohl in Christinas Vita als auch in den 99 Die Zwölf wird in diesem Sinn z. B. als Produkt der göttlichen Dreizahl (Trinität) und der irdischen Vierzahl (Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Elemente) verstanden. Zudem ist hier auch an die Zahl der Apostel, die zwölf Stämme Israel oder die zwölf Tore des himmlischen Jerusalem zu denken. Vgl. die entsprechenden Einträge bei Heinz Meyer u. Rudolf Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 56), Sp. 620 - 645. 100 »Es waren keine irdischen Rosen, sie waren himmlische«, Kirakosian 2017, S. 286. 101 »bezeichnen ihr späteres Leben«, »mit himmlischen Rosen, das ist mit allen Tugenden«, ebd. 102 »Da sah sie wieder das zarte und allerreinste Kindlein vor dem Altar in einer Wiege stehen, und es war mit einer Decke aus Rosen bedeckt, und auf einem jeden Rosenblatt stand geschrieben › Pater noster ‹ , und es hatte einen Kranz aus zwölf sehr schönen Rosen auf seinem Kopf, und Gott gab ihr zu verstehen, dass dies die zwölfmal fünfzig Vaterunser wären, die sie für das Jesuskind gesprochen hatte«, ebd., S. 287. 103 Kirakosian 2017, S. 111. 104 Der Text ist in einer einzigen Handschrift des 16. Jahrhunderts überliefert (Straßburg, BNU, ms. 324). Ein Einfluss späterer Redaktionen, die möglicherweise auch Reflexe aus der Frömmigkeitspraxis des ausgehenden Mittelalters einarbeiteten, scheint daher denkbar. Ich danke Racha Kirakosian sehr herzlich für wichtige Auskünfte hierzu. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 119 <?page no="120"?> übrigen erwähnten Texten die Idee eines handwerklichen Betens ab, das auf die Fertigung geistlicher Dinge zielt, die dem gläubigen Menschen als himmlische Figurationen seiner Frömmigkeitspraxis innerlich evident werden. Sowohl in der Gebetsempfehlung des älteren Mönches im Mirakel Marien Rosenkranz als auch in der niederländischen Bezeichnung hoedekin für 50 Ave Maria und der Selbstcharakterisierung vom Marien Rosengarten als rôsenkranze schwingt diese Vorstellung mit. »Die Gebetsübung« wird, so Thomas Lentes, »zum künstlerisch-handwerklichen Akt«, in dessen Rahmen ein innerer Kranz »Blume für Blume in der Vorstellungskraft der Beter aufgebaut« wird. 105 Hierin ist die Quantifizierung des am Psalter orientierten marianischen Reihenbetens gekoppelt an das Imaginieren eines Blumenkranzes, der sich aus den dargebrachten Ave Maria als geistliche Konkretheit manifestieren soll. Die zugrundeliegende Analogsetzung von Text und Handwerksarbeit hat um 1300 bereits eine lange Tradition. Bilder der handwerklichen Fertigung stellen ein ungemein produktives Metaphernfeld für das Verfassen von Texten und den Umgang mit ihnen dar. Ein prominentes Beispiel hierfür bietet die Goldene Schmiede Konrads von Würzburg (ca. 1220/ 1230 - 1287). Dort ist das getihte ûz golde, das der Erzähler in der Schmiede seines Herzens fertigt und als ein lop durliuhtic unde glanz Maria darbringt, als komplexe Allegorie auf den poetischen Text markiert. 106 Im weitesten Sinne gehören Texte wie Marien Rosenkranz zwar in die gleiche Vorstellungswelt des Darbringens frommer imaginierter Kunstwerke, unterscheiden sich jedoch insofern von Konrads dichterischen Juweliersarbeiten, als dass den hier dargebrachten Gebetskränzen nicht vornehmlich oder allein eine allegorisch-zeichenhafte Qualität eignet. Denn geistliche Blumengaben repräsentieren eben gerade nicht materielle Blumenkränze oder Gebetsformeln. Statt als Zeichen sind sie besser als geistliche Gegenstände zu fassen, als »make-believe gifts fashioned, not from gold, silk, or beads, but from prayer formulas reiterated so often that the words took on the character of an incantation«. 107 Eine im Vergleich mit der stofflichen Welt besonders hervorgehobene Qualität erhalten diese Gebetskränze im Mirakel Marien Rosenkranz, wenn die Erzählung darauf besteht, dass Maria diese Gaben sogar lieber als echte Blumengebinde annehme. Hier ist nicht bloß Vergleichbarkeit oder Analogie impliziert - vielmehr betreibt die Erzählung eine Erhöhung der dargebrachten Gaben durch die verinnerlichende Ersetzung stofflicher Rosen durch Frömmigkeitsübungen, die reihenhaft gebetete Worte mit einem imaginierenden Eintauchen in eine Erfahrungswelt der durch diese Worte figurierten Gegenstände zu einem Prozess des geistlichen Anfertigens verbinden. Zunächst verbleiben die auf diese Weise hergestellten Kränze in einer imaginierten Wirklichkeit, in die der junge Mönch sich beim Beten versenkt. Sie entstehen vor seinem inneren Auge und führen auf wundersame Weise dazu, daz er mit grozen vugen / wuchs an witzen clugen, / in den er wol sich halden pflac (MR, V. 215 - 217). 108 Schließlich aber lässt die Erzählung den Prozess der sublimierenden Interiorisierung wiederum in einer mirakulö- 105 Lentes 1993, S. 126. 106 »Dichtung aus Gold«, »ein funkelndes und glänzendes Lob«, Konrad von Würzburg: Goldene Schmiede, hg. v. Wilhelm Grimm, Berlin 1840, S. 1. 107 Hamburger 1997, S. 75. 108 »dass er mit großem Geschick / an klugem Verstand zunahm / worin er sich gut zu bewähren pflegte«. 120 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="121"?> sen Exteriorisierung gipfeln. So transformiert sich das imaginativ Hergestellte visionshaft ins bildlich Offenbarte, wenn Maria den Räubern erscheint. Denn zumindest vor den Augen der beiden Wegelagerer werden dann die gebeteten Kränze zu sichtbaren Rosen. In seinem Verhältnis zur Gesamterzählung ist dieser zweite Teil von Marien Rosenkranz als »strukturell[e] Doppelung« zu fassen, 109 die den Weg des Protagonisten hin zu einem geistlichen Leben affirmiert und auf andere Figuren überträgt. In Hinblick auf das Motiv des gebeteten Blumenschmucks stellt die finale Episode des Mirakels außerdem eine evidenzschaffende Potenzierung dar, durch die der aus Gebeten figurierte Ave-Kranz auch für andere Personen der Handlungen zur Evidenz wird. Die Zäsur zwischen den beiden Teilen der Erzählung ist markiert durch einen Ortswechsel: In Ordensgeschäften unterwegs verlässt der junge Mönch das Kloster und macht in der heißen Mittagssonne Rast in einem Wald oder Baumgarten, wo er üppige blumen unde gras (MR, V. 234) erblickt, die cleinen vogelin schallen (MR, V. 244) hört und ein lustic swanc / des ruches (MR, V. 246 f.) ihm entgegenweht. 110 An diesem Ort, dessen Naturschönheit einerseits rückblendend an das ursprünglich materielle Blumensammeln des Protagonisten gemahnt und andererseits sowohl eine höfisch codierte Topographie des locus amoenus wie auch Assoziationen an den marianischen hortus conclusus anklingen lässt, 111 begibt sich der Mönch zum Gebet, um wie jeden Tag aus 50 Ave Maria der vrouwen crentzelin (MR, V. 253) zu sprechen. 112 Zwei Räuber, die es auf sein Pferd abgesehen haben, beobachten ihn dabei und sehen plötzlich di aller schonsten vrouwen, / di vleischlich ouge ie vernam (MR, V. 262 f.). 113 Gekleidet in ein prächtiges Gewand aus mit Blumen bestickter blauer Seide tritt diese wunderschöne Dame zu dem Mönch, woraufhin sich eine mirakulöse Transformation ereignet: als der munch hete entsaben ein Ave Maria und sprach, secht, welch ein wunder da geschach, wand es wart zu einer rosen! (MR, V. 278 - 281) 114 Das innige Durchdenken und Aussprechen der Gebetsformeln bewirkt, dass Sprache und Gedanken sich als augenscheinliche Blumen manifestieren. »Das Wort des mit Hingabe betenden Mönches«, so Keller, »verselbstständigt, ja materialisiert sich.« 115 Zwar war dies bereits zuvor das Kernprinzip der Gebetsweise, die der Mönch pflegte, nun aber treten die dabei betend gefertigten Gegenstände aus der inneren Erfahrungswelt des Protagonisten 109 Eichenberger 2015, S. 110. 110 »Blumen und Gras«, »das Singen der kleinen Vögel«, »ein angenehm / duftender Hauch«. 111 Zu diesen Topoi des amoenen Orts, der in Marien Rosenkranz zwischen weltlichen und geistlichen Konnotationen oszilliert, vgl. Dorothea Klein: Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung, in: Projektion - Reflexion - Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, hg. v. Sonja Glauch, Susanne Köbele u. Uta Störmer-Caysa, Berlin/ Boston 2011, S. 61 - 83. 112 »den Kranz der Herrin«. 113 »die allerschönste Frau, / die je ein leibliches Auge sah«. 114 »Als dem Mönch ein Ave Maria inne ward / und er es aufsagte, / seht, welch ein Wunder da geschah, / denn es wurde zu einer Rose! « 115 Keller 2003, S. 62. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 121 <?page no="122"?> heraus. 116 Aus der Immersion in den imaginierten Raum der im Gebet heraufbeschworenen Gegenstände emergieren nun wundersam auch äußerlich evidente Dinge. Maria beginnt vor den Augen der beiden Schurken damit, im brechen von dem munde / eine rosen nach der andern (MR, V. 284 f.) 117 und flicht sie mit silbernem Draht auf einen goldenen Reif. Aus 50 Ave Maria entsteht so ein Kopfschmuck aus 50 Rosen, so daz der rosen crantz / was vollenkummen und gantz (MR, V. 299 f.). 118 Schließlich setzt Maria den dergestalt aus Gebeten gebundenen Blumenkranz auf ihr Haupt und entschwindet. Nun fragen die beiden Räuber sich, was mit dieser eindrücklichen Erscheinung anzufangen sei. Denn genau wie der Wald, in dem diese Szene sich abspielt, zwischen überweltlichem Paradiesgarten und höfischem Liebesort oszilliert, so schwankt auch die Beschreibung der wunderschönen Frau, die sie sehen, zwischen Minnedame und Gottesmutter. Die Marienvision hat somit gewissermaßen ein Evidenzproblem. Erst als die Räuber den Mönch fragen, wer di vrouwe si gewesen, / di di rosen hat gelesen / alhi von uwern munde (MR, V. 339 - 341) 119 und sogar vermuten, dies sei durch goukelvure (MR, V. 343) geschehen, 120 lüftet sich für sie die Identität der geheimnisvollen Dame. Als nämlich die Wegelagerer ihm das Geschaute mitteilen, erkennt der Protagonist sein tägliches Kranzgebet, berichtet von dieser frommen Übung und schlussfolgert: hute ist di vrouwe zu mir kumen / und hat ir crentzil genumen. / daz sahet ir und ich nicht (MR, V. 379 - 381). 121 Obgleich ihm selbst die Vision also nicht zuteilwurde, weiß der Mönch sofort, was sich abgespielt hat - ihm war die Überführung von Gebeten in Blumenkränze ja schon längst innere Wirklichkeit, an der durch das Wunder der Marienerscheinung jetzt allerdings auch die beiden Räuber partizipieren. Auf die erhöhende Ersetzung der materiellen Blumenkränze durch das geistliche Kranzflechten im Gebet folgt somit eine zweite Steigerung, durch welche die geistlichen Blumengebinde auch für die Augen Dritter sichtbar werden. An diese mirakulöse Erscheinung schließt ein weiteres Wunder an, denn Marien Rosenkranz kumuliert in einem gattungstypischen Konversionsereignis. Die beiden Kriminellen verzichten nicht nur darauf, dem Mönch Leben und Habe abzunehmen, sie folgen ihm auch ins Kloster und da munchten sie sich beide (MR, V. 457). 122 Somit resultiert die Materialisierung der vergeistlichten Kränze wiederum in einer Vergeistlichung der beiden Räuber, die, ähnlich wie zuvor der nunmehr Mönch gewordene Schüler, durch den Rosenkranz Marias in den geistlichen Stand, zum Glauben und zu einem tugendhaften Leben finden. Im Hinblick auf die weitere Geschichte des Rosenkranzgebets sind aus diesem close reading vor allem drei Schlussfolgerungen zu ziehen. Erstens erzählt Marien Rosenkranz von einer komplexen Figurationskette des Betens, in deren Verlauf sich mehrere Metamorphosen von materiellem Gegenstand und gesprochenem Gebetswort, innerlich vergegenwärtigten, geistlich konkreten und visionär geschauten Dingen ergeben. Die 116 Keller erkennt in dieser Episode zudem schlüssig eine »Analogiebeziehung zur Inkarnation Christi durch Maria: Das Wort wird - hier als Rose - aus dem menschlichen Mund geboren« (ebd.). 117 »ihm eine Rose nach der anderen / aus dem Mund zu pflücken«. 118 »dass der Rosenkranz / vollständig und ganz war«. 119 »wer die Dame gewesen sei, / die gerade hier aus Eurem Munde / die Rosen gepflückt hat«. 120 »Zaubertricks«. 121 »Heute ist die Herrin zu mir gekommen / und hat ihr Kränzlein in Empfang genommen. / Ihr habt das gesehen, ich hingegen nicht.« 122 »da wurden sie beide Mönche«. 122 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="123"?> Erzählung leitet vom physischen Blumenschmuck über zu den unsichtbaren geistlichen Kränzen, die in einem Gnadenakt wiederum als sichtbare Blumen erscheinen. Die Grenze zwischen der stofflichen Welt und der im Gebet stimulierten inneren Wahrnehmung wird immer wieder vom Motiv des zwischen diesen Sphären changierenden Rosenkranzes durchbrochen. Grundlage der geistlichen Kränze ist eine Praxis des › handwerklichen Betens ‹ , die vorgängige Traditionen der vertikalen Hinkehr zum Heiligen mittels des am Psalter orientierten zählenden Reihengebets mit Verfahren der horizontal vergegenwärtigenden Immersion in eine dabei evozierte innere Wahrnehmungswelt verbindet. Dabei werden im Gebet produzierte geistliche Gegenstände in einer wertenden Hierarchie der Dinge höher eingestuft als stoffliche Dinge. Zweitens wird den gebethaft produzierten Kränzen für Maria ein figuraler Wirklichkeitsstatus zugewiesen, der über den einer zeichenhaften Vorstellung hinausgeht. So eignet ihnen eine heilsmächtige Kraft, die in Marien Rosenkranz immer wieder durchscheint, beispielsweise wenn der junge Mönch durch dieses Gebet plötzlich immense Geisteskräfte gewinnt, oder wenn die Schau der blumengewordenen Gebete die Räuber zu einer radikalen Umkehr ihres Lebenswandels animiert. Die gebeteten Kränze sind also nicht bloß als ephemere Gedankengespinste vorgestellt, sondern bilden Dinge, die eine Geschehensmächtigkeit (agency) ausüben, die in Anlehnung an Bruno Latour zumeist bloß physisch-konkreten Objekten zugeschrieben wird - doch auch den Blumenkränzen in Marien Rosenkranz kommt jener »Typ von Kraft, Kausalität, Wirksamkeit und Hartnäckigkeit zu [ … ], den nicht-menschliche Aktanten in der Welt besitzen«. 123 Unter Betonung der diesem Wort etymologisch zugrundeliegenden Metapher des Verdichtens und Verfestigens könnten diese gebeteten Kränze daher als geistliche Konkretheiten bezeichnet werden, in denen sich Wirklichkeit und Zeichenhaftigkeit figural vereinen. Drittens, und dies entfaltete vor allem in der Rezeption dieses Mirakels prägnante Effekte, ist der dergestalt aus Gebeten figurierte Kranz als Gabe an Maria vorgestellt, das heißt als exteriorisierbares Ding. Somit gehen die gebeteten Kränze auf in einer (theologisch stets prekären) Gabenökonomie des Heils, die, wie Marcel Mauss für profane Gabenökonomien beschreibt, auf die Annahme einer »Verpflichtung zur Gegengabe« abhebt. 124 Der Mönch in Marien Rosenkranz betet aus Hingabe zur Jungfrau Maria und erhält dafür unerbetene Gnadenerweise zurück. Ihre folgend in den Blick genommenen Rezeption illustriert, wie diese Mirakelerzählung im Spätmittelalter exemplarisch verstanden und die dort geschilderte Frömmigkeitsform in der Hoffnung auf eine äquivalente oder größere Gegengabe als Skript gelesen wurde, das eine Praxis des Rosenkranzbetens anleitet und präfiguriert. 123 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk- Theorie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2007, S. 132. 124 Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, mit einem Vorwort v. E. E. Evans-Pritchard, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1968, S. 48 f. Zur Vorstellung einer Gabenökonomie des Heils vgl. auch Angenendt u. a. 1995, S. 4 - 8; sowie Angenendt 2009, S. 373 - 378. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 123 <?page no="124"?> 2.2 Nachahmung und Gebrauch: Die Rezeption von Marien Rosenkranz im 15. Jh. Im 15. Jahrhundert, also dem Zeitraum, in dem sich das Rosenkranzgebet vornehmlich entwickelte, änderte sich die Rezeption der Mirakelerzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen. Statt als Wundererzählung zur »Propagierung des Mariengrußes« 125 wurde es nun zunehmend als Vorbildgabe für eine gelingende Frömmigkeitspraxis gelesen, die vom Lesepublikum imitiert und anverwandelt werden konnte. Eindrücklich zeigt sich dies an dem bereits einleitend erwähnten Beispiel der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen, denen als erklärender Paratext eine Prosakurzfassung von Marien Rosenkranz beigefügt ist, die das erzählte Wunder als Ursprungsereignis des Rosenkranzbetens markiert: Isto miraculo [ … ] Rosarium istud a piis atque devotis MARIAE famulis primitus coepit frequentari. 126 Die voranstehende Gebets- und Andachtsübung, in der eine Reihe aus 50 Ave Maria mit der immersiven Vergegenwärtigung des Lebens Christi sowie der Fertigung eines geistlichen Kranzes für die heilige Jungfrau verbunden ist, legitimiert dieser Zusatz als direkte Übernahme aus dem Mirakel. Der einzige Verdienst, der Dominikus selbst zukomme, so betont der Text, sei, dass er den einzelnen Mariengrüßen noch kurze Passionsbetrachtungen hinzugefügt habe, 127 ansonsten aber folge das Rosenkranzgebet ganz dem Vorbild der Wundererzählung. Damit kommt, wird der exemplarischen Logik des ihm beigegebenen Mirakels gefolgt, die betende Lektüre des Leben-Jesu-Rosenkranzes einer Aneignung und Nachahmung eines diese Gebetsform präfigurierenden ebenso wie affirmierenden Wunders (oder zumindest eines Teils davon) gleich. Die in Marien Rosenkranz geschilderte Fertigung von geistlichkonkreten Blumen steht somit allen Betenden offen, die damit zumindest implizit auch auf die dem Protagonisten des Mirakels gewährten Gnadenerweise hoffen können. Im »Zuge der Rosenkranzpropagierung« wurde die Wundererzählung zum frömmigkeitspraktischen Modell. 128 Dominikus von Preußen ist nicht der einzige Autor des 15. Jahrhunderts, der die Mirakelerzählung auf diese Weise frömmigkeitsdidaktisch funktionalisiert. Ihm schließt sich beispielsweise der 1477 aufgelegte Augsburger Druck der Statuten der Kölner Rosenkranzbruderschaft an, der den Bruderschaftstexten eine deutsche Version von Dominikus ’ Klauseln sowie mehrere Mirakel beifügt, darunter die aus Marien Rosenkranz bekannte Erzählung. 129 Hier wird die Charakterisierung dieser Geschichte als imitables 125 Richert 1965, S. 158. 126 »Durch dieses Wunder [oder: Mirakel] begann dieser Rosenkranz, zum ersten Mal von frommen und hingebungsvollen Jüngern Marias praktiziert zu werden«, Dominikus von Preußen: Liber experientiae II, S. 361. Ähnliche Aussagen finden sich auch in anderen Rosenkranzschriften der Trierer Kartause. So heißt es sinngleich in Dominikus ’ Zwanzig-Exempel-Schrift: Alsus ist der rosenkrantze erste off komen und uns auch kunt worden (Klinkhammer 1972, S. 174). Im Rosengertlin-Traktat wird dies ebenfalls berichtet: also qwam eß uß und ersten uff, das man diß unser Frauwen dinst thet und eynen rosenkrancz nennet (ebd., S. 136). Stets ist hier das Mirakel Marien Rosenkranz als Ursprungserzählung und rechtfertigende Erklärung für die in der Trierer Kartause entwickelte Gebetsweise angeführt. 127 Vgl. Dominikus von Preußen: Liber experientiae II, S. 362. 128 Williams 1985, Sp. 1279. 129 Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1477 (GW M38911), fol. 7r - 10v. Konsultiert wurde das digitalisierte Exemplar Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Inc. a. 0150. Die neben Marien Rosenkranz in dem Druck enthaltenen Mirakel stammen teils aus 124 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="125"?> Vorbild zudem noch um eine Nuance erweitert, wenn es heißt, der Protagonist habe nicht nur die vorweg angeleitete Gebetsweise gepflegt, sondern underweiset auch dz ander anda ᵉ chtig menschen und also hat diser geystlicher Rosenkrancz unser lieben frawen gehabt seinen ursprung und anvang genommen. 130 Diejenigen, die das Rosenkranzgebet gemäß der Instruktionen des Drucks praktizieren, können sich somit ganz in der Nachfolge des jungen Mönchs aus Marien Rosenkranz begreifen. Da die Unterweisung in dieser Art des Betens bei ihm ihren Ausgang nahm, dürfen auch die Leser des Drucks als seine geistlichen Nachfolger und Schüler gelten, die gleich den konvertierten Räubern seine Gebetsweise übernehmen. Ähnlich hatte ein Jahr zuvor bereits ein Mitgründer der Kölner Rosenkranzbruderschaft, der Dominikaner Michael Francisci ab Insulis (1435 - 1502), das Mirakel verwendet. In seinem Quodlibet de veritate fraternitatis Rosarii, einer erklärenden Verteidigungsschrift für den frischgegründeten Gebetszusammenschluss, 131 gibt er an, er habe in quodam libello, a devotis patribus Cartusiensibus de Treveri cuidam probo sacerdoti concesso, 132 von einer Begebenheit gelesen, die erkläre, wie und weshalb aus 50 Ave Maria ein Rosenkranz entstünde. Deshalb könne sein Gebetszusammenschluss auch Kranzbruderschaft (fraternitas de serto) genannt werden. 133 Was folgt, ist eine abbreviierte lateinische Version von Marien Rosenkranz. 134 Es besteht wenig Zweifel daran, dass mit dem kartäusischen Büchlein aus Trier, auf das sich Michael Francisci bezieht, die Rosenkranzklauseln oder eine der verwandten Schriften aus St. Alban gemeint sind, die dieses Mirakel ebenfalls enthalten. 135 Besonders hervorzuheben sind hierunter einerseits die Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen, die mittels eines ausgreifenden Korpus von Wundererzählungen die Praxis und heilsvermittelnde Wirkung des Rosenkranzbetens zu illustrieren sucht, 136 sowie eine anonyme lateinische Exempelsammlung aus der Trierer Kartause, die nach der Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen, teils finden sie sich, so wie beispielweise die Geschichte von der Nonne Fulalia (ebd., fol. 15r - 16r), auch in den späteren Druckfassungen von Der Heiligen Leben wieder. Zu letzterem Sachverhalt vgl. ausführlich Anne Simon: Ave Maria und Rosenkranz als Gebetsunterweisung im spätmittelalterlichen Nürnberg in: Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters, XXIII. Anglo-German Colloquium Nottingham 2013, hg. v. Henrike Lähnemann, Nicola McLelland u. Nine Miedema, Tübingen 2017, S. 185 - 199, insb. S. 188 - 192. Eine mögliche Abhängigkeit der Beigabentexte des Augsburger Statutendrucks von 1477 von dem Druck Rosenkranz unserer lieben Frauen, Basel: Martin Flach ca. 1475 (GW M38913) müsste noch untersucht werden. 130 »[Er] unterwies auch andere andächtige Menschen darin, und auf diese Weise hat dieser geistliche Rosenkranz Unserer Lieben Frau seinen Ursprung gehabt und seinen Anfang genommen«, ebd., fol. 12r. 131 Abgedruckt und ausführlich besprochen ist diese Schrift bei Heribert Christian Scheeben: Michael Francisci ab Insulis O. P., Quodlibet de veritate fraternitatis Rosarii, in: Archiv der deutschen Dominikaner 4 (1951), S. 97 - 162. Zur Kölner Rosenkranzbruderschaft siehe zudem ausführlich unten, Kap. II.5. 132 »in einem gewissen Büchlein, das von den frommen Trierer Kartäuserpatern einem tüchtigen Priester überlassen wurde«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 144. 133 Vgl. dazu auch Kliem 1963, S. 78 - 81. 134 Vgl. Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 144 f. 135 Hier kommt neben dem Liber experientiae und den Rosenkranzklauseln auch Dominikus ’ Zwanzig- Exempel-Schrift infrage, siehe dazu oben, S. 125. 136 Ediert bei Klinkhammer 1972, S. 171 - 191. Das erste Mirakel dieser Sammlung ist eine Prosavariante von Marien Rosenkranz. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 125 <?page no="126"?> dem Urteil des Herausgebers Andreas Heinz »in den ausgehenden 40er oder den beginnenden 50er Jahren des 15. Jahrhunderts« 137 niedergeschrieben wurde. Letztere Sammlung diente wahrscheinlich direkt oder indirekt als Vorlage für die an den Augsburger Statutendruck von 1477 angehängten Exempla. Impliziert wird diese Abhängigkeit erstens dadurch, dass es in dem Druck heißt, die andächtigen va ᵉ tter Cartuser ordens berichteten von den folgend erzählten Wundern. Zudem stimmen fast alle der dort in der Volkssprache wiedergegebenen Erzählungen inhaltlich exakt mit ihren lateinischen Gegenstücken in der von Heinz edierten Sammlung überein. 138 Dass der Dominikaner Marcus von Weida in seinem 1515 erschienenen Spiegel hochloblicher Bruderschafft des Rosenkrantz Marie die Geschichte von Marien Rosenkranz ebenfalls wiedergibt, sie dabei nun aber Michael Francisci zuschreibt, illustriert die dominoartige Dissemination dieses Textes. 139 Wie Wolfgang Kliem aufzeigt, unterscheiden sich diese neugerahmten Nacherzählungen von den älteren Fassungen von Marien Rosenkranz insofern, als dass die Geschichte hier »nicht auf die Bekehrung der Räuber hinausläuft, sondern auf den Ursprung, den Namen und die Verbreitung des Rosenkranzes«. 140 Das Mirakel vom Mönch mit den Rosenkränzen ist somit beinahe gänzlich zum erklärenden und instruierenden Begleittext geworden, der die Rosenkranzgebete und -anweisungen des 15. und 16. Jahrhunderts in der Überlieferung regelmäßig begleitet. Das Konversionswunder dient so der Frömmigkeitsdidaxe. Neben derartigen peritextuellen Beigaben taucht Marien Rosenkranz in der Gebetbuchliteratur zum Rosenkranz auch als impliziter Referenzpunkt auf. Dies illustrieren zunächst zahlreiche Gebetsanweisungen, die sich recht genau an der Szene des Mirakels orientieren, in der Maria die Blumen aus dem Mund des Mönchs pflückt. So heißt es beispielsweise in den Statuten der Colmarer Rosenkranzbruderschaft von 1485, die Betenden sollten die verlangten Reihengebete mit einem Glaubensbekenntnis einleiten, und dieses Credo bet ů tet das reisselin dar uff man die rosen binden sol. 141 Ein Straßburger Rosenkranzdruck von 1495, der wie üblich auch eine Prosafassung von Marien Rosenkranz enthält, 142 schreibt ebenfalls ein zu Beginn der Gebetsübung aufgesagtes Credo vor und führt 137 Andreas Heinz: Eine spätmittelalterliche Exempelsammlung zur Propagierung des Trierer Kartäuser- Rosenkranzes, in: Trierer Theologische Zeitschrift 92 (1983), S. 306 - 318, hier S. 317. Eine Exempelfassung von Marien Rosenkranz findet sich ebd., S. 313 f. 138 Sprenger: Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1477 (GW M38911), fol. 11r. Die ersten fünf Erzählungen des Druckes bilden, wenn auch in veränderter Reihenfolge, recht genau übertragene volkssprachige Fassungen der fünf Exempel der Trierer Sammlung, während das etwas ungewöhnliche letzte Exempel des Statutendrucks, das von der unachtsam betenden Nonne Fulalia berichtet (ebd., fol. 14r - 15r), sich dort nicht findet (zu diesem Text vgl. Simon 2017, S. 190 f.). Einige der in diesem Druck enthaltenen Wundergeschichten finden sich zudem auch in der Zwanzig-Exempel- Schrift des Dominikus von Preußen, vgl. Klinkhammer 1972, S. 173 - 187. 139 Vgl. Marcus von Weida: Der Spiegel hochloblicher Bruderschafft des Rosenkrantz Marie, hg. u. eingel. v. Antony van der Lee, Amsterdam 1978 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit 3), fol. 40r [Faksimileausgabe des Erstdrucks von 1515]. 140 Kliem 1963, S. 81. 141 »bedeutet den Reif [oder: Zweig], auf den man die Rosen binden soll«, Schmitt 1970, S. 106. 142 Vgl. Marien Rosenkrantz und psalter. Das güldin Rosenkrentzlin. Sant Anna br ů derschafft, Straßburg: Johann Prüss 1495 (GW M38921; Nachtr. 309), fol. 14r/ v. Digital konsultiert wurde das Exemplar Gotha, Forschungsbibliothek, Mon.typ 1495 4° 00005. Hier finden sich auch zahlreiche weitere Rosenkranzexempla. 126 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="127"?> anschließend aus: Auch wirt dürch den glauben betutet das ro ᵉ ßlin oder scho ᵉ ne dar uf die rosen gebunden werden. 143 Als motivische Inspiration und Imaginationsfolie für derartige, zusätzlich zu den Blumen gebethaft gefertigte Reifen und Schienen muss wiederum die Mirakelerzählung vermutet werden, in der Maria einen schonen reif von golde mitbringt, dar uf sie setzen wolde / blumen und ein schepil haben (MR, V. 275 - 277). 144 Die instruktive Verwendung von Wundererzählungen für darauf aufbauende geistliche Übungen ist in der Gebetbuchliteratur des ausgehenden Mittelalters kein singuläres Phänomen. Tatsächlich wird ein großer Teil der frühen Rosenkranzschriften von einem mehr oder minder umfangreichen Korpus an Marienmirakeln paratextuell begleitet. Als wegweisend dürfen hier neben der erwähnten Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen auch die zahlreichen Mirakelerzählungen des Alanus von Rupe gelten. 145 In verschiedenen Rosenkranzdrucken des ausgehenden 15. Jahrhunderts finden sich Sammlungen derartiger, zumeist zum Exempel gekürzter Texte. 146 In einem vergleichbaren Verhältnis zur Mirakelliteratur stehen auch die mit dem Rosenkranz verwandten Marienmantelübungen, denen sich das Folgekapitel dieser Untersuchung widmet. So besteht der Ripuarische Marienmantel des Dominikus von Preußen wesentlich aus einer vereinfachten, volkssprachigen Kurzzusammenfassung der Kernthesen des lateinischen Traktats, die allerdings mit einer Reihe von Mirakelerzählungen angereichert und veranschaulicht werden. 147 Die Erzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen bildet dabei eine Art Leitnarrativ, dessen Rezeptionsgeschichte illustriert, auf welche Weise die Gebetbuchliteratur des späten Mittelalters sich vorgängige Mirakel als frömmigkeitsdidaktische Exempel nutzbar machte. Dabei wird die Erzählung als Modell präsentiert, das aufzeigt, wie die mit ihm verbundenen geistlichen Übungen zu vollziehen sind und welche Heilshoffnungen hiermit verknüpft werden dürfen. Somit wird der Leserschaft eine Nachfiguration des Erzählten im eigenen Beten angetragen: Auch sie sollen, genau wie der junge Mönch, innere Vergegenwärtigung und gezählte Ave-Reihen miteinander verbinden und auf diesem Weg geistlich-konkrete Blumengaben für Maria anfertigen. Die wundersamen Metamorphosen, von denen Marien Rosenkranz berichtet, rücken für die Leserschaft des ausgehenden Mittelalters somit in den Bereich des Imitablen und damit Verfügbaren. Bereits an dieser narrativen Präfigurationsnahme des Rosenkranzbetens zeigt sich, wie beim geistlichen Kranzflechten Verfahren der Quantifizierung mit Momenten intensiver 143 »Das Credo bedeutet zudem den Reif oder die Schiene, auf die die Rosen gebunden werden«, ebd., fol. 3r. 144 »einen schönen Goldreif, / auf den sie Blumen binden / und somit ein Schapel haben wollte«. 145 Wie diese Mirakel auf vergleichbare Weise frömmigkeitsdidaktisch funktionalisiert wurden, versuche ich nachzuzeichnen in Björn Klaus Buschbeck: Funktionalisierungen des Wunders und Erweiterungen zur Legende. Die Dominikus-Mirakel des Ulmer Rosenkranzdrucks von 1483, in: Mystik und Legende. Mediologische Perspektiven, hg. v. Daniela Fuhrmann u. Thomas Müller, Zürich 2023 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 45), S. 57 - 84. 146 Neben den oben bereits angesprochenen Drucken ist hier vor allem ein auf Alanus aufbauendes, umfangreiches Rosenkranzbüchlein zu nennen, das wohl auf eine Initiative der Ulmer Dominikaner zurückgeht: Psalter Marie, Ulm: Konrad Dinckmut 1483 (GW M39197). Vgl. zu diesem Druck ausführlich Sabine Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-Holz- und -Metallschnitten des 15. Jahrhunderts, Zürich 2011 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 7), S. 183 - 193; sowie Buschbeck 2023 und Buschbeck 2022b, S. 46 - 48. 147 Vgl. dazu die Edition des Ripuarischen Marienmantels im Appendix dieses Buchs. 2 Blumengebinde aus Worten und Gedanken: Gaben geistlicher Konkretheit 127 <?page no="128"?> Verinnerlichung und Andacht verschmolzen werden. Wie Anne Winston-Allen anmerkt, ist die Geschichte des Rosenkranzes stark geprägt von dieser oft prekären Vereinigung zwischen einem kontrollierten äußeren Verfahren des betenden Zählens und einer eben nicht quantifizierbaren, mental und affektiv voraussetzungsvollen Andachtspraxis. 148 Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird auf dieses komplexe Verhältnis noch genauer einzugehen sein. Zunächst rückt dabei mit den Klauseln zum Leben-Jesu-Rosenkranz des Dominikus von Preußen eine Texttradition in den Blick, die das zählende und innerlich herstellende Reihengebet als Vehikel für eine intensivierte Form der Passionsmeditation präsentiert. Denn neben Zählen und imaginative Fertigung setzt der Trierer Kartäuser erstmalig den dritten konstitutiven Bestandteil des frühen Rosenkranzbetens: die beim Sprechen der Ave-Gruppen in einzelnen Betrachtungspunkten zu meditierenden › Rosenkranzgeheimnisse ‹ . 148 Dieses Spannungsverhältnis fasst Winston-Allen als »spirituality versus calculation« zusammen (Winston-Allen 1997, S. 6). Dabei bleibt jedoch die Funktion des Zählens, eine Versenkung in betrachtete Gegenstände ebenso wie ihre Produktion gerade erst zu ermöglichen, in dieser Formel unberücksichtigt - statt von einer Dichotomie ist hier eher von einem gegenseitigen Intensivierungsverhältnis auszugehen. In dieser Überlegung folge ich vor allem Largier 2008; ähnliche Gedanken finden sich auch bei Angenendt u. a. 1995. 128 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="129"?> 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause Der Rosenkranz »im heutigen Sinn einer marianischen Leben-Jesu-Meditation« stellt nicht die Folge einer einzigen innovativen Idee oder das Werk eines einzelnen inspirierten Autors dar. 149 Vielmehr muss diese Gebetsform als Produkt einer allmählichen Entwicklung verstanden werden, die, wie das oben behandelte Rosenkranzmirakel und seine Rezeption bezeugen, ihren Ursprung im am Psalter orientierten Reihengebet nahm und ab dem späten 13. Jahrhundert auch Vorstellungen der imaginativen Vergegenwärtigung und gebethaften Herstellung geistlicher Votivgaben einschloss. Ihren frühneuzeitlichen Abschluss fand diese Evolutionslinie durch das Breve Consueverunt vom 17. September 1569, in dem Papst Pius V. die Form des Rosenkranzes kirchenamtlich bindend auf 150 Ave Maria festlegte, die durch 15 Paternoster in Zehnergruppen geteilt werden, wobei jede dieser Gruppen mit einem Betrachtungspunkt zu Leben und Passion Christi verbunden ist. 150 Zwischen der 1569 fixierten Form des Rosenkranzes, die diese Gebetsweise zuungunsten ihrer vielfältigen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sonderformen recht strikt vereinheitlichte, 151 und der gebethaften Fertigung geistlicher Blumengebinde, wie sie in Marien Rosenkranz narrativ entworfen wird, besteht eine Reihe von Unterschieden. Drei davon seien hier herausgegriffen: Erstens rückt im 16. Jahrhundert die Vorstellung eines › handwerklichen Betens ‹ zunehmend in den Hintergrund und verschwindet schließlich ganz. Das Breve Consueverunt erwähnt Ave-Kränze oder sonstige Werkstücke des Betens nicht mehr. Zweitens unterscheiden sich Zahl, Aufteilung und Charakter der Gebetsformeln, die der durch Pius V. festgelegte Rosenkranz verlangt, von der schlichten Fünfzigergruppe aus Ave Maria, die der Protagonist der Wundererzählung täglich aufsagt. Die formale Komplexität dieser Frömmigkeitspraxis hat sich also gesteigert. Drittens schlussendlich schließt die ab 1569 bindende Form des Rosenkranzes meditative Betrachtungen des Lebens und Wirkens Jesu ein, die in dem zu ihrem Ursprungsnarrativ mutierten Mirakel fehlen. Während der Befund, dass das Rosenkranzgebet im späteren 16. Jahrhundert zunehmend nicht mehr als Herstellung eines geistlich-konkreten Blumenkranzes konzipiert wird, im Kontext einer weitreichenderen Entwicklung der christlichen Frömmigkeits- 149 Heinz 1998, S. 404. 150 Vgl. Bullarium, diplomatum et privilegiorum sanctorum Romanorum pontificum Taurinensis editio, Bd. 7, hg. v. Aloysius Tomassetti, Turin 1872, S. 774 - 777 [Nr. CXXXIX], insb. S. 775. 151 Thomas Lentes, der mit dem Himmlischen Rosenkranz eine dieser Sonderformen in den Blick genommen hat, stellt fest, dass »bis weit ins 16. Jahrhundert hinein [ … ] - jedenfalls was die Inhaltsseite betraf - die unterschiedlichsten Rosenkränze« kursierten (Lentes 2003, S. 69). Anne Winston-Allen, die dieses Material kursorisch sichtet, führt diesbezüglich aus: »A look at the contents of prayer books between about 1475 and 1550 reveals a bewildering array of rosaries, forms with 200, 165, 150, 93, 63, 33, 12, and as few as 5 meditations« (Winston-Allen 1997, S. 25). Mit den bei Alanus von Rupe vorgeschlagenen verschiedenen Gebetsweisen des Rosenkranzes werden unten, Kap. II.4.1, einige dieser Sonderformen exemplarisch angesprochen, wobei eine Gesamtschau des enormen Korpus jedoch schon aus Umfangsgründen unmöglich ist. <?page no="130"?> praxis weg von ding- und bildbezogenen Imaginationsübungen wie dem › handwerklichen Beten ‹ zu verstehen ist, 152 geht der päpstlich vorgegebene Aufbau des Rosenkranzbetens aus 150 Ave Maria und 15 Paternoster in erster Linie auf den Marienpsalter des Dominikaners Alanus von Rupe zurück, auf den ich unten genauer eingehe. Die Kombination von zählendem Beten, geistlichem Blumenbinden und einer meditativen Betrachtung des Lebens und Leidens Christi dahingegen reflektiert eine frühere und auch einschneidendere Neuerung. Denn das »Rosenkranzgebet im engeren Sinn konstituiert sich in der gezielten Verknüpfung von Betrachtung und Gebet«, wobei die schriftliche Konzeption dieser Verbindung sich historisch genau situieren lässt: 153 Zumindest in der für die weitere Entwicklung des Rosenkranzes wesentlichen Form wurde sie in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Trierer Kartause St. Alban entwickelt. 154 Unter dem Prior Adolf von Essen (ca. 1350 - 1439) verfasste dort vor allem Dominikus von Preußen (ca. 1384 - 1460) eine Reihe kürzerer Schriften, die der Anleitung und Verbreitung einer neuen Frömmigkeitsübung dienten, die ein an der Mirakelerzählung orientiertes geistliches Kranzflechten mit gezählten Ave Maria und einer durch den Text stimulierten Vergegenwärtigung der Heilsereignisse des Erdendaseins Jesu und Marias vereint. Gegründet im Jahr 1331 durch den Erzbischof Balduin von Trier avancierte St. Alban schnell zu einer der bedeutendsten Kartäuserniederlassungen im deutschsprachigen Raum. 155 In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts darf dieses Ordenshaus geradezu als Innovationslabor der Frömmigkeitsliteratur gelten. Hier entstanden unter anderem Dominikus ’ von Preußen im Folgekapitel genauer besprochenes und im Appendix ediertes Pallium beate Marie virginis und die damit zusammenhängenden Marienmantelschriften, 156 eine ebenfalls aus seiner Feder stammende Andacht zur gebethaften Konstruktion eines inneren Hauses, die voluminöse marianische Dingallegorie Corona gemmaria (ca. 1432 - 1439) 157 sowie der semiautobiographische Liber experientiae (ca. 152 Vgl. dazu die Ausführungen bei Lentes 1999. 153 Albrecht Dröse: Ein newes Gedicht, das von Marie Psalter spricht. Sixt Buchsbaums Rosenkranzgedicht im Herzog-Ernst-Ton, in: Maria in Hymnus und Sequenz: Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven, hg. v. Eva Rothenberger u. Lydia Wegner, Berlin/ Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 345 - 371, hier S. 347. 154 Dass eine Verbindung von 100 Ave Maria mit gebethaft zugefügten Meditationspunkten in lateinischer Sprache bereits in einem um 1300 geschriebenen Gebetbuch der Zisterzienserinnen des Klosters St. Thomas an der Kyll (Trier, Stadtbibl., HS. 1149/ 451 8°) überliefert ist, wird ausführlich behandelt bei Heinz 1977. Diesem Text fehlt einerseits die Komponente des › handwerklichen Betens ‹ ebenso wie jeder Verweis auf das Mirakel Marien Rosenkranz - es handelt sich hier also um eine durch gezählte Mariengrüße in Betrachtungspunkte gegliederte Leben-Jesu-Andacht, die allerdings große strukturelle Ähnlichkeit zu den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen aufweist. Andererseits ist nicht bekannt, ob der unikal überlieferte Text je über St. Thomas an der Kyll hinaus Verbreitung fand. Heinz selbst geht davon aus, dass die Trierer Kartäuser »mit Sicherheit keine Kenntnis von dieser Gebetsform« hatten (Heinz 2003, S. 37). Auf die Ausformung des Rosenkranzgebets im 15. Jahrhundert nahm die zisterziensische Andachtsübung daher keinen direkten Einfluss. Vgl. dazu mit weiteren Ausführungen unten, S. 147. 155 Eine wenn auch den dortigen Schreibbetrieb nicht behandelnde Geschichte dieses Ordenshauses bietet Manfred Olding: Die Trierer Kartause St. Alban von der Gründung (1330/ 31) bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, Salzburg 1995 (Analecta Cartusiana 132). 156 Siehe dazu genauer unten, Kap. III.3. Dieses Korpus ist zudem im Appendix kritisch ediert. 157 Auszüge finden sich abgedruckt bei Anneliese Triller: Jugenderinnerungen an die Heimat im Werke des Kartäusers Dominikus von Preußen (1384 - 1460). Mit einem Quellenanhang mitgeteilt von P. Karl 130 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="131"?> 1439 - 1458). 158 Den größten Einfluss unter dem reichen und bislang nicht befriedigend erschlossenen Schrifttum dieses Ordenshauses jedoch nahm ein Komplex an schriftlichen Gebetsübungen, Exempelsammlungen und Traktatschriften, aufgrund derer die Trierer Kartause »als Ursprungsort des heutigen Leben-Jesu-Rosenkranzes angesehen werden« muss. 159 3.1 Quellenlage und Forschungssituation zum Trierer Rosenkranzkorpus Im Zentrum des Trierer Rosenkranzkorpus stehen die bereits mehrfach erwähnten, womöglich »im Advent des Jahres 1409« entstandenen Rosenkranzklauseln oder Clausulae de vita Christi des Dominikus von Preußen. 160 Diese Gebets- und Meditationsübung ist in den Folgejahrzehnten variantenreich sowohl in der Volkssprache wie auch auf Latein überliefert. Karl Joseph Klinkhammer nahm hierzu vornehmlich aus Gründen des Bauchgefühls an, es sei »unwahrscheinlich, daß die ersten Clausulae in lateinischer Sprache von Dominikus abgefaßt wurden«. 161 Allerdings muss, da Frömmigkeitsliteratur aus der Trierer Kartause regelmäßig parallel in lateinischen und deutschsprachigen Fassungen überliefert ist, ohne dass sich dabei eine klare Abhängigkeit oder chronologische Reihenfolge feststellen ließe, diese These als spekulativ gelten. 162 Vielmehr stellt eine derartige nicht-hierarchische Gleichzeitigkeit von Latein und Volkssprache geradezu ein Charakteristikum dieses Textkorpus dar, das darauf abzielte, zu Gebet und Andacht bestimmte Schriften sowohl im eigenen Ordenskontext als auch für ein lateinunkundiges Laienpublikum zugänglich zu machen. 163 Dementsprechend sind die frühen lateinischen Joseph Klinkhammer S. J., in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 31/ 32 (1967/ 1968), S. 41 - 58. 158 Ediert als Dominicus de Prussia: Liber experientiae I/ II. 159 Heinz 1983, S. 306. 160 Heinz 2003, S. 25. Der lateinische Text ist nach der dem Liber experientiae angehängten Fassung abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 198 - 202, sowie auch in der Ausgabe Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 355 - 359. Erstere Ausgabe wird folgend als › RK lat. ‹ mit Zeilenangabe im Fließtext zitiert. 161 Klinkhammer 1972, S. 225. Die deutsche Fassung aus der Handschrift Köln, Hist. Archiv, MS. Wkf 119, fol. 73r - 77r, die 1469 in der Kölner Kartause fertiggestellt wurde, entspricht inhaltlich und formell bis auf wenige kleine Abweichungen dieser lateinischen Fassung. Klinkhammer hielt sie für die älteste erhaltene Version der Rosenkranzklauseln und druckte diesen Text ab (siehe Klinkhammer 1972, S. 222 - 224). Dieser Abdruck wird folgend als › RK ‹ im Fließtext zitiert. Zur Handschrift vgl. außerdem die Angaben zur Edition des Pallium beate Marie virginis im Anhang der vorliegenden Studie. 162 Dies illustrieren z. B. die unten untersuchten Marienmantelschriften aus diesem Ordenshaus, die jeweils in lateinischen Fassungen und volkssprachigen Gegenstücken überliefert sind. Eine Ausnahme stellt hier Dominikus ’ Constructio domus sive aule Marie dar, die sich primär an das engere kartäusische Umfeld des Verfassers richtet und wohl deshalb nur auf Latein vorliegt. Siehe dazu ausführlich unten, Kap. IV.4.3. 163 Dass sich der volkssprachige Text z. B. bereits in einem 1451 fertiggestellten und von Stefan Lochner repräsentativ illustrierten Gebetbuch findet (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., HS. 70, fol. 142r - 149v), belegt, dass sich die Rosenkranzklauseln unter Laien schnell verbreiteten und zum prestigereichen Text wurden. Die Handschrift wurde vermutlich von professioneller Hand für ein Mitglied der wohlhabenden Kölner Kaufmannsfamilie Hardenrath angefertigt, siehe dazu Gerhard Achten u. Hermann Knaus: Deutsche und niederländische Gebetbuchhandschriften der Hessischen 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 131 <?page no="132"?> und volkssprachigen Rosenkranzklauseln als gleichrangige, in überschneidenden Kontexten des 15. Jahrhunderts zeitgleich zirkulierende Werke zu betrachten. Neben die Rosenkranzklauseln treten mehrere Trierer Schriften, welche die von diesem Text vorgegebene geistliche Übung bewerben, instruieren und erläutern. Hier ist zuerst der Traktat von Unser Frauwen Marien Rosengertlin zu nennen, der eine allegorische Erläuterung der Bezeichnung › Rosenkranz ‹ und des zugrundeliegenden Blumenmotivs bildet, die diese Frömmigkeitsübung in ein Figurationsverhältnis zum Leben Marias und ihres Sohnes setzt und sie dabei an die zeitgenössische Mariologie und Passionsfrömmigkeit rückbindet. 164 Dieser Text, der gegen Ende in eine Betrachtung der mit Rosenblüten verglichenen Wunden Christi übergeht, datiert wohl auf ungefähr 1430. 165 Zum Rosenkranzkorpus aus der Kartause St. Alban gehört an dritter Stelle die sogenannte Zwanzig-Exempel-Schrift, eine volkssprachige Sammlung von in Prosa gehaltenen Mirakeln und Exempla zum Rosenkranzgebet, unter denen sich auch eine Version der Erzählung von Marien Rosenkranz findet. 166 Dabei ist anzunehmen, dass diese Schrift »Dominikus von Preußen selbst zum Verfasser haben dürfte«, denn mehrere der enthaltenen Geschichten finden sich auch in seinem Liber experientiae. 167 Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist diese Kompilation identisch mit den XX a bona exempla nova et vetera, von denen ein Lütticher Benediktinermönch um 1440 schreibt, sie seien in der Abtei St. Laurent vorhanden und stammten ex scriptis carthusiensium treverensium. 168 Da der Text seinem Inhalt her nach den Rosenkranzklauseln entstanden sein muss, kann er folglich zwischen ungefähr 1410 und 1440 datiert werden. Eng verwandt und in den wiedergegebenen Erzählungen teils deckungsgleich mit der Zwanzig-Exempel-Schrift ist Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Darmstadt 1959 (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt 1), S. 138 - 144. Auch Adolfs von Essen auf kurz nach 1434 datierende Vita der lothringischen Herzogin Margaretha von der Pfalz, der er nach eigener Angabe wohl in den Jahren zwischen 1409 und 1415 die Rosenkranzklauseln in deutscher Sprache zugeschickt hatte, veranschaulicht die gezielte Dissemination des Trierer Rosenkranzkorpus in verschiedene soziale Milieus; vgl. Scherschel 1979, S. 139 - 146; sowie, mit zahlreichen Fehlangaben, Klinkhammer 1972, S. 117 - 130. 164 Abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 135 - 156. Folgend im Fließtext als »RG« zitiert. 165 Die lateinische Fassung ist unter dem irreführenden Titel De Commendatione Rosarii abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 163 - 171. Klinkhammer versucht, die beiden Traktate auf eine seiner Interpretation nach um 1400 von Adolf von Essen verfasste Schrift zurückzuführen, die vom Autor selbst 1434 ins Lateinische übertragen worden sei. Nach Adolfs Tod 1439 habe sie Dominikus von Preußen unter Heranziehung nachgelassener Papiere Adolfs zur längeren deutschen Traktatfassung ausgebaut (vgl. ebd, S. 131 - 134 u. S. 161). Diese Datierung und Zuschreibung wird von den erhaltenen Quellen der Trierer Kartause nicht gestützt und muss als fantasievoll gelten. Vor allem Dietrich Schmidtke unterzog Klinkhammers Thesen zum Rosengertlin einer Überprüfung und kam dabei erstens zu dem Ergebnis, dass für die Zuschreibung des ursprünglichen Traktats an Adolf von Essen keinerlei Belege festzumachen sind, diese Schrift jedoch von Dominikus von Preußen in der Corona gemmaria (ca. 1432 - 1439) ausdrücklich als eigenes Werk genannt wird. Diese veränderte Autorzuschreibung lässt auch Klinkhammers Datierung zusammenfallen, weshalb Schmidtke, dem sich hier angeschlossen wird, das Rosengertlin tentativ auf ca. 1430 datiert (vgl. Schmidtke 1982, S. 12 u. S. 240 - 242). 166 Abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 173 - 187; folgend im Fließtext als › ZES ‹ zitiert. 167 Heinz 1983, S. 308. Siehe dazu auch mit berechtigtem Nachdruck Scherschel 1979, S. 141 f. 168 »20 gute Exempel, darunter alte und neue«, »aus den Schriften der Trierer Kartäuser«, Klinkhammer 1972, S. 172. Die hier behauptete Zuschreibung an Adolf von Essen, aus dessen Nachlass Dominikus die Zwanzig-Exempel-Schrift zusammengestellt habe, ist irrig. Sie wird gründlich widerlegt bei Scherschel 1979, S. 141 f. 132 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="133"?> eine Zusammenstellung von fünf lateinischen Rosenkranzmirakeln aus der Trierer Kartause, die Andreas Heinz edierte und für die er schlüssig feststellt, sie dürfe »in den ausgehenden 40er oder den beginnenden 50er Jahren des 15. Jahrhunderts noch zu Lebzeiten des erst 1460 verstorbenen Dominikus niedergeschrieben worden« sein. 169 Auch hier ergibt sich also das für Gebets- und Andachtsliteratur aus St. Alban charakteristische Nebeneinander von Latein und Volkssprache. Zusätzliche Belege für die Verbreitung der Rosenkranzfrömmigkeit durch die Trierer Kartäuser finden sich im Liber experientiae des Dominikus von Preußen sowie in der Vita der lothringischen Herzogin Margarethe von der Pfalz (1376 - 1434). Letztere Schrift fasste Adolf von Essen wohl nach dem Tod der heiligmäßig lebenden Adligen ab. 170 In ihr wird erwähnt, der Dame sei aus Trier »eine Rosenkranzschrift mit Betrachtungspunkten vom Leben Jesu«, also vermutlich die Rosenkranzklauseln, zugesandt worden, die sie mit großem Eifer für ihr privates Beten genutzt habe. 171 Ein Blick auf die Editionslage dieser Werke bietet ein mindestens gemischtes Bild. Denn freilich enthält die Quellensammlung, die der Jesuit Karl Joseph Klinkhammer in den frühen 1970er Jahren herausgab, einerseits allgemein recht zuverlässige Abdrucke der Trierer Rosenkranzschriften nach den nachvollziehbar maßgeblichen und ältesten Textzeugen. 172 Andererseits jedoch entsprechen diese Abdrucke erstens nicht den Ansprüchen an eine moderne Edition und wurden zweitens oftmals unter zweifelhaften Vorannahmen zu Autorschaft und Verfasserintention konstituiert. 173 Eine kritische Ausgabe des Trierer Rosenkranzkorpus bleibt demgemäß ein Forschungsdesiderat - indessen eines, das an dieser Stelle nicht erfüllt werden kann, weshalb ich folgend trotz aller Vorbehalte auf Klinkhammers Texte zurückgreife. Schwer ins Gewicht fällt außerdem, dass von den übrigen Schriften des 15. Jahrhunderts aus der Trierer Kartause allein der zweiteilige Liber experientiae des Dominikus von Preußen in einer (wenn auch nur eingeschränkt nutzbaren) modernen Ausgabe vorliegt. 174 Die sonstigen Texte aus St. Alban blieben bislang unediert, obgleich gerade sie es erlauben, die Entwicklung des Leben-Jesu-Rosenkranzes kultur- und literaturgeschichtlich in einen vielfältigen Kontext von Schriften zu Gebet und Andacht aus diesem 169 Heinz 1983, S. 317. 170 Abgedruckt bei Klinkhammer 1972, S. 118 - 130. Klinkhammers Vermutung, Adolf von Essen habe die Vita bereits zu Lebzeiten der Herzogin ab ca. 1423 abgefasst (vgl. ebd., S. 117 u. 130), um sie nach ihrem Tod zu veröffentlichen, scheint aufgrund der Konventionen hagiographischen Schreibens wenig plausibel. 171 Scherschel 1979, S. 141. Klinkhammers These, bei der Margarethe zugesandten Schrift habe es sich um den Rosengertlin-Traktat gehandelt (vgl. Klinkhammer 1972, S. 131), ist unbegründet und wird von Scherschel zurecht abgelehnt. 172 Vgl. Klinkhammer 1972, S. 117 - 260. In der Absatzstruktur sowie bei der Auflösung von Abbreviaturen, der Schreibung einzelner Zeichen und Worte sowie vor allem in der Interpunktion greift Klinkhammer, wie stichprobenartige Vergleiche zeigten, jedoch teils inkohärent in den Text seiner Handschriften ein. 173 Dies trifft vor allem auf jene Texte zu, darunter das Rosengertlin, bei denen Klinkhammer aus Qualitätsurteilen heraus einzelne Passagen als spätere Zufügung identifiziert und diese durch Kursivdruck ausweist. Diese Eingriffe werden von mir folgend grundsätzlich ignoriert. 174 Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I/ II. Dieser Ausgabe fehlen z. B. ein Apparat, ein Register, eine Erklärung der Editionsprinzipien sowie jegliche Kenntlichmachung der Eingriffe in den Text - von einer Übersetzung des voluminösen lateinischen Werks ganz zu schweigen. Wesentlich handelt es sich hier also um einen Abdruck der Handschrift Trier, Stadtbibl., HS. 751/ 299. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 133 <?page no="134"?> Ordenshaus einzubetten. Mit den im Appendix dieser Studie vorgelegten Editionen der Marienmanteltexte und der Constructio des Dominikus von Preußen versuche ich, zumindest einen Beitrag zur Erschließung dieses bedeutsamen Korpus zu leisten. Auf weitere Texte, darunter die auch volkssprachlich überlieferte Corona gemmaria sowie die zahlreichen an die Rosenkranzklauseln angelehnten christozentrischen Meditationsübungen aus dem Trierer Umfeld, kann in diesem Rahmen jedoch nicht ausführlich eingegangen werden. 175 In der Vergangenheit hat vor allem die Frage nach der Autorschaft dieser Schriften zu erheblichen Kontroversen geführt. Nachdem es um 1900 vor allem Thomas Esser, Herbert Thurston und Heribert Holzapfel gelang, die weitverbreitete Legende, der heilige Dominikus habe zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Kontext der Albigensermission den Rosenkranz › erfunden ‹ , als großangelegte Fiktion des Alanus von Rupe zu dekuvrieren, ist die zentrale Rolle der kartäusischen Rosenkranzklauseln für die Ausbildung dieser Gebetsform weitgehend unbestritten. 176 Eine genauere Sichtung des Trierer Rosenkranzkorpus blieb jedoch mit Ausnahme der bei Esser verstreut abgedruckten Auszüge aus, bis Karl Joseph Klinkhammer sich 1972 dieser Texte annahm. 177 Nicht umsonst aber stellt seine Monographie in der Forschung zu diesem Thema die »most controversial study to date« dar. 178 Klinkhammer nahm aus Gründen, die aus der Außenperspektive kaum begreiflich sind, an, ein Großteil der Rosenkranzschriften, die von den frühen Handschriften entweder anonym überliefert oder explizit Dominikus von Preußen zugeschrieben werden, seien in Wirklichkeit Werke des Priors Adolf von Essen. In enthusiasmiertem Duktus argumentierte er dabei immer wieder gegen die Quellen seiner Untersuchung. Schlüssig evaluierte Rainer Scherschel daher Klinkhammers Monographie und attestierte ihr eine tendenziöse Fixierung auf die historische Figur Adolfs von Essen, dessen Mitwirkung an der Abfassung der Trierer Rosenkranzschriften »nirgendwo belegt« sei. 179 Die »Argumentation Klinkhammers«, so Scherschel, sei »nicht stichhaltig [ … ], sondern [beruhe] weithin auf Vermutungen«, die fürderhin durch eine launige persönliche Verehrung für die weitgehend konstruierte Figur des genialen Priors verzerrt worden seien. 180 175 Die Corona gemmaria ist lateinisch überliefert in Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 1r - 299v; Koblenz, Landesarchiv, MS. Abt. 701, Nr. 130, fol. 1r - 235r; Köln, Hist. Archiv, MS. Wf 152, fol. 2r - 284r. Die ersten beiden Handschriften stammen noch aus der Lebenszeit des Autors und wurden in den späten 1450er Jahren für die Koblenzer Kartause sowie für das Trierer Benediktinerkloster St. Maria ad martyres abgeschrieben, während letztere 1491 für die Benediktinerabtei Maria Laach angefertigt wurde. Eine auszugshafte lateinische Fassung von 1621 ist zudem enthalten in Trier, Stadtbibl., MS. 750/ 298, fol. 41r - 137r. Die deutlich gekürzte deutschsprachige Marienkrone findet sich in der um 1460 geschriebenen Handschrift Köln, Hist. Archiv, MS. GBf 47, fol. 2r - 48r. Siehe dazu Klinkhammer 1972, S. 10 f.; sowie Triller 1967/ 1968. Was die im Anschluss an Dominikus ’ Rosenkranzklauseln entstandenen, von diesem Text abgeleiteten Meditationsübungen aus dem kartäusischen Umfeld angeht, so edierte Klinkhammer zwar eine Auswahl, blieb aber erstens eine überzeugende Genealogie dieser Texte schuldig und ließ zudem wichtiges Material nach Gutdünken aus (vgl. Klinkhammer 1972, S. 193 - 259). Bereits ein Blick in die einen Großteil des Trierer Rosenkorpus enthaltende Sammelhandschrift Köln, Hist. Archiv, Ms. Wkf 112 zeigt, dass hier noch vieles im Detail aufzuarbeiten wäre (vgl. insb. fol. 112r - 121v). 176 Vgl. v. a. Esser 1897; Thurston 1900/ 1901; Holzapfel 1903. 177 Vgl. Klinkhammer 1972. 178 Winston-Allen 1997, S. 7. 179 Scherschel 1979, S. 137. 180 Ebd., S. 146. 134 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="135"?> Die Leistung Klinkhammers, die teils sehr umfangreiche Handschriftenüberlieferung aufgearbeitet und dabei einen Großteil der Trierer Texte zum Rosenkranz erschlossen zu haben, schmälert dies nicht. Jedoch müssen insbesondere die von ihm mit großer Emphase betriebenen narrativen Schilderungen und Wertungen der Entstehungsumstände einzelner Werke cum grano salis gelesen und oftmals sogar völlig verworfen werden. 181 In den Bereich der Fantasie gehört besonders Klinkhammers rührige Rahmenerzählung vom weisen Meister Adolf und seinem treuen, wenn auch psychisch labilen Amanuensis Dominikus, der durch die Lebenslehre des Priors an Leib und Seele genest, unter Adolfs Anleitung in einer Art Selbsttherapie die Rosenkranzklauseln verfasst und sich nach dem plötzlichen Pesttod des verehrten Lehrers im Jahr 1439 gleichsam als dessen wenn auch unzuverlässiger Nachlassherausgeber betätigt. Neben Rainer Scherschel haben vor allem Andreas Heinz und Anne Winston-Allen diesbezüglich detaillierte Kritik an Klinkhammers Thesen geübt, 182 was jedoch nicht verhindert hat, dass seine Ausführungen in der Forschung bis dato mithin unkritisch weiterkolportiert werden. Insbesondere in Bezug auf Fragen nach der Datierung und Autorschaft der Trierer Rosenkranzschriften hat eine kritische Auseinandersetzung mit dem von Klinkhammer gezeichneten Bild weitreichende Konsequenzen. Seine Annahme, Adolf von Essen sei der Urheber dieser Gebets- und Andachtsübung, kippt recht schnell. Denn in seinem Liber experientiae merkt Dominikus wiederholt ausdrücklich an, er habe selbst (ipse) als erstes die christozentrischen Rosenkranzklauseln zum geistlich-konkreten Kranz des Ave-Fünfzigers hinzugefügt. 183 An Dominikus ’ Autorschaft dieses Textes besteht daher kaum Zweifel. Vergleichbares gilt für die Zwanzig-Exempel-Schrift, die sich einerseits am älteren Bestand der Ave-Maria-Mirakel sowie am Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn bedient. 184 Andererseits enthält diese Kompilation auch einige Exempel und Visionsberichte, von denen Dominikus im Liber experientiae und in der Corona gemmaria in 181 Zur Veranschaulichung sei kurz wiedergegeben, wie Klinkhammer die Abfassung der Rosenkranzklauseln darstellt: »In den ersten Monaten seines Noviziats war Dominikus zu nervös und zerfahren, als daß er es fertiggebracht hätte, das › Leben Jesu ‹ [ … ] durchzubetrachten, geschweige denn, es auf seine eigene Lebensgestaltung anzuwenden; da kam ihm der Gedanke, das › Leben Jesu ‹ in 50 Sätze aufzuteilen, um jedem der üblichen Ave eine andere › Clausula ‹ anzuhängen. So schrieb er im Advent 1409, wir würden sagen: einen Schmierzettel, den man fortwirft, wenn er seine Aufgabe erfüllt hat. Er hätte ungläubig gelacht, wenn man ihm damals gesagt hätte, dieser Schmierzettel würde sein bedeutendstes Werk sein« (Klinkhammer 1972, S. 8). Nun fehlt dieser psychologisierenden Schilderung mit Ausnahme der aus dem Liber experientiae entnommenen Rahmendaten jegliche Grundlage - sie gehört, wie viele ähnliche Passagen bei Klinkhammer, in die Sphäre der historical fiction. 182 Siehe am ausführlichsten Scherschel 1979, S. 118 - 151. Winston-Allen 1997 schließt sich Scherschels Kritik an. Andreas Heinz bezeichnet Klinkhammers Heroisierung Adolfs von Essen als › Erfinder ‹ des Rosenkranzes schlicht als »abwegig« (Heinz 2003, S. 26). 183 Z. B. schreibt er: Meditationes et clausulas vitæ I ESU ad Rosarium beatæ M ARIÆ ipse primus addidit, secundum quod nos hic dicimus et habemus. (»Die Betrachtungen und Klauseln über das Leben Jesu hat er, so wie wir sie hier wiedergeben und haben, selbst zum Rosenkranz der seligen Maria hinzugefügt«), Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 377. Dominikus spricht im Liber experientiae grundsätzlich über sich selbst in der dritten Person. Mit dem vorgängigen Rosenkranz ist hier die ihm aus der Erzählung von Marien Rosenkranz bekannte Gebetsweise von 50 imaginierend zum Kranz zusammengebundenen Ave Maria gemeint. 184 Das 19. Exempel ist Mechthild zugeschrieben. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 135 <?page no="136"?> autobiographischer Manier berichtet. 185 Wenn der Erzähler außerdem im 14. Exempel dieser Sammlung in der ersten Person von mynen zijten zu Crocaw in Polande (ZES, Z. 423 f.) spricht, dann kann diese Ich-Aussage eigentlich nur auf Dominikus ’ im Liber experientiae ausführlich behandelte Studienzeit in Krakau bezogen sein. 186 Dementsprechend darf auch hier Dominikus und nicht Adolf von Essen als Primärautor angenommen werden, wobei offenbleibt, ob auch weitere Mitglieder der Trierer Kartause an der Textzusammenstellung beteiligt gewesen sein könnten. Für den Rosengertlin-Traktat ergibt sich ein ähnliches Bild. In der Corona gemmaria merkt Dominikus an: De hoc rosario alium quendam libellum in theutonico conscripsi [ … ], qui hortulus beatae Mariae apellatur. 187 Damit ist recht sicher das Rosengertlin gemeint, 188 womit auch dieser Text ihm zuzuschreiben ist. 189 Obzwar Dominikus von Preußen folglich als Hauptautor des Trierer Rosenkranzkorpus hervortritt, kann eine mindestens mittelbare Mitwirkung anderer Ordensbrüder aus mehreren Gründen dennoch angenommen werden. So engagierte sich erstens auch Adolf von Essen, wie seine Vita Margarethae sowie eine im Liber experientiae und in der Zwanzig-Exempel-Schrift ihm zugeschriebene Rosenkranzvision belegen, bei der Verbreitung der von Dominikus von Preußen entwickelten Gebetsform. 190 Diesbezüglich listet der im 17. Jahrhundert entstandene Bibliothekskatalog der Kölner Kartause auch eine inzwischen verschollene Schrift mit dem Titel De Commendatione Rosarii auf, die er einem Ab Assindia, Adolphus, Cartusianus Trevirensis zuschreibt. 191 Obwohl Klinkhammers Identifikation dieser Schrift mit dem Rosengertlin, wie Scherschel zeigt, irreführend ist, impliziert dieser Katalogeintrag dennoch, dass auch Adolf von Essen eine (wenn auch nicht erhaltene) Propagierungsschrift zum Rosenkranzgebet geschrieben haben dürfte. Zweitens lassen sich weder die von Heinz edierte lateinische Exempelsammlung, die gewissermaßen ein Gegenstück zur volkssprachigen Zwanzig-Exempel-Schrift bildet, noch die spätere lateinische Redaktion des Rosengertlin einem bestimmten Verfasser zuwei- 185 So stammt das 12. Exempel, das von einem von Maria glücklicherweise verhinderten sexuellen Stelldichein des sechzehnjährigen Dominikus mit einer jungfraue, die wol XXX jair kusch was bleben (»Jungfrau, die wohl 30 Jahre keusch gelebt hatte«, ZES, Z. 367 f.), erzählt, aus der Corona gemmaria; die entsprechende Passage ist diskutiert und abgedruckt bei Karl Joseph Klinkhammer S. J.: Jugenderinnerungen im Werke des Kartäusers Dominikus von Preußen (1384 - 1460), 2. Teil, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 33 (1969), S. 9 - 40, hier S. 13 f. u 29 f. Inhaltlich deckungsgleich mit Passagen aus dem Liber experientiae sind z. B. die Traumvision des 5. Exempels (vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 188 f.) sowie das 18. Exempel, das Dominik als Vision Adolfs von Essen wiedergibt (vgl. ebd., S. 377 - 379). 186 »meinen Zeiten in Krakau in Polen«. 187 »Über diesen Rosenkranz habe ich zudem ein anderes Büchlein auf Deutsch verfasst, das › Garten Marias ‹ genannt wird«, Trier, Stadtbibl., HS. 622/ 1554, f. 161r; zitiert nach Schmidtke 1984, S. 241. 188 Auch die spätere lateinische Fassung spricht in Bezug auf die deutsche Vorlage von einem › Hortulum beatae Mariae virginis ‹ , libellum videlicet theutonicum (Klinkhammer 1972, S. 163). 189 Wie Schmidtke 1984, S. 240 - 242, nachweist, verzerrte Klinkhammer hier sogar den Wortlaut seiner Quelle, indem er grundlos conscripsi zu conscripsit konjektierte und den Text auf dieser Grundlage Adolf von Essen zuschrieb (vgl. Klinkhammer, S. 221 f.). 190 Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 377 - 379 und ZES, Z. 523 - 574; sowie die Passage aus Adolfs Vita Margarethae bei Klinkhammer 1972, S. 118. 191 »Von Essen, Adolf, Trierer Kartäuser«, siehe dazu Scherschel 1979, S. 138; sowie mit weiteren Angaben Klinkhammer 1972, S. 3. 136 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="137"?> sen. 192 Drittens ist schwerlich anzunehmen, dass sämtliche der zahlreichen zeitgenössischen Redaktionen und Adaptationen der Rosenkranzklauseln aus Dominikus ’ eigener Feder stammten. 193 Hier ist also nicht von der inspirierten Genieleistung eines einzelnen Autors auszugehen, sondern eher von einem eine Vielzahl von Autoren, Kopisten und Redaktoren einschließenden textuellen Ausdifferenzierungsprozess. In Anlehnung vor allem an Balázs J. Nemes ’ Überlegungen zu Autorschaftskonstituierung in geistlichen Texten, die er am Beispiel der Helftaer Mystik entwickelt, möchte ich auch das Trierer Rosenkranzkorpus als Textverbund verstehen, in dem verschiedene Autorschaftsschichten verschmelzen. 194 Denn auf der einen Seite gehen viele dieser Texte auf Dominikus von Preußen zurück und beziehen sich fundierend auf diesen Autor. Andererseits aber ist hier stets auch eine letztlich offene, anonyme und kommunitäre Schreibebene des Kompilierens, Redigierens, Ergänzens, Übersetzens und Abschreibens mitzudenken. Was bei aller Kontroverse um die Entstehungsumstände der Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause bislang weitgehend fehlt, ist ein close reading dieser Texte selbst, das aus einer wirkungsästhetischen Perspektive die von ihnen angebotenen Modi von Lektüre und Vollzug in den Blick nimmt. Ihre Strategien der Rezipienteneinbindung und -orientierung sowie die hierdurch stimulierten Effekte wurden bisher nicht beleuchtet. Zudem wäre auch ihre Einbettung in den weiteren Kontext des › handwerklichen Betens ‹ noch genauer zu untersuchen. Im Folgenden nun soll beispielhaft versucht werden, auf diese Fragen ein Schlaglicht zu werfen. Als klärende Vorbemerkung dazu steht auch ein kurzer Blick auf die Autorfigur des Dominikus von Preußen aus, der sein literarisches Werk als exemplarische Lebenslehre eines nun im heiligmäßigen Stand angelangten und geläuterten Sünders präsentiert, der mit seinen geistlichen Übungen die ihm zuteilgewordene Gnade weiterzutragen versucht. Für das Verständnis des charismatisch aufgeladenen Wirkanspruchs der Trierer Rosenkranzklauseln ist diese Selbststilisierung aufschlussreich - sie sei deshalb nun ins Sichtfeld gerückt. 192 Vgl. Heinz 1983. Die Annahme bei Klinkhammer 1972, S. 162, der Verfasser und Übersetzer des Rosengertlin sei Adolf von Essen, ist irreleitend. Tatsächlich muss es sich beim Übersetzer und Redaktor auch nicht um Dominikus von Preußen gehandelt haben. Aus dem Text geht hervor, dass der Traktat und die Rosenkranzklauseln zum Zeitpunkt der Übersetzung bereits beträchtlich verbreitet waren (vgl. ebd., S. 163), und nichts belegt, dass das Rosengertlin von Dominikus selbst und nicht von einem anonymen Redaktor übertragen wurde. 193 Die bei Esser 1904 angeführten Beispiele illustrieren die Vielfalt dieser Texte. 194 Siehe v. a. Balázs J. Nemes: Von der Schrift zum Buch, vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg, Tübingen/ Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 55); sowie Ders: Text Production and Authorship: Gertrude of Helfta ’ s Legatus divinae pietatis, in: A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages, hg. v. Elizabeth Andersen, Henrike Lähnemann u. Anne Simon, Leiden/ Boston 2014 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 44), S. 103 - 130. Im Gegensatz zu Nemes ’ Texten beansprucht das Trierer Rosenkranzkorpus jedoch nicht vornehmlich, im letzten Ursprung göttlicher Autorschaft zu sein. Hierin liegt, trotz aller Überschneidungen in Rezeption, Präsentation und Verwendung, ein entscheidender Unterschied zwischen dem meinen Texten inhärenten Autorschaftskonzept und jenem, das Nemes für die Helftaer Mystik beschreibt. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 137 <?page no="138"?> 3.2 Das Vorbild des geläuterten Sünders? Dominikus von Preußen als Autorfigur Selbstbewusst berichtet Dominikus von Preußen im Liber experientiae über den Erfolg und die Breitenwirkung, die seine Gebetsübungen und Andachtstexte entfalteten. Die von ihm bzw. seinem literarischen alter ego Bruder Rupert verfassten Schriften nämlich hätten sich in Windeseile verbreitet und brächten ihm nun nachhaltigen Ruhm ein: De fratre nostro Ruperto cum veritate utique etiam dicere possum, quod non minimam famam bonam habebat in multis locis, ad quæ vel relatu vel scripto eius exercitia pervenerant, præcipue Rosarium gloriosæ Virginis Mariæ, quod per se et per alios millesies mittens in diversas mundi partes pio devotionis affectu disseminavit. 195 Dieser Erfolg als Gebets- und Andachtsautor, dessen Behauptung durch die handschriftliche Überlieferung der Rosenkranzklauseln gedeckt wird, 196 stellt in Dominikus ’ als autobiographisch präsentierter Meistererzählung gewissermaßen den ausgleichenden Höhepunkt eines anfänglich gründlich scheiternden Lebensweges dar. Im Jahr 1384 in Ostpreußen als Sohn einer einfachen Familie geboren, so berichtet der Kartäusermönch, verweigerten ihm seine Eltern zunächst eine formale Bildung. 197 Nach dem frühen Tod seines Vaters aber lässt seine Mutter den elfjährigen Dominikus schließlich doch bei einem alten Dominikaner lesen und schreiben lernen. Dies löst in Dominikus den Wunsch aus, Priester zu werden, und täglich betet er in seiner deutschen Muttersprache: Liebe M ARIA , hilf mir, daz ich wol lere, daz ich werde ein prister ein herre. 198 Da der Junge sich als intellektuell begabt herausstellt, lenkt die Mutter schließlich ein und erlaubt ihm, an der renommierten Universität von Krakau ein Studium zu beginnen, wo er jedoch primum ad peccata et mundi vana c œ pit declinare. 199 Seine Lehrer und 195 »Über unseren Bruder Rupert kann ich im Übrigen zweifelsohne wahrheitsgetreu sagen, dass er an vielen Orten einen nicht geringen guten Ruf genoss, zu denen seine Übungen entweder durch mündliche Mitteilung oder in schriftlicher Form gelangten, insbesondere der Rosenkranz der glorreichen Jungfrau Maria, den er, ihn selbst oder mithilfe anderer tausendfach in verschiedene Teile der Welt verschickend, mit der Leidenschaft frommer Hingabe verbreitete.« Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 299. 196 Die enorme handschriftliche Überlieferung des Textes müsste noch in Gänze erschlossen werden, schon ein erster Blick belegt jedoch ihre beachtliche zeitgenössische Rezeption. Eine Auflistung von 18 beispielhaften Textzeugen bieten z. B. Gisela Kornrumpf u. Paul-Gerhard Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden 1968, S. 255. An früher volkssprachiger Überlieferung der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen sind mir außerdem u. a. bekannt: Darmstadt, Universitäts- und Landesbibl., HS. 70, fol. 142r - 149v; Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. II 203, 104v - 112v; Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen 362, fol. 80v - 86r; München, UB, 8° Cod. MS. 266, 113r - 122r; München, UB, 8° Cod. MS. 269, fol. 95v - 107v; Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 58, fol. 311v - 313r. 197 Dominikus beschreibt seine Eltern als »einfache, rechtgläubige und gerechte Leute« (simplices et bene fideles ac iusti). Die Erwähnung, seine Heimatstadt sei von dennoch bildungsfeindlichen »wohlhabenden Kaufleuten« (divites mercatores) bevölkert gewesen, mag ein Hinweis darauf sein, dass sein Vater Händler war. Er berichtet, die Eltern hätten »ihn kein Studium aufnehmen lassen wollen wegen des verächtlichen Lebens, dass sie bei so vielen Gebildeten sahen« (nullum volebant tradere scholis propter reprobam vitam, quam videbant in quampluribus litteratis). Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 22 f. 198 »Liebe Maria, hilf mir, dass ich gut lerne, so dass ich ein Priester und ein Herr werde«, ebd., S. 23. 199 »zuerst begann, den Sünden und der Eitelkeit der Welt zu verfallen«, ebd., S. 24 f. 138 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="139"?> Kommilitonen prophezeien ihm: Si Rupertum non destruxerint mulieres et ludus, erit tam bonus clericus, sicut Cracoviæ esse poterit. 200 Genau ersteres trifft dann jedoch ein - sein Studium mündet in der persönlichen Katastrophe: Neben zahlreichen sexuellen Eskapaden vergeudet er all sein Geld in tabernis et alibi cum Christianis et Iudæis ludens taxillis. 201 Zunehmend wird er von schrecklichen Dämonen heimgesucht, 202 bleibt der Kirche fern und spottet lästerlich über die Geistlichkeit. Scheinbar ohne Universitätsabschluss beginnt Dominikus ein Vagantenleben, stürzt sich in amouröse Abenteuer 203 und verliert kurz nacheinander mehrere Anstellungen als Notarius aut Pædagogus. 204 Am Tiefpunkt angelangt, versucht er mit 21 Jahren erstmals, in Prag in ein Kartäuserkloster einzutreten, wird wegen seiner Jugend und seines Wankelmuts allerdings schleunig abgewiesen. Vier weitere Jahre der Ausschweifungen folgen. Im Zustand vollkommener moralischer und geistiger Zerrüttung kommt Dominikus schließlich in der Trierer Kartause St. Alban an und bittet verzweifelt um Aufnahme. Der Prior des Ordenshauses, also Adolf von Essen, erbarmt sich seiner und lässt ihn zunächst bei einem Mitbruder beichten: Facta itaque confessione vir ille sanctus Confessor suus, stupefactus ex magnis et multis peccatis iuvenis personæ - quia vix XXV annorum erat - , flere c œ pit et dixit: »Vellem, fili, me non audisse confessionem tuam! « Hoc cum videret ille, videlicet quod fleret Pater ille sanctus, intra se dicere c œ pit: »Ecce alius plorat crimina tua! O quid es tu, canis an homo, quod tu ipse deplorare nescis scelera tua! « Et his in corde dictis, Deus bonitate sua ineffabili aperuit in illo fontem lacrimarum, ita ut concussus tremore in lacrimas resolutus mox fuit, plorans et eiulans nullum verbum plus dicere ad Confessorem potuit. Sed divertens ad latus dextrum in magna contritione et agnitione peccatorum suorum prostratus diu iacebat et flebat. 205 200 »Wenn die Frauen und die Spielerei Rupert nicht zerstören, wird er ein so guter Kleriker, wie er es in Krakau nur sein kann«, ebd. 201 »beim Würfelspiel mit Christen und Juden in Kneipen und anderswo«, ebd. 202 Diese Dämonen suchen ihn auch später immer wieder in seiner Zelle heim und erinnern ihn an sein früheres Leben: Ipsi omnium hominum mores, voces, artes et fallacias ac tyrannorum violentias, meretricum, latronum, pessimorum hominum, sine iugo viventium, sodomitarum ac ceterarum creaturarum proprietates subtilissime in se exprimere norunt, et coram fratre isto Ruperto diversimode ostenderunt, ita ut plures et graviores iniquitates quæ fìunt in mundo cognovit iam manens in claustro, quam ante cognoverat, dum per diversas provincias vagaretur in sæculo.(»Diese [d. h. die Dämonen] verstanden es, die Sitten, Fähigkeiten und Schliche aller Menschen sowie die Gewalttätigkeiten der Tyrannen, die Eigenschaften der Huren, der Räuber, der schlechten Menschen, der zügellos Lebenden, der Sodomiten und sonstigen Geschöpfe in sich nachzuahmen und führten sie vor Bruder Rupert in verschiedenster Weise auf, so dass er dort, während er in der Zelle blieb, noch mehr und schlimmere Schlechtigkeiten, die es auf der Welt gibt, kennenlernte, als er vorher kennengelernt hatte, als er in der Welt durch verschiedene Gegenden vagabundiert war«, ebd., S. 86.) 203 Die Corona gemmaria führt dazu lapidar aus, dass Dominikus in seiner Jugend statt Maria alias saeculi huius virgines et mulieres nequiter adamavit (»leichtfertig andere Mädchen und Frauen dieser Welt liebte«, Klinkhammer 1969, S. 27). 204 »Verwalter oder Lehrer«, Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 24. 205 »Nachdem jener Mann deshalb die Beichte abgelegt hatte, begann sein heiligmäßiger Beichtvater, schockiert von den großen und vielen Sünden eines so jungen Menschen - denn er war kaum 25 Jahre alt - zu weinen, und er sprach: › Ich wollte, mein Sohn, ich hätte deine Beichte nicht gehört! ‹ Als jener dies sah, nämlich wie dieser heiligmäßige Vater weinte, begann er innerlich zu sich selbst zu sagen: › Sieh, wie ein anderer deine Frevel betrauert! Oh, was bist du, ein Hund oder ein Mensch, dass du selbst deine Verbrechen nicht beweinen kannst! ‹ Und als er dies in seinem Herzen gesagt hatte, öffnete Gott in seiner unaussprechlichen Güte in ihm den Brunnen der Tränen, so dass er bald von einem Zittern geschüttelt und in Tränen aufgelöst war, und weinend und schluchzend kein Wort mehr an seinen 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 139 <?page no="140"?> Dieser Ausbruch ehrlicher Reue beeindruckt nicht nur Dominikus ’ Beichtvater und führt schließlich dazu, dass Adolf von Essen ihn in die Trierer Kartause eintreten lässt, sie markiert auch eine Kehrtwende in der erzählten Biographie des Rosenkranzautors. Von nun an stabilisiert sich sein Leben. Dominikus übernimmt einerseits zusehends verantwortungsvolle Ämter im Orden und wird schließlich sogar Vikar, andererseits aber sind es, wie das einleitende Zitat illustriert, vor allem die von ihm verfassten Gebets- und Andachtstexte, die es dem geläuterten Sünder erlauben, auch andere zu jener frommen Umkehr zu lenken, die seinen Lebensweg prägte. Bis zu welchem Grad diese Ich-Erzählung historisch belastbare biographische Erfahrungen ihres Autors wiedergibt, ist kaum festzustellen. Sicherlich ist der Liber experientiae, der die weitgehend einzige Quelle zu Dominikus ’ Leben darstellt und auf dem auch der allergrößte Teil der Informationen zu Adolf von Essen beruht, durch hagiographische und biblisch begründete Erzählmuster überformt. So erinnert Dominikus ’ Ich-Erzählung in weiten Teilen stark an das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium (Lc 15,11 - 32). Zudem präsentiert der Liber immer wieder Einzelepisoden aus der vorgeblichen Lebenserfahrung des Autors als zu imitierende Modelle einer Läuterung des Sünders durch das Gebet und die dadurch erwirkte gnadenmächtige Intervention der Gottesmutter Maria. Ungefähr analog zu »Märtyrerleben, Heiligenviten und Erzählungen der Wüsteneremiten, die als exemplarische Modelle der Imitation und der Nachfolge Christi gelten«, 206 stellt Dominikus hier mit dem charismatischen Anspruch der Autobiographie unterfütterte Exempel einer gelingenden Frömmigkeitspraxis vor, die auch der Leser zur Besserung des eigenen Lebenswandels nachahmen kann. Hierbei scheinen die einzelnen dergestalt exemplarischen Episoden immer wieder nachträglich ausgeschmückt und durch historisch unstimmige Details ergänzt, die allerdings ihren modellhaften Charakter unterstreichen und die gnadenbringende Wirkung marianischer Frömmigkeit eindrücklich veranschaulichen. Als beispielsweise der dreiundzwanzigjährige Dominikus zu Ostern im Zustand völliger Gottesentfremdung in einer Kirche vergeblich zu beten versucht, erscheint ihm eine schöne Dame, in der er Maria erkennt, und bittet ihn um eine Spende für einen Kranken, der im Spital liege. Dominikus hat allerdings all sein Geld verspielt quam unum denarium insignis monetæ, videlicet sancti Ioannis Baptistæ capite dragmatizatum Di œ cesis Nyssensis, den er der Dame freilich sofort bereitwillig gibt und anschließend zumindest für eine Weile von Anfechtungen verschont bleibt. 207 Die Beschreibung des Geldstücks bezieht sich eindeutig auf einen sogenannten › Rempelheller ‹ , eine für ihren notorisch geringen Silbergehalt berüchtigte Kleinmünze, deren Avers den Kopf Johannes ’ des Täufers zeigt. Dieser Münztyp wurde allerdings erst ab ca. 1422 in Breslau geprägt - also mehr als zwölf Jahre nach Dominikus ’ Eintritt ins Trierer Kloster und ungefähr 14 Jahre nach dem Zeitpunkt, an dem die geschilderte Marienerscheinung des Liber dem Autor zuteilgeworden sein soll. 208 Kleinigkeiten wie diese Passage, die zudem starke Parallelen zum neutestamentlichen Münzopfer der armen Beichtvater richten konnte. Stattdessen lag er lange in großer Erschütterung und Erkenntnis seiner Sünden auf seiner linken Seite ausgestreckt da und weinte«, ebd., S. 30. 206 Largier 2016, S. 246. 207 »bis auf einen Pfennig wohlbekannten Geldes, nämlich eine von der Diözese Neisse mit dem Kopf Johannes des Täufers geprägte [Münze]«, Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 25. 208 Vgl. Ferdinand Friedensburg: Die schlesischen Münzen des Mittelalters, Breslau 1931, S. 5 (Nr. 99 - 111). 140 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="141"?> Witwe aufweist (vgl. Lc 21,1 - 4), zeigen, wie sehr die als autobiographisch präsentierten Geschichten des Liber experientiae veranschaulichend dramatisiert und in zeitgenössische Modelle geistlichen Erzählens eingepasst sind. Hier gilt, was Ursula Peters für die sogenannte Frauenmystik des deutschsprachigen Mittelalters postulierte: Auch Dominikus Liber experientiae erweist sich als »eingespannt in hagiographische Deutungsmuster« und seine Schilderungen sind deshalb »nur bedingt als kulturhistorisch relevante Aussagen zu verwerten«. 209 Eine historisch akkurate Schilderung von Dominikus ’ Lebensweg bietet dieser Text also nicht - wohl aber gibt er einen Einblick in das ausgeprägte religiöse Sendungsbewusstsein seines Autors. Mehrere Episoden aus dem Liber experientiae und der ebenfalls als autobiographisch ausgewiesene Anekdoten enthaltenden Corona gemmaria finden sich auch in der Zwanzig- Exempel-Schrift wieder. 210 So enthält diese Sammlung an zwölfter Stelle eine Wundergeschichte von der Wirksamkeit des Ave Maria witder die bosen geiste, die von einer Frau erzählt, die wol XXX jair kusch was bleben, sich nun aber in eindeutiger Absicht mit einem jongen, der kume XVI jare alt was, zu einem Stelldichein verabredet habe (ZES, Z. 366 - 370). 211 Als die beiden jedoch zusammen allein in der Schlafkammer sind, betet sie das Ave Maria und daz heilige suße wort vetreip den bosen geiste oder benam yme sine gewalt, daz her die zwey nicht mochte zu falle bringen (ZES, Z. 376 - 378). 212 Die sexuelle Begegnung bleibt dementsprechend aus und Maria hat den verhinderten Liebhabern, die beide später in ein Kloster eintreten werden, ihre Jungfräulichkeit bewahrt. In der Corona gemmaria steht eine lateinische Entsprechung dieses Gebetsmirakels, das dort eindeutig als biographische Episode gerahmt ist. 213 Indem Dominikus diese Erzählung ebenso wie andere in seinen lateinischen Werken berichtete Begebenheiten in der Zwanzig-Exempel-Schrift neben eine Version von Marien Rosenkranz (vgl. ZES, Z. 1 - 43) und andere gängige Marienmirakel stellt, präsentiert er Narrative, die mit dem Anspruch eigener Erfahrung aufgeladen sind, als Zeugnisse der Wirksamkeit einer Gebetsfrömmigkeit, wie sie seine Rosenkranzschriften anleiten. Für Heinrich Seuse, dessen Werk Dominikus von Preußen gut kannte, 214 spricht Susanne Bernhardt von einem › exemplarischen Erzählen ‹ , in dem die Figur des autobiographischen Erzählers »nicht nur zum Beispiel eines vorbildlich beschrittenen Heilsweges« werde, »sondern dem Erleben der Figur [ … ] Authentizität zugeschrieben [wird] und das von höchster, von göttlicher Seite.« 215 Von einem ähnlich ausgestellten Anspruch 209 Peters 1988, S. 192. 210 So entsprechen z. B. das 17. und 18. Exempel, die von den Rosenkranzvisionen des verstorbenen Priors Adolf handeln (vgl. ZES, S. 184 - 186), in fast wortgetreuer Übersetzung Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 377 - 379. Eine Vorlage des fünften Exempels, das von einer Traumvision des Dominikus berichtet (ZES, S. 176), findet sich ebd., S. 188 f. Das sechste und zwölfte Exempel (ZES, S. 177 u. 181) nehmen Rekurs auf die Corona gemmaria. 211 »gegen die bösen Geister«, »wohl 30 Jahre enthaltsam geblieben war«, »Jungen, der kaum 16 Jahre alt war«. 212 »das heilige Wort vertrieb den bösen Geist oder raubte ihm seine Kraft, so dass er die beiden nicht zu Fall bringen konnte.« 213 Abgedruckt bei Klinkhammer 1969, S. 29 f. 214 Im Liber experientiae wird der discipul[us] aeternae Sapientiae, qui Horologium aeternae Sapientiae compilavit (»Schüler der Ewigen Weisheit, der das Horologium sapientiae verfasste«) sogar als literarisches Vorbild genannt; Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 349. Vgl. auch Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 12. 215 Bernhardt 2016, S. 24. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 141 <?page no="142"?> des Exemplarischen, der auf der berichteten Gnadenwirkung der propagierten Frömmigkeitsübungen aufruht, könnte auch bei Dominikus von Preußen gesprochen werden. Denn in der narrativen Selbststilisierung dieses Autors gewinnen die Erlebnisse des nun geläuterten Sünders den Charakter der › authentischen ‹ Affirmation einer religiösen Praxis, die ihrem Publikum ähnliche Gnadenwirkungen verheißt. Bereits hieran zeigt sich der durchaus ambitionierte heilsvermittelnde Anspruch, den Dominikus seinen Gebets- und Andachtsschriften und besonders den Rosenkranzklauseln zudachte. 3.3 Heilsereignisse als Blumen der Betrachtung: Die Trierer Rosenkranzklauseln In erster Linie bestehen die Rosenkranzklauseln, wie durch das Mirakel Marien Rosenkranz und die Tradition des in drei Fünfzigergruppen geteilten › Ersatzpsalters ‹ aus Ave- Reihungen vorgegeben, aus fünfzig Englischen Grüßen, wobei den beiden im Ave Maria verbundenen Bibelversen der Name › Jesus Christus ‹ zugefügt wird. Letztere Beifügung geht auf die Verehrung des Namens Jesu im 13. und 14. Jahrhundert zurück und wird um 1400 mit allerdings nicht sicher bezeugten päpstlichen Ablässen in Verbindung gebracht. 216 Für Dominikus von Preußen zumindest stellte dieser Ausbau des Mariengrußes eine noch recht junge Neuerung dar - denn in der Zwanzig-Exempel-Schrift erwähnt er die heiligen namen Jesus Christus, die man nu sprechet in dem Ave-Maria, und merkt dazu an: Die man vor nicht sprach und noch by mynen zijten in Crocaw in Polande nicht sprach noch schreip den kindern in der schulen by daz Ave-Maria (ZES, Z. 421 - 425). 217 Diese neue Ausweitung des Mariengrußes zum Jesusgebet erlaubte es dem Trierer Kartäuser, mit den Rosenkranzklauseln den aus einem Ave-Fünfziger imaginativ gefertigten Blumenkranz zur Gebets- und Andachtsübung umzukonzipieren, die der Meditation des Lebens und der Passion Christi dient. Dazu fügte er jedem Ave Maria einen auf das letzte Wort vor dem › Amen ‹ , also auf den Namen › Jesus Christus ‹ bezogenen Relativsatz bei. Die ersten drei Rosenkranzklauseln lauten in der lateinischen Fassung entsprechend so: Ave, Maria, gratia plena, Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui Jesus Christus. (1) Quem Angelo nuntiante de spiritu sancto concepisti. Amen. (2) Quo concepto in montana ad Elyzabeth ivisti. Amen. (3) Quem, virgo sancta mente et corpore semper permanens, cum gaudio genuisti. Amen. (RK lat., Z. 1 - 7) 218 216 Vgl. Scherschel 1979, S. 83 - 90. 217 »heiligen Namen Jesus Christus, die man heute im Ave Maria spricht. Diese hat man vormals nicht gesprochen, und noch zu meiner Zeit in Krakau in Polen hat man sie im Schulunterricht für die Kinder weder in gesprochener noch in geschriebener Form zum Ave Maria hinzugefügt«. 218 »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus Christus. (1) Den du durch den Engelsboten vom Heiligen Geist empfangen hast. Amen. (2) Mit dem schwanger du auf den Berg zu Elisabeth gegangen bist. Amen. (3) Den du, ewig eine heilige Jungfrau an Körper und Geist bleibend, mit Freude geboren hast. Amen.« 142 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="143"?> Zunächst stellen diese drei Punkte den Anfang eines zu betrachtenden Christuslebens dar, das mit der Verkündigung beginnt und mit der Herrschaft Christi im Himmel endet. Dass die beiden ersten Klauseln die Verkündigung und den Besuch bei Elisabeth zum Thema haben, ist dabei signifikant, ist doch der Kerntext des Ave Maria den so referierten Bibelstellen (Lc 1,28 und Lc 1,42) entnommen. Hierdurch erscheint die Bezugnahme auf diese beiden Episoden des Neuen Testaments naheliegend und plausibilisiert, dass die Aneinanderreihung der Betrachtungspunkte nahtlos weitere neutestamentlich berichtete Ereignisse aufruft. So behandeln die ersten sechs Klauseln die Schwangerschaft Marias sowie die Geburt Jesu, die siebte bis 14. Klausel dienen der Meditation der Kindheitswunder, während die Klauseln 15 bis 20 das Erwachsenenleben Christi zum Gegenstand haben. Den Geschehnissen von der Taufe Jesu im Jordan bis zur Auferweckung des Lazarus wird hierbei je ein einzelner, an das Ave-Gebet angehängter Betrachtungspunkt gewidmet. Im Kontext der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit überrascht es nicht, dass der Schwerpunkt des Leben-Jesu-Rosenkranzes auf den Karfreitags- und Osterereignissen liegt, die das Thema der Klauseln 21 bis 44 bilden. 219 Beginnend mit dem Einzug in Jerusalem wird von diesen Punkten eine Passionsandacht angeleitet, die das Leiden des Gekreuzigten in der Auferstehung seinen triumphalen Abschluss finden lässt. Die letzten sechs Klauseln schließlich lenken den inneren Blick der Betenden auf das Pfingstwunder und die himmlische Herrschaft Christi. 220 219 Zum Stellenwert der Passionsfrömmigkeit siehe z. B. Kemper 2006. 220 Dies bezieht sich auf die lateinische Fassung. Die bei Klinkhammer abgedruckte frühe volkssprachige Fassung ist zwar strukturell und inhaltlich grob deckungsgleich, weist jedoch einige Varianten auf. Einzelne Klauseln stehen in anderer Reihenfolge oder akzentuieren abweichende biblische Ereignisse. Somit ergibt sich folgende Aufteilung: Klauseln 1 - 6: Verkündigung, Schwangerschaft Mariens und Geburt Christi. Es fehlt die vierte Klausel der lateinischen Clausulae, die das biblisch unbezeugte Motiv der Maria lactans zum Thema hat. Klauseln 7 - 12: Kindheitswunder. Die Prophezeiung des Simeon (Lc 2,25 - 35), in den lateinischen Rosenkranzklauseln an zehnter Stelle, bleibt unerwähnt. Klauseln 13 - 19: Wunder, Predigten und Taten Christi. Manche Klauseln sind im Vergleich mit der lateinischen Fassung leicht gekürzt. Klausel 19, die zur Betrachtung der Verklärung des Herrn auf dem Berg Tabor (Lc 9,28 - 36) anleitet, fehlt im Lateinischen. Klauseln 20 - 45: Passion und Auferstehung. Hier ergeben sich die größten Abweichungen. Vor allem Namensnennungen sind konsequent gekürzt. Ausgelassen werden im Vergleich mit der lateinischen Fassung der Weg des gefangenen Jesu zu den Hohepriestern (Lc 22, 54), das Urteil des Pilatus (Lc 23,13 - 25) und die Versiegelung des Grabes durch die Juden (Mt 27,66). Dahingegen weitet die volkssprachige Fassung die Misshandlungen Jesu durch seine Wächter (lat. Klausel 26, dt. Klauseln 24 und 25) sowie die Dornenkrönung und Verspottung (Mt 27,29; lat. Klausel 29, dt. Klauseln 27 und 28) aus. Hinzugefügt werden zudem die Klausel 37 zum Durstruf (Io 19,28) sowie die Klauseln 30 und 31 zur Kreuztragung, bei der Jesus seiner Mutter Maria und den übrigen Frauen begegnet (vgl. Lc 23,26 - 31). Diese drei Betrachtungspunkte fehlen in der lateinischen Fassung. Das Zusammentreffen mit Maria auf dem Kreuzweg ist biblisch nicht erwähnt, sondern entspringt der passionsbezogenen Marienfrömmigkeit des Mittelalters. Klauseln 46 - 51: Himmelfahrt und Herrschaft Christi. Die Klausel 48, die auf die Erwartung des Jüngsten Gericht verweist, fehlt im Lateinischen, wohingegen die volkssprachige Fassung wiederum die lateinische Klausel 49, in der die Rolle Marias als Fürbitterin betont wird, auslässt. Die Unterteilung der volkssprachigen Rosenkranzklauseln in insgesamt 51 Punkte stammt von Klinkhammer und ist wahrscheinlich irreführend. Im Vergleich mit der lateinischen Fassung scheint es wahrscheinlich, dass die von ihm getrennten Klauseln 27 und 28 eigentlich einen einzigen Betrachtungsgegenstand bilden sollen und die Zahl 50 somit gewahrt bleibt. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 143 <?page no="144"?> Die Rosenkranzklauseln sind somit als eine in Punkte gegliederte Gebets- und Andachtsübung zum Leben Christi zu verstehen, die durch je nach Betrachtungsgegenstand abgewandelte Standardgebete strukturiert wird. In der bereits durch die Grußform des Ave-Gebets vorgegebenen Hinkehr zu Maria soll der Betende ausgewählte Episoden des Neuen Testaments zusammenfassend nacherzählen und sich hierbei innerlich vergegenwärtigen. Dies impliziert erstens einen Prozess der Immersion in das vergangene Heilsgeschehen, dessen Bilder und Ereignisse durch den Text evoziert, das heißt »im Gang der Lektüre und Kontemplation in Aisthesis, also in Wahrnehmungsereignisse überführt« werden. 221 Der betende Mensch ist dabei zum inneren und im Fall eines lauten Betens auch äußeren Vollzug des Textes aufgefordert, also zu einer Form der Performanz, die sich mit Erika Fischer-Lichte generell verstehen lässt »als ein komplexes kognitives, imaginatives, affektives und energetisches Geschehen in einer liminalen Situation, das dem lesenden Subjekt neue Möglichkeiten zu fühlen, zu denken, sich zu verhalten und zu handeln« eröffnet. 222 Darin leiten die Rosenkranzklauseln zunächst an zu einer auf Christus gerichteten Praxis des Erinnerns, die den vor allem von Mary Carruthers beschriebenen »monastic traditions of memoria as the prayerful, ruminative contemplation of biblical texts« entspringt. 223 Diese Form der memoria, wie Carruthers ausführt, besteht nicht in einem schlichten mentalen Abruf von Wissen über heilsgeschichtliche Zusammenhänge oder in besonderer Bibelfestigkeit. Vielmehr meint sie einen Prozess des Vergegenwärtigens und Verfügbarmachens innerer Bilder und Ideen, die einerseits eine spezifische Wirkung auf den Erinnernden entfalten sollen und andererseits wiederum den Anstoß geben »to make new things: prayers, meditations, sermons, pictures, hymns, stories, and poems.« 224 Die durch den wiederholt gebeteten Mariengruß vertikal hergestellte kommunikative Nähe zum Heiligen, in der die Stationen des Lebens Christi im Zuge einer horizontalen Vermittlung zwischen Text und Leser als je neu und wirksam heraufbeschworen werden, besitzt hierin auch die figurative Qualität eines innerlich-realisierenden Neuvollzugs vorgängiger Geschehnisse. Wirkungsästhetisch betrachtet zielen die Rosenkranzklauseln somit auf eine Orientierung der Betenden auf die angerufene Gnadenmittlerin Maria und das zum inneren Wahrnehmungsgenstand werdende Wirken Christi. Der Text kann darin zunächst als Hilfsmedium verstanden werden, das dem Lesepublikum ein Skript für den Versuch der je eigenen Partizipation an der durch Christus und Maria vermittelten Gnade an die Hand gibt und hierbei eine Praxis des meditativen Gebets zumindest in ihrem Rahmenverlauf präfiguriert. 225 Zusätzlich aber stützt der Text sich selbst bereits auf derartige textuelle Präfigurationen - hierzu merkt Rainer Scherschel an, »wie sehr diese Klauseln an der Heiligen Schrift orientiert sind«. 226 Die in den jeweiligen 221 Largier 2014, S. 48. 222 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2 2013, S. 143. Zu rezeptionsästhetischen Charakteristika performativer Texte siehe ebd., S. 135 - 145; weiterführend vgl. auch Dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/ Basel 2001. 223 Mary Carruthers u. Jan M. Ziolkowski: General Introduction, in: The Medieval Craft of Memory. An Anthology of Texts and Pictures, hg. v. Dies., Philadelphia 2002, S. 1 - 31, hier S. 20. Siehe zu diesem Thema auch Carruthers 1998. 224 Carruthers/ Ziolkowski 2002, S. 3. 225 Vgl. Hamm 2009 und die Diskussion seiner Typologie der Heilsmedien oben, Kap. I.3. 226 Scherschel 1979, S. 128. 144 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="145"?> Betrachtungspunkten referierten Evangelienstellen sind in den meisten Fällen genau auszumachen. Auch sprachlich orientiert sich zumindest die lateinische Fassung eng an der Vulgata. Eigene literarische Ausschmückungen oder allzu präsente Rückgriffe auf apokryphe Traditionen unterlässt der Text zumeist. Die Rosenkranzklauseln präsentieren sich somit prinzipiell als zur Erfüllung in Betrachtung und Gebet aufbereitete Neu- und Rekonfiguration des biblischen Prätextes. Scherschel attestiert in Anbetracht dieser engen Gebundenheit an die Evangelien, dass Dominikus sich »hütete [ … ], nichtschriftgemäße Fakten einzuflicken«. 227 Ein genauer Blick auf die einzelnen Klauseln zwingt jedoch dazu, hier genauer zu differenzieren. Denn Dominikus paraphrasiert nicht nur die Erzählungen des Neuen Testaments, sondern rückt sie auch ins Licht ihrer im Spätmittelalter gängigen Auslegung sowie ihrer Ikonographie in der bildenden Kunst. So ist beispielweise die Vorstellung von der schmerzlosen Geburt Jesu, welche die oben zitierte dritte Klausel aufruft, nicht direkt biblischen Ursprungs, sondern stellt ein Produkt der exegetischen Tradition dar. 228 Gleiches gilt für die Episode von Christi Abstieg in die Unterwelt (vgl. RK lat., Z. 82 f.; RK, Z. 77 f.) sowie für die nur in der volkssprachigen Fassung der Rosenkranzklauseln behandelte Begegnung mit Maria auf der via dolorosa, bei der Christus syn leyff moder ind ander vrauwen ansprach (RK, Z. 52). 229 Das Motiv der Maria lactans dagegen, das aufscheint, wenn Jesus betrachtet wird, quem [ … ] virgineis tuis uberibus lactasti (RK lat., Z. 9 f.), 230 entspringt weder der Schrift noch ihrer Exegese, sondern ist eine Entwicklung der frühchristlichen Ikonographie. 231 Auch der Pietà-Szene, die ebenfalls nicht in den Evangelien beschrieben wird, sondern sich als Bildmotiv entwickelte, ist ein Betrachtungspunkt gewidmet. Allerdings relativiert die Gebetsübung hier auf aufschlussreiche Weise, wenn sie betont vorsichtig von Christus spricht, der van deme cruitze dijr in dynen schois geleget wart, als man mylde gelouvet (RK, Z. 73 f.). 232 In dem angehängten Verweis auf die Begründung des evozierten Motivs in der Glaubenstradition scheint ein reflektierendes Bewusstsein derartiger Extrapolationen mitzuschwingen. Die Rosenkranzklauseln schlicht als Paraphrasen ausgewählter Evan- 227 Ebd. 228 Die Herleitung dieser theologischen Lehrmeinung erklärt konzise Christoph Burger: »Wer annahm, dass Maria durch eine besondere Gnade Gottes von ihrer Empfängnis an von den Folgen der Erbsünde frei geblieben sei, der ging folgerichtig davon aus, dass auf sie auch der Fluch Gottes laut Genesis 3,16 nicht zutreffe: › Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. ‹ Man glaubte also, Maria habe eine schmerzlose Schwangerschaft gehabt und sie habe ihr einziges Kind, Jesus, ohne Schmerzen geboren«, Christoph Burger: › Sie ist mir lieb, die werte Magd ‹ . Martin Luthers Lied auf die Kirche - nicht auf Maria, in: Maria in Hymnus und Sequenz: Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven, hg. v. Eva Rothenberger u. Lydia Wegner, Berlin/ Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 373 - 393, hier S. 377. 229 »seine liebe Mutter und andere Frauen ansprach«. In Lc 23,26 - 31 wird lediglich von einer Gruppe anonymer Frauen berichtet, an die Christus einige Worte richtet, Marias Anwesenheit ist dabei nicht impliziert. 230 »den [ … ] du mit deinen jungfräulichen Brüsten stilltest«. 231 Vgl. Peter Morsbach: Art. Lactans (Maria lactans), in: Marienlexikon 3 (1991), S. 701. Das Bildmotiv geht wohl auf eine bereits frühchristliche Übernahme der römisch-ägyptischen Ikonographie der stillenden Isis zurück, siehe Sabrina Higgins: Divine Mothers: The Influence of Isis on the Virgin Mary in Egyptian Lactans-Iconography, in: Journal of the Canadian Society for Coptic Studies 3/ 4 (2012), S. 71 - 90. 232 »von dem Kreuz dir in den Schoß gelegt wurde, wie man großmütig glaubt«. In der lateinischen Fassung heißt es entsprechend ut pie dicitur (»wie fromm gesagt wird«, RK lat, Z. 77). 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 145 <?page no="146"?> gelienstellen aufzufassen, wirkt daher nicht ganz treffend. Eher liegt hier eine eng am Schrifttext orientierte und doch eigenständige geistliche Übung vor, die in enger Anlehnung an ihren biblischen Prätext gezielt einzelne Szenen aufruft, akzentuiert und mit Rückgriffen auf die zeitgenössische Schriftexegese sowie auf ikonographische Topoi verbindet, die in der religiösen Kunst des 15. Jahrhunderts fest verankert sind. 233 Die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens im Rosenkranzgebet bekommt dadurch auch eine hermeneutische Qualität. Sie ermöglicht nicht nur eine imaginative Immersion des Rezipienten in die biblischen Ereignisse, sondern deutet sie zudem und rahmt die einzelnen Betrachtungspunkte in einen zeitgenössischen Verstehenshorizont. Am Fluchtpunkt steht hierbei ein »Beten mit Konsequenzen im alltäglichen Leben«, das im Sinne einer inneren imitatio Christi zur »Besserung des Lebens in der Richtung des Vorbildes Christi« führen soll. 234 Vermittelt und unterstützt wird die mit dieser Wirkungshoffnung verbundene Übung vom Text. Dem Schriftmedium eignet dabei jedoch dezidiert kein › magischer ‹ Charakter, der eine Äquivalenzreaktion in Form einer Forcierung göttlicher Hilfe intendierte. Vielmehr hebt es ab auf die Vermittlung sowohl von betender Hinkehr zum Heiligen als auch sprachlich erzeugter Wahrnehmungsereignisse, also auf einen spezifischen Umgang mit rhetorischer Form und immersiv wirksamen Stimuli. Letztlich schlägt sich dies in einer inneren Gegenwart des dergestalt erfahrbar werdenden Heilsgeschehens nieder, die eine Nachfolge Christi im extratextuellen Leben der Betenden asulösen soll. Diese Effekte werden angeregt auch durch die rhetorische Gestalt des Gebetstexts. Ein diesbezüglicher Blick auf die Rosenkranzklauseln verdeutlicht, wie hier dem im Grunde eine einzige Apostrophe darstellenden exordium des Ave-Maria, das sich aus einer invocatio und den Segensworten der Elisabeth zusammensetzt, eine je variierende narratio zugefügt wird: 235 Gegroisset sistu Maria volgenaden, der Here is myt Dijr. Du bist gebenedijt in den vrauwen, gebenedijt is de vrucht dynes lyves Jesus Christus. [ … ] (20) Der up den palmdagh zo Jerusalem myt groesser eren intfangen wart. (21) Der synen jungeren gaff synen heilgen licham an den aventessen. (22) Der in dem garden bede jnd sweiste blodigen sweis. (23) Der sich leiss vangen, bynden ind voeren van eyme richter zo den ander. (RK, Z. 1 - 4; 35 - 41) 236 Ein derartiges Verfahren der mit Gebeten verbundenen und in Einzelpunkte gegliederten Betrachtung, die zwischen Anrufung des Göttlichen und mahnender Darlegung der zu 233 Wie häufig sich entsprechende Motivübernahmen aus der bildenden Kunst in geistlichen Übungen des Spätmittelalters finden, zeigt der Beitrag von Jeffrey F. Hamburger: The Visual and the Visionary: The Image in Late Medieval Monastic Devotions, in: Ders.: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 111 - 148. 234 Scherschel 1979, S. 130. 235 Vgl. dazu oben, Kap. I.3. 236 »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus Christus. (20) Der am Palmsonntag in Jerusalem mit großen Ehren empfangen wurde. (21) Der seinen Jüngern beim letzten Abendmahl seinen heiligen Leib zu essen gab. (22) Der in dem Garten betete und Schweiß und Blut schwitzte. (23) Der sich gefangen nehmen, binden und von einem Richter zum nächsten führen ließ.« 146 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="147"?> meditierenden Gegenstände oszilliert und damit sowohl eine kommunikative Nähe zur Transzendenz wie auch eine innere Gegenwärtigkeit der aufgerufenen Personen, Ereignisse und Gegenstände herstellt, hatte zu Beginn des 15. Jahrhunderts bereits eine lange Tradition. Dominikus von Preußen konnte mit dieser geistlichen Übung an ein beträchtliches Korpus vergleichbarer Texte anknüpfen. Wie Andreas Heinz im Detail nachweist, wurde die Verbindung von wiederholten Ave- Gebeten mit jeweiligen Meditationspunkten bereits mehr als hundert Jahre vor Entstehung des Trierer Rosenkranzkorpus von den Zisterzienserinnen des Klosters St. Thomas an der Kyll in der Eifel praktiziert. 237 Strukturell nämlich ähnelt eine lateinische, in einem um 1300 geschriebenen Gebetbuch dieses Ordenshauses überlieferte »rosenkranzähnliche Gebetsübung« 238 den Klauseln des Dominikus von Preußen recht stark: An insgesamt 98 Ave Maria wird dort jeweils eine mit quia ( › weil ‹ ) eingeleitete Begründung dafür angefügt, weshalb Marias Leibesfrucht gebenedeit sei. 239 Auch hier handelt es sich um eine auf erweiterten Mariengrüßen basierende, christozentrische Gebets- und Andachtsübung, die allerdings sowohl in der Zahl der verlangten Gebete als auch in ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung von Dominikus ’ Leben-Jesu-Rosenkranz abweicht. Die Betrachtungspunkte des zisterziensischen Texts beginnen mit der Schöpfung und enden beim Jüngsten Gericht, umfassen also nicht nur das Leben Christi, sondern den Gesamtverlauf der christlichen Heilsgeschichte. Dass diese unikal überlieferte geistliche Übung die Rosenkranzklauseln direkt beeinflusste, ist mindestens unwahrscheinlich. Heinz geht davon aus, dass »die Trierer Kartäuser mit Sicherheit keine Kenntnis von dieser Gebetsform« hatten. 240 Obwohl also keine textgenetische Linie zwischen der Andachtsübung der Zisterzienserinnen von St. Thomas und dem Trierer Rosenkranzkorpus anzunehmen ist, steht ersterer Text doch stellvertretend für ein vielfältiges literarisches Genre der gebethaften Passions- und Christusmeditation in Einzelpunkten, 241 mit dem Dominikus von Preußen aller Wahrscheinlichkeit nach vertraut war. Die Entwicklung einer entsprechenden lateinischen Textgattung verläuft von den um 1100 entstandenen Orationes sive meditationes des Anselm von Canterbury über die pseudo-bonaventurischen, auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datierenden Meditationes vitae Christi bis hin z. B. zu den Mitte des 15. Jahrhundert von Thomas von Kempen verfassten Orationes et meditationes de vita Christi. 242 Erste Beispiele eigenständiger volkssprachiger Passionsandachten wie die 237 Vgl. Heinz 1977; sowie Heinz 2003, S. 36 - 38. 238 Heinz 1977, S. 280. 239 Der Text ist abgedruckt ebd., S. 282 - 284. 240 Heinz 2003, S. 37. 241 Prominent gehören hierzu die bei Palmer 2020 untersuchten Texte Heinrich Seuses, Bonaventuras, Ludolfs von Sachsen und Jordans von Quedlinburg. 242 Mit großer Akribie wird dies nachgezeichntet bei Thomas H. Bestul: Texts of the Passion. Latin Devotional Literature and Medieval Society, Philadelphia, PA 1996 (Middle Ages Series), insb. S. 26 - 68. Bestuls Studie gibt nicht nur einen hilfreichen Überblick über die Entwicklungen, Besonderheiten und Abhängigkeiten im Feld der lateinischen Passionsliteratur des Mittelalters, sie handelt auch vergleichend die Herausbildung einzelner Motivkomplexe ab und stellt einen Katalog der Texte dieser Gattung zur Verfügung, der moderne Editionen, die Überlieferungslage samt der jeweils wichtigsten handschriftlichen Überlieferungszeugen, Incipits und Besonderheiten der einzelnen Texte auflistet (ebd., S. 186 - 192). 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 147 <?page no="148"?> anonym überlieferten Christi Leiden in einer Vision geschaut 243 und vor allem die in der Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters beinahe omnipräsenten Hundert Betrachtungen Heinrich Seuses 244 tauchen, wie Tobias A. Kemper aufzeigt, im Zeitraum um 1330 auf. 245 Letzterer Text ist, ähnlich wie die Rosenkranzklauseln, in einzelne Meditationspunkte gegliedert, die je von einem Paternoster, Ave Maria oder Salve regina begleitet werden sollen und, so Alois Maria Haas, »nicht in narrativer Form, sondern in bloßer Reihung der zu betrachtenden Geschehnisse« die Ereignisse der Passion von Jesu Gebet im Garten Gethsemane bis hin zur Trauer Marias bei der Grablegung wiedergeben. 246 Zwischen deutschsprachigen Texten wie Seuses Hundert Betrachtungen und der entsprechenden lateinischen Gebets- und Andachtsliteratur des Spätmittelalters bestand dabei, was Thomas H. Bestul als »relation [ … ] in terms of mutual reciprocity and interpenetrability« bezeichnet. 247 Auch Dominikus ’ Rosenkranzklauseln und die oben erwähnte zisterziensische Gebetsübung fügen sich in dieses wechselseitige Beziehungsgeflecht ein. Dabei sind jedoch kaum direkte Abhängigkeiten von einzelnen Vorläufertexten zu suchen. 248 Viel eher ist von einer im Spätmittelalter in Frömmigkeitspraxis und -literatur grundsätzlich verbreiteten Gattung und Technik des gebethaft in Punkte gegliederten meditativen Umgangs mit Christi Leben und Leiden auszugehen, auf der Dominikus seinen Rosenkranz aufbaute. 249 Was den aus einem Ave Maria und dem jeweils zugefügten Relativsatz zusammengesetzten Gebeten der Rosenkranzklauseln im Gegensatz zum Beispiel zu Seuses Hundert Betrachtungen prominent fehlt, ist eine in Hinwendung an Christus und Maria vorgebrachte Bitte. Zwar wird mit dem Mariengruß eine Kommunikationsbeziehung zwischen den in die Ich-Rolle eingetauchten Betenden und der Gottesmutter etabliert und die anschließende kurze narratio der Klausel dient der meditativen Versenkung in die neutestamentlich bezeugten Ereignisse. Mit welcher Intention dies jedoch erfolgt, lässt der Text als individuell zu füllende › Leerstelle ‹ offen. 250 Bloß wenn die Rosenkranzklauseln das betende Ich gegen Ende der Übung die Hoffnung ausdrücken lassen, dass Christus et nos famulos suos et tuos, post huius miser(a)e vitae cursum dignetur, te 243 Ediert bei Frederick P. Pickering: Christi Leiden in einer Vision geschaut. A German Mystic Text of the Fourteenth Century. A critical account of the published and unpublished manuscripts, with an edition based on the text of MS Bernkastel-Cues 115, Manchester 1952. 244 Vgl. Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 314 - 322. 245 »Eine eigenständige deutschsprachige Passionsliteratur, die nicht mehr unmittelbar von lateinischen Vorlagen abhängig ist, ist offenbar erst im 14. Jahrhundert entstanden«, Kemper 2006, S. 146. Vgl. dazu auch Palmer/ Hamburger 2016, Bd. 1, S. 424 - 447. 246 Alois Maria Haas: Sinn und Tragweite von Heinrich Seuses Passionsmystik, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 94 - 112, hier S. 107. 247 Bestul 1996, S. 11. 248 Scherschel 1979, S. 103 - 116, zieht zwar Parallelen zu Visionen Mechthilds von Hackeborn, Seuses Hundert Betrachtungen und der Vita Jesu Christi des Ludolf von Sachsen, deren Einfluss auf die Rosenkranzklauseln sicher anzunehmen ist, vermag dabei aber keine direkten textuellen Einflüsse zu belegen. 249 In diesem Sinne tut Klinkhammer gut daran, eine kleine Gruppe von volkssprachigen Ave-Andachten abzudrucken, die ins gleiche Umfeld gehören, vgl. Klinkhammer 1972, S. 194 - 197. 250 Zum Begriff und zur Funktion solcher › Leerstellen ‹ in narrativen Texten vgl. Iser 1994, S. 284 - 301; sowie meine Überlegungen oben, Kap. I.4. 148 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="149"?> intercedente assumere, et in regno patris sui constituere (RK lat., Z. 95 - 97), 251 klingt kurz eine petitio an. Diese allgemein und formelhaft ausgedrückte Sorge um das eigene Seelenheil, die in der volkssprachigen Fassung zudem fehlt, ist jedoch das einzige Element in den Rosenkranzklauseln, das sich als Gebetsbitte lesen lässt. Eine Erklärung für diese Intentionsoffenheit findet sich in einer knappen Erläuterung, die den Text der Rosenkranzklauseln in der von Klinkhammer edierten Fassung begleitet. Die Gebetsform des Rosenkranzes, so führt dieser Paratext aus, sei zu vielerlei Gebetsanliegen geeignet, quia [ … ] in coelis deo et sanctis eius gratum est, et homini dicenti illud utile valde, et fructuosum ad inveniendum gratiam apud dominum, ad augendam devotionem, et vitae suae emendationem. (RK lat., Z. 153 - 156) 252 Grundsätzlich kann der Rosenkranz, so implizieren diese Zeilen, in der Hoffnung auf Gnadenwirkungen aller Art gebetet werden. Er stellt somit eine Art › Universalgebet ‹ dar. In seiner Erläuterung dieses Anspruchs kommt Dominikus auf die Idee eines handwerklichen Betens zurück, dessen Produkte in der Logik einer spirituellen Gabenökonomie aufgehen, in der für geistliche Kränze äquivalente oder größere Gegengaben erhofft werden dürfen: Sic quoque laudantes et benedicentes iugiter dominum ac sanctissimam matrem eius, benedictionem etiam ex prophetica imprecatione nobis ipsis promeremur, quia de domino nostro Jesu Christo et nobis sic prophetatum est, dicente Ysaac patriarcha: Qui benedixit tibi, sit ille benedictus etc. Nam qui seminaverit in benedictionibus, ut dicit apostolus, de benedictionibus et metet vitam aeternam. Et qui coronaverit Christum regem, et reginam coeli corona hac rosea, ipse ab eis coronari merebitur, corona vitae immarcessibili in aeternum. (RK lat., Z. 165 - 174) 253 Viel deutlicher lässt sich ein für die Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters prägendes »Religionsgesetz von Gabe und Gegengabe«, in dem »ein System von absoluter Gerechtigkeit mit jeweils genauestem Ausgleich« gilt, nicht beschreiben. 254 Denn die Frömmigkeitserweise der Gläubigen, so führt diese Erklärung aus, bilden Kränze für Christus und Maria, die im Gegenzug durch die unvergleichlich höhere Gabe des ewigen Lebens vergolten werden sollen. Auch in der Zwanzig-Exempel-Schrift wird diese Idee des sich zu geistlichen Gegenständen konkretisierenden Herbeibetens von Geschenken für Maria immer wieder aufgerufen. So erläutert der Kartäuser, dass wie die Ave-Maria in guter meynunge gesprochen werden, so mogen sie nicht verloren werden. Da werden rosen da von 251 »auch uns, seine und deine Diener, nach dem Lauf dieses schlechten Lebens würdig schätzen möge, uns durch deine Fürsprache aufzunehmen und ins Reich seines Vaters einzulassen.« 252 »weil er Gott im Himmel und seinen Heiligen wohlgefällig ist sowie von großem Nutzen für die Menschen, die ihn sprechen, [weil er] fruchtbar [ist], um Gnade vor Gott zu finden, um die Andacht zu vergrößern und um sein Leben zu verbessern«. 253 »Und auf diese Weise stetig den Herrn und seine allerheiligste Mutter lobend und segnend, verdienen auch wir selbst uns durch unser vorhergesagtes Gebet einen Segen, denn es ist demgemäß über unseren Herrn Jesus Christus und uns prophezeit durch das Wort des Vaters Isaak: › Wer dich segnet, jener sei gesegnet ‹ (Nm 24,9) etc. Denn › wer mit Segen sät, ‹ wie der Apostel sagt, › wird auch mit Segen ernten ‹ im ewigen Leben (II Cor 9,6). Und wer den Herrscher Christus und die Königin des Himmels mit dieser Rosenkrone krönen wird, wird es verdienen, selbst von ihnen gekrönt zu werden mit der Krone des unvergänglichen Lebens in Ewigkeit.« Die Kommasetzung im lateinischen Text stammt von Klinkhammer. 254 Angenendt 2009, S. 374. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 149 <?page no="150"?> oder blumen oder grune edel krut (ZES, Z. 113 - 15). 255 Das Beten der Gläubigen übersetzt sich somit in das geistlich-konkrete Ding der corona rosea, die sich wiederum als Verdienst fassen lässt, der von Maria genau entlohnt werden wird. Solche Ausführungen, die ein Entsprechungsverhältnis von gesprochenem Gebet, entstehendem geistlichen Ding und zu erhoffendem Heilslohn implizieren, mögen auch deshalb erstaunen, weil Dominikus es wenige Zeilen vor der oben zitierten Passage noch freistellte, den Rosenkranz länger oder kürzer zu beten, vom Wortlaut seines Textes abzuweichen oder sogar materiam istam prolongare, breviare seu in melius commutare, sicut plures fecerunt, vitam ipsam salvatoris verbis exprimendo, vel subtili tantummodo memoria illam meditando, iam sic, iam aliter, se[c]undum quod quilibet habuerit gratiam vires et tempus. (RK lat., Z. 147 - 151) 256 Eine derartige Gestaltbarkeit der Meditationen des Rosenkranzgebets steht in einem komplexen Ergänzungs- und Spannungsverhältnis zur Quantifizierungslogik, die dem Kranzbeten zugrunde liegt. »Keine zweite Gebetsform«, so Thomas Lentes, »lebte so sehr vom Zählen und wurde dennoch nicht weniger als Versenkungsübung in die unterschiedlichen Heilsmysterien genutzt.« 257 Die Offenheit des vom Text angeregten, imaginierenden Eintauchens und ein durch quantifizierte Frömmigkeit kontrolliertes Verfahren der Hinwendung zum Heiligen sind in den Rosenkranzklauseln komplementär angelegt. Dabei oszilliert das zählende Beten des Rosenkranzes zwischen der Vorstellung eines Akkumulierens von Gnadenverdiensten und einer mentalen Technik der »iteration and reiteration of images and words«, die eine Immersion in das heilsbringende Leben und Leiden Christi stimulieren und strukturieren. 258 Ein Äquivalenzverhältnis von gesprochenen Gebeten und ihrer Figuration im geistlichen Kranz wird nämlich auch in der Adaptierbarkeit des zählenden Betens stets aufrechterhalten. In der Zwanzig-Exempel- Schrift verdeutlicht Dominikus diese Vorstellung, wenn er erwähnt, dass etliche seiner Ordensbrüder die Übung abwandelten: uber V oder X Ave-Maria sprechen sie eine antiphona oder etwaz geistliches lobes, dor mitte sie zieren iglicher nach sinem vermogen den krantze, den sie Marien machen (ZES, Z. 120 - 122). 259 Diese Zufügungen und persönlichen Anverwandlungen des Rosenkranzbetens resultierten nun darin, dass ganz unterschiedliche geistliche Kränze entstünden. In diese seien nicht alleine rosen [ … ] sonder auch ander farben als lilien, fiolen und anderley edel krut eingeflochten, denn mancherley farben by ein gesatzt machent ein ding schoner dan rosen alleine (ZES, Z. 123 - 126). 260 Im genauen Zählen ergibt sich so ein Freiraum der dinglichen Vorstellung, aus dem heraus Figurationen des Betens entstehen, denen eine geistliche Wirklichkeit und Wirksamkeit zugeschrieben wird, die über die ästhetische Erfahrung der immersiven Lektüre und die 255 »wenn die Ave Maria in guter Absicht gesprochen werden, so können sie nicht verloren gehen. Dann werden daraus Rosen oder Blumen oder edle grüne Pflanzen«. 256 »diesen Stoff zu verlängern, zu kürzen oder zu verbessern, so wie es bereits viele getan haben, um das Leben des Erlösers in Worten auszudrücken oder es bloß innerlich durch memoria zu betrachten, der eine so, der andere anders, ganz wie ein jeder Gnade, Kraft und Zeit hatte«. 257 Lentes 1996, S. 628. 258 Largier 2008, S. 87. 259 »zu fünf oder zehn Ave Maria sprechen sie eine Antiphon oder irgendein geistliches Lob, womit sie ein jeder nach seinem Vermögen den Kranz schmücken, den sie für Maria herstellen«. 260 »nicht bloß Rosen [ … ], sondern auch andere Farben so wie Lilien, Veilchen oder sonstige edle Pflanzen«, »mehrere Farben in Kombination machen ein Ding schöner als Rosen allein«. 150 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="151"?> Kommunikation mit der Transzendenz hinaus auf eine durch sie vermittelte Gnadenerfüllung weist. Der entscheidende Beitrag der Trierer Rosenkranzklauseln zur Ausbildung dieser Gebetsform liegt eben gerade in dieser Verschmelzung von betendem Zählen und imaginierendem Herstellen geistlich-konkreter Dinge, also von Gebetsweisen, die bereits z. B. im Mirakel Marien Rosenkranz narrativ verhandelt werden, mit einer in Punkte gegliederten Passionsmeditation, die eine innere Vergegenwärtigung der Heilsereignisse des Lebens Christi anregt. Die Verquickung dieser Trias - zählendes Beten, figurierendes Herstellen und immergierendes Betrachten - bildet den Kernbestand der verschiedenen, sich im Verlauf des 15. Jahrhundert rasant ausbreitenden Rosenkranzübungen. 3.4 Blumenfigurationen des Betens: Der Rosengertlin-Traktat In den Rosenkranzklauseln selbst schlägt sich das Motiv des gebethaft gefertigten Blumenkranzes für Maria nicht nieder. Erst durch paratextuelle Ergänzungen und Erläuterungen wie die angefügte Mirakelerzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen, Dominikus ’ oben angesprochenen lateinischen Zusatz oder die Zwanzig-Exempel-Schrift wird der Leben-Jesu-Rosenkranz als handwerkliches Beten charakterisiert. Dies unterscheidet die Klauseln erstens von den unten behandelten Texten, in denen Marienkleider und innere Gebäude den bildlichen Grundstock der angeleiteten Übungen darstellen. Zweitens erklärt gerade dieses Fehlen des Blumenmotivs in den eigentlichen Gebetsformeln die Vielzahl der Paratexte zu den Rosenkranzklauseln, die besonders auf die Vorstellung eines geistlichen Kranzflechtens im und durch das Beten der mit Betrachtungen verbundenen Mariengrüße eingehen. Der Rosengertlin-Traktat, der volkssprachig in vier vollständigen Textzeugen des 15. Jahrhunderts und zahlreichen Exzerpten sowie in einer davon abhängigen lateinischen Fassung überliefert ist, 261 sticht hierunter besonders hervor. Als Autor ist auch hier Dominikus von Preußen anzunehmen, der in seiner Corona gemmaria erwähnt, er habe eine entsprechende Schrift verfasst: libellum in theutonico conscripsi, qui hortulus beatae Mariae appellatur. 262 Prinzipiell stellt dieses deutsche libellum, das vermutlich um 1430 261 Köln, Hist. Archiv, Ms. GBf 47, fol. 69r - 83r; Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI. 58, fol. 292r - 311r; Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen B VI 2, fol. 30v - 42v; sowie Mainz, Stadtbibl., Ms. 322, fol. 83v - 118v. Zu diesen Handschriften sowie der breiten Exzerptüberlieferung der volkssprachigen Fassung vgl. Schmidtke 1982, S. 54 - 56. Dem Abdruck bei Klinkhammer 1972, S. 135 - 156 (folgend im Fließtext als › RG ‹ zitiert), liegt die Mainzer Handschrift zugrunde, die durch einen Schreibervermerk auf fol. 155v auf 1454 datiert wird. Eine kürzende lateinische Fassung des Rosengertlin-Traktats findet sich dagegen in der Handschrift Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 301r - 305r, nach der Klinkhammer 1972, S. 162 - 172, den Text wiedergibt. Die lateinische Fassung findet sich zudem in Mainz, Stadtbibl., Ms. 300, fol. 50v - 52r. Die Annahme, der deutsche Text habe als Vorlage für den lateinischen gedient, wird durch den in der Trierer Handschrift angehängten Vermerk bestätigt, dieser Traktat sei in theutonico geschrieben worden und läge hier nun auch in latino abbreviatus vor (Klinkhammer 1972, S. 170). 262 »Ich habe ein Büchlein auf Deutsch geschrieben, das Gärtlein der seligen Maria genannt wird«, Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 161r; zitiert nach Schmidtke 1982, S. 241. Ebd. ist auch Klinkhammers irreführende Autorzuschreibung zu Adolf von Essen schlüssig widerlegt, die bereits von Scherschel 1979, S. 141 - 143, angezweifelt worden war. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 151 <?page no="152"?> datiert, eine bewerbende Erläuterung zu der von den Rosenkranzklauseln angeleiteten Übung dar, die die Überführung von Gebet und Betrachtung in geistlich-konkreten Blumenschmuck vor allem auf dem Weg einer Rosenallegorese zu veranschaulichen sucht, in der immer wieder auch typologische und figurale Vorstellungen anklingen. Darin gehört das Rosengertlin in den Bereich der geistlichen Gartenallegorien, den Dietrich Schmidtke umfänglich erschlossen hat. 263 Der Titel des Traktats ist betont doppeldeutig. Denn einerseits bezeichnet sich der Text selbst als gertelin, dessen Leser geistlich[e] rosen [ … ] kunden brechen (RG, Z. 444 - 446), 264 verwendet den Begriff des Gartens also als metaphorischen Titel. 265 Andererseits ist sein Thema ebenfalls ein Garten. Das Rosengertlin nämlich setzt Blumen mit dem Ave Maria gleich, durch dessen Beten im Gläubigen gleichsam ein innerer Rosengarten für Christus und seine Mutter angepflanzt werde, aus dem schließlich der Rosenkranz zusammengepflückt werden könne. Dem eigentlichen Traktat vorangestellt ist eine Prosafassung des Mirakels Marien Rosenkranz, das auch hier als Ursprungserzählung des Rosenkranzbetens gekennzeichnet ist. Denn durch dieses Wunder, so der Text, qwam es uß und ersten uff, daz man diß unser Frauwen dinst thet und eynen rosenkrancz nennet (vgl. RG, Z. 52 f.). 266 Nun jedoch verlangt diese Bezeichnung und die Idee der geistlichen Gebetsblumen offenbar nach weiterer Erklärung, weshalb Dominikus ankündigt, folgend zu erläutern, weshalb es gar rechte [ … ] eyn rosenkrancze heißet, so man diesen Ave Maria spricht funffczig ader me (RG, Z. 56 f.). 267 Seine Argumentation stützt sich dabei auf typologische und auch im weiteren Sinne allegorische Verfahren, mittels derer er ein dreifaches Gleichnis aufstellt. Drei Dinge nämlich gäbe es, die yn dem rosenkrancz syn, die mit rosen große glichniße und gemeynschaft han (RG, Z. 58 f.). Sowohl der Text des Ave Maria müsse in diesem Sinne als Rose bezeichnet werden, als auch Maria, die durch diese Gebetsformel apostrophiert werde. Schließlich gleiche auch Jesus Christus, dessen Namen der Mariengruß abschließend nennt und dem die Betrachtungspunkte der Rosenkranzklauseln gewidmet sind, einer Rosenblüte. In drei unterschiedlich umfangreichen, teils bricolagehaft anmutenden Abschnitten 268 arbeitet das Rosengertlin diese Blumengleichnisse aus. Die Passagen, in denen Dominikus begründet, weshalb die Rose Christus und Maria verkörpere, kombinieren hierbei vor 263 Schmidtke 1982; zum Rosengertlin vgl. insb. S. 54 - 56, 133 f., 226, 240 - 242, 277, 287. 264 »kleiner Garten«, »geistliche Rosen [ … ] pflücken können«. 265 Dies ist in der geistlichen Literatur der Zeit eine gängige Titelmetapher, welche »die Vorstellung eines sich durch Reichhaltigkeit auszeichnenden und näherhin auch die Vorstellung eines aus flores (Terminus technicus für: Exzerpte) zusammengesetzten Textes« impliziert (Schmidtke 1982, S. 75). 266 »fing es zuerst und ursprünglich an, dass man unserer Herrin diesen Dienst erbrachte und ihn einen Rosenkranz nannte«. 267 »sehr treffend ein Rosenkranz heißt, wenn man von diesen Ave Maria fünfzig oder mehr spricht«. 268 So fügt die Mainzer Fassung mitunter Digressionen in Form von Exempeln (vgl. z. B. RG, Z. 788 - 805), speiseallegorische Passionsbetrachtungen (vgl. RG, Z. 602 - 633) oder auch eine Anweisung zum Beten des Psalters zu den Wunden Christi (vgl. RG, Z. 643 - 707) bei, die allgemein den Eindruck eines »umfangreiche[n], ja unförmige[n] Textes« hervorrufen (Schmidtke 1982, S. 277). Hier dürfte Dominikus aus verschiedenen Vorlagen kompiliert haben, darunter dem Liber experientiae, wo sich auch die in den Traktat eingearbeitete Erzählung von einem durch inniges Beten zu den Wunden der Passion ausgelösten Heilungswunder (vgl. RG, Z. 851 - 933) in zumindest ähnlicher Gestalt wiederfindet (vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 214 - 216). 152 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="153"?> allem auf dem Modell des vierfachen Schriftsinns beruhende Techniken der Bibelauslegung mit Momenten der Dingallegorese. So führt der Traktat aus, Jesus dürfe als Blume vorgestellt werden, weil: unsern Heren der propheta Isaias eyn blume nennet und spricht von Marien geburt und von yrer frucht Jesu also: Da wirt ein rode adder eyn gertte entspringen uß der worczel Jesse, und eyn blume wirt uffstigen oder wachsen uß irer worczeln. (RG, Z. 487 - 491) 269 Unter Rückgriff auf die alttestamentliche Ankündigung der Ankunft des Messias (Is 11,1 - 10), die im christlichen Mittelalter typologisch als Prophezeiung der Geburt Jesu gedeutet wurde, und die darauf basierende Ikonographie der Wurzel Jesse leitet Dominikus das Blumenbild somit zunächst aus der Schrift her. 270 Anschließend aber wechselt er das Register hin zur Dingallegorie und führt als Bildspender mit der Rose die »Struktur eines in der Natur vorkommenden komplexen Dinges« an, 271 das in einem Entsprechungs- und Referenzverhältnis zu Christus stünde. So besitze eine Rose fünf Blütenblätter, und dies ließe sich auch als Bild für Christus deuten: Die rose, unser herre Jesus Christus, [ … ] begunde ir schonen rote funff bletter ußczubreiden an dem heiligen crucze, daran Christus Jesus stund und bluete, wie eyn woilriechende, zartte rose uff eynem rosenbaume. (RG, Z. 509 - 512) 272 Die Wunden werden hier als Blütenblätter und die Blütenblätter als Wunden präsentiert. Auf diese Weise geraten Zahlenverhältnisse, Farben, Gerüche und andere Struktureigenschaften zum tertium comparationis, das die allegorische Engführung von Blume und Heiland plausibilisiert. Das Rosengertlin fächert diese sinnbildliche Überblendung von Jesus und Rosenblüte in der Folge in immer feineren Details aus, wobei der Text mehrfach zwischen Begründungsstrategien der Schriftauslegung und Dingallegorese hin und her changiert. Doch nicht nur Christus, sondern auch Maria wird dergestalt zur allegorischen Blume. Dabei kann Dominikus auf das volle Spektrum der spätmittelalterlichen marianischen Rosensymbolik zurückgreifen 273 und beispielsweise die weißen und roten Farben der Rose sowie ihren guten Duft mit den drei Tugenden Marias in Verbindung bringen. Diesen Eigenschaften der Blume entsprechen, so der Traktat, yrs herczen andechtige ynnekeit, [ … ] ir demutige kuscheyt, [ … ] ir furige mynne (RG, Z. 265 - 267). 274 Nun werden diese Tugenden, so legt der Trierer Kartäuser dar, jeweils wieder allesamt durch alttestamentliche Frauengestalten präfiguriert, die als Typen auf die himmlische Rose Maria vorausdeuten und sich 269 »der Prophet Jesaja unseren Herrn eine Blume nennt und wie folgt über die Geburt Marias und ihre Frucht Jesus spricht: Ein Reis oder Zweig wird aus der Wurzel Jesse entspringen, und eine Blume wird emporsprießen oder entwachsen aus seiner Wurzel«. 270 Vgl. zu diesem spätmittelalterlich gängigen Motiv Ursula Nilgen: Art. Wurzel Jesse, in: LexMA 9 (1998), Sp. 382. 271 So wird die Dingallegorie charakterisiert bei Michel 1987, S. 456. 272 »Die Rose, unser Herr Jesus Christus, [ … ] begann ihre schönen fünf roten Blätter zu entfalten an dem heiligen Kreuz, an dem Jesus Christus stand und blühte wie eine wohlriechende, zarte Rose an einem Rosenstock«. 273 Vgl. dazu überblickshaft Schmidt 1993. 274 »die andächtige Innigkeit ihres Herzens, [ … ] ihre demütige Keuschheit, [ … ] ihre feurige Liebe«. 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 153 <?page no="154"?> in ihr erfüllen (vgl. RG, Z. 347 - 442). 275 Auch hier verspleißt das Rosengertlin also typologische Exegese und Dingallegorie. Am deutlichsten wird dies, wenn Dominikus in einer Art Glossentext zum Ave Maria die einzelnen Abschnitte dieser Gebetsformel zunächst auslegt und ihre Auslegung danach auf die gegenständlichen Qualitäten der Rose bezieht. 276 So wird beispielsweise das Wort › Ave ‹ in etwas fantasievoller Etymologie vom lateinischen ab vae ( › von Schmerz [frei] ‹ ) und gleichbedeutenden deutschen ane we (RG, Z. 180) abgeleitet. Dies wiederum legt Dominikus dahingehend aus, dass Maria hatte keyne sunde, also eyn rose in dem dorne ane dorn (RG, Z. 178). 277 Pate für diese Passage mag eine Visionsepisode bei Mechthild von Hackeborn gestanden haben, auf deren Liber specialis gratiae das Rosengertlin mehrfach verweist. Dort findet sich eine entsprechend etymologisch argumentierende Ave-Maria- Glosse, der allerdings das Rosenmotiv fehlt. 278 Bei Dominikus werden auch die folgenden Textbestandteile des Englischen Grußes im Detail interpretiert und mit dem Blumenbild verbunden. So stünden die fünf Buchstaben des Namens »Maria« einerseits für die fünf Freuden Marias, 279 andererseits entsprächen sie darin den fünf Blütenblättern der Rose. Mit den Worten › Dominus tecum ‹ dahingegen sei gemeint, daz die gotheit also in Marien was (RG, Z. 223 f.), wie die rosen han mitten czwuschen den bledern eyn geles blumelin stan (RG, Z. 213 f.). 280 Der Blütenstempel und die in Maria geborgene Gottheit werden in ein Referenzverhältnis gesetzt. Immer wieder legt Dominikus so den Text auf die Blume und die Blume auf den Text aus. Zunehmend verwischt sich dabei das Verhältnis von Zeichen und Denotat, so dass unklar wird, ob Maria eine Rose oder die Rose Maria bedeutet. Vielmehr, so legt der Text nahe, stehen Blume und Gottesmutter in einer Figurationsbeziehung, durch die sie sich gegenseitig bezeugen. Was jedoch bedeutet diese kleinteilige Engführung von Maria und Christus mit dem Motiv der Rosenblüte für die Gebetsweise, vor dessen Hintergrund der Traktat steht, der, so Schmidtke, zur »Rosenkranzandacht hinführen« sollte? 281 Ausschlaggebend ist, dass das Rosengertlin zusätzlich zu Christus und Maria auch das Ave-Gebet mit einer Rose 275 Genannt werden dabei erstens Eva, Delilah und Batseba, deren Verfehlungen von Maria übertroffen und wettgemacht worden seien, sowie zweitens Abigajil, Judith und Esther, deren gute Taten und Tugenden das Wirken Marias präfigurierten. 276 Auslegende Glossentraktate, -lieder und -gebete zum Ave Maria sind im Spätmittelalter überaus gängig, und Dominikus knüpft im Rosengertlin dementsprechend an eine umfangreiche Texttradition an. Zahlreiche lateinische Beispiele finden sich abgedruckt bei Guido Maria Dreves SJ (Hg.): Reimgebete und Leselieder des Mittelalters. Dritte Folge. Stunden- und Glossen-Lieder, Leipzig 1898 (Analecta hymnica medii aevi 30), S. 190 - 281. Ein Beispiel für ein deutschsprachiges Glossengebet auf den Englischen Gruß aus dem 14. Jahrhundert ist ediert bei Wiederkehr 2013, S. 323 f. Die einflussreiche Glossenauslegung der Einzelworte des Ave Maria durch den Franziskanertheologen Konrad von Sachsen wird diskutiert bei Fulton Brown 2018, S. 309 - 323. 277 »frei von Sünden war, wie eine Rose zwischen den Dornen [aber selbst] ohne Dornen«. 278 Vgl. Mechthild von Hackeborn, Liber specialis gratiae, in: Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae II, hg. v. Solesmensium O. S. B. Monachorum, Paris 1877, S. 1 - 421, hier S. 126 [I,42]. Dort heißt es, das › Ave ‹ bedeute, dass Maria sei immunis ab omni væ culpæ (»frei von allem Schmerz der Sünde«). Vgl. zu dieser Vision bei Mechthild auch Buschbeck 2022b, S. 27 f. 279 Das sind hier die Verkündigung, die Geburt Christi, die Auferstehung Christi, die Himmelfahrt Mariens und die Begrüßung als Himmelskönigin, vgl. RG, Z. 192 - 199. 280 »dass die Gottheit genauso in Maria war«, »die Rosen mitten zwischen ihren Blättern ein gelbes Blümlein stehen haben«. 281 Schmidtke 1982, S. 251. 154 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="155"?> gleichsetzt. Denn diese rose, daz ist diß wort, hait der erste gertener, der daz paradise in dem begintniße planczte, gesehet und geplanczt in dem erdichsen libe Marien (RG, Z. 74 - 76). 282 Das Einpflanzen des Gebetswortes in der Verkündigung, in dessen Beschreibung Dominikus von Preußen die biblische Formulierung von der Fleischwerdung des Wortes durch die Inkarnation (Io 1,14) anklingen lässt, habe sich nun in der Christusrose erfüllt, die ußgesproßen und gewaschen ist und hait ir rosenczweige so wijt gebreit, daz ir same in aller cristenheit gronet (RG, Z. 77 - 79). 283 In den Bildern vegetabiler Fortpflanzung wird hier einerseits die Verbreitung des christlichen Glaubens und seines Heilsversprechens veranschaulicht, andererseits aber auch die Weitergabe der Gebetsformel des Ave Maria. Durch die Worte des Erzengels Gabriel nämlich sei erst möglich geworden, daz unser igclichs in sinem herczen sin gertlin hait, darynne eß alle tage geet und rosen bricht und machet Marien eyn krenczelin (RG, Z. 80 - 82). 284 Die Verkündigungsszene, verstanden als Einpflanzen des göttlichen Wortes oder Rosensamens in den Leib Marias, präfiguriert eine Gebetspraxis, in der die Gläubigen durch das Wiederaufgreifen der Grußworte des Ave-Gebets in sich selbst einen Rosengarten anpflanzen, also Christus und Maria floral in sich figurieren. Aus diesen Rosen, so die Argumentationslinie der Traktatschrift, ließe sich nun auch der geistliche Kranz flechten, der im Vollzug der durch die Rosenkranzklauseln angeleiteten Übung entstünde: alle cristengleubigen, die werden alle durch diß erst wort selig, daz der engel Gabriel als ein erste rose planczte und sehette in die erde des megentlichen libes Marien, daz wir nu von ir wort entphangen han und geleret, daz wir got und ir zu lobe sprechen Ave maria, und der rosen han, die durch sinen engel got gesant hait, Marien zu eynen krancz. (RG, Z. 96 - 102) 285 Über die Beschreibung einer fortlaufenden Aussaat der Ave-Maria-Rose entwirft der Traktat das Bild einer Figurationskette des Betens, die mit der Verkündigungsszene beginnt und sich in der seligmachenden Frömmigkeitspraxis der Gläubigen immer wieder neu erfüllt. Denn ebenso wie Maria Christus empfing, empfangen auch die Gläubigen das Ave Maria, das in ihnen zu geistlichen Rosen heranwächst und sich schließlich im wiederum an Maria übereigneten Blumengebinde manifestiert. Gleichzeitig wird die Rose als Gleichnis Christi und Marias aufgezeigt, in der sich das Erdenleben, die heiligmäßigen Eigenschaften sowie die gnadenbringende Kraft der Gottesmutter und ihres Sohnes auf sinnlich anschauliche Weise widerspiegeln und die durch das Rosenkranzgebet innerlich erschaffen werden soll. Während also die Rosenkranzklauseln stärker auf Momente des zählenden Betens im Sinne eines kontrollierten Verfahrens der Hinkehr zum Heiligen sowie auf ein betrachtendes Eintauchen in die evozierten Heilsereignisse abheben, stellt Dominikus im Rosengertlin-Traktat die figuralen Qualitäten dieser Gebetsweise besonders heraus. Dabei 282 »Rose, das ist dieses Wort, hat der erste Gärtner, der am Anfang das Paradies pflanzte, gesät und gepflanzt in den irdischen Leib Marias«. 283 »ausgesprossen und gewachsen ist und ihre Rosenzweige soweit ausgebreitet hat, dass ihr Samen in der ganzen Christenheit grünt«. 284 »dass jeder von uns in seinem Herzen seinen kleinen Garten hat, in den er alle Tage hineingeht und Rosen pflückt und Maria einen kleinen Kranz macht«. 285 »Alle gläubigen Christen werden allesamt durch dieses erste Wort selig, das der Engel Gabriel als eine erste Rose in die Erde des jungfräulichen Leibs Marias pflanzte und säte, so dass wir nun von ihr Worte empfangen und gelernt haben, dass wir Gott und ihr zum Lob das Ave Maria sprechen und die Rosen für einen Kranz für Maria haben, die Gott durch seinen Engel gesandt hat.« 3 Der Kranz als Christusmeditation: Die Rosenkranzschriften der Trierer Kartause 155 <?page no="156"?> changieren die geistlichen Blumenkränze, in denen die Gebete der Gläubigen sich manifestieren sollen, zwischen mehrschichtiger Allegorie, ästhetisch präsenter Konkretheit sowie den Modi einer Hinwendung, die sich im Vollzug und Nachvollzug einer Medialisierung des Heils durch sprachliche Stimuli ereignet. Gerade in diesem spannungsreichen Verhältnis liegt womöglich ein Grund für die nachhaltige Wirkung der Trierer Rosenkranzschriften auf die Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. 156 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="157"?> 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe Der nächste entscheidende Schritt in der Entwicklung des Rosenkranzgebets geht auf den Dominikaner Alanus von Rupe (1428 - 1475) zurück, der ab den 1460er Jahren zunächst im flandrischen Douai und später auch andernorts im niederländischen und niederdeutschen Sprachgebiet eine an den in der Trierer Kartause entwickelten Rosenkranz angelehnte Gebetsform bewarb, die er als Marienpsalter bezeichnete. 286 Im Kontext seiner Predigt- und Lehrtätigkeit propagierte Alanus ein Reihengebet aus 150 Ave Maria und 15 Vaterunser, das recht eng der im 16. Jahrhundert kanonisierten Ausprägung des Rosenkranzes entspricht - der Anstoß für die »definition of the prayer in the form in which it is still used today« geht damit auf ihn zurück. 287 Wie folgend ausgeführt betont Alanus ’ Marienpsalter dabei erstens eine äußere Formalisierung, die im Vergleich mit den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen ein Moment der Quantifizierung stärker betont. Gleichzeitig aber ist bei Alanus die beim Beten innerlich zu vollziehende Betrachtungsübung deutlich freier und offener gestaltet als in den Trierer Rosenkranzklauseln. Zweitens basiert die Idee einer illustren und bis in urchristliche Zeit zurückreichenden Vorgeschichte des Rosenkranzgebets, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte und in ihrer zentralen Verbindung zum heiligen Dominikus dieser Gebetsform einen spezifisch dominikanischen Beiklang gab, auf einem Ursprungsnarrativ, das seinen fantasievollen Ausgang bei Alanus nahm. Diese Auratisierung und Autorisierung durch eine erdichtete Tradition sollte dazu beitragen, dass sich der Rosenkranz zunehmend von den vielen im Ursprung vergleichbaren Gebets- und Andachtsübungen seiner Zeit abhob. Drittens beeinflussten Alanus ’ Schriften und Predigten ausschlaggebend die Entstehung von Gebetsbruderschaften, die den Rosenkranz praktizierten und sich in den Folgejahren rasant verbreiteten. 288 Alanus von Rupe regte in diesem Sinne eine bruderschaftliche Vergemeinschaftung des Rosenkranzes an, die aus der in Trier zum individuellen Gebrauch in der Privatfrömmigkeit erdachten Gebetsform ein kollektives Unterfangen werden ließ. 286 Zu Alanus siehe überblickshaft und mit weiteren Angaben Karl J. Klinkhammer: Art. Alanus de Rupe, in: 2 VL 1 (1978), Sp. 102 - 106; 2 VL 11 (2004), Sp. 34. Vgl. auch den alten aber sehr ausführlichen Abschnitt in Jacobus Quetif u. Jacobus Echard: Scriptores ordinis praedicatorum recensiti, Bd. 1, Paris 1719, S. 849 - 852. Letzterer Eintrag illustriert vor allem die Rezeption der Schriften des Alanus von Rupe im frühneuzeitlichen Predigerorden. Denn der Autor wird hier bezeichnet als Virginis per Rosarium cultus præco & promotor indefessus, der apud omnis pietatis ac sanctitatis fama inclaruit (»unermüdlicher Verkündiger und Verbreiter des Kults der Jungfrau durch den Rosenkranz«, »bei allen durch den Ruf der Frömmigkeit und Heiligkeit berühmt wurde«, ebd., S. 849). Siehe zudem die in mehreren Artikeln erschienene Studie von Bertilo de Boer: De Souter van Alanus de Rupe, in: Ons Geestelijk Erf 29 (1955), S. 358 - 388; 30 (1956), S. 156 - 190; 31 (1957), S. 187 - 204; 33 (1959), S. 145 - 193. 287 Erminia Ardissino: Literary and Visual Forms of a Domestic Devotion. The Rosary in Renaissance Italy, in: Domestic Devotions in Early Modern Italy, hg. v. Maya Corry, Marco Faini u. Alessia Meneghin, Leiden 2019, S. 341 - 371, hier S. 343. Schon Schmitz 1903, S. 100, stellt diesbezüglich fest: »Der Rosenkranz des Alanus ist im wesentlichen unser Rosekranz«. 288 Dieser Einfluss wird dargelegt bei Ranacher 2022, S. 120 - 129. <?page no="158"?> Geboren in der Bretagne und theologisch ausgebildet im Pariser Konvent Saint Jacques, engagierte sich Alanus ab ungefähr 1461 in Lille in der dominikanischen Observanzbewegung. Die Folgejahre seines Wirkens sind von der charakteristischen Mobilität der spätmittelalterlichen Predigerbrüder geprägt: »1464 kam er als Lektor nach Douai, schon 1468 nach Gent und 1470 nach Rostock«. 289 Eine Gruppe lateinischsprachiger Werke wird ihm zeitgenössisch zugeschrieben, 290 darunter eine Mirakelsammlung zum Rosenkranz, die, wie die obigen Ausführungen zu Marien Rosenkranz und der Trierer Zwanzig- Exempel-Schrift veranschaulicht haben, als typisches Vehikel zur Propagierung der neuen Gebetweise gelten kann. Viele dieser Texte werden im späten 15. Jahrhundert auch in die deutsche Volkssprache übertragen und durch den Druck verbreitet. So stellt beispielsweise der von Konrad Dinckmut ab 1483 in mehreren Auflagen produzierte Rosenkranzdruck eine Übertragung aus verschiedenen Schriften des Alanus dar. 291 An der Feststellung Meerssemans, eine »kritische Studie über das Leben, die Tätigkeit und die Schriften dieses vielumstrittenen Mannes« stehe noch aus, weshalb bis dahin »allein [ … ] sein im Juni 1475 verfaßter Liber Apologeticus«, der folgend auch im Zentrum meiner Untersuchung steht, als zuverlässig gelten dürfe, hat sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert. 292 Dabei ist insbesondere die Verbreitung des alanischen Marienpsalters und der mit ihm verbundenen Texte im norddeutschen und skandinavischen Raum noch weitgehend unaufgearbeitet. 293 Dies fällt vor allem deshalb schwer ins Gewicht, da, wie die aus dem näherem Umfeld des Autors stammenden Kieler Handschriften ebenso wie die Alanus-Drucke z. B. des Lübecker Druckers Lukas Brandis von 1478 oder des Kartäuserklosters Mariefred von 1498 zeigen, dieser Überlieferungszweig gewissermaßen als Nadelöhr für die breite Wirkung dieser Rosenkranztexte vor allem im Frühdruck fungierte. 294 Diesen Spuren nachzugehen bleibt ein Forschungs- 289 Klinkhammer 1972, S. 87. Zur Biographie des Alanus von Rupe siehe zudem Meersseman 1977, S. 1148 - 1151; sowie Klinkhammer 1978 und Ranacher 2022, S. 120 - 122. 290 Siehe die Liste von Werken bei Thomas Kaeppeli OP: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. 1: A - F, Rom 1970, S. 22 - 25 [Nr. 76 - 90]. Hierbei ist es öfters schwierig, zwischen diesem Autor zugeschriebenen eigenständigen Werken, eventuell späteren Redaktionen und Exzerpten zu unterscheiden. 291 Vgl. Psalter Marie, Ulm: Konrad Dinckmut 1483 (GW M39197). Zu diesem Druck und der darin enthaltenen Mirakelsammlung des Alanus, die bei Kaeppeli 1970 nicht erwähnt wird, siehe ausführlich und mit weiteren Angaben Buschbeck 2023 und Buschbeck 2022b, S. 46 - 48. 292 Meersseman 1960, S. 27. Einen Versuch, ein Schlaglicht zumindest auf die Überlieferung der vielverbreiteten Mirakel des Alanus von Rupe zu werfen, habe ich mit Buschbeck 2023 vorgelegt. 293 Einige Ausführungen zur Alanus-Rezeption in Dänemark, die methodisch zwar antiquiert erscheinen, wichtige Quellen und Anknüpfungspunkte hierzu jedoch benennen, finden sich bei Schmitz 1903, S. 24 - 42 sowie S. 65 - 102. 294 Es handelt sich dabei um die von dem Bordesholmer Chorherrn Johannes Nese ab ca. 1475 über mehrere Jahrzehnte hinweg angefertigten Handschriften Kiel, UB, Cod. ms. Bord. 58, 58A, 58B. In Cod. Ms. Bord. 58A findet sich der Tractatus apologeticus auf fol. 11r - 49v. Diese Überlieferungszeugen, die eine Art Gesamtschau der Alanus zugeschriebenen Texte liefern, müssten einer zukünftigen Edition seiner Werke zugrunde liegen. Sie werden buchgeschichtlich aufgearbeitet in der wertvollen Studie von Kerstin Schnabel: Liber de sanctae Mariae in Bordesholm … Geschichte einer holsteinischen Stiftsbibliothek (Wolfenbütteler Mittealter-Studien 33), Wiesbaden 2018, S. 179 - 188. Mit den in diesen Handschriften überlieferten Texten überschneiden sich die (teils vor- und teils nachgängigen) Drucke Alanus de Rupe: De psalterio Beatae Mariae Virginis, [Lübeck: Lukas Brandis, um 1478] (GW M3918420), sowie Alanus de Rupe: De utilitate Psalterii Mariae, Gripsholm: Kartäuserkloster Mariefred 1498 (GW M39205). Der niederländische Druck Alanus de Rupe: Van die nutticheyt ende edelheit des 158 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="159"?> desiderat, dessen Erfüllung das hier gezeichnete Bild womöglich ergänzen und korrigieren könnte. 295 Unter Alanus ’ Werken besonders hervorzuheben ist der Tractatus apologeticus, eine voluminöse, an den Tournaier Bischof Ferry de Clugny (ca. 1430 - 1483) adressierte Verteidigungsschrift, die Alanus im Jahr 1475 abfasste, also kurz vor seinem Tod. 296 Im Hintergrund dieser Abhandlung steht eine Kontroverse, die Alanus ausgelöst hatte, indem er in seinen Predigten exzessiv und mit teils verblüffender Vorstellungskraft eine die Rosenkranzklauseln erweiternde Gebetsform aus 150 Ave Maria und 15 Vaterunser propagierte, also eine Frömmigkeitspraxis, die, wie weiter unten ausgeführt, im gleichen Jahr in Köln als Gebetsweise der Rosenkranzbruderschaft übernommen wurde. 297 Vor dem Bischof rechtfertigte und erläuterte Alanus also die Form des Betens und der Bruderschaft, die er gepredigt hatte, um sich so gegen Vorwürfe zu verteidigen, der von ihm verbreitete marianische Psalter sei erstens eine mera nouitas. 2. Nec approbata. 3. Et Superstitiosa. 4. Et præsumptuosa. 298 Seine Gegner hatten ihn offenbar unter anderem beschuldigt, er treibe eine Spaltung der Christenheit voran, indem er die Gläubigen dazu verleite, den offiziellen Gottesdienst und die Buße zu vernachlässigen und ihren eigentlichen Gemeinden zugunsten der von den Dominikanern angeleiteten Rosenkranzbruderschaften fernzubleiben. 299 Andererseits fand sich Alanus von Rupe auch in der Verlegenheit, die zahlreichen von ihm verbreiteten Ursprungslegenden zum Marienpsalter zu erklären, die seine Widersacher nicht ohne Grund für Somnia, phantasias, anilesque Vrouwen Souter, Utrecht: t. G., nach 30.05.1480 (GW M39208) überliefert neben einer Übertragung des Tractatus apologeticus auch Alanus ’ Mirakel von der Grafentochter Benedicta (fol. 25r - 31v; zu diesem Text vgl. Buschbeck 2023, S. 70 und S. 78 - 80) sowie - in diesem Kontext sehr aufschlussreich - eine niederländische Fassung der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen (fol. 31v - 32v). Ich danke Falk Eisermann sehr herzlich dafür, dass er mir letzteren Druck digital zugänglich gemacht hat. 295 Die Schließung der Bibliotheken und Archive, die für ein entsprechendes Unterfangen zu konsultieren wären, während der Coronapandemie ab dem Jahr 2020 durchkreuzte meine Pläne zu einer längeren Archivreise auf den Spuren der Alanus-Überlieferung leider. Die Zwischenergebnisse meiner davor erfolgten Nachforschungen habe ich inzwischen in dem Artikel Buschbeck 2023 veröffentlicht. 296 Ein Kernproblem für die Untersuchung dieses Autors, dem zeitgenössisch eine Vielzahl von Werken zugeschrieben wird, liegt in der grundsätzlich schlechten Editionslage seiner Schriften, die bis heute bloß in den durch den Dominikaner und Gegenreformator Johann Andreas Coppenstein veranstalteten Druckausgaben des frühen 17. Jahrhunderts zugänglich sind. Da eine philologisch genaue Sichtung und Edition von Alanus ’ Werk bisher ein Forschungsdesiderat bleiben, dessen Erfüllung mit einem hier nicht leistbaren Aufwand verbunden wäre, muss ich auf Coppensteins Text zurückgreifen. Dies geschieht ausdrücklich unter dem warnenden Vorbehalt, dass es sich dabei nicht um eine zuverlässige kritische Ausgabe im heutigen Sinne handelt. Folgend verwende ich in diesem Sinne die Ausgabe Alanus von Rupe: Apologia B. Alani de Rvpe pro prædicatione sva de Psalterio Christi & Mariæ … , in: B. Alanvs de Rvpe redivivvs de Psalterio sev Rosario Christi ac Mariæ eivsdemque Fraternitate Rosaria, hg. v. Johann Andreas Coppenstein, Köln: Peter Henning 1624, S. 1 - 85. 297 Meersseman 1977, S. 1161 merkt dazu an, der Liber apologeticus lege nahe, dass Alanus seine Thesen zum Marienpsalter schon seit einigen Jahren verbreitet habe und dass auch die Kritik an ihnen keineswegs neu gewesen sei: »Questo scritto allude alle critiche, tutt ’ altro che recenti, di alcuni suoi avversari, donde risulta che Alano aveva propagato le sue idee già parecchi anni.« 1475 jedoch, so Ranacher, habe er sich wohl erstmals bei dem Bischof von Tournai schriftlich erklären müssen, da er »aufgrund verschiedener Äußerungen bei selbigem verklagt worden war« (Ranacher 2022, S. 121). 298 »eine bloße Neuerfindung, zweitens nicht genehmigt, drittens abergläubisch und viertens anmaßend«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 77. 299 Eine Zusammenfassung der geäußerten Vorwürfe findet sich im Kapitel 22 der Verteidigungsschrift, siehe ebd., S. 76 - 80. Vgl. dazu auch zusammenfassend Klinkhammer 1972, S. 87 - 88. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 159 <?page no="160"?> fabulas hielten. 300 Im Zuge dieser Auseinandersetzung verfasste der streitbare Dominikaner ein aus 24 umfangreichen Kapiteln zusammengesetztes, die Grenzen zwischen theologischer Erörterung, Heiligenlegende und Visionsbericht oftmals verwischendes und durchgängig mit Berufungen auf von Alanus erfundene oder gar gefälschte Quellen gespicktes Werk »per giustificare la propria predicazione nella diocesi e nelle regioni limitrofe.« 301 4.1 Feste Form und freie Imagination: Alanus ’ Marienpsalter Zunächst gibt Alanus von Rupe im Tractatus apologeticus Aufschluss über die von ihm beworbene Gebetsweise, die er ausdrücklich als Marienpsalter (psalterium Mariæ) verstanden wissen möchte. Dass alternative Bezeichnungen kursieren, räumt er zwar ein, lehnt Namen wie Rosenkranz (rosarium), Kranz (sertum) oder Krone (corona) jedoch entschieden ab: Vocabula: Corona, Rosarium, Sertum: metaphorica sunt [ … ]: Psalterium vero à psallendis Deo laudibus nomen habens, proprie est oratio. [ … ] Nomina illa vulgaria sunt, sapiuntque sæculi vanitatem: quod sic à sertis puellaribus dicantur: at Psalterium est Ecclesiasticum. Ideoque religiosius ab Ecclesiæ filiis amplectendum est, venerandum, vsurpandum, ac prædicandum. 302 Diese scharfe Abgrenzung zu den beispielsweise der oben behandelten Rosenkranzlegende entspringenden Vorstellungen des betenden Kranzflechtens muss auch als Teil von Alanus ’ Verteidigungsstrategie begriffen werden. Nicht umsonst betont der Liber apologeticus mit hohem Nachdruck, der hier vertretene Marienpsalter bestehe im Kern aus dem Aufsagen von genau 150 Ave Maria: Non cuiusquam id superstitionis est, sed imitationis Ecclesiæ, cuius Psalterium Psalmis totidem constat. 303 Durch die Hervorhebung der Analogie zwischen dem empfohlenen Reihengebet und dem Offizium präsentiert Alanus die Gebetsweise, für deren Verbreitung er angegriffen wurde, als bloße Spielart einer in der Liturgie verwurzelten und dabei über die vorgebrachten Zweifel erhabenen Gebetspraxis. Das als Laiensurrogat für das monastische Stundengebet verbreitete tägliche Reihenbeten einer festen Anzahl an Ave Maria wird so in den Vordergrund gerückt und bereits durch die Bezeichnung › Marienpsalter ‹ als Hauptelement der propagierten Gebetsform gekennzeichnet. Nun hindern derlei begriffliche Abgrenzungen Alanus jedoch keinesfalls daran, auch das Bild des aus Rosen zusammengebundenen geistlichen Blumenkranzes wiederholt 300 »Träumereien, Fantasiegespinste und Ammenmärchen«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 79. 301 Meersseman 1977, S. 1161. 302 »Die Begriffe › Krone ‹ , › Rosenkranz ‹ und › Kranz ‹ sind metaphorisch [ … ]; › Psalter ‹ dagegen hat seinen Namen von dem Lob Gottes, das gesungen werden soll, und meint im eigentlichen Sinn ein Gebet. [ … ] Jene Bezeichnungen sind volkstümlich und haben den Beigeschmack weltlicher Eitelkeit, da sie so auch für die Kränze der Mädchen verwendet werden, › Psalter ‹ dahingegen ist [ein] kirchlich[es Wort]. Und daher soll es von den Kindern der Kirche mit großer Hingabe angenommen, verehrt, gebraucht und gepredigt werden.«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 7 f. 303 »Nichts davon geschieht aus irgendeinem Aberglauben, sondern als Nachahmung der Kirche, deren Psalter aus ebenso vielen Psalmen besteht«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 11. Durch eine Reihe zahlenallegorischer und schriftexegetischer Kapriolen begründet Alanus im Anschluss diese Zahl zusätzlich, siehe ebd., S. 11 - 15. 160 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="161"?> aufzugreifen und zur Veranschaulichung und Bewerbung seiner Gebetsweise zu nutzen. So heißt es bereits im ersten Kapitel des Tractatus apologeticus: Ut sit [hoc Psalterium] velut PARADISVS voluptatis Dei, ROSIS, ac rosaceis sertis CL adornatus. Salutationes enim istæ sunt velut quædam Rosæ angelicæ: vnde quinquagena Virginis Rosarium siue Sertum nuncupatur. 304 Die Idee eines geistliche Dinge hervorbringenden › handwerklichen Betens ‹ , das Blumen und Gebete in Entsprechung treten lässt sowie dem im Gebet innerlich Entworfenen den Status einer geistlichen Konkretheit zuspricht, schwingt also auch hier mit. Zusätzlich zu den 150 Ave Maria schließt Alanus ’ Marienpsalter auch 15 Paternoster ein, so dass auf zehn Mariengrüße je ein Herrengebet folgt. Seine Gebetsweise unterteilt sich so in 15 Abschnitte. Diese Beifügung, die sich in den kartäusischen Rosarien nicht findet, 305 bringt zunächst drei Ave-Fünfziger in eine Gliederung, die weitgehend dem Rosenkranzgebet in der »version that won out and was made official by papal proclamation in 1569« entspricht. 306 Dies ist als Formalisierung zu verstehen. Aus dem recht einfachen und offenen, durch gezählte Ave Maria gegliederten Reihengebet mit beigefügten Betrachtungspunkten, wie es Dominikus von Preußen konzipiert hatte, wird so eine komplexe Form, die verschiedene Standardgebete in fester Abfolge und Zahl umfasst. Zudem aber dienen die 15 Vaterunser der Passionsmeditation in 15 Punkten. Für jeden Gebetsabschnitt nämlich gibt Alanus einen Betrachtungspunkt vor, wobei dem Verlauf der Passionsgeschichte gefolgt wird: 1. C œ na dolorosa. 2. Comprehensio p œ nosa. 3. Collaphisatio probrosa, in Annæ domo. 4. Illusio & condemnatio, in Cayphæ domo, odiosa. 5. Raptatio Christi ad Pilatum clamorosa. 6. Illusio Christi apud Herodem contumeliosa. 7. Flagellatio Christi sanguinolenta. 8. Coronatio spinosa. 9. Irrisio ab militibus blasphemosa. 10. Condemnatio flagitiosa. 11. Baiulatio Crucis ærumnosa. 12. Crucifixio vulnerosa. 13. Elocutio Christi in cruce virtuosa. 14. Mors IESV luctuosa. 15. Sepultura Domini gloriosa. 307 Beim Sprechen des Marienpsalters sollen diese Stationen des Karfreitagsgeschehens vom Betenden fromm durchmeditiert werden, sie sind cum religione contemplanda. 308 Ähnlich den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen ist also auch der Marienpsalter des Alanus von Rupe als Gebets- und Andachtsübung aufgebaut, in der das Erdenwirken 304 »Und [dieser Psalter] sei wie ein Paradies göttlicher Freuden, geziert mit 150 Rosen und aus diesen Rosen gebundenen Kränzen. Diese Grüße [d. h. die gebeteten Ave] sind nämlich wie gewisse Engelsrosen, von denen je 50 ein Rosenkranz oder Kranz der Jungfrau genannt werden«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 4. 305 Klinkhammer 1972, S. 226, spricht von einer im niederländischen Raum »übliche[n] Einfügung je eines Pater-noster nach zehn Ave«, die er jedoch nicht weiter belegt und die ich anhand der mir zugänglichen Quellen auch nicht nachweisen kann. Trotzdem scheint die Annahme naheliegend, Alanus habe sich hier an regional verbreitete Praktiken des zählenden Betens angelehnt. 306 Winston-Allen 1997, S. 25. 307 »1. Das schmerzvolle Abendmahl. 2. Die sträfliche Gefangennahme. 3. Die schändliche Ohrfeige im Haus des Hannas. 4. Die hassenswerte Verspottung und Verurteilung im Haus des Kajaphas. 5. Die lärmende Hinführung Christi zu Pilatus. 6. Die schimpfliche Verspottung Christi bei Herodes. 7. Die blutige Geißelung Christi. 8. Die Dornenkrönung. 9. Die lästerliche Verhöhnung durch die Soldaten. 10. Die niederträchtige Verurteilung. 11. Die mühselige Last des Kreuzes. 12. Die schmerzerfüllte Kreuzigung. 13. Die tugendhaften Kreuzesworte Christi. 14. Der jämmerliche Tod Jesu. 15. Die glorreiche Grablegung des Herrn«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 9 f. 308 »mit Hingabe zu betrachten«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 9. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 161 <?page no="162"?> Christi meditativ vergegenwärtigt werden soll. Im Vergleich mit der vorgängigen Gebetsform jedoch sind die Betrachtungspunkte in ihrer Zahl reduziert und auf die Passion beschränkt, die abzuleistenden Reihengebete dahingegen vervielfacht. Das Reihenbeten dient dennoch auch hier der Hinkehr zu Maria und dem Eintauchen in die Passionsereignisse, die im szenenhaften Aufrufen der Leidensstationen Christi mitleidvoll nachvollzogen werden sollen. Davon, dass Alanus das Trierer Rosenkranzkorpus zumindest in Teilen kannte und »made use of it«, 309 darf ausgegangen werden. 310 Wenn er eine Quelle für seine in Punkte unterteilte Passionsbetrachtung anführt, verweist er jedoch nicht auf den Trierer Kartäuser, sondern beruft sich auf die ungleich höhere Autorität Bernhards von Clairvaux (ca. 1090 - 1153), des »Vater[s] der Passionsliteratur« im Mittelalter: 311 Propter visionem S. Bernardo factam. Qui ex diuina didicit reuelatione: quod, qui in dies singulos, per annum totum, xv. Pater noster dixerit: is numerum Christi passi Vulnerum adæquarit. 312 Zunächst erscheint die Referenz auf Bernhard grundsätzlich schlüssig, gilt dieser Autor doch nicht nur als Begründer einer affektiven, auf das Mitleiden mit Christus abzielenden Passionsfrömmigkeit, 313 sondern auch als Urheber der im Mittelalter gängigen und auch im Rosengertlin-Traktat anklingenden Andacht zu den Wunden Christi. 314 Zudem finden sich bei Bernhard von Clairvaux mehrfach listenartige Aufzählungen der Karfreitagsereignisse für eine Lektüre im Rahmen von Gebet und Betrachtung. Beispielhaft zu nennen sind hier die Meditationspunkte zur Passion in dem vielrezipierten pseudobernhardischen Tractatus de interiori domo 315 sowie Bernhards Hoheliedpredigt 43, 316 die als Ausgangspunkt für die im Spätmittelalter florierenden, passionsfokussierten Myrrhenbüschel-Andachten diente. 317 Das tägliche Beten von 15 Vaterunser zu den 5.490 Wunden Christi, deren Zahl zumindest in Schaltjahren somit entsprochen werden kann, stammt jedoch nicht von Bernhard von Clairvaux, sondern basiert auf einer sich ab dem späten 13. Jahrhundert herauskristallisierenden Tradition der Wundenbetrachtung im Reihengebet: »Die Über- 309 Winston-Allen 1997, S. 72. 310 Zu dieser Kenntnis siehe ausführlicher unten, Kap. II.4.2. 311 Kurt Ruh: Zur Theologie des mittelalterlichen Passionstraktats, in: Theologische Zeitschrift 6.1 (1950), S. 17 - 39, hier S. 18. 312 »Infolge einer dem hl. Bernhard gewährten Vision sprach dieser aus göttlicher Offenbarung heraus, dass, wenn jemand durch das ganze Jahr hindurch jeden Tag 15 Vaterunser spreche, er dadurch die Zahl der Wunden des gekreuzigten Christus erreiche.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 9. 313 Vgl. dazu z. B. den Überblick bei Katharina Mertens Fleury: Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mitleidens im Parzival Wolframs von Eschenbach, Berlin 2006 (Scrinium Friburgense 21), S. 20 - 25. 314 »Bernhard v[on] Clairvaux empfiehlt die Meditation der Wunden Christi (Sermones in cantica canticorum 62,7), eine Form affektiver Passionsfrömmigkeit [ … ], die für die zisterziens[ische] Spir[itualität] charakteristisch bleibt«, Eva-Maria Faber: Art. Wundmale Christi. II. Historischtheologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10 (2001), Sp. 1321. 315 Vgl. Ps.-Bernhard von Clairvaux: Tractatus de interiori domo seu de conscientia aedificanda, in: Patrologia Latina 184 (1862), Sp. 508 - 552, hier Sp. 530 f. 316 Vgl. Bernard of Clairvaux: On the Song of Songs II, übers. v. Kilian Walsh OCSO, Kalamazoo, MI 1976 (Cistercian Father Series 7), S. 222. 317 Vgl. dazu die genauen Untersuchungen bei Fasching 2020, insb. S. 16 - 19; sowie Dietrich Schmidtke: Art. Myrrhenbüschel-(Fasciculus-myrrhae-)Texte, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 832 - 839. 162 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="163"?> lieferungsgeschichte dieser Gebete ist noch nicht geschrieben, doch dürfte ihre Tradition auf Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta zurückgehen.« 318 Was dahingegen die Vision betrifft, die Alanus Bernhard von Clairvaux zuschreibt, so ist sie inhaltsgetreu der Vita Christi des Ludolf von Sachsen (ca. 1300 - 1377/ 1378) übernommen. Dort wird von einer Rekluse berichtet, der Christus offenbart: Quinqe millia quadringenta nonaginta vulnera mei corporis exstiterunt; quae si venerari volueris, orationem Dominicam cum salutatione Angelica quindecies quotidie in memoria Passionis meae replicabis, sicque anno revoluto unumquodque vulnus venerabiliter salutabis. 319 Derartig verwirrende Quellenbezüge sind charakteristisch für den Tractatus apologeticus. Oftmals adaptiert Alanus z. B. legendarische Versatzstücke, Visionsberichte oder gebetsanleitende Instruktionen aus einem kaum zu überblickenden Korpus geistlicher Schriften seiner Zeit, um sie dann durch Zuschreibung an illustre Heilige oder theologische Autoritäten mit intensiviertem Gültigkeitsanspruch aufzuladen. An dieser Stelle übernimmt er eine als Wundenandacht verbreitete Praxis des täglichen Betens von 15 Vaterunser, schreibt ihre Entstehung einer angeblichen Vision Bernhards von Clairvaux zu, die allerdings mit veränderter Zuschreibung aus Ludolfs Vita Christi herausadaptiert wurde, fügt sie in seinen Marienpsalter ein und verbindet dieses tägliche Reihengebet schließlich mit Betrachtungspunkten zum Karfreitagsgeschehen. In letzterem Punkt wiederum folgt er einer Verbindung von zählendem Kranzgebet und Passionsmeditation, die auf die Rosenkranzschriften des Dominikus von Preußen zurückgeht. Für Alanus ’ 15 Betrachtungspunkte könnten zudem noch weitere Texte Pate gestanden haben. Direkt im Anschluss an die dem Betenden anempfohlenen 15 Meditationsgegenstände erwähnt der Autor, dass, sicut Dominus IESUS aliquoties reuelauit S. Bernardino, & S. Brigittæ, 320 jeder dieser Punkte von unermesslichem Wert sei. Während die Referenz auf Bernhardin von Siena (1380 - 1444) sich an dieser Stelle nicht recht erschließt, 321 scheint der Rekurs auf Birgitta von Schweden (1303 - 1373) etwas klarer motiviert. Denn der Gründerin des Erlöserordens wurde im 15. Jahrhundert ein allgemein unter dem Titel Fifteen Oes bekannter, auf Latein ebenso wie in zahlreichen Volkssprachen breit überlieferter Gebetszyklus zugeschrieben. 322 Ein Vergleich dieses Textes mit Alanus ’ Betrachtungspunkten zeigt eine zumindest strukturelle Ähnlichkeit in der Aufteilung des Karfreitagsgeschehens in 15 Einzelszenen, wobei sich die beiden auf innere Vergegenwärtigung des 318 Angenendt u. a. 1995, S. 45. 319 »5.490 Wunden fanden sich an meinem Körper; wenn du sie verehren willst, dann [wirst du] täglich 15mal das Herrengebet mit dem englischen Gruß in der Erinnerung an mein Leiden [wiederholen]; wenn das Jahr um ist, wirst du eine jede Wunde ehrwürdig gegrüßt haben«, Ludolphus de Saxonia: Vita Jesu Christi, Bd. 4, hg. v. L.-M. Rigollot, Paris/ Rom 1870, S. 458; Übersetzung nach Angenendt u. a. 1995, S. 45. 320 »wie der Herr Jesus mehrfach dem hl. Bernardin und der hl. Birgitta offenbarte«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 10. 321 Die hier referierte These von der unvergleichlichen Wirksamkeit der Passionsmeditation scheint zu allgemein, um sie auf eine bestimmte Schrift dieses Franziskaners zurückzuführen. 322 Ediert bei Claes Gejrot: The Fifteen Oes: Latin and Vernacular Versions. With an Edition of the Latin Text, in: The Translation of the Works of St. Birgitta of Sweden into the Medieval European Vernacular, hg. v. Bridget Morris u. Veronica M. O ’ Mara, Turnhout 2000 (The Medieval Translator 7), S. 213 - 238. Für die deutschsprachige Fassung vgl. ausführlicher Ulrich Montag: Das Werk der heiligen Birgitta von Schweden in oberdeutscher Überlieferung, München 1968 (MTU 18), S. 25 - 33. Zur Verbindung dieses Gebetszyklus mit der Birgitta offenbarten Zahl der Wunden Christi vgl. ebd., S. 26. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 163 <?page no="164"?> Leidens und Sterbens Christi hin angelegten Übungen in der Hervorhebung einzelner Passionsstationen allerdings unterscheiden. Trotzdem kann der namentliche Verweis auf Birgitta hier als Zeichen der Anlehnung an ihre in Alanus ’ niederländischem Wirkungsraum unter dem Titel 15 Pater noster op het lijden des Heeren stark verbreitete Schrift gelesen werden. 323 Daneben finden sich in der zeitgenössischen Gebetbuchliteratur weitere Anleitungen zum Beten von 15 Vaterunser, die je mit einzelnen Meditationspunkten zur Passion Christi verbunden werden. Exemplarisch angeführt sei hier die Gebetsunterweisung für 15 Pater noster zum Leiden Christi, die für das 14. Jahrhundert in einer Reihe früher deutschsprachiger Gebetbuchhandschriften nachweisbar ist. 324 Im Engelberger Gebetbuchs beginnt der Text: Das erst pater noster spriche und erman mich der entordenunge aller miner gelider, wie ich an das krúz geslagen wart. Das ander pater noster sprich den stunzen nageln, da mit mir hend und fu ᵉ sse durchboret wurden. Daz iii pater noster sprich der zerdennunge aller miner gelider an dem krúze. 325 Die Gebetsübung, die in vergleichbarem Duktus fortfährt, folgt wie auch Heinrich Seuses Hundert Betrachtungen oder die Rosenkranzklauseln dem Prinzip der in Punkte gegliederten Passionsbetrachtung. Ob Alanus einen dieser Texte als direkte Vorlage für die Betrachtungen zu den 15 Vaterunser im Marienpsalter nutzte, ist kaum zu eruieren. Vermutlich aber dürfte der Autor des Tractatus apologeticus zumindest aus der Masse an entsprechenden Übungen geschöpft haben, die in der zeitgenössischen Gebetbuchliteratur zirkulierten. Inwiefern Alanus ’ Marienpsalter daher tatsächlich, wie es in der Forschung mitunter geschieht, als »completely new form of prayer, never found before« bezeichnet werden kann, 326 ist fraglich. Denn »im Rosenkranz wurden«, wie die oben aufgeführten Beispiele illustrieren und Thomas Lentes hervorhebt, »die unterschiedlichsten schon Jahrhunderte zuvor praktizierten Formen von Reihengebeten gebündelt und normiert«. 327 Daher ist 323 Vgl. D. A. Stracke: De origineele tekst der XV Pater noster op het lijden des Heeren en diens latere lotgevallen, in: Ons Geestelijk Erf 17 (1943), S. 71 - 140. 324 Vgl. Ochsenbein 1988, S. 396. Es handelt sich hier vor allem um die Handschriften Engelberg, Stiftsbibl., cod. 155, fol. 204r - 206v [Engelberger Gebetbuch]; München, BSB, Cgm 73, fol. 12r - 13r; München, BSB, Cgm 139, fol. 5r - 10v; Heidelberg, UB, Cpg 350, fol. 64r; Freiburg, UB, cod. 30, fol. 188r - 191v. Der Text wurde abgedruckt nach der wohl ältesten, um 1300 datierenden Handschrift Trier, Stadtbibl., cod. 1149/ 451, fol. 233r - 234v bei Wolfgang Jungandreas: Ein moselfränkisches Zisterzienserinnengebetbuch im Trierer Raum um 1300, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 9 (1957), S. 195 - 213, hier S. 211 f. Ein weiterer Abdruck nach der etwas klareren, auf den Anfang des 14. Jahrhunderts zu datierenden Handschrift Breslau, UB, I. Q. 234, fol. 156r/ v, findet sich bei Joseph Klapper: Miszellen. Mitteldeutsche Texte aus Breslauer Handschriften, in: ZfdPh 47 (1918), S. 83 - 98, hier S. 87 f. Zu der bei Ochsenbein 1988, S. 396, angekündigten Studie zu diesem Text und seiner Überlieferung kam der Autor nicht mehr. 325 »Sprich das erste Vaterunser und mahne mich der Verrenkung aller meiner Glieder, als ich an das Kreuz geschlagen wurde. Das nächste Vaterunser sprich für die stumpfen Nägel, mit denen mir Hände und Füße durchbohrt wurden. Das dritte Vaterunser sprich der Zerdehnung aller meiner Glieder an dem Kreuz«, Engelberg, Stiftsbibl., cod. 155, fol. 205r/ v. Interpunktion von mir zur besseren Lesbarkeit zugefügt. 326 Boguslaw Kochaniewicz: The Contribution of the Dominicans to the Development of the Rosary, in: Angelicum 81.2 (2004), S. 377 - 403, hier S. 391. 327 Lentes 1996, S. 45. 164 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="165"?> wohl besser von einem Verfahren der kombinatorischen Abfassung zu sprechen, in dessen Rahmen Alanus seinen Ausgangsmodellen, also dem ans monastische Stundengebet angelehnten Marienpsalter und dem in Trier entwickelten Leben-Jesu-Rosenkranz, weitere Elemente und Motive beifügte, die er mehr oder minder frei aus anderen geistlichen Übungen und verwandten Texten des ausgehenden Mittelalters adaptierte. Trotz der Strenge der äußeren Form, die in Zahl und Abfolge der verlangten Standardgebete fixiert ist, geht Alanus mit den meditativen Betrachtungen, die er im Tractatus apologeticus vorschlägt, verhältnisweise frei um. Deutlich zeigt sich dies an den diversen Imaginationsübungen zu den 150 Ave Maria, die er anbietet. Denn während bei den 15 Paternoster die Passion innerlich vergegenwärtigt werden soll, werden für das übrige Gebet des Marienpsalters insgesamt fünf Möglichkeiten des Eintauchens in verschiedene Heilsgegenstände vorgezeichnet, aus denen derjenige, der diese Gebetsform praktiziert, auswählen könne. 328 Beim Vollzug des Marienpsalters soll der Betende dementsprechend zwischen der Passion und einer weiteren, individualisierbareren Betrachtungsebene hin- und herwechseln. Das erste der fünf bei Alanus angeführten Meditationsskripte entspricht wesentlich einer erweiterten Form des Leben-Jesu-Rosenkranzes, wie er durch Dominikus von Preußen etabliert wurde: Während der ersten 50 Ave Maria soll die Menschwerdung Christi betrachtet werden, danach folgt im zweiten Drittel des Gebets seine menschheitserlösende Passion. Das letzte Drittel dann ist der Meditation der Auferstehung und himmlischen Herrschaft Christi gewidmet. 329 Die vierte und fünfte Andachtsvariante bestehen aus Fürbitten, bei denen die einzelnen Ave Maria bestimmten Personen, Berufsgruppen oder Ständen gewidmet sind, indessen der dritte Modus zur Besinnung auf den christlichen Tugendkatalog anleitet. 330 Eine komplexe Neuerung stellt Alanus ’ zweite Betrachtungsweise dar, die das Reihengebet in drei Fünfzigergruppen teilt, die je mit einer innerlichen Ausrichtung auf Maria, Christus und die Heiligen verbunden sind. Dabei entspricht der erste Teil einer Andacht zu den Gliedern Marias, wie sie zeitgenössisch in verschiedenen Formen gängig war: 331 Et sic Prima offeratur per salutatos B. Mariæ sensus, aut membra quinque honori IESV Christi. Vt per oculos Mariæ, quæ IESVM viderunt, labia quæ osculata sunt IESVM, &c. 332 328 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Klinkhammer 1972, S. 91 - 93. 329 Vgl. Alanus von Rupe: Apologia, S. 39. Siehe dazu auch Heinz 2001, S. 38. Interessanterweise ist in der Handschrift Kiel, UB, Cod. MS. Bord. 58A, fol. 28v, die erste Andachtsübung weggelassen. Stattdessen findet sich dort die zweite Gebetsweise an erster Stelle. Statt der Leben-Jesu-Meditation enthält die Handschrift an dritter Stelle eine kurze Betrachtung der Sünden, die Coppensteins Ausgabe nicht kennt. 330 Vgl. Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 331 In diese Kategorie gehören beispielsweise die bei Lentes 1996, S. 907, aufgeführten und in Auszügen abgedruckten 24 Ave zu den Gliedern Mariens sowie das im Druck oftmals mit Bertholdus ’ Zeitglöcklein überlieferte Lob der Glieder Mariä; vgl. Bertholdus: Zeitglöcklein des Lebens und Leidens Christi; Ps.- Birgitta: 15 Gebete; Lob der Glieder Mariä, Basel: Johann Amerbach 1492 (GW 4167), fol. 214r - 224v. Letzterer Text ist auch in Gebetbüchern des ausgehenden Mittelalters breit überliefert, z. B. in Dessau, Landesbücherei, HS. Georg 70.8°, fol. 178r - 186r, und Freiburg, UB, HS 1500,30, fol. 172r - 180r. Die bei Alanus vorgeschlagene Betrachtung ist diesen Texten eng vergleichbar. 332 »Und so wird die erste [Fünfzigergruppe] zur Ehre Jesu Christi den fünf dadurch gegrüßten Sinnen oder Körperteilen der hl. Maria dargebracht, so den Augen Marias, die Jesus sahen, den Lippen, die Jesus küssten, usw.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 165 <?page no="166"?> Diese Gebetsübung zielt ausdrücklich auf die Stimulation visueller Eindrücke. Denn der Text empfiehlt, die Fünfzigergruppe entweder vor einem Marienbild zu sprechen oder sich die heilige Jungfrau dabei bildhaft vorzustellen: Quo seruit, imaginem Deiparæ obiecisse oculis mentis, aut corporis. 333 Dies kann als zeittypische Form des Gebrauchs religiöser Bilder gelten, die im 15. Jahrhundert noch nicht unter dem Verdacht der Idolatrie stand: »Spätmittelalterliche Gebetbücher etwa benennen das Bild selbstverständlich als vornehmlichen Gebetsort und behandeln es geradezu als Sakrament der Frommen.« 334 Alanus ’ Marienpsalter regt so die Herstellung eines sinnlichen Gegenwartseindrucks an, für den der Gebrauch innerer und äußerer Bilder als »stimulus of devotion« keinen Widerspruch zur eigentlichen und absoluten Bildlosigkeit dessen bildet, auf das religiöse Praktiken der Innerlichkeit letztlich abzielen. 335 Auch die zweite Fünfzigergruppe stimuliert eine imaginative Verbildlichung, die als Prozess der Immersion in ein vom Text vorgegebenes Skript der inneren Wahrnehmung gelten darf. Nun ist es allerdings nicht mehr der Körper Marias, sondern Christus als Schmerzensmann, der vergegenwärtigt werden soll: Secunda: Ad quina Christi Vulnera singula singulas in orbem, vel ad membra omnia, Salutationem Ang[elicam] dicere: Quo confert, iconem Christi intueri. Neque necesse est sensum cogitare verborum, sed Vulnerum dolorem, meritum, &c. deuote meditari. 336 Das Aufsagen der Ave Maria, deren Wortlaut hier in den Hintergrund tritt, dient nun der Evokation und Schau eines sich vor dem inneren Auge des Betenden zusammenfügenden Erbermdebilds. 337 Dazu werden die Wunden und Körperglieder des Gekreuzigten einzeln aufgerufen und mit Gebetsformeln bedacht. 338 Die Passionsgeschichte überführt sich somit durch die schriftlichen Betrachtungspunkte in ein schmerzhaftes Wahrnehmungsereignis. Der gemarterte Christus tritt, ebenso wie zuvor Maria, ins innere Sichtfeld der Betenden. Er stimuliert gleichsam Affekt und Erkennen, verkörpert also das Leiden der Passion ebenso wie seine Erlösungswirkung. Dergestalt zielt die Betrachtungsanweisung auf die »Intensivierung dieser Vergegenwärtigung des leidenden Christus und damit auf die Intensivierung des - heilswirksamen - Mitleidens des Betenden«. 339 In dieser Spielart 333 »Dazu ist es dienlich, sich ein Bild der Gottesgebärerin vor die Augen des Geistes oder des Körpers zu halten.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 334 Lentes 1999, hier S. 46. Siehe zu diesem Themenkomplex zudem auch etwas zu generalisierend Peter Dinzelbacher: Religiöses Erleben vor bildender Kunst in autobiographischen und biographischen Zeugnissen des Hoch- und Spätmittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner unter Mitarbeit v. Marc Müntz, München 2002, S. 299 - 330; sowie Elisabeth Vavra: Bildmotiv und Frauenmystik. Funktion und Rezeption, in: Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 22. - 25. Februar 1984 in Weingarten, hg. v. Peter Dinzelbacher u. Dieter R. Bauer, Ostfildern 1985, S. 201 - 230. 335 Hamburger 1998, S. 112. 336 »Zweitens: Zu den einzelnen fünf Wunden Christi jeweils einzelne [Ave Maria] in einen Kreis oder zu allen [seinen] Gliedern den Englischen Gruß sprechen. Dazu ist es hilfreich, ein Bild Christi anzusehen. Und es ist dabei weniger notwendig, über den Sinn der Worte nachzudenken, als den Schmerz der Wunden, ihre Bedeutung usw. mit Hingabe zu betrachten.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 337 Ein Verständnis zählenden Betens im Mittelalter als Technik der Öffnung eines inneren Vorstellungs- und Erfahrungsraums, wie Largier 2008 es skizziert, spiegelt sich somit auch in Alanus ’ Betrachtungsübung wider. 338 Zu dieser Tradition der Christusdarstellung vgl. Dinzelbacher 2004. 339 Thali 2009, S. 266. 166 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="167"?> kommt der Marienpsalter einem Skript zur inneren compassio gleich, das heißt zum vergegenwärtigenden Mitleiden und Nachempfinden der Passion. Ähnlich ist auch die Anweisung für die abschließenden 50 Ave Maria gestaltet. Diese sollen den persönlichen Lieblingsheiligen des Betenden gewidmet werden. Hierbei wird innerlich ein imaginierter Kirchenraum abgeschritten, in dem diesen Heiligen Altäre gewidmet sind. Dadurch werden sie, fast wie in der »Bildtotale« des später verbreiteten Himmlischen Rosenkranzes, als Gesamtheit gegenwärtig: 340 Huc conducitur per altaria Templi obire animo singula, ibique sibi imaginari Angelos, Patriarchas, Prophetas, Apostolos, Martyres, Confessores, Virgines, Viduas, Coniuges sanctos, &c., perque horum honorem ac merita Christo Deo litare preces coronarias. 341 Auf die Betrachtung Marias und ihres gekreuzigten Sohnes folgt also die meditative Hinwendung zur Gemeinschaft der Heiligen und himmlischen Heerscharen. Diese geschieht nun jedoch nicht in einer direkten Visualisierung des schönen oder gemarterten Körpers eines als anwesend erscheinenden und dennoch transzendenten Gegenübers. Vielmehr ereignet sie sich indirekt über die räumliche Immersion in einen Kirchenraum, den der Betende innerlich wahrnehmend durchschreitet und dabei von Altar zu Altar geht. In einem weiteren Vermittlungsschritt werden dabei dieser im Geiste aufgerufene Sakralort und der überweltliche Raum des von Engeln und Heiligen bevölkerten Himmel enggeführt. Denn in der eintauchenden Bewegung durch den vorgestellten Kirchenbau sollen die Betenden sich nicht nur diesen Ort, sondern auch die himmlische Gesellschaft bildhaft vorstellen (sibi imaginari). In ihrer Struktur und im Verfahren der mentalen Verschmelzung und gegenseitigen Überblendung verschiedener heilsmäßiger Räume ähnelt diese Betrachtungsübung beispielsweise der bei Heinrich Seuse beschriebenen Kreuzgangsmeditation, in der Klosterarchitektur und Passionsweg überlagert werden, 342 oder dem imaginativen Besuch der Grabeskirche beim Abschreiten der Nürnberger Sebalduskirche, zu dem der Patrizier und Heilig-Land-Pilger Hans Tucher (1428 - 1491) anleitet. 343 Grundsätzlich konstruiert diese komplexe Betrachtungsübung beim Beten des Marienpsalters also eine je unterschiedlich hergestellte Anwesenheit des Heiligen in der Wahrnehmung des betenden Menschen. Durch intensives, von den Meditationsanweisungen des Tractatus apologeticus und der apostrophischen Form der Mariengrüße vorgebildetes Vorstellen, das ästhetische ebenso wie affektive Effekte zeitigt, rücken Maria, Christus, die Engel und die Heiligen in ansprechbare Nähe. Umgekehrt jedoch kommt dies auch einem Hineinversetzen in eine gezielt evozierte Bild- und Figurenwelt gleich. Die 340 Vgl. Lentes 2003. 341 »Hierzu ist es nützlich, im Geiste die einzelnen Altäre einer Kirche zu besuchen und sich dort die Engel, Propheten, Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen, Witwen, heiligen Eheleute usw. vorzustellen und durch ihre Ehren und Verdienste dem göttlichen Christus kostbare Kronen darzubringen«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 40. 342 Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 34 - 37. Vgl. dazu Christian Kiening: Mediating the Passion in Time and Space, in: Temporality and Mediality in Late Medieval and Early Modern Culture, hg. v. Christian Kiening u. Martina Stercken, Turnhout 2018 (Cursor mundi 32), S. 115 - 146, insb. S. 119 - 121. 343 Zu dieser Episode bei Hans Tucher vgl. Mareike Elisa Reisch: Transporting the Holy City: Hans Tucher ’ s Letter from Jerusalem as Medium and Material Object, in: Things and Thingness in European Literature and Visual Art, 700 - 1600, hg. v. Jutta Eming u. Kathryn Starkey, Berlin/ Boston 2022 (Sense, Matter, and Medium 7), S. 45 - 63. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 167 <?page no="168"?> Kombination von zählendem Beten und der Intensität visuellen und räumlichen Vorstellens stimuliert so einen Prozess der horizontalen Immersion in eine innere Wahrnehmungswirklichkeit der Gegenwart des Sakralen, zu dem mittels der Gebetsformeln auch eine vertikale Kommunikationsnähe hergestellt wird. Zugleich wird hierbei auch wieder das Bild des Fertigens geistlicher Kränze oder Kronen aufgerufen. Diese sollen, ähnlich wie in Dominikus ’ Rosengertlin-Traktat der Rosenkranz für Maria aus den im inneren Garten der Betenden wachsenden Blumen Christi und seiner Mutter zusammengebunden wird, schlussendlich aus den betrachteten Heilsgegenständen und Verdiensten der Heiligen (perque eorum honorem ac merita) geflochten und als gabenhafte Figurationen dieser Frömmigkeitsübung an Christus überreicht werden. Alanus ’ Marienpsalter verknüpft also exakte Quantifizierung des Betens mit frei ausgestaltbaren Angeboten der andächtigen Versenkung und meditativen Introspektive, die zudem wieder an Ideen des › handwerklichen Betens ‹ anschließen. Diese Verbindung ist nicht reibungslos. Sie sollte in den Folgejahrzehnten eine hohe Spannbreite in der Rezeption des Rosenkranzgebets hervorrufen. Denn wie Thomas Lentes skizziert, verstanden Teile des zeitgenössischen Lesepublikums von Texten wie dem Tractatus apologeticus den Rosenkranz offenbar »als höchst verdienstliches Gebet und notifizierten entsprechend zählend ihre Leistungen,« andere dagegen »nutzten ihn als meditatives Reihengebet, um sich in die Heilsgeheimnisse zu vertiefen«. 344 Dabei schlossen diese beiden Ausprägungen sich keineswegs gegenseitig aus. Vielmehr lagen Kombinationen und Verschmelzungen heilsökonomischen Zählens mit einer kontemplativen Praxis jenseits des Zählbaren seit den Klauseln des Dominikus von Preußen geradezu an der Wurzel des Rosenkranzbetens. In jedem Fall postulierte Alanus für die von ihm beworbene Frömmigkeitsübung eine enorme Heilswirkung. Im Rahmen einer Art Glossenauslegung dieser Gebetsformel, wie sie sich mit anderer inhaltlicher Stoßrichtung auch im Rosengertlin findet, verspricht der Tractatus apologeticus für jedes der 15 Worte des Ave Maria besondere Gnadenfrüchte, die von Erleuchtung des Geistes bis zur Sündenabsolution, von Barmherzigkeit über den › ascensus mentis in Deum ‹ bis hin zur Erlösung reichen und demjenigen, der den Marienpsalter regelmäßig praktiziert, allesamt zuteilwerden sollen. 345 Zudem beruft Alanus sich auf einen wohl von ihm selbst gefälschten päpstlichen Ablass von 60.000 Jahren für das Beten des Marienpsalters, den selbst seine späteren Nachahmer in der Kölner Rosenkranzbruderschaft für »too questionable to be endorsed« hielten. 346 Derartig eminente Behauptungen einer gnadenbringenden Wirkmächtigkeit des Marienpsalters verlangten wohl auch für Alanus ’ Zeitgenossen nach Erklärung, Begründung und Lizenz. Folgend sollen dementsprechend die Autorisierungsnarrative in den Blick rücken, die der 344 Lentes 1996, S. 45 f. 345 Vgl. Alanus von Rupe: Apologia, S. 37 - 39. Im Einzelnen werden versprochen: 1. Ave: Befreiung von Sünden; 2. Maria: Erleuchtung des Geistes; 3. Gratia: Verdienst der Gnade Christi; 4. Plena: Fülle himmlischer Güter; 5. Dominus: Sieg über feindliche Anfechtungen; 6. Tecum: Aufschwung des Geistes zu Gott; 7. Benedicta: Segnung mit geistlichen Gaben; 8. Tu: Schau der Würde Marias; 9. In mulieribus: Barmherzigkeit; 10. Et Benedictus: Segnung der eigenen Gebete; 11. Fructus: Sieben Gaben des Heiligen Geistes; 12. Ventris: Keuschheit; 13. Tui: Fähigkeit, gut zu Maria zu beten; 14. Jesus: Erlösung; 15. Christus: Hingabe an die Sakramente und die Heilige Schrift. Zum Rosengertlin sowie vergleichbaren Glossentexten zum Ave Maria vgl. oben, Kap. II.3.4. 346 Winston-Allen 1997, S. 122; vgl. auch ausführlicher Thurston 1902, S. 296 - 299. 168 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="169"?> Tractatus apologeticus für die von ihm propagierte Gebetsübung konstruiert und so in die weitere Geschichte des Rosenkranzes einspeist. 4.2 Traditionskonstruktion und Visionsberichte im Tractatus apologeticus Ungewöhnlich ist, dass Alanus die Erzählung vom Mönch mit den Rosenkränzen, die für die Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause eine so zentrale Rolle spielt und auch in der weiteren Geschichte des Rosenkranzgebets im 15. Jahrhundert vielfach präsent bleibt, nicht als Ursprungserzählung anführt. Möglicherweise hängt dies mit seinem Bestreben zusammen, den Marienpsalter enger an die Tradition des Stundengebets als an derartige Marienmirakel zu binden. Trotzdem aber finden sich im Tractatus apologeticus vielfach exempelhafte Wundererzählungen und Visionsberichte, die der Autor als Belege für die Wirkung des Marienpsalters anführt. Diese hätten sich zumeist kürzlich begeben und seien ihm zugetragen worden. Ein Beispiel liefert die folgende kurze Erzählung: Vidi quoque virginem quandam, quæ post Dominicam Communionem diuino contuitu vidit Almam Matrem Virginem corona triplicata Quinquagenæ coronatam: in quarum hac Rosæ L. ista Lilia totidem, in tertia gemmæ item quinquaqinta cernere videbatur. Nec dubito Virginem hanc veram vidisse: eo, quod Deiparæ tales à Fidelibus essent oblatæ Coronariæ Quinquagenæ. 347 In ihrem Motiv einer visionshaften Schau dargebrachter Mariengrüße in Gestalt von Blumen und Edelsteinen, mit denen Maria gekrönt oder bekränzt wird, erinnert diese Episode frappierend an Mirakel wie Marien Rosenkranz. Gleichzeitig bestehen Parallelen zu jener Vision, die Dominikus von Preußen in seinem Liber experientiae Adolf von Essen zuschreibt, der in den Himmel entrückt worden sei und dort die von den Gläubigen hergestellten Blumenkronen gesehen habe. 348 Es scheint, als greife Alanus hier bekannte narrative Versatzstücke auf, um sie in abgewandelter Form zur Bekräftigung seines Anliegens ins Feld zu führen. Dabei besitzt die geschilderte Vision, deren Empfängerin Alanus persönlich zu kennen vorgibt, handlungsleitende Implikationen. Die Marienerscheinung zeige nämlich, dass auch Alanus ’ Publikum der Gottesmutter derartige Gebetskronen fertigen solle. Diese frömmigkeitspraktische Schlussfolgerung gleicht der begründenden und affirmierenden Bezugnahme auf Mirakelerzählungen und Exempla, die sich prominent in den Rosenkranzschriften aus der Trierer Kartause beobachten lässt. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass Alanus mit diesen Texten vertraut war. So bezieht er sich an einer Stelle sogar direkt kritisch auf Dominikus von Preußen: 349 347 »Ich sah auch eine gewisse junge Frau, die nach der sonntäglichen Kommunion in heiliger Schau die gütige Mutter und Jungfrau erblickte, die mit einer dreifachen Fünfzigerkrone gekrönt war: auf einer davon waren 50 Rosen, auf der anderen ebenso viele Lilien und auf der dritten gleichfalls 50 Edelsteine zu erkennen. Ich zweifle nicht daran, dass die junge Frau dies wirklich gesehen hat: Deshalb sollen der Gottesgebärerin von Gläubigen auf diese Weise Fünfzigerkronen dargebracht werden.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 15. 348 Dominicus de Prussia: Liber experientiae I, S. 378 f. 349 Vgl. dazu bereits Esser 1904, S. 284. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 169 <?page no="170"?> abhinc annis LXX vel LXXX per quendam, mihi bene notatum, ex deuotione ipsius singulari, diuinum hoc Psalterium fuit detruncatum, & ad solam Qinquagenam redactum. 350 Diese wohlbekannte Person, mit der der Trierer Kartäuser gemeint sein dürfte, habe den altehrwürdigen Marienpsalter aus 150 Englischen Grüßen bloß deshalb auf lediglich 50 Gebete reduziert, um die Gläubigen durch diese Vereinfachung behutsam wieder an eine zwischenzeitlich vergessene Gebetsform heranzuleiten. 351 Alanus ’ Absicht nun sei es, sie in ihre ursprüngliche Gestalt zurückzuführen und ihre Entstehungsgeschichte offenzulegen. Dominikus von Preußen wird hier also nicht als Urheber des Rosenkranzes, sondern eher als Alanus ’ etwas verfehlter Vorgänger in einem übergreifenden Projekt der restaurativen Wiedereinführung einer Gebetsübung dargestellt, deren Geschichte deutlich älter und illustrer sei. Ob die Formulierung mihi bene notatum dabei auf eine persönliche Bekanntschaft oder bloß auf Vertrautheit mit Dominikus ’ Werken weist, geht aus dem Tractatus apologeticus nicht hervor. 352 Angesichts der sich überschneidenden Lebensdaten und Wirkungsräume der beiden Rosenkranzautoren scheint beides möglich. Obzwar sein Werk »ganz auf den Schultern des Dominicus Prutenus« steht, unterlässt Alanus eine einfache Übernahme der Rosenkranzklauseln. Vielmehr erweitert und öffnet er diese Gebets- und Andachtsübung beträchtlich, wobei er sie zudem mittels einer imposanten Ursprungsgeschichte narrativ auratisiert. 353 Ein Blick auf diese Meistererzählung von der Entstehung des Marienpsalters macht zumindest nachvollziehbar, weshalb die ältere Forschung Alanus wiederholt eine »pathologische Persönlichkeit« attestierte 354 oder schockiert anmerkte, »that his extravagances as a theologian were technically › scandalous ‹ «. 355 Bereits der Apostel Bartholomäus nämlich, so führt der Tractatus aus, habe eine Vorform des Marienpsalters praktiziert. Benedikt von Nursia habe diese Gebetsweise ebenfalls gepflegt und Beda Venerabilis sie gepredigt. Auch Bernhard von Clairvaux sei ein eifriger Anhänger gewesen. Vor allen anderen jedoch sei es der Gründer von Alanus ’ eigenem Orden, der heilige Dominikus selbst gewesen, der für die Verbreitung des Marienpsalter gesorgt und dazu eine erste weltumspannende Gebetsverbrüderung gegründet habe: Iste est Apostolus ille Psalterij, de quo Alma Dei Virgo non semel ei facta reuelatione, mandatum formamque dedit eiusdem prædicandi. Et vero prædicavit, circumque tulit per omnem Hispaniam, Italiam, Galliam, Angliam, & Alamaniam. 356 350 »Vor nunmehr 70 oder 80 Jahren wurde von jemandem, der mir wohlbekannt ist, dieser heilige Psalter aus einzigartiger Hingabe heraus gekürzt und auf bloß 50 [Ave Maria] reduziert«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 25. 351 Vgl. ebd., S. 25 f. 352 Thomas Esser hält aber fest, dass Alanus »persönliche Beziehungen zu den Kartäusern« hatte und auch in seinen verschiedenen Schriften die Kartäuser lobend erwähnt (Esser 1904, S. 282, mit Textbelegen). 353 Ebd., S. 284. 354 Klinkhammer 1978, Sp. 102. 355 Herbert Thurston: Alan de Rupe and his Indulgence of 60,000 Years, in: The Month 100 (1902), S. 281 - 299, hier S. 284. 356 »Dieser ist der Apostel jenes Psalters, den zu predigen die gütige Jungfrau Gottes ihm durch mehr als einmal dazu gewährten Offenbarungen den Auftrag und die Ordnung gab. Und er predigte ihn wahrhaftig und verbreitete ihn in ganz Spanien, Italien, Frankreich, England und Deutschland«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 24. 170 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="171"?> Diesbezüglich wird Alanus auch eine Legende zugeschrieben, die berichtet, wie Dominikus während der Katharermission in Toulouse eine Marienvision empfing, in der ihm das Rosenkranzgebet beigebracht und erläutert sowie seine Verbreitung aufgetragen wurde. 357 Der Rosenkranz sei somit »gleichsam fertig vom Himmel gefallen, und sein erster Förderer wäre der grosse hl. Dominikus gewesen«. 358 Das Maß an Verklärung, das Alanus seiner Gebetsform so angedeihen lässt, ist beachtlich. Allerdings kann die Geschichte, der Rosenkranz gehe auf den Ordensgründer Dominikus zurück, als frei erdichtetes Ursprungsnarrativ gelten. Im Hintergrund steht hier wohl auch eine Absicht, diese Frömmigkeitsform als dominikanisches Proprium zu markieren. Denn Alanus »implicitly claims the inventions [d. h. den Marienpsalter und die entsprechenden Bruderschaften] for his own order, rather than the Carthusians«. 359 Dass dies Erfolg hatte, zeigt sich daran, dass spätere dominikanische Autoren geradezu ein Rosenkranzmonopol für sich in Anspruch nehmen. So schreibt beispielsweise Marcus von Weida um 1515 von der inzwischen weit verbreiteten Rosenkranzbruderschaft: diese bruderschafft / steht dem prediger orden sonderlich tzu / vnnd ist durch die vetere / desselben ordens [ … ] von newen widder auffgerichten vnnd vff des ordens anregunge / bestetiget. 360 Alanus betreibt enormen erzählerischen Aufwand, um das Rosenkranzgebet für die Dominikaner zu reklamieren. So führt er zwei angebliche Wegbegleiter des heiligen Dominikus mit Namen Thomas de Templo und Johannes de Monte an, in deren Schriften er Belege für Dominikus ’ Hingabe zum Rosenkranzgebet gefunden zu haben behauptet. 361 Diese beiden Dominikaner der ersten Generation, die anderweitig nirgendwo belegt sind, stellen »frei[e] Erfindungen des durch und durch unzuverlässigen Alanus« dar. 362 Dieser bezieht sich also auf selbsterdachte Quellen, um seiner dominikanischen Entstehungsgeschichte des Marienpsalters zusätzliche Autorität zu verleihen. Dass der Ordensgelehrte Michael Francisci ab Insulis (1435 - 1502), der die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 mitbegründete, im Erstdruck seiner 1476 gehaltenen Vorlesung über das Rosenkranzgebet anmerkt, seine Klosterbibliothek besitze sogar Exzerpte aus den die Verbindung zum heiligen Dominikus belegenden Schriften des Johannes de Monte, scheint besonders signifikant. 363 Diese Bemerkung stellt die Möglichkeit in den Raum, dass Alanus die 357 Dieser Text findet sich abgedruckt in B. Alanvs de Rvpe redivivvs de Psalterio sev Rosario Christi ac Mariæ eivsdemque Fraternitate Rosaria, hg. v. Johann Andreas Coppenstein, Köln: Peter Henning 1624, S. 98 - 105. Ob er tatsächlich aus der Feder des Alanus von Rupe stammt oder erst später in Anlehnung an Alanus ’ Schriften und Predigten verfasst wurde, bedürfte einer genaueren Untersuchung. Die frühneuzeitliche Tradition verbindet diese Erzählung jedenfalls mit dem Namen des Alanus, weshalb sie hier kurz erwähnt sei. Siehe dazu auch ausführlicher Holzapfel 1903, S. 13 - 21. 358 Heinz 2003, hier S. 23. 359 Ardissino 2019, S. 344. 360 Marcus von Weida: Der Spiegel, fol. 35v. 361 Vgl. zu dieser Ursprungserzählung ausführlich Angelia Roncelli: San Domenico e la nascita del Rosario nell ’ opera di Alano della Rupe, in: Sacra doctrina 54 (2009), S. 145 - 170. 362 Georg Grützmacher: Rezension zu P. Herbert Holzapfel: St. Dominikus und der Rosenkranz, München 1903, in: Theologische Literaturzeitung 22 (1903), S. 600. 363 Dort heißt es: ut ab ore praefati magistri Alani audivi, qui etiam se hoc legisse in quodum libello magistri Iohannis de Monte asseruit, hanc fraternitatem b. Dominicus, pater Praedicatorum, fundator instituit et praedicavit; hunc libellum habemus nunc Coloniae in conventu nostro, saltem excerptum (»wie ich aus dem Munde des bereits erwähnten Meisters Alanus gehört habe, der auch versicherte, er habe dies in 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 171 <?page no="172"?> von ihm erwähnten Quellen aus der Zeit der dominikanischen Ordensgründung nicht nur ausgedacht und referiert, sondern sogar gefälscht und verbreitet haben könnte. In jedem Fall entfaltete der zur Legitimierung der Gebetsform des Marienpsalters konstruierte Rückbezug auf den heiligen Dominikus in der Folgezeit eine Eigendynamik. So beziehen sich einige der Ablässe, die Ende des 15. Jahrhunderts den Rosenkranzbruderschaften gewährt werden, auf die Gründung einer ersten Bruderschaft durch Dominikus. 364 Zudem fand sich die Toulouse-Legende, die erzählt, wie Dominikus von Maria der Rosenkranz offenbart wurde, nicht bloß in zahlreichen populären Gebetbüchern auch der Neuzeit, 365 sondern bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 - 1965) auch im Römischen Brevier, wo das im 16. Jahrhundert eingeführte Rosenkranzfest durch diese Ursprungserzählung begründet wird. 366 Nach ersten Zweifeln der Bollandisten entkräfteten erst die Forschungen Thomas Essers und Heribert Holzapfels um 1900 Alanus ’ Geschichte von Dominikus als Rosenkranzgründer und öffneten so den Blick auf die allmähliche Entstehung dieser Gebetsform im Kontext der Frömmigkeitskultur des ausgehenden Mittelalters. 367 Abgesehen von solchen »unrichtigen geschichtlichen Nachrichten« 368 und der betonten Analogie zum psalmenbasierten Stundengebet führt Alanus zur Verteidigung seines Marienpsalters auch eine Vision ins Feld, als deren Empfänger er sich selbst impliziert. Neben den Geltungsanspruch der eigens konstruierten Tradition tritt somit die charismatische Autorität des Gnadenerlebnisses: Orator quidam Psalterij Mariæ Virginis, toto ipso septennio horrificis dæmonum tentationibus, aliquoties sensibiliter, & aliquando visibiliter tentatus fuit. Et ille pene annis istis omnibus nullam, aut paruam habuit consolationem. DEO tandem miserante apparuit ei Regina clementiæ, quæ quibusdam comitata Sanctis eum interuisens, discussa tentatione à præsenti, eum periculo liberauit: Simul suo ipsum Vbere virgineo lactauit. Adhæc eundem, annulo ex virgineis capillis suis ipsius Mariæ Virginis facto, sibi desponsauit: Mandauitque eidem, sub ineuitabilis mortis periculo, et ultionis p œ na divinæ, Psalterium hoc prædicaret. 369 einem gewissen Büchlein des Meisters Johannes de Monte gelesen, predigte und errichtete der selige Dominikus, der Vater der Prediger, als Gründer diese Bruderschaft. Dieses Büchlein haben wir zumindest in Auszügen jetzt [auch] in Köln in unserem Kloster«), Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 111. Dass die 1480 erschienene und überarbeitete zweite Ausgabe von Michael Franciscis Quodlibet diesen Hinweis wegkürzt, könnte laut Scheeben ein Hinweis darauf sein, dass Alanus ’ Quellen inzwischen als Fantasieprodukte erkannt worden waren (vgl. ebd., S. 111 - 114). Die zeitgenössisch dennoch enthusiastische Aufnahme von Alanus ’ Behauptung, Dominikus sei der Begründer der Rosenkranzbewegung gewesen, lässt eine solche Interpretation jedoch fraglich erscheinen. 364 Abgedruckt z. B. bei Schütz 1909, S. 32 - 38. 365 Stellvertretend genannt sei hier Thomas Wiser (Hg.): Himmlisches Vergißmeinnicht, oder Prachtgebetbuch … Regensburg 1858, S. 376. 366 Vgl. Breviarium Romanum, ex decreto SS. Concilii Tridentini restitutum, S. Pii V. pontificis maximi jussu editum … Pars autumnalis, Mechelen 1872, S. 372. Wie Andreas Heinz ausführt, hat erst »Papst Pius VI. [ … ] in seinem Apostolischen Schreiben über die Marienverehrung vom 2. Februar 1974 darauf verzichtet, den hl. Dominikus mit den Anfängen des Rosenkranzes in Verbindung zu bringen« (Heinz 2003, S. 23 f.). Siehe dazu auch Ranacher 2022, S. 126 f. 367 Vgl. Holzapfel 1903; Esser 1897. Zur Skepsis der Bollandisten an den Dominikuslegenden des Alanus von Rupe vgl. Ranacher 2022, S. 125. 368 Beissel 1909, S. 542. 369 »Jemand, der den Psalter der Jungfrau Maria zu beten pflegte, wurde für insgesamt sieben Jahre von den Versuchungen schrecklicher Dämonen heimgesucht, oftmals auf fühlbare, manchmal auch auf 172 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="173"?> Diese Marienvision darf als einigermaßen irritierend gelten. Esser wertete sie launisch als Beleg für »eine gewisse Überspanntheit, einen Stich ins Schwärmerische«, der Alanus als »angeborene[r] Zug« zu eigen gewesen sei. 370 Gegen diese pathologisierende Lesart kann angeführt werden, dass der obige Visionsbericht im Kontext des Tractatus apologeticus eine spezifische Lizenzierungsfunktion erfüllt. Alanus nimmt für den Marienpsalter und vor allem für seine eigene Bewerbung dieser Frömmigkeitsform einen göttlichen Auftrag in Anspruch, der Zweifel an Wirkmacht und Status der Gebetsübung zerstreuen soll. Mehrere in der Viten- und Offenbarungsliteratur der Zeit gängige Motivtraditionen werden hierzu angespielt und kombiniert. Die dämonische Anfechtung, die den Protagonisten des kurzen Offenbarungsberichts plagt und schließlich durch göttliche Mächte abgewendet wird, ist, geprägt unter anderem durch die zahlreichen Legenden und Bilddarstellungen der Versuchung des heiligen Antonius, im Spätmittelalter als hagiographischer Topos verbreitet. 371 In Alanus ’ Visionsschilderung wird ein emotionaler, sich mitunter jedoch auch visuell manifestierender Zustand der dämonischen Heimsuchung in einem Gnadenakt implizit abgelöst und ersetzt durch die geordnete und gottgefällige Erfahrung der Gebetsübung. Der Marienpsalter, der zählendes Beten, wahrnehmendes Eintauchen und geistliche Gabenfertigung verbindet, vertreibt hier gleichsam die schreckliche Unform des vom Dämonischen heimgesuchten Geistes und setzt ein kontrolliertes Verfahren innerer Figuration an die Stelle der unkontrollierten Anfechtung. 372 Dieser Umschlag hin zur gebethaft hergestellten Gottesnähe wird prononciert durch zwei marianische Topoi, die diese Episode als besondere Gnadenzuwendung markieren. Zunächst wurde das bis in frühchristliche Zeit zurückreichende Bildmotiv der Maria lactans, 373 also der das Jesuskind stillenden Maria, im Spätmittelalter zunehmend auch auf Heilige übertragen. Besonders verbreitet ist dabei die in ihrem Ursprung nicht völlig geklärte, ab ungefähr 1300 in Text und Bild belegte Legende von der › Lactatio Bernardi ‹ , in welcher Bernhard von Clairvaux von Maria gestillt wird. 374 In den Folgejahrzehnten wird diese wundersame Stillung des Heiligen durch Maria zum Topos marianischer Gnadengewährung und taucht gehäuft auf, so zum Beispiel in der Vita Heinrich Seuses, wo Maria den Protagonisten an ihrer Brust säugt und dabei betont, ihre Milch sei nit ein sichtbare Weise. Und in all diesen Jahren fand er beinahe keinen auch nur geringen Trost. Da Gott schließlich Mitleid hatte, erschien ihm die Königin der Barmherzigkeit, die ihn begleitet von einigen Heiligen besuchte und ihn dadurch, dass die Versuchung sofort vertrieben wurde, von der Gefahr befreite. Zugleich ließ sie ihn Milch aus ihrer jungfräulichen Brust trinken. Im Anschluss daran verheiratete sie sich mit ihm durch einen Ring, der aus ihren, der Jungfrau Maria, jungfräulichen Haaren gemacht war. Und sie befahl ihm unter Drohung des unausweichlichen Todes und unter der Strafe göttlicher Rache, dass er diesen Psalter predige«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 29. 370 Esser 1904, S. 280. 371 Siehe dazu Niklaus Largier: Ästhetik der Disfiguration. Ein Essay zur Versuchung des Antonius durch die Dämonen, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen u. Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 43 - 52. 372 Dies ist gewissermaßen das ins weniger komplexe Gelingen umgekehrte Gegenstück zu jenem Motiv einer »immer neue[n] Verschränkung von Figuration und Disfiguration« (ebd., S. 44), das Largier für die Antoniusfigur beschreibt, deren imitatio Christi, eben da sie nie in die völlige Identität führt, stets ein Moment des Umschlags ins Disfigurierte eignet. 373 Vgl. dazu Morsbach 1991. 374 Siehe zu dieser Bild- und Legendentradition Léon Dewez u. Albert van Iterson: La lactation de saint Bernard. Legende et iconographie, in: Cîteaux in de Nederlanden 7 (1956), S. 165 - 189. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 173 <?page no="174"?> lipliches trank, es ist ein heilsames geischliches trank warer luterkeit. 375 Wie Caroline Walker Bynum anmerkt, sind derartige Szenen der stillenden Maria oftmals analog zu Darstellungen des menschheitserlösenden Blutes Christi gestaltet: »In medieval legends like the lactation of St. Bernard [ … ], milk and blood are often interchangeable«. 376 Die Milch der Miterlöserin Maria entspricht so dem Blut ihres Sohnes. In eine derartige Motiv- und Erzähltradition schreibt sich auch Alanus ein, wenn er die Erlösung von dämonischer Heimsuchung als Lactatio-Szene gestaltet. Wohl in Adaptation der Idee einer geistlichen Ehe der Nonnen, die sich als sponsae Christi begriffen, 377 inszeniert Alanus den Visionsempfänger zudem als sponsus Mariae. Dass derartige Vorstellungen einer › geistlichen Ehe ‹ auch von männlichen Religiosen übernommen wurden, zeigt sich wiederum am Beispiel Heinrich Seuses, dessen literarisches alter ego sich mit der Ewigen Weisheit, also dem grammatikalisch als weiblich markierten Christus vermählt. 378 Auf ähnliche Weise gipfelt die obige Visionserzählung in einer Eheschließung des Protagonisten mit der Heiligen Jungfrau, die durch einen Ring aus ihren Haaren besiegelt wird. Vergleichbar dem Ring der Nonnen, der als sichtbares »Zeichen der Vermählung mit Christus« getragen wurde, dient dieses Schmuckstück als Signum der Marienehe. 379 Zugleich jedoch ist es als heilswirksame Gabe zu verstehen, die entsprechende geistliche Gegengaben erfordert - denn an das Geschenk des wunderhaften Haarrings ist, so legt der oben wiedergegebene Visionsbericht nahe, die Verpflichtung geknüpft, den Marienpsalter zu verbreiten. Quasi als Eheversprechen gelobt der Protagonist Maria, diese Gebetsform in ihrem Auftrag und als ihr geistlicher Gemahl zu predigen, und bei Nichteinhaltung dieses Gelübdes drohen ihm schreckliche Strafen. Die Visionserzählung des bretonischen Dominikaners kommt dabei einer Selbstinszenierung gleich. Denn Alanus impliziert an zahlreichen Stellen bloß wenig verhüllt, dass hinter dem Empfänger der erzählten Marienerscheinung er selbst zu erkennen sei. Mehrfach verfällt der Erzähler zum Beispiel in die erste Person, so wenn er beteuert, er habe beim Tragen des Rings aus Marias Haaren eine unvergleichliche himmlische Freude verspürt. 380 Der Befehl der Heiligen Jungfrau, den Marienpsalter zu predigen, ist 375 »kein leiblicher Trunk, sondern ein heilbringender geistlicher Trunk wahrer Reinheit«, Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 50,8 - 9. Vgl. zu dieser Szene die kundige Analyse bei Bernhardt 2016, S. 165 f. 376 Bynum 1982, S. 132 f. Bynum kann sich dabei nicht nur schlüssig auf Entsprechungen in Erzählweise und Bildkomposition berufen, sondern auch auf zeitgenössische medizinische Theorien, nach denen Milch eine umgewandelte Form von Blut darstellte, und christologisch gedeutete Motive wie den Pelikan, der seine Jungen mit dem Blut aus der eigens dazu aufgerissenen Brust nährt. 377 Vgl. dazu ausführlich den Sammelband von Susanna Elm u. Barbara Vinken (Hgg.): Braut Christi. Familienformen in Europa, München u. a. 2016. 378 Vgl. Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 11 - 15. 379 Nicolas Heutger: 800 Jahre Kloster Mariensee, in: Ders.: Niedersächsische Ordenshäuser und Stifte. Geschichte und Gegenwart. Vorträge und Forschungen, hg. v. Viola Heutger, Berlin 2009, S. 73 - 86, hier S. 76. Zudem dürften hier auch entsprechende, zeitgenössisch intensiv verehrte marianische Ringreliquien wie beispielsweise der in Perugia aufbewahrte »Brautring Marias« eine Rolle gespielt haben; vgl. dazu Maria Duranti: Il S. Anello della cattedrale di Perugia tra leggenda e devozione, in: Una città e la sua cattedrale. Il Duomo di Perugia. Atti del Convegno di studio, Perugia, 26 - 29 settembre 1988, hg. v. Maria Luisa Cianini Pierotti, Perugia 1992, S. 363 - 372. 380 Et quantum ad me, hunc Annulum tetigi, non sine magno gaudio, nec humano, sed longe altius maiore. (»Und wie sehr ich diesen Ring an mich drückte, [und zwar] nicht ohne eine große Freude, die nicht menschlich war, sondern weiter, höher und größer.«) Alanus von Rupe: Apologia, S. 33. 174 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="175"?> entsprechend als himmlische Anordnung an den sich rechtfertigenden Verfasser des Tractatus apologeticus markiert. Auch die zeitgenössische Leserschaft identifizierte den sponsus Mariae des Visionsberichts offenbar mit dem Autor Alanus. Noch ein Rezeptionszeugnis des 17. Jahrhundert berichtet, daß die seeligste Jungfrau einsmahls von ihrem Finger einen auß ihren eignen Haaren geflochtenen Ring abgezogen / und an Alani Finger gesteckt habe zum Zeichen der Geistlichen Hochzeit / so sie mit ihm hielte. 381 Dennoch weigert sich Alanus, obgleich er beteuert, den Empfänger dieser Vision sehr gut zu kennen, diesen beim Namen zu nennen. Dies begründet er mit den Gefahren, denen sich diese Person ansonsten ausgesetzt sähe: Verum quia persona hæc viuit adhuc, non possum eam nominatim manifestare, ob pericula vanæ gloriæ, mundanæ varietatis, ac etiam tribulationis. Talia enim abscondi debent in vita, & post mortem laudari. 382 Zwar betont Alanus immer wieder seine besondere Nähe und Vertrautheit mit diesem anonymen Marienverehrer, lässt intimes und kaum erklärbares Wissen über dessen Person durchscheinen und behauptet mit keinem Wort, es handele sich hier nicht um ihn selbst. Den letztlichen Schritt, sich in voller Eindeutigkeit mit dem Protagonisten des Visionsberichts zu identifizieren, unterlässt er jedoch. 383 In dieser Ambiguität ist eine spezifische Schwierigkeit eines sich auf charismatische Visionserlebnisse berufenden Erzählens zu erkennen, dessen Wahrheitsbehauptung, zumal unter dem Verdacht der Anmaßung oder der Lüge, stets prekär bleibt. Narrative Winkelspiele der autorisierenden Brechung des Selbstbezugs, wie sie sich beispielsweise im verbreiteten Beichtvatertopos oder auch in Heinrich Seuses Schreiben über sich selbst in der dritten Person, das Dominikus von Preußen im Liber experientiae aufgreift, ausmachen lassen, 384 balancieren zwischen einem Anspruch auf charismatische Geltung, den das schreibende Ich für sich beansprucht, und einer diesen Geltungsanspruch fundierenden Distanz. Alanus ’ Marienvision fügt sich ein in dieses Feld der mit einem Moment der Unsicherheit verbundenen Behauptungen besonderer Begnadung. Dies scheint langwierigen Erfolg gehabt zu haben, findet sich doch beispielsweise noch in marianischen Reliquienregistern des 19. Jahrhunderts die Behauptung, »[e]inen Ring mit ihren Haaren ha[be] Maria dem heiligen Alanus verehrt«. 385 Zusammengefasst zeigen sich also mehrere Autorisierungsstrategien, die Alanus für seinen Marienpsalter ins Feld führt. Um die propagierte Gebetsweise zu rechtfertigen, 381 Franciscus Marchese: Marianisches Tag-Buch / worinnen begriffen seynd auff alle Täg des gantzen Jahrs außbündig-nutzliche [ … ] Andacht-Übungen … Augsburg: Caspar Brandans 1695, S. 84. 382 »Weil aber diese Person wahrhaftig noch lebt, kann ich sie nicht namentlich nennen aufgrund der Gefahr von Eitelkeit, weltlichen Wankelmuts und anderer Beschwernisse. Denn derartige Dinge müssen zu Lebzeiten verborgen und nach dem Tode gepriesen werden.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 30. 383 Auch hierin ähnelt diese Episode im Tractatus apologeticus der Vita und dem Büchlein der ewigen Weisheit Heinrich Seuses, in denen der Autor in kaum verschleierter Form über sich selbst in der dritten Person schreibt. 384 Vgl. dazu grundlegend Peters 1988. Auch Dominikus von Preußen schreibt im Liber experientiae über sich selbst in der dritten Person als »Rupertus«. 385 Reliquien von der allerseligsten Jungfrau Maria [ … ]. Aus dem Lateinischen uralter heiliger Schriftsteller, Freising 1860, S. 46. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 175 <?page no="176"?> stellt der Dominikanermönch sie erstens als neutestamentliches Pendant zum auf den Psalmen des Alten Testaments basierenden Stundengebet der Mönche und Nonnen dar, und entwirft zweitens eine bis in die Zeit der Apostel zurückreichende und beim Gründer seines eigenen Ordens zur Vollendung gelangende Ursprungserzählung. Zu dieser Form der traditionalen Legitimierung tritt die Behauptung charismatischer Autorität, die Alanus von Rupe mit einer Marienvision begründet, in der das Predigen des Marienpsalters narrativ als Auftrag der heiligen Jungfrau selbst gezeichnet wird. Schlussendlich zielt dies einerseits auf die Verteidigung von Alanus ’ Predigttätigkeit, andererseits auch auf die Etablierung einer Gebetsverbrüderung, die er im Tractatus apologeticus nicht nur in Schutz nimmt, sondern auch bewirbt. Obgleich unklar ist, bis zu welchem Grad diese angeblich erste Rosenkranzbruderschaft eine historisch reale Institution darstellte, bildete der von Alanus geschilderte fromme Zusammenschluss dennoch ein Vorbild für die Rosenkranzbruderschaften, die sich im späten 15. und 16. Jahrhundert von Köln ausgehend in ganz Mitteleuropa verbreiteten. Vor diesem Hintergrund verdient die Darstellung der angeblich von ihm mitinitiierten Bruderschaft des Marienpsalters folgend einen Blick. 4.3 Vergemeinschaftetes Beten: Alanus ’ Schilderung seiner fraternitas In Douai, wo Alanus von Rupe zwischen 1464 und 1468 wirkte, ist ab Mai 1470 durch eine entsprechend datierte Urkunde des Generalvikars Johannes Excuria eine confratri[a] virginis Mariae belegt, die sich zur oratione psalterii virginis Mariae zusammengefunden habe. 386 Es scheint sich hier um eine eng mit der dominikanischen Observanzbewegung verknüpfte Bruderschaft für fromme Laien beiderlei Geschlechts gehandelt zu haben, verspricht doch Johannes Excuria den Bruderschaftsmitgliedern, die er ausdrücklich als fratr[es] et soror[es] anspricht, 387 »a share in all the spiritual › goods ‹ accumulated by the Observant congregation«. 388 Allgemein geht die Forschung trotz einiger Zweifel davon aus, dass dieser Gebetszusammenschluss identisch mit jener ersten Rosenkranzbruderschaft ist, die Alanus von Rupe bewirbt und gegründet zu haben behauptet. 389 Abgesehen von dieser, in Bezug auf die von ihr gepflegte Frömmigkeitspraxis wenig aussagekräftigen Urkunde stammen die einzigen zeitgenössischen Quellen zur Douaier Rosenkranzbruderschaft mittelbar oder unmittelbar von Alanus und finden sich in seinem 386 »Bruderschaft der Jungfrau Maria«, »Beten des Marienpsalters«, ediert bei Meersseman 1977, S. 1163 - 1164, hier S. 1163. 387 »Brüder und Schwestern«, ebd. 388 Winston-Allen 1997, S. 79. 389 Eine ausführliche Problematisierung dieser Annahme findet sich bei Scheeben 1951, S. 131 - 137, der die Douaier Bruderschaft für »eine rein lokale Angelegenheit hält« und schließt: »Ich halte es aber für absolut unwahrscheinlich, daß er [d. i. Alanus von Rupe] in Douai oder sonstwo eine Bruderschaft gegründet hat, denn wenn er mit seiner Propaganda für das Psalterium die Gründung von Bruderschaften verbunden hätte, müßten von solchen Bruderschaften mehr Spuren vorhanden sein« (ebd., S. 132). Dies stellt in der Forschung durchaus eine Extremposition dar. Dennoch muss zumindest von einer unklaren und vielfach durch Alanus ’ Selbststilisierung verzerrten Quellenlage gesprochen werden. 176 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="177"?> Tractatus apologeticus. Dort beschreibt der Dominikaner, er habe eine ursprünglich vom heiligen Dominikus gegründete und anschließend in Vergessenheit geratene Gebetsbruderschaft wiederaufleben lassen, die auf drei Prinzipien basiere: Consistit autem Fraternitatis illius Institutum in tribus. I. Quod operum merita Sanctorum omnia communia sunt, tam post vitam in æternum, quam in vita. Idque non Communicatione solum vniversali, sed illa quoque particulari. II. Quod Fratres & Sorores orare consueuerint in dies integrum Mariæ Virginis Psalterium. [ … ] III. Quod in ea Fraternitate nulla rei cuiusquam, sub discrimine metuve peccati, mortalis, aut ven[ialis], agnoscitur obligatio. 390 Eine Art geistlicher Gütergemeinschaft, die insbesondere einen durch die Gebetsverpflichtung angehäuften Gnadenschatz allen Mitgliedern zugänglich machen soll, die freiwillige Verpflichtung zum täglichen Beten des Marienpsalters sowie die Feststellung, dass die gelegentliche Unterlassung dieses Gebets nicht als Sünde zu werten sei, bilden hier das Fundament des Zusammenschlusses. Weitere Charakteristika dieser Vereinigung sind ihre universelle Zugänglichkeit für alle frommen Christen jenseits von Alter, Stand und Geschlecht 391 sowie die Aufforderung zum Einschreiben in ein Bruderschaftsregister, die Alanus mit verschiedenen rationes Theologicas, Politicas, et Tropologicas begründet. 392 Auch das Zählgerät der Gebetsschnur wird hierbei prominent erwähnt. Dies ist insofern aufschlussreich, als dass derartige materielle Hilfsmittel zuvor nicht sonderlich eng mit dem Rosenkranz assoziiert gewesen zu sein scheinen. Eine Episode aus der Zwanzig- Exempel-Schrift erwähnt zwar den erstaunlichen Sachverhalt, dass ein Kartäuser, hinter dem unschwer Dominikus von Preußen zu erkennen ist, nach einer Traumvision die 50 Ave Maria an der hant abzählen konnte und bedorffte auch kein pater-noster dar zu (ZES, V. 170 f.). 393 Dies belegt jedoch bloß die generelle und recht gut erforschte spätmittelalterliche Verbreitung der Perlenschnur als Zählhilfe fürs Gebet, nicht ihre besondere Verbindung zum Rosenkranz. 394 Bei Alanus sieht es bereits etwas anders aus. Der Dominikaner behandelt die Gebetskette, die er als patriloquium oder corona bezeichnet, ausführlich und nimmt Stellung zur Frage, ob man eine solche Schnur benutzen oder öffentlich tragen solle. Im Hintergrund steht wohl auch der Charakter eines Schmuckstücks und Statussymbols, den kostbare Gebetsschnüre im niederländischen Raum des 15. Jahrhunderts angenommen hatten und der in einem konfliktgeladenen Widerspruchsverhältnis zu religiösen Kleidungsvorschriften der demütigen Schlichtheit stand. 395 Im 390 »Die Einrichtung dieser Bruderschaft besteht nun aber aus drei Punkten: 1. Dass die Verdienste aller guten Werke gemeinschaftlich sind, nach diesem Leben in der Ewigkeit ebenso wie in diesem Leben selbst. Und dies nicht nur zur allgemeinen Teilhabe, sondern auch zu der jedes Einzelnen. 2. Dass die Brüder und Schwestern es pflegen sollen, täglich den Marienpsalter zu beten. 3. Dass in dieser Bruderschaft keinerlei Verpflichtung zu irgendeiner Sache besteht, bei deren Unterlassung eine Todsünde oder lässliche Sünde drohe.« Alanus von Rupe: Apologia, S. 49. 391 Vgl. ebd., S. 53. 392 »theologischen, politischen und tropologischen Gründen«, ebd., S. 54. 393 »an der Hand ” , »und dazu auch keine Paternoster-Schnur benötigte«. 394 »Zum Zählen der Gebete [ … ] diente spätestens seit dem Hochmittelalter allgemein eine Perlen- oder Knotenschnur«, Heinz Finger: Das Rosenkranzgebet und seine Geschichte, in: Der heilige Rosenkranz. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln zum Rosenkranzjahr 2003, hg. v. Heinz Finger, Köln 2003 (Libelli Rhenani 5), S. 13 - 44, hier S. 16; vgl. auch mit zahlreichen Quellen Ritz 1976, S. 61 - 90; sowie Kirfel 1949, S. 12 - 15. 395 Dazu As-Vijvers: »Even for the pious it was deemed acceptable to display precious rosary strings, since they were considered religious jewellery. This led to a paradox: since the prayers were offered to God, 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 177 <?page no="178"?> Tractatus apologeticus nun wird die Frage danach, ob solche Zählgeräte angebracht seien, pragmatisch beantwortet. Man müsse zwar nicht, dürfe aber derartige Gebetsschnüre nutzen, führt Alanus aus, allerdings nur aus den richtigen Gründen: ob humanæ memoriæ labilitatem: Ob paratiorem vsum in promptu: Ob exemplum bonum, quod in vtroque Testamento omnibus est mandatum. 396 Mit dem letztgenannten exemplum bonum meint Alanus das Tragen der Zählschnur als äußeres Zeichen einer Mitgliedschaft in der Bruderschaft und der Befolgung ihrer drei Hauptregeln. Solange die Gebetskette aus diesen Gründen getragen werde und zum Praktizieren des Marienpsalters anrege, sei sogar gegen kostbare Materialien nichts einzuwenden. Hier wird folglich das Rosenkranzgebet eng mit der Verwendung eines Zählgerätes verbunden - eine Praxis, die diese Gebetsweise in der Neuzeit geradezu überformte. Zumindest die drei oben angeführten Grundregeln der bei Alanus beschriebenen Bruderschaft des Marienpsalters decken sich weitgehend mit dem, was sich aus der Urkunde von 1470 über den Douaier Gebetszusammenschluss schließen lässt. Handelt es sich hier aber um die gleiche Gemeinschaft? Alanus ’ wiederholte Behauptung, seine Bruderschaft sei so alt wie das Christentum selbst, wäre in der von ihm angepriesenen Form jedoch vom heiligen Dominikus eingeführt worden, gehört sicher ins Reich jener bereits angesprochenen komplexen Quellenfälschungen und Fehlangaben, aufgrund derer Humbert-Marie Vicaire diesen Autor als »type caractérisé du corrupteur de l ’ historiographie dominicaine« bezeichnete. 397 Ob es dagegen den Gebetszusammenschluss, deren Regeln und Statuten er im Tractatus wiedergibt, in der historischen Realität tatsächlich in der geschilderten Form gegeben hat, steht auf einem unsichereren Blatt. 398 Aufschluss über die Douaier Bruderschaft geben die oben erwähnte Urkunde sowie ein allerdings spärlich überlieferter und erst 1475 oder 1476, also bereits im Fahrwasser der Kölner Rosenkranzbruderschaft, entstandener französischsprachiger Libellus. Laut Meersseman handelt es sich hier um einen Text, »nel quale, sulla base di appunti stenografati da uno dei confratelli, sono riportati i sermoni di Alano predicati nella città nel maggio del 1475.« 399 Diese Schrift, die einleitend erklärt, sie werde ranconter aucuns bons exemples que nous racompta ung tres notable docteur en theologie nomme maistre Alain de Roche, 400 enthält im Wesentlichen einige Anweisungen zum Beten des Marienpsalters sowie illustrierende Exempel, die sich in ausführlicherer Form auch im Tractatus apologeticus finden. Auch aufgrund des geringen Überlieferungsvolumens ist nicht davon auszugehen, dass es sich hierbei um ein Zeugnis der frommen Massenbewegung handelt, die Alanus it was appropriate to count them on jewels; on the other hand, the humble devotee was worthy of only the simplest beads. That their function as status symbol was an important factor in their popularity can be deduced from the fact that some city governments promulgated ordinances prohibiting the ostentatious display of religious jewellery. ” (As-Vijvers 2007, S. 7 f.). 396 »wegen der Flüchtigkeit der menschlichen Erinnerung, um zum schnellen Gebrauch [der Gebetsschnur] besser vorbereitet zu sein, [oder] des guten Beispiels halber, das im Alten und im Neuen Testament allen anempfohlen wird«. Alanus von Rupe: Apologia, S. 69. 397 Humbert-Marie Vicaire: Histoire de Saint Dominique, Paris 2004, S. 8. 398 Vgl. hierzu die Diskussion bei Ranacher 2022, S. 121 - 125. 399 Meersseman 1977, S. 1161. Zur Überlieferung vgl. ebd., S. 1159 f. Eine auf 1476 datierende französische Fassung ist in Auszügen abgedruckt ebd., S. 1164 - 1169. Vgl. auch knapp Schnyder 1986, S. 426. 400 Meersseman 1977, S. 1164. 178 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="179"?> angestoßen zu haben behauptet. Sollte er eine entsprechende Gebetsbruderschaft ins Leben gerufen haben, muss sie wohl bescheideneren Umfangs gewesen sein. Scheeben geht aufgrund dieser Quellenlage sogar davon aus, dass Alanus niemals irgendeine Rosenkranzbruderschaft in Douai oder anderswo gegründet habe, sondern bloß präexistente kleinere marianische Gebetsverbrüderungen, die sich unter der Ägide der dominikanischen Observanz gegründet hatten, in seinen Schriften für sich vereinnahmte. 401 Auch Christian Ranacher und Stefan Jäggi vermuten, dass Alanus lediglich »das tägliche Rosenkranzgebet bei einer bereits bestehenden Marienbruderschaft« einführte. 402 Damit scheint die öfters unkritisch übernommene Annahme, Alanus habe, wo immer ihn sein bewegtes Leben hinführte, eine frühe Rosenkranzbruderschaft gegründet, so nicht ausreichend belegt. 403 Die Bedeutung von Alanus ’ Schilderungen liegt entsprechend nicht darin, dass sie es erlaubten, aus ihnen belastbare frömmigkeitsgeschichtliche Schlüsse über das Bruderschaftswesen in Flandern um 1470 zu ziehen. Gesichert ist lediglich, dass zu dieser Zeit eine mit den Douaier Dominikanern verbundene Gebetsbruderschaft des Marienpsalters existierte, und es darf angenommen werden, dass Alanus hierin - in welcher Form auch immer - involviert war. Seine darüberhinausgehenden Berichte von den Viris enim pene innummeris, 404 die sich vielerorts bereits in seine Bruderschaft eingeschrieben hätten, sind dagegen zumindest drastisch übertrieben, wenn nicht gar frei erfunden. 401 Vgl. Scheeben 1951, S. 131 - 134. 402 Jäggi 2003, hier S. 92. Christian Ranacher schließt sich dem an und führt aus, »dass die Dominikaner seit dem 13. Jahrhundert Bruderschaften [installierten], deren Aufgabe im Weitertragen der Marienfrömmigkeit lag«. Bei der Bruderschaft in Douai »handelte es sich um eine solche Marienbruderschaft« (Ranacher 2022, S. 125). 403 So schreibt z. B. Siegfried Schmidt, allerdings wiederum aus anderen Quellen übernehmend: »Alanus de Rupe begründete dann auch 1468 im flandrischen Douai eine allererste Rosenkranzbruderschaft [ … ] Auch an seinen vorangegangenen und nächstfolgenden Wirkungsstätten (Lille, Gent und Rostock) hat de Rupe vor 1475 [ … ] Rosenkranzbruderschaften gestiftet« (Schmidt 2003, S. 59, Hervorhebung im Original). Derartige Annahmen gehen auf die legendarisch überformte Alanus-Rezeption vor allem des 17. Jahrhunderts zurück und bedürften kritischer Überprüfung. 404 »auch beinahe unzähligen Männern«, Alanus von Rupe: Apologia, S. 56. 4 Der Tractatus apologeticus des Alanus von Rupe 179 <?page no="180"?> 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 Institutionsbildende Einschlagskraft entwickelten Alanus ’ Schilderungen schließlich doch, allerdings nicht in Douai. Im Jahr 1475 nämlich gründete sich in Köln eine für die idiosynkratrische Religiosität des ausgehenden Mittelalters charakteristische und in ihrem historischen Kontext im Grunde zunächst nicht sonderlich außergewöhnliche Gebetsbruderschaft, die in den kommenden Jahren dennoch eine Dynamik entfalten sollte, die der christlichen Frömmigkeitspraxis nachhaltig ihren Stempel aufprägte. 405 Denn erst in ihrer Folge wandelte sich der Rosenkranz von einer unter vielen hochspezialisierten Gebets- und Andachtsübungen des ausgehenden Mittelalters hin zum »most popular extraliturgical prayer of the Catholic church«. 406 Der Anlass für die Entstehung dieser Bruderschaft ergab sich, vertraut man dem Bericht ihres Mitgründers, des Dominikaners und Kölner Studienrektors Michael Francisci ab Insulis (1435 - 1502), aus einer historischen Notsituation heraus. 407 Anlässlich der Belagerung der kurkölnischen Stadt Neuss durch den burgundischen Herzog Karl den Kühnen, der sich in einem militärisch eskalierenden Befugnisstreit zwischen Erzbischof Ruprecht von der Pfalz und den Landständen des Erzstifts Kölns auf die bischöfliche Seite geschlagen hatte, hätten sich 1474 einige Kölner Bürger zunächst im privaten Rahmen zum Gebet zusammengetan. 408 Ihr Ziel war dabei »Frömmigkeit als Schlachtenhilfe«: 409 Der Zweck dieses Zusammenschlusses, so Michael Francisci, bestand darin, den himmlischen Beistand der Jungfrau Maria für die baldige Aufhebung des Belagerungszustands und der damit verbundenen kriegerischen Bedrohung der Rheinmetropole zu erflehen. Derartige Bruderschaften stellten, vor allem in urbanen Sozialmilieus, eine gängige 405 Zur Geschichte der Kölner Rosenkranzbruderschaft siehe neben den folgend benutzten Primärquellen vor allem Schütz 1909, S. 20 - 47 (generell nicht zuverlässig, aber mit einem Abdruck einiger interessanter Quellen); Kliem 1963, S. 59 - 81; Klinkhammer 1972, S. 85 - 95; Schmidt 2003; Jäggi 2003, S. 92 - 94; Hatto Küffner: Zur Kölner Rosenkranzbruderschaft, in: 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976], S. 109 - 117; sowie ausgesprochen erudiert Saffrey 2001 und Ranacher 2022, S. 95 - 114. 406 Anne Winston-Allen. Tracing the Origins of the Rosary: German Vernacular Texts, in: Speculum 68.3 (1993), S. 619 - 636, hier S. 619. 407 Die Hauptquelle für die Geschichte der Bruderschaftsgründung ist eine von ihm im Dezember 1475 gehaltene, kurz als Quodlibet bekannte Verteidigungsvorlesung über die Kölner Rosenkranzbruderschaft. Dieses Werk wurde in der Folge mehrfach gedruckt, wobei der erste und vom Autor später als unautorisiert und verfälschend widerrufene Druck von 1476 die Entstehungsgeschichte der Bruderschaft wesentlich kürzer fasst. Ab dem von Arnold ter Hoernen besorgten und inhaltlich von Michael Francisci überarbeiteten Kölner Druck von 1480 findet sich die ausführliche, hier inhaltlich wiedergegebene Gründungsgeschichte, siehe Michael Francisci ab Insulis: Quodlibet de veritate fraternitatis rosarii BMV, Köln: Arnold ter Hoernen 1480 (GW 10260), fol. b1v - b2v. Ediert ist die Schrift nach diesem Druck bei Scheeben 1951. 408 Zu diesem historischen Hintergrund der Kölner Stiftsfehde vgl. ausführlich und mit weiteren Quellen Saffrey 2001, S. 144 - 149. 409 Ranacher 2022, S. 104. <?page no="181"?> Organisationsform spätmittelalterlicher Frömmigkeit dar. 410 Die Kölner Verbrüderung bedeutete in diesem Sinne keineswegs eine sprunghafte Innovation. Über große Teile des deutschsprachigen Raums hinweg waren solche, oft anlassgebundene oder berufsgruppenspezifische Vereinigungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits seit langer Zeit fest etabliert. 411 Allgemein können Bruderschaften hierbei breit verstanden werden als »lay religious organisation[s]« 412 oder, deutlich enger gefasst, als »Gebetsgemeinschaften des wechselseitigen Gebetsbeistandes und des gemeinschaftlichen Gebetsgedächtnisses«. 413 Wie André Schnyder ausführt, versprachen die Mitglieder »einander für das hiesige Leben und den Tod Unterstützung beim Erwerb des Seelenheils, dieser großen Sorge eines Christen; neben diesen Hauptzweck konnten andere, namentlich aufs Materielle gerichtete, treten«. 414 Seit dem Hochmittelalter hatten sich solche Zusammenschlüsse in den mittelalterlichen Städten verbreitet und waren zum festen Bestandteil des religiösen Lebens frommer Laien geworden, wobei die Übergänge zu »Formen und Ideale[n] priesterlichen und mönchischen Lebens« sich fließend gestalteten. 415 Was aber zeichnete die Kölner Gründung in so besonderem Maße aus, dass sie nicht, wie die Vielzahl vergleichbarer Vereinigungen, bald wieder in Vergessenheit geriet? Denn wie Henri Dominique Saffrey anmerkt, handelte es sich hier im Grunde um eine »intitiative qui n ’ était pas spécialement originale - Cologne comptait déjà de très nombreuses confrèries religieuses à cette époque«. 416 So waren in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Stadt insgesamt 37 Bruderschaften urkundlich nachweisbar aktiv, deren Zahl sich bis 1500, also in dem Zeitraum, in den auch die Gründung der Rosenkranzbruderschaft fällt, auf 76 erhöhte. 417 Um die enorme Strahlkraft zu verstehen, die die Rosenkranzbruderschaft dennoch entwickelte, lohnt ein genauerer Blick sowohl auf ihre Protagonisten als auch auf die ihr zugrundeliegenden Gebets- und Andachtsübungen. Zentraler Initiator der Kölner Bruderschaftsgründung war der ursprünglich aus Basel stammende Prior des örtlichen Dominikanerkonvents Jakob Sprenger (1435 - 1495), der in späteren Jahren vor allem als Inquisitor und möglicher Mitautor des Malleus maleficarum zu zweifelhaftem Ruhm gelangen sollte. 418 Wie sein oben bereits erwähnter Ordensbruder und Unterstützer Michael Francisci berichtet, rüstete sich die Kölner Stadtbevölkerung 1474 angesichts der akuten Kriegsbedrohung nicht nur mit Waffen und Vorräten aus, 410 Einen fundierten Überblick über Begriff und Geschichte des spätmittelalterlichen Bruderschaftswesens gibt Schnyder 1986, S. 15 - 36. 411 Siehe die großangelegte Übersicht bei Meersseman 1977. 412 Konrad Eisenbichler: Introduction: A World of Confraternities, in: A Companion to Medieval and Early Modern Confraternities, hg. v. Konrad Eisenbichler, Leiden/ Boston 2019 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 83), S. 1 - 22, hier S. 3. 413 Bernhard Schneider: Wandel und Beharrung. Bruderschaften und Frömmigkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Volksfrömmigkeit in der frühen Neuzeit, hg. v. Hansgeorg Molitor, Münster 1994 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 54), S. 65 - 87, hier S. 66. Zum Problem der Definition von › Bruderschaft ‹ im Spätmittelalter siehe auch unten, Kap. II.5.2. 414 Schnyder 1986, S. 29. Ranacher führt aus: »Grundsätzlich kann die gemeinschaftlich organisierte Jenseitsvorsorge als die Intention einer jeden Bruderschaft angesehen werden« (Ranacher 2022, S. 247). 415 Ebd., S. 31. So begann der Franziskanerorden als Bußbruderschaft von Laien und wurde durch Innozenz III. schließlich in einen Mönchsorden umgewandelt (vgl. ebd.). 416 Saffrey 2001, S. 143. 417 Militzer 1997, S. XI - CXLVIII, hier S. XXXIII. 418 Vgl. André Schnyder: Art. Jakob Sprenger, in: 2 VL 9 (1995), Sp. 149 - 157. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 181 <?page no="182"?> sondern nahm auch im Gebet Zuflucht zu den Stadtpatronen, also den heiligen drei Königen sowie der heiligen Ursula mit ihren 10.000 Gefährtinnen, besonders aber zur Jungfrau Maria. Angesichts dieser aufgeladenen Situation habe Sprenger den folgenschweren Entschluss gefasst, eine Marienbruderschaft zu gründen et devotionem illam antiquam de eiusdem virginis rosario, pro parte abolitam, renovare, ut ipsa virgo praedictam civitatem a periculis tunc imminentibus protegere et praeservare dignaretur. 419 Den kurz darauf tatsächlich erfolgenden Abzug des burgundischen Herzogs und den anschließenden Friedensschluss fassten die Kölner Bürger als wundersame Erhörung der so vorgebrachten Bitten an Maria auf. Zum Dank dafür und auch, um der Stadt den fortdauernden Schutz Marias zu sichern, habe Sprenger die Rosenkranzbruderschaft am 8. September 1475 feierlich und unter Anwesenheit zahlreicher städtischer Würdenträger offiziell eingerichtet: 420 Idem praenominatus prior de consilio magistrorum et patrum sui conventus ad precesque et vota multarum utriusque sexus eiusdem civitatis devotarum personarum, quod conceperat, adimplevit atque praefatam fraternitatem [ … ] instituens, eam in festo nativitatis beatae virginis Mariae eiusdem anni. 421 Soweit die bei Michael Francisci bereits teilweise legendenartig überformte Gründungsgeschichte der Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475. Das »Öffentlichmachen der Gemeinschaft« mit Bezug auf die erfolgreich abgewehrte Bedrohung Kölns durch Karl den Kühnen muss dabei, so Christian Ranacher, »vornehmlich als ein strategischer Schachzug der Organisatoren« bewertet werden. 422 Die behauptete Wirkung des Betens der Bruderschaft, den Abzug der burgundischen Truppen ausgelöst zu haben, erleichterte ihre 1476 erteilte kirchliche Approbation und vermittelte die Protektion Kaiser Friedrichs III. 423 Ganz gleich also wie eng die von Michel Francisci berichteten Geschehnisse mit den historischen Fakten übereinstimmen, müssen sie als »key factor in the popularization of the rosary prayer« gelten. 424 Denn wie Wolfgang Kliem zusammenfasst, arrivierte die »Kölner Bruderschaft zum Ausgangspunkt einer Rosenkranzbewegung, die in den wenigen Jahrzehnten bis zur Reformation große Teile des Volkes erfaßte« 425 - der hier gegründete Zusammenschluss fungierte als zentraler Motor für die Transformation des Rosenkranzes hin zum frömmigkeitspraktischen Kernbestand einer religiösen Massenbewegung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. 419 »und jene alte, weitestgehend aufgegebene Andacht vom Rosenkranz jener Jungfrau [d. i. Maria] zu erneuern, damit diese Jungfrau sich geruhe, die erwähnte Stadt [d. i. Köln] vor der damals drohenden Gefahr zu beschützen und zu bewahren«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 141. 420 Dass dieses Gründungsnarrativ in den zeitgenössischen Quellen durchaus variiert, zeigt Ranacher 2022, S. 101 - 113. 421 »Der bereits erwähnte Prior verwirklichte auf Rat der Gelehrten und Patres seines Konvents und auf Bitten und Drängen vieler frommer Personen beiderlei Geschlechts aus dieser Stadt das, was er sich vorgenommen hatte, [ … ] und richtete am Fest Mariä Geburt desselben Jahres die angedachte Bruderschaft ein«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 141. 422 Ranacher 2022, S. 113. 423 Vgl. ebd. 424 As-Vijvers 2007, S. 49. 425 Kliem 1963, S. 82. 182 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="183"?> 5.1 Übernahme oder Modifikation eines Gemeinschaftsmodells? Die Kölner Bezüge zu Alanus Dabei wurde die Organisationsform der Rosenkranzbruderschaft von Jakob Sprenger und Michael Francisci nicht vorbildlos erdacht, sondern schöpfte aus den oben behandelten Schriften des Alanus von Rupe. Folglich berichten auch die Kölner Bruderschaftsstatuten, Jakob Sprenger habe zwar ernewert und wider aufgericht das alt herkommen gebet der rosen krentz Unser Lieben Frawen, es allerdings nicht erfunden. 426 Auch die Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen sowie das Mirakel von Marien Rosenkranz dürften den Kölner Dominikanern wohlbekannt gewesen sein. 427 Zwischen Alanus von Rupe, Jakob Sprenger und Michael Francisci bestanden sowohl persönliche wie auch institutionelle Kontakte. Saffrey geht soweit, über die Verbindung des letztgenannten zu seinem bretonischen Ordensbruder knapp zu konstatieren: »Il est son élève.« 428 In jedem Fall scheinen sich die beiden Dominikaner sowohl an der Universität von Paris begegnet zu sein als auch während Michael Franciscis Jahren im Kloster Douai von 1465 bis 1468, wo Alanus von Rupe als Lesemeister tätig war. 429 In der ersten Ausgabe des Quodlibet von 1476 merkt Michael Francisci an, er habe einige Details zum Rosenkranz im Gespräch ab ore praefati magistri Alani gehört, im zweiten und autorisierten Druck von 1480 spricht er sogar von magister Alanus, cuius discipulus aliquando esse merui. 430 Die sich hier andeutende persönliche Beziehung spielte für die Übernahme der von Alanus vorgeschlagenen Gebetsweise in Köln eine nicht zu unterschätzende Rolle. Mindestens ebenso entscheidend dürfte die gemeinsame Zugehörigkeit zur dominikanischen Observanzbewegung gewesen sein, welche die drei Dominikanermönche Alanus von Rupe, Jakob Sprenger und Michael Francisci verband. Ab dem späten 14. Jahrhundert formierte sich im Predigerorden, genau wie in vielen anderen monastischen Gemeinschaften, eine Reformbewegung, die sich vor allem einer strikten Befolgung der Ordensregel sowie allgemein einem Ideal der spirituell intensivierten vita apostolica in der Nachfolge Christi verpflichtet fühlte. 431 Die observanten Klöster, die in ihren Bestrebungen »both a societal need and an internal self-correction of a religious order« sahen, 432 426 »erneuert und wiederhergestellt das von alters her überlieferte Gebet der Rosenkränze Unserer Lieben Frau«, Militzer 1997, S. 508. 427 Dafür spricht nicht nur die Erwähnung des Mirakels und der Trierer Kartause bei Michael Francisci, sondern auch die Tatsache, dass sich die Rosenkranzklauseln im Augsburger Statutendruck von 1477 finden; vgl. dazu die Diskussion unten, Kap. II.5.2. 428 Saffrey 2001, S. 149. 429 Siehe zu diesen biographischen Überschneidungen zwischen den beiden Autoren ebd. sowie ausführlich Scheeben 1951, S. 111 - 114. 430 »aus dem Munde des erwähnten Meisters Alanus«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 102; »Meister Alanus, dessen Schüler ich einstmals zu sein verdiente«, ebd., S. 154. 431 Siehe dazu einleitend James D. Mixson u. Bert Roest (Hgg.): A Companion to Observant Reform in the Late Middle Ages and Beyond, Leiden/ Boston 2015 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 59). 432 Anne Huijbers: Zealots for Souls. Dominican Narratives of Self-Understanding during Observant Reforms, c. 1388 - 1517, Berlin/ Boston 2018 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF 22), S. 214. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 183 <?page no="184"?> organisierten sich in Reformkongregationen. Dies traf auch auf die Dominikanerklöster der niederdeutschen und niederländischen Ordensprovinz zu: »Die observanten Konvente der Saxonia fanden größtenteils in der Congregatio Hollandica Aufnahme«, 433 in der seit 1464 sowohl das Kölner Kloster als auch die Ordensniederlassung in Douai organisiert waren. 434 Die Verbreitung des Rosenkranzes und die mit ihr verbundenen Bruderschaftsgründungen erfolgten vielfach über diese Reformnetzwerke und die in ihnen engagierten Ordensbrüder. 435 Ein genauerer Blick zeigt, dass Jakob Sprenger und Michael Francisci bei der Gründung der Kölner Rosenkranzbruderschaft an der von Alanus von Rupe geschilderten Organisations- und Gebetsform einige entscheidende Änderungen vornahmen. Zwar übernahmen die Kölner Gründer die Leitideen der geistlichen Gütergemeinschaft und des füreinander zu leistenden Mariengebets sowie die Festlegung, dass die Unterlassung dieses Gebets keine zu bestrafende Sünde bedeute, 436 direkt von Alanus. Dennoch aber war die Kölner Rosenkranzbruderschaft, entgegen immer noch weiterkolportierter Forschungsmeinungen, nicht exakt »modelée sur celle de Douai«. 437 Treffsicherer lässt sie sich als modifizierende und teils auch innovative Adaptation von Gebets- und Gemeinschaftsmodellen beschreiben, die über Alanus, jedoch auch über das Trierer Rosenkranzkorpus 433 Klaus-Bernward Springer: Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit, Berlin 1999 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF 8), S. 16. Siehe weiterführend Albert de Meyer: La Congrégation de Hollande ou la Réforme dominicaine en territoire bourguignon, 1465 - 1515, Liège 1946. Neben der Congregatio Hollandica spielte auch die Congregatio Lipsiensis, der zweite große Zusammenschluss observanter Dominikanerkonvente im niederdeutschen und niederländischen Sprachraum, eine wichtige regionale Rolle. 434 Siehe ausführlicher Klinkhammer 1972, S. 87. 435 Ranacher 2022, S. 129 führt aus, dass beim Blick auf »im Anschluss an Köln ins Leben gerufene Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft« auffalle, »dass dort meistens Dominikanerkonvente vertreten waren, die entweder direkt der Holländischen Kongregation angehörten oder eben reformiert waren«. Mit der ab den 1490ern aktiven Rosenkranzbruderschaft in Freiburg im Breisgau läge, so Ranacher, freilich auch ein Gegenbeispiel vor, da das dortige männliche Ordenshaus nicht reformiert gewesen sei. Was Ranacher hierbei nicht in Betracht zieht, ist die Tatsache, dass die weiblichen Freiburger Klöster des Predigerordens, die ebenfalls an der dortigen Rosenkranzbruderschaft beteiligt waren (vgl. ebd., S. 174), geradezu zu den Hochburgen der Ordensreform gehörten, so dass auch in diesem Fall ein Bezug zur Observanzbewegung besteht. Grundsätzlich betten sich die Kölner Rosenkranzbruderschaft und die durch sie popularisierte Gebetsweise also in die erstaunliche Masse der Andachtsübungen und entsprechenden religiösen Vergemeinschaftungs- und Texttraditionen ein, die im Fahrwasser der monastischen Reformbestrebungen vor allem des 15. Jahrhundert entstanden. Ein Großteil vor allem der ganz oder in großen Teilen volkssprachigen Gebets- und Andachtsliteratur kam im Kontext observanter Klöster auf und disseminierte über ihre eng gestrickten Netzwerke. Vgl. zum Thema z. B. Werner Williams-Krapp: Ordensreform und Literatur im 15. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986/ 1987), S. 41 - 51; Antje Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4); sowie neuerdings Claire Taylor Jones: Ruling the Spirit. Women, Liturgy, and Dominican Reform in Late Medieval Germany, Philadelphia, PA 2018. 436 Hinter dieser »Nicht-Sanktionierung« einer Verletzung der Bruderschaftspflichten, so Ranacher, steht primär der Gedanken, »dass die Gebetspflicht keinem Mitglied zur Last werden sollte« (Ranacher 2022, S. 190). Ähnliche Prinzipien, nach denen Pflichtverstöße zwar mit persönlichen Konsequenzen bedacht aber nicht als Sünde betrachtet werden, fänden sich bereits in der frühen dominikanischen Regelliteratur. 437 de Meyer 1946, S. LXXX. 184 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="185"?> sowie durch Einflüsse des vorgängigen Kölner Bruderschaftswesens vermittelt worden waren. 438 Zunächst nämlich erleichterten die Kölner Dominikaner das verlangte Gebetspensum im Vergleich zu den Regeln des Tractatus apologeticus recht drastisch. Alanus forderte wie oben ausgeführt, die 150 Ave Maria samt den damit verbundenen Vaterunser und entsprechenden Meditationspunkten täglich zu beten. Sprenger und Michael Francisci übernahmen zwar weitgehend die Form dieser Gebetsübung, riefen jedoch dazu auf, dieses bloß einmal wöchentlich zu vollbringen. »Diese Verringerung der geforderten Anzahl gegenüber der alanischen Bruderschaft war«, so Küffner, »sicher auch ein Grund für den ungewöhnlichen Erfolg der Kölner Gründung.« 439 Wie Michael Francisci berichtet, geschah die Reduktion als Eingeständnis an die Lebensrealitäten frommer Laien in der Stadt des 15. Jahrhunderts. So habe man aus Rücksicht auf die varias [ … ] hominum occupationes, distractiones et etiam indevotiones, propter quas aut non possent aut non volunt omni die tantum numerum salutationum dicere, auf die Vorschrift eines täglichen Gebets verzichtet. 440 Die von Alanus erdachte Form einer frommen Gebetsgemeinschaft wurde somit für breite Bevölkerungsschichten vor allem im urbanen Raum praktikabel. Neben dem Kernbestand des wöchentlichen Reihengebets listen Michael Francisci und Jakob Sprenger noch einige Nebenleistungen auf, zu denen die Mitglieder der Kölner Rosenkranzbruderschaft aufgefordert waren. Darunter fällt vor allem die Teilnahme an der Salve-regina-Prozession in der Predigerkirche in Köln an Wochenenden und Festtagen. Mitgliedern, die am Kommen verhindert waren, war freigestellt, die Prozessionsteilnahme durch das Gebet eines Salve regina oder durch sieben Ave Maria zu ersetzen. 441 Zudem verpflichteten die Kölner Dominikaner sich, viermal im Jahr ein Anniversarium, also einen Totengottesdienst, für die verstorbenen Bruderschaftsmitglieder zu feiern. Diese an den marianischen Hochfesten abgehaltenen liturgischen Feiern bildeten »einen wichtigen Dienst für die Bruderschaft« und wurden von Sprenger geradezu angepriesen: 442 Z ů dem leczten so hat sich verpunden der groß convent Prediger ordens z ů Kölen, alle iar z ů vier malen ein lannge vigil mit newn lection und ein selampt loplichen z ů singen z ů hilff den armen selen der menschen, die auß der br ů derschafft abgestorben seind, und das geschicht auff die vier nämlich fest Unser Frauwen, welches ein besunders g ů t barmherczig werck ist, wann vil menschen verscheyden auß disem czeit, den leider wenig g ů tes nach geschicht. Wider die selben versaumnuß mag sich der mensch bewaren und behüten, der da kommet in diese br ů derschafft. 443 438 Über den Einfluss z. B. der Trierer Kartause oder zeitgenössischer Marienmirakel auf das von Sprenger und Michael Francisci propagierte Rosenkranzgebet wird unten noch genauer eingegangen. Teils dürfte hier Alanus von Rupe als Vermittler gedient haben, teils schöpften die Kölner Dominikaner wohl auch aus anderen Quellen. 439 Küffner 1976, hier S. 115. 440 »die verschiedenen Berufe, Ablenkungen und auch die Frömmigkeitsdefizite der Menschen, wegen derer sie nicht jeden Tag eine so große Zahl an [Marien-]Grüßen sprechen konnten oder auch wollten«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 101. 441 Siehe Kliem 1963, S. 73; sowie Scheeben 1951, S. 122. 442 Kliem 1963, S. 74. 443 »Zuletzt hat sich der große Predigerkonvent in Köln zusammengeschlossen, um viermal jährlich eine lange Vigilie mit neun Lektionen und einer Seelmesse in lobenswerter Weise zu singen, zur Hilfe für die armen Seelen der Menschen, die aus dieser Bruderschaft verstorben sind. Und dies passiert zu den 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 185 <?page no="186"?> Diese Bewerbung der Anniversarien zeigt zunächst, wie sehr die Rosenkranzbruderschaft, so sehr sie sich auch in den Folgejahren europaweit ausbreitete, zu Beginn eine Kölner Angelegenheit war. Zwar spielen, wie Kliem ausführt, die Schriften Sprengers und Michael Franciscis bereits früh mit dem von Alanus inspirierten Gedanken einer weltumspannenden »großen Verbrüderung«, 444 in ihrer Organisationsform und ihrem sozialen Bezug blieb die Rosenkranzbruderschaft jedoch zunächst auf die Rheinmetropole und eine 1476 erfolgte Filialgründung in Augsburg beschränkt. Die »Lösung der lokalen Verankerung« und ihre Ersetzung durch einen »transregionalen Anspruch bei gleichzeitiger Einheit der Gemeinschaft«, die Christian Ranacher schlüssig als Charakteristika der in den Folgejahrzehnten florierenden Bruderschaft bestimmt, 445 müssen daher eher als Resultat einer prozessualen Entwicklung dieser Korporationsform gelten, die sich in Reaktion auf den eigenen ortsübergreifenden Erfolg schnell dezentralisierte. Auch die Tatsache, dass Michael Francisci vorschreibt, beim Bruderschaftsgebet intentionem suam ad primarium fundationis locum, scilicet ad conventum Praedicatorum in Colonia, et ad omnes illius fraternitatis fratres et sorores referre, illustriert, wie sehr die Stadt Köln und das dortige Dominikanerkloster das Zentrum des Gebetszusammenschlusses bildeten. 446 In der Kölner Predigerkirche befand sich auch der bei der offiziellen Gründungszeremonie 1475 geweihte Bruderschaftsaltar, an dem das Register der Mitglieder auslag und der ursprünglich von einem prächtigen Altarbild geschmückt wurde, das eine Schutzmantelmadonna zeigte, die von den Gläubigen gebetete Blumenkränze in Empfang nahm. 447 Zusätzlich zu dieser Einbettung in den Sozialkontext der Stadt des ausgehenden Mittelalters erscheinen auch die prinzipielle Organisationsform sowie die Gebetspraxis der Kölner Rosenkranzbruderschaft aufschlussreich. Wer konnte überhaupt unter welchen Bedingungen der Rosenkranzbruderschaft beitreten, und welche Bedeutung kam einer Mitgliedschaft in diesem Zusammenschluss zu? Zu welcherlei Frömmigkeitsleistungen verpflichteten sich ihre Mitglieder, und was für Gebetsanweisungen und -texte waren ihnen dazu an die Hand gegeben? vier besonderen Festen Unserer Frau, was ein besonders gutes barmherziges Werk ist, da nämlich viele Menschen aus dieser Welt verscheiden, ohne dass ihnen danach viel Gutes zuteilwird. Vor diesem Versäumnis kann sich der Mensch dadurch bewahren und behüten, dass er dieser Bruderschaft beitritt.« Militzer 1997, S. 515. 444 Kliem 1963, S. 68. 445 Ranacher 2022, S. 151. In der These, Köln habe bloß die Rolle »eines in erster Linie ideellen Zentrums und Identifikationspunktes« gespielt, möchte ich Ranacher nur insofern zustimmen, als dass die Entwicklung der Rosenkranzbruderschaft bald auf ein derart dezentralisiertes Organisationsmodell hinauslief. Dass Sprenger und Francisci von Beginn an eine dergestalt ortsungebundene Gemeinschaft intendierten, scheint mir hingegen aufgrund der wie aufgezeigt sehr prominenten Rolle Kölns sowie der dortigen Kirchen und religiösen Institutionen in den frühen Bruderschaftsdokumenten nicht wirklich belegbar. 446 »seine Absicht auf den ersten Gründungsort, also auf das Dominikanerkloster in Köln zu richten und auch auf alle Brüder und Schwestern dieser Bruderschaft«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 122. 447 Vgl. Augusta von Oertzen: Maria, die Königin des Rosenkranzes. Eine Ikonographie des Rosenkranzgebetes durch zwei Jahrhunderte deutscher Kunst, Augsburg 1925, S. 19 f. 186 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="187"?> 5.2 Die Bruderschaft als Organisationsform der gegenseitigen Fürbitte Ein zentrales Problem für die Erforschung des spätmittelalterlichen Bruderschaftswesens besteht darin, dass sich diese Organisationsform, die im religiösen Leben der Städte des 15. Jahrhunderts beinahe omnipräsent ist, ausgesprochen schwer definieren lässt. »Bruderschaft war im Mittelalter ein Begriff, dem keine einheitliche Realität entsprach.« 448 André Schnyder schlägt diesbezüglich vor, zunächst grob zu unterscheiden zwischen der »Bruderschaft des Typs geldonia«, die einen freiwilligen »durch Eid und gemeinsames Mahl« verbindlich gemachten Personenzusammenschluss zur gegenseitigen Hilfe in verschiedensten, oft praktischen Belangen darstellte, sowie dem Typ der »fraternitas« oder Konfraternität, die rechtlich weniger formalisiert war und sich zumindest vorrangig auf die spirituelle Unterstützung ihrer Mitglieder fokussierte. 449 Vornehmlich letzterer Typ interessiert an dieser Stelle. Die zeitgenössische lateinische Bezeichnung fraternitas konnte sich jedoch auf ganz verschiedene Arten von religiös motivierten Sozietäten beziehen, die sich in Organisationsgrad, Aktivitätsfeldern und Mitgliederstruktur stark voneinander unterschieden. 450 Grundsätzlich kann jede »freiwillige, auf Dauer angelegte Personenvereinigung mit primär religiös/ caritativen Aktivitäten« als Konfraternität verstanden werden, wobei solche Organisationen zumeist in Städten und »als kirchliche Sondergruppen innerhalb oder neben der Pfarrei« bestanden. 451 Eine ungefähre Typologie spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fraternitäten schlägt Rupert Klieber vor, der für das Mittelalter zwei Grundmodelle unterscheidet, denen dieser Organisationstyp folgte. Weit verbreitet waren zunächst Bruderschaften nach dem Modell der »lokal verwurzelte[n] Totenkult-Gemeinschaft«, deren Mitglieder sich gegenseitig vor allem ein angemessenes Begräbnis und anhaltende Totenmemoria zusicherten. 452 In diese Kategorie fallen unter anderem berufsgebundene Vereinigungen besonders von Handwerkern, die gemeinsam karitative Aufgaben erfüllten, die Beerdigung und das postume Angedenken verstorbener Kollegen organisierten sowie zudem eine Art professionelles Netzwerk bildeten. 453 Zwischen derartigen Bruderschaften, die oftmals als Vorgänger des modernen Vereinswesens begriffen werden, und verwandten, aber dem Typ der Gildenbruderschaft zugehörigen Organisationsformen wie beispiels- 448 Kliem 1963, S. 33. 449 Schnyder 1986, S. 28 f. 450 Eine Übersicht über diese Problematik und verschiedene Definitionsversuche gibt Militzer 1997, S. XI - XVIII. 451 Ludwig Remling: Sozialgeschichtliche Aspekte des spätmittelalterlichen Bruderschaftswesens in Franken, in: Einungen und Bruderschaften in der spätmittelalterlichen Stadt, hg. v. Peter Johanek, Köln 1993 (Städteforschung A 32), S. 149 - 161, hier S. 151. 452 Rupert Klieber: Die vielen Bruderschaften und der Organisationstypus › Fraternität ‹ : Angebote zur Aufschlüsselung eines bedeutenden Sektors religiöser Dienstleistungen, in: Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister der Frühen Neuzeit in Zentraleuropa, hg. v. Elisabeth Lobenwein, Martin Scheutz u. Alfred Stefan Weiß, Wien 2018 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 70), S. 107 - 116, hier S. 109. 453 Hierzu zählt z. B. die 1440 neugeordnete Bruderschaft der Kölner Dachdecker, die André Schnyder ausführlich untersucht hat (vgl. Schnyder 1986, S. 463 - 495). 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 187 <?page no="188"?> weise Handwerkszünften lässt sich in vielen Fällen nicht befriedigend trennscharf differenzieren. 454 Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 jedoch folgt einem anderen Modell. Sie entspricht Kliebers zweitem Bruderschaftstypus, den auf dem »Prinzip der geistlichen Gütergemeinschaft« beruhenden Gebetsverbrüderungen, 455 wie sie im monastischen Bereich seit dem Frühmittelalter gepflegt wurden und sich im Verlauf der Zeit auch zunehmend über die klösterliche Sphäre hinaus verbreiteten. Die Mitglieder solcher Gebetsbruderschaften verpflichteten sich in erster Linie dazu, sich gegenseitig und oftmals über den Tod des Einzelmitglieds hinaus in ihr jeweiliges Beten einzuschließen. Eine prinzipielle Zweckähnlichkeit zwischen den beiden Bruderschaftsformen bestand darin, dass in beiden Fällen ihr »Hauptanliegen [ … ] das Totengedächtnis und die Fürbitte für die verstorbenen und lebenden Mitglieder« war. 456 Art und Ausmaß des hierfür zu leistenden Gebetspensums wurden, zusammen mit sonstigen organisatorischen Einzelheiten und Bestimmungen, gemeinhin durch schriftlich fixierte Regelwerke vorgegeben. Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 kann als Gebetsverbrüderung betrachtet werden, gehört also dem Typ der fraternitas an. Allerdings unterscheidet sie sich, so die überzeugende These Christian Ranacher, vor allem durch ihren sich in den Jahren nach ihrer Gründung schnell herausbildenden transregionalen Charakter von anderen zeitgenössischen Bruderschaften, für die die Bindung an einen klar definierten Raum konstitutiv war. 457 Zudem darf ihre beinahe universelle, egalitäre Zugänglichkeit als innovatives und ihren Erfolg erklärendes Merkmal der Rosenkranzbruderschaft gelten. Zusätzlich aber spielte auch die von der Rosenkranzbruderschaft gepflegte Frömmigkeitsform eine gewichtige Rolle. Eindrücklich veranschaulicht wird dies durch einen Blick auf ihre ab 1476 zunächst in Basel und Augsburg im Frühdruck erschienenen Statuten. 458 In dieser kurzen Schrift, die in den Folgejahren mehrfach nachgedruckt wurde, führt Jakob 454 Siehe z. B. Paul Trio: Confraternities as Such, and as a Template for Guilds in the Low Countries during the Medieval and the Early Modern Period, in: A Companion to Medieval and Early Modern Confraternities, hg. v. Konrad Eisenbichler, Leiden/ Boston 2019 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 83), S. 23 - 44. 455 Klieber 2018, S. 108. 456 Schmidt 2003, hier S. 48. 457 Ranacher attestiert der Rosenkranzbruderschaft daher ein »diametral anderes Organisationsmodell« im Vergleich zu den »klassischen Bruderschaften« (Ranacher 2022, S. 248). Ihre örtlichen Niederlassungen versteht er in erster Linie als »Anlaufstellen für die Einschreibung« (ebd., S. 249). Diese Charakterisierung überzeugt in Bezug auf den schon bei Alanus vorentworfenen theoretischen Universalanspruch der Rosenkranzbruderschaft, nach dem sie als ortsübergreifende Gemeinschaft aller an den Gebetsverpflichtungen teilnehmenden Gläubigen erscheint. Ob sie jedoch der historischen Praxis einzelner Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft entsprach, die z. B. prominent lokale Rosenkranzaltäre errichteten und pflegten, steht auf einem anderen Blatt und bedürfte der kleinteiligen Erforschung und Debatte. 458 Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1476 (GW M43164). Das an die Statuten angehängte und aus frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive interessante »Sterbebüchlein« sowie die darauffolgende »Ermahnung« sind bislang leider nicht ediert. Digital konsultiert wurde das Exemplar München, BSB, 4 Inc. c. a. 88. Neben dem Augsburger Rosenkranzbuch existiert noch der Druck Jakob Sprenger: Statuten des Rosenkranzbruderschaft, Basel: Bernhard Richel 1476 (GW M43168), der womöglich noch vor dem Augsburger Druck zu datieren ist, siehe Saffrey 2001, S. 153. Diesem Druck fehlen die oben erwähnten Zusatztexte; geringfügige Abweichungen im Text der Statuten sind vermerkt in der kritischen Ausgabe bei Militzer 1997, S. 507 - 517. 188 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="189"?> Sprenger aus, zu welchen Leistungen die Mitglieder seines Zusammenschlusses angehalten sind. Für die Teilnahme an der Rosenkranzbruderschaft ist insbesondere das wöchentliche Gebet ausschlaggebend. Alle Mitglieder sollen, so legt Sprenger fest, jede Woche drey rosen krentz beten, das seien z ů dreyen malen finffczig Ave Maria und z ů dreyen malen finff Pater Noster. 459 Beim Beten der Vaterunser seien das heilsbringende Blut sowie die Passion Christi zu betrachten, und die Zahl 150 sei (offenbar in Orientierung an Alanus) gewählt worden, da sie der Anzahl der Psalmen entspreche. Deshalb werde diese Form des Reihengebets auch Marienpsalter genannt. Zusammengenommen sollen diese drei Rosenkränze schlussendlich der Jungfrau Maria überreicht werden: Und dises gebet soll der mensch opffernn der werden gebererin Gottes Marie für sich und alle die, die in dieser br ů derschafft seind, mit mainung, dz sy bey irem lieben sun den allen erwerb die genad der rechtfertigung von den sünden, willig und gehorsam in den geboten gottes und behärrigkeyt in g ů ten wercken biß an daß end. 460 Grundsätzlich basiert die Kölner Rosenkranzbruderschaft damit auf der Idee der kollektiven und gegenseitigen Fürbitte zur Sicherung des gemeinschaftlichen Seelenheils. In der Hinwendung zu Maria als universeller Mittlerin des Heils hofften die Bruderschaftsmitglieder auf die Interzession der Gottesmutter, die sie in ihrer Rolle als mediatrix der göttlichen Gnade teilhaftig werden lassen sollte. 461 Dabei ist die von den Statuten vorgeschriebene Frömmigkeitspraxis durchgängig durch eine quantifizierend-ökonomisierende Kollektivierung des Betens geprägt. In einem grob anachronistischen Vergleich ähnelt diese Bruderschaft in ihrer Grundidee einer wirtschaftlichen Kooperative, bloß dass ihre Mitglieder statt Finanz- oder Arbeitsleistungen ein genau bemessenes Pensum an Gebetsleistungen beisteuerten, um so an dem durch Gebet und Ablass akkumulierten heilsmächtigen Gnadenschatz der Bruderschaft teilzuhaben. Ranacher schlägt für diese Idee den Begriff der »Heilseffizienz« vor: »Die kleine Mühe der drei Rosenkranzgebete hatte [ … ] aus Sicht der Vertreter der Rosenkranzbruderschaft die Überwindung des Fegefeuers zur Folge.« 462 In ihrem Ziel, gemeinsam »zu einer höchstmöglichen Anzahl zu gelangen und die Gebete Gott als Opfer darzubringen«, 463 gehört die von Sprenger initiierte Gebetsverbrüderung dabei in den großen Bereich der gezählten Frömmigkeit des Mittelalters, die auf der Vorstellung einer nach dem Prinzip der heilswirksamen Äquivalenz funktionierenden Gabenökonomie basierte. 464 In den Statuten ist zunächst nicht exakt ausgeführt, ob und wenn ja mit welchen Formen des Eintauchens in bestimmte Betrachtungspunkte das verlangte Reihengebet 459 »drei Rosenkränze«, »dreimal fünfzig Ave Maria und dreimal fünf Vaterunser«, Militzer 1997, S. 511. 460 »Und dieses Gebet soll der Mensch der würdigen Gottesgebärerin Maria darbringen für sich und für all diejenigen, die in dieser Bruderschaft sind, mit der Bitte, dass sie ihnen allen bei ihrem lieben Sohn die Gnade der Sündenvergebung erwerbe, Willen und Gehorsam bei der Befolgung der göttlichen Gebote und Beständigkeit in guten Werken bis zum Ende«, Militzer 1997, S. 512. 461 Zur Vorstellung Marias als mediatrix vgl. Eva Rothenberger: Ave praeclara maris stella. Poetische und liturgische Transformationen der lateinischen Mariensequenz im deutschen Mittelalter, Berlin 2019 (Liturgie und Volkssprache 2), S. 92 - 95. 462 Ranacher 2022, S. 238. 463 Angenendt 2009, S. 536. 464 Einen konzisen Überblick über dieses Frömmigkeitsphänomen bieten Angenendt u. a. 1995. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 189 <?page no="190"?> verbunden werden sollte. Die Aufforderung, beim Beten der Vaterunser sei an das vergossene rosen rott pl ů t Cristi Jhesu und die durch seinen Kreuzestod bewirkte Erlösung zu denken, 465 weist zwar auf eine über das bloße Aufsagen und Abzählen von Gebetsformeln hinausgehende Passionsbetrachtung, deren Kenntnis und Beherrschung in Sprengers Statuten vorausgesetzt wird, sie gibt hierzu allerdings keine detaillierten Instruktionen. »Although Sprenger ’ s text links the Paternosters to the Passion of Christ, it does not specify particular Ave-meditations.« 466 Trotzdem ist davon auszugehen, dass eine das Leben und Leiden Christi vergegenwärtigende Andachtsübung hier mitgedacht ist. Angesichts des frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexts der Bruderschaftsstatuten ist dabei sowohl an Alanus ’ oben behandelte 15 Betrachtungspunkte zu denken wie auch an die Trierer Rosenkranzklauseln, die sich beispielsweise auch im auf 1477 datierenden Augsburger Druck der Kölner Bruderschaftsstatuten finden und dort explizit als der Bruderschaft anempfohlene Meditationsweise markiert sind. 467 Auch die Vorstellung einer Figuration von geistlich-konkreten Blumenkränzen, die auf der Annahme einer »wirklichkeitsstiftenden Macht der Gebete« beruht, bleibt in den Bruderschaftsstatuten präsent. 468 Wenn Sprenger dort schreibt, der Betende solle je nach czehen weissen rosen [ … ] ein rote rosen enczwischen setzen und mit den Blumen die Ave Maria und Vaterunser meint, wird offensichtlich, wie sehr auch hier das Bruderschaftsgebet als innere Fertigung einer überstofflichen Kranzgabe verstanden ist. 469 Dabei nimmt, da die weißen Rosen wohl für die Reinheit Mariens stehen und die roten Rosen ausdrücklich das vergossene Blut Christi meinen, der gebethaft hergestellte Gegenstand allegorische Züge an. Dies erinnert erstens an die allegorischen Ausführungen im Rosengertlin- Traktat, andererseits aber deutet es auf Gebetsformen, in denen die gebetete Gabe gleichsam zum mit komplexer Zeichenbedeutung aufgeladenen Betrachtungsgegenstand wird. Hierunter zählen besonders die Marienmantelgebete, die ich im Folgekapitel in den Blick rücke. Obzwar damit sowohl das imaginierende Herstellen gebeteter Dinge als auch ein immersiv-meditativer Umgang mit dem Leben und der Passion Christi das in der Rosenkranzbruderschaft vorgeschriebene Gebet kennzeichnen, ist kaum zu übersehen, dass diese Aspekte des Rosenkranzes hier deutlich hinter die Idee der betenden Gnadenakkumulation zurückfallen. Dabei verändert auch das Zählen seine Rolle. In der Logik der Bruderschaftsstatuten dient der Rosenkranz nun weniger der eine unzählbare Nähe zur Transzendenz herstellenden Hinkehr bei gleichzeitiger Versenkung in das Heilsgesche- 465 »rosenrote Blut Jesu Christi«, Militzer 1997, S. 511. 466 Winston-Allen 1997, S. 68. 467 Vgl. Jakob Sprenger: Erneuerte Rosenkranzbruderschaft, Augsburg: Johann Bämler 1477 (GW M38911), fol. 7r - 10v; sowie Saffrey 2001, S. 158 - 160. Schmidt geht - allerdings ohne genauere Erklärung - davon aus, dass die jeweilige Ausgestaltung der Betrachtungen zum Rosenkranz in der Kölner Bruderschaft von den individuellen Betenden frei vorgenommen werden konnte: »Jedenfalls enthalten die Statuten und frühen Schriften zur Kölner Rosenkranzbruderschaft, wie das Quodlibet, zunächst keinerlei Aussagen oder Vorschriften bezüglich bestimmter Gesätze, die es zusammen mit dem Ave Maria zu beten galt. Im Sinne der Devotio moderna war es also dem einzelnen [sic] überlassen, in welcher Ausformung er den Marienpsalter in seiner persönlichen Frömmigkeitsausübung betete« (Schmidt 2003, S. 60). 468 Lentes 1993, S. 121 und 123. 469 »nach zehn weißen Rosen [ … ] eine rote Rose«, Militzer 1997, S. 511. 190 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="191"?> hen, sondern weist eher auf den Quantifizierungsgedanken einer Gabenökonomie des Heils. Zumindest die äußeren Rahmenbedingungen des Reihenbetens sind dabei, genau wie bereits bei Dominikus von Preußen und Alanus von Rupe, individuell adaptierbar gehalten. Denn wann und wo die verlangten 150 Mariengrüße und 15 Vaterunser gesprochen und ob sie am Stück geleistet oder auf verschiedene Wochentage verteilt werden sollen, wird in den Statuten ausdrücklich freigestellt. Zudem expliziert Sprenger, dass es keine Sünde sei, das wöchentliche Gebet auszulassen. Für solche Unterlassungen drohe keine Strafe, und das nicht geleistete Gebet müsse auch nicht nachgeholt werden. Jedoch ruhe, solange ein Mitglied seinen Gebetsverpflichtungen nicht nachkomme, gleichsam auch seine Mitgliedschaft und es habe in dieser Zeit nicht teil am akkumulierten Gnadenschatz derjenigen, die in der Bruderschaft beteten. 470 Diese hohe Unverbindlichkeit, die auch im Quodlibet Michael Franciscis betont wird, 471 verleiht der Bruderschaft weniger den Charakter einer straffen, mit bei Nichteinhaltung sanktionierbaren Mitgliedspflichten verbundenen Organisation als vielmehr den eines Frömmigkeitszusammenschlusses, der auf Freiwilligkeit, personalisierbaren Formen der andachtsvollen Partizipation und grundsätzlich niedrigschwelliger Zugänglichkeit aufbaut. 472 Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass Sprenger einen stellvertretenden und sogar postumen Beitritt in die Rosenkranzbruderschaft ermöglicht, denn: ob ein br ů der oder schwester beten wölten dises gebet der drey rosenkrentz für ein sel, die yecz gescheyden ist auß der zeit, ist die selbig sel begriffen in dem fegfewr, so wirt sy auch teylhafftig des gebettes aller brüder und schwestern der ganczen br ů derschafft. 473 Wer allerdings zu Lebzeiten Mitglied der Bruderschaft gewesen sei, brauche diese Fürbitte nicht, sondern habe automatisch an der Gnadenwirkung des Bruderschaftsgebets teil. Hieran illustriert sich, ganz gemäß der These Kliebers, das »Fundament« des mittelalterlichen Bruderschaftswesens sei stets »der Dienst an den Toten« gewesen, 474 wie stark die Kölner Rosenkranzbruderschaft auf eine Sicherung des Seelenheils nach dem Tode orientiert war. Sowohl den Betenden selbst als auch all denjenigen, für die durch Ableistung von 150 Ave Maria Fürbitte geleistet wurde, sollte durch die angenommene Heilswirkung der gemeinschaftlich angehäuften Rosenkränze aus dem Fegefeuer geholfen werden. Dass diese Form der betenden Stellvertretung sich jedoch nicht nur auf Verstorbene beschränkte, sondern auch für Lebende geleistet werden konnte, expliziert Michael Francisci, der es freistellt, das Bruderschaftsgebet per se vel per alium dicere 470 Vgl. Militzer 1997, S. 512 - 513. 471 Vgl. Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 118 - 119. 472 Dabei wurde, so Ranacher, ein »Versäumnis der Gebetspflicht [ … ] nicht als Schaden für das Ansehen und, vor allem, für die Jenseitsvorsorge der gesamten Bruderschaft gewertet, sondern › lediglich ‹ als Hemmnis für den Einzelnen« (Ranacher 2022, S. 191). Dies erkläre, zusätzlich zu Parallelen in der vorgängigen dominikanischen Regelliteratur, den recht großzügigen Umgang der Rosenkranzbruderschaft mit Säumnissen ihrer Mitglieder. 473 »wenn ein Bruder oder eine Schwester dieses Gebet der drei Rosenkränze für eine bereits aus der Zeit verschiedene Seele beten möchte, so wird diese Seele, sollte sie im Fegefeuer gefangen sein, auch des Gebets aller Brüder und Schwestern der gesamten Bruderschaft teilhaftig«, Militzer 1997, S. 514. 474 Klieber 2018, S. 107. Schnyder nennt ebenfalls den »Erwerb des Seelenheils« als Grundintention mittelalterlicher Bruderschaftsgründungen (Schnyder 1986, S. 29); Ranacher spricht in die gleiche Richtung gehend von »gemeinschaftlich organisierte[r] Jenseitsvorsorge« (Ranacher 2022, S. 247). 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 191 <?page no="192"?> vel legere. 475 Die Kölner Konfraternität ist damit gleichzeitig als religiöse Hilfsgemeinschaft zur Sicherung des eigenen Seelenheils wie auch als karitativer Zusammenschluss zu verstehen, der lebenden wie verstorbenen Nichtmitgliedern gebethaft Beistand zu leisten suchte: »Das Gebet war Gabe an Gott und die Heiligen, und wurde von ihnen an die Verstorbenen weitergereicht.« 476 Zusätzlich amplifiziert wurde dieser Interzessionsaspekt durch zahlreiche Ablässe, die der Rosenkranzbruderschaft gewährt wurden. 477 Den Anfang machte hier der päpstliche Legat für das Heilige Römische Reich, Alexander von Forli, der 1476 einen Ablass von vierzig Tagen (an Marienfesten sogar hundert Tagen) für jeden gebeteten Rosenkranz und für jede Teilnahme an der Kölner Salve-regina-Prozession bestätigte. 478 Im Mai 1478 versprach eine Gruppe Kardinäle weitere hundert Tage Ablass für all diejenigen, die zum Erhalt und zur Ausstattung des Rosenkranzaltars beitrügen, und im gleichen Monat gewährte Papst Sixtus IV. sämtlichen Mitgliedern der Bruderschaft sogar sieben Jahre und sieben Quadragenen Ablass für die Marienfeste. 479 Derartige Ablassversprechen und -annahmen addierten sich in der Folge und wuchsen mit der Zeit inflationär. 480 Zunächst dürften diese ausgesprochen großzügigen Ablässe einen großen Anreiz zum Beitritt gebildet haben und erklären partiell das erstaunliche Wachstum der Bruderschaft in den Folgejahren: »Sprenger nennt für Köln Anfang 1467 schon 8000 Mitglieder und für Augsburg an Allerheiligen 1477 bereits 21000 [ … ]. Michael Francisci hatte im Jahr der Gründung 5000 erwähnt, und Johannes von Lamsheim zählt 1479 mehr als 50000, drei Jahre später 100000 Brüder und Schwestern«. 481 Obzwar diese Zahlen nicht unbedingt zuverlässig sein dürften, zeugen sie doch vom Erfolg dieser Organisation des Betens. Außerdem wirkten die Ablässe daran mit, die Legende von der Bruderschaftsgründung durch den heiligen Dominikus zu zementieren, die wie oben ausgeführt auf Alanus von Rupe zurückgeht und in den entsprechenden Ablassdokumenten zumeist erwähnt wird. Schlussendlich trugen sie auch dazu bei, dass die Rosenkranzbruderschaften und ihre Gebetsweise kein halbes Jahrhundert später zu einem roten Tuch für die Reformation wurden. Martin Luther z. B. merkte in seinem Exemplar des Bruderschaftsspiegels von Marcus von Weida am Rand einer Passage, die dazu ermahnt, täglich einen Rosenkranz zu beten, in einer polemischen Marginalie an: Non credere in Christum. 482 475 »für sich selbst oder für jemand anderes zu sprechen oder zu lesen«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 142. 476 Lentes 1996, S. 25. 477 Vgl. hierzu ausführlich Ranacher 2022, S. 82 - 89. 478 Der Text der entsprechenden Urkunde ist abgedruckt bei Schütz 1909, S. 32 f. und zusammengefasst bei Militzer 1997, S. 524. 479 Abgedruckt bei Schütz 1909, S. 33 f.; zusammengefasst bei Militzer 1997, S. 524 f. 480 So führt Anne Winston-Allen aus: »Spurious claims of indulgences for saying the prayer ballooned to outrageous proportions of up to 120,000 years« (Winston-Allen 1997, S. 5). 481 Küffner 1976, S. 115. 482 »Nicht an Christus glauben«, zitiert nach Harry Oelke: Da klappern die steinn … und das maul plappert. Der Rosenkranz im Zeitalter der Reformation, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. v. Urs-Beat Frei u. Fredy Bühler, Wabern/ Bern 2003, S. 107 - 117, hier S. 109. 192 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="193"?> 5.3 Mitgliedschaft und Entwicklung der Kölner Rosenkranzbruderschaft Wer waren die Mitglieder der Kölner Rosenkranzbruderschaft? Diese Frage weist auf ein oben bereits kurz erwähntes Herausstellungsmerkmal von Jakob Sprengers Gründung, das wesentlich zum Erfolg dieser Verbrüderung und der mit ihr verbundenen Gebetsweise beitrug. Dass nämlich die Kölner Rosenkranzbruderschaft denkbar offen für eine Beteiligung unterschiedlichster Personen und Personengruppen angelegt war, unterschied sie von vielen vergleichbaren Zusammenschlüssen frommer Laien, »mit denen soziale Auslese, Gruppenzwang und öffentliche Repräsentation assoziiert waren«. 483 Sprenger streicht ihre beinahe universelle Zugänglichkeit sogar als Rechtfertigung für seine Gründung hervor: Es seind vil br ů derschafft in der cristenheyt, der dhein armer mensch teylhafftig kan werden, in besunder wann er des gelltes nicht hat, das man dann in die brüderschafft raichen m ů ß und beczalen. Aber in dieser unser br ů derschaffte wirt dheinem menschen der weg verhalten, wie arm er ist, sunder ye ärmer, verschmächter, verächter, ye genämer, lieber und tewrer er in diser br ů derschafft geachtet wird. Darumb das derselbigen menschen gebet, als die heilig geschrifft sagt, got behäglicher und gefelliger, dann der reychen und hoch geachtten menschen ist. 484 Jedem gläubigen Christen, so der Grundgedanke, solle es möglich sein, der Rosenkranzbruderschaft beizutreten. Angesichts der Tatsache, dass die meisten der sonst üblichen frommen Sozietäten des Spätmittelalters exklusiven bis elitären Charakter besaßen und wohl auch aus eben diesem Grund eine bestimmte Anziehungskraft auf urbane Oberschichten entwickelten, ist diese prinzipielle Offenheit bemerkenswert. Auch Michael Francisci betont ausdrücklich, dass in der Rosenkranzbruderschaft nullum temporale dandum est nec in ingressu nec in egressu vel progressu. 485 Sollte aber dennoch von jemandem ein finanzieller Beitrag verlangt werden, so seien die Verantwortlichen tamquam pseudoprophetae [ … ] vitandi et excludendi a fraternitate ista, 486 ja es drohe ihnen sogar eine Bestrafung durch die Heilige Jungfrau selbst, da sie durch ihre Gier die Reinheit der Bruderschaft befleckt hätten. Um in die Rosenkranzbruderschaft einzutreten, so Sprenger, genüge es, sich in ein Mitgliederverzeichnis einzutragen. Der Beitrittskandidat müsse dazu seinen namen mitsambt dem z ů namen und statte, ob er eelichen oder ledig, geystlich oder welltlich sey, in geschrifft geben. 487 1477, im Jahr der Drucklegung der Bruderschaftsstatuten, war dies 483 Jäggi 2003, S. 93. 484 »Es gibt viele Bruderschaften in der Christenheit, an denen kein armer Mensch teilhaben kann, vor allem, weil er das Geld, das man dazu an die Bruderschaft geben und zahlen muss, nicht hat. In unserer Bruderschaft aber wird keinem Menschen, egal wie arm er ist, der Zugang verwehrt, sondern je ärmer, verschmähter und niedrig geachteter jemand ist, als desto willkommener, lieber und teurer wird er in dieser Bruderschaft geschätzt. Dies ist deshalb so, weil das Gebet solcher Menschen, wie die Heilige Schrift berichtet, Gott angenehmer und gefälliger ist als das der reichen und hochgeachteten Menschen.« Militzer 1997, S. 508 f. 485 »keinerlei zeitliches Gut zu geben ist, weder beim Eintritt noch beim Austritt oder zum Fortschritt«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 141. 486 »wie falsche Propheten [ … ] zu meiden und aus dieser Bruderschaft auszuschließen«, ebd. 487 »seinen Namen mitsamt dem Nachnamen, den Wohnort, ob er verheiratet oder ledig, geistlichen oder weltlichen Standes sei, zu Buche geben«, Militzer 1997, S. 509. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 193 <?page no="194"?> offensichtlich bereits an zwei Orten möglich: In den undern lannden gen Kölen, aber in obern tewtschen landen gen Augspurg, wo der Pfarrer der Kirche St. Moritz das Bruderschaftsverzeichnis in seine Obhut genommen hatte. 488 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt kann, da sich im April 1476 in Augsburg eine örtliche Niederlassung gegründet hatte, von einer gewissen Ortsungebundenheit der Rosenkranzbruderschaft gesprochen werden, die auf ihre spätere Ausbreitung im gesamten deutschen Sprachraum und teils darüber hinaus vorausdeutet. 489 Mit dem Eintrag ins Bruderschaftsbuch sollten auch weitere potentielle Mitglieder zum Beitritt motiviert werden. Denn je mehr fromme Christen an diesem geistlichen Zusammenschluss teilhätten, so die Statuten, desto größer sei die zu erhoffende heilskräftige Wirkung: Darumb aber dz czehen tausent mer betent dann eintausent, so ist auch der nucz mer in einer reichen gesellschafft dann in einer armen. 490 Damit aber beitrittsinteressierte Gläubige nicht dächten, dz es ein gedichte und erfunden czal wäre, 491 müsse über die Mitgliederzahlen der Bruderschaft genau Buch geführt werden. Dieser beinahe bürokratische Verwaltungsaufwand mag aus moderner Perspektive verwunderlich anmuten, hielt die Zeitgenossen Sprengers jedoch keineswegs davon ab, sich einzuschreiben. Vielmehr dürfte von dem öffentlichen und mit keinerlei finanziellem Aufwand verbundenen Eintrag ins Bruderschaftsverzeichnis sogar ein besonderer sozialer Reiz ausgegangen sein, traten diejenigen, sie sich neu einschrieben, damit doch dem gleichen frommen Zusammenschluss bei, dem bereits ein großer Teil der politischen und religiösen Eliten des 15. Jahrhunderts angehörte. Bereits an der oben erwähnten, von Jakob Sprenger festlich begangenen offiziellen Gründung der Bruderschaft nahm, zumindest ausweislich der hierzu zeitgenössisch verbreiteten Berichte, eine Reihe illustrer Neumitglieder teil, darunter der deutsche Kaiser Friedrich III. (1415 - 1493), der auch seine Frau Eleonore von Portugal (1436 - 1467) sowie seinen Sohn, den späteren Kaiser Maximilian I. (1459 - 1519), in die Bruderschaft eintrug. Ein Bericht aus den Admiranda des Kölner Weihbischofs und Stadthistorikers Aegidius Gelenius (1596 - 1656) schildert dieses Gründungsfest und sein Publikum, das zu den Bruderschaftsmitgliedern der ersten Stunde zählte: Dies adest et caetera parata omnia. Procedit D. lmperator Augustus cum summis Romani imperii principibus caeterisque Dynastis. Ergo Legatum Apostolicum et lmperatorem Fredericum sequebantur Adolphus Archiepiscopus et Elector Moguntinus, Ioannes Archiepiscopus et Elector Treverensis, Guilielmus Episcopus Aureacensis, Henricus Episcopus Monasteriensis, Episcopus Spirensis Vangionum, caeterique plures; Albertus Dux et Elector Saxoniae, Albertus Dux et Elector Brandeburgensis, Sigismundus Dux Austriae, Ludovicus Dux Bavariae a Spanheim, Ernestus Dux Saxoniae, Henricus Landgravius Hassiae frater Hermanni Archiepiscopi Coloniensis invicti conservatoris et Herois Novesiani, Christophorus Marckgravius Badensis, et caeteri comites plures quinquaginta. 492 488 »In den niederen Landen in Köln, sowie in den oberen deutschen Landen in Augsburg«, ebd. 489 Saffrey 2001, S. 157, führt aus: »la Confrérie du Rosaire a été étblie à Cologne le 8 septembre 1475, sa filiale d ’ Augsbourg, le lundi de Pâques, 15 avril 1576«. 490 »Weil aber 10.000 [Menschen] mehr beten als 1.000, so ist auch der Nutzen in einem großen Zusammenschluss größer als in einem armen«, Militzer 1997, S. 510. 491 »dass es eine Lügengeschichte und erfundene Zahl wäre«, ebd. 492 »Der Tag war gekommen, und nachdem alles bereit war, erschien der erhabene Herr, der Kaiser, mit den höchsten Fürsten des Römischen Reiches und den übrigen Herren. Dem Apostolischen Legaten 194 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="195"?> Dazu kommen Gesellschaftsspitzen, die hier entweder nicht namentlich erwähnt sind oder sich erst nach 1475 einschrieben. Zwar ist die Originalhandschrift des Kölner Mitgliederregisters verschollen, mutmaßliche Auszüge daraus wurden jedoch 1613 von dem Dominikaner und gegenreformatorischen Theologen Johann Andreas Coppenstein abgedruckt. 493 Die bei Coppenstein wiedergegebene Namensliste, die Gelenius ’ Aufzählung der hochrangigen Gründungsmitlieder weiterführt und ergänzt, spricht Bände - sie liest sich wie ein Register des mitteleuropäischen Hochadels im ausgehenden 15. Jahrhundert. So traten laut Coppenstein bis 1479 auch die anhaltinischen Fürsten Ernst (1454 - 1516), Sigismund III. (1456 - 1487) und Rudolf IV. (1466 - 1510), der sächsische Herzog Wilhelm III. »der Tapfere« (1425 - 1482), Herzog Sigismund von Bayern (1439 - 1501) sowie zahlreiche weitere namhafte Vertreter der weltlichen und geistlichen Führungsschichten der Kölner Rosenkranzbruderschaft bei. Nun zeigen derlei eindrucksvolle Aufzählungen sowohl, dass die Rosenkranzfrömmigkeit auch von den höchsten Gesellschaftsschichten schnell angenommen und gefördert wurde, als auch, wie sehr ein Beitritt in die Kölner Rosenkranzbruderschaft offenbar auch politische und repräsentative Zwecke erfüllte. Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Großteil der Mitglieder, die sich in Sprengers Bruderschaft einschrieben, keineswegs derart wohlgeborenen Kreisen angehörte. Denn im Jahr nach ihrer Gründung »zählte man bereits 5000, im Jahre 1478 50.000 und 1481 rund 100.000 eingeschriebene Mitglieder im ganzen Reich« 494 - die Rosenkranzbruderschaft entwickelte sich rasant zu einem transregionalen Massenphänomen. Der historische Wahrheitsgehalt derart astronomischer Zahlen lässt sich bloß schwer überprüfen und dürfte auch dadurch nach oben getrieben worden sein, dass, wie oben ausgeführt, verstorbene Familienmitglieder oder Freunde postum ins Bruderschaftsregister eingetragen werden durften, solange der oder die Einschreibende die hierdurch anfallenden Gebetsverpflichtungen zusätzlich mitübernahm. Der grundlegende Befund jedoch, dass eine Gebetsverbrüderung nach dem Kölner Modell sich nach 1475 im deutschsprachigen Raum wie ein Lauffeuer verbreitete, kann als gesichert gelten. Nach der Filialgründung in Augsburg 1476 »folgten Bamberg vor 1479, Bayreuth 1490, Nürnberg vor 1505«. 495 1483 betrieben zudem die Dominikaner in Ulm eine und Kaiser Friedrich folgten Adolph, Erzbischof und Kurfürst von Mainz, Johannes, Erzbischof und Kurfürst von Trier, Wilhelm, Bischof von Aureacensis, Heinrich, Bischof von Münster, der Bischof von Speyer und viele andere: Albert, Herzog und Kurfürst von Sachsen, Albert, Herzog und Kurfürst von Brandenburg, Sigismund, Herzog von Österreich, Ludwig, Herzog von Bayern, Ernst, Herzog von Sachsen, Heinrich, Landgraf von Hessen, der Bruder Hermanns, Erzbischof von Köln, des unbesiegten Verteidigers und Helden von Neuss, Christoph, Markgraf von Baden und mehr als fünfzig andere Grafen«, Aegidius Gelenius: De admiranda Sacra et civili magnitudine Coloniae Claudiae … Köln: Jodokus Kalckoven 1645, S. 467. Die Übersetzung ist übernommen aus S. N.: »Die Begründung der Kölner Rosenkranzbruderschaft nach Gelenius«, in: 500 Jahre Rosenkranz. 1475 Köln 1975. 25. Oktober 1975 - 15. Januar 1976, hg. v. Erzbischöfliches Diözesan-Museum Köln, [Köln 1976], S. 102 - 108, hier S. 106. 493 Johann Andreas Coppenstein: De fraternitatis Sanctissimi Rosarii Beatae Viriginis Mariae ortu, progressu, statu atque praecellentia … Köln: Peter Haack 1613, S. 376. Die Nomenclatura Fraternitatis solius Coloniensis (ebd., S. 376 - 378), die Coppenstein beschreibt und deren Einträge zwischen 1475 und 1479 er wiedergibt, ist heute nicht mehr auffindbar. Vgl. dazu auch Kliem 1963, S. 62 - 68. 494 Ritz 1976, hier S. 51. 495 Jäggi 2003, S. 94. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 195 <?page no="196"?> vergleichbare Gründung, 496 und auch die von André Schnyder untersuchten Ursulabruderschaften des ausgehenden Mittelalters entstanden gewissermaßen im Fahrwasser der Kölner Rosenkranzbruderschaft. 497 Auch über Deutschland hinaus verbreiteten sich Zusammenschlüsse nach dem Kölner Muster: »The rosary confraternity rapidly expanded and chapters of the brotherhood were founded in Germany, Brabant, Flanders, Portugal, Spain, and Italy. Membership numbers increased to at least 100,000 in 1482, and continued to grow.« 498 Die Zahl der belegten lokalen Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft vom letzten Viertel des 15. bis hinein ins 18. Jahrhundert ist enorm. Eine umfassende historische Überblicksarbeit zu diesen Bruderschaftsniederlassungen bleibt ein Forschungsdesiderat, einige regionalspezifische Einzelstudien jedoch illustrieren, in welchem Maße und in wie kurzer Zeit sich derartige Konfraternitäten etablierten. Neben der breiten Darstellung bei Meersseman, 499 der vor allem in Bezug auf den norditalienischen Raum eine große Zahl an Niederlassungen der Rosenkranzbruderschaft beschrieb, ist hier auch ein Aufsatz von Stefan Jäggi zu nennen, der für die Zentralschweiz insgesamt 127 derartige Vereinigungen nachwies, die sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gründeten. 500 Médard Barth arbeitete mit metikulöser Genauigkeit die Zusammenschlüsse im Elsass auf, wo er beginnend mit der Colmarer Gründung von 1484 und endend mit einer 1878 in Logelbach entstandenen Niederlassung 141 lokale Korporationen der Rosenkranzbruderschaft lokalisierte. 501 Eine Einzelstudie zur Colmarer Gebetsverbrüderung mit Abdrucken einiger lokaler Bruderschaftsschriften, die teils aus Alanus von Rupe zugeschriebenen Texten übersetzt wurden, fertigte Jean-Claude Schmitt an, 502 während Wolfgang Kliem ein Schlaglicht auf die ab 1486 dokumentierte Frankfurter Rosenkranzbruderschaft warf. 503 Besonders zu erwähnen ist eine jüngst erschienene Studie von Christian Ranacher, der als Fallbeispiele neben Frankfurt am Main auch die in den 1490ern bezeugte Niederlassung der Bruderschaft in Freiburg im Breisgau sowie eine bereits 1478 in Altenburg etablierte Korporation beleuchtet. 504 Diese Beispielliste ist hochgradig unvollständig - sie veranschaulicht dennoch die enorme Attraktivität und Anschlussfähigkeit des Kölner Bruderschaftsmodells. Dabei begründete dieser institutionsbildende Erfolg des Rosenkranzgebets nicht nur erstens seine feste Verankerung im katholischen Frömmigkeitsleben. Er konvergierte zweitens auch mit einer Vielzahl an Sonderformen des Kranzbetens, die in der Zahl und Art der verlangten Gebete, ihren Betrachtungspunkten sowie der Ausgestaltung der jeweils 496 Vgl. Griese 2011, S. 183. 497 Dies legt nicht nur die gemeinsame Überlieferung der Statuten der Straßburger Ursulabruderschaft mit einschlägigen Rosenkranztexten nahe (vgl. Schnyder 1986, S. 177 f.), sondern auch ein offensichtlich von der Kölner Gründungsgeschichte inspiriertes Narrativ einer Straßburger Bruderschaftsentstehung im Kontext des militärischen Konflikts mit Burgund (vgl. ebd., S. 216) und die Integration von rosenkrentz in das Straßburger Bruderschaftsgebet (ebd., S. 330, sowie S. 195 u. 199). 498 As-Vijvers 2007, S. 49. 499 Vgl. Meersseman 1977. 500 Jäggi 2003, insb. die Auflistung auf S. 100. 501 Médard Barth: Die Rosenkranzbruderschaften des Elsass, geschichtlich gewürdigt, in: Archives de l ’ Église d ’ Alsace, NS 16 (1967/ 1968), S. 53 - 108. 502 Vgl. Schmitt 1970. 503 Vgl. Kliem 1963. 504 Vgl. Ranacher 2022, insb. S. 168 - 180. 196 Kapitel II: Gezähltes Beten, meditative Schau und geistliche Blumen <?page no="197"?> gebethaft geflochtenen Kranz- oder Kronengabe stark variieren. 505 Diese Texte verdienten eine eigene Studie, die hier freilich nicht geleistet werden kann. Drittens wurde das Rosenkranzgebet im ausgehenden 15. Jahrhundert auch zum religiösen Bildgegenstand und entfaltete eine eigene Ikonographie. Hier sei auf die entsprechenden Arbeiten vor allem von Thomas Lentes, Anne-Winston Allen und Moritz Jäger verwiesen, die den Gebrauch visueller Rosenkränze eindrucksvoll nachzeichnen. 506 Mit dem Rosenkranz in Früh- und Einblattdruck beschäftigt sich zudem Sabine Griese, die beispielsweise aufzeigt, wie die Text-Bild-Gefüge der Ulmer Rosenkranzdrucke des 15. Jahrhunderts verschiedene Formen des personalisierbaren Mediengebrauchs in Gebet und Andacht anbieten. 507 In unterschiedlicher Akzentuierung folgen all diese Spielarten des Rosenkranzes prinzipiell der oben herausgestellten Trias von vertikalem Sprechen mit der Transzendenz im zählendem Reihengebet nach dem Vorbild des Psalters, einer inneren Figuration geistlich-konkreter Blumengaben und der durch meist schriftlich vermittelte Betrachtungspunkte stimulierten, horizontalen Immersion in eine Gegenwart des vom Text evozierten Heilsgeschehens. Dabei tritt in der Frühen Neuzeit jedoch vor allem die Komponente des handwerklichen Betens, das im päpstlichen Breve Consueverunt von 1569 bereits nicht mehr erwähnt ist, zunehmend in den Hintergrund und verschwindet schließlich ganz. 508 Für die reformatorische Kritik am Rosenkranzgebet, durch die es zunehmend zu einem kulturellen Marker und Identitätsausdruck des frühneuzeitlichen Katholizismus wird, geriet auch die komplexe Versenkung in die Heils- und Glaubensgegenstände, die mit den Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen als Kernelement dieser Frömmigkeitsform eingeführt worden war, aus dem Fokus. Gestritten wurde primär um den Sinn und Unsinn des Quantifizierens, die Vorstellung einer gnadenwirksamen Fürbitte Marias, die Idee des Losbetens aus dem Fegefeuer, die Organisationsform der Gebetsbruderschaft sowie um die beim Beten benutzte Perlenschnur als offen sichtbares Symbol altgläubiger Frömmigkeit. 509 505 Vgl. Lentes 2003; sowie die Beispielliste solcher Rosenkranzspielarten bei Kirfel 1949, S. 9 - 11. 506 Vgl. z. B. Lentes 1993; Lentes 2003; Winston-Allen 1997, S. 31 - 64; Moritz Jäger: Mit Bildern beten: Bildrosenkränze, Wundenringe, Stundengebetsanhänger (1413 - 1600). Andachtsschmuck im Kontext spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Frömmigkeit, Diss. Gießen 2011, S. 100 - 181. 507 Vgl. Griese 2011, S. 182 - 200. 508 Vgl. oben, Kap. II.3. 509 Siehe zusammenfassend Oelke 2003. 5 Rosenkranzbeten als Massenbewegung: Die Kölner Rosenkranzbruderschaft von 1475 197 <?page no="198"?> 6 Ausblick: Basisaspekte › handwerklichen Betens ‹ im 15. Jahrhundert Im Zentrum des nun zum Ende kommenden Kapitels steht eine sich über den Lauf von zwei Jahrhunderten hinweg ereignende Amalgamierung verschiedener Texte, Motive und Traditionen von und zu Gebet und Betrachtung. Der Rosenkranz des späten 15. Jahrhunderts bildet im Resultat eine komplexe Form, die ein genau zählendes Beten formelhafter Standardtexte mit einer christozentrischen Meditationsübung und der langsamen Anfertigung figurativer Votivgaben durch die hingebungsvolle Imaginationskraft der Betenden verbindet. Informiert durch wundersame Erzählungen wie Marien Rosenkranz und die Trierer Zwanzig-Exempel-Schrift, angeleitet von Gebets- und Andachtstexten wie den Rosenkranzklauseln des Dominus von Preußen oder den instruierenden Passagen in Alanus ’ von Rupe Tractatus apologeticus, getragen von Gemeinschaften wie der sich rasant ausbreitenden Rosenkranzbruderschaft und verbreitet zum Beispiel über Jakob Sprengers Statutendrucke entwickelte sich so eine Gebetsweise, die vertikale und horizontale Medialisierungen in einer Logik der inneren Fertigung zusammenlaufen lässt. Die Herstellung geistlicher Figurationen der Frömmigkeit, die im Gebet zählend ausgeformt und im Sinne der heilswirksamen Partizipation an einer gnadenträchtigen Gabenökonomie weggegeben werden können, verspleißt sich hier untrennbar mit einem durch Text und Bild stimulierten Eintauchen in die dabei betrachteten Gegenstände und Ereignisse. Ein letztes Textbeispiel mag auf den Punkt bringen, wie zählendes Sprechen mit der Transzendenz, meditatives Eintauchen und konkretisierende Figuration im spätmittelalterlichen Rosenkranz die drei Hauptfacetten einer Einheit bilden. In seinem Quodlibet gibt Michael Francisci an, der von Jakob Sprenger und ihm initiierte Zusammenschluss trage insgesamt drei Namen. Er nenne sich zuerst meist die Rosenkranzbruderschaft (fraternitas de Rosario), weil Maria in ihrer Rolle als gnadenbringende mediatrix et interventrix einer Rose zu vergleichen sei. 510 Diese Namenserklärung führt dabei geradezu eine in die Betrachtung der biblischen Figur immergierende marianische Andacht anhand des Rosenmotivs vor, wie sie schon im Rosengertlin verwirklicht ist. Zudem aber heiße die Vereinigung, so fährt Michael Francisci fort, aufgrund der Zahl der Psalmen, die der Anzahl der von der Bruderschaft wöchentlich verlangten Mariengrüße entspreche, auch »Bruderschaft des Marienpsalters« (fraternitas de psalterio Mariano) 511 . Hier steht nun das zählende Reihengebet im Vordergrund. Schließlich aber nenne sich die Bruderschaft auch fraternitas de serto, [ … ] quia sicut ex multis materialibus rosis, praecipue L, potest fieri materiale sertum, sic proculdubio ex L salutationibus velut ex L rosis offerimus beatae virgini spirituale sertum. 512 510 »Mittlerin und Retterin«, Michael Francisci: Quodlibet, Scheeben 1951, S. 144. 511 Ebd., S. 145. 512 »die Kranzbruderschaft, denn ebenso wie es möglich ist, aus vielen stofflichen Rosen, vorzugsweise aus 50, einen stofflichen Kranz zu machen, so bringen wir zweifelsohne aus 50 Grüßen gleich wie aus 50 Rosen der heiligen Jungfrau einen geistlichen Kranz dar«, ebd., S. 144. <?page no="199"?> Dies bezieht sich auf die Vorstellung, die Gebete der Gläubigen konkretisierten sich wundersam zu Kranzgaben, die Maria im Himmel entgegennähme. In den beiden Folgekapiteln werden sich diese drei Aspekte wie ein roter Faden durch die Übungen des › handwerklichen Betens ‹ ziehen, die dort in den Fokus rücken. Gerade die Marienmäntel, auf die im Anschluss ein Schlaglicht geworfen wird, haben viel mit der Text- und Frömmigkeitstradition des Rosenkranzes gemein, unterscheiden sich freilich nicht nur motivisch von den gebeteten Blumenkränzen, sondern setzen auch grundlegend andere Nuancierungen. Vor allem die Vorstellungsebene eines geistlichen Handwerks wird dort genauer thematisiert und auch theoretisiert. Dies geht oftmals einher mit einer allegorischen Überformung des dergestalt hervorgebrachten spirituellen Werkstücks. Letztere Qualität eignet unter den hier behandelten Rosenkranztexten vornehmlich nur dem Rosengertlin - in den Mantelgebeten und -andachten dagegen wird sie vielfach zum Kernstück. 6 Ausblick: Basisaspekte › handwerklichen Betens ‹ im 15. Jahrhundert 199 <?page no="201"?> III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="203"?> 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners Das wohl im späten 13. Jahrhundert im mitteldeutschen Raum abgefasste Marienmirakel Heinrichs des Klausners 1 gehört, obzwar sich insbesondere sein Epilog an der rhetorischen Form des Gebets orientiert, 2 nicht ins Korpus der Gebetbuchliteratur des deutschsprachigen Mittelalters. Dennoch enthält diese in Reimpaarversen gehaltene Mirakeldichtung eines ansonsten unbekannten Autors den wohl frühesten volkssprachigen Beleg für eine dem Rosenkranz verwandte Form des Betens, die sich in den darauffolgenden zwei Jahrhunderten zu erheblicher Prominenz aufschwingen sollte: 3 Über das Marienmantelgebet, durch das aus Ave-Reihen und anderen Frömmigkeitsübungen ein zugleich innerlich konkretisiertes sowie zumeist mit komplexer allegorischer Bedeutung aufgeladenes Gewand für die Gottesmutter entsteht, wird an dieser Stelle erstmalig narrativ reflektiert. Der Plot des Marienmirakels, das literaturhistorisch wohl ins Umfeld der Legendendichtung des Passional einzuordnen ist, 4 beginnt ähnlich wie Marien Rosenkranz mit dem in der religiösen Kleinepik verbreiteten »Motiv der naiven Verehrung eines kindlichen Protagonisten«: 5 Ein gelehriger doch bettelarmer Kathedralschüler darf, da er so unbegütert ist, daz he nicht zu den zîten dû / geleisten mochte zwêne schû, 6 nicht am Chorgebet zu Mariä Himmelfahrt teilnehmen. Barfuß den Kirchenchor zu betreten ist ihm untersagt, und mehrfach wird er dabei ertappt, wie er sich dennoch hineinzuschleichen versucht. In frommer Verzweiflung wendet der Protagonist sich schließlich an die von ihm innig 1 Ediert als [Heinrich der Klausner]: Marienlegende, in: Mitteldeutsche Gedichte, hg. v. Karl Bartsch, Stuttgart 1860 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 53), S. 1 - 39. Zusätzlich herangezogen wurde hier der zuverlässige, leider aber bloß sehr schwer erhältliche diplomatische Abdruck des unikal überlieferten Textes samt Faksimile der Handschrift, Übersetzung und Kommentar durch Jaromír Zeman (Hg.): Die Marienlegende des Heinrich Clûsenêre. Manuskript, diplomatischer Abdruck, Übersetzung, Kommentar, Brno 2011. Alle folgend wiedergegebenen Übersetzungen stammen von Zeman. 2 Vgl. dazu Thelen 1989, S. 357 f. 3 Im Gegensatz zum Rosenkranz ist das Mantelgebet bislang noch nicht gut untersucht. Wesentlich liegen hierzu die Beiträge von Lentes 1993 und Lentes 1996, S. 481 - 489 vor, auf denen die folgenden Überlegungen und Untersuchungen aufbauen. Einige Überlegungen, an die dieses Kapitel anschließt, habe ich selbst veröffentlicht in den Beiträgen Buschbeck 2022 sowie in Björn Klaus Buschbeck: Ein vollkommenes Handwerk des Geistes? Gebet und Andacht als produktive Tätigkeiten im Alemannischen Marienmantel und bei Dominikus von Preußen, in: Vita perfecta? Zum Umgang mit divergierenden Ansprüchen an religiöse Lebensformen in der Vormoderne, hg. v. Daniel Eder, Henrike Manuwald u. Christian Schmidt, Tübingen 2021 (Otium 24), S. 245 - 278. Zu textilem Beten im Zusammenhang der Helftaer Mystik vgl. auch Racha Kirakosian: From the Material to the Mystical in Late Medieval Piety. The Vernacular Transmission of Gertrude of Helfta ’ s Visions, Cambridge 2021, S. 196 - 204. 4 Vgl. zu Überlieferung und Kontext der Marienlegende Hans-Georg Richert: Art. Heinrich der Klausner, in: 2 VL 3 (1981), Sp. 758 f.; sowie ausführlicher die Besprechung des Textes bei Jaromír Zeman: Die Marienlegende des Heinrich Clûzenêre, in: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik 16 (2002), S. 11 - 32. 5 Eichenberger 2015, S. 355. 6 »dass er sich da unter diesen Umständen / nicht ein Paar Schuhe leisten konnte«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 194 f. <?page no="204"?> verehrte Maria und bittet, daz unse vrouwe zwêne schû / ime zu stûre wolde gebin. 7 Als dieses Ersuchen nicht sofort erfüllt wird, beginnt er trotzig damit, stattdessen Maria mit Gebeten einzukleiden, übertrifft also die erbetene und ausgebliebene materielle Kleidergabe durch ein überreiches Geschenk aus überstofflichen Kleidern, die als Produkte gezählten Betens präsentiert werden. 8 Ich will dich cleiden, ab ich mûz / von der scheiteln ûf den vûz, 9 erklärt der junge Mann, und betet daraufhin jeweils hundert Ave Maria für den Rock, die Schuhe, Surcot, Mantel, Schleier und Krone der Gottesmutter. Kaum hat er dieses Gebet aber beendet, werden in einer Schlüsselszene des Mirakels die zunächst nur innerlich hergestellten vestimentären Gegenstände dem Schüler auch äußerlich evident. So erblickt er nämlich, daz ein vrouwe quam / gegangin von dem alter dar. 10 Es ist die Jungfrau Maria, die sich gehüllt in einen Ornat aus Gebetstext offenbart: Überall auf ihren prächtigen Kleidern glänzt auf wundersame Weise gescriben daz âvê Marjâ / mit guldînen bûchstabin. 11 Darüber, daz die rede dô geschach, 12 dass also das Gebet auf dem Gewand Marias aufstrahlt, solle man sich nicht wundern, betont die Legende, denn als das Reihengebet gesprochen worden sei, wurden zu der stunde an unser vrouwen cleider sâ sechs hundirt âvê Marjâ gar nâch meisterlîchen seten wol gescriben und gesneten. 13 Das Gebet des Schülers, so impliziert diese Erzählung, gleiche einer geistlichen Handarbeit, einem Weben und Schneidern an den Gewändern der Gottesmutter, deren schlussendlicher Urheber Gott selbst sei: Daz waz ein lobelîch gewant, / daz got mit sînes selbis hant / gezîret und geschônet hât / allenthalbîn an der nât. 14 Diese Betonung eines göttlichen Ursprungs ist aus dem Material der Marienkleider heraus zu verstehen, also der Gebetsformel des Ave Maria. Der von Gott gesandte Engelsgruß der Verkündigung, Ave gratia plena Dominus tecum benedicta tu in mulieribus 7 »dass ihm unsere Frau ein Paar Schuhe / als Aushilfe schenken möge«, ebd., V. 358 f. 8 In der an dieser Stelle ausgiebigen Thematisierung von Dienst und ausbleibendem Lohn scheint der Text auf aus der höfischen Literatur bekannte Motive des Frauendienstes zurückzugreifen und gebrochen Bezug zu nehmen. 9 »Ich will dich kleiden, wenn ich darf, / von dem Scheitel bis zum Fuß«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 416 f. 10 »dass eine Frau kam / gegangen von dem Altar her«, ebd., V. 503 f. 11 »geschrieben das Ave Maria / mit goldenen Buchstaben«, ebd., V. 578 f. Auf dieses in spätmittelalterlichen Mirakeln weitverbreitete Motiv der wundersamen Gebetsinschrift gehe ich genauer ein in Buschbeck 2022b. 12 »dass die Rede da geführt wurde«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 581. 13 »wurden in diesem Augenblick / an die Kleider unserer Frauen sogleich / sechshundert Ave-Maria / gar nach meisterlicher Art / wohl geschrieben und geschnitten«, ebd., V. 584 - 588. 14 »Dies war eine feierliche Kleidung, / welche Gott mit seiner [eigenen] Hand / geziert und verschönt hat«, ebd., V. 589 - 592. Im Kontext geistlicher Textilschilderungen entspricht dies einer Umkehrung: Nicht Maria wird wie sonst üblich als Textilhandwerkerin gezeichnet, die für ihren Sohn den heiligen Rock fertigt, sondern Gott selbst hat Kleider für sie gefertigt. Zur literarischen Darstellung der Fertigung des heiligen Rocks im Mittelalter vgl. ausführlich Henrike Manuwald: Der Heilige Rock - gestrickt. Magischer Realismus in Bruder Philipps Marienleben? , in: Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Bruno Quast u. Susanne Spreckelmeier. Berlin/ Boston 2017 (Literatur - Theorie - Geschichte 12), S. 203 - 220. 204 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="205"?> (Lc 1,28), bildet, so lässt sich die Textpassage verstehen, gleichsam die ursprüngliche Anlage und den Grundstock der Gewänder der Gottesmutter, während die Gebete der Gläubigen zur Pracht dieser Kleider unterstützend hinzufügen. Somit ergibt sich eine Art handwerklicher Zusammenarbeit zwischen Gott und den Betenden, die im Aufsagen des Mariengrußes das göttliche Werk zum Lobe Marias fortführen und es dabei sogar noch zu verbessern vermögen. Die literarische Darstellung der so entstehenden Marienkleider ist hierbei seltsam paradox angelegt. Denn obgleich der Text die überwirkliche Pracht dieses Gewandes immer wieder herausstellt, ist es dem Leser geradezu unmöglich, es getreu dem Marienmirakel bildhaft vorzustellen. Trotzdem jedoch widmet Heinrich dem Lobpreis, der Beschreibung des Gebetskleids und der Schönheit seiner Trägerin mehr als hundert Verse, die zwar auf hohem poetischen Niveau die ästhetische Wirkung der Marienerscheinung schildern, die Benennung greifbarer Bilddetails dabei allerdings umsteuern. 15 Werden ekphrastische Schilderungen in der Literatur des Mittelalters mit Haiko Wandhoff als »imaginierte sprachliche Bildkunstwerke« begriffen, 16 so heben die Umschreibungen der Marienlegende im Kontrast hierzu gerade den Status der Marienkleider als bildliches Sprachkunstwerk hervor. Zunächst wird dazu in einem Unsagbarkeitstopos, also unter »Betonung der Unfähigkeit, dem Stoff gerecht zu werden«, 17 die Unmöglichkeit einer angemessenen Darstellung der Gebetskleider hervorgehoben, in denen Maria in Anlehnung an das biblische Motiv der apokalyptischen Frau (vgl. Apc 12,1 - 5) überhell und inkommensurabel schöner als sämtliche irdische Frauen erstrahlt. Selbst wenn, so führt der Erzähler aus, er all sein dichterisches Können darauf aufwände, daz ich vollobete desin schîn, / so inmac iz trûwen nicht gesîn. 18 Dies ist hier nicht allein als hypertropher Schönheitspreis zu lesen, wie er für Mirakelerzählungen, die »einen enormen Bedarf an panegyrischer Phraseologie« aufweisen, als charakteristisch gelten darf 19 - vielmehr deutet es auch darüberhinausgehend auf die unbegreifliche Verfasstheit der Marienkleider, die der Schüler zwar visionshaft schaut, die jedoch, so wird herausgestellt, in erster Linie aus Worten bestehen: An unser vrouwen crône dâ stunt daz âvê Marjâ, an dem slêger dort was gescriben das sûze wort. 20 15 Vgl. ebd., V. 502 - 605. An greifbaren Bildelementen wird hier neben dem himmlischen Lichtglanz, in dem Maria lûtir unde reine (»klar und rein«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 506) erstrahlt, sowie der unten noch thematisierten Goldschrift lediglich allgemein erwähnt, die Gottesmutter sei mit edeleme gesteine / und mit rotîm golde gekrönt gewesen (»Edelsteinen und mit rotem Gold«, ebd., S. 507 f.). Ansonsten bleibt der Text gezielt bei Abstrakta und Vergleichen. 16 Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin/ New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3), S. 3. Hervorhebung im Original. 17 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 166. 18 »diese Erscheinung vollauf zu loben, / so kann dies wahrhaftig nicht [möglich] sein«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 575 f. 19 Curtius 1948, S. 167. 20 »Da auf der Krone unserer Frau / stand das Ave Maria, / dort auf dem Schleier / war das süße Wort geschrieben«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 593 - 595. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 205 <?page no="206"?> Überall auf den gebeteten Kleidern erstrahlt als goldene Inschrift der Mariengruß. Die gebeteten Mariengewänder sind so als Sprachkleider gezeichnet, sie stellen im wahrsten Sinne Wort- und Textgeflechte dar. Sie sind gefertigt aus dem Stoff der Gebete des frommen Kathedralschülers, die auf eine Weise gleichzeitig als Text und textiles Material vorgestellt werden müssen, die im Bild und seiner Beschreibung nicht recht realisierbar scheint. In der Sprache dahingegen, dies deutet die Schilderung von Heinrichs Marienmirakel an, sind Wort und Gewand von vornherein enggeführt, leitet sich doch das als Schriftbezeichnung gebräuchliche lateinische textus vom Partizip des Verbs texere ( › weben ‹ ) ab. Vestimentäre und textilhandwerkliche Bilder gehören also nicht nur epochenübergreifend zu den verbreitetsten Metaphern des Literarischen, sie sind bereits in der Etymologie des Wortes › Text ‹ angelegt. 21 Wie zuletzt Manfred Eikelmann aufzeigte, sind komplexe semantische Vermischungen und Gleichsetzungen textueller und textiler Begriffe, die auf diese gemeinsame Etymologie abheben, im Mittelalter überaus verbreitet. Einerseits »fasst die Webmetapher den für die christliche Religion fundamentalen Vorgang der Text- und Buchwerdung in eine traditionsreiche Bildlichkeit«, andererseits erweist sich dabei auch die »Bildlichkeit des Webens, Flechtens und Spinnens als Grundmetaphorik, die [ … ] für das Denken von Literatur produktiv ist.« 22 Im Marienmirakel Heinrichs des Klausners wird aus dieser Metaphorik geradezu eine Identität von Gebetswort, Dichtungswort, erzähltem und himmlischem Kleidungsstück abgeleitet. Für die Fragen sowohl nach der Verfasstheit der gebeteten Marienkleider wie auch nach dem Status der dafür gesprochenen Gebete hat dies weitreichende Implikationen. Denn die aufgesagten Ave Maria des Kathedralschülers werden damit nicht bloß im Vollzug als geistliche Handwerksarbeiten präsentiert, sondern auch als überstoffliches Material vorgestellt, das die in der Vision geschauten Gewänder ausmacht. Dieser Marienornat wiederum wird zwar als visuell evident werdender Gegenstand beschrieben, bildlich zu fassen ist er jedoch nicht recht. Allein die auf ihm aufleuchtende Goldschrift der Gebetsworte ist der Erzählung greifbar und wird somit zugleich zum Ausgangs-, Kristallisations- und Fluchtpunkt einer Figurationsdynamik des Betens. Die Unterscheidungen zwischen Text und Textilie, Sprachlichem und Gegenständlichem, Medium und Medialisiertem, Vorstellen und Herstellen verwischen dabei aufs Gründlichste. Durch das Mantelgebet entstehen so aus Sprache unvergleichliche Dinge, die zwar nicht der Sphäre des physisch Konkreten angehören, sich aber dennoch als geistlich-konkrete Realien erweisen, denen eine heilsvermittelnde Geschehensmächtigkeit eignet. So zeitigt die Gabe der gebeteten Gewänder im Fortlauf der Erzählung eine Gnadenwirkung: Maria 21 Wie produktiv Textilmetaphern auch in der modernen Literatur bleiben und dabei sowohl zur Bezeichnung von Vorgängen der Textherstellung als auch zur Charakterisierung der Struktur literarischer Texte dienen, zeigt die komparatistisch angelegte Arbeit von Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln/ Weimar/ Wien 2002. 22 Manfred Eikelmann: textus/ text im religiösen Diskurs. Beobachtungen zur semantischen Vielfalt der Wortverwendung, in: Vielfalt des Religiösen. Mittelalterliche Literatur im postsäkularen Kontext, hg. v. Susanne Bernhardt u. Bent Gebert, Berlin/ Boston 2021 (Literatur - Theorie - Geschichte 22), S. 87 - 112, hier S. 89. Siehe dazu zuvor auch die Beiträge in Ludolf Kuchenbuch u. Uta Kleine (Hgg.): Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216). 206 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="207"?> offenbart dem Kathedralschüler als Dank für das fromme Geschenk die Geschichte ihrer Himmelfahrt und bietet ihm an, zwischen einem Bischofsamt und der sofortigen Aufnahme ins Himmelreich zu wählen. 23 (Selbstverständlich entscheidet sich der Protagonist für letzteres.) Offenbar besitzt das Mantelgebet, zumindest in der Erzählwelt des Marienmirakels, eine Qualität, die es dem Betenden ermöglicht, die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz durch eine geschenkhafte Zuwendung zu überbrücken und sich auf diese Weise in eine heilsmächtige Austauschbeziehung zum Heiligen zu setzen. 24 Ebenso wie die oben behandelten Rosenkränze stellt der Marienmantel folglich nicht bloß ein frommes Gedankenspiel dar, sondern erhebt den Anspruch, wirklichkeitsmächtige Figurationen der Frömmigkeit hervorzubringen. Stärker noch als das Rosenkranzgebet laden, wie ich unten ausführe, entsprechende Gebets- und Andachtsübungen sowohl zu einem ästhetisch intensiven Eintauchen in die Bildlichkeit des dergestalt gebethaft produzierten Dings wie auch zur allegorischen Ausdeutung seiner Einzelelemente ein. Das Marienmirakel Heinrichs des Klausners treibt die einem solchen Beten zugrundeliegende Vorstellung einer Figurationskette von frommen Texten und himmlischen Textilien reizvoll auf die Spitze, indem es das Beten seines Protagonisten mit verschiedenen vorgestellten, erscheinenden und erzählten Kleidungsstücken in ein sich steigerndes Entsprechungsverhältnis setzt. Dieses beginnt bei den innig herbeigewünschten Schuhen und den geistlich hergestellten Marienkleidern. Letztere bringt der Protagonist der Gottesmutter ja gerade im Kontext einer Bitte um materielles Schuhwerk dar. Im Gegenzug belohnt die heilige Jungfrau dieses aus Worten gefertigte Kleidungsgeschenk und übertrifft das ihm zugrundeliegende Anliegen, indem sie den Schüler nicht nur wie erwähnt zwischen ewigem Leben und der Bischofswürde wählen lässt, sondern ihm auch wiederum eine Textilerzählung offenbart. Die Geschichte von Marias Himmelfahrt mit sêle und mit lîbe gar, 25 die sie dem Protagonisten anvertraut und die dieser vor seinem Tode weitererzählt, wird bezeugt durch zwei vestimentäre Gegenstände, die auf Erden zurückblieben. Diejenigen nämlich, die nach ihrer leiblichen Himmelfahrt nach ihr suchten, fanden nichts als ein gurtil kleine / unde ein sleiger reine. 26 Diese beiden Gegenstände, die im zeitgenössischen Reliquienkult prominente Rollen spielten, 27 sind im Gegensatz zu den herbeigewünschten Schuhen und dem gebeteten Kleid zwar als stofflich auf Erden vorhanden geschildert - jedoch sind sie in das Textgeflecht einer Binnenerzählung von Mariä Himmelfahrt eingewoben, mit der, so berichtet später der Schüler, Maria dancte mir 23 Hier fügt sich das Marienmirakel in ein größeres Korpus zeitgenössischer Erzählungen zur Himmelfahrt Marias ein, vgl. dazu detailliert Zeman 2011, S. 22 - 28. 24 Im Sinne der von Berndt Hamm vorgeschlagenen Typologie spätmittelalterlicher Gnadenmedialität ist das Mantelbeten somit als Partizipationsmedium zu verstehen, »durch das dem [ … ] Menschen die Basismedialität gnadenreicher Heiligkeit zugeeignet und von ihm subjektiv-aktiv angeeignet wird, und zwar nicht nur die heiligende, schützende und rettende Kraft Christi, sondern auch die Marias, der Heiligen und Engel.« (Hamm 2009, S. 36). 25 »mit Seele und gar mit Leib«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 869. 26 »nur einen kleinen Gürtel / und einen reinen Schleier«, ebd., V. 178 f. 27 Eine Sammlung von Belegen zur mittelalterlichen Reliquienverehrung von Schleier und Gürtel im Kontext der Legenden um Mariä Himmelfahrt findet sich bei Zeman 2002, S. 16 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 207 <?page no="208"?> der rîchen wât, / di ir mîn munt gegebin hât. 28 Das sich so entfaltende Verhältnis- und Steigerungsspiel von abwesenden, erbeteten, offenbarten und erzählten Textilien weist auch auf die offenbleibende Frage, welche dieser Kleidungsstücke es nun sind, die den wundersamen Gnadenerweis der Gottesmutter vermitteln: die zur Andacht anregenden fehlenden Schuhe, der gebetete Marienornat, die wundersamen Sprachkleider der Vision oder die marianischen Himmelfahrtsreliquien? In Bezug allerdings auf die in ihm beschriebene Gebetspraxis streicht das Marienmirakel Heinrichs des Klausners literarisch kunstvoll einen Komplex von drei Themen und Fragen hervor, an denen sich das folgende Kapitel orientiert. Denn erstens verschränkt diese Erzählung Gebetsworte und textile Dinge auf eine Weise, die nach genauerer Klärung des hier aufgeworfenen Verhältnisses von Sprache und geistlich-konkretem Gegenstand verlangt. Was soll beim handwerklichen Beten woraus hergestellt werden, und welche Ansprüche auf innere und äußere Wirklichkeit sind mit derartigen Figurationen der Frömmigkeit verbunden? Besonders der facettenreiche Konnex zwischen dem Reihengebet »als Medium, um das religiöse Leben zu verinnerlichen«, 29 und dem hierdurch nicht nur vermittelten, sondern sogar produzierten und schließlich gabenhaft veräußerten Ding scheint beleuchtenswert. Zweitens schildert Heinrich der Klausner das Beten des Protagonisten zunächst als private Hinkehr zu Maria, an der durch die Weitergabe der offenbarten Himmelfahrtserzählung schließlich jedoch auch andere partizipieren und ihrerseits zur Marienverehrung angeregt werden. Im unten untersuchten Alemannischen Marienmantel ebenso wie im darauf aufbauenden Pallium des Dominikus von Preußen wird das Mantelgebet dahingegen von vornherein als gemeinschaftliche Frömmigkeitspraxis konzipiert. Wie also inszenieren und konstruieren derartige Texte und die von ihnen angeleiteten Übungen Formen religiöser Gemeinschaftlichkeit sowohl auf der horizontalen Ebene der Gläubigen untereinander als auch auf der vertikalen Ebene einer gesuchten Gemeinschaft mit Maria und den Heiligen? Zum Dritten und damit verbunden rückt auch das beim textilen Beten evozierte Ineinander einer immersiv erfahrenen und durch den Text stimulierten Gegenwärtigkeit des gefertigten Gegenstandes sowie einer an diese Gegenwärtigkeit gebundenen Zeichenhaftigkeit in den Fokus. Gebetete Gewänder vereinen, so wie schon der Marienornat bei Heinrich dem Klausner zugleich visionshaft geschauter Gegenstand und Zeichen für Marias Stand als Himmelskönigin ist, präsentische Momente des Ästhetischen mit komplexer Semantik und semiotischen Herausforderungen an das Publikum entsprechender Texte. Wie nun lassen sich diese Überführungsverhältnisse nicht nur zwischen gebetetem Ding und gebetetem Text, sondern auch zwischen gebethaft produziertem, geistlich-konkretem Gegenstand und einem abstrakten Sinn, der sich an diesem Gegenstand zumeist auf dem Wege der Allegorie entfaltet, befriedigend fassen? In den Folgeabschnitten dieses Kapitels gehe ich zunächst anhand einiger Beispiele aus der Helftaer Mystik, dem großen Korpus spätmittelalterlicher Mirakel und der ikonographischen Tradition der Schutzmantelmadonna auf den motiv- und frömmigkeits- 28 »dankte mir für die herrliche Kleidung, / die ihr mein Mund geschenkt hat«, Heinrich der Klausner: Marienlegende, V. 992 f. 29 Angenendt/ Lentes 2000, S. 114. 208 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="209"?> geschichtlichen Hintergrund textiler Frömmigkeitsübungen ein. Anschließend wird am Beispiel des Alemannischen Marienmantels, eines nah am Beginn dieser Untergattung der Gebetbuchliteratur stehenden Texts, der Zusammenhang zwischen gemeinschaftlicher Herstellung eines geistlichen Werkstücks aus gezählten Frömmigkeitsleistungen, dem Versenken der einzelnen Betenden in textuell evozierte Wahrnehmungsgegenstände sowie der allegorischen Zeichenhaftigkeit des gebethaft produzierten Mantels diskutiert. Eine darauffolgende Untersuchung des Pallium beate Marie virginis des Dominikus von Preußen, einer um 1445 entstandenen Propagierung des Mantelbetens in Traktatform sowie der zugehörigen ripuarischen und lateinischen Dichtungen erlaubt es, ein Schlaglicht auf die mit derartigen Frömmigkeitsformen verbundene Konzeption einer übermateriellen Stofflichkeit zu werfen. Auch die Gemeinschaftlichkeit des Mantelgebets und die mit ihm verbundene Hoffnung einer von der geistlichen Gabe ausgelösten Heilswirkung nehme ich anhand von Dominikus ’ Schriften, die diese Gebetsweise theologisch erläutern und zu fundieren suchen, in den Blick. Abschließend widme ich mich in einem kurzen Ausblick summarisch dem weiteren Korpus geistlicher Manteltexte des Spätmittelalters und ihren Nachwirkungen in der Frühen Neuzeit. Dabei bildet, die obigen Ausführungen auf einen Nenner bringend, eine doppelte Beobachtung die Grundlage dieser Untersuchungen: Erstens wird durch Texte wie den Alemannischen Marienmantel eine innere Figuration des Betens angeleitet, die als wirklichkeitsstiftende Verdinglichung zu fassen ist. Diese zielt auf die Produktion eines Textilgegenstands aus Gebetsworten und anderen Frömmigkeitshandlungen, deren Ergebnis, wie insbesondere bei Dominikus von Preußen ausgeführt, auf den ersten Blick paradox als die Dinge übersteigendes geistliches Ding gefasst wird. Die Anfertigung eines solchen Gebetskleids, das in der Regel als Gabe für Maria gedacht ist, ist dabei prinzipiell mit der Hoffnung auf eine Gnadenwirkung verbunden. Zweitens aber ist gebeteten Kleidern meist auch eine allegorische Zeichenhaftigkeit zu eigen, durch die sie z. B. christliche Tugenden oder Episoden aus der Heilsgeschichte repräsentieren. Das gebetete Ding weist somit über sich hinausgehend auf Nicht-Dingliches und stimuliert eine meditative Betrachtung des so Verwiesenen. 1.1 Lebens- und Blumenkleider: Geistliche Textilien in der Helftaer Mystik Grundlegend wichtig für das Verständnis textiler Gebetsübungen sind die Text- und Motivtraditionen, auf die sie referieren und zurückgreifen. Folgend werfe ich deshalb einleitend einen Blick auf die dem Mantelbeten zugrundeliegenden Verquickungen von Mirakelerzählungen, Topoi der Viten- und Offenbarungsliteratur und marianischer Ikonographie. Diese religiöse Praxis ruht, so zeigt sich hierbei, auf einer Verbindung mehrerer vorgängiger Vorstellungen und Konzepte einer vestimentären Frömmigkeit. Das Marienmirakel stellt bei weitem nicht den einzigen Text dar, der diesseitige fromme Taten und Worte mit jenseitigen Kleidern gleichsetzt. Prominent tritt dieses Motiv beispielsweise auch bei Mechthild von Magdeburg hervor. Der Helftaer Mystikerin wird gegen Ende des zweiten Buchs des Fließenden Lichts der Gottheit in einer Vision offenbart, 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 209 <?page no="210"?> dem Schreiber (oder den Schreibern) 30 ihres Werks würden nach ihrem Tod und ihrer Einkehr ins Himmelreich allú disú wort des bu ͦ ches an sinem obersten cleide stan eweklich offenbar in minem riche mit himmelschem lúhtendem golde ob aller siner gezierde wesen geschriben. 31 Hier geht es zwar nicht direkt um ein handwerkliches Beten der Schreiber, die sich durch ihre Tätigkeit einen himmlischen Sprachmantel erwerben, wohl aber um die damit verwandte Idee, frommes Handeln manifestiere sich im Himmel als Goldschrift an der Kleidung der Heiligen und verstorbenen Gläubigen. 32 Durch die Vervielfältigung des Fließenden Lichts, so legt Mechthilds Vision nahe, fertigten ihre Kopisten sich ein zu dieser Abschreibtätigkeit analoges Prachtgewand an, das im Himmelreich einen besonderen Gnadenstand markieren werde. Wenn das Gebet, mit Christian Kiening gesprochen, grundsätzlich »einen Vollzug dar[stellt], getragen von der Annahme oder Hoffnung, die Welt mithilfe der Sprache (zumindest im Kleinen) verändern zu können«, 33 so laufen sowohl das Bild einer himmlischen Einkleidung in Mechthilds Fließendem Licht wie auch die Vorstellung einer Gnadenwirksamkeit des Mantelbetens auf die Idee hinaus, das Beten in der Welt des Diesseits konkretisiere sich in einem jenseitigen Analogon. In der Helftaer Mystik findet sich das Motiv der so durch gottgefällige Worte oder Taten wundersam hervorgebrachten überweltlichen Kleider in verschiedenen Variationen wieder. So berichtet der Legatus divinae pietatis im vierten Buch, 34 Jesus habe Gertrud von Helfta zu Ostern in einer Vision vor Gott geführt, gekleidet in einen Ordenshabit aus ihren Tugenden und Sünden: Suscipiens eam Filius Dei praesentavit Deo Patri indutam tunica Religionis; quae tunica videbatur ex tot partibus distinctim composita, quot annos vixerat in Religione; ita quod inferior pars tunicae reputabatur pro primo anno, secunda pro secundo anno, et sic deinceps usque ad annum in quo tunc erat. Videbaturque tunica illa ita obpansa et extensa, quod nullius omnino plicae umbra quidquam in ea contegere poterat, sed in quolibet anno distinctim apparebant annotati omnes dies et horae, et insuper singulae cogitationes, verba et opera, tam bona quam mala, quae illo anno peregerat de die in diem, de hora in horam, de cogitatione in cogitationem, de verbo ad verbum, de opere ad opus. 35 30 Die einzig vollständig erhaltene und deshalb editionsbestimmende Einsiedler Handschrift des Fließenden Lichts ist in Bezug auf die Anzahl der hier gemeinten Schreiber widersprüchlich; sie verwendet sowohl den Plural wie auch den Singular. Ich verstehe diese umstrittene Passage hier im Sinne der von Nigel F. Palmer vorgeschlagenen Lesart, nach der der Text mit der Singularform prinzipiell »jeden Schreiber« meint, also auf alle Kopisten und nicht auf eine der Autorin bekannte Einzelperson abzielt (Nigel F. Palmer: Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg, in: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg. v. Wolfgang Harms, Klaus Spekkenbach u. Herfried Vögel, Tübingen 1992, S. 217 - 235, hier S. 225). 31 »alle Worte dieses Buches an seinem Obergewand in Ewigkeit offen sichtbar sein in meinem Reich, mit himmlischem, leuchtendem Gold über all seinem (übrigen) Schmuck geschrieben«, Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela-Vollmann Profe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek Deutscher Klassiker 181, Bibliothek des Mittelalters 19), S. 138f [II,26]. 32 Einen Überblick zu diesem Motiv gebe ich in Buschbeck 2022b. 33 Kiening 2008, S. 102. 34 Zur komplizierten Entstehungsgeschichte dieses Werks siehe Nemes 2014. Wenn im Folgenden von Gertrud die Rede ist, so ist damit ausdrücklich in Nemes ’ Sinn die im Legatus literarisch konstruierte und auratisierte Figur der begnadeten Visionärin gemeint, nicht eine historisch reale Autorin, deren religiöses Erleben sich im Text vermeintlich widerspiegeln würde. 35 »Da nahm der Sohn Gottes sie auf und stellte sie, mit dem Ordenskleid geschmückt, Gott dem Vater vor. Das Kleid aber schien aus so vielen besonderen Teilen zusammengesetzt, als sie Jahre im Orden 210 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="211"?> Die vita religiosa, so impliziert Gertruds Vision, kommt einer Investitur fürs Himmelreich gleich. Fromme Werke ebenso wie eventuelle Verfehlungen weben sich in das wundersame Gewand hinein, sie präfigurieren das himmlische Kleid und bilden geradezu sein Ursprungsmaterial, so dass anhand dieses überweltlichen Habits im Angesicht Gottes gegenständlich zutage tritt, wie Gertruds irdischer Lebensweg sich in der Zeit gestaltete. 36 So erscheinen sogar gute Taten, die aus nicht vollkommen hehrer Motivation heraus erbracht wurden, velut quaedam gemmulae luto fragili infixae, quae nutantes tamquam casurae vix continerentur. 37 Die Beschaffenheit des jenseitigen Kleidungsstücks entspricht, mehr noch als die himmlischen Schriftmäntel bei Mechthild von Magdeburg, dem Handeln, Denken und Sprechen seiner Trägerin im Diesseits. Immanenz und Transzendenz stehen also in dem durch die Visionsschilderung eröffneten Vorstellungsraum in einem direkten Bezugs- und Bedingungsverhältnis, wenn sich immanent abstrakte Gedanken und ephemere Handlungen im transzendenten Lebenskleid dauerhaft und gegenständlich verdichten. Nun besteht das Ordenskleid, das Gertrud in dieser Vision schaut und trägt, erstens nicht aus Gebeten oder Frömmigkeitshandlungen, sondern vielmehr aus ihren sämtlichen Worten, Taten und Gedanken, kurzum aus ihrem gesamten Ordensleben. Außerdem wird dieses Gewand, anders als im Marienmirakel oder im Falle des Rosenkranzgebets, nicht als Gabe hergestellt. Stattdessen fungiert es hier als Instrument der Selbsteinkleidung: Gertrud erscheint vor Gott in einem Habit, der den Verlauf ihres geistlichen Lebens gleichsam offenlegt und aus ihm besteht. Dieses Kleidungsstück, dessen positive Qualitäten anschließend durch die Fürsprache Christi hervorgehoben werden, 38 zeigt also nicht bloß oder bildet ab, es ist geradezu Gertruds Leben. Es stellt darin sowohl die Verheißung einer figuralen Erfüllung der auf Gott gerichteten vita religiosa der Mystikerin dar als verlebt hatte; der untere Teil desselben wurde für das erste, der folgende für das zweite Jahr und so fort gerechnet bis zu jenem, worin sie sich damals befand. Das Kleid erschien so ausgebreitet und ausgespannt, dass auch nicht der Schatten einer einzigen Falte etwas daran bedecken konnte, sondern in jedem Jahr traten besonders angemerkt hervor alle Tage und Stunden und überdies die einzelnen Gedanken, Worte und Werke, sowohl gute wie böse, welche sie in dem Jahre von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, in Gedanken um Gedanken, in Wort um Wort und Werk um Werk vollbracht hatte«, Gertrude d ’ Helfta: Œ uvres Spirituelles, Bd. 4: Le Héraut. Livre IV, hg. u. übers. v. Jean-Marie Clément u. Bernard de Vregille, Paris 1978 (Sources chrétiennes 255), S. 268 [IV,28]. Übersetzung entnommen aus Gertrud die Große: Gesandter der göttlichen Liebe, nach der Ausgabe der Benediktiner von Solesmes übers. v. Johannes Weißbrodt, Stein am Rhein 2 2001, S. 308 f. 36 Zu dieser Episode des Legatus, den dahinterstehenden Motivtraditionen und dem literarischen Phänomen einer Vergegenständlichung des Zeitlichen im Kleiderbild vgl. Racha Kirakosian: Intertextuelle Textilien: Imaginäre Kleider und Temporalität bei Alanus ab Insulis und Gertrud von Helfta, in: PBB 142.2 (2020), S. 236 - 266; sowie Kirakosian 2021, S. 175 - 196. 37 »wie kleine Edelsteinchen, an flüchtigen Staub angeheftet, so dass sie hin- und herschwankten und, wie im Begriff zu fallen, kaum hängen bleiben konnten«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 270 [IV, 28]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 309. 38 Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 270 [IV, 28]: Orante autem pro ea Filio Dei et suam innocentissimam ac perfectissimam conversationem Deo Patri offerente, videbatur tota tunica illa veluti quadam aurea lamina splendidissima et perspicacissima obtecta. (»Als aber der Sohn Gottes für sie Fürsprache einlegte und seinen unschuldigsten und vollkommensten Lebenswandel Gott dem Vater aufopferte, erschien das Kleid wie mit einer überaus glänzenden und durchsichtigen Goldplatte überdeckt«, Übers. Weißbrodt 2001, S. 309.) 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 211 <?page no="212"?> auch, wie Racha Kirakosian hervorstreicht, als Hochzeitskleid eine Präfiguration der erhofften brautmystischen Vereinigung mit Christus in der Zukunft. 39 Deutlich verbreiteter als das hier evozierte Bild eines zugleich in biographische Vergangenheit und heilsträchtige Zukunft weisenden himmlischen › Lebenskleids ‹ ist das Motiv eines als Geschenk für Maria, manchmal auch für Jesus oder einzelne Heilige mithilfe von frommen Taten, Gebeten oder Andachtsübungen angefertigten Kleidungsstücks. Es findet sich an anderen Stellen auch im Legatus divinae pietatis, so in einer Passage, in der Gertrud zu Mariä Himmelfahrt immer wieder den dreiteiligen Engelsgruß Ave Maria, - gratia plena, - Dominus tecum betet, woraufhin ihr Maria erscheint, circumamicta pallio viridi, quod fulgebat undique circumpositum aureis floribus in modum trifoliorum. 40 Diese kleinen goldenen Blumenstickereien sind, so offenbart die Gottesmutter, die himmlischen Manifestationen der eben dargebrachten Gebete Gertruds und ihrer ins Gebet eingeschlossenen Mitschwestern: Ecce quot verba quaelibet earum, ex quarum parte mihi offers, oravit, tot mihi flores ad ornatum imposuit; quorum quilibet magis aut minus vernat, secundum quod quaelibet orando intentionem suam plus vel minus adhibuit. 41 Diese Vision weist einerseits Ähnlichkeiten mit dem Gebetskleid bei Heinrich dem Klausner auf und illustriert andererseits in ihrer Gleichsetzung von Mariengrüßen mit himmlischen Blumen auch die Nähe des textilen Betens zur Tradition des Rosenkranzes. 42 Thomas Lentes vermutet sogar, dass diese Visionsepisode für »das Beten des Marienmantels [ … ] die Anregung« gab. 43 Gleich ob tatsächlich eine derartig direkte Ursprungslinie anzunehmen ist oder ob, wie das ungefähr zeitgleich entstandene Marienmirakel eher nahelegt, davon auszugehen ist, dass die Vorstellung des Mantelbetens um 1300 bereits so gängig war, dass Heinrich der Klausner und der Legatus sie unabhängig voneinander aufgriffen - Gertruds Vision stellt in jedem Fall ein sehr frühes Zeugnis eines gezählten Betens dar, dessen Text sich im Himmel figural zur Textilie konkretisieren soll. Aufschlussreich in Bezug auf die heilsvermittelnde Wirkung, die von einem derartigen Herbeibeten geistlicher Kleidergaben erhofft wurde, ist eine weitere Passage des Legatus. Hier wird anhand einer Auslegung des Responsoriums Induit me dominus 44 das textile 39 Vgl. dazu den Beitrag von Racha Kirakosian: Time in a Text(ile): Gertrude the Great ’ s Easter Vision, in: Medieval Temporalities. The Experience of Time in Medieval Europe, hg. v. Almut Suerbaum u. Annie Sutherland, Cambridge 2021, S. 185 - 202. 40 »geschmückt mit einem grünen, von goldenen dreiblätterigen Blumen glänzenden Mantel«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 358 [IV, 48]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 336. 41 »Sieh, so viele Worte jede von denen, in deren Namen du mir dies darbringst, gebetet hat, ebenso viele Blumen hat sie zu meinem Schmuck hinzugefügt, wovon die eine mehr, die andere weniger blüht, je nachdem jede mehr oder weniger vollkommen und andächtig gebetet hat«, Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 358 [IV, 48]. Übers. Weißbrodt 2001, S. 336 f. 42 Eine weitere Visionsepisode, in der Frömmigkeitsübungen als Blumenschmuck erscheinen, findet sich auch etwas später im gleichen Buch des Legatus (vgl. Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 4, S. 418 - 421 [IV, 51]). 43 Lentes 1996, S. 486. 44 Es ist etwas unklar, welcher liturgische Text hier genau gemeint ist. Infrage kommt zunächst das bei der Investitur einer neuen Schwerster gesungene Responsorium Induit me Dominus cyclade auro texta, et immensis monilibus ornavit me (»Der Herr hat mich in ein aus Gold gewobenes Gewand gekleidet und mich mit unschätzbarem Geschmeide geschmückt«), siehe René-Jean Hesbert: Corpus antiphonalium Officii, 6 Bd.e, Rom 1963 - 1979 (Rerum ecclesiasticarum documenta 7 - 12), Nr. 3328. Den 212 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="213"?> Beten in eine Logik von irdischem Dienst und jenseitiger Entlohnung gerahmt, die wiederum an das Lebenskleid der oben angesprochenen Ostervision gemahnt: Per Responsorium: Induit me Dominus, etc. intellexit quod ille verbo vel facto ad promovendam Religionem et rationabiliter probugnandam justitiam quasi vestit Dominum vestimento salutari simul et ornatissimo: et Dominus remunerabit eum in vita aeterna secundum liberalitatem suae regalis munificentiae circumdando eum vestimentis laetitiae et pro augmento praemii corona gloriae spiritualis decorabit. Sed singulariter intellexit quod ille qui promovens bona vel Religionem, adversa patitur, tanto gratior est Deo, sicut acceptius est pauperi vestimentum quo calefit simul et vestitur. 45 Auch hier wird das durch gottgefällige Worte und Taten gefertigte Gewand als Gabe vorgestellt, mit der die Frommen Jesus Christus kleiden und zieren können. Dabei wird der Wortsinn des Responsoriums, dessen Anfang lautet »der Herr hat mich gekleidet in das Gewand des Heils und mich mit dem Kleid der Freude umfangen« (induit me Dominus vestimento salutis, et indumento laetitia circumdedit me), 46 zunächst geradezu ins Gegenteil verkehrt. Denn in der Deutung des Legatus ist es nicht Gott, der die den Text singenden Gläubigen heilskräftig einkleidet, vielmehr bieten eben jene Gläubigen ihm eine im und aus dem Beten figurierte Kleidergabe dar. Erst in einem zweiten Schritt wird dieses Geschenk im ewigen Leben dann mit einer unvergleichlich besseren Gegengabe aus Freudengewand und Himmelskrone belohnt. 47 So entspannt sich, was Peter Ochsenbein Gebrauch dieses Textes bei der Nonneninvestitur beschreibt Julie Hotchin: Emotions and the Ritual of a Nun ’ s Coronation in Late Medieval Germany, in: Emotion, Ritual and Power in Europe, 1200 - 1920. Family, State and Church, hg. v. Merridee L. Bailey u. Katie Barclay, Cham 2017, S. 171 - 192, hier S. 182. Eine Diskussion der entsprechenden Liturgie findet sich auch bei Ferdinand Probst: Kirchliche Benediktionen und ihre Verwaltung, Tübingen 1857, S. 224. Zudem dürfte im Legatus divinae pietatis, wie die Teilparaphrase dieses Textes nahelegt, auch angespielt werden auf das sehr ähnliche Responsorium Induit me Dominus vestimento salutis, et indumento laetitiae circumdedit me: Et tanquam sponsam decoravit me corona (»Der Herr hat mich gekleidet in das Gewand des Heils und mich mit dem Kleid der Freude umfangen, und wie eine Braut hat er mich mit einer Krone geschmückt«), vgl. Hesbert 1963 - 1979, Nr. 6955. Das Responsorium findet sich in der Nokturn zum Fest der Heiligen Agnes (21. Januar), vgl. Breviarium ad usum insignis ecclesiae Sarum. Fasciculus III. In quo continetur Proprium sanctorum, hg. v. Franciscus Propter u. Christopher Wordsworth, Canterbury 1889, S. 89. Der Text beider Responsorien geht zurück auf das Schriftwort Is 61,10. 45 »Bei dem Responsorium › Der Herr hat mich bekleidet ‹ erkannte sie, dass derjenige, der durch Wort oder Werk zur Ausbreitung der Religion tätig ist und die Gerechtigkeit verteidigt, den Herrn gleichsam mit einem heilsamen und zugleich schmuckreichen Gewand bekleidet. Ihm wird der Herr im ewigen Leben mit königlicher Freigebigkeit vergelten, indem er ihn in Gewänder der Freude kleidet und mit der Krone geistiger Herrlichkeit schmückt. Im Besonderen noch erkannte sie, dass derjenige, welcher dabei Widerwärtigkeiten erduldet, Gott um so angenehmer ist, gleichwie der Arme das Kleid lieber hat, welches ihn nicht bloß warm hält, sondern zugleich ziert«, Gertrude d ’ Helfta: Œ uvres Spirituelles, Bd. 3: Le Héraut. Livre III, hg. u. übers. v. Pierre Doyère, Paris 1968 (Sources chrétiennes 143), S. 146 [III,30] Übers. Weißbrodt 2001, S. 148 [hier als III,28]. 46 Hier macht die Verwendung der Ausdrücke vestimento salutari, vestimentis laetitiae und corona gloriae spiritualis deutlich, dass der Text, anders als vom Herausgeber angemerkt (siehe Gertrud von Helfta: Legatus divinae pietatis, Bd. 3, S. 146), Bezug nimmt auf das Responsorium Hesbert 1963 - 1979, Nr. 6955. 47 Auch entsprechende Bilddarstellungen der »crown as a metaphor for the reward of the righteous« sind in der religiösen Kunst des ausgehenden Mittelalters verbreitet (Hamburger 1997, S. 58). 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 213 <?page no="214"?> als Vorstellung einer »Dienstverpflichtung gegenüber Gott« charakterisiert, durch deren Erfüllung auf einen als Gegenleistung verstandenen Gnadenerweis gehofft wird. 48 In welchem Verhältnis jedoch steht dies zu einer Gebetspraxis, wie sie z. B. in Heinrichs Marienmirakel erzählt wird? Der liturgische Kontext, in dem Gertruds Interpretation sich verortet, legt zumindest nahe, dass die Gebetshandlung, in deren Rahmen das thematisierte Responsorium gesungen wird, hier als substantieller Teil jenes christlichen Lebens in »Wort und Werk« (verbo vel facto) gedacht ist, aus dem ein himmlisches Gewand für Jesus entsteht. Quantifiziert oder mittels einer schriftlichen Gebetsübung angeleitet wird das Fertigen dieses Christuskleids bei Gertrud allerdings nicht. Vielmehr wird das Material der dargebrachten geistlichen Textilien wie in ihrer Vision des › Lebenskleids ‹ allgemein als Gesamtheit gottesfürchtigen Sprechens, Handelns und Denkens begriffen. 1.2 Anspruchsvolle Fertigungen: Gebetskleider in Mirakeln des 15. Jahrhunderts In einer eindeutig auf Gebetsleistungen bezogenen Form findet sich das Mantelmotiv hingegen in einer Reihe von Mirakeln, die mit Ausnahme der deutlich früheren, mitteldeutschen Dichtung Heinrichs des Klausners vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts für den niederdeutschen und niederländischen Sprachraum überliefert sind. 49 Auch die noch auf die erste Jahrhunderthälfte datierende Zwanzig-Exempel-Schrift des Dominikus von Preußen und der auf Werke des Alanus von Rupe zurückgehende Ulmer Rosenkranzdruck von 1483 enthalten Erzählungen von wundersamen Gebetsmänteln für die heilige Jungfrau. 50 Ähnlich wie die im vorangegangenen Kapitel untersuchten Fassungen des Mirakels vom Mönch mit den Rosenkränzen bieten diese Texte ein Programm der narrativen Propagierung und Erläuterung der in ihnen geschilderten Gebetspraxis. Ein charakteristisches Beispiel für derartige narrative Reflexionen des Mantelbetens stellt ein niederländisches Mirakel des 15. Jahrhunderts dar, das von einem Zisterziensermönch berichtet, der es sich zur Gewohnheit gemacht habe, täglich fünfzig Mariengrüße zu beten. 51 Als er dies eines Tages versehentlich versäumt hat und sein Gebet reuig nachholt, erscheint ihm die Gottesmutter in einem wundersamen Gewand, das über und über mit goldenen Ave Maria beschrieben ist: Doe hi sijn ghebet ghedaen hadde doe openbaerde haer maria onse lieve vrouwe desen broder in groter claerheit mit enen bliden aensicht Ende hadde enen sconen mantel om haer in welken 48 Ochsenbein 1997, S. 145. 49 Vgl. z. B. die bei As-Vijvers 2007 untersuchten Texte. 50 So berichtet das neunte Mirakel der Zwanzig-Exempel-Schrift von einem Zisterzienser, der täglich und besonders an den Marientagen geistliche Kleider für die heilige Jungfrau betet und diese in einer Entrückungsvision im Himmel schaut, wo ihm mitgeteilt wird, diese Kleider würden für ihn bereitgehalten, so dass er sie selbst im ewigen Leben tragen könne (vgl. ZES, Z. 268 - 289). Zwei inhaltlich ähnliche Mirakel finden sich im Ulmer Rosenkranzdruck, vgl. Psalter Marie, Ulm: Konrad Dinckmut 1483 (GW M39197), fol. d1r - d6r. Hierzu siehe Buschbeck 2022b, S. 46 - 48, sowie allgemein zur Mirakelsammlung dieses Drucks Buschbeck 2023. 51 Ediert in C. G. N. de Vooys (Hg.): Middelnederlandse Marialegenden, Bd. 1: Onser liever vrouwen miraculen (naar het Katwijkse handschrift), Leiden 1903, S. 227 - 229. 214 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="215"?> mantel al doergans ghescreven stont mit gulden letteren Ave maria Ende niet veel en was anden mantel ten was al vol dan anden soem des mantels 52 Das Beten des Mönchs, so wird in der Marienerscheinung evident, hat sich auf wundersame Weise vom textus des Mariengrußes zur Textilie des überweltlichen Mantels transformiert, der die Sprachlichkeit der vorgebrachten Gebete allerdings auch als Goldinschrift enthält und zurückspiegelt. Kathryn M. Rudy argumentiert diesbezüglich, das Ave-Beten werde in dieser Erzählung »drawn out into an extended textile metaphor«, 53 anhand derer die Gebetsleistung des Mönches quantifizierend verhandelt und schlussendlich belohnt werde. Jedoch, so möchte ich einwenden, stellt sich die Beziehung von Gebet und goldenen Mantelverzierungen zumindest in der Binnenlogik dieses Mirakels nicht bloß metaphorisch oder allegorisch dar, sondern entfaltet vielmehr ein Figurationsverhältnis. Die Gebetsübung des Mönches verheißt eine Zuwendung zu Maria, die sich in der geistlichen Konkretisierung der Gebetsformeln und dem Gnadenerlebnis der Schau erfüllt. Maria selbst erklärt dies, wenn sie an den Zisterzienser gewandt spricht: broeder en hebt ghenen anxt. Want alle die grueten di ghi mi hebt ghelesen die staen ghescreven in minen mantel. 54 Die Gebete des Mönches, so kann diese Aussage gelesen werden, verschwinden nicht einfach in der Vergangenheit, nachdem sie gesprochen wurden, sondern figurieren und akkumulieren sich in dauerhafter Gegenwart als goldene Ornamente auf dem Marienmantel, der somit beinahe wie ein Depot fungiert, in dem der Mönch seine frommen Mariengrüße ansammelt. Dass diese quantifizierten Konkretisierungen des Betens zugleich eine Zukunft des Heils präfigurieren, wird deutlich, wenn Maria dem Mönch hierfür einen jenseitigen Gnadenlohn in Aussicht stellt. Diesen aber soll er erst dann empfangen, wenn auch der bislang leergebliebene Saum ihres Mantels mit Gebetsworten bedeckt sei: siet wanneer dit ander deel vanden mantel vol ghescreven is mit Ave maria Dan sel ic iu leyden in die ewighe vruechde des levens Daer ghi iu ewelic in verbliden selt mit minen lieven sone ende mit mi omden dienst die ghi mi ghedaen hebt. 55 Dass die Hinkehr zu Maria im Gebet hier ausdrücklich als dienst gefasst ist, der leistungshaft ein Ergebnis hervorbringt, für das im Anschluss ein Heilslohn gewährt wird, illustriert vor allem eine heilsökonomische Seite des Mantelbetens. In diesem Mirakel wird es, stärker noch als bei Heinrich dem Klausner, als quantifizierbare und mit der Hoffnung auf Lohn verbundenen Gabe dargestellt, die als goldene Mantelinschrift verfügbar wird. Die Frömmigkeitspraxis des Zisterziensers kommt so einer geistlichen Handwerksarbeit gleich, die in Erwartung einer Gegenleistung für die Gottesmutter 52 »Als er sein Gebet vollbracht hatte, da offenbarte sich unsere liebe Frau Maria diesem Bruder in großer Klarheit in einer strahlenden Erscheinung. Und sie trug einen schönen Mantel, und auf diesem Mantel stand überall in goldenen Buchstaben › Ave Maria ‹ geschrieben. Und es war nicht mehr viel Platz auf diesem Mantel, denn er war fast bis zum Saum des Mantels vollgeschrieben«, de Vooys 1903, S. 228. 53 Kathryn M. Rudy: Introduction: Miraculous Textiles in › Exempla ‹ and Images from the Low Countries, in: Weaving, Veiling, and Dressing: Textiles and their Metaphors in the Late Middle Ages, hg. v. Kathryn M. Rudy u. Barbara Baert, Turnhout 2007 (Medieval Church Studies 12), S. 1 - 35, hier S. 28. 54 »Bruder, habt keine Angst, denn alle die Grüße, die ihr für mich gelesen habt, die stehen auf meinem Mantel geschrieben«, de Vooys 1903, S. 228. 55 »dann, wenn dieser andere Teil des Mantels mit Ave Maria beschrieben ist, dann werde ich euch zur ewigen Freude des Lebens führen, in dem ihr auf immer behalten sein sollt mit meinem Sohn und mir wegen des Dienstes, den ihr mir geleistet habt«, ebd., S. 228 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 215 <?page no="216"?> verrichtet wird. Mit Thomas Lentes gesprochen kann dies als Zeugnis einer »religiöse[n] Logik« aufgefasst werden, »die von der wirklichkeitsstiftenden Macht der Gebete ebenso überzeugt war wie von der Realität und Wirksamkeit der Gewänder der Heiligen« und darauf Tendenzen zu einer Ökonomisierung des Gebets und seiner Produkte fundierte. 56 Doch wie ist der Zusammenhang zwischen den immanenten Gebetsworten und ihrer transzendenten Entsprechung im Marienkleid zu fassen? Im Mirakel vom betenden Zisterziensermönch funktioniert die figurale Engführung von Reihengebet und Textilornament über das Medium der Schrift, die das Gebet und seine Visionsgestalt gewissermaßen überdeterminiert. Denn der biblisch hergeleitete Text des Ave Maria gibt zugleich die gesprochenen Gebetsworte vor und präfiguriert die diesem Sprechen gleichkommende Mantelverzierung aus Goldbuchstaben. 57 Komplexer verhält es sich in einer zweiten mittelniederländischen Erzählung, die der Überlieferung nach auf Alanus von Rupe zurückgeht und in der die geschilderten Gebete nicht nur als schmückende Schrift auf dem Mantel der Gottesmutter aufscheinen. Stattdessen werden in einer bedeutsamen Steigerung dieses Motivs die angesammelten Gebete gleichsam als Rohmaterial präsentiert, aus dem geistige Gewänder für Maria, Jesus und die Heiligen entstehen. In der Legende, die in de Vooys ’ Edition als ein scoon exempel hoe dat drij ghesusteren macten der maghet Mariën cleederen betitelt ist, 58 zeichnet sich das Beten der Protagonistinnen nicht bloß auf dem Mantel Marias ab, es stellt ihn gleichermaßen her wie dar. Drei Schwestern, so beginnt die Erzählung, werden von ihrem Beichtvater in allerlei Frömmigkeitsformen unterwiesen, darunter z. B. darin, te bereydene dat huys der concienciën, 59 also in einer sich vom Bild des inneren Hauses ableitenden geistlichen Übung zur geistlichen Selbstformung, deren Tradition ich im Folgekapitel untersuche. Vor allem aber hält der Priester die drei Schwestern dazu an, der Gottesmutter zu Mariä Lichtmess (2. Februar) ein prächtiges Herrscherinnengewand aus Mariengrüßen anzufertigen: soe vermaende hij hem dat sij teghen onser liever vrouwen kerc ganc bereyden souden eenen mantel met eenen tabbaert ende onder rocke Ende ander costelijke iuweelen als doeke des hoefs ende scoen ende behoefelicheit der andere leden Ende dat soude sijn doer III. L Ave mariën recht als om die III cleedere voerscreven Ende met XV pater noster recht als voer die ander cyerheit. 60 Die Kleidung, die Maria beim Gang zum Tempel während der an Lichtmess erinnerten und imaginativ vergegenwärtigten Darstellung des Herrn tragen soll, muss von jeder der drei Schwestern im Vorfeld des liturgischen Fests aus einem genau spezifizierten Gebetspensum hergestellt werden, das dem im vorangegangenen Kapitel behandelten Marienpsalter des Alanus von Rupe entspricht, sich hier jedoch statt zum Kranz zur geistlichen Textilie 56 Lentes 1993, hier S. 121. 57 Auf mehrere vergleichbare Inschriftenerzählungen gehe ich detaillierter ein in Buschbeck 2022b. 58 »ein schönes Exempel davon, wie drei Schwestern des Jungfrau Maria Kleider anfertigten«, ediert in Middelnederlandse Marialegenden, für die Maatschappij der Nederlandsche letterkunde hg. v. C. G. N. de Vooys, Bd. 2: Inleiding - Verspreide Marialegenden - Aantekeningen, Leiden 1904, S. 213 - 216, hier S. 213. 59 »das Haus des Gewissens einzurichten«, ebd., S. 213. 60 »So wies er sie an, dass sie zum Tempelgang Mariens einen Mantel herstellen sollten mit einem Überwurf und einem Unterrock und anderen kostbaren Kleinoden wie einer Kopfbedeckung und Schuhen und allem, was sonst noch notwendig ist. Und das sollten drei Mal fünfzig Ave Maria für die drei erwähnten Kleider sein, und dazu 15 Vaterunser für die sonstige Ausstattung«, ebd. 216 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="217"?> konkretisieren soll. Mantel, Überwurf (tabbaert) und Unterrock sollen aus jeweils fünfzig Mariengrüßen bestehen, Kopfputz (doeke des hoefs), Schuhe und andere kostbare Ausstaffierungen (cyerheit) aus fünfzehn Vaterunser. Der Beichtvater stellt den drei Schwestern mit seinen Anweisungen somit eine Art Schnittmuster der Imagination zu Verfügung, nach dem diese jeweils einen geistlichen Ornat herstellen sollen. Dabei wird ihr Beten gleichzeitig als Arbeitsschritt und, wie Anne Margreet W. As-Vijvers hervorhebt, als der Werkstoff für das beim Beten produzierte, überstoffliche Werkstück gefasst: »praying the Ave Maria yielded the fabrics, the threads, and the decoration to manufacture the Virgin a mantle.« 61 Nun reicht ein bloßes Aufsagen der vorgegebenen Gebete jedoch nicht aus. Denn wie der Beichtvater anmahnt, bestehen die wundersamen Kleider nicht bloß aus den Worten des Engelsgrußes, sondern vielmehr aus der ynnicheit die wij tot mariën hebben in onsen ghebede op dat wij dat offeren in harer eeren. 62 Diese Aufgabe, die, wie zu Beginn dieser Arbeit umrissen, auf eine Frömmigkeitspraxis hinausläuft, die eine Immersion in die Heilsereignisse ebenso umfasst wie die kommunikative Hinkehr zum Heiligen mittels geformter Sprache, erfüllen die drei jungen Frauen unterschiedlich gut. Während die erste in vollkommener Hingabe und Andacht betet und die zweite ihre Ave Maria immerhin in vollstem Ernst (neerstelijc) 63 aufsagt, zeigt sich die jüngste Schwester nachlässig. Sie betet zwar dasselbe quantifizierte Pensum wie die anderen beiden, jedoch maer lauwelijc ende seere overloepende. 64 Wie für Marienmirakel gattungsdefinierend zeigt sich den drei Schwestern anschließend in einer Vision die heilige Jungfrau, und zwar dreimal hintereinander und in drei je verschiedene Kleidungsgarnituren gewandet. Während Maria der ersten Schwester in einem herrscherlichen Prachtornat und begleitet von einer Entourage aus der heiligen Agnes und der heiligen Katharina erscheint, sieht die zweite Schwester sie alleine und in zwar weniger prächtigen, aber immer noch noblen groenen cleederen. 65 Peinlich wird die Angelegenheit, wenn Maria der dritten, weniger frommen Schwester met snoeden lakene ghecleet als een sac gegenübertritt. 66 Erkennend, dass ihre Achtlosigkeit im Gebet die Ursache für diesen der Himmelskönigin wenig standesgemäßen Aufzug darstellt, gelobt die jüngste Schwester Besserung und betet fortan ebenso innig wie ihre älteren Geschwister. Der Zusammenhang zwischen äußerem Gebetsvollzug und seiner Figuration im Marienmantel ist hier also keineswegs mechanistisch dargestellt - »merely reciting the prayers repeatedly is not enough; it is the intention of the prayer that matters« 67 sowie, so ist hinzuzufügen, die richtige innere Haltung der Betenden. Textiles Beten fußt dabei, anders als im Falle der goldenen Textilinschrift in der vorweg angesprochenen Legende, nicht auf einer durch das tertium comparationis der Sprachlichkeit plausibilisierten Analogie von gesprochenem Gebet und überweltlichem Schriftornament. Ebenso wenig 61 As-Vijvers 2007, S. 62. 62 »der Hingebung, die wir zu Maria haben in unserem Gebet, dass wir es ihr zu Ehren darbringen«, de Vooys 1904, S. 213 f. 63 ebd., S. 224. 64 »halbherziger und sehr hastig«, ebd. 65 »grünen Kleidern«, ebd., S. 215. 66 »in einfache, sackartige Tücher gekleidet«, ebd. 67 As-Vijvers 2007, S. 52. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 217 <?page no="218"?> aber stellt das Mantelgebet der drei Schwestern in dieser Erzählung bloß einen gezielt stimulierten Imaginationsakt dar. Die Erscheinung Mariens und die detaillierte, auf materielle Details ihrer Kleider eingehende Beschreibung weisen vielmehr daraufhin, welch spannungsreiche Position gebethaft produzierte Gegenstände im Kontext der »im Mittelalter immer wieder umkreiste[n] Balance zwischen der Ostendierung und der Transzendierung von Materialität« einnehmen. 68 Denn einerseits eignet den Gebetskleidern der Gottesmutter zumindest in der Evidenz der Vision die Konkretheit und damit verbundene Wirkmacht des Dinglichen, andererseits aber sind sie gerade nicht stofflicher Natur, sondern werden geistlich hergestellt. Die Kategoriengrenze zwischen Dingen, die außerhalb des Bewusstseins bestehen, und Vorstellungen, deren Gegenstände von einer Existenzpräsupposition zunächst einmal ausgenommen sind, wird durchkreuzt. 69 1.3 Das Bildmotiv der Schutzmantelmadonna Im frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund textiler Gebetsübungen stehen verschiedene Bildmotive, die ungefähr zeitgleich auftreten und bereits in den oben angesprochenen Mirakelerzählungen verschmolzen werden. So ist seit der Mitte des 13. Jahrhundert in der Sakralkunst die Ikonographie der Schutzmantelmadonna verbreitet: Maria wird als überlebensgroße Figur mit einem umhangartigen Mantel gezeigt, unter dem sich eine Gruppe von Gläubigen schutzsuchend versammelt. 70 Wie Christa Belting-Ihm zeigt, geht dieser Typ der Mariendarstellung einerseits auf ab dem 12. Jahrhundert im Kontext der Kreuzzüge aus dem byzantinischen Raum in den Westen gelangende Mantelreliquien, Bildmotive und Legenden zurück. 71 Andererseits rekurriert er auf die Rechtsgesten des Mantelschutzes und der Manteladoption. Letztere wird unter anderem im Schwabenspiegel beschrieben: Kinder konnten adoptiert werden, indem sie bei der Eheschließung mit unter den Mantel genommen wurden. 72 Wenn Maria also die zu ihr Betenden unter ihrem 68 Kiening 2016, S. 288. 69 Zu diesem Gedanken vgl. ausführlicher Buschbeck 2022. 70 Einen immer noch guten Überblick über diese Motivtradition bietet Vera Sussmann: Maria mit dem Schutzmantel, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 5 (1929), S. 285 - 351. Zur Verbreitung des Motivs der Schutzmantelmadonna in der bildenden Kunst des Mittelalters und für einen umfänglichen Katalog erhaltener Bildwerke siehe ebd., S. 311 - 351. 71 Vgl. Christa Belting-Ihm: Sub matris tutela. Untersuchungen zur Vorgeschichte der Schutzmantelmadonna, Heidelberg 1976 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1976,3), S. 9 - 37. Die Autorin widerlegt in ihrer Arbeit die ältere These Paul Perdrizets, das Schutzmantelmotiv ginge ursächlich auf die unten angesprochene Legende des Caesarius von Heisterbach zurück, vgl. Paul Perdrizet: La Vierge de Miséricorde. Étude ď un thème iconographique, Paris 1908, S. 18 - 26. Dagegen kann Belting-Ihm zeigen, »daß nicht nur Konstantinopeler Rettungslegenden, Gebets- und Anrufungsformeln, sondern auch die Translatio von Teilen der Mantelreliquie selbst für die Mantelschutzidee in der Marienverehrung der lateinischen Kirche eine große Rolle gespielt haben« (Belting-Ihm 1976, S. 57) und erweitert die bereits bei Sussmann 1929 geäußerte Kritik an der These Perdrizets. 72 so sprechent sa ᵉ mlich lûtte die ungelerten: er [Vater] sulle sie [uneheliche Kinder] z ů im hullen under den mantel, alß er ir m ů tter elichen neme, oder sullen sie mit der gûrtel umb vahen z ů im. des ist nicht. wa die kind sint, so sint sie ekind, Art. Mantel, in: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der ältesten deutschen Rechtssprache, hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 9: Mahlgericht bis 218 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="219"?> Mantel schützt, so die Implikation des Bildmotivs, nimmt sie sie an Kindes statt an und lässt ihnen mütterliche Behütung und Liebe angedeihen. 73 Zudem war der Mantel hochgestellter Persönlichkeiten in der mittelalterlichen Rechtspraxis Asylstätte: »hohe Frauen der mittelalterlichen Gesellschaft konnten mit ihrem weiten Mantel einen bei ihnen Schutz Suchenden einhüllen« und ihn auf diese Weise zunächst vor Verfolgung sichern, meist verbunden mit dem Versuch, durch ihre Fürbitte Strafmilderung oder gar Amnestie zu erwirken. 74 Auch diese Symboliken aus dem weltlichen Recht übertragen sich im Mittelalter in die religiöse Marienmantelikonographie, in der Maria als Fürbitterin auftritt, die vor göttlichem Zorn bewahrt. Wundererzählungen über den schützenden Mantel Marias sind im Westen wesentlich älter als die bekanntere Bilddarstellung. Schon Gregor von Tours (538 - 594) gibt mit dem Mirakel vom Judenknaben, den die Heilige Jungfrau unter ihrem Mantel vor einem Feuer beschützt, einen ältesten Beleg für dieses Motiv. 75 Auch eine Geschichte von der Rettung der Stadt Konstantinopel durch Marias ausgebreiteten Mantel findet sich bereits in lateinischen Lektionaren des 10. und 11. Jahrhunderts ebenso wie in der Wundersammlung des Benediktiners Gautier de Coincy (1177 - 1236). 76 Derartige Marienmirakel bilden den narrativen Mutterboden sowohl des Bildtyps der Schutzmantelmadonna als auch des damit verknüpften Mantelbetens. Lange Zeit wurde der Ursprung des Schutzmantelmotivs in einer Episode aus dem Dialogus miraculorum des rheinischen Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (ca. 1180 - 1240) vermutet. 77 Obgleich diese These, die mitunter noch weiterkolportiert wird, inzwischen als widerlegt gelten muss, verdient der kurze Visionsbericht des Caesarius aus der zwischen 1219 und 1223 entstandenen Mirakelsammlung dennoch einen eindringlicheren Blick. Er stellt zwar nicht die älteste, wohl aber die im weiteren Verlauf einflussreichste Marienmantellegende des europäischen Mittelalters dar. Ein Zisterziensermönch, so erzählt Caesarius, wird in den Himmel entrückt und sieht dort neben den Engeln und Heiligen auch Mitglieder aller anderen religiösen Orden stehen - bloß nach den Zisterziensern hält er vergebens Ausschau. Schließlich fragt er betrübt die Jungfrau Maria, warum denn sein eigener Orden von den himmlischen Rängen ausgeschlossen sei. Diese gibt ihm daraufhin Auskunft: Notrust, bearb. v. Heino Speer u. a., Weimar 1992 - 1996, Sp. 172 - 178, hier Sp. 177. Zum juristischen Begriff des Mantelschutzes siehe auch Sussmann 1929, S. 286 - 288. 73 Maria ist nicht die einzige im Mittelalter als Mantelschützerin dargestellte Figur. Verschiedene Heilige, darunter z. B. Ursula und Odilia, aber auch Christus und Gottvater werden gelegentlich als Mantelschützer gezeigt. Eine Zusammenstellung an Beispielen mit entsprechenden Bildreproduktionen findet sich bei Sussmann 1929, S, 289 - 293. 74 Leopold Kretzenbacher: Schutz- und Bittgebärden der Gottesmutter. Zu Vorbedingungen, Auftreten und Nachleben mittelalterlicher Fürbitte-Gesten zwischen Hochkunst, Legende und Volksglauben, München 1981 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte Jg. 1981,3), S. 14. 75 Gregor von Tours: Liber miraculorum, in: Patrologia Latina 71 (1879), Sp. 705 - 910, hier Sp. 714 f. [lib. 1, cap. 10]. Vgl. dazu auch Belting-Ihm 1976, S. 12 f. sowie S. 26 und S. 28. 76 Diese Erzählung wird wiedergegeben und kommentiert bei Sussmann 1929, S. 300 - 302. 77 So postulierte z. B. Paul Perdrizet: »Le type iconographique de la Vierge au manteau [ … ] a sa source dans une histoire d ’ apparition, dans un récit de vision. La vision dont il s ’ agit est racontée par Césaire d ’ Heisterbach«, Perdrizet 1908, S. 20 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 219 <?page no="220"?> Videns eum turbatum Regina coeli, respondit: »Ita mihi dilecti ac familiares sunt hi qui de ordine Cisterciensi sunt, ut eos etiam sub ulnis meis foveam.« Aperiensque pallium suum quo amicta videbatur, quod mirae erat latitudinis, innumerabilem multitudinem monachorum, conversorum, sanctimonialium illi ostendit. Qui nimis exultans et gratias referens, ad corpus rediit, et quid viderit, quidve audierit Abbati suo narravit. 78 In vielerlei Hinsicht lässt sich hier eine verklärende Selbstinszenierung des Zisterzienserordens erkennen. 79 Hervorgehoben unter allen anderen Religiosen, so der entscheidende Punkt des Mirakels, stehen die Zisterzienser im Himmel unter dem besonderen Schutz der Jungfrau Maria, ja sie können vor dem Hintergrund der Manteladoption als Rechtsgeste sogar als die angenommenen Kinder der Heiligen Jungfrau verstanden werden. Damit ist bei Caesarius von Heisterbach zwar nicht der Anfang des Motivs der Schutzmantelmadonna zu suchen, wohl aber der Beginn eines die folgend untersuchten Texte zentral mitbestimmenden frommen Kommunitätsgedankens. Denn die Vorstellung, dass eine spezifische religiöse Gemeinschaft an Personen, die Maria mit besonderer Hingabe dienen (tam devote servientes), 80 sich dadurch ihre besondere Nähe und Beschirmung verdient, scheint bei Caesarius ’ Zeitgenossen und folgenden Generationen geistlicher Autoren eine besonders umkämpfte Aufmerksamkeit erregt zu haben. So wurde einerseits der hier zutage tretende Anspruch auf das Patrozinium der Gottesmutter so sehr zum identitätsbestimmenden Teil des Zisterzienserordens, dass im Verlauf des 14. Jahrhunderts sogar zahlreiche Siegel der Zisterzienser entstanden, welche die von Maria beschützten Ordensangehörigen zeigen, darunter auch das Siegel des Generalkapitels. 81 Auf der anderen Seite aber scheinen auch andere Ordensgemeinschaften, oft in Anlehnung an das kurze Mirakel aus dem Dialogus miraculorum, Anspruch auf das Patrozinium der Gottesmutter und den dieses Verhältnis verkörpernden Mantelschutz erhoben zu haben. Letzteres wird deutlich, wenn beispielsweise der Dominikanergelehrte Thomas von Cantimpré (1201 - ca. 1272) in seinem zwischen 1258 und 1263 vollendeten Bonum universale de apibus eine Marienvision wiedergibt, die als scharfe und selbstbewusste Replik auf Caesarius gelesen werden muss. Ein Zisterziensermönch nämlich, so berichtet Thomas, habe in einer Vision seine Ordenspatronin Maria (patronam ipsius Cisterciensis ordinis) geschaut, die ihn aufgefordert habe, für diejenigen zu beten, die sie ihm als ihre Brüder und Kinder (meos fratres et filios) anempfehle. In der Überzeugung, es handele sich 78 »Als die Königin des Himmels ihn so betrübt da stehen sah, erwiderte sie: › Die Zisterzienser sind mir so lieb und vertraut, daß ich sie sogar unter meinen Armen wärme. ‹ Dann öffnete sie den Mantel, mit dem sie bekleidet und der von einer wunderbaren Weite war, und zeigte ihm darunter eine unermeßliche Schar von Mönchen, Konversen und Nonnen. Voller Jubel und Dank kehrte da sein Geist in den Körper zurück, und er erzählte, was er gehört und gesehen hatte, seinem Abt.« Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, S. 1502. Eine ripuarische Version dieser Erzählung ist auch wiedergegeben bei Dominikus von Preußen im Ripuarischen Marienmantel, Z. 46 - 55. 79 Kretzenbacher spricht sogar von einer » › Propaganda ‹ -Legende für den Cistercienserorden«, Kretzenbacher 1981, S. 15. 80 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, S. 1502. 81 »La Vierge au manteau protecteur sert de type, dès le xiv e siècle, aux sceaux des définiteurs de l ’ Ordre et à ceux de plusieurs abbayes Cisterciennes«, Perdrizet 1908, S. 25. Vgl. auch die Reproduktionen entsprechender Siegel ebd., Tafel II; sowie Belting-Ihm 1976, S. 74 (mit weiterführenden Literaturangaben zur sphragistischen Verbreitung des Schutzmantelmotivs). Weitere Belege zur zisterziensischen Schutzmantelverehrung finden sich bei Beissel 1909, S. 209 f. 220 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="221"?> dabei exklusiv um seine eigenen Ordensbrüder, kommt der Zisterziensermönch der Anweisung nach - nur um danach von Maria gezeigt zu bekommen, dass sie nun auch die Dominikaner unter ihrem Gewand berge: Habeo, inquit, & alios fratres, quos meo patrocinio fouendos & custodiendos amplector. Et hæc dicens, reuelato pallio fratres ordinis Prædicatorum sub eo contutatos ostendit, & adiecit: Hi sunt, inquit, qui specialiter insistunt negotio, ne dilecti filij mei sanguis invtiliter sit effusus. 82 Die Ordensrivalität, die hier zum Vorschein kommt, trägt durchaus bissige Züge. Wie Markus Schürer ausführt, weist Thomas von Camtipré mit »der Einforderung des Patroziniums der Mutter Gottes für den Predigerorden [ … ] seiner Gemeinschaft einen erstrangigen Status zu, steht diese doch somit unter dem Schutz der bedeutendsten Heiligen der Christenheit.« 83 Dies bedeutet nicht bloß eine Aufwertung der Dominikaner, sondern auch eine Nivellierung oder gar Ablösung der Zisterzienser - denn mit »der Weitergabe des Patroziniums der Mutter Gottes soll nachgewiesen werden, daß die Dominikaner als Orden neuer und zeitgemäßer Qualität den etablierten, aber aus Thomas ’ Sicht veralteten Modellen der vita religiosa den führenden Rang zurecht streitig machen.« 84 Die Erzählung von der Beschirmung unter dem Mantel der Heiligen Jungfrau bringt auf diese Weise auch einen Anspruch auf besondere Heiligkeit und Heilsnähe des eigenen Ordens zum Ausdruck. Auch in anderen dominikanischen Mirakel- und Marienlegendensammlungen finden sich dem gleichen Schema folgende Visionsberichte der Ordensmitglieder unter dem Schutzmantel, so bei Gerardus de Fracheto, Bartholomäus Tridentinus oder Dietrich von Apolda. 85 Da Maria als Patronin des Predigerordens fungierte und in der dominikanischen »Historiographie und Legendenbildung seit den Anfängen einen besonderen Stellenwert« innehatte, verwundert diese Aneignung des zisterziensischen Statusmirakels kaum. 86 Auch in den Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts finden sich Visionsberichte aus dem weiblichen Zweig des Ordens, in denen Dominikanerinnen und Dominikaner in der sicheren Behütung des Marienmantels geschaut werden. 87 Die wie oben ausgeführt zumeist vom Predigerorden organisierten Rosenkranzbruderschaften des ausgehenden 15. Jahrhunderts schließlich wählten vielfach Darstellungen der Schutzmantelmadonna für ihre Bruderschaftsaltäre. 88 82 »Ich habe, sagte sie [d. i. Maria], auch andere Brüder, die ich mit meiner Obhut umschließe, um sie so zu wärmen und zu schützen. Und mit diesen Worten zeigte sie mit ihrem aufgetanen Mantel die darunter versammelten Brüder des Predigerordens, und fügte hinzu: Diese sind es, sagte sie, die sich in ihrer Aufgabe besonders bewähren, auf dass das Blut meines geliebten Sohnes nicht vergebens vergossen sei.« Thomas Cantipratanus: Bonum universale de apibus … , Douai: Balthasar Bellerus 1627, S. 170 [lib. 2, cap. 10,16]. 83 Markus Schürer: Das Exemplum oder die erzählte Institution: Studien zum Beispielgebrauch bei Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts, Berlin 2005 (Vita regularis 23), S. 148. 84 Ebd., S. 148 f. 85 Vgl. Sussmann 1929, S. 306 f. 86 Thali 2003, S. 106. Zur Verehrung Marias im Predigerorden vgl. ebd., S. 104 - 115; zur Annexion der Schutzmantelfrömmigkeit vgl. insbesondere S. 107. Für genauere Quellenangaben zu dominikanischen Versionen der Legende vom Orden unter dem Schutzmantel vgl. Beissel 1909, S. 352. 87 So z. B. aus den Klöstern Engelthal und Adelhausen, vgl. Sussmann 1929, S. 307 f. Für den Fall Engelthals sind einige der entsprechenden Marienvisionen genauer behandelt bei Thali 2003, S. 187; 236 f. und 239 f. 88 Siehe dazu die Beispiele bei Beissel 1909, S. 355 f., sowie von Oertzen 1925, S. 19 f. 1 Zur Einführung: Gebetsgewänder im Marienmirakel Heinrichs des Klausners 221 <?page no="222"?> Doch nicht nur die Dominikaner beanspruchten den Mantelschutz der Gottesmutter als Proprium der eigenen Gemeinschaft. Birgitta von Schweden (1303 - 1307) beispielsweise schreibt, Maria habe sie in einer Vision unter ihren Mantel gerufen, und reklamiert so den Mantelschutz für den von ihr gegründeten Erlöserorden. 89 Auch bei den Franziskanern scheint eine abgeänderte Version der Legende des Caesarius verbreitet gewesen zu sein, die den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft einen sogar noch vollkommeneren Status als den unter dem Mantel Marias beschirmten Gläubigen zuwies und von Martin Luther scharf verspottet wurde. 90 Ende des 16. Jahrhundert schließlich berichtet Teresa von Ávila (1515 - 1582) von einer Vision, in der die Gottesmutter den Schutzmantel über ihre Gemeinschaft ausbreitete, und legitimiert auf diese Weise die von ihr betriebene Neugründung des Karmeliterordens. 91 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Mitte des 15. Jahrhunderts auch Dominikus von Preußen, wie unten ausführlich behandelt, für seinen eigenen Orden, die Kartäuser, Anspruch auf einen Platz unter dem Mantel Marias erhob: Et non tamen ordinis iam Cistersienses / fratres, sed hic foveas et Carthusienses (Mantelpreis L, V. 69 f.). 92 Gleichzeitig aber, und dies bedeutet eine ausschlaggebende Neuerung, öffnet er den Mantelschutz der Heiligen Jungfrau für alle Gläubigen, die mit Gebeten und anderen Frömmigkeitsleistungen zur Fertigung dieses wundersamen Kleidungsstücks beitragen. 93 Für die folgenden Untersuchungen ist dieser kurze Exkurs in den Bereich der Schutzmantelnarrative und -bilder in dreierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum ersten bilden die Vorstellung vom Mantelschutz Marias und die entsprechende Ikonographie den motivgeschichtlichen Horizont der unten diskutierten Gebets- und Andachtsübungen. Zweitens ist, wie sich zeigen wird, die Vorstellung einer spezifisch umrissenen frommen Gemeinschaft, die sich durch besondere Hingabe zur Gottesmutter einen Platz unter ihrem Gewand › verdient ‹ , ausschlaggebend für den in vielen Fällen kommunitätsbildenden Charakter des Mantelgebets. In der Tradition der hier angerissenen, konkurrierenden Marienmantelmirakel ist der Grundstein dieser Idee gelegt. Drittens und zuletzt zeigen diese Erzählungen, wie der Gebetsmantel auf der einen Seite als bedeutungsintensiver und wirkmächtiger Gegenstand vorgestellt ist, mithilfe dessen die Gottesmutter die Gläubigen gnadenhaft beschützt und adoptiert. In den unten behandelten Texten wird er auf der anderen Seite aber auch als geistlich-konkretes Werkstück gezeichnet, das durch die frommen und göttlich unterstützten Anstrengungen der am Mantelgebet Teilnehmenden erst geschaffen wird und sich aus ihren Gebeten figuriert. Der sich so ergebende Doppelcharakter prägt die Dynamik textiler Gebetsübungen ebenso wie das mit ihnen verbundene Versprechen einer heilsvermittelnden Wirkung. 89 Die entsprechende Vision ist zitiert bei Beissel 1909, S. 353. 90 Luther schreibt: S.Francisci Bruder haben auch eine grosse Lugen von der Jungfrau Maria geprediget, das Franciscus hette einen traum gehabt, wie ehr in Himel kam, und Maria decket ihren Mantel auff, aber er fandt seiner bruder keinen drunder. Do ehr nun sehr erschrak und wuste nicht, was dieses bedeutet, do saget Maria zu ihm: Deine Bruder sind in vollkomenern Stande, dan die andern, drumb gehoren sie nicht unter diesen mantel. Martin Luther: Matthäus Kapitel 18 - 24 in Predigten ausgelegt 1537 - 1540, hg. v. G. Buchwald, in: WA 47 (1912), S. 232 - 627, hier S. 276. 91 Die entsprechende Vision ist wiedergegeben und besprochen bei Sussmann 1929, S. 308. 92 »Und nicht mehr nur die Brüder des Zisterzienserordens, / sondern auch die Kartäuser mögest du [d. i. Maria] hier hegen.« 93 Siehe dazu die Diskussion unten, Kap. III.3.3. 222 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="223"?> 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel Angesichts der Verbreitung der Schutzmantelfrömmigkeit im Spätmittelalter und des Aufkommens von damit verbundenen Vorstellungen gebeteter Mariengewänder, wie sie in den oben angesprochenen Mirakeln und Visionsberichten aufscheinen, vermag es nicht zu verwundern, dass die Idee des geistlichen Kleidungsstücks sich ab Mitte des 15. Jahrhunderts auch verstärkt in der Gebetbuchliteratur niederschlug. Wie ich folgend nachzeichne, bildete sich zu dieser Zeit eine eigene Untergattung von Mantelgebeten und -andachten heraus. Die entsprechenden Texte leiten, strukturell wie formal den oben besprochenen Rosenkränzen vergleichbar, zur Herstellung eines Ornats für die Heilige Jungfrau an, der aus Reihengebeten sowie anderen Frömmigkeitserweisen der Gläubigen zu fertigen ist. Die Verbreitung dieser Gebetsform zeugt von einem beträchtlichen zeitgenössischen Erfolg - neben dem Rosenkranz dürfen solche Gebetsmäntel für Maria nach Thomas Lentes als »wohl populärst[e] Imaginationsübung des späten Mittelalters« gelten. 94 Recht am Anfang dieser Traditionsbildung steht ein Text, den die ihn überliefernden Handschriften als geistlich mantel unser lieben frowen oder auch einfach als der guldin mantel betiteln. 95 In Anlehnung an die bisherige Forschung wird diese geistliche Übung folgend als Alemannischer Marienmantel bezeichnet. 96 Mithilfe detaillierter Anweisungen trägt der Text seinem Lesepublikum das Beten eines Gewandes für die Heilige Jungfrau an. Damit unterscheidet er sich insofern von den vorweg behandelten Marienmirakeln und Visionsberichten, als dass hier nicht von gebeteten Kleidern erzählt wird, sondern der Text seine Leser anleitet, diese überstofflichen Gegenstände selbst zu produzieren. Zum Verständnis dieser Übung ist zunächst ein kurzer Blick auf ihren Entstehungs- und Gebrauchskontext nötig, der sich anhand der handschriftlichen Überlieferung zumindest in Konturen nachzeichnen lässt. Wenigstens zwei der vier erhaltenen Textzeugen des Alemannischen Marienmantels sind mit einiger Wahrscheinlichkeit franziskanischer Provenienz: Die heute in St. Gallen aufbewahrte Handschrift S weist einen Besitzeintrag des 94 Lentes 1993, S. 135. 95 Der Text findet sich in folgenden Handschriften: München, BSB, Cgm 783, fol. 168r - 173r (M), Heidelberg, UB, Cpg 108, fol. 86r - 90r (H), Karlsruhe, BLB, Cod. L 87, fol. 215r - 220v (K), St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 591, S. 265 - 289 (S). Die Rubrik guldin mantel findet sich in M, fol. 168r, während die drei anderen Textzeugen diese Andachtsübung als den geistlich mantel unser lieben frowen bezeichnen. Zur Überlieferungslage siehe ausführlich die Angaben zur Edition im Anhang dieser Studie. Folgend wird dieser Text unter dem Kürzel »AM« nach der hier angehängten Edition im Fließtext zitiert. 96 Siehe Hardo Hilg: Art. Mantel Unserer Lieben Frau, in: 2 VL 5 (1985), Sp. 1221 - 1225, hier Sp. 1222. Der Text wird zudem kurz besprochen bei Lentes 1993, S. 135 - 141, und untersucht in Buschbeck 2021b und Buschbeck 2022. Letztere Artikel bilden Vorstudien zu diesem Kapitel ab. Im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext erwähnt ihn Edmund Hugh Wareham: Spirituality and the Everyday. A History of the Cistercian Convent of Günterstal in the Fifteenth and Sixteenth Centuries, Diss. Oxford 2016, S. 75 f. <?page no="224"?> Freiburger Klarissenklosters St. Dorothea auf, 97 während die Münchener Handschrift M laut einem Nachtrag 1484 einer Schwester Elisabeth Schmidin gehörte. 98 Diese ist womöglich mit einer 1461 für das Terziarinnenkloster Unlingen in Württemberg bezeugten Nonne identisch. 99 Für die Heidelberger Handschrift H sowie für die Karlsruher Handschrift K, welche die Leithandschrift meiner angehängten Edition bildet, lassen sich keine ähnlich exakten Angaben machen. H weist dem Dialektstand nach auf den elsässisch-niederalemannischen Sprachraum und kann durch Wasserzeichenanalyse auf das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts datiert werden. 100 Für K konnten Felix Heinzer und Gerhard Stamm anhand der als Einbandmakulatur verwendeten Urkundenfragmente eine Entstehung in Straßburg um ca. 1450 bis 1454 festmachen, allerdings ohne die Handschrift einem spezifischen Klosterskriptorium zuzuweisen. 101 Obgleich sich also weder für H noch für K eine genaue Provenienz etablieren lässt, legen beide Handschriften doch in ihrer Machart, vornehmlich volkssprachigen Verfasstheit und vielfach mit S identischen Textzusammenstellung eine Herkunft aus einem weiblichen Klosterkontext nahe. 102 Der Alemannische Marienmantel zirkulierte also, so belegt dieser Überlieferungsbefund, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in südwestdeutschen Frauenklöstern. Franziskanerinnen sind dabei als Rezipientinnen gesichert, aber auch eine Herkunft der in Bezug 97 Vgl. Beat Matthias von Scarpatetti: Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. Bd. 1, Abt. IV: Codices 547 - 669, Wiesbaden 2003, S. 129. Der Eintrag stammt der Hand nach zu schließen wohl noch aus dem 15. Jahrhundert, womit die Handschrift recht bald nach ihrer Entstehung im Besitz der Freiburger Klarissen gewesen sein muss. Dennoch bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass der Textzeuge auch dort geschrieben wurde, zumal › reisende Handschriften ‹ insbesondere in den observanten Frauenklöstern der Zeit keine Seltenheit darstellten; vgl. dazu z. B. Andreas Rüther: Schreibbetrieb, Bücheraustausch und Briefwechsel. Der Konvent St. Katharina in St. Gallen während der Reform, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. v. Franz J. Felten u. Nikolaus Jaspert, Berlin 1999 (Berliner historische Studien 31), S. 653 - 677. 98 Siehe den entsprechenden Eintrag in M, fol. 167v: Rubricatum per Conradum Durren ob peticionem sororis Elizabeth Schmidin anno 1484 4 ta angarie post Luciam. Swester Elisabeth und ir alle in ewr gebett laßt mich sin enpfolhen. Spätestens im 17. Jahrhundert gelangte diese Handschrift ins Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra. 99 Karin Schneider merkt zwar an, dass es sich hier durchaus um eine zufällige Namensgleichheit handeln könnte, stellt jedoch auch fest, dass die Handschrift »franziskanische Texte enthält und nichts gegen ihre Entstehung in diesem [d. h. dem schwäbischen] Sprachraum spricht.« Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691 - 867, Wiesbaden 1984 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,5), S. 329. 100 Vgl. Karin Zimmermann unter Mitwirkung von Sonja Glauch, Matthias Miller u. Armin Schlechter: Die Codices Palatini germanici in der UB Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1 - 181), Wiesbaden 2003 (Kataloge der UB Heidelberg 6), S. 246 - 248. 101 Felix Heinzer u. Gerhard Stamm: Die Handschriften von Lichtenthal, mit einem Anhang: Die heute noch im Kloster Lichtenthal befindlichen Handschriften des 12. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1987 (Die Handschriften der Badischen Landesbibl. in Karlsruhe 11), S. 204 f. 102 Zahlreiche Formulierungen in den beiden Handschriften machen eine Herkunft aus einem weiblichen Gebrauchskontext wahrscheinlich, so z. B. wenn die Sprecherinstanz eines brautmystisch geprägten, gereimten Lobgebets zu den 11.000 Jungfrauen der Heiligen Ursula an die Schar der Jungfrauen gerichtet anmerkt, sie were gerne úwer sunder eine (H, fol. 70v). Dies muss im Bereich der geistlichen Literatur, in dem grammatikalisches Geschlecht regelmäßig auch metaphorisch verwendet wird, um z. B. die Brautschaft der menschlichen Seele mit Christus zum Ausdruck zu bringen, nicht zwingend eine ausschließlich weibliche Schreiberinnen- und Leserinnenschaft bedeuten. Dennoch dürfen derartige Formulierungen, ebenso wie der Fokus der Handschriften auf weibliche Hagiographie, als Indiz für eine Frauenklosterprovenienz gelten. 224 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="225"?> auf ihre Provenienz unbestimmten Textzeugen aus anderen Frauenorden, so z. B. den literarisch sehr aktiven elsässischen Dominikanerinnenklöstern, scheint gut möglich. 103 Damit fügt sich dieser Text zunächst auf recht charakteristische Weise in das Gesamtbild der Überlieferung geistlicher Literatur in der Volkssprache. Denn im Fahrwasser der Ordensreform avancierten im 15. Jahrhundert vor allem dominikanische und franziskanische Frauenklöster zu »entscheidenden Orten für literarische Interessenbildung« und Schreibtätigkeit. 104 Auch der Alemannische Marienmantel disseminierte offenbar über die Skriptorien und literarischen Netzwerke der weiblichen Ordenszweige. Hiermit ist jedoch nicht gesagt, dass dieser Text und die damit verbundene Gebetsübung als Spezifikum weiblicher Klosterkultur gelten müssen. Wie sich vor allem am Beispiel Dominikus ’ von Preußen zeigen wird, wurde das Mantelbeten vielmehr auch von männlichen Religiosen und sogar von Laien aufgenommen und praktiziert. 105 Statt entsprechende Texte also dem unscharf umrissenen Bereich der › Frauenfrömmigkeit ‹ zuzuweisen, kann eher von einer Schreib- und Überlieferungsdynamik ausgegangen werden, in der Frauenklöster und ihre ungemein produktiven Skriptorien zwar als Impulsgeber und Multiplikatoren geistlicher Literatur in der Volkssprache fungierten, die so verbreiteten Texte jedoch auch über das Milieu weiblichen Religiosentums hinaus gelesen, kopiert und redigiert wurden. 106 Die weitere Rezeption des Alemannnischen Marienmantels verdeutlicht nicht nur diese übergreifende Strahlkraft spätmittelalterlicher Gebets- und Andachtsliteratur, sie lässt auch einige Annahmen zur Datierung und Lokalisierung der Entstehung dieses spezifischen Texts zu. So bezieht sich Dominikus von Preußen, auf dessen Mantelschriften ich weiter unten genauer eingehe, in seinem Pallium beate Marie virginis offenbar auf den Alemannischen Marienmantel. Er schreibt, ihm sei eine entsprechende Andachtsübung zugetragen worden, die ihren Ursprung in Almania superiori, Argentine videlicet et in 103 Nichts im Text und in den ihn überliefernden Handschriften spricht gegen eine dominikanische Verwendung, und die im Ausblick dieses Kapitels weiter ausgeführte Verbreitung des Mantelbetens in Dominikanerinnenklöstern weist darauf hin, dass neben den Franziskanerinnen auch die Schwestern des Predigerordens den Alemannischen Marienmantel oder ähnliche Texte genutzt haben dürften. Franz Xaver Haimerl geht in sicher pauschalisierender Weise so weit, einen marianischen Fokus von Gebet- und Andachtsbüchern prinzipiell als Kennzeichen dominikanischer Frömmigkeit zu werten: »Als speziell dominikanisch darf auch die besondere Betonung der Marienverehrung angesehen werden« (Haimerl 1952, S. 50). 104 Werner Williams-Krapp: Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. v. Joachim Heinzle, Stuttgart/ Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 301 - 313, hier S. 301. Als Zentralorte religiöser Literatur im 15. Jahrhundert nennt Williams-Krapp »die observanten Frauenklöster, vor allem die des Predigerordens, und einige Männerklöster, in denen der Status des Laienbruders im Rahmen der Reform eine Aufwertung erfahren hatte, sowie die nie eine Erneuerung benötigenden Kartausen« (ebd.). Die Verbreitung und Überlieferung schriftlicher Gebetsmäntel verlaufen entlang dieser Zentren geistlichen Schreibens und Abschreibens. 105 Diese unten untersuchten Texte erlauben es, die Annahme z. B. Jeffrey F. Hamburgers, handwerkliches Beten sei »common in, if not exclusive to, convents« gewesen (Hamburger 1997, S. 75), zu präzisieren, belegen sie doch, dass dementsprechende Übungen über Frauenklosterkontexte hinaus Resonanz fanden. 106 Zum Thema siehe z. B. Williams-Krapp 1991; Williams-Krapp 1986/ 1987; Regina D. Schiewer: Sermons for Nuns of the Dominican Observance Movement, in: Medieval Monastic Preaching, hg. v. Carolyn A. Muessig, Leiden u. a. 1998, S. 75 - 96. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 225 <?page no="226"?> partibus circum adiacentibus (Pallium, Z. 2) genommen habe. 107 Dort habe man nämlich vor zwei Jahren mit einer neuen geistlichen Übung begonnen, 108 die darin bestehe, aus Gebeten und Andachtsübungen einen Mantel für die Jungfrau Maria herzustellen, und die Dominikus nun auch in Trier und darüber hinaus verbreiten wolle. Dominikus ’ Pallium lässt sich einigermaßen genau datieren. Zu Beginn des zweiten Teils des Liber experientiae, der 1458 vollendet wurde, findet diese Schrift Erwähnung. 109 Da im ersten Teil vom Marienmantel noch nicht die Rede ist, Dominikus nun jedoch anmerkt, seine diesbezügliche Schrift sei bereits weitläufig verbreitet worden, 110 nimmt Karl Joseph Klinkhammer schlüssig an, der Kartäuser habe das Pallium »bald nach Vollendung des ersten Liber Experientiae, d. h. um 1445, abgefaßt«. 111 Seine Aussage, mit dem Mantelgebet sei in Straßburg erst vor zwei Jahren (ante biennium, Pallium, Z. 6) begonnen worden, gehört in ihrer Betonung von Innovativität zu Dominikus ’ rhetorischem Programm der Propagierung des Mantelbetens. Dies bedeutet jedoch nicht, dass an der prinzipiellen Stimmigkeit der dabei gemachten Orts- und Zeitangaben zu zweifeln ist. Nimmt man also die Ursprungserzählung im Pallium für zumindest halbwegs bare Münze, muss für den Alemannischen Marienmantel eine Entstehung in den 1440er Jahren in oder um Straßburg angenommen werden. Die Überlieferungslage, die wie erwähnt um 1450 mit drei Handschriften aus dem deutschsprachigen Südwesten einsetzt, kann diese These mittelbar stützen. 112 Für eine entsprechende Herkunft des Texts sprechen zudem mehrere regionalspezifische Lexeme, darunter trotten und trotbo ᵘ me ( › keltern ‹ und › Kelterbaum ‹ ; AM, Z. 18) sowie werbe ( › mal ‹ ; AM, Z. 169 f.). 113 Schließlich darf die Tatsache, dass die 1476 gegründete Straßburger Ursulabruderschaft, die wohl auf kartäusische Initiative zurückging und von den Dominikanerinnen des reformierten Klosters St. Nikolaus in undis organisiert und verwaltet wurde, verwandte Mantelgebete in ihre Bruderschaftsaktivitäten integrierte, als Indiz für eine Verankerung dieser Gebetsübung spezifisch in Straßburg gelten. 114 Möglicherweise wurde der Aleman- 107 »In Südwestdeutschland, d. h. in Straßburg und in den angrenzenden Gegenden«. Übereinstimmungen auch in kleinen Details wie z. B. der Wahl der Seele Jesu Christi zur Werkmeisterin des Gebetsmantels, der Zahl und Qualität der zu errichtenden Gebets- und Frömmigkeitsübungen sowie den Details des Mantels lassen den Schluss zu, dass es sich bei der Andachtsübung, auf die Dominikus referiert, um den Alemannischen Marienmantel oder zumindest eine inhaltlich weitgehend deckungsgleiche Version dieser Gebets- und Andachtsübung gehandelt haben muss. Vgl. dazu die Diskussion unten, Kap. III.3. 108 So heißt es: Ibidem et exercicium novum bonum atque devotum nuper, videlicet ante biennium, inchoatum est (Pallium, Z. 6.). 109 Vgl. Dominicus de Prussia: Liber experientiae II, S. 32; siehe auch die Erwähnungen von Dominikus ’ Mantelpreis auf S. 252 und S. 257 f. 110 Pallium quoque eius hic conscriptum ad honorem ipsius etiam in pluribus locis iam habetur et conficitur, sicut intelleximus (»Auch ihr Mantel, der hier zu ihrer Ehre geschrieben wurde, ist ebenfalls bereits an vielen Orten vorhanden und wird dort vollbracht, wie wir verstanden haben«, ebd., S. 32). 111 Klinkhammer 1972, S. 16. 112 Sie dazu die Editionsanmerkungen im Anhang dieser Untersuchung. 113 Vgl. Art. »Trottbaum« und »Trotte«, in: DWB 22 (1952), Sp. 1076 f. Die Belege in Schmidts Wörterbuch des Elsässischen zeigen zudem, dass die Verwendung dieses Bild- und Begriffsfelds in südwestdeutschen Passionsallegorien des Spätmittelalters gebräuchlich war, siehe Charles Schmidt: Historisches Wörterbuch der elsässischen Mundart. Mit besonderer Berücksichtigung der früh-neuhochdeutschen Periode, Straßburg 1901, S. 360 f. Zum Lexem werbe siehe ebd., S. 416. 114 Zur Gründung der Bruderschaft vgl. Schnyder 1986, S. 52; zu gebeteten Kleidern in der Ursulabruderschaft vgl. ebd., S. 198; S. 203; S. 205; S. 228. 226 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="227"?> nische Marienmantel sogar im Umfeld der Straßburger Kartause verfasst. Dies würde sowohl die Verbindung zu Dominikus von Preußen als auch die gemeinsame Überlieferung des Texts mit einer Reihe elsässischer Ursulalegenden plausibilisieren, war doch das Straßburger Kartäuserkloster um 1400 nach Stiftung eines Ursulaaltars zum »lokalen Zentrum des Kults« dieser Heiligen geworden. 115 Damit reiht sich der Alemannische Marienmantel ein in das reiche Korpus der südwestdeutschen Gebetbuchliteratur des 15. Jahrhunderts und darf in einem religiösen Milieu verortet werden, in dem auch Frauenklöster und teils sogar fromme Laien zu Trägerinnen und Rezipienten geistlicher Literatur in der Volkssprache wurden. Meine folgende Untersuchung dieses Texts stellt deshalb auch einen rezeptionsästhetisch orientierten Versuch dar, ein Schlaglicht auf die religiösen Lese- und Handlungswelten dieses Kontexts zu werfen. Denn wie wurden Texte wie der Alemannische Marienmantel gelesen und in der Gebetspraxis genutzt? Welches Publikum partizipierte daran auf welche Weise? Wie vermittelten Texte einen Rahmen sowohl für ein vertikal auf die Transzendenz gekehrtes Beten als auch ein horizontales Eintauchen in die sprachlich evozierte Bildlichkeit der geistlichen Textilie, die gleichsam als geistlich-konkretes Werkstück wie als komplexe Allegorie gekennzeichnet ist? Insbesondere da das Mantelbeten, anders als die für einzelne Betende zugeschriebenen Rosenkränze, zumeist als Gemeinschaftsarbeit konzipiert ist, in deren Rahmen gewissermaßen arbeitsteilig eine geistliche Textilgabe für Maria angefertigt wird, erlangen diese Fragen nach den Vollzugsangeboten entsprechender Texte Brisanz. 2.1 Mit Worten weben: Der Marienmantel als geistliches Werkstück Inhaltlich kann der Alemannische Marienmantel grob in zwei Hauptabschnitte unterteilt werden, die von einer Anempfehlung des Gebetes an die zur Werkmeisterin gewählte Seele Jesu Christi, verschiedenen Bitten und Fürbitten sowie einer summarischen Auflistung der zu erbringenden Frömmigkeitsleistungen gerahmt sind. Erstens besteht dieser Text aus einer kleinteiligen Anleitung zur gebethaften Anfertigung eines Marienornats, der neben seinem Zentralstück, dem reichverzierten Mantel, auch ein dazu parallel gestaltetes Hemd und Schmuck für das von Maria in den Armen getragene Jesuskind sowie zwei Kronen für Maria und Jesus umfasst. Dieser Abschnitt folgt dem Prinzip eines handwerklichen Betens, das sich zur Gabe für Maria figurieren soll. Zugleich aber entfaltet sich an diesem geistlichen Textilgegenstand ein dichtes Netz allegorischer Repräsentationen, die auf bestimmte Heilsereignisse, katechetische Wissensbestände oder abstrakte Glaubenswahrheiten deuten. Zweitens schließt an diese Fertigungsanleitung ein weiterer Hauptteil an, der den Gang Marias zum Tempel im Rahmen der Darstellung Jesu, an die das Fest Mariä Lichtmess (2. Februar) erinnert, als eine Mischung aus liturgischer Prozession und herrscherlichem adventus der Himmelskönigin vergegenwärtigt. Hierbei soll Maria den eben aus Gebeten und anderen frommen Zuwendungen gefertigten Ornat 115 Ebd., S. 52. Mit Ausnahme von M gehen alle Textzeugen des Alemannischen Marienmantels offenbar auf eine als gesamtes Textkompendium kopierte Vorlage zurück, die vor allem Ursulalegenden und verwandte Schriften zu dieser Heiligen sammelt. Vgl. dazu die Angaben zu den einzelnen Handschriften im Anhang dieser Untersuchung. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 227 <?page no="228"?> tragen, den die Betenden ihr übereignen. Begleitet und unterstützt wird Maria von diversen Heiligen, Kirchenvätern und biblischen Figuren, die hierfür von den Betenden mit Reihengebeten und anderen Frömmigkeitsübungen entlohnt werden müssen. Beide Hauptabschnitte folgen jeweils eigenen Logiken von gemeinschaftlicher Herstellung, gebet- und gabenhafter Hinkehr zur Transzendenz, imaginierendem Eintauchen sowie der zeichenhaften Entfaltung allegorischer Bild- und Dingbedeutungen. Folgend rücke ich sie daher nacheinander in den Fokus. Als Großform innerhalb der spätmittelalterlichen Gebets- und Andachtsliteratur ist der Alemannische Marienmantel in seinem Grundprinzip der Herstellung einer geistlichen Votivgabe im Gebet den vorweg behandelten Rosenkränzen vergleichbar. Im Gegensatz zum Rosenkranz jedoch, bei dem jeder Gläubige innerlich seinen eigenen Blumenschmuck zu erstellen hat, ist er von vornherein als gemeinschaftliche Übung angelegt. Wie bereits die hohe Anzahl der verlangten Frömmigkeitsleistungen verdeutlicht, ist die Übung, zu der dieser Text auffordert, nicht für eine einzelne Person gedacht. Vielmehr müssen die insgesamt 600.000 Ave Maria, 300 Salve Regina, 6000 Venien, 53 Messen, 6 Psalter sowie weitere Gebets- und Askeseleistungen, aus denen der anzufertigende Gebetsmantel besteht, auf eine Gruppe von Betenden aufgeteilt werden. Es ergibt sich so eine Gebets- und Andachtspraxis, 116 in deren Rahmen der geistliche Marienmantel kollektiv hergestellt wird und die in mancher Hinsicht an das im Spätmittelalter florierende Bruderschaftswesen gemahnt. Eine Vielzahl an Personen arbeitet gleichzeitig an dem geistlichen Werkstück, teilt je nach Stand und Fähigkeit das dazu nötige Pensum an Frömmigkeitsleistungen unter sich auf und steuert einzelne Elemente zum Mantel bei. Damit eignet dem Alemannischen Marienmantel ein gemeinschaftsstiftender Anspruch, der die Gläubigen, die zu ͦ disem mantel gestúret hant mit tu ͦ nde und mit lossende, mit liden und mit midende (AM, Z. 3 f.) 117 als Kommunität konzipiert, die gleichermaßen die Mühen des Mantelbetens wie auch die davon erhofften Gnadenfrüchte miteinander teilt. Dies steht im Kontrast zu der verbreiteten These von einer grundlegend »mehr auf die Einzelpersönlichkeit als auf die religiöse Gemeinschaft eingestellte[n] Frömmigkeitsauffassung« des Spätmittelalters. 118 Andachtsübungen wie der Alemannische Marienmantel können, genau wie die Rosenkranzbruderschaften und die vielgestalten vergleichbaren Gebetszusammenschlüsse, 119 als gemeinschaftsbetonendes Gegenelement zu den individualisierten Frömmigkeitsformen des ausgehenden Mittelalters verstanden werden. Wenn also das Gebet als »Akt des Gesprächs« erstens darauf abzielt, 120 eine vertikale Kommunikationsbeziehung zwischen den Betenden und dem Heiligen zu etablieren, und der zugrundeliegende Text zweitens seinen Inhalt gleichzeitig horizontal an die immergierten Leser vermittelt, so kommt im Falle des Alemannischen Marienmantels drittens noch eine weitere horizontale Ebene hinzu. Das Gewebe (textus) des Gebetsmantels 116 Vgl. zu diesem Themenkomplex die Ausführungen zur Rosenkranzbruderschaft oben, Kap. II.5; sowie insbesondere Schnyder 1986 und Eisenbichler 2019. 117 »die zu diesem Mantel beigesteuert haben mit Tun und mit Lassen, mit Leiden und mit Meiden«. 118 Haimerl 1952, S. 61. 119 Der regionalisierte Charakter des Bruderschaftswesens und seiner Regelwerke macht Allgemeinaussagen zu diesem Themenkomplex notorisch unzuverlässig; vgl. auch Klieber 2018. 120 Suerbaum 2017, hier S. 298. 228 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="229"?> nämlich verbindet die Gläubigen sowohl mit dem Heiligen als auch untereinander. Dieses Beziehungsgeflecht, das den anleitenden Text, sein betendes Lesepublikum und das adressierte ebenso wie dargestellte Heilige gleichsam umschließt, gestaltet sich voraussetzungsvoll. Es verdient folgend besonderes Augenmerk. Zunächst wird der Marienmantel dabei als geistlicher Gegenstand vorgestellt, zu dem die Gläubigen mit ihren Gebeten, Messen, Entsagungen ebenso wie ihren christlichen Tugenden und frommen Affekten das Ausgangsmaterial bzw. ein kostenmäßiges Äquivalent liefern. Ein Blick auf eine erste Textpassage entbirgt die Modalitäten, denen diese geistliche Handwerksarbeit folgt: Diser mantel sol sin geordent von x elen das kostberlichen guldin tu ͦ ches, das man gehaben mag, und je die ele sol kosten xv tusent Ave Maria. Dis gúldin tuch bezeichent uns die wore go ᵉ tliche mynne, in der ir hertze so kreffteclichen entzúndet was. Das fu ͦ ter under disem mantel sol sin von wissen hermelin zu ͦ einer bezeichnunge ir megtlichen luterkeit. Dis fu ͦ ter sol kosten hundert tusent Ave Maria. (AM, Z. 10 - 14) 121 Ein jeweiliges Teilstück des Mantels oder auch ein zu verarbeitender Werkstoff, hier das Manteltuch und das Futter, werden benannt, in Aussehen und Kostbarkeit beschrieben und anschließend mit der Anzahl der Gebete beziffert, von denen sie gekauft oder gefertigt werden sollen. Für den goldenen Stoff ist zudem noch die Menge des zu verarbeitenden Materials angegeben: Zehn Ellen stellen ein für einen einzelnen Mantel ausgesprochen großzügiges Maß dar. 122 Darauf folgt eine kurze allegorische Auslegung des jeweiligen Mantelteils, so steht beispielweise hier die goldene Farbe des Manteltuchs für die Liebe und das weiße Futter aus dem im Mittelalter herrscherliche Macht anzeigenden Hermelinpelz 123 für die Jungfräulichkeit Marias. Thomas Lentes charakterisiert den Prozess, zu dem dieser Text einlädt, als »Malvorgang, bei dem in der Vorstellungskraft der Beter« der gebetete Gegenstand entsteht, kurzum als »Evozierung innerer Bilder«. 124 Tatsächlich wird ein frommes Lesepublikum hier dazu angeregt, das langsam aus Gebetsworten hervorgebrachte Kleidungsstück in seiner kostbaren Materialität und prachtvollen Farbigkeit intensiv zu visualisieren. Obwohl also einem dergestalt bildhaften Imaginieren eine zentrale Rolle zukommt, bleibt der vom Alemannischen Marienmantel instruierte Vollzug nicht bei der Evokation eines visuellen Eindrucks stehen, sondern muss darüberhinausgehend auch als Akt der Figuration im Sinne der erfüllenden Herstellung einer sprachlich vorentworfenen inneren 121 »Dieser Mantel soll angefertigt sein aus zehn Ellen des kostbarsten goldenen Tuchs, das man nur haben kann, und jede Elle soll 15.000 Ave Maria kosten. Dieses goldene Tuch bezeichnet uns die wahrhafte göttliche Liebe, in der ihr Herz so heftig entflammt war. Das Futter innen an diesem Mantel soll zum Zeichen ihrer jungfräulichen Reinheit aus weißem Hermelin sein. Dieses Futter soll 100.000 Ave Maria kosten.« 122 Das spätmittelalterliche Ellenmaß variiert je nach Region, allgemein kann aber mit etwas mehr oder weniger als einem halben Meter gerechnet werden. Die Freiburger Elle z. B., die immer noch am Portal des Freiburger Münsters angebracht ist, misst 54 cm. Vgl. Adolf Wangart: Das Freiburger Münster im rechten Maß, hg. vom Münsterbauverein Freiburg, Freiburg i. Brsg. 1972. Zehn Ellen stellen also ungefähr fünf Meter einer Stoffbahn dar. 123 Das Tragen von Hermelinpelz, dem Winterfell einer Wieselart, war im europäischen Mittelalter ein meist recht streng reguliertes Herrscherprivileg, vgl. dazu Herbert Norris: Medieval Costume and Fashion, Minola 1999, S. 283. Der Text überträgt hier weltliche Kleiderordnungen in den religiösen Bereich. 124 Lentes 1993, S. 126. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 229 <?page no="230"?> Wirklichkeit begriffen werden. Denn den Anweisungen des Gebets- und Andachtstexts folgend visualisieren die Betenden den Mantel Marias nicht bloß, sie erschaffen ihn vielmehr gemeinsam aus ihren frommen Worten und Gedanken. Aus dem Wortgeflecht des Textes entfaltet sich so das überstoffliche Gewebe der geistlichen Textilie. 125 Dies ließe sich zuerst als Prozess der Verinnerlichung fassen, der an die Stelle eines äußeren stofflichen Dings einen innerlich imaginierten Gegenstand setzt. 126 Zudem aber verdinglicht und veräußerlicht das Mantelgebet auch die Frömmigkeitshandlungen der Gläubigen, die exakt quantifiziert und als Material konzipiert werden, das in einem konkretisierenden Entsprechungsverhältnis zu den sublimen Stoffen des Marienornats steht. Das Ergebnis dieser Gebets- und Andachtsübung wird als geistliche Handwerksarbeit vorgestellt, die als Kleidergabe für Maria gegenständlich behandelt, ja in der vom Text explizit formulierten Hoffnung auf eine heilswirksame Gegenleistung (vgl. AM, Z. 158 - 164) geradezu heilsökonomisch verdingt wird. Interiorisierung und Exteriosierung sind hier komplex amalgamiert. Damit erscheint der Marienmantel erstens als gemeinschaftlich betriebene Figuration des Betens, der das eignet, was oben als geistliche Konkretheit beschrieben wurde. Das auf diese Weise gefertigte vestimentäre Objekt ist zunächst ein innerlich hervorgebrachtes Ding, das jedoch als ebenso ästhetisch präsent und gabenhaft verfügbar behandelt werden kann wie stoffliche Dinge, die es in seiner unvergleichlichen Pracht und Subtilität sogar zu übertreffen vermag. Zusätzlich kommt ihm auch eine explizit gemachte allegorische Zeichenqualität zu, der ich unten weiter nachgehe. In den arbeitsteiligen Fertigungsanweisungen zum Marienmantel wird, stärker noch als im Falle des Rosenkranzgebets, ein religiöses Leben in Analogie zu handwerklicher Arbeit präsentiert. Fromme Christen, so kann das Bild des Andachtstextes zusammengefasst werden, sind Handwerkerinnen und Handwerker im Glauben - sie spinnen, weben und schneidern mit ihren Gedanken, Worten und tugendhaften Taten. 127 Gebet und Andacht sind daher, so legt der Alemannische Marienmantel nahe, als Formen produktiver Praxis zu verstehen, die geistliche Gegenstände hervorbringen, die verschenkt oder geradezu gehandelt werden können. Hier scheint ein weitreichendes Verständnis von Frömmigkeit auf, das effektiv auch die Grenzen von vita activa und vita contemplativa auf teils prekäre Weise verwischt. 128 125 Dies ließe sich noch einmal mit der komplexen Semantik des lateinischen Lexems textus zusammenbringen, in dem wie oben ausgeführt textile und textuelle Bedeutungen verbunden sind; vgl. dazu Eikelmann 2021. 126 Hierin lässt sich eine ähnliche Vorstellung wie z. B. in dem Mirakel Marien Rosenkranz erkennen, vgl. dazu oben, Kap. II.2.1. 127 In eine ähnliche Richtung gehen mehrere kurze mittelniederländische Texte, die tatsächliche Handwerksarbeiten als Anlass und Rahmen für gleichzeitige Gebets- und Betrachtungsübungen präsentieren. Vgl. dazu die wertvollen Erschließungsarbeiten und Diskussionen bei Anna Dlaba č ová: Spinning with Passion: The Distaff as an Object for Contemplative Meditation in Netherlandish Religious Culture, in: The Medieval Low Countries. History, Archaeology, Art and Literature 4 (2018), S. 177 - 209. 128 Dieser Themenkomplex, der das Mantelgebet in den spätmittelalterlichen Lebensformdiskurs stellt, tritt insbesondere in Dominikus ’ von Preußen Pallium beate Marie virginis prominent hervor und wird deshalb im Rahmen der Untersuchung dieses Textes detaillierter behandelt, siehe unten, Kap. III.3. 230 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="231"?> Dabei schließen sich die an der Fertigung des Gebetsmantels beteiligten Gläubigen zu einer geistlichen Produktionsgemeinschaft zusammen, die über sich hinaus auf das Heilige weist und es sogar miteinbezieht. Denn zur Vollendung des Werkstücks bedarf es einer erwúrdigen wisen werckmeisterin diß mantels (AM, Z. 144 f.), 129 zu der die im Spätmittelalter vielfach und am prominentesten in dem Gebet Anima Christi verehrte Seele Jesu Christi gekürt wird. 130 Dieser wird aufgetragen, sie möge doch dis gebette [ … ] fúrbaß ordenen und zieren in disen mantel noch dem aller liebsten wolgevallen willen des himelschen vatters und noch eren der himelschen kúngin und ires kindes. (AM, Z. 145 - 148) 131 Damit stellt der Marienmantel kein rein menschliches Werk mehr dar, sondern entsteht vielmehr durch die Kunstfertigkeit der Seele Christi, 132 für deren Schaffen die Gebete und frommen Übungen der Gläubigen bloß das Ausgangsmaterial liefern. Der Text entwirft dieses Gewand entsprechend als Gnadenerweis, der ermöglicht wird durch die Zusammenarbeit der Betenden mit dem zugleich als Sohn Marias wie als Mittler zwischen Himmel und Erde auftretenden Christus. 133 Schon in der Erstellung des Gebetskleides ergibt sich auf diese Weise ein Kontakt, wenn nicht gar eine Sozietätsbildung von Immanenz und Transzendenz. Als Ergebnis dieser menschlich-göttlichen Arbeitsteilung entsteht ein geistlicher Gegenstand, der Maria und dem Jesuskind unter Beihilfe zahlreicher Heiliger überreicht wird. Die Gottesmutter wiederum wird im Gegenzug dafür um Interzession gebeten sowie darum, dass sie die Seelen der Betenden in Anlehnung an das verbreitete Schutzmantelmotiv in der Sterbestunde entpfohe under den mantel ir mu ᵉ terlichen grundlosen erbermde und uns leite von disem ellende in das ewige vatter land, do wir sú und ir kint in fro ᵉ iden schowent ewenclichen. (AM, Z. 162 - 164) 134 129 »der ehrwürdigen, weisen Werkmeisterin dieses Mantels«. 130 Zur Geschichte des Anima Christi und der Verehrung der Seele Christi vgl. Earl Jeffrey Richards: Das Gebet Anima Christi und die Vorgeschichte seines kanonischen Status. Eine Fallstudie zum kulturellen Gedächtnis, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 49 (2008), S. 55 - 84; sowie ausführlich Giuseppe Virgilio: Anima Christi. Origine, storia e teologia di una preghieria medievale, Verona 2010 (Collana spirituale 25). 131 »diese Gebete und all diese Tugenden an dem Mantel weiter herrichte und verzierend anbringe nach dem allerliebsten wohlgefallenden Willen des himmlischen Vaters und zu Ehren der Himmelskönigin und ihres lieben Kindes«. 132 In letzter Hinsicht entspringt das geistliche Marienkleid somit der göttlichen Weisheit und Gnade, denn nach Hugo von Sankt Viktor »ist die Weisheit der Seele Christi der Weisheit Gottes gleich, da ein u. dieselbe Weisheit gegeben ist. [ … ] Neben der Allwissenheit hat die Seele Christi auch die Allmacht, Ewigkeit, Unermeßlichkeit Gottes« (A. Grillmeier: Art. Jesus Christus. II. Die nachbiblische Christologie. A) Dogmengeschichte der kirchl. Christologie, in: LThK 5 [1960], Sp. 941 - 953, hier Sp. 950.). Diese im Mittelalter vielrezipierte Auffassung von der Natur der Seele Christi findet sich bei Hugo von Sankt Viktor: De sapientia animae Christi. An aequalis cum divina erit, in: Patrologia Latina 176 (1854), Sp. 845 - 856. 133 Die Vorstellung einer Mittlerfunktion Christi fundiert sich in den Apostelbriefen des Neuen Testaments: unus enim Deus unus et mediator Dei et hominum homo Christus Iesus (»Einer ist nämlich Gott, und einer auch der Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus«, I Tim 2,5). 134 »unter dem Mantel ihrer mütterlichen grundlosen Barmherzigkeit empfange und uns aus diesem Elend in die ewige Heimat führe, wo wir sie und ihr Kind auf ewig mit Freuden schauen werden.« 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 231 <?page no="232"?> Maria tritt hier somit, ähnlich der Seele Christi, als mediatrix auf, das heißt als Mittlerin, die das fromme Lesepublikum des Texts mit ihrem Sohn Jesus Christus sowie Gottvater versöhnen und verbinden soll. 135 Das vom Text entworfene gemeinschaftliche Werk der Gläubigen und ihrer jenseitigen Adressaten erweist sich als vielgestaltig. Unter der Obhut und gnadenhaften Mithilfe der Seele Christi beauftragen und › bezahlen ‹ die Betenden verschiedene Heilige, beschenken, bekleiden und bitten Maria sowie das Jesuskind, um schließlich den Schutz der Gottesmutter und die durch sie vermittelte Gnade Gottes zu erlangen. Der Alemannische Marienmantel konstruiert demgemäß, so kann zusammengefasst werden, ein mehrschichtiges Relationsgeflecht zwischen den immanenten Betenden untereinander sowie dem Transzendenten. Hinkehr und Nähe zum Heiligen sollen hierbei durch kommunitäres Eintauchen in einen sprachlich angeleiteten Vorgang der Figuration eines geistlichen Gegenstandes gewährleistet werden. Schlussendlich ist dieses Vollzugsangebot mit der Hoffnung auf einen heilsvermittelnden Effekt verbunden, die auf der Vorstellung einer frommen Produktionsgemeinschaft zwischen Himmel und Erde aufruht. 2.2 Zählendes Beten als Herstellungsverfahren Zugleich aber liegt der Fertigung des Marienmantels eine Logik der Ökonomisierung zugrunde. Jedes Einzelelement des Ornats hat einen in Gebeten und sonstigen Frömmigkeitsakten bezifferten Preis, den die Gläubigen entrichten sollen. Hierin gehört das Mantelbeten in den weiten Bereich der fürs Spätmittelalter charakteristischen › gezählten Frömmigkeit ‹ . 136 Dass die Quantifizierung von Frömmigkeitsakten einerseits mit Gefahren der mechanistischen Veräußerlichung einer Praxis einherging, die doch gerade auf einen nicht zähl- oder erzwingbaren Gottesbezug im Inneren abzielte, und andererseits ein »kontrolliertes Verfahren« anbot, mit dem sich einzelne Betende »in christliche Tugenden einüben« und dabei eine Versenkung in die Heilsgegenstände stimulieren konnten, 137 zeigt sich spannungsreich verbunden. Die Modalitäten des Zählens und Kumulierens werden beispielhaft illustriert durch die folgende Passage, die zur Fertigung der prächtigen Fürspange am Marienmantel anleitet. Diese Spange ist als eine broschenhafte Fibel zu denken, die gleichzeitig als Schmuckstück und zum Schließen des mit gestickten Borten verzierten Halsausschnitts dient: 138 135 Die Vorstellung, dass »Jesus unser Mittler ist durch seinen blutigen Kreuzestod, Maria unsere Mittlerin als Gottesgebärerin«, gehört zu den Grundelementen mittelalterlicher Marienfrömmigkeit (Beissel 1909, S. 358). Die fünf Buchstaben des Namens Maria wurden sogar oftmals als Akronym für mediatrix, auxiliatrix, reparatix, illuminatrix und adiutrix verstanden (vgl. ebd., S. 216). Vgl. zur Rolle Marias als Mittlerin auch Fulton Brown 2018, S. 96. 136 So stellt Thomas Lentes fest: »Rechenhaftigkeit und Quantifizierung wird der spätmittelalterlichen Frömmigkeit allenthalben attestiert. Dabei gilt es freilich zu klären, wie das Zählen als eine Form des religiösen Ausdrucksverhaltens eingesetzt wurde und worauf es zielte« (Lentes 1996, S. 498). Vgl. auch Angenendt u. a. 2001. 137 Angenendt/ Lentes 2000, S. 114. Largier 2008 betont auf aufschlussreiche Weise besonders die letztgenannten meditativen Effekte mittelalterlicher Techniken des frommen Zählens. 138 Zum Hintergrund dieser Art von Schmuckstück und seiner Verwendung vgl. Cornelia Lowasser: … an ir hemde ein fürspan er da sach … Sternförmige Gewandspangen des 13./ 14. Jahrhunderts, in: 232 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="233"?> Die fúrspang an disem mantel sol sin von vinem golde und dar in gewúrcket zwo ᵉ lff edel stein. Das súllent sin zwo ᵉ lff edel messen, die hie zu ͦ gesprochen sint. Der stein mittel in der spangen sol sin von drigen der aller minne richesten messen, die hie zu ͦ gesprochen sint zu ͦ einer bezeichnung der heiligen drúvaltikeit, die so edellich in irem hertzen gewúrcket hett. Dis golt an diser spangen sol kosten alle die innerlichesten súfftzen und die himelschen vermanung, die in mynnen ervolget sint und hie zu ͦ gegeben sint und zwentzig tusent Ave Maria. (AM, Z. 46 - 52) 139 Neben den 20.000 Ave Maria für das Gold und den insgesamt 15 Messen, aus denen die in das kostbare Kleinod eingesetzten Edelsteine bestehen, werden zusätzlich auch die inniglichen Seufzer und himmlischen Ermahnungen der Gläubigen zum Erwerb der prächtigen Spange aufgewandt. Während erstere genau zählbar und damit auch unter verschiedenen Betenden bzw. Zelebranten aufteilbar sind, verwehren sich letztere Erweise der Andacht einer exakten Bezifferung. Dennoch werden sie als Material für den Schmuck am Marienmantel verlangt. Hier zeigt sich, dass, wie schon das oben behandelte Mirakel von den drei Schwestern illustrierte, handwerkliches Beten im Mittelalter nicht allein auf dem zählenden Aufsagen von Formeln beruhte, sondern explizit auch die Tugenderweise, Affekte und die Andachtshaltung der Gläubigen miteinschloss. 140 Denn auch prinzipiell unzählbare Frömmigkeitsmomente werden genau wie quantifizierbare Gebetsleistungen in das imaginierte Werkstück hineingegeben und kristallisieren sich zur geistlich-konkreten Figuration religiöser Praxis. Dass der Alemannischen Marienmantel dabei das Wort kosten verwendet, um auf die Äquivalenzbeziehung zwischen dem Gold als Ausgangsmaterial der Fürspange und den dafür zu vollbringenden Frömmigkeitsleistungen zu verweisen, veranschaulicht das den Text kennzeichnende heilsökonomische Prinzip. Die Gabe für Maria hat ihren genauen Preis, der mit wirtschaftlicher Präzision berechnet und entrichtet werden will. Zusammengenommen summieren sich die für die einzelnen Mantelteile und die Entlohnung der beim Tempelgang assistierenden Heiligen aufgebrachten Gebete und übrigen Devotionsakte zu einem enormen Pensum. Zum Abschluss wird dieses aufgelistet: Dis ist die summe dis gebettes: drige und fúnfftzig messen, sechs selter, sechs werbe hundert werbe tusent Ave Maria, drúhundert Salve regina, sechs tusent Ave Maria, die mit crútz venien gesprochen sint, und eins und drissig Paternoster und Ave Maria und Gloria patri und tusent fúnffhundert und drúhundert willen brechen und sunder drige grosse. One das ungezelte gebette und tugende und liden, das in gedult gelitten ist und zu ͦ einer gezierde an disem mantel gegeben ist von mynnen. (AM, Z. 169 - 174) 141 Archäologie, Mittelalter, Neuzeit, Zukunft. Festschrift für Ingolf Ericsson, hg. v. Rainer Atzbach u. a., Bonn 2017 (Bamberger Schriften zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 6), S. 331 - 346. 139 »Die Fürspange an dem Mantel soll aus feinem Gold sein, und dareingefügt [sollen sein] zwölf Edelsteine. Das sollen zwölf edle Messen sein, die hierzu gesprochen wurden. Der Stein in der Mitte der Spange soll aus drei der allerliebreichsten Messen bestehen, die hierfür gesprochen wurden als Zeichen für die heilige Dreifaltigkeit, die so edel in ihrem Herzen gewirkt hat. Das Gold dieser Spange soll all die inniglichen Seufzer und himmlischen Ermahnungen kosten, die in Liebe erfolgt und hierzu gegeben sind, sowie 20.000 Ave Maria.« 140 Vgl. oben, S. 248 - 250. Thomas Lentes stellt auch für andere Texte fest, das Material geistlicher Gegenstände seien »nicht allein Gebete, sondern ausdrücklich auch die Tugenden der Beter« (Lentes 1993, S. 129). 141 »Das ist die Summe des obigen Gebets: 53 Messen, 6 Psalter, 600.000 Ave Maria, 300 Salve regina, 6.000 mit Kreuzvenien gesprochene Ave Maria, 31 Paternoster mit Ave Maria und Gloria Patri sowie 1.800 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 233 <?page no="234"?> Aufschlussreich ist an dieser Aufzählung neben ihrem enormen Umfang die Vielfalt der verschiedenen Beiträge, die von einfachen Gebetsformeln über Messen bis hin zu Askeseleistungen reichen. Dabei weisen die einzelnen Posten der geistlichen Kostenaufstellung auf unterschiedliche Personengruppen bzw. Stände, die sich an der Herstellung der geistlichen Textilie beteiligen sollen. Der folgende Blick auf die verschiedenen Frömmigkeitsleistungen, die hier verlangt werden, zeigt auf, wie der Alemannische Marienmantel hierdurch vielfältigen Personengruppen eine Teilhabe anträgt. Ähnlich dem universalen Mitgliedschaftsangebot der Rosenkranzbruderschaften überschreitet die Gemeinschaftskonstruktion dieser Gebets- und Andachtsübung dabei nicht bloß die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, sondern auch die ständischen Trennungen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. 2.3 Geistliche Arbeitsteilung: Partizipationsangebote des Mantelgebets Einige Elemente des Alemannischen Marienmantels lassen sich eindeutig bestimmten Personengruppen zuordnen. Die 53 Messen beispielsweise, die in verschiedene Teile des Ornats hineingewirkt sind, müssen zwingend von Priestern beigesteuert werden, die anders als Laien, Nonnen oder nicht ordinierte Mönche befähigt sind, den eucharistischen Gottesdienst zu zelebrieren. 142 Ob es sich bei diesen Messen um in der Gemeinde gefeierte Hochämter mit Erteilung der Kommunion an die anwesenden Gläubigen oder um allein gelesene und unter Umständen im Rahmen eines Messstipendiums bezahlte Privatmessen handeln soll, wird allerdings nicht spezifiziert. 143 Dominikus von Preußen, der später über die unterschiedlichen Beiträge zum Marienmantel reflektierte, empfahl in jedem Fall, diese Messen über das Kirchenjahr hinweg auf die marianischen Hochfeste aufzuteilen (vgl. Pallium, Z. 82 - 88). Er verstand sie als besondere Leistung und Verpflichtung der am geistlichen Kleid mitwirkenden sacerdotes: Que tamen sint illa ad hoc offerenda, in scriptis nobis huc missa legimus, quod videlicet primi istius pallii adiuventores offere ceperunt. Qui enim litterati fuerunt, psalteria, cantica canticorum seu alias oraciones devotas ex scriptis dixerunt. Sacerdotes missas legerunt quam plures, laici vero innumeras milia Ave Maria ad pallium hoc obtulerunt, ementes quasi preciosissimum pannum et fimbrias aureas et reliqua varia ornamenta ad ornatum pertinencia, multis semper milibus angelicis salutacionibus pro singulis dictis. (Pallium, Z. 57 - 62). 144 Entsagungen und dazu drei besonders große. Ungeachtet der ungezählten Gebete und Tugenden und des Leids, das geduldig gelitten wurde und als Zierde aus Liebe zu diesem Mantel hinzugegeben ist.« 142 Das Messverständnis des Mittelalters ging grundsätzlich dahin, »daß der Priester als der eigentlich Feiernde und Opfernde galt, als Mittler zwischen Gott und den Menschen, so daß sich die Gemeinde ihm nur noch anschließen konnte und nicht mehr eigentliches Subjekt der Feier war, wie es die Alte Kirche verstanden hatte« (Angenendt 2009, S. 495). 143 Zur Praxis der Privatmesse und zur Entwicklung des Messstipendienwesens vgl. grundlegend Angenendt 2004, S. 46 f.; sowie auch etwas ausführlicher Angenendt 2009, S. 495 - 497. 144 »Was jedoch jene Dinge seien, die hierzu beizutragen sind, lesen wir hierher zu uns gesandt in den Schriften, nämlich was die ersten Unterstützer dieses Mantels darzubieten erdachten. Diejenigen nämlich, die lesen konnten, sagten Psalter, Hohelieder oder andere fromme Gebete aus den Schriften auf. Die Priester lasen Messen, in noch größerer Zahl aber boten Laien wahrhaft unzählige tausend Ave Maria zu diesem Mantel dar, so als ob sie damit einen überaus kostbaren Stoff kauften sowie 234 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="235"?> Die Reihengebete hingegen, vor allem die 600.000 Ave Maria, die das Gros der zu erbringenden Frömmigkeitsleistungen darstellen, werden von Dominikus im obigen Zitat den laici, also frommen Laien zugeordnet. 145 Allerdings war zählendes Beten von Standardformeln im Spätmittelalter keineswegs auf den Bereich der Laienfrömmigkeit beschränkt: »Gezählt haben Nonnen wie Mönche, Kleriker wie Laien, Gebildete wie Ungebildete.« 146 Es kann vor diesem Hintergrund vermutet werden, dass der Alemannische Marienmantels, anders als in Dominikus ’ schematischer Schilderung, mit der riesigen Menge an Mariengrüßen nicht zwingend nur auf fromme Laien zielt. Daran, dass der volkssprachige Text es unterlässt, die verlangten Gebete explizit einer bestimmten Personengruppe zuzuweisen, lässt sich vielmehr eine gewisse Flexibilität erkennen. Trotzdem kann aus der Qualität der einzelnen Frömmigkeitsleistungen darauf geschlossen werden, auf wen die entsprechenden Anweisungen gezielt haben dürften. Die sechs Psalter, die zum Alemannischen Marienmantel gehören, verweisen wohl auf die beteiligten Geistlichen. So konnte dieses Gebet in Anbetracht der dafür nötigen Kenntnis der Psalmen und des Lateinischen in der Praxis wohl fast nur von literaten Nonnen, Mönchen und Klerikern bewältigt werden. 147 Zudem stellte das Offizium, in dessen Rahmen der gesamte Psalter über die Wochentage verteilt gebetet wurde, eine weitgehend monastische und klerikale Frömmigkeitstradition dar. 148 Dass im Falle des Mantelbetens besonders an weibliche Religiose als Trägerschicht einer solchen Gebetsfrömmigkeit zu denken ist, impliziert die oben besprochene Überlieferung des Texts. Standardtexte wie das Salve regina oder Gloria Patri dürften prinzipiell auch religiös versierten Laien vertraut gewesen sein. Allerdings geht aus dem Alemannischen Marienmantel nicht hervor, ob diese Texte gesprochen oder, wie es im Fall der Marienantiphon Salve regina ebenso wie der kleinen Doxologie plausibel scheint, 149 gesungen wurden. Ein musikalischer Vortrag wiederum würde noch einmal auf Nonnen oder Mönche weisen. 150 goldene Borten und verschiedenen weiteren zum Gewand gehörigen Zierrat, für jedes einzelne Stück wurden stets viele tausend Englische Grüße gesprochen.« Eine ähnliche volkssprachige Schilderung findet sich im Ripuarischen Marienmantel, Z. 34 - 43. 145 Wie Peter Ochsenbein anmerkt, war das zählende Beten kurzer Standardtexte in großer Anzahl schon ab dem 11. Jahrhundert bei den Zisterziensern für die »nicht lesefähigen Konversbrüder als Ersatz für das offizielle liturgische Officium divinum« verbreitet (Ochsenbein 1997, S. 139). Zur auch unter Laien verbreiteten Praxis, Reihen von Paternoster oder Ave Maria als Alternative zum Psalter zu beten, vgl. detailliert oben, S. 115 - 117. 146 Angenendt u.a 1995, S. 48. 147 Der Psalter war besonders für Mönche und Nonnen, denen ein striktes Regiment des über die Woche verteilten Psalmenbetens auferlegt war, »both the sign and the handbook of intense personal piety« (Gross-Diaz 2012, S. 437). 148 Vgl. Matter 2021, S. 18 - 26. 149 Dass das Salve regina im Mittelalter in der Regel gesungen wurde und eine »planvolle Beziehung von Text und Musik« aufweist, wird ausgeführt bei Fred Büttner: Zur Geschichte der Marienantiphon › Salve regina ‹ , in: Archiv für Musikwissenschaft 46.4 (1989), S. 257 - 270, S. 260. Zum Singen des Gloria patri und daran angelegten volkssprachigen Texten vgl. Volker Mertens: Der Ruf - eine Gattung des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter? , in: ZfdA 104.1 (1975), S. 68 - 89, hier S. 75. 150 Einführend vgl. Irmgard Jungmann: Gesang im Mittelalter. Zur Revision eines Geschichtsbildes, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 32.1 (2001), S. 3 - 32. Während die Teilnahme am geistlichen Gesang Laien weitgehend vorenthalten war, besteht hingegen »überhaupt kein Grund anzunehmen, der › gregorianische ‹ Choral sei nur von Männern ausgeübt worden« (ebd., S. 26). Der Gesang bestimmter Texte kann auf Klosterbrüder und -schwestern gleichermaßen verweisen. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 235 <?page no="236"?> Einen vergleichbaren Grenzfall stellen die 6.000 Ave Maria dar, die mit crútz venien gesprochen sint (AM, Z. 170 f.). Bei den hier erwähnten Venien handelt es sich um je nach Orden in ihrem Ablauf unterschiedliche Kniebeugen oder Prostrationen, die »zu den üblichsten Gebetspraktiken« des Spätmittelalters zählten und in hoher Anzahl ausgeführt auch als »Askeseleistung« fungierten. 151 Die Bezeichnung crútz venien verweist an dieser Stelle auf ein »Beten mit ausgestreckten Armen« 152 oder - angesichts des Frauenklosterkontexts der Handschriften wahrscheinlicher - auf eine Prostration in Kreuzform. 153 Obwohl Venien meist mit monastischer Gebetspraxis assoziiert werden, 154 sprechen einige literarische Indizien für ihre Verbreitung auch unter Laien. So heißt es bereits in der hochmittelalterlichen Kaiserchronik über den Papst Silvester: den laien enphalch er gewisse, / sie spræchen ir bîhte und ir gelouben / mit wainenden ougen, / mit vasten und mit venien. 155 Bei den im Alemannischen Marienmantel als willenbrechen bezeichneten Askeseleistungen hingegen ist zunächst nicht vollkommen klar, worauf sich exakt bezogen wird. Unter anderem im Väterbuch, in den Vierzig Myrrhenbüscheln und bei Heinrich Seuse ist das Substantiv willenbrechen belegt und meint dort allgemein klösterliche Fasten- und Entsagungsübungen. 156 Eine ähnliche Verwendung im Alemannischen Marienmantel liegt nahe. Hieraus geht allerdings nicht hervor, ob das Wort im Kontext der südwestdeutschen Klosterfrömmigkeit des 15. Jahrhunderts womöglich einen engeren Bedeutungsumfang hatte und auf eine bestimmte Askeseform verwies. Ein Blick auf die entsprechenden Erläuterungen bei Dominikus von Preußen lässt dies jedoch eher unwahrscheinlich scheinen: Insuper exercicia multa in religione militantibus consueta inserverunt ad ornandum pallium virtuosissime virginis virtutibus et disciplinis et studiis bonis, videlicet in frangendo proprias voluntates, in conpescendo in se insurgentes pravos motus, fugando a se desideria illicita, a licitis eciam non necessariis abstinendo, vicia fugiendo, aliena minime concupiscendo, propria largiendo, non sua sed ea, que Iesu Christi sunt, in omnibus hiis querendo, laudem videlicet et 151 Dinzelbacher 1999, S. 70 f. 152 Jos A. Jungmann: Beiträge zur Geschichte der Gebetsliturgie IV. Die Kniebeugung zwischen Psalm und Oration, in: Zeitschrift für katholische Theologie 72.3 (1950), S. 360 - 366, hier S. 366. 153 Derartige kreuzförmige Prostrationen waren vor allem im Bereich weiblicher Frömmigkeit gängig; eine Zusammenstellung entsprechender Belege findet sich bei Hamburger 1997, S. 90 f. 154 Vgl. z. B. die vielen, ausschließlich aus dem Bereich der Klosterfrömmigkeit stammenden Beispiele bei Jungmann 1950. 155 »Die Laien wies er gewisslich dazu an, / dass sie ihre Beichte und ihr Glaubensbekenntnis / mit weinenden Augen / und mit Fasten und mit Venien ablegten«, Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. v. Edward Schröder, Hannover 1892 (MGH: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 1,1), V. 10079 - 10082. Im König Rother wird in der Schilderung einer Gebetsszene beschrieben, wie mehrere als Laien gezeichnete Figuren eine Art Kreuzvenien vollführen: do viellen sie al in cruces stal (»Da fielen sie alle mit ausgebreiteten Armen (in Kreuzesform) nieder«), König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung v. Peter K. Stein, hg. v. Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit v. Beatrix Knoll u. Ruth Weichselbaumer, Stuttgart 2000 (RUB 18047), V. 376. 156 Vgl. Karl Reißenberger (Hg.): Das Väterbuch. Aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift, Berlin 1914, V. 13843 - 13860; Fasching 2020, S. 429, S. 434, S. 453 u. a.; sowie Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, S. 91 und 414 [Vita, Kap. 31; Briefbuch, Nr. 2]. 236 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="237"?> gloriam dei solius et sanctissime virginis Marie matris eius in cunctis, qui vel paterentur aut agerent, pure cupiendo. (Pallium, Z. 63 - 69) 157 In dieser Passage, die mit der Formulierung in frangendo proprias voluntates den mittelhochdeutschen Begriff willenbrechen direkt ins Lateinische zu übertragen scheint, wird ein umfänglicher Katalog klösterlich geprägter asketischer Tugenden aufgelistet. 158 Eine entsprechende Zuordnung wird auch durch die charakteristische Formulierung in religione militantes impliziert, mit der die Trägerinnen und Träger einer solchen Askesepraxis bezeichnet werden. Zumindest der Autor des in vielerlei Hinsicht ein Rezeptionszeugnis zum Alemannischen Marienmantel bildenden Pallium sah in den vom ersteren Text verlangten willenbrechen also generell monastisch konnotierte Akte der Entsagung und Enthaltsamkeit. 159 Inwieweit eine entsprechende Frömmigkeit hierbei auch als für religiös lebende Laien zugänglich gedacht ist, geht aus den beiden Texten freilich nicht hervor. Dieser kurze Überblick über die zum Mantel Marias beizusteuernden Gebete, Messen und Askeseübungen gibt einen entscheidenden Einblick in die Zusammensetzung der Gemeinschaften, für die Texte wie der Alemannische Marienmantel konzipiert waren. Priester wie Laien, Mönche wie Nonnen konnten sich unabhängig von Geschlecht und Stand an der Fertigung des geistlichen Ornats beteiligen und einen in Pensum und Qualität ihrer Lebensform gemäßen Anteil beitragen. Der Alemannische Marienmantel gehört somit ins Umfeld jener in Spätmittelalter und Früher Neuzeit florierenden »Zusammenschlüsse von Mönchen, Klerikern und Laien mit dem Ziel, sich durch die genaue Erfüllung schriftlich festgelegter Verpflichtungen, vor allem durch Gebetsleistungen und Messfeiern, beizustehen«, 160 denen auch die oben behandelten Rosenkranzbruderschaften zuzurechnen sind. Durch die Quantifizierungslogik, die dem arbeitsteiligen Charakter des Mantelgebets zugrunde liegt, wird eine derartige Praxis überhaupt vollziehbar. Erst das exakte Zählen und Benennen der zu erbringenden Gebete und Frömmigkeitsleistungen erlauben es, diese unter einer Gruppe von Gläubigen aufzuteilen, denen je unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten offenstehen. Zähl- und Aufrechenbarkeit erscheinen somit auch als Mög- 157 »Darüber hinaus haben sie auch viele Übungen, die denen, die in der Gottesverehrung streiten, vertraut sind, um den Mantel der Jungfrau höchst tugendhaft zu schmücken, mit Tugenden und Zucht und guten Anstrengungen eifrig betrieben, d. h. im Brechen des eigenen Willens, im Unterdrücken der schlechten Regungen, die sich in einem selbst erheben, durch Abweisen unerlaubter Begierden von sich, durch Sich-Enthalten sogar von erlaubten aber nicht notwendigen Dingen, durch Flucht vor Lastern, dadurch, dass man Fremdes gar nicht begehrt, durch Verschenken von Eigenem, dadurch, dass man in all diesen Dingen nicht Eigenes sucht, sondern das, was Jesu Christi ist, dadurch, dass man rechtschaffen Preis und Ruhm Gottes allein und der heiligsten Jungfrau Maria, seiner Mutter, bei allen wünscht, die etwas erleiden oder tätig sind.« 158 Unschwer zu erkennen ist hinter der Aufzählung die für klösterliche Askesekonzepte ausschlaggebende Vorstellung einer Enthaltsamkeit, die »bedeutet, auf alles Unwesentliche verzichten, sich im Wesentlichen üben, das Leben von Christus her und auf ihn hin leben und verstehen« (Bernd Jaspert: Art. Askese VI. Mittelalter, in: TRE 4 [1979], S. 229 - 239, hier S. 230). 159 Dieses Verständnis von willenbrechen als klösterlicher Askeseleistung entspricht der allgemeinen Feststellung Niklaus Largiers, dass »der monastische Gehorsam und das Ideal der Kontemplation« ausgerichtet seien »an einer praktischen Verpflichtung zur Selbstaufgabe und der Verneinung des eigenen Willens« (Niklaus Largier: Das Theater der Askese: Gewalt, Affekt und Imagination, in: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Werner Röcke u. Julia Weitbrecht, Berlin u. a. 2010 [Transformationen der Antike 14], S. 207 - 221, hier S. 208). 160 Angenendt u. a. 1995, S. 48. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 237 <?page no="238"?> lichkeitsbedingungen einer gemeinschaftlichen Frömmigkeit, die über die Grenzen von Ordenszugehörigkeit, Geschlecht sowie geistlichem oder weltlichem Stand hinweg anschlussfähig ist. 2.4 Zählen und Erinnern: Strategien der Vermittlung von Glaubensinhalten Neben einer derartigen Gemeinschaftskonstruktion setzt der Text seine Quantifizierung sowohl der Elemente des Marienornats als auch der dafür zu erbringenden Leistungen ebenfalls zur Unterweisung in christlicher Glaubenslehre und -praxis ein. Zählen fungiert also nicht allein als Mittel der Äquivalenzherstellung und als Technik der imaginierenden Versenkung, sondern auch als numerisches Zeichensystem. Denn zur »Vermittlung katechetischen Wissens bot sich gerade eine Denkform an, die allenthalben bekannt und als mnemotechnisches Hilfsmittel der Unterweisung vorzüglich geeignet erschien: die Zahlenallegorese.« 161 Im Alemannischen Marienmantel entspricht die Anzahl bestimmter Schmuckelemente in der imaginierten Ikonographie des gebethaft gefertigten Gegenstandes oft auswendig zu lernenden Katalogen oder anderen zahlenmäßig darstellbaren Glaubensinhalten. Auf diese Weise gibt der Text, so Lentes, »genau durchstrukturierte Methoden geistlichen Lebens an die Hand.« 162 Ein Beispiel bietet die folgende Passage, die zur Stickerei an der Saumleiste des Marienmantels anleitet: Die borte vor abe an disem mantel sol sin von golde und sol kosten zwen selter und xxx tusent Ave Maria. In disem bort sol gewúrcket sin xij rot rosen und xij wisse gilgen. Die rosen súllent bezeichnen die xij stúcke des glouben, die do aller klerlichest in irem hertzen stu ͦ ndent. Die gilgen bezeichent die xij ra ᵉ te unsers herren Jhesu Cristi, die sú uff das aller ho ᵉ chst ervolget het. (AM, Z. 24 - 28) 163 Die stúcke des glouben meinen hier das apostolische Glaubensbekenntnis, das im Mittelalter gemäß der Anzahl der Apostel in zwölf zu memorierende Abschnitte unterteilt wurde. 164 In der Sakralkunst entspricht diesem Schema der verbreitete Bildtyp des Apostelcredo, in dem die zwölf Apostel dargestellt und jeweils mit dem ihnen zugeord- 161 Lentes 1996, S. 609. 162 Lentes 1993, S. 134. 163 »Die Borte vorne an diesem Mantel soll aus Gold sein und zwei Psalter sowie 30.000 Ave Maria kosten. In diese Borte sollen zwölf rote Rosen und zwölf weiße Lilien hineingearbeitet sein. Die Rosen sollen die zwölf Stücke des Glaubens bedeuten, die in größter Klarheit in ihrem Herzen wohnten. Die Lilien bezeichnen die zwölf Ratschläge unseres Herren Jesus Christus, die sie aufs allerhöchste befolgt hat.« 164 Schon seit dem 4. Jahrhundert war die unter anderem bei dem Kirchenvater Ambrosius aufgeworfene Vorstellung verbreitet, »die Apostel seien vor Beginn ihrer Weltmission zusammengekommen, um als › Norm ihrer künftigen Verkündigung ‹ ein Bekenntnis zu formulieren, indem, so spätere Versionen, jeder der Zwölf einen Satz zur Endfassung beisteuerte«, Michael Fiedrowicz: Theologie der Kirchenväter. Grundlagen frühchristlicher Glaubensreflexion, 2. Aufl., Freiburg i. Brsg. u. a. 2010, S. 206. Die Zwölfteilung des apostolischen Glaubensbekenntnisses und die Zuweisung der einzelnen Teile zu verschiedenen Aposteln erklären sich aus dieser Entstehungslegende. 238 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="239"?> neten Teilen des Apostolikums verbunden werden. 165 Eine vergleichbare Repräsentation des Glaubensbekenntnisses auf dem gebeteten Werkstück folgt einem mnemotechnischen Programm, gehörte doch die Kenntnis des Credo zum katechetischen Basiswissen, das jedem Christen vermittelt werden sollte. 166 Wenn der Alemannische Marienmantel die zwölf in die Saumleiste gewebten Rosen mit den zwölf Teilen des Glaubensbekenntnisses gleichsetzt, hält er die Erinnerung der Betenden an diesen Elementartext wach und bietet ein Schema zu seiner Visualisierung. Dabei hat, so fährt der Text fort, jede Rosenblüte fünf Kronblätter, die die fünf Sinne symbolisieren und aus den synnlichen lústen (AM, Z. 29) der Gläubigen bestehen. 167 Im Sinne einer vita apostolica sollen diese Sinne nach innen gerichtet, ganz auf ein christliches Leben konzentriert und damit in Erfüllung des jeweiligen Glaubenssatzes zum Marienmantel beigetragen werden. Die mithilfe von 12.000 Ave Maria in die Saumleiste gestickten und aus vinen berlin (AM, Z. 31) bestehenden weißen Lilien 168 halten ebenfalls zur erinnernden Vertiefung in einen katechetischen Text an. 169 Mit den Zwölf Räten des Herrn wird hierbei auf eine verbreitete Dekalogergänzung des Spätmittelalters referiert, die aus einem Katalog der von Jesus in den Evangelien erteilten Tugendratschläge besteht. 170 Analog zu den Blütenblättern der das Credo bezeichnenden Rosen sind die Staubgefäße der Lilien aus den Entsagungen gefertigt, welche die Gläubigen zur Erfüllung des jeweiligen Ratschlags auf sich genommen haben: Die ko ᵉ rner in disen gilgen so ᵉ llent sin alle die sunderlichen grossen willenbrechen, die hie zu ͦ gebrochen sint von mynnen (AM, Z. 32 - 34). 171 Solche numerischen Versinnbildlichungen dienen in erster Linie der Einübung und kontemplativen Wieder- 165 Vgl. zum Apostelcredo in der Kunst des Spätmittelalters Susanne Wegmann: Das Apostelcredo in der Nürnberger Lorenzkirche. Ein Beitrag zur Ausstattungsgeschichte des frühen 15. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 89 (2002), S. 7 - 21. 166 Hierzu Arnold Angenendt: »Die Forderung, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in der eigenen Sprache beten zu können, ging durch das ganze Mittelalter und erfuhr im Hoch- und Spätmittelalter eine bedeutsame Ausweitung. Zum Kanon des pflichtigen Glaubenswissens gehörten nun zusätzlich die Zehn Gebote und das Ave Maria, und sie bildeten zusammen mit noch weiteren Stücken den Katechismus« (Angenendt 2009, S. 471). 167 Zur Fünfzahl der Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen) im Mittelalter und zu unterschiedlichen Darstellungstraditionen der fünf Sinne vgl. Fiona Griffiths u. Kathryn Starkey: Sensing Through Objects, in: Sensory Reflections. Traces of Experience in Medieval Artifacts, hg. v. Fiona Griffiths u. Kathryn Starkey, Berlin/ Boston 2018 (Sense, Matter, Medium 1), S. 1 - 21, hier S. 1 - 8; sowie Richard G. Newhauser: Introduction: The Sensual Middle Ages, in: A Cultural History of the Senses in the Middle Ages, hg. v. Richard G. Newhauser, London/ Oxford 2016, S. 1 - 22. 168 »feinen Perlen« 169 Hier spielt auch die marianischen Liliensymbolik des Spätmittelalters hinein, denn seit der »Gotik tritt die weiße L[ilie] als Symbol der Reinheit in den Vordergrund« (W. Hahn: Art. Lilie. II. Ikonographie, in: Marienlexikon 4 [1992], S. 121 - 123, hier S. 121). 170 Vgl. Josef Werlin: Die zwölf Räte Jhesu Christi. Eine mittelalterliche Ergänzung zum Dekalog, in: Leuvense Bijdragen 52 (1963), S. 156 - 168. Im Einzelnen werden in diesem Katalog aufgelistet: 1. Armut, 2. Gehorsam, 3. Keuschheit, 4. Feindesliebe, 5. Mitleid mit den Schwachen, 6. Großzügigkeit gegenüben den Armen, 7. entschlossene Aufrichtigkeit, 8. innere und äußere Abkehr von Sünden, 9. Ausrichtung allen Handelns nach dem Willen Gottes, 10. Befolgung der christlichen Lehre auch im eigenen Handeln, 11. Gleichgültigkeit gegenüber vergänglichen Dingen, 12. Nächstenliebe und -hilfe. Damit stellen die Zwölf Räte einen ergänzten Katalog der Trias der evangelischen Räte (Keuschheit, Armut, Gehorsam) dar. In der Handschrift M ist dieser Text auf fol. 185v - 190r auch gemeinsam mit dem Alemannischen Marienmantel überliefert. 171 »Die Körner in diesen Lilien sollen all die besonders großen Entsagungen sein, die hierzu aus Liebe erbracht wurden.« 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 239 <?page no="240"?> holung katechetischer Kataloge oder vergleichbar aufgeschlüsselter Basistexte. Sie werden im Alemannischen Marienmantel primär eingesetzt »zur methodischen Hilfe für die subjektive Aneignung christlicher Tugendideale« ebenso wie zur fortwährenden Erinnerung an zentrale Glaubenssätze. 172 An einigen Stellen jedoch vermitteln allegorisch aufgeladene Zahlenverhältnisse auch weitergehende Inhalte. So wird beispielsweise die Trinität durch eine Krone für das Jesuskind verbildlicht, an deren drei Zacken je drei aus einer Messe bestehende Edelsteine sitzen: Dis kint sol haben ein krone von drigen zincken zu ͦ einer bezeichnung siner heiligen drúvaltikeit, und dirre zincken jeglicher sol sin von dryen edelen gesteinen. Das súllent sin drige messen. Und an jeglichem zincken zwúschent disen dryen an diser kronen súllent ston tusent viner berlin. Das súllent sin tusent Ave Maria, die mit crútz venien gesprochen sint. (AM, Z. 73 - 77) 173 Als »Zeichen des dreifaltigen Schöpfers« und »Kennziffer des Erlösers« spielt die Drei in der christlichen Heilsarithmetik eine hervorgehobene Rolle. 174 Sowohl die Dreizahl selbst als auch die verschachtelte Dreiheit jeder der drei aus wiederum jeweils drei Messen bestehenden Kronenzacken sind in der obigen Passage bedeutsam, wird doch so mit der inneren Ungeschiedenheit der trinitarischen Personen ein wesentlicher Bestandteil der mittelalterlichen Dreifaltigkeitslehre verdeutlicht. 175 Hier dient der Andachtstext auch der Vermittlung komplexer Theologumena, die über die Bilder, die der Alemannische Marienmantel seine Leserschaft imaginieren lässt, und die darin realisierten Zahlenverhältnissen anschaulich werden. 2.5 Allegorische Dimensionen des Mantelgebets Der Übergang vom primär mnemotechnischen Katalog zur komplexen Bild- und Zahlenallegorie ist dabei fließend. So lässt sich z. B. die oben bereits angesprochene Fürspange leicht als Sinnbild sowohl für Christus im Kreise der zwölf Jünger als auch für die von den Aposteln umgebende Dreifaltigkeit deuten. Umringt von zwölf kleineren Edelsteinen befindet sich ein stein mittel in der spangen, der gemacht wird aus drigen der aller minne richesten messen [ … ] zu ͦ einer bezeichnung der heiligen drúvaltikeit, (AM, Z. 47 - 49). 176 Zählen und Quantifizierung leiten somit nicht bloß zur Produktion der geistlichen Textilie an, sie schreiben ihr auch multiple Sinn- und Deutungsangebote ein. Derartige Stellen verdeutlichen ein Charakteristikum des Alemannischen Marienmantels, das in den oben angesprochenen Zahlenallegorien bereits anklingt. Der Ornat soll nicht nur im und aus dem Gebet her- und vorgestellt werden, sondern dient darüber- 172 Lentes 1993, S. 134. 173 »Das Kind soll als Zeichen seiner heiligen Dreifaltigkeit eine Krone mit drei Zacken haben, und jeder dieser Zacken soll aus drei edlen Steinen bestehen. Das sollen drei Messen sein. Und an jeglichem Zacken zwischen diesen dreien sollen an dieser Krone 1.000 Perlen angebracht sein. Das sollen 1.000 Ave Maria sein, die mit Kreuzvenien gesprochen wurden.« 174 Meyer/ Suntrup 1987, Sp. 214 - 230. 175 Vgl. Angenendt 2009, S. 99. 176 »Der Stein in der Mitte der Spange soll aus drei allerliebreichsten Messen bestehen [ … ] zum Zeichen für die heilige Dreifaltigkeit.« 240 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="241"?> hinausgehend als sinnbildlicher Meditationsgegenstand. Somit fügt sich der Text ins weite Feld dingallegorischer Gebets- und Andachtsübungen ein, die, so charakterisiert Dietrich Schmidtke, hauptsächlich drei Aspekte miteinander verbinden: »bildliche Vorstellungen, Bezug dieser Bildelemente auf einen geistlichen Sinn, Anweisung zu Gebeten oder sonstigen Frömmigkeitsübungen«. 177 Auf dem Umweg der Allegorie entspannen sich dabei durch den zur geistlichen Textilie werdenden Text die Ereignisse des Marienlebens sowie der Inkarnation und Passion Christi, die dem betenden Benutzer des Andachtstexts vergegenwärtigt und während des Reihenbetens zur Kontemplation angetragen werden. Bildlichkeit, imaginierte Materialität und allegorische Bedeutung dieses geistlichen Werkstücks werden dabei auf mehreren Ebenen miteinander verwoben. Zunächst können viele Teile des Mantels vor dem Hintergrund vestimentärer Codes des Spätmittelalters gelesen werden. Diese erste Bedeutungsschicht ist oftmals recht einfach gehalten - so weisen die für Maria und Jesus gefertigten Kronen auf ihren himmlischen Herrscherstatus, und auch das aus Hermelinpelz gefertigte Mantelfutter verdeutlicht Marias Rolle als Himmelskönigin. 178 Das goldene Tuch des Marienmantels repräsentiert nicht nur Pracht und Kostbarkeit, sondern scheint zusammen mit der weißen Farbe des Futters auch auf die liturgischen Farben hinzuweisen, die besonders zu marianischen Festen getragen wurden. 179 Viele Einzelelemente des Marienornats referieren auf vergleichbare Weise auf die Kleidungskultur des ausgehenden Mittelalters und ihre spezifische Zeichenstruktur. Zudem aber ergänzt der Alemannische Marienmantel eine komplexere zweite Bedeutungsebene, auf der das geistliche Gewand als marianische Allegorie erscheint, deren Details die Tugenden der Heiligen Jungfrau, ihren Lebensweg und besonders ihre entscheidende Position innerhalb des göttlichen Erlösungswerks versinnbildlichen. Wie das Beispiel von Manteltuch und -futter zeigt, die der Text als Zeichen für Marias göttliche Liebe und jungfräuliche Reinheit benennt (vgl. AM, Z. 13 f.), gestaltet sich dies mitunter recht simpel. An anderen Stellen jedoch spielt der Text mit vielschichtigen Allegorisierungen, so in der Passage, die zur Fertigung der floralen Motive auf der Saumborte des Mantels anleitet: Das bort unden umb disen mantel sol sin von rotem golde, und dar in gewúrcket ein blu ͦ gende rebe mit iren frúchten. Dise rebe bezeichent uns unser liebe fro ᵘ we, die uns den edelen trúbel von zyppern hett brocht an dise welte, der durch unsern willen getretten und getrottet ist under dem trotbo ᵘ me des heiligen crútzes, und uns uß sinem minnenden hertzen geschencket het die zwen lebendige flússe. Und begerent, das die zwen lebendige flússe fruchtber machent alle die hertzen, die je zu ͦ disem mantel gestúret hant. Die trúbel an diser reben súllent sin geordenet von allen den mynnetrehen, die in disem dienste vergossen sint. Die bletter an diser reben so ᵉ llent sin alle die andechtigen wort, die in disem dienst gesprochen sint. Diser porte sol kosten zwen selter und xv tusent Ave Maria. (AM, Z. 15 - 23) 180 177 Schmidtke 1982, S. 280. 178 Vgl. Norris 1999, S. 283. 179 Siehe Innozenz III.: De sacro altaris mysterio, in: Patrologia Latina 217 (1855), Sp. 773 - 916, hier Sp. 799 - 802 [I,65]. Obgleich der Brauch, weiße liturgische Gewänder an Hochfesten gegebenenfalls durch goldene oder silberne Farben zu ersetzen, erst deutlich später approbiert wurde, scheint dies bereits im Spätmittelalter gebräuchlich gewesen zu sein. 180 »Die Borte unten an diesem Mantel soll aus rotem Gold gemacht sein, in das ein blühender Rebstock mit seinen Früchten hineingearbeitet ist. Dieser Rebstock bezeichnet uns unsere liebe Frau, die für uns die edle Traube von Zypern auf die Welt gebracht hat, die um unseretwillen zerstampft und gepresst 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 241 <?page no="242"?> Diese Borte, die aus imaginiertem Goldfaden gearbeitet und mit floralen Stickereien oder Webmustern versehen wird, 181 entfaltet vor den inneren Augen der frommen Leserschaft mithilfe eines dichten Bild- und Zeichengeflechts die Geschichte der Inkarnation und Passion Christi. Dabei werden diese Heilsereignisse allerdings nicht auserzählt, sondern bloß durch allegorische Bilder in der Erinnerung der Gläubigen, die mit der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung vertraut sind, aufgerufen und zur vergegenwärtigenden Betrachtung anempfohlen. 182 Voraussetzung hierfür ist allerdings ein Lesepublikum, das meditativ in die sprachlich evozierte Sinnbildlichkeit des aus seinen Gebeten entstehenden Marienornats immergiert und »bereit ist, das im Text nur Angedeutete eigenschöpferisch zu erschließen«. 183 Mit dem allegorischen Bortenmuster aus Weinranken und -trauben bietet der Marienmantel zu einer solchen Versenkung ins Gnadenwirken Christi und Marias einen ganzen Komplex an Sinnverweisen und Bedeutungsangeboten an, die der Andachtstext aufschlüsselt und zumindest teilweise erklärt. Zunächst wird Maria dabei unter Anspielung der Motivik des in der mittelalterlichen Bibelexegese oftmals marianisch gedeuteten Hohelieds 184 mit dem auf der Borte abgebildeten Rebstock identifiziert, der als Frucht Jesus Christus trägt. 185 Zwei weitere wurde unter dem Kelterbaum des heiligen Kreuzes und uns aus ihrem liebenden Herzen die zwei lebendigen Flüsse geschenkt hat. Und wir wünschen, dass die zwei lebendigen Flüsse all jene Herzen fruchtbar machen, die jemals zu diesem Mantel beigetragen haben. Die Trauben an diesem Rebstock sollen hergerichtet sein aus all den Liebestränen, die in diesem Dienst vergossen wurden. Die Blätter an diesem Rebstock sollen all die andächtigen Worte sein, die in diesem Dienst gesprochen wurden. Diese Borte soll zwei Psalter und 15.000 Ave Maria kosten.« 181 Das Verb würken (hier › nähend, stickend, webend verfertigen ‹ , vgl. Lexer 1878, Bd. 3, Sp. 931) lässt keine genauen Schlüsse auf die textilhandwerkliche Arbeitstechnik zu, die hier gemeint ist. Anders als z. B. das Marienleben des Bruder Philipp, das, wie Henrike Manuwald herausarbeitet, bei der Schilderungen der Fertigung des heiligen Rocks wohl textilgeschichtlich aufschlussreich auf die »Technik des Strickens mit mehreren Nadeln verweist« (Manuwald 2017, S. 211), schildert der Alemannische Marienmantel den Prozess der Fertigung des Marienkleides zumeist nicht in »einer Form der Inkulturation, die auf die zeitgenössische Alltagskultur abzielt« (ebd., S. 219). 182 Somit stimuliert der Text einen im Mittelalter oft als ruminatio ( › Wiederkäuen ‹ ) bezeichneten Prozess des meditativen Umgangs mit erinnerten Texten, Narrativen und Bildern, der als memorative Praxis untersucht wird bei Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Medieval Literature 10), S. 164 f. 183 Schmidtke 1982, S. 273. 184 Das Motiv basiert auf Ct 4,12 - 13: hortus conclusus soror mea sponsa hortus conclusus fons signatus emissiones tuae paradisus malorum punicorum cum pomorum fructibus cypri cum nardo (»Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle. Was du sprießen lässt, ist ein Paradies von Granatapfelbäumen mit den Früchten der Obstbäume, Zypernbäume mit Narde«). Diese Passage, auf der auch die bekannte Darstellung Marias im verschlossenen Garten zurückgeht, hat eine im Mittelalter fest etablierte Tradition marianischer Auslegung. Das lateinische cyprus wird im Alemannischen Marienmantel und anderen zeitgenössischen Texten als Referenz auf zypriotischen Wein verstanden. Den Hintergrund dieses lexikalischen Missverständnisses bildet eine weitere Stelle aus dem Hohelied Salomons, die im Weinberg wachsende cypri erwähnt: botrus cypri dilectus meus mihi in vineis Engaddi (»Eine Traube aus Zypern ist mir mein Geliebter in den Weingärten von En-Gedi«, Ct 1,14). 185 Dieses Motiv ist auch in der bildenden Kunst des deutschsprachigen Raumes im Spätmittelalter weit verbreitet. Vgl. dazu Jutta Seibert: Lexikon christlicher Kunst. Themen, Gestalten, Symbole, Freiburg i. Brsg. u. a. 1980, S. 333 - 334; sowie Alois Thomas: Maria der Acker und die Weinrebe in der Symbolvorstellung des Mittelalters, Habilitationsschrift Trier 1952. Als auf Maria bezogen wurde in diesem Kontext vor allem Sir 24,23 gedeutet: ego quasi vitis fructificavi suavitatem odoris et flores mei fructus honoris et honestatis (»ich habe wie eine Weinrebe die Süße des Duftes reifen lassen, und meine Blüten 242 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="243"?> Bibelreferenzen bauen dieses Sinnbild aus. Neben der Parabel vom wahren Weinstock aus dem Johannesevangelium, welche die Basis der Traubenmetapher für Christus darstellt und ebenfalls als Bildmotiv verbreitet ist, 186 referiert der Text hier auf Io 7,37 - 38: si quis sitit veniat ad me et bibat qui credit in me sicut dixit scriptura flumina de ventre eius fluent aquae vivae. 187 Zusammengenommen präsentieren diese Schriftverweise die floral verzierte Borte am Saum des Marienmantels als allegorische Darstellung von Christus als Traube, die am Maria bezeichnenden Rebstock gedeiht. Dieses Bild besitzt eucharistische Anklänge. Die zwen lebendige[n] flússe (AM, Z. 19) stehen für den aus der Traube gewonnenen Wein und damit allegorisch für das am Kreuz vergossene Blut Christi, in das der Messwein während der Eucharistiefeier gewandelt wird. 188 Durch den Aufruf eines Bildmotivs, das als »Christus in der Kelter« bekannt ist, 189 wird diese Sinnzuschreibung noch verstärkt. Wenn der Andachtstext nämlich ausführt, die Weintraube, die Christus bedeutet, sei getretten und getrottet [ … ] under dem trotbo ᵘ me des heiligen crútzes (AM, Z. 17 f.), so evoziert er die zeitgenössisch als Andachtsbild verbreiteten Darstellungen von Christus als Schmerzensmann, der in einer Weinpresse zerquetscht wird, aus der sein Blut bzw. der dazu gewandelte Wein fließt. Durch den Kreuzestod, so die Implikation dieses Bildmotivs, nährt Christus die Menschheit mit erlösender Substanz. Derartige Töne, die in der Allegorese zur Saumborte des Alemannischen Marienmantels deutlich mitklingen, fügen sich nahtlos in den Kontext der intensivierten Eucharistiefrömmigkeit des Spätmittelalters. 190 sind Früchte der Ehre und der Ehrbarkeit«). Auf diesem Bibelwort baut die Darstellung Marias als Rebstock auf; vgl. dazu Wolfgang Haubrichs: Zur historischen Semantik des Weines in symbolischer Kommunikation, in: Vom Wein zum Wörterbuch: Ein Fachwörterbuch in Arbeit. Beiträge des internationalen Kolloquiums im Institut für Pfälzische Geschichte und Volkskunde in Kaiserslautern, 8./ 9. März 2002, hg. v. Maria Besse, Wolfgang Haubrichs u. Roland W. L. Puhl, Mainz 2004 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 10), S. 221 - 236; sowie Elisabeth Vavra: › Ich bin der wahre Weinstock ‹ . Zur Weinsymbolik in der Kunst des Mittelalters, in: Wasser & Wein. Zwei Dinge des Lebens. Aus der Sicht der Kunst von der Antike bis heute. Ausstellungskatalog Kunst-Halle- Krems 1995, Wien 1995, S. 70 - 76. 186 Io 15,1 - 5. Hier heißt es einleitend: ego sum vitis vera et Pater meus agricola est (»Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer«). Diese Worte klingen auch im Alemannischen Marienmantel an, wenn auch in Abwandlung: Maria erscheint dort als Weinrebe, Jesus als Traube. 187 »Wenn jemand durstig ist, soll er zu mir kommen und trinken! Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leib werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.« Die verbreitete Deutung der Erwähnung des lebenden Wassers als Verweis auf das bei der Passion vergossene und in der Eucharistie im Messwein präsente Blut Christi basiert auf der Erwähnung von Blut und Wasser in der Kreuzigungsschilderung des Johannesevangeliums: unus militum lancea latus eius aperuit et continuo exivit sanguis et aqua (»einer von den Soldaten öffnete seine Seite mit dem Speer, und sogleich kam Blut und Wasser heraus«, Ioh 19,34). Auf welche alttestamentliche Bibelstelle sich Io 7,38 bezieht, gilt allerdings als unklar. Zur exegetischen Tradition dieses Schriftworts vgl. Maarten J. J. Menken: The Origin of the Old Testament Quotation in John 7: 38, in: Novum Testamentum 38.2 (1996), S. 160 - 175. 188 Vgl. Caroline Walker Bynum: The Blood of Christ in the Later Middle Ages, in: Church History 71.4 (2002), S. 685 - 714. 189 Vgl. die detaillierte Diskussion bei Alfred Weckwerth: Christus in der Kelter. Ursprung und Wandlung eines Bildmotivs, in: Beiträge zur Kunstgeschichte. Eine Festgabe für Heinz Rudolf Rosemann zum 9. Oktober 1960, hg. v. Ernst Guldan, München u. a. 1960, S. 95 - 108. Eine knappere Diskussion sowie ein Bildbeispiel bietet auch Caroline Walker Bynum: Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2015, S. 83 f. 190 Eine verlässliche Überblicksstudie bietet Miri Rubin: Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 2006. Vgl. auch die Aufsatzsammlung von Ian Christopher Levy, Gary Macy u. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 243 <?page no="244"?> Durch eine derartige allegorische Aufladung des gebeteten Mantels vergegenwärtigt die geistliche Übung zentrale Ereignisse und Sinnzusammenhänge der christlichen Heils- und Erlösungsgeschichte. So wird in der oben besprochenen Mantelsaumpassage dingallegorisch auf die Menschwerdung Christi, das Leid der Passion und die Rolle Marias als Gottesmutter verwiesen. All diese Glaubensgegenstände werden von dem Textilgegenstand bezeichnet, der nach den Instruktionen des Texts innerlich gefertigt werden soll. Die Betenden sind somit aufgefordert, der Sinnebene des Texts, der mit der geistlich-konkreten Textilie enggeführt ist, eigenständig zu folgen und die referierten Heilsereignisse aus ihrer Erinnerung heraus innerlich zur kontemplierten Gegenwart werden zu lassen. 191 Wenn also die zum Gebetsmantel beisteuernden Gläubigen in die Borte aus zwei Psaltern, 15.000 Ave Maria und den dazugehörigen Affekthaltungen ein Muster aus Reben und Trauben hineinwirken, so erschaffen sie zunächst einen Gegenstand, der zumindest in der Immersion in die vom Text stimulierten Bildeindrücke ästhetische Präsenz gewinnt. Dieser Gegenstand jedoch verlangt ihnen auch eine hermeneutische Annäherung ab, stellt er doch zugleich ein Sinnbild dar, das in ein dicht geknüpftes Netz von Zeichen und Referenzen eingebettet ist. Dies regt gewissermaßen einen zweiten Prozess des Eintauchens an, der einer meditativen Versenkung in die allegorisch bedeuteten Heilsereignisse von Inkarnation und Passion gleichkommt. 192 Wird Allegorie daher mit Angus Fletcher als eine Darstellungsweise verstanden, die »manifestly has two or more levels of meaning« und somit zu einem adäquaten Zugang »at least two attitudes of mind« verlangt, 193 so fordert der derart hergestellte und visualisierte Mantelsaum mindestens zwei miteinander verschränkte Formen der inneren Versenkung in die Lese- und Vorstellungsangebote des Alemannischen Marienmantels. Denn erstens zielt der Text auf eine bildliche und materialbezogene Konkretisierung des gebeteten Ornats, der sich aus dem Sprachgewebe von Gebetsworten und Andachtstext figuriert. Zweitens aber ist die derart vor den inneren Augen der Rezipienten Gestalt gewinnende Textilie auch durch die Deutungslinse der christlichen Allegorese zu betrachten und vor dem Wissens- und Erwartungshorizont dieser Tradition sinnhaft zu interpretieren. Dies entspricht einem erkennenden Eintauchen in Bilder und Narrative, die wiederum in letzter Instanz auf das bildlose und unbegreifliche Göttliche hindeuten. Die Gebets- und Andachtsübung präsentiert sprachliche Stimuli für diese ineinander verschachtelten Immersionsvorgänge. Einerseits bietet sie eine quantifizierende Fertigungsanleitung für den zur inneren Betrachtungswirklichkeit werdenden Marienmantel, ande- Kirsten van Ausdall (Hgg.): A Companion to the Eucharist in the Middle Ages, Leiden u. a. 2011 (Brill ’ s Companions to the Christian Tradition 26). 191 Dietrich Schmidtke charakterisiert diesen Rezeptionsmodus allegorischer Andachtstexte wie folgt: »Es geht idealiter darum, die kargen Angaben des Textes durch das, was über die christliche Lehre zu verschiedenen Punkten dem Einzelnen bekannt ist, rekapitulierend auszufüllen, also etwa beim Stichwort Demut sich das, was das meint, zu verdeutlichen« (Schmidtke 1982, S. 291). Dieser eher auf ein komplettierendes Zeichenverständnis abhebende Lesemodus geht, so möchte ich vorschlagen, in spätmittelalterlichen Andachtstexten oftmals einher mit einer Dynamik der immersiven Vergegenwärtigung, die sich zwar des Zeichenhaften bedient, jedoch nicht darin aufgeht. 192 Hartmut Bleumers Gedanke, das »Eintauchen in den Raum der Bilder während der Immersion wäre [ … ] das intensive Aufgehen in Bedeutung« (Bleumer 2012, S. 9), scheint auf einen solchen, durch die Vielfalt des Sinnbildlichen stimulierten Prozess der inneren Versenkung besonders zuzutreffen. 193 Angus Fletcher: Allegory. The Theory of a Symbolic Mode, with a foreword by Harold Bloom, Princeton 2012, p. 18. 244 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="245"?> rerseits liefert sie mit den zahlreichen angefügten Schrift- und Bildverweisen auch ein Grundgerüst zu dessen allegorischer Nutzung in der Ausrichtung der einzelnen Gläubigen auf Gott und seine Gnadenwerke, die sich mit der kommunikativen Hinkehr des Betens verbindet. Dabei beruht die Wirkung des in die Borte gewirkten Blumenbilds jedoch nicht auf einer simplen Zusammenführung zweier Sinnebenen, die, wie Paul Michel als Grunddefinition der Allegorie ausführt, die »Subsinnwelt« einer › Bildebene ‹ »durch punktuellen Vergleich Element-für-Element« einer › Sachebene ‹ zuordnet, wobei die »Subsinnwelt [ … ] gerne abstrakte Sachverhalte (oder unaussprechliche)« formuliert und hierzu auf Bilder des Konkreten zurückgreift. 194 Der Alemannische Marienmantel kompliziert dieses Zeichenverhältnis einer »Spannung von sinnlicher Erscheinung und übersinnlicher Bedeutung« 195 in einer mehrschichtigen Form der Bildrede, in der die allegorische Darstellung zum semiotischen Knotenpunkt potenziert ist, an dem unterschiedliche Texte, Bilder, materielle Objekte, Narrative und Ereignisse zusammenkommen und sich bedeutungshaft überschneiden. So wird der florale Mantelsaum von und mithilfe der sprachlichen Instruktionen des Textes hergestellt und bildet folglich ein gebethaft figuriertes, imaginativ in Bildform überführtes Ding, das mit dem Weinstockmuster wiederum ein anderes Ding abbildet. Letzteres wird in einem weiteren Schritt als allegorische Darstellung des Heilsgeschehens der Menschwerdung und Selbstopferung Christi präsentiert, die sowohl auf die Konventionen und Motive christlicher Ikonographie im 15. Jahrhundert als auch auf den Wortlaut der Bibel und ihre marianische Auslegungstradition zurückgreift. Diese kettenartige Zeichenstruktur regt schließlich abermals zu einer horizontalen Immersion in das vom Text Evozierte, also zur meditativen Vergegenwärtigung des im Grunde unbezeichenbaren Heiligen an, dem sich vertikal allein indirekt angenähert werden kann. Damit fungiert der Marienmantel einerseits als Zeichen, andererseits als imaginativdingliches Zeugnis jener christlichen Glaubenswahrheiten, die an ihm evident werden. Was das Mantelgebet den es vollziehenden Lesern somit anträgt, ist gleichermaßen die Produktion eines geistlichen Objekts wie die über es hinausgehende Betrachtung des von ihm Bedeuteten oder Angedeuteten. Handwerkliches Beten verinnerlicht und veräußerlicht zugleich, es verdinglicht das Beten und leitet die es vollziehenden Gläubigen anhand des so entstehenden Dings über die Dinge hinaus. Hierbei ergibt sich ein Effekt, den Jason Crawford als die auf produktive Weise paradoxe Doppelorientierung des Allegorischen beschreibt: 196 Während allegorische Texte 194 Michel 1987, S. 429. 195 Jauss 1960, S. 185. Jauss argumentiert hier unter Rückgriff auf Hegel gegen eine Trennung »von Symbol als Form des Ausdrucks und Allegorie als einer bloßen Weise der Bezeichnung« (ebd., S. 183) im Mittelalter und stellt diese Unterscheidung als Produkt des 18. Jahrhunderts heraus. Die Formen des allegorischen Verweises auf das grundsätzlich nur durch die Bildrede annäherbare Heilige in der Gebetbuchliteratur des 15. Jahrhunderts, wie sie durch den Alemannischen Marienmantel exemplifiziert werden, scheinen diese These aussagekräftig zu unterstreichen. 196 »Allegorical narratives are [ … ] double in their orientation. They strive out toward a fulfillment in which narrative dissolves into interpretation or pure idea. At the same time, they charge the materials of narrative with the presence and power of the eternal order into which narrative is, in the end, supposed to disappear«, Jason Crawford: Allegory and Enchantment. An Early Modern Poetics, Oxford 2017, S. 45. Obwohl Crawford sich auf allegorische Erzählungen bezieht, scheinen seine Überlegungen auch auf nicht-narrative Textformen übertragbar. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 245 <?page no="246"?> oder Bilder auf der einen Seite anbieten, in abstrakte Bedeutung aufgelöst und dabei als bloße Signifikanten behandelt zu werden, überführen sie auf der anderen Seite auch eben jene Bedeutung in eine anschauliche Gestalt, die ein Eigenleben jenseits ihrer Zeichenhaftigkeit erlangt. Sich diese Eigenart allegorischer Darstellung zunutze machend verdichtet der Alemannische Marienmantel Gebetstext, textiles Bild, imaginierte Materialität, vollzogenen Frömmigkeitsakt und polyvalente Zeichenkumulationen in eine konkrete Figuration, die Sinn und Eindrücklichkeit gleichermaßen umschließt und erfüllt. Der gebetete Mantel konkretisiert sich auf diese Weise, vergleichbar den im vorangegangenen Kapitel behandelten Rosenkränzen, zur inneren Wirklichkeit des Betens. 197 Für die Gemeinschaftlichkeit der Gebets- und Andachtsübung hat dies weitreichende Folgen. Die beteiligten Gläubigen bilden erstens eine Imaginationsgemeinschaft, die in einen sprachlich stimulierten Raum der inneren Bild- und Sinneswahrnehmung immergiert, in dem das kostbare Gewand ebenso wie das von ihm bezeichnete Heilsgeschehen Gegenwärtigkeit erlangt. Zweitens stellen sie eine Produktionsgemeinschaft dar, die quantifizierend Frömmigkeitsleistungen kumuliert, die sich zum geistlichen Werkstück zusammensetzen. Drittens zeichnet sich eine Sinngemeinschaft ab, in deren Rahmen der Text seinen Rezipienten auf dem Weg der Allegorie zentrale Glaubensinhalte veranschaulicht und vermittelt. Dabei aber ist das Gebetskleid explizit als Gabe gefertigt, die in der Hoffnung auf eine gnadenhafte, heilswirksame Gegengabe der Heiligen Jungfrau überreicht wird. Dies hebt auch ab auf die zeitgenössisch verbreitete »Vorstellung, dass man mit dem Gebet Gott geradezu zu einer Gegengabe zwingen kann«. 198 Dass mit der geistlichen Mantelgabe dergestalt die Hoffnung auf eine Gegenleistung im Sinne einer auf do-ut-des basierenden Tauschlogik verbunden ist, 199 macht die Betenden viertens zu einer Heilsgemeinschaft, die in der Hoffnung vereint ist, schließlich in Form eines himmlischen Heilslohns die Früchte der im Marienornat angehäuften Frömmigkeitsleistungen genießen zu können. 197 Dies lässt sich mit Christian Kiening als Effekt einer »wechselseitigen Implikation von Präsenz und Sinn, von materialisierender und spiritualisierender Dimension« charakterisieren (Kiening 2016, S. 157). 198 Thali 2009, S. 241 f. 199 Zum schwierigen Status einer auf Ausgleichsdenken basierenden Gabenökomie des Heils in der auf dem Glauben an einen keiner Sache bedürftigen, gnadenhaft schenkenden Gott beruhenden Religiosität des Mittelalters vgl. Angenendt 2009, S. 373 - 378. Obwohl es an zeitgenössischer Kritik nicht mangelte, »erwies sich die Macht des › do-ut-des ‹ [im Mittelalter] wieder als dominant, und tatsächlich hat der Gabentausch gewaltige Dimensionen angenommen« (ebd., S. 378). Der Alemannische Marienmantel darf als Zeugnis dieser gewaltigen Dimensionen gelten, gibt, indem explizit auf die andächtige Affekthaltung und die christliche Lebenspraxis der Gläubigen abgehoben wird, jedoch auch Positionen Raum, aus denen im Sinne eines Interorisierungs- und Inkommensurabilitätsgedankens Kritik an auf Veräußerlichung und Aufrechnung basierenden Frömmigkeitsformen geübt wurde. 246 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="247"?> 2.6 Marias Tempelgang im Gebetsornat: Eine innere Prozession als Reinszenierung Um auf diese Weise die Zuwendung der Gottesmutter zu › erhandeln ‹ , muss das Gebetsgewand veräußert und an Maria weggegeben werden. Diese Weggabe sowie die Annahme und Zurschaustellung des Ornats durch die Heilige Jungfrau stehen im Zentrum des zweiten und letzten Hauptabschnitts des Alemannischen Marienmantels. Hier werden die Gläubigen dazu angeleitet, die Gottesmutter und das von ihr getragene Jesuskind einzukleiden und anschließend eine innere Lichtmessprozession auszurichten, in deren Rahmen Maria in das geistliche Gewand gehüllt zum Tempel schreitet. Im Wesentlichen werden hierbei vier Ebenen von Sinn und innerem Nachvollzug amalgamiert. Erstens spielt der Text die neutestamentlich berichtete Darstellung Jesu im Tempel zu Jerusalem an und verbindet die Mantelgabe mit den zeitgenössisch gängigen Auslegungslinien zu dieser Episode. Zweitens wird das biblische Ereignis in Anlehnung an eine liturgische Prozession zu Mariä Lichtmess, also dem Fest der Darstellung des Herrn, innerlich reinszeniert. Durch ihr Beten, mit dem sie die am Prozessionszug teilnehmenden Heiligen und sonstigen Figuren entlohnen, sollen die Gläubigen zu Teilhabern und Urhebern dieser Nachfiguration werden. Intensivierend angeknüpft wird hierdurch sowohl an den liturgischen Ritus der marianischen Kirchenfeste wie auch an Vorstellungen einer himmlischen Ordnung und Gemeinschaft der Heiligen. Drittens nimmt die imaginierte Prozession aber auch Züge eines herrscherlichen adventus an. So erscheint Maria als Himmelskönigin, die gleich irdischen Würdenträgern von einer Entourage aus Heiligen begleitet wird, die ihr in festgelegten und hierarchisierten Rollen dienen. Letztlich akzentuieren diese ersten drei Dimensionen des innerlich reinszenierten Tempelgangs Marias Rolle als Mittlerin der Gnade. Als Gottesmutter und Miterlöserin, so die Auffassung der marianischen Theologie des Spätmittelalters, ist die Himmelskönigin Maria in der Lage, kraft ihrer Fürbitte für die sündige Menschheit Vergebung zu erwirken. Viertens fungiert der Gebetsmantel, den sie getreu dem Bildtypus der Schutzmantelmadonna bei ihrem Tempelgang trägt, als Zeichen und Instrument dieser Heilsvermittlung. Diesen geistlichen Prachtornat nämlich haben die Gläubigen für sie gefertigt und können somit auch darum bitten, unter dem schutzwirksamen Kleidungsstück Behütung vor göttlicher Strafe zu finden. Die biblische Episode, auf die der Alemannische Marienmantel dabei vornehmlich zurückgreift, findet sich allein im Lukasevangelium (Lc 2,22 - 38). Vierzig Tage nach Christi Geburt, so heißt es dort, machen sich Maria und Joseph mit dem Jesuskind zum Tempel in Jerusalem auf. Dort möchten sie den Geboten des Alten Testaments folgend sowohl ein Reinigungsopfer darbringen (vgl. Lv 12,2 - 8) als auch ihren erstgeborenen Sohn nach der Präsentation im Tempel durch eine Geldspende auslösen (vgl. z. B. Ex 13,12; 13,15; Nm 18,15 - 16). Das Lukasevangelium vermischt hierbei womöglich, so der Gegenstand einer bibelwissenschaftlichen Kontroverse, diese beiden eigentlich distinkten jüdischen Rituale miteinander. 200 Sein Doppelcharakter spiegelt sich auch in den 200 Zur Interpretation dieser Passage des Lukasevangeliums existiert eine ausufernde bibelwissenschaftliche Debatte, die hier im Einzelnen nicht nachvollzogen werden muss, zum Verständnis 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 247 <?page no="248"?> Bezeichnungen des neutestamentlichen Ereignisses wider, das sowohl als › Darstellung des Herrn im Tempel ‹ (praesentatio domini Jesu Christi in templo) als auch als › Reinigung Mariä ‹ (purificatio Mariae) bekannt ist. 201 Angekommen am Tempel trifft die heilige Familie auf die greisen Propheten Simeon und Hanna. Ersterem wurde zuvor offenbart, »dass er den Tod nicht schauen werde, ehe er nicht den Christus des Herrn sehe« (Lc 2,26). 202 Als Simeon nun das Jesuskind auf den Arm nimmt, erkennt er in ihm den Heiland und bricht in ein Dankgebet aus, das sich einreiht in »die Großgattung der Gebete vor dem Tode, die Lukas auch sonst kennt«. 203 Für den Alemannischen Marienmantel bedeutet es ein geschickt gewähltes Moment der Selbstreflexivität, wenn er das Bild des betenden Propheten als Höhepunkt des innerlich ausgerichteten Prozessionsgeschehens aufruft. Denn so präsentiert die Gebets- und Andachtsübung mit Simeon auch ein frömmigkeitspraktisches Rollenmodell für ihre Leserschaft: Diser wúrdigen himelschen kúngin und irem kinde engegenzu ͦ gonde und das heil aller der welte erwúrdiclichen zu ͦ entpfohende, so erwelen wir den lieben herren Symeon, der do zu ͦ von got erwelet was. Und schenckent im einen salter und fúnff tusent Ave Marie zu ͦ lobe der kúngin und irem kinde, und begerent, das ein jeglich luter hertze in mynnender begirde engegen gang der himelschen kúngin und irem kinde und das heile aller der welte geistlichen entpfohen in hitziger mynnender begirde, also in her Symeon entpfing liplichen an sin arme. (AM, Z. 124 - 130) 204 der für den Alemannischen Marienmantel zentralen Bibelstelle jedoch kurz angerissen sei. So nimmt Raymond E. Brown an, dass hier auf »two different Israelite customs specified in the Pentateuch« referiert werde; es sei deshalb »important to see these customs as originally distinct, for Luke seems to have confused them« (Raymond E. Brown: The Birth of the Messiah: A Commentary on the Infancy Passages in Matthew and Luke, Garden City, NY 1977, S. 447). Dem schließt sich in jüngerer Zeit Tyson an und stellt fest, dass »Luke probably misunderstood passages in the Hebrew Scriptures, as well as Jewish practices, since he conflated two different religious duties and failed to mention the practice of redeeming the first-born son« (Joseph B. Tyson: Marcion and Luke-Acts: A Defining Struggle, Columbia, SC 2006, S. 99). Seth Ward, der die Stelle aus der Perspektive der jüdischen Religionsgeschichte untersuchte, stellt fest, dass »technical errors in this text and celebration« vorlägen, durch die das Lukasevangelium die der Passage zugrundeliegenden religiösen Bräuche verzerre (Seth Ward: The Presentation of Jesus: Jewish Perspectives on Luke 2: 22 - 24, in: Shofar 21.2 [2003], S. 21 - 39, hier S. 39). Entschieden gegen diese These wendet sich Matthew Thiessen: Luke 2: 22, Leviticus 12, and Parturient Impurity, in: Novum Testamentum 54.1 (2012), S. 16 - 29. In jedem Fall aber legt das Lukasevangelium nahe, dass Maria für ein Reinigungsritual sowie zur Präsentation ihres erstgeborenen Sohnes den Tempelgang antrat - ein Verständnis, das so auch die Darstellung im Alemannischen Marienmantel fundiert. 201 Vgl. die verschiedenen Bezeichnungen für das zugehörige Fest bei Hermann Grotefend: Handbuch der historischen Chronologie des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Hannover 1872, S. 82. Erst 1969 wurde der bis dahin offizielle Name In Purificatione BMV durch die heutige Bezeichnung › Darstellung des Herrn ‹ ersetzt. 202 non visurum se mortem nisi prius videret Christum Domini. 203 Klaus Berger: Das Canticum Simeonis (Lk 2: 29 - 32), in: Novum Testamentum 27.1 (1985), S. 27 - 39, hier S. 27. Zum begründenden Hintergrund dieses Dankgebets schreibt Berger: »Simeon hat den Messias noch erlebt, ihn als das Heil geschaut, und deshalb kann er nun in Frieden sterben. Dadurch ist er auf besondere Weise privilegiert worden. Denn nach verbreiteter Tradition des Judentums sind die sogar selig zu preisen, deren Leben noch in die Zeit des Messias hineinreicht« (ebd., S. 34). 204 »Um dieser würdigen Himmelskönigin und ihrem Kind entgegenzugehen und das Heil der ganzen Welt in Würden zu empfangen, wählen wir den lieben Herrn Simeon aus, der von Gott dazu auserwählt wurde. Und zum Lob der Königin und ihres Kindes schenken wir ihm einen Psalter und 5.000 Ave Maria, und bitten darum, dass jedes lautere Herz der Himmelskönigin und ihrem Kind mit 248 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="249"?> Genau wie Simeon, der Maria entgegenging und in ein Gebet ausbrechend Christus auf den Arm nahm, soll sich auch ein jeglich luter hertze (AM, Z. 127) verhalten. Dies entspricht einem in der Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters verbreiteten Verfahren, das Christian Schmidt herausarbeitet: »Biblische Figuren [ … ] werden an die Selbstwahrnehmung der Betenden gekoppelt und ihnen zur Nachahmung anempfohlen.« 205 Der Text zeichnet den weisen Propheten hier also als Vorbild oder sogar als Präfiguration der Gläubigen, die am Marienmantel mitgewirkt haben. Auch die Schwertweissagung Simeons klingt im Alemannischen Marienmantel zumindest hintergründig an. Denn ein mit der biblischen Erzählung vertrautes spätmittelalterliches Publikum dürfte erinnert haben, dass der greise Prophet Maria vorhersagte, Jesus sei bestimmt »zum Sturz und zur Auferstehung vieler in Israel und zum Zeichen, dem widersprochen werden wird. Und deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen, damit aus vielen Herzen die Gedanken enthüllt werden« (Lc 2,34 - 35). 206 Wurde dieses Schwert z. B. bei Origenes noch verstanden als das »Schwert des Zweifels, den auch Maria in kritischen Stunden über die Sendung ihres Sohnes empfunden habe«, 207 so interpretierte die Passionsfrömmigkeit des Spätmittelalters es als Prophezeiung von Marias Mitleiden unter dem Kreuz. Cuius animan gementem, / contristantem et dolentem / pertransivit gladius, heißt es z. B. in der berühmten, wohl noch im 13. Jahrhundert entstandenen Mariensequenz Stabat mater über die schmerzerfüllte Maria. 208 Die 1475/ 6 verfasste Bordesholmer Marienklage bezeichnet das als Requisite verwendete Holzschwert, mit dem die Schmerzen der Gottesmutter verdeutlicht werden, ausdrücklich als Symeonis grymmige douendige swert, das durch Marias sele vnde ok [ … ] herte vert. 209 Auch die Ikonographie der Schmerzensmutter, deren Herz von einem oder mehreren Schwertern durchbohrt wird, dürfte von einem Lesepublikum des 15. Jahrhunderts entsprechend mit der im Alemannischen Marienmantel referierten Weissagung des Simeon assoziiert worden sein. 210 Dass der Text gerade diese Szene als Rahmen wählt, um den gebethaft hergestellten Marienornat zu überreichen und vorzuführen, erlaubt es ihm somit, ein Bild der Heiligen liebendem Verlangen entgegengehe und das Heil der ganzen Welt in heißem liebendem Verlangen geistig empfange, so wie Simeon es leiblich in seine Arme empfing.« 205 Schmidt 2015, S. 126. 206 positus est hic in ruinam et resurrectionem multorum in Israhel et in signum cui contradicetur et tuam ipsius animam pertransiet gladius ut revelentur ex multis cordibus cogitationes. 207 Paulus Rusch: Mariologische Wertungen, in: Zeitschrift für katholische Theologie 85.2 (1963), S. 129 - 161, hier S. 152. 208 »deren klagende, trauernde und schmerzende Seele ein Schwert durchbohrt«, zitiert nach Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter, München 1998, S. 63. Zur theologischen Tradition der Auslegung des Leidensschwerts mit zahlreichen entsprechenden Quellen vgl. ebd., S. 93 - 132. Das Schwert Simeons wurde in verschiedenen Traditionen als Schwert des Zweifels, des Martyriums, der Einsicht oder des Mitleidens verstanden, wobei letztere Deutung für die Westkirche des Spätmittelalters ausschlaggebend war. 209 »Simeons grimmiges und grausames Schwert«, das durch Marias »Seele und auch [ … ] Herz fährt«, G. Kühl (Hg.): Die Bordesholmer Marienklage, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 24 (1898), S. 1 - 75, hier V. 453 f. 210 Siehe Seibert 2008, S. 278 f.; sowie M. Schawe: Art. Schmerzensmutter. IV Kunstgeschichte, in: Marienlexikon 6 (1994), S. 31 - 34. Die Anzahl der Schwerter variiert bei diesem Bildmotiv, zumeist jedoch sind es, gemäß den Katalogen der Schmerzen Marias, jedoch fünf oder sieben, mitunter ist aber auch nur ein einziges Schwert ins Bild gesetzt. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 249 <?page no="250"?> Jungfrau in verschiedenen, teils gegensätzlichen Rollen aufzurufen: Maria erscheint einerseits als auserkorene Gottesmutter, die liebend ihren zur Rettung der Menschheit bestimmten Sohn präsentiert und ihn anbeten lässt, andererseits aber auch als mater dolorosa, deren Mitleid mit ihrem gekreuzigten Sohn prophetisch vorweggenommen wird. In letzterer Eigenschaft stellt Maria einerseits in der Passionsfrömmigkeit ein Modell des frommen Mitleidens dar. Andererseits aber erlangte das Bild der Schmerzensmutter durch die mittelalterliche Vorstellung von Maria als Miterlöserin Prominenz. Denn »Gott wollte die Menschheit nicht nur durch den Tod ihres Sohnes retten,« so z. B. die Lehre des einflussreichen pseudo-albertinischen Mariale, »sondern er gab Maria Anteil daran, weil sie in ihrem Herzen die Qualen erlitt, die er an seinem Leib trug.« 211 In der prozessionshaften Vergegenwärtigung der Darstellung des Herrn im Alemannischen Marienmantel verweist die Szene von Maria, die das Jesuskind zum Tempel trägt, somit auch figural auf das Karfreitagsgeschehen. Sie führt den Betenden die Inkarnation Christi durch Maria ebenso vor Augen wie die menschheitserlösende Passion. In ersterem Kontext erscheint Maria in der mittelalterlichen Theologie vor allem als Gottesgebärerin (dei genetrix oder Θεοτόκος ) und somit als Einfallstor göttlicher Präsenz auf Erden, 212 in letzterem als leidende Miterlöserin (corredemptrix). Ähnlich wie in der oben untersuchten Mantelbortenallegorie fokussiert der Alemannische Marienmantel hier folglich aus marianischer Perspektive auf die großen Komplexe der Menschwerdung und des Sterbens Christi. Dabei regt die abschließende Passage des Andachtstextes jedoch kein simples Erinnern der Darstellung des Herrn an, sondern lässt die Gläubigen dieses Ereignis als innere Prozession neuausrichten. Im frömmigkeitshistorischen Hintergrund steht, dass die Darbringung des Herrn am »2. Februar als eines der älteren Marienfeste« und seit dem Frühmittelalter nicht nur in den Klöstern, sondern auch von in der Welt lebenden Laien gefeiert wurde. 213 Die Episode aus dem Lukasevangelium muss dabei »als festbegründend betrachtet werden, wie die Liturgiegeschichte zeigt.« 214 Bereits im 5. Jahrhundert umfasste das auch als Mariä Lichtmess bekannte Fest eine Kerzenprozession, deren Symbolgehalt direkt auf die neutestamentliche Erzählung abhob. Das von Simeon angebetete lumen ad revelationem gentium (Lc 2,32), 215 also Jesus Christus, wurde in einem festlichen Umzug in den Tempel gebracht, für den die jeweilige Kirche einstand, in welche die Kerzen gegen Ende der Prozession getragen wurden. 216 211 J. Finkenzeller: Art. Miterlöserin, in: Marienlexikon 4 (1992), S. 484 - 486, hier S. 484. Auf das Mariale wird eventuell auch bei Dominikus von Preußen verwiesen (vgl. Pallium, Z. 179). 212 Zur Genese dieses Marienbildes und seinen Implikationen vgl. Fulton Brown 2018, S. 138 - 150. 213 Angenendt 2009, S. 391. Eine Übersicht über die im frühen Mittelalter auch von Laien begangenen Kirchenfeste bietet Hans-Werner Goetz: Kirchenfest und weltliches Alltagsleben im früheren Mittelalter, in: Mediävistik 2 (1989), S. 123 - 171, hier insb. S. 125. 214 Th. Maas-Ewerd: Art. Darbringung Jesu im Tempel. III. Liturgie West, in: Marienlexikon 2 (1989), S. 143 - 144, hier S. 144. 215 »Licht zur Offenbarung für die Heidenvölker«. 216 Vgl. Helmut Merkel: Art. Feste und Feiertage. IV. Kirchengeschichtlich, in: TRE 11 (1983), S. 115 - 132, hier S. 121. Die Entstehung des Festes und der Lichterprozession wird quellenreich diskutiert bei Christoph Schäublin: Lupercalien und Lichtmess, in: Hermes 123.1 (1995), S. 117 - 125. Wie Schäublin ausführt, ist bereits bei Beda von einem Lichterumzug die Rede, an dem neben den Klerikern scheinbar auch die örtlichen Gemeinden teilnahmen, vgl. ebd., S. 121 - 123. Noch vor dem 11. Jahrhundert entstand der damit verbundene Brauch einer Segnung der dabei verwendeten Lichter ( › Kerzenweihe ‹ ) 250 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="251"?> Karl Young zeigte weit vor allen performative turns auf, dass solche Lichtmessprozessionen mitunter geradezu schauspielhaften Charakter annahmen, so dass der Tempelgang Marias von den Prozessionsteilnehmern aufgeführt wurde. 217 Bereits im 12. Jahrhundert war es in Augsburg Teil des Lichtmesszeremoniells, dass ein Simeon darstellender Priester zum Höhepunkt der Prozession ein Christus symbolisierendes Buch in die Kirche trug. 218 Im 15. Jahrhundert hatte sich dieser Brauch dahin gewandelt, dass nunmehr kein Buch, sondern eine Jesuspuppe getragen wurde, die im Zentrum einer komplexen Aufführung stand, in deren Rahmen die Prozessanten feierlich in die Kirche eintraten, vbi obuiam se prebet dignior quidam sacerdos, indutus pluuiali, tenens in vlnis suis ante se imaginem pueri super puluinar, circumstantibus eum duobus ceroferarijs, et locans se ad locum aptum, vt tota processio pretereat eum. 219 Der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts niedergeschriebene Liber ordinarius der Essener Stiftskirche dagegen beschreibt, dass ein ymaginem beate Marie auream im Zentrum der Lichtmessprozession stand und nach der Messe vom heutigen Essener Münster durch die Stadt zur Pfarrkirche St. Gertrud getragen wurde. 220 Aufschlussreich ist, dass hierzu ausgeführt wird, das Marienbild solle pepulatam sub superpellicio suo sein. 221 Es dürfte sich hier also um eine Art Kleiderpuppe gehandelt haben, die vor dem Umzug eingewandet wurde - was die Prozessionsteilnehmer sahen, war damit in erster Linie der prunkvolle Figurenornat. 222 Dass das gebetete Kleidungsstück im Alemannischen Marienmantel in Anlehnung an eine Lichtmessprozession vorgeführt wird, wird vor dem Hintergrund solcher Prozessionsbräuche verständlich. Darüber, ob die instruierte Andachtsübung vielleicht zeitspezifisch zum Fest der Darbringung des Herrn vollzogen werden soll, schweigt der Text des Alemannischen Marienmantels. Ein kürzeres, inhaltlich verwandtes Mantelgebet ist jedoch ausdrücklich für dieses Datum gedacht: wiltu die kyngin der eren nuy kleiden uff das fest purificatio, so zu Mariä Lichtmess, wobei den so geweihten Kerzen oft apotropäische Kraft zugeschrieben wurde, vgl. Maas-Ewerd 1989, S. 144; Angenendt 2009, S. 391. 217 Karl Young: Dramatic Ceremonies of the Feast of the Purification, in: Speculum 5.1 (1930), S. 97 - 102. Für das englische Beverly ebenso wie für das italienische Padua konnte Young im Spätmittelalter regelrechte Prozessionsdramen nachweisen, bei denen die Beteiligten die Geschichte der Darstellung des Herrn in verteilten Rollen aufführten. Derartige mimetische Prozessionen waren im 15. Jahrhundert europaweit verbreitet. 218 Vgl. ebd., S. 98 f. 219 »wo ihnen ein würdiger, in ein Pluviale gekleideter Priester entgegentritt, der vor sich in seinen Armen und auf einem Kissen ein Bildnis des Knaben hält, von zwei Kerzenleuchtern umgeben ist und sich an einen passenden Platz stellt, so dass die ganze Prozession an ihm vorbeigehe«, Obsequialis secundum diocesis Augustensis morem, Augsburg: Erhard Radolt 1487, fol. 6v. Zitiert nach Young 1930, S. 99. 220 »goldenes Bildnis der seligen Maria«, Frans Arens (Hg.): Der Liber ordinarius der Essener Stiftskirche. Mit Einleitung, Erläuterungen und einem Plan der Stiftskirche und ihrer Umgebung im 14. Jahrhundert, Paderborn 1908, S. 32. Siehe auch Young 1930, S. 99. 221 »unter seinem Mantel bekleidet«, Arens 1908, S. 32. Bei dem superpelliceum handelt es sich eigentlich um ein liturgisches Gewand, das in etwa als ein langes, über der eigentlichen Kleidung getragenes Cape vorzustellen ist. Das Wort pepulatam, das anhand der Handschrift überprüft wurde und keinen Editionsfehler darstellt, dürfte eine etwas ungewöhnliche Adjektivbildung zu peplus ( › Gewand, weites Oberkleid, Schleier, Kopftuch ‹ ) darstellen. 222 Arens führt anhand weiterer Quellen zur Segnung und Bezahlung der Lichtmesskerzen aus, dass ein großer Teil der Stadtbevölkerung an dieser Prozession teilgenommen haben muss, vgl. ebd., S. 213 - 217. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 251 <?page no="252"?> foh an noch der heiligen dryg künig dag, wen du wylt. Und sprich ir dryg rosen krentz und vii pater noster und vii salve regina, und ordene dis alles für einen mantel, heißt es in einer im 16. Jahrhundert geschriebenen Gebetbuchhandschrift aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Margareta und St. Agnes. 223 Auch die in diesem Kapitel einleitend angesprochene niederländische Legende von den drei Schwestern bringt das Mantelgebet mit Mariä Lichtmess in Verbindung. 224 Eine aus einem unidentifizierten Frauenkloster stammende niederdeutsche Handschrift des 16. Jahrhunderts enthält zudem eine fragmentarische, dem Alemannischen Marienmantel vergleichbare Gebets- und Andachtsübung, die betitelt ist als De mantel marien tegen lechtmisse, de men sal lesen vp middewinters auent to ere der saliger iufferen. 225 Gemeint ist hier, mit der umfangreichen Übung solle zu Mittwinter begonnen werden, so dass der geistliche Mantel pünktlich zum Fest der Darstellung des Herrn vollendet sei. Diese drei Beispiele zeigen, dass die Verknüpfung zwischen diesem Marienfest und der Praxis des Mantelbetens zumindest verbreitet, wenn nicht gar vorausgesetzt war. Ob auch der Alemannische Marienmantel in Vorbereitung auf Mariä Lichtmess gebetet wurde, bleibt freilich nur zu vermuten. In jedem Fall aber orientieren sich die Anweisungen zum imaginierenden Vollzug dieser Übung am für dieses Fest charakteristischen Prozessionswesen. Vor den inneren Augen der Betenden entsteht ein prachtvoller Umzug, an dem die Figuren des Lukasevangeliums ebenso teilnehmen wie eine Auswahl an Heiligen. Ein umfangreiches Figurentableau unterstützt Maria auf unterschiedliche Weise bei ihrem Tempelgang, wobei diese Dienste wiederum durch Frömmigkeitsleistungen belohnt werden müssen. So legen Dominikus und Franziskus, die Gründer der beiden großen Bettelorden, Maria den gebeteten Mantel um, 226 während Johannes der Evangelist und Johannes der Täufer ihr die zugehörige Krone aufsetzen und voranschreiten. Paulus streut Blumen auf den Weg, die Heiligen Klara, Katharina, Margaretha, Cäcilia, Lucia und Dorothea tragen die Opfertauben und bilden Marias Gefolge. Joseph folgt der Gottesmutter als Beschützer (pfleger, AM, Z. 109) ohne festgesetzte Aufgabe und die neun Chöre der Engel musizieren zur Unterstützung des Festzugs. Als Herolde mit dem Auftrag, den frommen Dienst des Mantelbetens wúrdeclichen zu ͦ brisende und uß zu ͦ kúndende (AM, Z. 117 f.), 227 werden Augustinus und Bernhard von Clairvaux in die Pflicht genommen. Simeon schließlich geht wie neutestamentlich berichtet Maria entgegen und empfängt das Jesuskind. Petrus steht dem oppfer (AM, Z. 117), das leicht als Messfeier gelesen werden kann, vor. Zur weiteren Teilnahme an dem Fest wird schließlich die gesamte himmlische 223 »Möchtest du die Königin der Ehren zum Fest Mariä Reinigung neu einkleiden, so beginne damit nach dem Festtag der Heiligen Drei Könige, wenn du möchtest. Und sprich für sie drei Rosenkränze und sieben Pater Noster und sieben Salve Regina und füge das alles zusammen zu einem Mantel«, München, BSB, Cgm 856, fol. 210r. Darauf folgt in der Handschrift ein den geistlichen Mantel Maria widmendes Abschlussgebet sowie eine Anleitung zum Beten einer geistlichen Kerze. Vgl. zur Handschrift auch Haimerl 1952, S. 40 - 44. 224 Vgl. oben, S. 216 f. 225 »Der Mantel Marias für Lichtmess, den man zu Ehren der seligen Jungfrau am Mittwinterabend lesen soll«, Berlin, SBB - PKB, mgq 762, fol. 129v. Zu dieser Handschrift vgl. ausführlicher unten, Kap. IV.4.4. 226 Dies ist ein weiteres Indiz für eine Verankerung des Textes im religiösen Umfeld der Mendikantenorden. 227 »würdig zu lobpreisen und zu verkünden«. 252 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="253"?> Gesellschaft geladen: Die zwölf Apostel, die vier Evangelisten, die vier Kirchenlehrer und alle Heiligen wohnen ihm bei. 228 Diese Rollenverteilung gestaltet sich im groben Aufbau analog zum Grundgerüst liturgischer Prozessionen im deutschsprachigen Raum des 15. Jahrhunderts. 229 Ihre Details illustrieren jedoch, wie sehr dieser Tempelgang zwischen innerlicher Reinszenierung der biblischen Vergangenheit, imaginierter Lichtmessprozession und himmlischem adventus der Königin Maria oszilliert. So werden z. B. die Opfertauben, die Maria laut dem Lukasevangelium zum Tempel bringt (vgl. Lc 2,24), wie erwähnt von einer Gruppe weiblicher Heiliger getragen, die der heiligen Jungfrau nachschreiten: Diser kúngin nochzu ͦ gonde zu ͦ dem tempel, so usserwelent wir die wúrdigen jungfrowen sant Cloren, sant Angnesen, sant Kathrinen, sant Margreden, sant Cecilien, sant Lucien und sant Dorotheen, die sol die túbelin tragen zu ͦ dem tempel. Dise túbelin súllent kosten zwey hundert willenbrechen. Disen jungfrowen allen schencken wir fúnff und drissig tusent Ave Maria, und allen reinen megden zehen tusent Ave Maria zu ͦ lobe dirre kúngin. (AM, Z. 103 - 108) 230 Deutlich wird, dass an dieser Stelle nicht einfach das im Neuen Testament berichtete Geschehen erinnert wird. Die genannten Heiligen bleiben nicht bloß in der Bibel unerwähnt, sie gehören auch nicht ins temporale Umfeld der Geburt und Kindheit Christi. 231 Der gebethaft veranstaltete Tempelgang ist somit nicht als historische Rückblende gestaltet, sondern vielmehr als himmlische Prozession, die ein vergangenes Heilsereignis überzeitlich nachfiguriert und es darin sowohl zur Gegenwart macht als auch seine künftige Gnadenwirkung verheißt. Denn Maria, der Zeit enthoben und unterstützt von einer Auswahl historisch disparater Heiliger, wiederholt im Himmel ihren eigenen Tempelgang, der sich formal an eine liturgische Prozession anlässlich des entsprechenden marianischen Hochfestes auf Erden anlehnt. Die Gläubigen, die für 228 Viele dieser Figuren haben vorher schon spezifische Aufgaben im Prozessionszug übernommen. 229 Charles Zika z. B. gibt eine kurze Schilderung einer typischen städtischen Fronleichnamsprozession, die hier zur Illustration kurz wiedergegeben sei. Man achte auf die grundlegende Ähnlichkeit zum im Alemannischen Marienmantel geschilderten Festzug, in der jedoch statt der baldachinbedeckten Monstranz die den Gebetsmantel tragende Maria im Mittelpunkt steht: »The host, often carried in a monstrance, constituted the spatial and referential centre of the Corpus Christi procession. [ … ] It was generally carried by the highest-ranking ecclesiastic and was bedecked by a canopy or baldachin (the Himmel). It was often preceded by children strewing rose petals and flanked by ecclesiastical officers and leading members of the ruling elite. These representatives of secular authority usually carried the canopy. In larger towns in particular the processions also featured a whole range of other objects commonly used in liturgical ceremonies - tapers, candles, torches, lanterns, processional candlesticks, bells, processional banners and standards and various forms of greenery.« Charles Zika: Hosts, Processions and Pilgrimages: Controlling the Sacred in Fifteenth-Century Germany, in: Past & Present 118 (1988), S. 24 - 64, hier S. 41. 230 »Um dieser Königin auf dem Weg zum Tempel nachzuschreiten, wählen wir die würdigen Jungfrauen Sankt Klara, Sankt Agnes, Sankt Katharina, Sankt Margaretha, Sankt Cäcilia, Sankt Lucia und Sankt Dorothea aus, die sollen die Täubchen zum Tempel tragen. Diese Täubchen sollen 200 Entsagungen kosten. Diesen Jungrauen schenken wir zusammen 35.000 Ave Maria, und allen reinen Jungfrauen 10.000 Ave Maria zum Lob dieser Königin.« Diese Auswahl an Heiligen ist zunächst nicht sonderlich aussagekräftig; es handelt sich hier durchgängig um › Modeheilige ‹ des Spätmittelalters, die allgemeine Verehrung genossen. Allein die Nennung der Heiligen Klara an erster Stelle könnte, wie auch die oben diskutierte Überlieferungslage des Textes, womöglich auf einen franziskanischen Hintergrund weisen. 231 Neben den spätantiken Märtyrerinnen findet sich hier sogar die franziskanische Ordensheilige Klara von Assisi, die erst im 13. Jahrhunderts wirkte. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 253 <?page no="254"?> diese Prozession mit ihren Frömmigkeitsleistungen aufkommen, treten zwar selbst in Erscheinung, werden aber dadurch, dass sie den festlichen Umzug mit ihren Gebeten › bezahlen ‹ , zu Ausrichtern und stillen Teilhabern des Geschehens. Was nun bedeutet dies für den Andachtstext und den gebeteten Mantel, der dergestalt in einer himmlischen Lichtmessprozession aufgeht? Zunächst besitzt der geistliche Prozessionszug eine mimetische Qualität, die die vergangene Darbringung des Herrn nachstellend repräsentiert. In diesem Sinne übernehmen die auftretenden Figuren »die Rollen eines sakralen Spiels, bei welchem ein bedeutsames gesch[ichtliches] oder legendäres Ereignis nachgespielt wird«, wobei sie im Alemannischen Marienmantel freilich zumeist sich selbst spielen. 232 Die Details des auf diese Weise reinszenierten Geschehens werden in der Prozession zudem festlich hervorgestellt, ja geradezu überzeichnet. Beispielsweise werden die Opfertauben nicht bloß mitgebracht, sondern regelrecht vorgeführt. So entfaltet sich ein für Prozessionen charakteristischer Effekt. Wie Katja Gvozdeva und Hans Rudolf Velten ausführen, »oszilliert die Bewegung der Prozession immer zwischen den Koordinaten der Aufführung [ … ] und jenen der Repräsentation.« 233 Im Alemannischen Marienmantel ist dies auch als figurative Bewegung zwischen dem Rückbezug auf eine vergangene Vorbildung und ihrer nachbildenden Erfüllung im durch das Gebet veranstalteten inneren Ereignis der Gegenwart zu fassen. Darin zeitigt der imaginierte Umzug auch einen Effekt der Vergegenwärtigung. Die Wiederaufführung der Darstellung des Herrn im Himmel wird den Gläubigen, die an dieser Inszenierung durch ihre Frömmigkeitsleistungen teilhaben, zur sprachlich vorentworfenen Erfahrungs- und Handlungswirklichkeit, in die sie beobachtend und ausrichtend immergieren. Die Form dieses Tempelgangs dürfte ihnen dabei aus der Lichtmessliturgie vertraut gewesen sein. Somit überblendet der Alemannische Marienmantel biblisches Ereignis und irdisches Prozessionswesen, geleistetes Gebet und himmlisches Geschehen mitsamt ihrer jeweiligen raumzeitlichen Spezifika, so dass Vergangenheit und Gegenwart, Immanenz und Transzendenz sich schlussendlich nicht bloß abbilden, sondern in Entsprechung geraten. 234 232 Bernhard Lang: Art. Prozession. I. Religionswissenschaftlich, in: 4 RGG 6 (2003), Sp. 1753 f., hier 1754. 233 Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten: Einführung, in: Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in der Vormoderne. Médialité de la procession. Performance du mouvement rituel en textes et en images à l ’ époque pré-moderne, hg. v. Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2011 (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 39), S. 11 - 24, hier S. 12. Als Aspekte des Performativen nennen die Autoren »Teilhabe an der Prozession durch Mitwirken oder Zuschauen, performative Erfahrungen des Sakralen und des kollektiven (städtischen) Körpers, der Präsenz von Herrschaft oder des karnevalesken bzw. theatralen Rausches«; zugleich ist die Prozession auch gekennzeichnet durch die Repräsentation »von Heiligen und Heilsgeschichte, von Gottheiten und Mythen, von sozialer und politischer Ordnung und Herrschaft, von Gedächtnis und idealer Gemeinschaft« (ebd.). Beides wird im Alemannischen Marienmantel wirksam. 234 Zu diesem Themenkomplex zeigt Christian Kiening für die räumlichen Stationen prozessional gegliederter Passionsmeditationen, wie hier verschiedene »Zeit- und Raumdimensionen« miteinander verschränkt werden: »dort eine historische, einmalige Urzeitlichkeit, hier eine immer wieder herstellbare Jederzeitlichkeit; dort die ferne, von spezifischen Gegebenheiten bestimmte Räumlichkeit des Heiligen Landes, hier die je anders nahe Situationalität der Meditierenden«, Christian Kiening: Prozessionalität der Passion, in: Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in der Vormoderne. Médialité de la procession. Performance du mouvement rituel en textes et en images à l ’ époque pré-moderne, hg. v. Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2011 (Germanisch- Romanische Monatsschrift. Beiheft 39), S. 177 - 197, hier S. 179. 254 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="255"?> Hierbei hierarchisiert der Prozessionsgang die an ihm teilnehmenden Figuren. Sozialhistorisch dienen Prozessionen im Spätmittelalter auch dazu, Ordnungen und Identitäten performativ auszudrücken und zu kommunizieren: »various social groupings and political authorities who took part in the procession demonstrated their individual identity and corporate unity through the formal structuring of the procession.« 235 Indem die unterschiedlichen Heiligen verschiedene Rollen und Aufgaben zugewiesen bekommen, gliedern sie sich in eine Art himmlische Hierarchie, an deren Spitze Maria steht. Auch die Gläubigen haben Teil hieran, indes auf mittelbare Weise. Indem sie die auftretenden Figuren durch ihre Frömmigkeitsleistungen zur Teilnahme bewegen, fungieren sie als ermöglichende Basis der sich vor ihren inneren Augen ereignenden himmlischen Prozessionsordnung. Dies leitet über zu einer weiteren Zeichenebene, die der Text eröffnet. Ebenso nämlich wie einer liturgischen Prozession ähnelt der Festzug im Alemannischen Marienmantel einem herrscherlichen adventus, also dem im Mittelalter verbreiteten Zeremoniell der Einkehr eines Herrschers oder hohen Würdenträgers z. B. in eine Stadt oder ein Kloster. 236 In Anlehnung an diesen Brauch des festlichen Herrschereinzugs erscheint Maria als Königin, die in das himmlische Jerusalem einzieht. Parallelen zwischen Form und Ablauf des betend ausgerichteten Umzugs und dem recht formalisierten Ritual des Herrscherempfangs liegen recht offen zutage. 237 Maria tritt auf in der explizit benannten Rolle der Himmelskönigin (himelschen kúngin, AM, Z. 118 und häufiger) - schon dies markiert die Szene als adventus reginae. Dass der Alemannische Marienmantel hier also liturgische Prozession und Herrscherinneneinzug miteinander verschmilzt, kreiert keine besondere Dissonanz. Sowohl Festtagsprozessionen als auch Herrschereinzüge des Mittelalters beruhten, so stellen Peter Johanek und Angelika Lampen fest, stets auf einer Verbindung »politischer, rechtlicher und sakraler Elemente«. 238 Auch die Königinnenrolle, die Maria 235 Zika 1988, S. 42. 236 Vgl. zum allgemeinen Überblick Th. Kölzer: Art. Adventus regis, in: LexMA 1 (1980), Sp. 170 f. 237 Eine Zusammenfassung des Ablaufs eines üblichen adventus bietet Regine Schweers: »Der Einzug begann in der Regel einige Meilen außerhalb der Stadt, auf freiem Feld, wo der Einziehende von einer Abordnung der Stadt empfangen und zu den Toren der Stadt geleitet wurde (die Einholung bzw. der occursus). [ … ] Am Stadttor wurde der der Einziehende von der versammelten Gemeinde und vom Klerus der Stadt in einem feierlichen Rahmen mit Gesängen empfangen. Teil der feierlichen Begrüßung war auch eine ganze Reihe von Ritualen, wie die Übergabe der Stadtschlüssel oder die Begnadigung Verbannter [ … ]. Nach der Begrüßung und der › Erledigung ‹ dieser Rituale konnte der eigentliche Einzug in die Stadt beginnen, der sog. ingressus bzw. die processio durch die Stadt. Der Einziehende ritt normalerweise unter einem Baldachin, der von ausgewählten Bürgern (zumeist wohl Mitglieder des Rates) getragen wurde. Der sich formierende Zug durch die Stadt war zielgerichtet: Er steuerte auf die Hauptkirche der Stadt zu«, Regine Schweers: Die Bedeutung des Raums für das Scheitern oder Gelingen des Adventus, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, hg. v. Peter Johanek u. Angelika Lampen, Köln u. a. 2009 (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen 75), S. 37 - 55, hier S. 37 f. Vgl. auch ausführlich Gerrit Jasper Schenk: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich, Köln u. a. 2003 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 21). 238 Peter Johanek u. Angelika Lampen: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt. Zur Einführung, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, hg. v. Peter Johanek u. Angelika Lampen, Köln u. a. 2009 (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen 75), S. VII - XVI, hier S. VII. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 255 <?page no="256"?> im himmlischen Umzug ausfüllt, vermag kaum zu überraschen, denn »[i]f on earth Mary was woman, in heaven she is queen.« 239 Entscheidend aber ist, dass der so herausgestellte Status Marias als Himmelskönigin gemeinsam mit ihrer Position als Gottesgebärerin und Miterlöserin die Grundlage für den Glauben an ihre Macht als Mittlerin göttlicher Gnade (mediatrix) bildete. Die Idee einer Mittlerschaft Marias umfasste im Mittelalter hierbei grundsätzlich »zwei Aspekte: einmal die geschichtliche Beteiligung Marias an der Inkarnation und dem Erlösungshandeln ihres Sohnes [ … ] und zum anderen ihre aktuelle Fürbitte beim erhöhten Herrn, in der sie die aktuellen Gnaden Gottes an jeden Menschen miterbittet«. 240 Als Herrscherin im Himmel kann Maria, gleich dem weltlichen Herrscher, der beim adventus Verurteilte begnadigt, 241 durch ihr Eingreifen bei Gott Vergebung für diejenigen erwirken, die sich an sie wenden, z. B. in Form einer geistlichen Kleidergabe. Indem der Alemannische Marienmantel Maria auf der einen Seite unter Verweis auf das Lukasevangelium und die Prophezeiung des Simeon als Gottesmutter und leidende Miterlöserin darstellt, sie auf der anderen Seite aber auch als zur heilswirksamen Fürbitte befähigte Himmelskönigin zeigt, veranschaulicht er den Betenden das Kernstück der Marienfrömmigkeit des Spätmittelalters: Maria ist befähigt und bereit, die sündigen Gläubigen mit Gott zu versöhnen. Um eine ebensolche Interzession der Heiligen Jungfrau bittet die Andachtsübung abschließend. Das Instrument dieses Einschreitens bei Gott soll eben jener Mantel sein, den die Gläubigen für sie gefertigt haben und den sie nun in der Prozession zur Schau stellt: Nu ͦ begerent wir an die wúrdigen mu ͦ ter Marien und an ir liebes kint, das sú den mantel ir grundelosen mu ᵉ terlichen erbermde uff tu ͦ gegen allen den, die von mynnen hie zu ͦ gestúret hant, und uns und allen menschen, von den sú gebetten wil werden, das sú uns alzit behu ᵉ te vor allem dem, das ir und irem kinde mißvallen mag an uns. Und sunderlichen an unserm tode, das sú uns denn unser sele entpfohe under den mantel ir mu ᵉ terlichen grundlosen erbermde und uns leite von disem ellende in das ewige vatter land, do wir sú und ir kint in fro ᵉ iden schowent ewenclichen. Amen (AM, Z. 158 - 164) 242 Das geistliche Kleidungsstück ist, wie aus dieser abschließenden Gebetsbitte deutlich wird, 243 auf der einen Seite als Herrscherinnenmantel der Himmelskönigin Maria gestaltet. Auf der anderen Seite jedoch ist es, wenn es in seiner Ikonographie und der Vorstellung seiner protektiven Kraft dem Bildmotiv der Schutzmantelmadonna folgt, auch ein geschehensmächtiger Gegenstand, mithilfe dessen die Gottesmutter die Gläubigen, die 239 Fulton Brown 2018, S. 266. 240 G. L. Müller: Art. Mittlerin der Gnade. I. Kath. Theologie, in: Marienlexikon 4 (1992), S. 487 - 491, hier S. 487. 241 Vgl. Schenk 2003. 242 »Nun bitten wir die würdige Mutter Maria und ihr liebes Kind, den Mantel ihrer grundlosen mütterlichen Barmherzigkeit aufzutun für alle die, die aus Liebe dazu beigetragen haben, und uns und alle Menschen, die sich je an sie wenden werden, allzeit vor allem zu behüten, was ihr und ihrem Kind an uns missfallen könnte. Und besonders in unserer Sterbestunde möge sie dann unsere Seelen unter dem Mantel ihrer mütterlichen grundlos tiefen Barmherzigkeit empfangen und uns aus diesem Elend in die ewige Heimat führen, wo wir sie und ihr Kind auf ewig in Freuden schauen werden. Amen.« 243 Die anschließende Bitte um ein Gebet für die Autoren oder Autorinnen sowie die summarische Aufzählung der zu tätigenden Frömmigkeitsleistungen sind als Zusätze zu verstehen, weshalb diese Bitte, wie auch durch das Amen gekennzeichnet, die eigentliche Andachtsübung abschließt. 256 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="257"?> ihr das Kleidungsstück gefertigt haben, vor Unheil beschirmen kann. Schlussendlich drückt die geistliche Übung die Hoffnung und Bitte aus, unter diesem wundersamen Schutzmantel aufgenommen zu werden. Hier erweist sich ein weiteres Mal der Doppelcharakter derartiger geistlicher Handwerksarbeiten. Das gebethaft hergestellte Werkstück ist einerseits Gabe, andererseits Instrument des Schutzes für die Gebenden. Es ist in der Vorstellung, die der Text für sein Publikum entwirft, ebenso intensiv wirksam wie wirklich, zugleich aber fehlt ihm jegliche physische Stofflichkeit. So wird der Marienornat sowohl als geistlich-konkrete Figuration der Frömmigkeit wie auch als komplexe Allegorie aufgebaut, die eine zeichenhafte Sinnverdichtung betreibt. Zum einen stiftet er, nicht zuletzt durch Logiken der arbeitsteiligen Quantifizierung, eine Gemeinschaft der teilnehmenden Gläubigen, die soziale Kategorien wie Stand oder Geschlecht prinzipiell übergreift, zum anderen transzendiert er dies auch wieder in der je eigenen inneren und prinzipiell unzählbaren Hinkehr zum Heiligen. An diese nun in ihren Grundrisslinien aufgezeigten Spannungsverhältnisse anknüpfend geraten folgend mit dem Pallium beate Marie virginis und den damit verbundenen volkssprachigen Schriften einige Texte in den Blick, die als Kommentar bzw. als Lobdichtungen auf den Alemannischen Marienmantel zu fassen sind. An ihnen ergibt sich die Möglichkeit, sich sowohl den zeitgenössischen Theoretisierungen des handwerklichen Betens als auch den derartigen Übungen zugrundeliegenden geistlichen Gemeinschaftsmodellen und Heilshoffnungen weiter anzunähern. 2 Geistliche Gemeinschaftlichkeiten: Der Alemannische Marienmantel 257 <?page no="258"?> 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen Im Korpus der volkssprachigen Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters sind historisch fassbare Autoren die Ausnahme. Neben dem bayerischen Augustiner-Chorherren Johannes von Indersdorf (1383 - 1470) 244 oder dem Prager Hofkanzler Johann von Neumarkt (ca. 1310 - 1380) 245 gehört auch der umtriebige Trierer Kartäuser Dominikus von Preußen 246 in diese kleine Gruppe namentlich bekannter und in ihrem historisch-sozialen Kontext recht exakt verortbarer Verfasser geistlicher Übungen. Wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, ist Dominikus dabei vor allem als Autor der Rosenkranzklauseln bekannt. Nun verstellt der Fokus auf diese kurze und überaus vielrezipierte Schrift jedoch mitunter den Blick auf sein umfassendes übriges Werk. 247 Neben dem bereits erwähnten Liber experientiae sowie einigen kürzeren theologischen Traktatschriften 248 dominieren Frömmigkeitstexte sein Œ uvre, wobei das Gros dieser Texte in die Kategorie der handwerklichen Gebets- und Andachtsübungen gehört. So verfasste er neben seinen Rosenkranzschriften und den folgend behandelten Manteltexten mit der Corona gemmaria auch eine Dingallegorie enormen Umfangs, die eine mit 77 Edelsteinen verzierte Marienkrone zum Gegenstand hat und auch in einer volkssprachlichen Fassung überliefert ist, sowie die unten noch genauer in den Blick genommene Constructio domus sive aule Marie, eine Anleitung zur betenden Konstruktion eines inneren Marienpalasts. 249 Derartige Übungen zur Fertigung geistlicher Gegenstände für Maria bildeten den Schwerpunkt der Verfassertätigkeit des Kartäusers. Für die Untersuchung der Entwicklung textiler Gebetsübungen stellt dies in zweierlei Hinsicht einen Glücksfall dar. Zum einen lässt die literarische Beschäftigung Dominikus ’ mit dieser Frömmigkeitsform weitergehende Schlüsse über die religiösen und regionalen Milieus zu, in denen das Mantelgebet gegen Mitte des 15. Jahrhunderts populär wurde. 244 An einer Dissertation über die Johannes von Indersdorf zugeschriebenen Gebetstexte arbeitet Tabea Bach (Freiburg/ Schweiz). Vgl. zu diesem Autor ansonsten Brigitte Weiske: Bilder und Gebete vom Leben und Leiden Christi. Zu einem Zyklus im Gebetbuch des Johannes von Indersdorf für Frau Elisabeth Ebran, in: Die Passion Christi in der Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 113 - 168; sowie Bernhard Dietrich Haage: Art. Johannes von Indersdorf, in: 2 VL 4 (1983), Sp. 647 - 651. 245 Vgl. Chlench-Priber 2020; sowie Peter Ochsenbein: Die deutschen Privatgebete Johanns von Neumarkt. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu einer bislang unbekannt gebliebenen Londoner Handschrift, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 12 (1977), S. 145 - 164. 246 Zu diesem Autor siehe die Diskussion oben, Kap. II.3.2. 247 Einen vielfach unvollständigen Werküberblick mit Listen der jeweiligen Überlieferungszeugen bietet Klinkhammer 1972, S. 7 - 21. Vgl. auch die gekürzte und um einige Angaben ergänzten Übersicht bei Karl Joseph Klinkhammer: Art. Dominikus von Preußen, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 190 - 192. 248 Hierunter fallen vor allem die sämtlich unedierten moraltheologischen Schriften De obedentia (ca. 1432) und De verecundia sowie der Messtraktat Tractatulus de fructuose modo celebrandi missas (ca. 1452). Auch einige Briefe und die Rede Contra metum pestilentiae (1450) gehören in dieses Umfeld; vgl. Klinkhammer 1972, S. 12 - 19. 249 Vgl. unten, S. 369 - 380; sowie die Edition im Anhang dieser Studie. <?page no="259"?> Zum zweiten stellt es im Bereich der volkssprachlichen Gebetbuchliteratur die seltene Ausnahme dar, wenn zu einem entsprechenden Text oder der darauf basierenden Frömmigkeitspraxis ein umfänglicher zeitgenössischer Kommentar vorliegt. Dass Dominikus von Preußen mit dem Pallium beate Marie virginis jedoch eine erklärende Traktatschrift zum textilen Beten und offenbar sogar speziell zum Alemannischen Marienmantel schrieb, erlaubt einen genaueren Blick auf die hinter dieser Frömmigkeitsübung stehenden religiösen Vorstellungen und die damit verbundenen Spannungen. Allein dies ist, ganz abgesehen von der literarischen Qualität des bislang unbeachteten lateinischen Traktats, den der Autor auch dazu nutzt, theologische Bildung und rhetorisches Können auszustellen, Grund genug, ihn an dieser Stelle genauer zu behandeln und zu erschließen. Der Text jedoch verlangt, zumal er auf dem modernen Leser oftmals fremde Frömmigkeitsvorstellungen und theologische Gedankengebäude zurückgreift, nach Erläuterung. Folgend sollen deshalb einige argumentative Hauptlinien des Pallium nachgezeichnet werden, die sich auch in seinen sowohl ripuarisch als auch auf Latein überlieferten, in Versen gehaltenen Mantelpreis-Dichtungen sowie einer ripuarischen Zusammenfassung der Hauptargumente des Traktats mit angeschlossener Exempel- und Mirakelsammlung niederschlagen. 250 Erstens zeichnet der Kartäuser das Gewand für die Heilige Jungfrau als Gegenstand, der zwar als dinglich gedacht und behandelt werden muss, in seiner spirituellen Konkretheit dem Stoff der Welt jedoch überlegen ist. Dies ist zweitens mit der Idee einer besonderen Fertigungsdynamik verbunden. Entstanden unter Anleitung der Seele Jesu Christi übertrifft er alle menschliche Kunstfertigkeit und ist als Ergebnis einer gnadenhaft gewährten, göttlich-menschlichen Werkgemeinschaft zu verstehen. Aufschlussreich sind drittens die Erläuterungen des Kartäusers zur Gemeinschaftlichkeit der Mantelandacht, die allen Gläubigen unabhängig von Stand und Status offenstehe. Hier verdient viertens auch der Gedanke einer Präfiguration des Mantelbetens durch den alttestamentlichen Bau des Bundeszelts, mit dem Dominikus die universelle Öffnung ursprünglich monastischer Frömmigkeitsformen selbst für Laien rechtfertigt, nähere Betrachtung. Fünftens verbindet das Pallium mit der Arbeit am gebeteten Mariengewand die Hoffnung auf bestimmte Heilswirkungen. Diese Frömmigkeitsform präsentiert sich, so führt Dominikus aus, als wirkmächtige Methode der Sorge für das eigene Seelenheil, von der ein Schutz der als Gnadenmittlerin auftretenden Gottesmutter vor dem Zorn Gottes ebenso wie vor dämonischer Anfechtung zu erhoffen sei. 3.1 Sublime Arbeiten und die überstoffliche Materialität der Gebete In keiner anderen Schrift geht Dominikus von Preußenso so detailliert auf die theologischen Vorstellungen, religiösen Lebensmodelle, Bilder und Narrative ein, die dem handwerklichen Beten zugrunde liegen, wie im wohl um 1445 entstandenen Pallium beate 250 Editionen sämtlicher dieser Texte finden sich im Anhang dieser Arbeit. Die beiden gereimten Dichtungen werden folgend als › Mantelpreis D ‹ für den ripuarischen und › Mantelpreis L ‹ für den lateinischen Text im Fließtext zitiert. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 259 <?page no="260"?> Marie virginis. Anlass für die Abfassung dieses Traktats gab dem Autor eine nicht genau betitelte, zu Beginn der Schrift erwähnte Gebets- und Andachtsübung, die aus der Straßburger Umgebung in Schriftform an die Trierer Kartause gesandt worden war. Hierbei dürfte es sich allen Indizien nach um den oben ausführlich untersuchten Alemannischen Marienmantel oder eine Variante dieses Texts gehandelt haben. 251 Dass Dominikus sein in zwei erhaltenen Handschriften überliefertes Pallium als Reaktion auf die ihm vorliegende geistliche Übung konzipierte, wird gleich zu Beginn deutlich gemacht: In Straßburg und den umliegenden Gebieten, so beginnt er, gäbe es geistliche Personen, deren Andacht soweit ginge, dass sie von heiliger Liebe übermannt ohnmächtig niedersänken. Aus ebendieser Gegend sei ihm nun ein exercicium novum bonum atque devotum zugesandt worden, das man dort seit zwei Jahren praktiziere und das er nun auch in Trier und andernorts verbreiten wolle. Die Straßburger hätten nämlich begonnen, der Gottesmutter ein pallium misticum quoddam preciosissimum anzufertigen. Nun läge es an allen Gläubigen, dieses Werk zu erweitern und zu verbessern. 252 Ziel des Texts ist damit nicht die Konzeption einer eigenen, neuen Gebets- und Andachtsübung. Für sich genommen bietet das Pallium auch keine vollführbaren Anweisungen zur Fertigung eines geistlichen Kleidungsstücks. Vielmehr wird hier »für geistliche Übungen geworben, durch die Maria ein kostbarer Mantel angefertigt wird, der allen Schutz bietet.« 253 Das Pallium ist somit als propagierender Kommentar zum Alemannischen Marienmantel oder zumindest einem sehr eng verwandten Text zu verstehen. Dominikus hält seine Leserschaft dazu an, die von diesem Text angeleitete und vom ihm selbst erläuterte Frömmigkeitspraxis zu übernehmen und sich durch Gebet, Andacht und Askese an der Herstellung des geistlichen Marienkleids zu beteiligen. Dass es sich mit dieser religiösen Textilarbeit insbesondere in Bezug auf ihren Dingstatus durchaus seltsam verhält, streicht der Autor hierbei explizit hervor und verspricht Erklärung. Was folgt, ist eine ausführliche Theoretisierung und Theologisierung des handwerklichen Betens und der in diesem Rahmen hervorgebrachten geistlichen Gegenstände. Der Mantel der Heiligen Jungfrau könne nämlich nicht aus dem Stoff dieser Welt oder irgendeinem anderen vergänglichen Material entstehen: 251 Vgl. die Diskussion oben auf S. 225 f. Zahlreiche Details, in denen Dominikus ’ Beschreibung genau dem Alemannischen Marienmantel entspricht, lassen wenig Zweifel daran, dass ihm dieser Text vorgelegen haben dürfte. Hierzu zählen insbesondere die Werkmeisterschaft der Seele Jesu Christi sowie die exakte Übereinstimmung der verlangten Frömmigkeitsleistungen. 252 Im Zusammenhang heißt es: Ibidem et exercicium novum bonum atque devotum nuper, videlicet ante biennium, inchoatum est nobisque huc Treverim et aliis in partes alias est transmissum, ut quemadmodum ipsi illic ita et nos hic pallium similiter faciamus. Inceperunt enim pallium misticum quoddam preciosissimum conficere regine celi, perpetue virgini sancte Marie, quod tale et tantum tam latum et amplum fore debet, quod omnia genera hominum sub hoc ad se confugencium suscipere, protegere ac conforvere valeat. (»Ebendort wurde vor kurzer Zeit, d. h. vor zwei Jahren, auch eine neue, gute und andächtige Übung begonnen, und sie wurde zu uns hierher nach Trier und zu anderen in anderen Gegenden geschickt, damit deshalb auch wir hier auf ähnliche Weise wie dort diesen Mantel anfertigen. Sie fingen nämlich damit an, für die Königin des Himmels und ewige Jungfrau, die heilige Maria, eine Art mystischen und überaus kostbaren Mantel anzufertigen der so beschaffen und so groß, so breit und weit sein muss, dass er alle Menschengeschlechter, die zu ihm flüchten, aufzunehmen, unter ihm zu beschützen und zu hegen vermag«, Pallium, Z. 6 - 11). 253 Bruno Jahn: Art. Dominikus von Preußen, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Bd. 2: Das geistliche Schrifttum des Spätmittelalters, Berlin/ Boston 2011, Sp. 816 - 821, hier Sp. 818 f. 260 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="261"?> Fit autem hoc idem pallium non de mundi huius seu alia qualicumque corruptibili materia, auri videlicet vel argenti, purpure bissini vel iacincti. Sed offerunt ad hoc homines pii atque devoti preces varias, missas et virtuosas operaciones, spiritualia, ut docet apostolus, spiritualibus comparantes. (Pallium, Z. 12 - 15) 254 Eine materialitätsbezogene Frömmigkeit, wie z. B. Caroline Walker Bynum sie beschreibt, 255 wird hier dementsprechend ausgeschlossen, denn Marias Mantel verlangt grundsätzlich nach einem besseren Werkstoff als den Kostbarkeiten der Welt. Gold und Silber, Purpur und feine Stoffe sind allesamt unzulänglich. Außerdem, so Dominikus von Preußen, könne kein sterblicher Handwerker gefunden werden, der diesen inkommensurablen Gegenstand anfertigen könne. Genussvoll listet der Text unter Bezugnahme auf den alttestamentlichen Bau der Stiftshütte - diese wird später im Pallium als Präfiguration des Marienmantels hervorgezeichnet - all die komplizierten Kunsthandwerke auf, deren Fähigkeiten zum Produzieren des Marienmantels dennoch nicht genügten: Gold- und Silberschmiede, Juweliere, Schneider und Textilkünstler seien allesamt unfähig zu dem intendierten Werk. 256 Wie jedoch kann, obgleich dieses Vorhaben das Maß der menschlichen Fähigkeit und die Möglichkeiten irdischer Materialität sprengt, ein alle Dinge übertreffendes Ding mit unvergleichlicher Kunstfertigkeit aus einem allen anderen Stoffen überlegenen Material gefertigt werden? An der zwingenden Unzulänglichkeit aller menschlichen Mühe verzweifelnd, so erzählt Dominik, wandten sich die Erfinder des Mantelbetens an die Seele Jesu Christi und wählten sie zur Werkmeisterin (operatrix, Pallium, Z. 25 f.) ihres Unterfangens. Dieser Gedanke menschlich-göttlicher Zusammenarbeit, der wohl aus dem Alemannischen Marienmantel übernommen wurde, überschreitet die Grenzen zwischen Immanenz und Transzendenz. Nur so vermag das unvergleichliche Werkstück zu gelingen. Denn erst unter der göttlichen Anleitung der in Gleichheit mit der göttlichen Weisheit stehenden Seele Jesu Christi scheint die Fertigung des Marienmantels endlich möglich: Ipsa quippe, unita dei verbo, per quod facta sunt omnia, et una persona cum illo effecta, archana omnia novit scilicet divina et scit sola pre omnibus creatis unde et qualiter istud gloriosum 254 »Dieser Mantel entsteht jedoch nicht aus einem Stoff aus dieser Welt oder aus irgendeinem anderen vergänglichen Material wie Gold oder Silber, purpurner oder blaufarbener Leinwand. Stattdessen tragen fromme und andächtige Menschen verschiedene Gebete, Messen und tugendhafte Werke zu ihm bei, indem sie, wie der Apostel lehrt (I Cor 2,13), Geistiges mit Geistigem erwerben.« 255 Vgl. Bynum 2015, insb. einleitend S. 25 - 31. 256 Sed quia nemo mortalium artificum ad opus tam magnificum ydoneus reperiri posset in terris, eciam si Beseleel et socius eius Ooliab hic adhuc essent in mundo et omnis vir eruditus, cui deus dederat sapienciam et intelligenciam ad operandum in auro et argento, in purpura, bisso, opere gemmario ac polinitario, ad faciendum omne opus ad cultum tabernaculi illius, quod tempore Moisi fabricatum fuit, non sufficerent ad faciendum pallium dignum sanctissime dei genitrici regine celorum et imperatrici sanctorum angelorum. (»Weil aber kein sterblicher Handwerker auf Erden gefunden werden könnte, der zu so einem großartigen Werk fähig wäre, würden sie, selbst wenn Bezalel und sein Gefährte Oholiab [Ex 31,2 - 6, 35,30 - 34] noch hier auf der Welt wären sowie jeder gelehrte Mann, dem Gott die Weisheit und den Verstand gab, mit Gold und Silber zu arbeiten, mit Purpurstoff, feiner Leinwand, Steinschneidearbeit und Damastweberei, um ein jedes Werk zum Schmuck jenes Bundeszelts zu verfertigen, das zur Zeit des Mose errichtet wurde [Ex 31,1 - 11; 35,35], nicht ausreichen, um einen würdigen Mantel für die allerheiligste Gottesgebärerin, die Himmelskönigin und Herrin der heiligen Engel zu machen.« Pallium, Z. 15 - 21). 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 261 <?page no="262"?> domine nostre pallium fieri possit ac debeat perfici, ut acceptum sit illi et placitum in conspectu summi dei, ad cuius laudem et gloriam omnia fieri debent quecumque bona sive in celo sive in terra. (Pallium, Z. 27 - 32) 257 Diese Auslagerung des eigentlichen, gleichsam künstlerischen Schaffensprozesses an die allein zu derlei Dingen befähigte Seele Christi basiert auf einer als Sublimierung präsentierten Vergeistlichung des Mariengewands. Dies determiniert auch die Qualität des Beitrags, der von menschlicher Seite hierzu zu leisten ist. Statt nämliche kostbare weltliche Werkstoffe beizutragen, müssen die Gläubigen Gebete, Messen und fromme Werke erbringen - so können sie, wie im ersten Korintherbrief des Paulus zu lesen ist (vgl. I Cor 2,13), Geistliches mit Geistlichem erwerben (Pallium, Z. 14 f.). Nun stellen diese Frömmigkeitsleistungen in der Vorstellungswelt des Mantelgebets ein gewissermaßen überstoffliches Rohmaterial dar, das allen irdischen Werkstoffen überlegen ist. Mit der Hilfe Jesu Christi schließlich fügen sie sich zum alle Dinge der Welt übertreffenden Schutzmantel Marias zusammen, unter dem die gesamte Menschheit Platz und Beistand findet. 258 Der bei Dominikus von Preußen so ausgeführte Grundgedanke wirkt, wird von einer kategorialen Trennung zwischen mentalen und stofflichen Gegenständen, also von einer Art cartesianischem Substanzdualismus ausgegangen, ungewohnt und merkwürdig. 259 Er lässt sich wie folgt herunterkondensieren: Während stoffliche Dinge aus dem vergänglichen Material der Welt bestehen, werden die geistlich-konkreten Figurationen des Betens aus dem unvergänglichen und damit höherwertigen Material des Geistes gefertigt, das heißt aus Worten, Tugenden und frommen Gedanken. Sie sind damit als über den Dingen stehende Dinge zu betrachten, die gleichzeitig als dinglich gedacht und empfunden werden können, eine Gnadenwirkung in der Welt entfalten und ihre Dinglichkeit in ihrer Zugehörigkeit zum Überstofflichen überschreiten. Ihnen fällt damit, anderen Hilfsmedien des Heils wie Gebetstexten oder Andachtsbildern vergleichbar, 260 eine Mittlerfunktion zwischen Immanenz und Transzendenz zu, zumal jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass geistliche Gegenstände beiden Sphären angehören und somit gleichsam eine Brücke zwischen der Welt und dem Überweltlichen bilden, die an beiden 257 »Denn diese selbst, eins mit dem Wort Gottes, durch das alle Dinge geschaffen wurden, und als eine Person mit ihm zusammen hervorgebracht, kennt nämlich alle heiligen Geheimnisse, und sie weiß als einzige vor allen Geschöpfen, woraus und wie der herrliche Mantel unserer Herrin entstehen kann und hergestellt werden muss, auf dass er jener willkommen sei und gefällig im Angesicht des höchsten Gottes, zu dessen Lob und Ruhm im Himmel wie auf Erden alle wie auch immer guten Dinge getan werden sollen.« 258 Hier spielt das mehrfach erwähnte Motiv der Schutzmantelmadonna hinein. 259 Auch die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters trennte grundsätzlich zwischen Materiellem und Geistigem und wertete dabei das letztere zumeist höher als das erstere. Diese normativ geladene Trennung bildet gleichsam ein Axiom des Produktionsbetens als Frömmigkeitspraxis und begründet die Aufwertung der hergestellten geistlichen Werkstücke. Gleichzeitig ist das Leib-Seele-Problem als solches und die damit verbundene Vorstellung einer prinzipiellen Geschiedenheit von Gedanken und Dingen entschieden unmittelalterlich, vgl. dazu einführend Peter King: Why Isn ’ t the Mind-Body Problem Medieval? , in: Forming The Mind. Essays on the Internal Senses and the Mind/ Body Problem from Avicenna to the Medical Enlightenment, hg. v. Henrik Lagerlund, Dordrecht 2007 (Studies in the History of Philosophy of Mind 5), S. 187 - 205. Auch Carruthers 1990, S. 49 u. a., führt aus, wie mittelalterliche Denker auch erinnerte Gegenstände und Phantasmata als physiologisch fundiert betrachteten. 260 Vgl. Hamm 2009. 262 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="263"?> Ufern fest verankert ist: Der Mantel Marias ist ein Werk göttlicher Kunstfertigkeit ebenso wie menschlicher Mühe. Als fromme Gabe ziert er die Heilige Jungfrau im Himmel, die im Gegenzug den Gebenden ihre Gnade zuteilwerden lässt. 3.2 Fertigungsdynamiken: Göttliche Werkmeisterschaft und menschliches Unvermögen Diese Vorstellung wirft theologische Fragen auf, die teils die Gefahr bergen, in die Zone des Heterodoxen einzuschneiden. Denn warum, so drängt es sich auf, sollte der allmächtige Gott zu dem geschilderten geistlichen Werk menschliche Beihilfe benötigen? Stünde eine solche Notwendigkeit menschlichen Zutragens nicht im Widerspruch zum Gedanken von »Gottes schöpfer[ischer] Freiheit u[nd] wirksame[r] Unmittelbarkeit in jedem Moment auch seines geordneten Handelns«? 261 Dominikus von Preußen entkräftet derartige Einwände gegen die von ihm propagierte Frömmigkeitspraxis von vornherein durch eine geschickte Rückspiegelung der Mantelgabe auf die dazu Beitragenden. Zwar, so führt er aus, mangele es der Seele Christi an nichts und sie habe die geringen Gaben (munuscula, Pallium, Z. 33) der Gläubigen nicht nötig, dennoch aber verlange sie diese von ihnen, und zwar um ihrer selbst willen. 262 Bereits diese göttliche Forderung nach für die Fertigung des geistlichen Werkstücks eigentlich unnötigen Frömmigkeitsleistungen müsse nämlich als Gnadenerweis verstanden werden, werden doch auf diese Weise die sich beteiligenden Menschen motiviert, sich fromm zu verhalten und ein gottgefälliges Leben in Gebet, Meditation und Askese zu führen. Dass die Gläubigen sich mühen müssen, die Mantelgabe für Maria zu fertigen, stellt in diesem Sinne wiederum eine Gabe an sie selbst dar: Ihnen wird, so der Kernpunkt der Argumentation Dominikus ’ von Preußen, somit eine Chance geschenkt, am Erwerb des eigenen Seelenheils mitzuwirken. Dabei ist es keineswegs die Qualität der erbrachten Frömmigkeitsleistungen, der diese Heilswirksamkeit zu verdanken wäre. Hierbei nämlich, so führt der Text aus, handele es sich im Grunde um Armseligkeiten (parva, Pallium, Z. 43), die zu der auf sie erwiderten göttlichen Zuwendung in keinerlei Äquivalenzverhältnis stünden. Vielmehr ist es die Mühe der Gläubigen, inmitten der Beschwernisse des irdischen Lebens fest in der Liebe zu Gott zu verweilen und von dieser Stetigkeit im Glauben einen kleinen Erweis zu erbringen, die belohnt und sogar höher als die Dienste der himmlischen Scharen geschätzt werde: 261 Thomas Pröpper: Art. Allmacht Gottes, in: LThK 1 (1993), Sp. 412 - 417, hier Sp. 415. Zur auf Wilhelm von Ockham zurückgehenden Vorstellung einer potentia absoluta Gottes, die »im späten Mittelalter stark nachgewirkt hat« und im Reformationszeitalter in ihren Implikationen für das Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Omnipotenz zentraler Streitpunkt wurde, vgl. auch Angenendt 2009, S. 104 - 108, hier S. 107. 262 Quantumvis enim Iesu Cristi anima thesauros habeat incomparabilis et nullius egeat, quia data est ei omnis potestas in celo et in terra, fructum tamen nostre industrie et fidelis laboris requirit propter nos. (»Obgleich nämlich die Seele Jesu Christi so unvergleichliche Schätze hat und keiner Sache entbehrt, weil ihr alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, verlangt sie um unseretwillen dennoch nach der Frucht unserer Mühe und frommer Anstrengung«, Pallium, Z. 39 - 41). 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 263 <?page no="264"?> Quia in celis deo serviunt sine labore et cum gaudio magno cuncta faciunt. Sed homo hic in mundo corpore gravatus, terrena inhabitacione depressus, necessitatibus, infirmitatibus, temptacionibus et variis miseriis implicatus, si is sibi violenciam facit laudando deum et fideliter sibi serviendo et amore adherendo, hoc deus sacrificium amplius acceptat quam id, quod in celis absque labore sibi exhibetur. (Pallium, Z. 44 - 49) 263 Diese Ausführungen sind in doppelter Hinsicht aufsehenerregend. Zunächst ist bemerkenswert, dass Dominikus hier, nachdem er in einem ersten Schritt die Akte der Frömmigkeit, die beim handwerklichen Beten erbracht werden, als zwar entbehrlich für das entstehende göttliche Werk, wohl aber als zwingend notwendig für die erhoffte Heilswirksamkeit der Andachtsübung herausgestellt hat, zweitens neben der Unnotwendigkeit auch die Unverhältnismäßigkeit dieser menschlichen Bemühungen anmerkt. Damit verneint er entschieden die in der Gebetbuchliteratur omnipräsente Vorstellung des do-ut-des, der auf dem Prinzip des Ausgleichs fußenden Entsprechung zwischen erbrachter Leistung und erhaltenem Lohn. Nun ist ein solches Ausgleichsdenken mit dem neutestamentlich fundierten Bild eines Gottes, der »die Menschen überreich beschenkt und dafür keinerlei Rückgabe an seine Person fordert«, nur schwer vereinbar. 264 Als gebildeter Theologe, der sich dieser Schwierigkeit bewusst gewesen sein dürfte, umgeht Dominikus von Preußen die problembeladene Vorstellung einer heilsmächtigen Gabenökonomie, indem er die von menschlicher Seite dargebotenen Leistungen als mit der erwiderten göttlichen Zuwendung unvergleichbar, als bloßen Erweis des guten Willens präsentiert. Eben diese Intention, nicht die Frömmigkeitsleistungen selbst, so Dominikus ’ Argument, werde gnadenmächtig erwidert. Außerdem ist schwer zu übersehen, wie sich in den hier vorgebrachten Ausführungen bereits religiöse Konfliktlinien abzeichnen, die zwei Generationen später im Reformationszeitalter eskalieren sollten. Dominikus ’ Betonung, Gott vergelte nicht die Leistung der Gläubigen selbst, sondern vielmehr ihr schmerzhaftes Bemühen laudando deum et fideliter sibi serviendo et amore adherendo (Pallium, Z. 47 f.), ist nicht so weit entfernt von Luthers Kritik der Werkgerechtigkeit und der streitbaren Position, der ethische Wert menschlichen Handelns erweise sich daran, ob es aus lust und liebe zu allen gepoten Gottes erfolge. 265 Mit dem Pallium liegt dementsprechend auch ein Text vor, der Einblicke in vorreformatorische Spannungen erlaubt, die der Autor in teils kapriolenhaften argumentativen Winkelzügen zu entschärfen versucht. Changierend zwischen der einer gezählten Frömmigkeit zugrundeliegenden Vorstellung, »Gnade verdienen zu können und zu 263 »Denn im Himmel dienen sie Gott ohne Anstrengung und tun alles mit großer Freude. Doch der Mensch hier auf Erden, der vom Körper beschwert, vom Bewohnen der Erde niedergedrückt, in Notlagen, Schwächen, Versuchungen und allerlei Übel verwickelt ist, wenn der sich Gewalt antut, um Gott zu loben und ihm treu zu dienen und mit Liebe an ihm zu hängen, so nimmt Gott dieses Opfer lieber an als jenes, das ihm im Himmel mühelos dargebracht wird.« 264 Angenendt u. a. 1995, S. 5. 265 Martin Luther: Deutsch Catechismus (Der Große Katechismus) 1529, hg. v. O. Albrecht unter Mitwirkung v. O. Brenner und J. Luther, in: WA 30,1 (1910), S. 192. Zu Luthers Kritik der Werkgerechtigkeit vgl. zudem Elisabet Gräb-Schmidt: Art. Werkgerechtigkeit, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. Volker Leppin u. Gury Schneider-Ludorff unter Mitarbeit v. Ingo Klitzsch, Regensburg 2014, S. 756 - 758. 264 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="265"?> müssen«, 266 und dem ihr entgegengesetzten Bild eines Gnadenlohns, auf den »keinerlei Anspruch [besteht], da er dem souveränen Willen und der schenkenden Güte Gottes entspringt«, 267 zwischen den Ideen göttlicher Allmacht und menschlicher Leistung, verteidigt und propagiert das Pallium die Andachtsübung des Mantelgebets, indem es ihr einen theologischen Überbau verschafft, der die Behauptung einer figuralen Konkretisierung der Frömmigkeitsleistungen teils auch abstrahiert und relativiert. Dennoch bleibt die Idee eines geistliche Marienornats, in dessen Pracht sich die Worte und Handlungen der Gläubigen als dingliche Details manifestieren, bei Dominikus von Preußen stets bestimmend. Daran ändert auch die Beteuerung nichts, diese Handwerksarbeit des Glaubens entstehe aus Frömmigkeitsgaben de substancia non proprie nostra sed dei (Pallium, Z. 146 f.). 268 Die Vorstellung der gemeinsamen Herstellung eines imaginierten Prachtmantels, den Maria im Himmel trägt und an dem die frommen Gaben der Gläubigen als Zierde erscheinen, wird zwar erklärt und gerechtfertigt, in seiner wahrnehmungsleitenden Evokationskraft jedoch keineswegs unwirksam gemacht. Besonders deutlich wird dies in den beiden Lobdichtungen auf Latein und in ripuarischem Dialekt, die Dominikus von Preußen begleitend zum Pallium verfasste. Die in gereimten Versen gehaltenen Mantelpreis-Texte sind, obzwar keine wörtlichen Entsprechungen, inhaltlich weitgehend deckungsgleich. 269 Sie bilden poetische Zusammenfassungen des Pallium, die zum textilen Beten auffordern und seine heilsvermittelnde Wirkung preisen. 270 Die wundersame Herstellung des Mantels steht dabei im Zentrum der beiden hymnenhaften Gedichte. Gleich zu Anfang des ripuarischen Textes werden Gebet und Frömmigkeitspraxis als allen anderen Materialien überlegene und unvergleichliche, dennoch aber an die Bilder des Materiellen gebundene Werkstoffe konzipiert. So benennt der Text Messen und verschiedene Gebetsleistungen als Rohmaterial für das geistliche Gewand: Van missen, van gebeden, van psalmodyen, van vyl dusent Ave Marien wyrt der mantel ind dat foeder dyr gemacht, o wirdige moder. (Mantelpreis D, Z. 8 - 11) 271 266 Angenendt 2009, S. 579. 267 Martin Winter: Art. Lohn. I. Neues Testament, in: TRE 21 (1991), S. 447 - 449, hier S. 447. 268 »aus einem Material, das nicht uns zu eigen sondern Gottes ist«. 269 Dass der ripuarische Text wesentlich länger erscheint, liegt daran, dass Dominikus ihm nahtlos eine deutsche Übersetzung seines marianischen Te Deum beifügt, das auch dem lateinischen Gedicht, wenn auch nicht in formal integrierter Form, als für das Mantelgebet empfohlener Gesangstext angehängt ist. Das lateinische Te Deum und seine deutsche Fassung sind abgedruckt bei Andreas Heinz: Das marianische Te Deum des Trierer Kartäusers Dominikus von Preußen ( † 1461). Ein spätmittelalterlicher Lobgesang auf Maria als Vorlage für ein Marienlied Friedrich Spees, in: Spee-Jahrbuch 15 (2008), S. 93 - 114, hier 98 f. und 108 f. 270 Diese beiden Texte sind bei Klinkhammer 1972 und Lentes 1993 etwas missverständlich beschrieben. Es handelt sich hierbei nicht um direkte Entsprechungen oder um Übertragungen des Pallium beate Marie virginis in die Volkssprache, sondern vielmehr um an diesen Traktat angelehnte Versdichtungen. Der ripuarischen Fassung ist zudem eine kurze Sammlung an Mirakeln beigefügt, die jeweils Kernthesen aus dem Traktat illustrieren sollen. 271 »Aus Messen, aus Gebeten, aus Psalmodien / aus vielen tausend Ave Maria / werden der Mantel und das Futter / für dich gemacht, oh würdige Mutter.« 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 265 <?page no="266"?> Nach einem ausgiebigen Lob des mit der Hoffnung auf einen Gnadenerweis verbundenen Mantelbetens werden die gefertigten Teile zunächst als materielle Dinge visualisiert: Nu willen wir alle zo samen schyssen / ind den tuwern mantel besleissen / myt vurspannen ind myt gulden borden - nur um danach für alle, die es noch nicht verstanden haben, auf die eigentliche Immaterialität dieser Gegenstände hinzuweisen: Ich meyne myt guden goetlichen worden. / Myt allem gueden willen wir yn tzieren, / dat wir koennen ymaginieren (Mantelpreis D, Z. 98 - 103). 272 Gerade diese Engführung von Worten und Dingen, Vorstellungen und Materialien, Text und Textilien ist es, die auch für den Trierer Kartäuser den Nukleus der Frömmigkeitsform bildet, als deren entschiedener Anhänger und Multiplikator er auftritt. 3.3 Egalisierte Frömmigkeit? Die Gebetsgemeinschaft des Pallium Wer jedoch ist das › wir ‹ , das in Dominikus ’ ripuarischem Mantelpreis spricht? Wie oben in Bezug auf den Alemannischen Marienmantels ausgeführt, teilt das Pallium die zum Mantel beigetragenen Frömmigkeitsleistungen ihrem geistlichen Stand nach unterschiedenen Personengruppen zu. Priester lesen Messen, Laien beten unzählige Ave Maria und literati, also vermutlich Mönche und Nonnen, bringen Psalter, Hohelieder und andere aus der Bibel entnommene Gebetstexte dar. Verschiedene erwähnte Askeseleistungen weisen ebenfalls in den monastischen Bereich. 273 Somit entsteht ein charakteristischer, in vielerlei Punkten den zeitgenössischen Gebetsbruderschaften vergleichbarer geistlicher Zusammenschluss der an dieser Übung Beteiligten. Dominikus von Preußen spezifiziert dieses Bild einer frommen Gemeinschaft jedoch noch und gibt eine historisierende Erklärung. An den eigentlichen, mit einem poetisch anspruchsvollen Bittgebet (Pallium, Z. 106 - 120) abschließenden Text des Pallium sind drei Zusätze angehängt. Aus der Überlieferung und Anlage der Schrift geht nicht hervor, ob es sich hierbei tatsächlich, wie von Klinkhammer angenommen, um spätere »Anmerkungen« handelt, »welche Reaktionen auf die Schrift wiedergeben«, 274 oder nicht vielmehr um zum ursprünglichen Textbestand gehörige Erläuterungen, die auf eventuell unklare oder strittige Punkte im vorangegangenen Hauptteil eingehen. Bei dem dritten dieser Zusätze handelt es sich um ein teils in gereimten Versen abgefasstes Exempel (Pallium, Z. 184 - 208), beim zweiten um eine theologische Abschirmung, die den Marienmantel allegorisch auslegt (Pallium, Z. 155 - 183), und beim ersten um eine Erzählung vom Ursprung und vom Zustandekommen der allgemeinen Verfügbarkeit des Mantelgebets (Pallium, Z. 121 - 154). Obgleich die hier anempfohlene Frömmigkeitsform zwar erst kürzlich in Straßburg ihren Anfang genommen habe, sei der Schutzmantel Marias, so dieser letzte Zusatz, an sich keine Neuigkeit und schon vielfach beschrieben worden. 275 Ursprünglich nämlich, so 272 »Nun wollen wir uns alle zusammen tun / und den kostbaren Mantel vollenden, / mit Fürspangen und mit goldenen Borten: / Ich meine, mit guten göttlichen Worten. / Mit allem Guten wollen wir ihn verzieren, [mit allem,] was wir uns vorstellen können.« 273 Vgl. Pallium, Z. 56 - 71; sowie die Diskussion oben, Kap. III.2.3. 274 Klinkhammer 1972, S. 16. 275 Vgl. Pallium, Z. 121 - 123. Hier nimmt Dominikus offenbar, wenn er von alten dicta et scripta über den Marienmantel spricht, Rekurs auf die Tradition der Schutzmantelfrömmigkeit und der entsprechenden Mirakel. Vgl. hierzu oben, Kap. III.1.3 266 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="267"?> gibt der Autor unter Bezug auf die vielrezipierte und auch in seinem Ripuarischen Marienmantel wiedergegebene Episode aus dem Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach zu, 276 sei die Schutzmantelfrömmigkeit ein Proprium des Zisterzienserordens gewesen: Nam in Cesario legitur, quod domina nostra in tantum amavit ordinem Cisterciensem, quod personas ordinis illius pre ceteris sub pallio suo fovebat in celis. Sed quia ordo ille heu a primo suo fervore prolapsus est et pauci eorum, ut timendum est, iam anhelent ad illud pallium, nos aditum illum, quo veniatur illuc, apertum interim servare cupimus, donec reformentur, atque interim eciam inseri, ut et nos cohabitare ipsis possimus et ad pedes piissime matris nostre quiete residere atque sub pallii illius tentorio perpetue gaudere. (Pallium, Z. 123 - 129) 277 Diese Passage ist, obgleich Dominikus die Zisterzienser kurz darauf als fratres carissimi (Pallium, Z. 130) anspricht und betont, der Mantel Marias biete genug Platz für alle Gläubigen, nicht frei von Ordensrivalitäten. Der Seitenhieb, der Zisterzienserorden sei von seinem ursprünglichen Glaubenseifer abgefallen, weshalb die Pflege des Marienmantels nun von anderer Seite übernommen werden müsse, ist vor dem Hintergrund der Observanzbewegungen des 15. Jahrhunderts zu lesen. Dominikus ’ eigener Orden, die Kartäuser, galten in diesem Kontext als »der strengste Orden und damit eo ipso als reformiert und observant« 278 - ein Standpunkt, von dem aus der Autor mit Selbstbewusstsein spricht. 279 Im Ripuarischen Marienmantel führt Dominikus noch angriffslustiger aus, die brudere sent Bernards orden synt leyder syr gevallen van der gnaden, da yn sy vur waren, dat zo forten ist, dat sy nicht alle also yrst nu komen under Marien mantel (Ripuarischer Marienmantel, Z. 66 - 68). 280 Diese Zeilen sind ebenso ambitioniert wie bissig. Nun ging das Mantelgebet jedoch laut Dominikus nicht einfach in den spirituellen Besitz des Kartäuserordens über, sondern wurde vielmehr zum religiösen Allgemeingut. Maria, so ein Zentralgedanke seines Traktats, sei als Mittlerin der Gnade für alle Gläubigen unabhängig von Ordenszugehörigkeit oder geistlichen Stand zugänglich - ihr nämlich sei van gode dat ampt bevolen [ … ], dat sy den sunderen helppen mach ind sall entfangen, die zo ir vleynt, ind under dem mantel erer gnaden bedecken vur dem zorne godes 276 Vgl. die Diskussion dieses Visionsmirakels oben, Kap. III.1.3. Dominikus gibt eine volkssprachige Version im Ripuarischen Marienmantel, Z. 7 - 19. 277 »Denn bei Caesarius ist zu lesen, dass unsere Herrin den Orden der Zisterzienser so sehr liebte, dass sie die Mitglieder jenes Ordens vor den übrigen im Himmel unter ihrem Mantel bei sich hegte. Da aber leider jener Orden von seinem anfänglichen Eifer abgefallen ist und wenige von ihnen, wie zu fürchten ist, noch nach jenem Mantel streben dürften, wünschen wir jenen Zugang, durch den man dorthin kommt, in der Zwischenzeit offen zu bewahren, bis sie reformiert werden, und unterdessen auch uns einzureihen, damit auch wir vermögen, mit ihnen zusammenzuwohnen und uns zu Füßen unserer tugendhaftesten Mutter ruhig niederzulassen und uns unter dem Zelt ihres Mantels auf ewig zu freuen.« 278 Dieter Mertens: Klosterreform als Kommunikationsereignis, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Gerd Althoff, Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen 51), S. 397 - 420, hier S. 409. 279 Auch im lateinischen Mantelpreis wird in diese Richtung gehend angemerkt: Et non tamen ordinis iam Cistersienses fratres, / sed hic foveas et Carthusienses (»Und nicht mehr bloß die Brüder des Zisterzienserordens, / sondern auch die Kartäuser wärmst du [d. i. Maria] hier«, Mantelpreis L, V. 69 f.). 280 »die Brüder von Sankt Bernhards Orden sind leider sehr von der Gnade abgefallen, in der sie voreinst waren, so dass zu befürchten ist, dass sie nun nicht mehr alle so wie einst unter Marias Mantel gelangen«. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 267 <?page no="268"?> (Ripuarischer Marienmantel, Z. 59 - 61). 281 Im Zuge der durch die Reform und den (zumindest von Dominikus konstatierten) Wandel in der Ordenslandschaft verursachten Verschiebungen werde eine ursprünglich ordensspezifisch ans monastische Milieu gebundene Frömmigkeitsform wie die Verehrung des marianischen Schutzmantels nun zum Allgemeingut: Non ergo ut olim Cisterciensibus tantum sed et Carthusiensibus et Praemonstratensis ac religiosis cunctis se emendantibus, ymmo omnibus eciam secularibus pie viventibus consorcium datur in hoc obsequio. Iuvenes et virgines, senes cum iunioribus, divites et pauperes, pusilli et magni, universi, qui voluerint, poterunt accedere, aliquid ad ornatum pallii Marie voluntarie offerre, se ipsos illi devote commendare et mercedem eterne vite se recepturos in futurum sperare. (Pallium, Z. 163 - 168) 282 Der hier betonte egalitäre Charakter des Mantelbetens ist bemerkenswert. Mitglieder verschiedener Orden, Laien und Geistliche, Frauen und Männer, Junge und Alte, Reiche und Arme können sich nun, anders als in früheren Zeiten, an Marias Mantel beteiligen. Damit wird eine religiöse Praxis, die einstmalig dem im Mittelalter stets auch elitären Raum des Klosters vorbehalten war, universell geöffnet. Insbesondere die dem handwerklichen Beten zugrundeliegende Gleichsetzung von Worten und Weben, von Gebet und handwerklicher Arbeit scheint dies zu begünstigen, werden doch dergestalt religiöse und weltliche Lebensformen zumindest in der Imagination der Betenden enggeführt. Eine strikte Dichotomie zwischen Konzepten des tätigen Lebens in der Welt (vita activa) und des beschaulichen Lebens im Kloster (vita contemplativa) wird auf diese Weise aufgelöst. Folglich liegt in der Logik des Mantelbetens einerseits für in der Welt lebende Laien die Möglichkeit einer Partizipation an im Ursprung monastischen Kulturtechniken der Meditation und des Gebets, während es andererseits Geistlichen erlaubt, die eigene Frömmigkeitspraxis als spirituelle Arbeit und damit als produktive Tätigkeit zu konzeptualisieren. Im Resultat weist dies auf jene im Mittelalter vieldiskutierte gemischte Lebensform (vita mixta), die im 15. Jahrhundert und darüber hinaus eine umfassende Laikalisierung erfuhr. 283 Sowohl der auf Quantifizierung beruhende vergemeinschaftete Arbeitscharakter des Mantelgebets wie auch seine damit verbundene, allgemeine und ständeübergreifende Öffnung haben teil an einer Tendenz zur 281 »von Gott die Stellung verliehen worden, dass sie den Sündern helfen kann und die empfangen soll, die zu ihr fliehen, und sie unter dem Mantel ihrer Gnade bedecken soll vor dem Zorn Gottes«. 282 »Folglich wird nicht nur wie einst bloß den Zisterziensern, sondern auch den Kartäusern und Prämonstratensern und allen sich vervollkommnenden Religiosen, ja sogar auch allen fromm lebenden Laien eine Teilhaberschaft an diesem frommen Dienst gegeben. Jünglinge und Jungfrauen, die Alten mit den Jüngeren (Ps 148,12), die Reichen und die Armen, die Kleinen wie die Großen, alle, die wollen, werden sich anschließen können, aus freiem Willen etwas zum Gewand Marias beizusteuern, sich ihr andächtig anzuvertrauen und darauf zu hoffen, in der Zukunft den Lohn des ewigen Lebens zu empfangen.« 283 Hiermit befasste sich im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1015 das Teilprojekt C1: › vita mixta ‹ . Zur Laikalisierung eines geistlichen Konzepts. Ich danke Henrike Manuwald und Christian Schmidt für entscheidende Anstöße zum Gedanken der vita mixta auf einer Göttinger Tagung im Jahr 2018. Daraus ging auch der Aufsatz Buschbeck 2021b hervor, in dem die hier angerissenen Gedanken näher ausgeführt sind. Siehe zum Thema auch grundlegend Dietmar Mieth: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969 (Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie 15). 268 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="269"?> Durchmischung der Lebensformen und zumindest teilweisen Egalisierung von Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. 3.4 Autorisierung durch Typologie: Das Bundeszelt als Präfiguration des Marienmantels Ein Angebot umfassender und standesunabhängiger Teilnahme, wie es Dominikus mit seiner Bewerbung des Mantelbetens antrug, benötigte offenbar legitimierende und erklärende Modelle, an die eine derartige Sprengung und Überschreitung hergebrachter sozialer Trennungen in der Frömmigkeitspraxis anknüpfen konnte. Mittel zu einer solchen rechtfertigenden Anbindung ist dem Kartäuser in erster Linie die typologische Exegese des Alten Testaments: Durch eine Deutung der alttestamentlichen Erzählung vom Bau der Stiftshütte (Ex 25 - 40) als Präfiguration der propagierten Gebets- und Andachtsübung präsentiert das Pallium diese als figurale Erfüllung biblisch bezeugter und verheißener Akte der gottgefälligen Frömmigkeit. Die Auslegung des Bundeszelts als Vorbildung des Gebetsmantels wirkt aus mehreren Gründen naheliegend. Zunächst hat, ähnlich wie der Alemannische Marienmantel, auch diese Passage aus dem Buch Exodus großteilig anleitungshafte Qualität. Am Berg Sinai, wo die Israeliten auf ihrem Weg aus Ägypten ins verheißene Land Halt machen, erteilt Gott Mose detaillierte Anweisungen zum Bau eines Wanderheiligtums, 284 dessen Ausmaße und materielle Beschaffenheit genau vorgeschrieben werden (Ex 25 - 31). 285 Dieser erste Teil der biblischen Erzählung ist als Aufforderung zur Errichtung der zeltartigen Stiftshütte gestaltet, gemäß dem programmatischen Gotteswort: »Und sie werden mir ein Heiligtum machen, und ich werde in ihrer Mitte wohnen, ganz nach Art des Zeltes, das ich dir zeigen werde, und aller Geräte für seinen Kult« (Ex 25,8 - 9). 286 Was folgt, ist ein Bericht vom gemeinschaftlichen Bau des Bundeszelts durch die Israeliten unter der Leitung Mose, der diesen Befehl erfüllt und Gott eine Wohnung auf Erden schafft (Ex 35 - 40). Die Analogien zwischen den biblischen Anweisungen zum Tabernakelbau und Texten wie dem Alemannischen Marienmantel liegen recht offen zutage. In beiden Fällen handelt es sich um auffordernde Anleitungen zur Herstellung eines kostbaren, in seiner Pracht detailliert beschriebenen Sakralgegenstands, zu dessen Entstehung die einzelnen Gläubi- 284 Vgl. zu diesem in der Vulgata als tabernaculum bezeichneten Bauwerk und seiner christlichen Deutungstradition Christoph Dohmen: Art. Zelt, in: LThK 10 (2001), Sp. 1419. 285 Zum historischen Hintergrund der biblischen Erzählung: »Die Stiftshüttenerzählung gehört zu der › priesterschriftlich ‹ genannten Schicht des Pentateuchs, d. h. sie ist etwa ab der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstanden und steht unter dem Eindruck der Zerstörung des ersten, des salomonischen Tempels in Jerusalem durch die Babylonier sowie der Exilierung der führenden Schichten, insbesondere des Königshofs und der Priesterschaft. Unter den Persern, die die Oberherrschaft von den Babyloniern übernommen haben, regen sich Bestrebungen, das Jerusalemer Heiligtum auf dem heiligen Berg Zion wieder aufzubauen. Die Stiftshüttentexte gehören in das Spektrum dieser Bestrebungen hinein«, Helmut Utzschneider: Irdisches Himmelreich. Die › Stiftshütte ‹ (Ex 25 - 40*) als theologische Metapher, in: Spatial Metaphors. Ancient Texts and Transformations, hg. v. Fabian Horn u. Cilliers Breytenbach, Berlin 2016 (Berlin Studies of the Ancient World 39), S. 145 - 163, hier S. 147. 286 facientque mihi sanctuarium et habitabo in medio eorum iuxta omnem similitudinem tabernaculi quod ostendam tibi et omnium vasorum in cultum eius. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 269 <?page no="270"?> gen beizutragen haben und der schließlich das Heilige umfangen soll. Wenn Dominikus von Preußen daher den Bau der Stiftshütte als typologisches Modell für die Fertigung des Marienmantels präsentiert, funktioniert dies vordergründig reibungslos: Et sicut ad tabernaculum olim federis, quod beatam eciam virginem prefiguravit Mariam, voluntaria quivis dona offerebat, unusquisque quod potuit, sicut in Exodo legitur, ita et ad hoc pallium virginis gloriose ornandum offerat, quilibet, quod sibi placuerit et potest, ut particeps eius efficiatur, et sub eo in die furoris domini ab omnibus malis, qui meruit, abscondatur. (Pallium, Z. 52 - 56) 287 Die Gemeinschaft derjenigen, die zum Marienmantel beitragen, wird hier gleichgesetzt mit den Israeliten, von denen jeder nach seinen eigenen Möglichkeiten »mit bereitwilligstem und hingebungsvollem Sinn dem Herrn die Erstlingsgaben dar[brachte], um das Werk des Zeltes des Zeugnisses zu tun, was immer nötig war« (Ex 35,21). 288 Dadurch, dass es in der Nachfolge der Präfiguration des Stiftshüttenbaus gezeichnet wird, legitimiert Dominikus die Gleichsetzung des Wirkens am Gebetsmantel mit quantifizierbarer handwerklicher Arbeit. Auch die Beteiligung verschiedenster Personengruppen kann durch diese Modellnahme gerechtfertigt werden, berichtet doch der Pentateuch ausdrücklich: »Alle - Männer und Frauen - brachten mit hingebungsvollem Sinn die Schenkungen, damit die Arbeiten getan werden konnten« (Ex 35,29). 289 Genau wie sich alle Israeliten an der Errichtung des Bundeszelts beteiligten, sollen nun also auch sämtliche Gläubigen unbesehen ihres Standes und Geschlechts zum geistlichen Gewand der Gottesmutter beitragen können. Der diese Deutung des Marienmantels plausibilisierende Hinweis, das alttestamentliche Heiligtum habe eine Realprophetie der Jungfrau Maria dargestellt, entspringt nicht erst den exegetischen Bemühungen des Trierer Kartäusers. Vielmehr ist es dem Grundschatz marianischer Bibelauslegung im Mittelalter zuzurechnen. 290 Bereits in der Spätantike wurde »Maria vor allem in Liturgie und frommer Bibelmeditation typologisch mit heiligen Räumen und Geräten des jüdischen Kultes identifiziert [ … ] (z. B. mit Tempel, Bundeszelt und Bundeslade).« 291 Die Deutung des marianischen Mantelgebets als Analoghandlung zur Errichtung und Schmückung des die Bundeslade umgebenden Zelts bedeutet also bloß einen weiteren Ausbau dieser im 15. Jahrhundert längst etablierten typologischen Interpretation. Dabei parallelisiert das Pallium die Fertigung des Marienmantels nicht bloß mit dem Stiftshüttenbau, sondern stellt das geistlich-konkrete Gewand sogar als diesem verheißenden Vorbild überlegen dar. Ausdrücklich weist Dominikus wie oben ausgeführt darauf 287 »Und wie einst zum Zelt des Alten Bundes, das auch auf die Jungfrau Maria vorauswies, ein jeder, wie er es vermochte, freiwillige Gaben darbrachte, so wie es im Buch Exodus heißt (Ex 35,4 - 29), so biete auch ein jeder dar, was ihm gefallen habe und was er kann, um den Mantel der ruhmreichen Jungfrau zu zieren, damit er zu seinem Teilhaber werde und am Tag des Zorns des Herrn unter ihm vor allen Übeln, die er verdient hat, verborgen werde.« 288 obtulit mente promptissima atque devota primitias Domino ad faciendum opus tabernaculi testimonii. 289 omnes viri et mulieres mente devota obtulerunt donaria ut fierent opera. 290 Für eine Zusammenstellung von Belegstellen, die Maria mit dem Bundeszelt oder, ein noch häufigeres Motiv, mit der darin aufbewahrten Bundeslade gleichsetzen, vgl. Fulton Brown 2018, S. 156 f. 291 Gisbert Greshake: Maria - Ecclesia. Perspektiven einer marianisch grundierten Theologie und Kirchenpraxis, Regensburg 2014, S. 243. 270 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="271"?> hin, dass selbst die an der Errichtung des Bundeszelts beteiligten Kunsthandwerker am Gewand der Heiligen Jungfrau gescheitert wären, denn nur die zur Werkmeisterin gewählte Seele Christi könne das inkommensurable Werk vollbringen. 292 Damit bildet der Stiftshüttenbau einerseits das biblische Modell des Mantelbetens, durch dessen Aufgriff Dominikus von Preußen diese Frömmigkeitsübung erklärt, legitimiert und aufwertet. Andererseits aber wird die Präfiguration vom Marienmantel noch übertroffen. Der unter göttlicher Mithilfe aus geistlichem Material entstehende Ornat für die Heilige Jungfrau nämlich steht, gerade da er dem Stoff der Welt enthoben ist, selbst über dem göttlich entworfenen und preziösen, dennoch aber in der Vergänglichkeit irdischer Materialität verbleibenden Bundeszelt des Alten Testaments. Hieran zeigt sich der Figuralcharakter des gebethaft hergestellten Gegenstands besonders deutlich. Gleichzeitig Gegenstand und Zeichen, sublimierende Erfüllung einer alttestamentlichen Verheißung wie auch Vorausdeutung auf die von den Gläubigen erhoffte Gnadenzuwendung Marias steht der gebetete Marienmantel »zwischen littera-historia und veritas«. 293 Durch diese typologische Einreihung in eine sich zwischen dem Bundeszelt, Maria und der Frömmigkeitspraxis der Gläubigen entfaltende Kette von Vor- und Nachbildungen gewinnt das gebetete Gewand biblisch verbürgte Legitimität ebenso wie den Anspruch realitätsbegründeter Wahrhaftigkeit. 3.5 Erhoffte Heilswirkungen: Der Marienmantel als Instrument der Gnade Welche Wirkung aber ist von einem solchen Unterfangen zu erhoffen? Ähnlich dem Alemannischen Marienmantel präsentiert auch Dominikus von Preußen Maria als universelle Gnadenmittlerin. Vor allem soll die Heilige Jungfrau dementsprechend die Seelen der Gläubigen nach ihrem leiblichen Tode schützend unter ihren Mantel aufnehmen und ihnen durch ihre Interzession bei Christus und Gottvater den Eingang ins Himmelreich erwirken. 294 Statt beispielsweise auf eine Veränderung der irdischen Welt zielt das Mantelgebet also auf die Sicherung des jenseitigen Seelenheils derjenigen, die sich an ihm beteiligen. Im weitesten Sinne gehört es damit in den im Spätmittelalter allgegenwärtigen Bereich der religiösen Beschäftigung mit dem zukünftigen eigenen Sterben, das »die bewusste Vorbereitung auf den Tod und die Sorge um die Reinigung der Seele« gleichermaßen umfasst. 295 Hierin ist auch eine Parallele z. B. zur oben angesprochenen, auf die gemeinschaftliche Sicherung des Seelenheils zielenden Frömmigkeit der Rosenkranzbruderschaften des ausgehenden Mittelalters zu erkennen. 296 Ein den Haupttext des 292 Vgl. Pallium, Z. 22 - 32. 293 Auerbach 2018, S. 158. 294 Vgl. z. B. Pallium, Z. 74 - 80. 295 Angenendt 2004, S. 107. 296 Seiner Intention nach kann dies zudem im Kontext beispielsweise der zahlreichen zeitgenössischen Texte zur ars moriendi oder der vielfältigen Gebete um ein gutes Ende gelesen werden. Vgl. allgemein Rainer Rudolf, Rudolf Mohr u. Gerd Heinz-Mohr: Art. Ars moriendi, in: TRE 4 (1979), S. 143 - 156. Wie verbreitet entsprechende Schriften in Klosterbibliotheken des Spätmittelalters waren, zeigt z. B. Thali 2003, S. 261 f. 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 271 <?page no="272"?> Pallium beschließendes Bittgebet bringt die diesbezüglich erhoffte Gnadenzuwendung der Gottesmutter auf den Punkt: Inclina aurem tuam ad preces nostras, manum tuam dexteram famulis et famulabus tuis pretende, pallium tuum super nos lacius extende. Omnes ad te confugentes apprehende ab ira iudicis, ab insidiis maligni hostis atque malis ab omnibus nos semper defende. Tutum habeamus, o domina, refugium ad te, securum inveniamus presidium apud te. Nemo tuorum repulsam umquam hic paciatur. A bonis iam tecum existentibus nullus nostrum abigatur, nec malorum quorumcumque violencia ad te venire prohibeatur. Liberum semper ad te habeamus accessum, per te ad filium, et per ipsum ad omnipotentem patrem suum. Hac de causa de pallio tuo, o virgo beata, nitimur operari. (Pallium, Z. 109 - 117) 297 Der Mantel der Heiligen Jungfrau ist hier als doppelter Schutz dargestellt, der die unter ihm Befindlichen einerseits vor dem Einfluss des Bösen bewahren soll, andererseits aber auch den gerechten Zorn des richtenden Gottes angesichts der menschlichen Sünden abwehrt. Ersterer Aspekt hängt mit den zeittypischen Vorstellungen von den Menschen stets bedrohender teuflischer Anfechtung zusammen, vor der Maria zu beschirmen vermag. 298 In den gleichen Zusammenhang gehört auch eine sowohl im Pallium als auch in beiden darauf aufbauenden Versdichtungen und dem Ripuarischen Marienmantel wiedergegebene Mirakelerzählung, die berichtet, die bösen Geister sprächen von Maria aufgrund ihres allgegenwärtigen Beistands stets nur furchtvoll als »die Weite« (lata). 299 Dies ist als Betonung eines den Betenden schon auf Erden von Maria gewährten Schutzes vor Anfechtung und Gefahr zu deuten. Illustriert wird diese protektive Wirkung durch einige in den Ripuarischen Marienmantel eingefügte Exempel und Mirakel, die davon erzählen, wie Maria durch ihren Mantel einzelne Gläubige z. B. vor Schiffbruch oder wilden Tieren bewahrt. 300 297 »Beuge dein Ohr nieder (Ps 44,11) zu unseren Gebeten, strecke deine rechte Hand deinen Dienern und Dienerinnen entgegen, breite deinen Mantel weit über uns aus. Bewahre alle, die zu dir fliehen, vor dem Zorn des Richters und verteidige uns auf immer gegen die Listen des bösen Feindes und gegen alles Übel. Mögen wir, oh Herrin, eine gewisse Zuflucht bei dir haben, mögen wir sicheren Schutz bei dir finden! Keiner der deinigen möge hier jemals Zurückweisung erfahren. Von den schon bei dir befindlichen Guten werde keiner durch uns vertrieben, noch werde wer auch immer von den Schlechten mit Gewalt davon abgehalten, zu dir zu kommen. Mögen wir stets freien Zugang zu dir haben, und durch dich zu dem Sohn, und durch ihn zu seinem allmächtigen Vater. Aus diesem Grund, oh selige Jungfrau, strengen wir uns an, an deinem Mantel zu arbeiten.« 298 Mittelalterliche Bilder, Legenden und andere Texte, die von Siegen Marias über das menschliche Seelenheil bedrohende Teufel, von der Heilung von dämonischer Besessenheit und ähnlichen Interventionen der Heiligen Jungfrau berichten, werden besprochen bei Beissel 1909, S. 246; 272; 472 f. etc. Auch die im Pallium, Z. 169 - 174, geschilderten Anfechtungen sind in diesem Kontext zu verstehen. 299 So heißt es: Ob hoc a demonibus lata nuncuparis, / quod tuos sub pallio magno tuearis. / Calumpniam fieri, nulli paciaris / nec reos suscipere nos hic dedignaris (»Darum wirst du von den bösen Geistern › die Weite ‹ genannt, / weil du die Deinigen unten dem großen Mantel beschützt. / Du mögest gestatten, dass keinem Verleumdung widerfährt, / und nicht verschmähen, uns Schuldige hier aufzunehmen«, Mantelpreis L, V. 53 - 56) Vgl. auch Pallium, Z. 134 f.; Mantelpreis D, V. 49 - 57. Eine auserzählte Version dieser Geschichte findet sich im Ripuarischen Marienmantel, Z. 46 - 55. 300 Vgl. Ripuarischer Marienmantel, Z. 76 - 88; 111 - 127. Die Exempel sollen zeigen, so Dominikus, dass Marias Mantel neit alleyn bedeckt yr diener yn hemel ind up erden, sunder ouch in dem wilden mer, so man ynniclichen sy yn noeden anroefft (»nicht allein im Himmel und auf Erden ihre Diener bedeckt, sondern auch auf dem wilden Meer, wenn man sie innig in Nöten anruft«, ebd., Z. 89 - 91). 272 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="273"?> Der zweite im obigen Gebetsauszug erflehte Gnadenerweis dahingegen ist von anderer Qualität und bezieht sich auf die Lehre von der Heilsmittlerschaft Marias, die wirkmächtig Fürbitte bei Gott zu leisten vermag. »Das Mittelalter hat«, so Arnold Angenendt, »unmittelbar und allezeit mit dem Zorn Gottes gerechnet.« 301 Dass Marias Mantel vor diesem Zorn bewahren soll, ist im Rahmen der Glaubensvorstellungen dieser Zeit entscheidend und bezieht sich vor allem auf die Sorge um das eigene Seelenheil nach dem Tode. Dabei verspricht das Pallium in der obigen Passage jedoch noch mehr: Nicht nur sollen die Gläubigen unter dem Kleid der Heiligen Jungfrau Zuflucht vor göttlicher Strafe finden, vielmehr vermittelt ihnen Maria, so die Hoffnung, über ihren Sohn auch einen Zugang zum durch ihre Fürbitte wohlgestimmten Gott. Der Ripuarische Marienmantel fasst diesbezüglich zusammen, der Mantelschutz bewirke, dass wir ouch vur godes urdel dae mit bedeckt werden ind versonet dem zornigen richter vermitz die gnade der barmhertzichen moder Maria (Ripuarischer Marienmantel, Z. 107 f.). 302 Die Empfängerin und Trägerin des geistlichen Mantels schützt und versöhnt folglich gleichermaßen. Diese Erwartung einer auf die Kleidergabe folgenden Beschirmung und Vermittlung mag durchaus weltlichen Bräuchen der Zeit entsprochen haben. So erzählt Dominikus von Preußen in einer weiteren marianischen Schrift, der oben kurz erwähnten Corona gemmaria, in seiner ostdeutschen Heimat hätten die Ritter des Deutschen Ordens sich einst leichtfertig mit dem König von Polen überworfen. Um das entstehende Zerwürfnis zu beenden, [m]iserunt enim reginae pretiosissimam tunicam auro et gemmis fulgentibus intextam, ut pro ipsis regem placare dignaretur. 303 Analog zu dieser Anekdote ist auch die geistliche Mantelgabe an Maria zu verstehen: Die Hinwendung zur Himmelskönigin soll dazu dienen, ihre Fürbitte bei Gott zu sichern, kraft derer sich schlussendlich göttlicher Zorn in göttliche Milde verkehrt. Mit dieser gnadenhaften Vermittlung zwischen Gott und Mensch durchbricht der Mantelschutz Marias Vorstellungen von Lohn und Strafe nach dem Prinzip des gerechten Ausgleichs, nach denen ein jeder Mensch nach seinem Tod seinen Taten und Sünden gemäß von Gott beurteilt werde. Denn selbst ein vollkommen schuldiger, vom rechten Weg abgekommener Mensch könne, so führt das Pallium aus, Marias Beistand erlangen: Et quod maius est, homo reus consciencia propria confusus, iuste iudicandus atque dampnandus, si ad matrem misericordie confugerit et velut in tabernaculo federis pallium illius apprehendens quasi cornu altaris tenuerit, non avelletur neque tradetur, sed gracia illius reconciliabitur atque salvabitur et non peribit in eternum. (Pallium, Z. 175 - 178) 304 301 Angenendt 2009, S. 102 302 »auch wir vor Gottes Urteil hiermit bedeckt werden und mit dem zornigen Richter versöhnt werden durch die Gnade der barmherzigen Mutter Maria«. 303 »schickten sie der Königin ein sehr kostbares, mit Gold und eingewebten glänzenden Edelsteinen geschmücktes Gewand, damit diese den König besänftigen solle«, Triller 1967/ 1968, S. 57; Übersetzung ebd., S. 49. Der Auszug aus der Corona gemmaria folgt der Handschrift Trier, Stadtbibl., MS. 622/ 1554, fol. 170v. 304 »Und was noch wichtiger ist, wenn ein schuldiger Mensch, der vom eigenen Gewissen beschämt wird und rechtmäßig zu verurteilen und zu verdammen wäre, sich nun zur Mutter der Barmherzigkeit flüchtet und wie im Zelt des Alten Bundes zu ihrem Mantel eilend gleichsam die Hörner des Altars ergreift (I Sm 1,50), so wird er weder weggerissen noch preisgegeben werden, sondern wird durch ihre Gnade versöhnt und gerettet werden und wird nicht auf Ewigkeit zugrunde gehen.« 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 273 <?page no="274"?> In Erfüllung alttestamentlich beschriebener Rechtsbräuche, die den Mantelschutz präfigurieren sollen, erscheint das geistliche Gewand so als Asylort, 305 an dem selbst jene Zuflucht finden können, die der Logik einer ausgleichenden göttlichen Gerechtigkeit zufolge Strafe verdient hätten. Textiles Beten ist damit nicht als Buße, Wiedergutmachung oder ähnliche Form der aufwiegenden Sündentilgung gezeichnet, sondern vielmehr als Möglichkeit, durch einen Willenserweis in Form einer Gebetsgabe an die als Mittlerin auftretende Maria unverdient der Gnade Gottes teilhaftig zu werden. Dabei steht der doppelte Schutz vor Gotteszorn ebenso wie vor teuflischer Anfechtung allen Christen offen, die zur Fertigung des geistlichen Gewandes beitragen und so bei der Heiligen Jungfrau Zuflucht suchen, denn quicumque aliquid ad ornandum seu amplificandum hoc pallium ante se premiserit, ad inveniendum sub eo tutum latibulum ac certum refugium spem habebit (Pallium, Z. 148 - 150). 306 Der Schutzmantel Marias, so die hier ausgedrückte Überzeugung, ist ebenso universell zugänglich wie die ihn erzeugende geistliche Übung: Nyemant iss ussgescheiden, dan der selver neit wyll (Ripuarischer Marienmantel, Z. 132). 307 Gerade hierin lagen zeitgenössisch Reiz und Novität der von Dominikus beworbenen Frömmigkeitspraxis. Die obigen Ausführungen und Untersuchungen zusammenfassend erscheint der gebethaft gefertigte Marienmantel bei Dominikus von Preußen zunächst als geistlichkonkreter Gegenstand, dessen überstoffliche Beschaffenheit jedoch die Materialität aller irdischen Werke sublimiert. Die eigentliche Werkmeisterin dieses unvergleichlichen Gewandes ist die Seele Jesu Christi, die zwar im Grunde menschlicher Mithilfe nicht bedarf, allerdings dennoch danach verlangt, um den Gläubigen so gnadenhaft die Möglichkeit einer Mitwirkung am eigenen Seelenheil zuzugestehen. Hiermit umgeht die Argumentation des Pallium-Traktats die Gefahren einer in Äquivalenzideen verankerten religiösen Gabenökonomie und kann dennoch an der Propagierung eines handwerklichen Betens festhalten, das auf der Hoffnung einer heilsvermittelnden Wirkung der erbrachten Frömmigkeitsleistungen aufruht. Entscheidend ist zudem, dass die von Dominikus beschriebene Andachtsübung des Mantelbetens, zu der aller Wahrscheinlichkeit nach der Alemannische Marienmantel Pate gestanden hat, für Personen unterschiedlichsten Standes offensteht: Obzwar vormals dem Zisterzienserorden eigen, können sich nun alle Gläubigen gemeinsam an diesem frommen Werk beteiligen und je nach individueller Möglichkeit Gebete oder Frömmigkeitsleistungen beitragen. Hier haben das Pallium, die daran anschließenden lateinischen und deutschen Versdichtungen sowie die zugehörige ripuarische Mirakelsammlung Anteil an 305 Cornelis Houtman geht ausführlich auf die im Alten Testament an mehreren Stellen erwähnte Praxis der Asylgewährung ein, die darauf beruht, dass ein Asylsuchender, gleich ob eines Verbrechens schuldig oder nicht, »indem er nun den Altar selbst oder die Hörner davon berührt, unter den Schutz von JHWH gestellt ist und sich damit außerhalb der Reichweite seiner Verfolger befindet«, Cornelis Houtman: Der Altar als Asylstätte im Alten Testament: Rechtsbestimmung (Ex. 21,12 - 14) und Praxis (I Reg. 1 - 2), in: Revue Biblique 103,3 (1996), S. 343 - 366, hier S. 349. Im Rahmen der wie oben angesprochen gängigen Auslegung von Bundeszelt und Bundeslade als Präfigurationen Marias kann Dominikus diesen Rechtsbrauch auf den Schutzmantel beziehen. 306 »wer auch immer etwas zum Schmuck oder zur Vergrößerung dieses Mantels vor sich vorausgeschickt habe, wird Hoffnung haben, unter ihm einen geschützten Schlupfwinkel und sicheren Zufluchtsort zu finden.« 307 »Niemand ist ausgenommen außer dem, der selbst nicht will.« 274 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="275"?> einer spätmittelalterlichen Tendenz zur Öffnung und partiellen Laikalisierung ursprünglich klösterlicher Frömmigkeitsformen und Lebensmodelle. Präfiguriert wird das somit gemeinsam vollbrachte fromme Werk durch den Tabernakelbau der Israeliten im Pentateuch. Durch diese typologische Verbindung wird die neuartige Andachtsübung gleichzeitig legitimiert und aufgewertet, wird handwerkliches Beten in ein Figurationsverhältnis zu biblischen Vorbildern gesetzt. Die geistliche Fertigung des Marienmantels, so impliziert der Text, gleicht hierbei nicht nur dem Stiftshüttenbau, sondern übertrifft ihn sogar, und dies vor allem durch seine sublime Materialität, die menschlichen Handwerkern unerreichbar ist. Schließlich wird von der geistlichen Mantelgabe eine doppelte Heilswirkung erhofft. Maria soll die an der Fertigung ihres Gewandes beteiligten Gläubigen unter den Mantel aufnehmen und sie dabei sowohl vor allerlei bösen Anfechtungen und Einflüssen wie auch nach ihrem Tod vor dem Zorn Gottes bewahren. Damit gehört das Mantelbeten auf der einen Seite ins weite Feld der religiösen Sorge für das eigene Seelenheil im Jenseits, auf der anderen Seite hebt es ab auf den Glauben an die Rolle Marias als universelle Mittlerin der Gnade, die über ihren Sohn Christus die Menschheit mit Gott versöhnt. Der Gebetsmantel wird dabei als vielfältiges Instrument der Gnadenentfaltung präsentiert. Er ist der heilskräftige Gegenstand, unter dem die Gottesmutter die Gläubigen gemäß der Rechtsgeste der Manteladoption aufnehmen und behüten kann, ebenso wie die Gabe, die ihre Interzession sichert sowie den frommen Willen und die Bemühungen der Gebenden beweist. Als gemeinschaftsstiftendes Werk aktualisiert er den alttestamentlichen Stiftshüttenbau und vermittelt damit zugleich eine standesübergreifende Kommunität der an ihm Beteiligten wie auch Imaginationen unvergleichlicher Prachtentfaltung. Erhaben über die Stofflichkeit der Welt entsteht er durch eine menschlich-göttliche Werkgemeinschaft, die Immanenz und Transzendenz zusammenschließt. Zuletzt hat der Marienmantel auch bei Dominikus von Preußen allegorischen Charakter, wenn es heißt, quod per pallium presens nil aliud intelligendum est quam beatissime dei genitricis fidelis protectio, materna dilectio et generalis affectio, quam habet et exhibet cunctis fidelibus in se confidentibus filii sui sanguine redemptis (Pallium, Z. 156 - 158). 308 Einerseits sind diese Worte wohl als Abschirmung gegen den Vorwurf eines defizitär materialitätsfixierten Gnadenverständnisses zu verstehen. Andererseits aber verdeutlichen sie ein weiteres Mal die doppelte Qualität jener Figurationen der Frömmigkeit, zu deren Herstellung Texte wie der Alemannische Marienmantel anleiten und deren Propagierung das Pallium des Trierer Kartäusers zum Ziel hat: Hier wird in der gleichen Bewegung Konkretes abstrahiert und Abstraktes konkretisiert. 308 »unter dem gegenwärtigen Mantel nichts anderes zu verstehen ist als der treue Schutz der allerseligsten Gottesgebärerin, ihre mütterliche Liebe und allgemeine Zuneigung, die sie gegenüber allen treu auf sie Vertrauenden hat und zeigt, die durch das Blut ihres Sohnes erlöst sind.« 3 Die Marienmanteltexte des Dominikus von Preußen 275 <?page no="276"?> 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild Das Korpus an Texten des ausgehenden Mittelalters, die dazu anweisen, Maria aus Reihengebeten ein geistliches Kleid zu weben und zu schneidern, in dem sich irdische Worte und Gedanken zum überirdischen Prachtstoff verdichten, erschöpft sich nicht in den nun genauer behandelten Mirakeltexten und Visionsepisoden, dem Alemannischen Marienmantel und den Manteltexten des Dominikus von Preußen. Vielmehr, so zeigt ein Blick in die Gebetbuchüberlieferung des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, entspinnt sich hier eine umfangreiche Texttradition, die von der Verbreitung entsprechender Frömmigkeitspraktiken des textilen Betens zeugt. Dabei kann die Form sowohl der diesbezüglichen Texte als auch der von ihnen verlangten religiösen Handlungen unterschiedlich ausfallen. So finden sich einerseits vor allem im Kontext von Handschriften aus Frauenklosterkontexten geistliche Übungen, die im Gegensatz zum Alemannischen Marienmantel auf eine einzelne Betende zugeschrieben sind. Hierein gehört das bereits erwähnte kurze Gebet aus einer im frühen 16. Jahrhundert niedergeschriebenen Handschrift des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Margaretha und St. Agnes, die auch zahlreiche Übungen zum Flechten geistlicher Rosenkränze für Maria und das Christuskind enthält. 309 Dieser zu Mariä Lichtmess zu betende Mantel ist vergleichsweise einfach aufgebaut. Er besteht neben einem Abschlussgebet sowie je sieben Paternoster und Salve regina aus dryg rosen krentz, womit hier wohl nach dem im vorangegangenen Kapitel erläuterten, an der Anzahl der Psalmen orientierten Schema drei Fünfzigergruppen von Ave Marie gemeint sind. 310 Angeschlossen an diesen Text sind eine kurze Gebets- und Andachtsübung, durch die das Jesuskind mit den christlichen Tugenden der Betenden eingekleidet werden soll, sowie eine Anleitung zur gebethaften Herstellung einer geistlichen Lichtmesskerze. In einer im 16. Jahrhundert von den Villinger Klarissen des Bickenklosters angefertigten Handschrift dahingegen findet sich eine komplexe Gebetsübung, die zwar ebenfalls für den Vollzug durch eine einzelne Rezipientin konzipiert ist, jedoch nicht dazu anweist, nur einmal im Kirchenjahr einen geistlichen Mantel anzufertigen. 311 Stattdessen ist die Betende hier aufgefordert, Maria täglich von Kopf bis Fuß mit Gebeten einzukleiden, 309 Dieses Mantelgebet ist überliefert in München, BSB, Cgm 856, fol. 210r/ v; verschiedene geistliche Blumenkranzübungen, die jeweils 50 Betrachtungspunkte enthalten und sich damit in der Tradition der Rosenkranzklauseln des Dominikus von Preußen bewegen, finden sich ebd., fol. 95v - 151v. Zur Handschrift vgl. Haimerl 1952, S. 40 - 44. Siehe dazu auch oben, S. 251 f. 310 »drei Rosenkränze«, München, BSB, Cgm 856, fol. 210r. 311 Überliefert in Freiburg, UB, HS 1500,30, fol. 190v - 198r. Zu diesem marianischen Gebetbuch vgl. Ina Serif: … wie dz ich ain súnderin bin. Überlegungen zu Text und Kontext eines spätmittelalterlichen Gebetbuchs aus einem franziskanischen Frauenkloster in Vorarlberg, in: Handschriften als Quellen der Sprach- und Kulturwissenschaft. Aktuelle Fragestellungen - Methoden - Probleme, hg. v. Anette Kremer u. Vincenz Schwab, Bamberg 2018 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 13), S. 177 - 199. Serifs Zuschreibung zu Valduna wurde korrigiert durch Werner Hoffmann (Leipzig), der die Schreiberin Sofia Capittlin identifizieren konnte und dem ich den Hinweis auf die Provenienz aus dem Bickenkloster verdanke. <?page no="277"?> wobei jeweils sieben Ave Maria ein Kleidungsstück figurieren und stehend oder kniend für eine der Tugenden der Gottesmutter gesprochen werden sollen. 312 An den Marienfesten sowie zu Neujahr und Weihnachten müssen diese Alltagskleider zusätzlich durch anlassgebundene geistliche Schmuckstücke ergänzt werden. Hierzu hat die Betende jeweils 1500 Mariengrüße darzubringen, wobei jeweils hundert dieser Gebetsformeln mit der Meditation einer Episode aus dem Marienleben verknüpft sind. Auf diese Weise ergibt sich eine textile Gebets- und Andachtsübung für das Kirchenjahr, die auf eine stetige und nie endende Erneuerung und Wiederholung des Dienstes an der Gottesmutter angelegt ist. Darin zielt dieser Text gleichzeitig auf meditative Versenkung in die Geschichte von Marias Erdenleben wie auch auf die imaginierende Konkretisierung vestimentärer Figurationen der Frömmigkeit. 313 Eine in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Colmarer Dominikanerinnenkloster Unterlinden angefertigte Handschrift, die mit dem weiter unten noch untersuchten Geistlichen Herzensempfang auch eine aufschlussreiche Architekturandacht überliefert, enthält gleich mehrere geistliche Kleidertexte. 314 Einige hiervon gehören zu einem lose verknüpften Bündel an brautmystisch eingefärbten Gebets- und Andachtsübungen, mit denen sich eine einzelne Nonne auf den Kommunionempfang vorbereiten soll. Darunter finden sich eine Anleitung, den als Bräutigam auftretenden Christus durch verschiedene Frömmigkeitsleistungen als Himmelsherrscher einzukleiden 315 sowie ein Andachtstext, bei dessen Lektüre die Leserin selbst sich das geistliche Brautgewand klösterlicher Tugenden innerlich fertigen und anziehen soll. 316 Eine weitere geistliche Übung zur Fertigung eines Marien- und Christusornats samt kostbarer Schmuck- und Edelsteingarnitur aus Reihengebeten und Meditationsübungen ist nicht eucharistisch gerahmt, soll aber ebenfalls von einer einzelnen Nonne für sich vollzogen werden. 317 312 So weist der Text an: Ze dem ersten bet vij ave maria stend irem rainen leben, ist der underrock. Ze dem 2 bett vij ave maria knüend in ir dieffe demütikat, ist der oberrock. Ze dem 3 bet vij ave maria stend irem gantzen globen, ist ir girtel. Ze dem 4 bet vij aue maria knüend irer senfften gedult, sind die schuoch. Ze dem 5 bet aber vij ave maria stend ir fürtreffelichen junckfrelichat, dz ist ir stüchele. Ze dem 6 bet vij aue maria knüwend irem steten frid, ist die zierlich kron irs hopts. Ze dem 7 bet vij ave maria stend irer inbrinstigen liebi, ist ir schener manttel. Ze dem 8 bett vij ave maria knüend irem uferhepten hertzen vnd gemüt in einem steten schowen inn gott, ist dz edel schlosz an dem mantel. Ze dem 9 bet aber vij aue maria stend irem volkomen bliben jn allen tugenden, ist dz edel fingerringle. Also hasstu ir gnad beklait (»Erstens bete stehend sieben Ave Maria für ihr reines Leben, das ist der Unterrock. Zweitens bete kniend sieben Ave Maria zu ihrer tiefen Demut, das ist der Oberrock. Drittens bete stehend sieben Ave Maria für all ihren Glauben, das ist ihr Gürtel. Viertens bete kniend sieben Ave Maria für ihre sanfte Geduld, das sind die Schuhe. Fünftens bete wieder stehend sieben Ave Maria für ihre vortreffliche Jungfräulichkeit, das ist ihr Schleier. Sechstens bete kniend sieben Ave Maria für ihren stetigen Frieden, das ist die zierliche Krone auf ihrem Kopf. Siebtens bete stehend sieben Ave Maria für ihre inbrünstige Liebe, das ist ihr schöner Mantel. Achtens bete kniend sieben Ave Maria für ihr zu einer steten Schau Gottes aufgerichtetes Herz und Gemüt, das ist die edle Schließe an dem Mantel. Neuntens bete wieder stehend sieben Ave Maria für ihr Vollkommenbleiben in allen Tugenden, das ist der edle Fingerring. Somit hast du ihre Gnade eingekleidet«), Freiburg, UB, HS 1500,30, fol. 190v - 191r. 313 Darin ist dieser Text auch der Constructio des Dominikus von Preußen vergleichbar, die ebenfalls eine niemals abgeschlossene handwerkliche Gebets- und Andachtsübung für das Kirchenjahr instruiert. Vgl. dazu unten, Kap. IV.4.3. 314 Colmar, Bibliothèque des Dominicains, MS. 267bis. Diese Handschrift diskutiere ich unten, Kap. IV.4.5. 315 Ebd., fol. 84r - 98r. 316 Ebd., fol. 119r - 122r. 317 Ebd., fol. 122v - 137v. 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild 277 <?page no="278"?> Bei einer in der gleichen Colmarer Handschrift überlieferten und von Thomas Lentes abgedruckten Auflistung der Gebetskosten für einen weiteren Marienmantel, der als húpscher himelblauwer damast aus 30.000 Ave Maria, tausend Magnificat, tausend Gloria Patri und weiteren Gebete entstehen soll, handelt es sich dahingegen dem Anschein nach um ein Frömmigkeitswerk, das von einer Gruppe von Nonnen gemeinsam vollzogen werden soll. 318 Neben Übungen für individuelle Gläubige tritt somit auch ein Text, der ähnlich wie der Alemannische Marienmantel zur Vergemeinschaftung geistlicher Textilarbeiten anleitet. Gerade in Frauenklöstern scheint es verbreitet gewesen zu sein, solche umfangreichen Marienmäntel als Konvent in der Gruppe herzustellen. 319 Eine derartige Praxis belegt z. B. eine wohl erst im späteren 16. Jahrhundert niedergeschriebene Notiz aus dem Schriftnachlass des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis, die festhält, welche Memorialgebete für eine kürzlich verstorbene Küsterin zu verrichten seien. Aufgelistet sind hier auch lxxxx M Ave maria fir den mantel unser lieben fröwen, die unter die einzelnen Nonnen aufgeteilt werden sollen - somit gebürt sich yeder S[wester] iij M und v C Avemaria. 320 Im Nikolauskloster war das gemeinsame Beten eines solchen marianischen Schutzmantels für verstorbene Mitschwestern dabei offenbar für lange Zeit Usus: Ein wohl auch aus diesem Ordenshaus stammendes Memorialgebetbuch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts enthält eine beinahe wortgleiche Anweisung, die jedoch nicht eine bestimmte Verstorbene meint, sondern als allgemeine Regel für den Gebetsdienst bei Todesfällen in der Klostergemeinschaft gestaltet ist. 321 Von einem solchen Textilgebet kann, so die Handschrift, erhofft werden, dz sy [d. h. die verstorbene Schwester] die wirdige mu ͦ tter gottes beschirm under irem mu ᵉ tterlichen mantel. 322 Ebenfalls auf das weibliche Religiosentum, jedoch nicht auf eine Situierung innerhalb des klösterlichen Totengedenkens weist eine leider nur fragmentarisch erhaltene gemeinschaftliche Gebets- und Andachtsübung in einer niederdeutschen Handschrift des 16. Jahrhunderts. 323 Dieser Text, der das Bild Marias als apokalyptischer Frau aufruft, hinter der die Sonne strahlt und die den Mond zu ihren Füßen hat (vgl. Apc 12,1 - 5), kleidet die dergestalt innerlich erscheinende Gottesmutter in ein vom ganzen Konvent zu betendes geistliches Gewand, das zugleich der gemeinsamen Meditation des Marienlebens dient. Ähnlich wie das oben erwähnte Straßburger Gebet ist diese Übung dabei an das Marienfest der Darstellung des Herrn gebunden - zu diesem Datum soll der Mantel 318 »hübscher himmelblauer Damast«, Lentes 1996, S. 1085. Der Text ist überliefert in Colmar, Bibliothèque des Dominicains, MS. 267bis, 68r - 69v. 319 Diese Bindung ans Frauenkloster macht besonders Hamburger 1997, S. 75 stark. Exklusiv scheint sie jedoch nicht gewesen zu sein. 320 »90.000 Ave Maria für den Mantel unserer lieben Frau«, »fallen jeder Schwester 3.500 Ave Maria zu«, Strasbourg, AVES, II 39/ 17. Der entsprechende Zettel ist Teil eines nicht einzeln paginierten Konvoluts kleinerer Schriftstücke, die wohl nach der Auflösung des Klosters in den 1590ern an die Stadt Straßburg fielen. Zur Situation dieses Klosters im späten 16. Jahrhundert und den zu dieser Zeit dort entstandenen Texten vgl. mit ausführlichen Angaben Buschbeck 2021. Dieser Zettel und die folgend erwähnte Anweisung sind in Gänze abgedruckt bei Lentes 1996, S. 486 f. Vgl. hierzu auch Wareham 2016, S. 75, und van Os 1994, S. 171 f. 321 Frankfurt, SUB, ms. germ. oct. 28, fol. 129r/ v. 322 »dass die würdige Mutter Gottes sie beschütze unter ihrem mütterlichen Mantel«, ebd., fol. 129r. 323 Berlin, SBB - PKB, mgq 762, fol. 129v - 132v. Durch Blattverlust fehlt ein wohl umfangreicher Abschnitt am Ende des unikal überlieferten Textes. Zu dieser Handschrift vgl. unten, Kap. IV.4.4. 278 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="279"?> fertiggestellt sein. Hierbei legt die Angabe, man solle die Anweisungen hierzu up middewinters avent lesen, auch nahe, welcher Zeitraum für die Gebetsübung veranschlagt wurde. Zwischen Mittwinter und Mariä Lichtmess liegen ungefähr sechs Wochen, während derer der geistliche Mantel hergestellt werden sollte. 324 Doch nicht nur Frauenklöster widmeten sich der Fertigung gebeteter Kleidungsstücke. So integrierte die 1476 gegründete Straßburger Ursulabruderschaft, die Laien und Geistliche gleichermaßen umfasste, das Mantelbeten in das breite Spektrum ihrer Frömmigkeitspraxis. 325 Ein von Johann Zainer dem Jüngeren um 1500 in Ulm gedrucktes Gebet- und Andachtsbüchlein mit entsprechenden Manteltexten dürfte sich vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich, an ein laikales Publikum gerichtet haben. 326 Der Allgäuer Hirte Chonrad Stoeckhlin, der 1586 der Hexerei verdächtigt und schließlich hingerichtet wurde, gab laut Verhörprotokoll an, eine Engelserscheinung habe ihm aufgetragen, gemeinsam mit seiner Familie Quatemberlich 30000 Ave Maria, das seye › Unser Frawen Mantel ‹ , zu beten. 327 Offenbar war dem Laien Stoeckhlin diese Gebetsform nicht nur geläufig, er führte sie sogar als Beleg für die Authentizität und Orthodoxie der von ihm behaupteten Visionserlebnisse an. Auch die von Luthers Mitarbeiter und Redaktor Stephan Rodt vorgebrachte scharfe Kritik, ein gläubiger Christ müsse weder nach rosenkrentzen oder Marien mantel fragen, 328 darf als Indiz für eine weitreichende Popularität des Mantelbetens im 16. Jahrhundert gewertet werden und zeigt, wie diese Frömmigkeitsform ähnlich dem Rosenkranz auf die Skepsis der Reformatoren stieß. Im 17. Jahrhundert schließlich berichtet der Jesuit Toussain Bridoul, der Herzogin von Mantua, Eleonore von Österreich (1534 - 1594), sei aus Deutschland eine Andachtsübung zugesandt worden, die aus 32.000 Mariengrüßen bestanden habe und »le Manteau de Notre-Dame« genannt worden sei. 329 Da die adlige Dame dieses enorme Pensum allerdings nicht habe selbst vollbringen können, habe sie mehrere Klöster damit beauftragt, zu diesem Mantel betend beizusteuern. Derlei Erwähnungen illustrieren, wie diese spätmittelalterliche Frömmigkeitsübung bis weit in die Frühe Neuzeit weiterwirkte und belegen zugleich, dass das Mantelgebet auch über die Klostermauern hinaus in verschiedenen Formen aufgegriffen wurde und dabei schicht- und standesübergreifend Anhänger fand. An dieser Stelle wäre es möglich, den Bereich der Gebetbuchliteratur zu verlassen und nach den Reflexen textilen Betens in bildender Kunst und materieller Kultur des Mittelalters zu fragen. Gerade in Bezug auf die Schutzmantelikonographie böte sich dies an, ist 324 Ebd., fol. 129v. 325 Vgl. Schnyder 1986, S. 203, 205, 228; sowie unten, Kap. IV.4.1. 326 Mantel unserer lieben Frauen, Ulm: Johann Zainer d. J., [um 1500] (GW M20668). Das einzige bekannte erhaltene Exemplar befindet sich in Metten, Bibliothek der Benediktinerabtei, Inc. II. 129/ 130. Eine Konsultation dieses Drucks war mir bislang leider nicht möglich; ich verlasse mich daher auf die Angaben und Abbildungen bei Lentes 1993, S. 139, und Sussmann 1929, S. 25. 327 Zitiert nach Wolfgang Behringer: Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar. Eine Geschichte aus der frühen Neuzeit, München 1994, S. 26. 328 Stephan Rodt: Sommerpostille [1526], in: WA 10,2.1 (1925), S. 209 - 446, hier S. 236. 329 In seinem 1640 gedruckten Triomphe annuel de Notre Dame schreibt Bridoul, die Herzogin »avoit pris goust en Allemagne à une certaine dévotion qu ’ on nomme le Manteau de Notre-Dame, qui consiste à réciter ou à faire réciter 32.000 Ave Maria en lhonneur de la Vierge Marie ; mais parce que la qualité de son état lui dérobait les meilleures heures du jour, elle fut contrainte de s ’ en décharger sur ceux de sa cour el sur plusieurs monastères, partageant entre eux le nombre des Ave Maria que nous avons dit«, zitiert nach Perdrizet 1908, S. 47. 4 Ausblick: Ausprägungen und Reflexe gebeteter Textilien in Text und Bild 279 <?page no="280"?> die Zahl der kleinen Andachtsbilder und Einblattdrucke des ausgehenden Mittelalters, die Maria als Mantelschützerin zeigen und dabei häufig Gebetsworte wie beispielsweise die marianische Antiphon Sub tuum praesidium auf dieses Motiv beziehen, enorm. 330 Auch die in der Tafelmalerei und Holzplastik 15. und 16. Jahrhunderts verbreiteten Gewandsauminschriften, die besonders bei Marien- und Heiligendarstellungen häufig Gebetsworte ins Bild setzen, können im Zusammenhang mit der Tradition textiler Gebets- und Andachtsübungen gelesen werden. 331 So sieht beispielsweise Johanna Thali in den goldenen Buchstaben des Ave Maria und Salve regina, die der 1479/ 80 angefertigte Nelkenmeisteraltar der Franziskanerkirche in Fribourg auf den Mantelborten Marias erstrahlen lässt, die »Idee der textilen Schrift« aufscheinen, die »sich wohl der Gebetsübung der geistigen Kleidergabe an Maria« verdanke. 332 Zuletzt ist es auch möglich, Verbindungen zur spätmittelalterlichen Praxis des Bekleidens von Heiligenfiguren zu suchen. Insbesondere aus den niedersächsischen Frauenklöstern haben sich zahlreiche solcher Statuenkleider erhalten, die teils die sprachlich evozierte Bildlichkeit entsprechender Gebets- und Andachtstexte erstaunlich exakt aufzugreifen scheinen. 333 Ein Einbezug dieser Bilder und Objekte, den ich hier nicht umfänglich leisten kann, würde eine weitere Komplexitätsebene der medialen Dynamik aufzeigen, die das handwerkliche Beten als Frömmigkeitspraxis prägt. Im Vordergrund der obigen Untersuchungen jedoch standen vornehmlich Texte, die durch das Medium der Sprache eine eigene absorbierende Bildlichkeit materieller Pracht evozieren, in welche ihr Publikum sich versenken und dabei sowohl auf dem Wege der sprachlich evozierten inneren Schau wie auch durch betende Hinwendung vertikal wie horizontal auf das Heilige orientiert werden soll. Das Resultat eines solchen lesenden Vollzugs, der rhetorisch durchgeformte Kommunikation mit der Transzendenz ebenso wie einen Prozess der Immersion in die Wahrnehmungs- und Deutungsangebote des Texts umfasst, verdichtet sich zum geistlichen und dennoch gegenständlich gedachten Gewand für Maria, von dem eine Gnaden- und Schutzwirkung erhofft wird. Der textus der geschriebenen und gesprochenen Worte, so ließe sich diese Transformation des Betens fassen, verheißt die textile Pracht des himmlischen Schutzmantels und erfüllt sie durch die Frömmigkeit seiner Leser. 330 Vgl. z. B. die zahlreichen Bildbeispiele bei Lentes 1993 und Sussmann 1929. 331 Vgl. dazu grundsätzlich und mit einigen Beispielen Rudolf M. Kloos: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Darmstadt 1980, S. 45 - 48. Einige exemplarische Gebetsinschriften auf Mantelsäumen bespreche ich zudem in Buschbeck 2022b, S. 48 - 52. 332 Johanna Thali: Freiburger Nelkenmeisteraltar, in: SchriftRäume. Dimensionen von Schrift in Mittelalter und Moderne, hg. v. Christian Kiening u. Martina Stercken, Zürich 2008, S. 312. 333 Vgl. Charlotte Klack-Eitzen, Wiebke Haase u. Tanja Weißgraf: Heilige Röcke. Kleider für Skulpturen in Kloster Wienhausen, Regensburg 2013. Besonders bemerkenswert ist ein ebd. auf S. 20 f. besprochener und abgebildeter Figurenornat für eine Marienstatue aus einem niedersächsischen Frauenkloster des 15. Jahrhunderts (Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum, Inv. Nr. WM XX, 24 - 30), dessen Stickereien die Rosenkranzikonographie aufgreifen und an dem zudem auch Buchstabenpailletten, die an Gebetsworte mahnen, angebracht sind. Hierzu vgl. Buschbeck 2022b, S. 51 f.; sowie Kirakosian 2021, S. 201 u. Tafel XXIV. Weitere Beispiele für solche Figurenkleider finden sich in dem Katalog Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, hg. v. Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, S. 456 f. 280 III Textuelle Textilien: Gebetete Kleider für Maria <?page no="281"?> IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="283"?> 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst Die oben untersuchten Gebets- und Andachtsübungen setzen vertikale und horizontale Medialisierungs- und Wirkstrategien in je eigene Konstellationen und präsentieren die Effekte eines dergestalt angebotenen Vollzugs als geistlich-konkrete Figurationen der Frömmigkeit, denen eine überstoffliche Realität ebenso wie heilsvermittelnde Geschehensmächtigkeit zukommt. Dabei macht es einen Unterschied, ob wie im Falle der Trierer Rosenkranzklauseln gezählte Gebetsformeln mit der Betrachtung bestimmter Heilsereignisse verbunden werden und sich diese Gebetsmeditation schließlich zum geistlichen Kranz verdichtet, oder ob wie im Alemannischen Marienmantel zunächst ein Eintauchen in die prachtvolle Bildlichkeit des gemeinschaftlich aus Frömmigkeitsübungen figurierten Marienkleids stimuliert wird, das in seiner allegorischen Zeichenhaftigkeit dann wiederum zur Versenkung in die so bezeichneten Glaubensgegenstände anregt. Prinzipiell aber konzipieren die entsprechenden Texte sowohl Rosenkränze als auch gebetete Gewänder als überstoffliche Konkretisierungen religiöser Praxis, die von den Betenden als Gabe dargebracht und somit in der Hoffnung auf eine gnadenhafte Erwiderung veräußert werden. Im folgenden Kapitel hingegen rückt ein Textkorpus in den Blick, das diese Dynamik entschieden abwandelt. Geistliche Übungen und Traktate, die zur Errichtung eines inneren Gebäudes durch Gebet und Meditation anleiten, heben nicht oder zumindest nicht primär auf Vorstellungen eines frömmigkeitspraktischen Handwerks ab, in dessen Rahmen sublime Geschenke für Maria, Christus und die Heiligen entstehen. Vielmehr bieten sie ihrem Lesepublikum eine Selbstformung im Sinne christlicher Tugendideale an, die vom Text und den von ihm angeregten Prozessen der meditativen und betenden Versenkung ins eigene Innere ermöglicht oder erleichtert werden sollen. Dabei folgen solche architektonischen Figurationsarbeiten am eigenen Ich zumeist einer Logik der Errichtung des Selbst hin auf die Einkehr des radikal Anderen. An ihrem Fluchtpunkt steht gewöhnlich die Hoffnung, Gott oder Christus werde in je nach Einzelfall verschiedenen Rollen - z. B. als Gast, Herrscher oder Bräutigam - in das für ihn in und aus dem Inneren der Betenden erschaffene Gebäude einziehen. Eindrücklich auf den Punkt gebracht wird diese Vorstellung der Einwohnung des Heiligen im dazu mühevoll erbauten inneren Gebäude des sich selbst transformierenden Menschen in einem instruktiven Gleichnis aus dem Buch der Vollkommenheit des Pseudo-Engelhart von Ebrach, einer für das 14. und 15. Jahrhundert vielüberlieferten Sammlung geistlicher Verse und Kurzprosa aus dem Umfeld der sogenannten › Deutschen Mystik ‹ : 1 Welich meister einem kúnig ein lustsam hus wil buwen, der schrette alle este abe und unnútzes holtz und behauwet es nach wúnsche, daz im ihtes widerzeime si, und verwirffet alle die storren, die zu ͦ dem huse nit entaugen. Also tu ͦ , wiltu, daz din hertze und din sele got ein lustsam hus si. 2 1 Vgl. dazu Volker Honemann: Art. Engelhart von Ebrach, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 555 f. 2 »Welcher Meister einem König ein wohlgefälliges Haus bauen möchte, der schlägt alle Äste und alles nutzlose Holz ab, und arbeitet mit all seinen Kräften daran, auf dass ihm nichts missfällig sei, und wirft all die Storren weg, die zu dem Haus nichts taugen. So mach es auch du, wenn du willst, dass dein Herz <?page no="284"?> Diese Sätze zeichnen die Hinkehr des Menschen zu Gott als figurative Gestaltung, ja als Erbauung der eigenen Seele im Wortsinn, die in Arbeitsschritte geteilt und in ihrer Bildlichkeit analog zum Bau eines physischen Hauses vorgestellt wird. Dabei ist die Innerlichkeit des Gläubigen als Wohnstatt des Göttlichen begriffen, die jedoch zunächst der Errichtung und Aufrechterhaltung, der spirituellen Konstruktionstätigkeit des Menschen an sich selbst bedarf. Eine solche Konzeptualisierung eines formenden Umgangs mit der eigenen Person, wie ihn sämtliche der folgend untersuchten Texte in je verschiedener Ausprägung anleiten, lässt ein nah an der fundierenden Metapher ausgerichtetes Verständnis christlicher Erbauung (aedifactio) aufscheinen, betrifft also einen Schlüsselbegriff der Frömmigkeitskultur, dessen große semantische Spannweite die jüngere Forschung verstärkt in den Blick genommen hat. 3 Texte, die unter sprachlich vermitteltem Rückgriff auf architektonische Präfigurationen und Modelle einen Prozess der Selbstfiguration instruieren, ruhen hierbei auf einem enggefassten Begriff des Erbaulichen auf, der geradezu einen Gegenpol zum Verständnis von Erbauung als »Sammelbegriff für ein möglichst breites Spektrum religiöser (seelsorgerischer) Gebrauchsfunktionen« bildet, den die mediävistische Forschung zumeist ansetzt. 4 Von zentraler Bedeutung ist diesbezüglich, dass entsprechende Gebets- und Andachtsübungen, wie ich unten ausführe, die von ihnen entworfenen inneren Gebäude und Errichtungsprozesse in der Regel nicht allein als allegorische Bilder zeichnen. Vielmehr zielen sie ab auf die Konstruktion von inneren Realitäten der Selbstkonzeption und -schau, die, ähnlich wie die oben behandelten Rosenkränze und Marienmäntel, eine über das Zeichenhafte hinausgehende Konkretheit entfalten und figural eine Erfüllung in Form der Einwohnung des Göttlichen im sich dazu erbauenden Menschen verheißen. Auf Texte aus dem Umfeld der Gebetbuchliteratur, die dies vorskizzieren und anleiten, wird folgend ein Schlaglicht geworfen. Dabei steht, dies sei vorangestellt, der so entworfene Modus des Umgangs mit sich selbst, der sich in der Formung des eigenen Ich hin auf die Transzendenz, also das eklatant Nicht-Identische, erfüllt, in Spannung zu einer die heutige Gegenwart vielfach prägenden Auffassungen von personaler Identität und ihren Ansprüchen. Dies macht eine Untersuchung der unten fokussierten Texte des ausgehenden Mittelalters umso aufschlussreicher. Es erlaubt, in ihnen eine Kontrastfolie zu einem Identitätsbegriff der Postmoderne zu erkennen, der auf vermeintlich vorgängige Authentizität sowie ihre Verwirklichung oder Anerkennung fokussiert ist. Gewissermaßen stehen sie quer zu einem aktuellen Verständnis von Interiorität, dessen Historisierungen das europäische Mittelalter kennzeichnenderweise oft überspringen. und deine Seele ein wohlgefälliges Haus für Gott seien«, Pseudo-Engelhart von Ebrach: Das Buch der Vollkommenheit, hg. v. Karin Schneider, Berlin 2006 (Deutsche Texte des Mittelalters 86), S. 51. 3 Entscheidende Beiträge zum Verständnis des Erbauungsbegriffs im Mittelalter, auf die unten noch zurückgekommen wird, leisten Susanne Köbele: Erbauung - und darüber hinaus. Spannungen im volkssprachlich-lateinischen Spätmittelalter. Mit Überlegungen zu Gertruds von Helfta Exercitia spiritualia, in: PBB 137.3 (2015), S. 420 - 445; sowie jüngst die Aufsätze in Köbele/ Notz 2019. Für die Frühe Neuzeit, die den Erbauungsbegriff noch einmal grundsätzlich rekonfiguriert, finden sich entsprechende Untersuchungen bei Andreas Solbach (Hg.): Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005. 4 Köbele 2015, S. 421. 284 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="285"?> So lokalisiert der Politologe Francis Fukuyama den Ursprung einer Kehrtwende hin zur eigenen Innerlichkeit, die das Menschenbild des Westens bis heute bestimme, im sächsischen Wittenberg: »the distinction between inner and outer, and the valorization of the former over the latter, starts in an important sense with Luther«. 5 Diese These fällt im Rahmen einer ideengeschichtlichen Meistererzählung, die ihren Ausgang bei der Vorstellung einer nach Anerkennung strebenden Gemütsanlage ( θυμός ) in der platonischen Seelenlehre nimmt und die protestantische Reformation als introspektive Kehre begreift, deren Priorisierung des inneren Menschen sich später bei Rousseau in säkularisierter Form als Annahme einer universellen Menschenwürde entfalte sowie schlussendlich in den Selbstverwirklichungsideologien der Spätmoderne gipfele. Mittels dieses streitbaren philosophiehistorischen Aufrisses versucht Fukuyama, die identitätspolitischen Konflikte der letzten Jahre als in die Aporie weisendes Amalgam europäischer Denktraditionen zu erklären. Dabei bleibt der großangelegte Bogen, den er konstruiert, weitgehend bruchfrei - nur eben mit Luther werde eine vormalige Orientierung hin auf äußere Werke abgelöst durch den Blick auf ein vermeintlich › wahres Selbst ‹ , das im Inneren des Menschen verborgen gelegen habe und nun schließlich nach Erforschung und Würdigung verlange. Der Reformator, so Fukuyama, sei weitgehend »responsible for the notion, central to questions of identity, that the inner self is deep and possesses many layers that can be exposed only through private introspection«. 6 Die Jahrhunderte zwischen dem Ausgang der paganen Spätantike und der Reformation betrachtet der Autor dabei weitgehend als geistesgeschichtliches Interregnum, in dem sich für die Frage nach personaler Identität wenig getan habe. In dieser Sicht erscheint die religiöse Kultur des Mittelalters bestenfalls als wenig durchschlagende Vorläuferin protestantischer Innerlichkeit und ihrer (post-)modernen Erben. Nun mag ein solches Bild aus mediävistischer Perspektive erstaunen, formuliert doch bereits Augustinus programmatisch: Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas. 7 Für die mittelalterliche Frömmigkeit nahm dieses Diktum vielfach Leitbildcharakter an. Die mittelalterlichen Klöster verkörperten beispielsweise, wie Kurt Flasch betont, zumindest ihrem Selbstanspruch nach »die institutionalisierte Wendung nach Innen, d. h. der Erkenntnis der Sünden, der Buße und der Kontemplation«. 8 Damit verbunden ist auch der von Thomas Lentes hervorgehobene Diskurs über die »Identität und Wechselwirkung von Außen und Innen«, der sich im Spätmittelalter vielfach hin zu einer vornehmlichen Konzentration auf das Innere als Ort der Begegnung mit dem Heiligen wandelte und umfassende »Strategien der Innenschulung und Selbsttransfor- 5 Francis Fukuyama: Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment, London 2018, S. 28. 6 Ebd. 7 »Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit«, Aurelius Augustinus: De vera religione. Über die wahre Religion. Lateinisch/ Deutsch, Übersetzung und Anmerkungen v. Wilhelm Thimme, Nachwort v. Kurt Flasch, Stuttgart 2006 (RUB 7971), S. 122 f. [XXXIX, 72]. 8 Kurt Flasch: Wert der Innerlichkeit, in: Die kulturellen Werte Europas, hg. v. Hans Joas u. Klaus Wiegandt, Frankfurt a. M. 2005, S. 219 - 236, hier S. 224. Einen deutlich weiteren, über das Mittelalter hinausreichenden Blick auf die Ideengeschichte der Innerlichkeit bieten die Beiträge in Jan Assmann (Hg.): Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie, Gütersloh 1993. 1 Zur Einführung: Architektonische Bilder des Inneren und Konzeptionen des formbaren Selbst 285 <?page no="286"?> mation« entwickelte. 9 Ausgehend von Augustinus zielte diese introspektive Blickwende hin auf das je eigene Seelische, so Katharina Silke Philipowski, jedoch nicht auf »den Menschen in unserem modernen Sinne, in dem er als Individuum und Person begriffen wird« sondern vielmehr auf »Gott als Ursprung und Ziel der Seele und Ursprung und Ziel des ganzen Menschen.« 10 Denn das Heilige, so die Grundannahme, begegne nicht in den äußeren Dingen der Welt, sondern im tiefsten Inneren des Menschen, der sich in dieser Begegnung selbst zu überkommen vermöge. Für die religiöse Kultur des Mittelalters gestaltete sich diese Vorstellung eines dem Menschen als deus internus einwohnenden, ihn jedoch auch bedingungslos überschreitenden Göttlichen, die dem Alten Testament fremd und wohl über die hellenistische Philosophie ins Christentum eingeflossen ist, als prägend. 11 Innerlichkeit tritt dabei nicht respektheischend als Identitätsposition nach außen, vielmehr verlagern sich äußere Handlungen, Haltungen und Mittel nach innen, wo sie den Menschen tiefgreifend verändern. Fundiert wird dieses Ideal gottsuchender Verinnerlichung durch das in patristischer Zeit unter Rückgriff auf platonische Vorstellungen und die biblischen Paulusbriefe entwickelte Modell des › äußeren ‹ und › inneren Menschen ‹ . Dem geistigen homo interior seien Annäherungen ans Heilige möglich, die dem äußeren, in seiner Körperlichkeit verhafteten Menschen vorenthalten seien. 12 Von einem solchen Verständnis ausgehende Stufenwege des inneren Menschen zu Gott sind in der geistlichen Literatur des Mittelalters ubiquitär. Exemplarisch kann hier die Schrift De exterioris et interioris hominis compositione des Franziskaners David von Augsburg genannt werden. 13 Im gleichen Fahrwasser bewegt sich auch ein Interiorisierungsdenken, in dessen Rahmen äußere Situationen und Eigenschaften als innere Haltungen gedeutet, kultiviert und sublimiert werden, wie beispielsweise Burkhard Hasebrink in Hinblick auf Meister Eckharts Verständnis geistiger Armut zeigt. 14 In Bezug auf die mittelalterliche Frömmigkeitskultur wurde diesbezüglich in der jüngeren Forschung vor allem der jeweilige Umgang mit Imagination und Sinneserfahrung von homo interior und exterior ausgiebig diskutiert. 15 Hierbei darf, so Niklaus Largier, für die monastisch geprägte Gebets- und Andachtspraxis eine gegenseitig amplifizierende Handhabung von innerer und äußerlicher Sinnlichkeit 9 Lentes 1999, S. 31. 10 Katharina Silke Philipowski: Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Erzählliteratur, Berlin/ Boston 2013 (Hermaea. NF 131), S. 37. 11 Vgl. dazu Gerhard Bauer: Claustrum animae. Untersuchungen zur Metapher vom Herzen als Kloster, Bd. 1: Entstehungsgeschichte, München 1973, S. 55 - 61 (weitere Bände sind nicht erschienen). 12 Vgl. zum Überblick C. Markschies: Art. Innerer Mensch, in: RAC 18 (1998), Sp. 266 - 312. 13 Siehe David von Augsburg: Vom äußeren und inneren Menschen, hg. v. Marianne Schlosser, mit einer Einführung von Cornelius Bohl, St. Ottilien 2009. 14 Burkhard Hasebrink: Selbstüberschreitung der Religion in der Mystik. › Höchste Armut ‹ bei Meister Eckhart, in: PBB 137.3 (2015), S. 446 - 460. 15 Siehe z. B. die Beiträge in Fiona Griffiths u. Kathryn Starkey (Hgg.): Sensory Reflections. Traces of Experience in Medieval Artifacts, Berlin/ Boston 2018 (Sense, Matter, and Medium 1); sowie aus vornehmlich kunsthistorischer Sicht Jeffrey F. Hamburger u. Anne-Marie Bouché (Hgg.): The Mind ’ s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, New Jersey 2006. Zu Imagination als »cognitive faculty« (S. 10) des inneren Menschen vgl. ausführlich Karnes 2011. Die › inneren Augen ‹ behandelt mit weiteren Literaturangaben David Ganz: Oculus interior. Orte der inneren Schau in mittelalterlichen Visionsdarstellungen, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. v. Katharina Philipowski u. Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 113 - 144. 286 IV Innere Häuser: Selbstformung und -figuration durch Andacht und Gebet <?page no="287"?> als charakteristisch gelten, die »the external into the medium for the evocation and production of the internal, and the internal into a medium for the experiential intensity of the external« macht. 16 In Fukuyamas Großnarrativ der Identitätswerdung fehlen diese vielfältigen, christlichreligiös geprägten Auffassungen und Praktiken des geistigen und geistlichen Umgangs mit sich selbst, die im immanentesten Eigenen nach der Begegnung mit der Transzendenz, also dem inkommensurabel Anderen suchten. Dies erstaunt wenig, stehen derlei vormoderne Innerlichkeitskonzepte mitunter doch geradezu konträr zu den Entwicklungslinien eines expressiven modernen Identitätsbegriffs, auf dessen Kritik Fukuyama abzielt. Folgend nun gerät ein Auswahlkorpus geistlicher Texte in den Blick, in denen die Vorstellung des menschlichen Inneren als Schauplatz der (vielfach sinnlich und erfahrungshaft vorgestellten) Gottesbegegnung verbunden wird mit der Aufforderung und Anweisung zur Innenkehr und bessernden Selbsttransformation. Dazu entfalten diese Schriften ein ebenso prägnantes wie traditionsreiches Bild: das innere Gebäude, das im und aus dem Herzen, der Seele oder dem Gewissen des christlichen Menschen in mühevoller geistiger Bautätigkeit errichtet, ausgestattet und aufrechterhalten werden soll. Je nach Spielart können sich solche Projekte der Seelenarchitektur dabei eher als paideutisch orientierte und mnemotechnisch operationalisierbare Tugendallegorien, als auf religiöse Perfektion zielende Instrumente der Selbstfiguration in der Frömmigkeitspraxis oder als die selbstreflexive Innenschau erleichternde Psychogramme gestalten. Stets aber zielen sie schlussendlich darauf ab, das Innere des Menschen durch Kontemplation, Meditation und Gebet so zu formen, dass es bereit sei für die Möglichkeit einer gnadenhaften Einwohnung Gottes, die auf eine letzthinnige Abkehr des Menschen von sich selbst in der unio vorwegweist. Der Anfang eines vielverbreiteten Kommuniongebets aus dem 15. Jahrhundert illustriert, wie sehr sich die Implikationen dieses Innerlichkeitsbildes abgrenzen von jenen Ideen eines als stets vorgängig gedachten und nach Verwirklichung strebenden › wahren Selbst ‹ , die Fukuyama an der Wurzel gegenwärtiger Identitätsdiskurse lokalisiert. Das in Texten wie diesem aufgeworfene architektonische Verständnis des homo interior kann zugespitzt verstanden werden als transzendent orientiertes und stets gnadenbedürftiges, dabei aber doch innerhalb der Grenzen menschlicher Möglichkeiten dynamisches und auf ethisch eigenverantwortete Selbstformung abhebendes Gegenbild zur »affirmation of inner identity« der Spätmoderne und ihrer Annahme, »that human happiness depended on the liberation of that self from social constraint«: 17 Herr Jhesu Criste ich glaub, das ich dich waren got und mensch enpfangen hab, d[o]ch laider in die unberaiten wüsten herberg meins wilden hertzen und meiner sündigen sel. Ich danck dir, milter suser got, deiner unmessigen mynne, deiner untzellichen gnaden und deiner