Vielsprachigkeit der Sprache
Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen
0526
2025
978-3-7720-5793-9
978-3-7720-8793-6
A. Francke Verlag
Anja Burghardthttps://orcid.org/0000-0001-5215-9599
Eva Hausbacherhttps://orcid.org/0000-0003-2315-6908
10.24053/9783772057939
Das Forschungsfeld "Literatur und Mehrsprachigkeit" hat in den letzten Jahren auch in der Slavistik einen beachtlichen Aufschwung erfahren, wobei der Fokus der Forschung weg von sprachbiographischen und soziolinguistischen Fragen hin zu den Dynamiken (mehr-)sprachlicher textueller Verfahren gelenkt wurde.
Der Band untersucht historische und gegenwärtige Phänomene von Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen. Er spannt einen breiten Bogen durch die slavischen Sprachen und Literaturen über Jahrhunderte hinweg, um damit die Vielfalt der Formen und Funktionen von Vielsprachigkeit zur Darstellung zu bringen. Dabei werden sowohl theoretische Fragen verhandelt, wie etwa die Verbindung von Mehrsprachigkeit mit Konzepten der Übersetzung, als auch konkrete Textphänomene wie Code-Switching oder Sprachecho analysiert und deren Funktionen und Wirkungseffekte bestimmt.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8793-6 L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M www.narr.de Das Forschungsfeld „Literatur und Mehrsprachigkeit“ hat in den letzten Jahren auch in der Slavistik einen beachtlichen Aufschwung erfahren, wobei der Fokus der Forschung weg von sprachbiographischen und soziolinguistischen Fragen hin zu den Dynamiken (mehr-)sprachlicher textueller Verfahren gelenkt wurde. Der Band untersucht historische und gegenwärtige Phänomene von Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen. Er spannt einen breiten Bogen durch die slavischen Sprachen und Literaturen über Jahrhunderte hinweg, um damit die Vielfalt der Formen und Funktionen von Vielsprachigkeit zur Darstellung zu bringen. Dabei werden sowohl theoretische Fragen verhandelt, wie etwa die Verbindung von Mehrsprachigkeit mit Konzepten der Übersetzung, als auch konkrete Textphänomene wie Code-Switching oder Sprachecho analysiert und deren Funktionen und Wirkungseffekte bestimmt. Burghardt Hausbacher (Hrsg.) Vielsprachigkeit der Sprache Vielsprachigkeit der Sprache Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen Anja Burghardt • Eva Hausbacher (Hrsg.) <?page no="1"?> Vielsprachigkeit der Sprache <?page no="2"?> Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Genova) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 7 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism <?page no="3"?> Anja Burghardt / Eva Hausbacher (Hrsg.) Vielsprachigkeit der Sprache Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057939 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8793-6 (Print) ISBN 978-3-7720-5793-9 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0254-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 I. 35 57 79 107 II. 141 163 191 215 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuere Forschungsperspektiven Eva Hausbacher Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt. Mehrsprachigkeit in der deutsch-russischen Gegenwartsliteratur und ihre psychoanalytische Erschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natalia Blum-Barth Sprachwechsel und Literatur. Versuch einer Typologie anhand von Autoren mit slavischer Sprach(en)herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilja Kukuj Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art. Die Zeitschrift Double von Rea-Nikonova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Finkelstein „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung Zeitgenössische Positionen Weertje Willms ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘. Zur belarusischen Autorin Volha Hapeyeva Mariya Donska „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“. Textinterne Mehrsprachigkeit in der zeitgenössischen ukrainischen Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Leben Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur . . . . . Ivana Pajić Polyphonie und Dialogizität. Ausgewählte Romane deutschschreibender Autorinnen mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> III. 239 263 289 313 341 375 Historische Dimensionen Christian Prunitsch Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Förster Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit. Bilinguale Literatur, Philosophie und Übersetzung in der Slowakei der 1990er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bisera Dakova Sprache in der Sprache? Über das fremdartige Lexikon der bulgarischen Symbolisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Kim „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ Individuelle Mehrsprachigkeit in tschechischen und österreichisch-deutschen Dramen des frühen 19.-Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anja Burghardt „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“. Cyprian Norwids Fragment über Wort und Buchstabe und die Vielsprachigkeit in der polnischen Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Einen kompakten, sprachbzw. kulturraumübergreifenden Überblick über historische Dimensionen literarischer Mehrsprachigkeit vermittelt der Handbuch-Beitrag von Primus-Heinz Kucher und Simona Bartoli Kucher (2024); vgl. auch die Beiträge im dritten Teil zu historischen Perspektiven auf Mehrsprachigkeit in diesem Handbuch (251-339). Einleitung „Wozu ist eine kleine Sprache gut, hat sie mich einmal provoziert. Da habe ich sie gefragt, wie viele Sprachen sie spricht. Eine, hat sie gesagt. Was machst du, wenn du das Deutsche vergisst, dann kannst du nur noch bellen, habe ich ihr gesagt. Das hat sie aber nicht komisch gefunden, die Nadine.“ (Maja Haderlap, Nachtfrauen, Berlin: Suhrkamp 2024, 131.) 1. Der Charme der Mehrsprachigkeit Zwei Phänomene durchziehen die aktuellen Diskussionen um Mehr- und Vielsprachigkeit: ihre Alltäglichkeit und das Spielerische. Fraglos ist die Viel‐ sprachigkeit ein Phänomen, das - legendär seit dem Turmbau zu Babel, und in diesem Sinne: - „seit jeher“ besteht. 1 Gelebte Mehrsprachigkeit, linguistische Forschung und literarische Vielsprachigkeit, die der vorliegende Band in den Mittelpunkt stellt, wirken hier zusammen. Bereits seit den 1980er-Jahren in akademische Kontexte eingegangen, ist in den letzten Jahren das Interesse stetig gewachsen, was sich mittlerweile in etlichen Sammelbänden, verschiedenen Handbüchern, Sondernummern in Reihen und Serien und mit der Gründung des Journal of Literary Multilingualism seit 2023 nun auch in einer eigenen Zeitschrift niederschlägt. Monika Schmitz-Emans (2004) verdeutlicht nicht nur, dass mehrsprachige Texte explizit oder implizit „auf die Vielheit der Sprachen und auf Sprachgrenzen hinweisen“, sondern konstatiert eine wesentliche Vor‐ aussetzung dafür, dass Vielsprachigkeit literarisch genutz wird: Die Vielheit der Sprachen muss als Problem bewusst sein, ohne so belastend zu sein, dass sich ein ästhetisches Spiel mit Sprachgrenzen verbietet, es gibt also die „Notwendigkeit, <?page no="8"?> 2 Die Kreativität der Mehrsprachigkeit unterstreicht beispielsweise Bürger-Koftis 2010; die Beiträge in dem von Áine McMurtry, Barbara Siller und Sandra Vlasta herausgege‐ benen Band Mehrsprachigkeit in der Literatur (2023) betonen das kreativ-spielerische Potenzial mehrsprachiger Texte zur Erneuerung literarischer Formen. über den Sprachgrenzen zu stehen, um sie spielereisch behandeln zu können“ (22). Ihr Charme: das Spielerische. Das ist sicher eine unzulängliche Verkürzung - dennoch möchten wir behaupten, dass auch in der Loslösung von bestehenden Regeln, die sich in dem Moment eröffnen, in dem man die eine Sprache (als ein System grammatischer Regeln mit einem mehr oder minder festgelegten Vokabular) verlässt, ein Raum für Kreativität eröffnet, 2 der einen unglaublichen Assoziationsreichtum in sich birgt. Ob das Klänge, Sprachbilder und Assozi‐ ationsräume, Text- oder Kulturbezüge sind, Alphabete, Schreibweisen oder literarische Gattungen: das Verlassen der einen Sprache (des einen Kulturraums) eröffnet Neues. Der rumäniendeutsche Dichter Oskar Pastior lässt die Gedichte in seinem autopoetischen Text „Pust, Mattasch, Kradder, Squårp - Gemenge‐ lagen“ (2007) darauf basieren: Warum nicht einmal, sagte ich mir, bedenkenlos […] diese eingefahrene und, weil man doch mehr im Kopf hat, immer auch zensierende literarische Einsprachigkeit einfach lyrisch beiseiteschieben und alle biographisch angeschwemmten Brocken und Kenntnisse anderer Sprachen, und seien es nur Spurenelemente, quasi gleichzeitig herauslassen? Konkret […]: die siebenbürgisch-sächsische Mundart der Großeltern; das leicht ar‐ chaische Neuhochdeutsch der Eltern; das Rumänisch der Straße und der Behörden; ein bissel Ungarisch; primitives Lagerrussisch; Reste von Schullatein, Pharmagriechisch, Uni-Mittel- und Althochdeutsch; angelesenes Französisch, Englisch … […]. Einmalige kleine Sprechsysteme, also keine. (Pastior 2007: 128 f.) Die Freiräume, die sich daraus ergeben, können - manche Beiträge in diesem Band machen das explizit - für Kritik genutzt werden (aktuell etwa: an einem russischen Imperialismus), sie sind Grundlage von Verfremdungen oder dienen der Suche nach verborgenen Seiten der eigenen Biographie. Doch auch über das literarisch-kreative Moment hinaus wird Mehrsprachig‐ keit immer wieder mit Erweiterungen verbunden. Beispielsweise erzählt die Linguistin Aneta Pavlenko in einem Interview - an Wittgensteins dictum von 8 Einleitung <?page no="9"?> 3 „5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein 1922) 4 Die Verbindung zwischen Sprach- und Perspektivenwechsel heben auch Pelloni/ Vo‐ loshchuk (2023: 9) hervor. Sie verweisen auf die „neue Schreibperspektive, die auch ästhetische und identitätsstiftende Folgen hat“ (12), wie sie sich aus dem Übergang zu einer anderen Sprache ergibt. Die Beiträge in dem von ihnen herausgegebenen Band verfolgen also mit der Frage, inwiefern durch sprachliche Grenzüberschreitungen neue Schreibweisen entwickelt werden können, auch die Suche, ob durch den Übergang in eine andere Sprache ein Wechsel bzw. eine Überlappung der Perspektiven stattfindet. 5 Stefanie Kara/ Stefan Schmitt „Damit wir uns richtig verstehen“, Zeit Online, 26. Juni 2020, zitiert nach Olga Grjasnowa, Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt. Berlin: Dudenverlag 2021, 15. den Sprachen als Grenzen der eigenen Welt 3 erinnernd - von der Erweiterung der Perspektiven 4 : Meine Sprachen bewahren mich vor der Selbstgefälligkeit, zu denken, meine Weltan‐ schauung sei die einzige und unfehlbar. Sie helfen mir, den Grenzen meiner eigenen Welt zu entkommen. 5 Nicht nur der Blick auf die Welt erweitert sich, sondern auch der auf das eigene Ich, wie Olga Grjasnowa meint: Ich selbst habe manchmal das Gefühl, in jeder Sprache eine andere Persönlichkeit zu haben. Auf Russisch bin ich witziger, auf Deutsch aufgeräumter, womöglich sogar sachlicher, und auf Englisch zwar eingeschränkt in meinen Ausdruckmitteln, aber viel freier und entspannter, weil es kein Kampf war, die Sprache zu lernen, und weil mir niemand meine Fehler vorhält. (Grjasnowa 2021, 15) Spätestens im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten von Globalisierung und Migration geprägten Jahrzehnte ist deutlich geworden, dass Einsprachigkeit von Regionen und Territorien eine Fiktion darstellt: Viele Autor: innen sind mehrsprachig sozialisiert, viele wählen aufgrund eines Kul‐ turwechsels auch eine neue Sprache für ihr Schreiben. In der Beschäftigung mit diesen Phänomenen zeichnet sich ab, dass die über Jahrhunderte gültige Einsprachigkeitsnorm der national bestimmten Philologien als „Erfindung“ bzw. als ideologisch besetztes Konstrukt betrachtet werden muss. Nicht zuletzt ist es mit dem Konzept der „Muttersprache“ verbunden, wie es durch Denker wie Herder, Humboldt und Schleiermacher propagiert worden ist. Häufig ist Muttersprache mit deren „Reinheit“ verbunden worden, also davon geprägt, dass sie von jeglichem Einfluss einer Fremdsprache als kulturell Anderem bewahrt werden müsse. Einleitung 9 <?page no="10"?> 6 Dembeck (2017) verweist auf die „Neue Weltliteratur“ im Zusammenhang mit einer Subversion von Muttersprachigkeit: subalterne Sprachigkeit, sprachliche Hybridität und ähnliche Phänomene lassen sich so erfassen (143). Hier zeichnen sich das ästheti‐ sche und kulturpolitische Potential der Vielsprachigkeit deutlich ab. Dabei ist die Einsprachigkeit nicht „natürlich“, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt, das historische und gegenwärtige Machtstrukturen widerspiegelt und auch zu ihrer Erhaltung beiträgt. Einsprachigkeit als Norm dient letztlich dazu, eine bestimmte gesellschaftliche Normalität zu etablieren und aufrecht‐ zuerhalten (Grajsnowa 2021: 63). Wie Pierre Bourdieu konstatiert, führte die Durchsetzung einer einzigen „offiziellen“ Sprache dazu, dass alle anderen Varietäten und Dialekte sich an dieser einzig richtigen, offiziellen oder eben nationalen Sprache messen lassen müssen (siehe Dirim/ Mecherli 2018: 217). Mehrsprachigkeit ist Grjasnowa zufolge weder ein Privileg noch ein Problem; vielmehr sieht sie sie als Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation. Die Beherrschung einer Sprache, die Ausdrucksweise eines Menschen sind voller Probleme und Missverständnisse. Aber genau das ist auch die Grundlage der Literatur (Grjasnowa 2021: 122). Mit Daniel Weidner (2007) lässt sich das weiterwenden: In Schleiermachers Hermeneutik des Neuen Testaments „taucht auch die zunächst verworfene Anderssprachigkeit wieder auf als das, was die Hermeneutik zugleich in Frage stellt und sie antreibt.“ (247) - Vielsprachigkeit tritt so ins Zentrum des steten Deutens und der Verstehensversuche, die prägend sind für Kommunikation. Ähnlich konstatiert Bettine Menke (2020) deren Alltäglichkeit und führt sie mit der Vielseitigkeit des „Babellonischen“ zusammen. Unter der Perspektive der Vielsprachigkeit der Sprache werden sowohl homogen-geschlossene Vor‐ stellungen von Sprache als auch tradierte Modelle des Übersetzens in Frage gestellt. „Denn die inhärente Sprach-vielheit ist nicht übersetzbar, weil jede traditionelle Übersetzung in eine Sprache sie löschen würde.“ (o.S.) Nicht erst heute sei eine solche Perspektive dringlich, für die Schmitz-Emans (2004) als „freundlichere“ Bezeichnung den „Terminus ›Weltliteratur‹“ vorschlägt (23). 6 Der vorliegende Band schreibt sich ein in eine neue „Philologie der Mehr‐ sprachigkeit“. Diese betont die Vielsprachigkeit von Regionen, Individuen und Sprachen; sie spiegelt die Pluralität unserer Gesellschaft und unterstreicht das kreative und ästhetische Potential, das mehrsprachige Literatur hervorbringt. Roger Willemsen, der am Anfang seiner Karriere als Übersetzer arbeitete, bringt den ganzen Charme der Mehrsprachigkeit wunderbar auf den Punkt, wenn er schreibt: „Eine der letzten romantischen Sachen in dieser Welt ist wohl wirklich die Vielsprachigkeit. Sie ist so liebenswert umständlich, zwingt uns in unpraktische Prozeduren, macht uns auf einen Schlag von weltläufigen, 10 Einleitung <?page no="11"?> 7 Tobias Haberl, „Lost in Translation“, Süddeutsche Zeitung Magazin, 27/ 2020, 2. Juli 2020, zitiert nach Grjasnowa 2021, 116. Allgemein zu Vielsprachigkeit und Übersetzung vgl. beispielsweise Baschera et al. 2019; Makarska 2013 oder die Beiträge bei Strutz/ Zima 1996. 8 In der deutschsprachigen Forschung ist insgesamt der Terminus der Mehrsprachigkeit gängiger als der der Vielsprachigkeit. Daraus ergibt sich (insbesondere im Fall von Zitaten und Titeln) eine Mischung der beiden Termini. Sofern möglich, spezifizieren wir, sofern sinnvoll und korrekt verwenden wir vorrangig Vielsprachigkeit. selbstbewussten Individuen zu kindlich agierenden, imbezilen Stammlern, die sich mit primitiven Gesten und blödsinniger Schauspielerei zu verständigen suchen.“ 7 2. Terminologisches: Mehrsprachigkeit - Vielsprachigkeit - Einsprachigkeit „[D]ie Vielsprachigkeit beinhaltet nicht ein Nebeneinander oder die Kenntnis mehrerer Sprachen, sondern die Gegenwart aller Spra‐ chen der Welt in der Praxis der eigenen; dies bezeichne ich als Vielsprachigkeit.“ (Édouard Glissant: Kultur und Identität, Heidelberg: Wunderhorn 2005, 31.) Grundsätzlich stellt die Forschung zur Mehrbzw. Vielsprachigkeit 8 die natio‐ nalsprachliche und monolinguale Determinierung von Sprache und Literatur in Frage (vgl. z. B. Dembeck 2014: 16; Taylor-Batty & Dembeck 2023: 11). Die Begrifflichkeit dafür variiert jedoch. 2.1 Mehrsprachigkeit - Vielsprachigkeit Wie unklar die Termini nach wie vor sind (und das trotz der mittlerweile publizierten Handbücher und vorgeschlagenen Typologien) zeigt sich bei Taylor-Batty & Dembeck (2023). Nicht zuletzt hängt das auch mit den unter‐ schiedlichen Akzenten zusammen, die Sprach- und Literaturwissenschaft in der Auseinandersetzung mit Vielsprachigkeit setzen; die Vielzahl an Sprachen, in denen die Forschung zur Vielsprachigkeit verfasst ist, kommt hinzu, wie an der Diskussion von multilingualism vs. translingualism deutlich wird: Wenn auch eine strikte Trennung immer wieder schwer möglich ist, bezeichnen Taylor-Batty & Dembeck (2023: 10) text-orientierte Ansätze als Vielsprachigkeit Einleitung 11 <?page no="12"?> 9 Unter das übergeordnete Konzept des Sprachpluralismus fasst Roelcke gesellschaft‐ liche Vielsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit und individuellen Sprachenerwerb (20). Für den vorliegenden Band ist das nicht unmittelbar relevant. (multilingualism), solche Ansätze, die einen Fokus auf die Textproduktion legen als Translingualismus (translingualism). Letzterer ist in der Linguistik mit ihrem Fokus auf den Sprechenden präsenter, Vielsprachigkeit hingegen wendet sich der ästhetischen Singularität, wenn nicht dem Ausnahmestatus von Einzeltexten zu (vgl. 11). Mit der vorrangigen Verankerung in der Sprach‐ wissenschaft lassen wir im Folgenden den Terminus des Translingualismus weitgehend beiseite. Etwas anders gelagert ist die - linguistisch fundierte - Terminologie von Thorsten Roelcke (2022). Er unterscheidet Vielsprachigkeit (engl: multilingua‐ lism) von Mehrsprachigkeit (im engeren Sinne; engl.: plurilingualism). Mehrspra‐ chigkeit wird in der Regel für einzelne Personen verwendet, während diejenige von Gesellschaften als Vielsprachigkeit bezeichnet wird (6). Vielsprachigkeit innerhalb einer Gesellschaft betrifft den Gebrauch sowohl von verschiedenen Einzelsprachen als auch von verschiedenen Sprachvarietäten; dementsprechend besteht Vielsprachigkeit so gut wie immer und überall (ibid.). Die Gegenüber‐ stellung von Einzelsprachen und Sprachvarietäten fasst Roelcke terminologisch mit innerer vs. äußerer Vielsprachigkeit. Während äußere Vielsprachigkeit im Gebrauch verschiedener Einzelsprachen innerhalb einer Gesellschaft besteht (6), basiert innere Vielsprachigkeit auf dem Gebrauch verschiedener Sprach‐ varietäten innerhalb einer Gesellschaft (10). Die Grenzen zwischen beiden sind fließend (ibid.). Analog unterscheidet er die Verwendung von verschie‐ denen Einzelsprachen durch einzelne Personen (auch als ,Zweisprachigkeit‘ oder ,Bilingualismus‘ bezeichnet) als äußerer Mehrsprachigkeit gegenüber dem Gebrauch unterschiedlicher Varietäten als innere Mehrsprachigkeit (11 f.). Der von Roelcke betonte enge Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Vielsprachigkeit und individueller Mehrsprachigkeit weist bereits auf die in‐ nerhalb der Vielsprachigkeitsforschung häufig thematisierten kulturellen und gesellschaftspolitischen Aspekte derselben hin, die er als Fragen der Teilhabe ak‐ zentuiert und unter dem Stichwort des Sprachpluralismus zusammenfasst (vgl. 20). 9 Denn die positive Bewertung von Mehrsprachigkeit, als deren Grundlagen die Erweiterung von Kommunikationskompetenz und kognitiven Ressourcen mittlerweile als ein „Bildungsziel“ (Dittmann/ Gibalk/ Witt 2015) in den Blick gerückt sind, hat erst in den letzten Jahrzehnten die kritische Beurteilung von Mehrsprachigkeit (als Grundlagen dafür galten der erhöhte Lernaufwand, Entwicklung von Sprachgefühl und die Entstehung von sprachlichen Barrieren) 12 Einleitung <?page no="13"?> 10 Diesen Topos der Mehrsprachigkeit als Mühsal greifen beispielsweise Maaß/ Schader (2002) mit dem Titel ihres Bandes auf. 11 Naguschewski (2007) verweist auf diesen Ursprung mit dem Zurückgehen der Diglossie zwischen dem Lateinischen und der jeweiligen „Sprache der Herkunft“ (87). zurückgedrängt (vgl. 11). An diesem Wandel zeigt sich anschaulich die Interde‐ pendenz von kollektiver Viel- und individueller Mehrsprachigkeit. 10 Weil es hier nicht um die (sprachliche Verfasstheit) von Gesellschaften oder Individuen, sondern von literarischen Texten geht, erfolgt eine andere Akzentuierung in der Verwendung von Mehr- und Vielsprachigkeit, bei der auf Roelckes Differenzierung von „inneren“ und „äußeren“ Formen verzichtet und sein Modell folgendermaßen adaptiert wird: Mehrsprachigkeit bezeichnet verschiedene Einzelsprachen, wohingegen Vielsprachigkeit wesentlich weiter gefasst ein Vorhandensein unterschiedlicher Sprachen und Varietäten meint. 2.2 Vielsprachigkeit - Einsprachigkeit Ein Begriff, der in den letzten Jahren in der Vielsprachigkeitsforschung in die Kritik geraten ist, ist die ,Muttersprache‘. Roelcke führt ihn als einen veralteten Terminus an (17), Yildiz (2012) kritisiert v. a. die patriarchalen Konnotationen; Hitzke (2019) bezieht neben der romantischen Kristevas psychoanalytische Lesart kritisch mit ein. Diesen - zurecht als fragwürdig kritisierten - Begriffs‐ traditionen lässt sich andererseits entgegenstellen, dass das Konzept in Europa eine weit ältere Tradition hat, nämlich aus dem ausgehenden Mittelalter stammt, wo die jeweils eigenen Sprachen in Abgrenzung gegen das Lateinische damit bezeichnet wurden. 11 Karl-Markus Gauss plädiert in einer Kolumne in der SZ für ein Beibehalten der Bezeichnung, weil damit ein auf emotionalen Bindungen be‐ ruhendes Sprachverständnis unterstrichen werde, das er gegen die Verkürzung von Sprache auf reinen Informationsaustausch ebenso wie deren Betrachtung allein unter ökonomischen Gesichtspunkten abgrenzt: Es spricht also einiges dagegen, jene Sprache, die keiner erwerben muss, weil jeder in sie hineinwächst, weiterhin „Muttersprache“ zu nennen. Und doch geht, wenn dieses Wort herzlos zum ideologischen Sprachgerümpel geworfen wird, mit der Gestalt der Mutter etwas verloren, nämlich der Mensch. […] Die Sprache ist mehr als der digitale Code, auf den Zuckerberg sie reduzieren, und etwas anderes als die technologische Ware, mit der Musk Profit erwirtschaften möchte. Und wer die „Muttersprache“ von gestern künftig durch die „Erstsprache“ ersetzt, wie das neuerdings die Linguistik empfiehlt, der bringt (sic! ) das fundamentale Verhältnis des Einzelnen zu einer Sprache auf das Zählsystem herunter.“ (Gauss 2022) Einleitung 13 <?page no="14"?> 12 In dem Dokumentarfilm Translating Ulysses (Niederlande, Türkei 2023, Regie: Firat Yucel, Aylin Kuryel) zur Übersetzung von James Joyces Roman ins Kurdische thema‐ tisiert der Übersetzer die Schwierigkeiten, denen er sich gegenübersieht: Mangels Wörterbüchern des Kurdischen sei er ständig darauf angewiesen, andere (in seinem Fall: meist die eigene Mutter) nach ihrer Sprachverwendung zu fragen. Wesentlicher Teil der Arbeit war das listenweise Notieren von Wörtern und Wendungen. Die Übersetzung ausgerechnet von Ulysses bedeutete für ihn insofern sehr viel, als der Text mit der Notwendigkeit von Wortschöpfungen einerseits das Vokabular des Kurdischen bereicherte, andererseits Autor: innen dazu einlädt, kreativ mit der Sprache umzugehen. 13 Der polnische Autor Józef Wittlin bringt das in seinem Roman Das Salz der Erde humorvoll auf den Punkt: Ganz im Osten Galiziens, an der Grenze zwischen der Habsburger Monarchie und dem russischen Zarenreich gibt es eine Tafel, „Achtung auf den Zug! “, geschrieben auf Polnisch, Ukrainisch, Deutsch und Rumänisch (Wittlin 2022, 140). Doch die vielen Analphabeten wird das nicht vor dem Tod bewahren (vgl. die Passage über die Hinterhältigkeit des Teufels seit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks: 138-141). 14 Zur Affektivität im Kontext von Mehrsprachigkeit vgl. beispielsweise auch die Beiträge bei Marion Acker et al. 2019. In historischer Dimension ist auch daran zu erinnern, dass die Einsprachigkeit durchaus eine Errungenschaft darstellen kann (bzw. dargestellt hat): Eine Sprachgemeinschaft bedarf für die Ausbildung einer Sprache, die nach Möglich‐ keit alle Lebensbereiche abdeckt, eine Kodifizierung - und die wird einsprachig vorgenommen. Natürlich gibt es Lehnwörter, die Teil dieser Sprache sind, Lehnübersetzungen, teilweise auch Entlehnungen grammatischer Strukturen etc. und all das lässt sich als Grund dafür anführen, dass im Grunde keine Sprache einsprachig ist (wie z. B. Schmitz-Emans 2004 betont). Aber Sprachen können sich als solche in der Regel nur etablieren und erhalten, wenn sie eine gewisse Einheit(lichkeit) aufweisen. 12 Insbesondere Bildung kann sich der Einsprachigkeit (bzw. einer Mehrsprachigkeit, die sich am monolingualen Paradigma orientiert) vermutlich nicht gänzlich entziehen. 13 Dass Fragen von Vielvs. Einsprachigkeit komplex sind, verdeutlicht die Bandbreite an Funk‐ tionen von Sprache, von denen Dirk Naguschewski (2007) aus afrikanischen Diskussionen um die Literatursprache(n) einige maßgebliche benennt: Sprache hat eine unmittelbar kommunikative Funktion, sie verleiht „den Partikularitäten von Kulturen Ausdruck“ (93), die sie zudem (mündlich oder schriftlich) bewahrt. Er verweist darüber hinaus auf den symbolischen Wert, der eng mit dem eigenen Identitätsverständnis verbunden ist und z. B. mit einem bestimmten Prestige einhergeht. Schließlich gibt es eine affektive Nähe zur eigenen Sprache, die Naguschewski für den von ihm näher betrachteten sengalesischen Autor Diop anführt, nämlich die jeder Sprache eigenen Tönen, ihre Melodie (ibid.). 14 Mit Blick auf Literatur kommen dann auch Aspekte der Verbreitung und Ökonomie ins Spiel, auf die Naguschewski immer wieder hinweist. 14 Einleitung <?page no="15"?> 15 Vgl. beispielsweise Snježana Kordić 2013 für die Sprachenpolitik in Jugoslawien, für den gegenwärtigen Status des Serbokroatischen 239 f. 16 Der Text ist auf der Plattform „Jezici i nacjonalizmi“ (Sprachen und Nationalismen) publiziert, die u. a. zudem Berichte über die der Deklaration vorangegangenen Tagungen enthält: https: / / jezicinacionalizmi.com/ deklaracija/ (Stand: 5.4.2024) Einschätzungen des Einsprachigkeitsparadigmas bedürfen also einer histo‐ rischen und kulturellen Kontextualisierung. Gegenwärtig (und hinsichtlich des vorliegenden Bandes) erweist es sich als fragwürdig - besonders eklatant im Fall Russlands, das (wie Mariya Donska in ihrem Beitrag ausführt) imperial mit der Unterdrückung des Ukrainischen die Vernichtung der ukrainischen Kultur verknüpft. Die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens wie‐ derum zeigen, dass umgekehrt ein (künstliches) Auseinander-Dividieren des Serbokroatischen in das Bosnische, Kroatische, Montenegrinische und Serbi‐ sche zu einer fragwürdigen nationalistischen Politisierung führen kann. 15 2017 wurde die „Deklaration zur gemeinsamen Sprache“, die mittlerweile von meh‐ reren Tausend Personen, darunter etliche Intellektuelle und Künstler: innen, unterzeichnet worden ist, publiziert; 16 das Serbokroatische wird hier als eine (plurizentrische) Sprache etabliert, Wie komplex das Einsprachigkeitspara‐ digma und die Vielsprachigkeit sind, klingt bei Taylor-Batty & Dembeck 2023 an: Ganz lässt sich das Einsprachigkeits-Paradigma nicht überwinden. Denn eine Institutionalisierung (angefangen vom Schulunterricht über das Theater, das Zeitungs- und Verlagswesen, bis hin zu den Neuphilologien u. a. akademi‐ schen Disziplinen) bleibt bestehen. Beispielsweise braucht die Literaturwis‐ senschaft für ein Verständnis literaturgeschichtlicher Entwicklungen gewisse Orientierungen, die wiederum einen durchaus sinnvollen Hintergrund für das Verständnis einzelner literarischer Werke bilden. In diesem Sinne ist das „post-monolinguale“ Paradigma wohl am besten analog zum „post-modernen“ zu verstehen, dass nämlich vom Monolingualen immer etwas mitschwingen wird. Um so facettenreicher kann vor seinem Hintergrund der ganze Charme der Vielsprachigkeit hervortreten. Einleitung 15 <?page no="16"?> 17 Dem nähern sich Cornejo/ Lénárt (2024) an mit ihrer Betonung der Vielfalt von Mehrsprachigkeit, die sie als ,Texteffekt‘ mit unterschiedlicher Intensität in vielen Formen und Funktionen ansehen, und daher als ein ‚Textdispositiv‘ bezeichnen, das die poetische Architektur des literarischen Textes mitgestaltet (8). 18 Fragen der Sprachwahl beleuchtet beispielsweise Kremnitz 1995. 19 Zemanek/ Willms (2014) erfassen ebenfalls solche Texte evidenter Mehrsprachigkeit, in denen eine Sprache dominant ist und sich fremdsprachige (oder auch dialektale) Einsprengsel finden; hier bleibe die Integrität der beiden Sprachen bestehen. Sie nennen daneben aber auch Beispiele, in denen keine der beiden Sprachen dominant sei, es finden sich Beispiele von einer Sprachmischung, bei der die sprachliche Integrität verlorengehe, was bis zur Schaffung neuer (Kunst-)Sprachen durch Sprachmischung führe, wie beispielsweise in manchen Gedichten des russischen Avantgardisten Velimir Chlebnikov (vgl. 2 f.). 3. Literarische Mehr- und Vielsprachigkeit „Wir sind Schriftsteller*innen, wir kommu‐ nizieren immer in etwas anderem als in Nationalsprachen.“ (Sasha Marianna Salzmann, Gleichzeit, Berlin: Suhrkamp 2024, 119.) Wie Roelcke unterscheidet auch Monika Schmitz-Emans (2004) der Sache nach zwischen vielsprachigen Kollektiven (Nationen, Staaten, Regionen und Kulturen) und mehrsprachigen Individuen. Sie macht diese Differenz für ein „weites Panorma an Phänomenen literarischer Mehrsprachigkeit“ (13) fruchtbar. 17 Mit Blick auf die Literatur vielsprachiger Kulturen verweist sie darauf, dass monolinguale Nationalliteraturen allenfalls eine pragmatisch zu rechtfertigende Fiktion seien (11), ehe sie mehrsprachige literarische Werke und das Schreiben mehrsprachiger Autor: innen in den Blick nimmt. Hier sei zwischen solchen Autor: innen zu unterscheiden, die bedingt durch ihre Lebensgeschichte nacheinander in verschiedenen Sprachen schreiben, und solchen, die über längere Zeit oder stets zwischen den Sprachen wechseln (vgl. 11). Das „Dazwischen-Stehen“ könne dabei als produktive Chance ebenso wie als Belastung empfunden werden (vgl. 13). 18 Wie Blum-Barth (2019) anmerkt, führt die Mehrsprachigkeit von Autor: innen allerdings nicht nowendig zu einer Mehrsprachigkeit ihrer Texte (13). Für die Texte entwirft Schmitz-Emans typologische Spielformen: eine Mi‐ schung aus Elementen konventioneller Sprachen unterscheidet sie von solchen, in denen Kunst- und Phantasiesprachen das Ensemble der bekannten Sprachen erweitern. 19 Till Dembeck nimmt das in seiner Darlegung von Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit mit der Gegenüberstellung von Sprachwechsel 16 Einleitung <?page no="17"?> 20 Visuelle Dimensionen der Mehr- und Vielsprachigkeit sind in der Forschung bislang als Phänomene der Mehrschriftlichkeit verhandelt (vgl. u. a. Schmitz-Emans 2004, Dembeck/ Parr 2017). Ulrich Ernst (2004) zeichnet die transgressive Ästhetik bi- und multilingualer Strukturen visueller Poesie von der Antike bis zur Gegenwart nach. Der Terminus der ‚visuellen Mehrsprachigkeit‘ fehlt in der literaturwissenschaftlichen Forschung weitgehend, wird aber in der Linguistik verwendet, beispielsweise um die Präsenz mehrere Sprachen im Stadtbild von Metropolen zu benennen (Mühlan-Meyer/ Lützenkirchen 2017). vs. Sprachmischung ähnlich vor. Während beim Sprachwechsel ein Umschalten zwischen unterschiedlichen Idiomen gegeben ist, zeichnet sich die Sprachmi‐ schung dadurch aus, dass ein neues Idiom entsteht, das sich der Elemente mindestens zweier verschiedener Idiome bedient. Es handelt sich bei den beiden Termini also um die literarischen Analogien zu Code-Switching (Sprach‐ wechsel) vs. Kontaktsprachen (Sprachmischung). In Aleksandr Puškins Evgenij Onegin (1830) ist demnach ein Sprachwechsel durch das Einfügen französischer Wörter gegeben; zudem gibt es hier insofern eine Sprachmischung, als Puškin in diesem „Roman in Versen“ getrennte Stillagen der russischen Sprache auflöst. Im 20. Jahrhundert sind dem gegenüber Sprachspiel und innovative Formbildung sowie verfremdende Effekte zentral, insbesondere im Futurismus, der Avant‐ gardelyrik oder auch der Konkreten Poesie. Mit der visuellen Ebene der konkreten Poesie ist eine weitere Ebene in der Typologie von Schmitz-Emans (2004) angesprochen, nämlich die Interme‐ dialität, die sie als besondere Spielart der Sprachmischungen ansieht. Allge‐ meiner: die intermediale Integration non-verbaler Sprachen (Bild-, Ton- und Körper-Sprachen), also differenter semiotischer Systeme, stellt ebenfalls eine Form der Vielsprachigkeit dar (15). Sie lenkt so die Aufmerksamkeit in der Vielsprachigkeitsforschung auf die Beziehungen einzelner Künste und Medien, etwas das in dem vorliegenden Band der Beitrag von Ilja Kukuj näher beleuchtet. Auch hier findet sich eine Parallele zu Dembecks Typologie (2017), und zwar zu seinem Konzept der ,Mehrschriftlichkeit‘, für das er zwischen einer thema‐ tisierten (oder auch erzählten) gegenüber einer „gezeigten“ Mehrschriftlichkeit differenziert. 20 Letztere beinhaltet den Einsatz von Handschrift oder spezifischer kalligraphischer Praktiken innerhalb desselben Alphabets. Über die sichtbare Kombination mehrerer Schriften hinaus betrachtet er das Zusammenspiel von Schrift und Bild als eine Form der Mehrschriftlichkeit, die mit der Popularität der Graphic Novel aktuell einen Trend zur Integration graphisch-visueller Elemente im literarischen Text erkennen lässt. Dabei lässt sich beobachten, dass ein unkonventionelles Schriftbild oft mit einem inhaltlich-thematischen Irritations-Effekt korrespondiert: Kulturdifferenzen werden so dargestellt oder Einleitung 17 <?page no="18"?> 21 Zitiert nach Schmitz-Emans 2004: 189. auch Rätsel (beispielsweise in Form kryptographischer Codes und rätselhafter Geheimschriften). Solche Formen intermedialer Vielsprachigkeit ebenso wie die historische Forschung zu Vielsprachigkeit (in dem vorliegenden Band beispielsweise mit Agnes Kims Analyse von Dramentexten auch von Unterhaltungsliteratur im 19. Jahrhundert) lassen textuell literaturwissenschaftliche, insbesondere mit Blick auf das Publikum kulturwissenschaftliche oder poietisch für das Œuvre der Schreibenden gegebene Fragen hervortreten: Wie sehr war und ist ein Aspekt der Mehrsprachigkeit, dass die mit ihr bis zu einem gewissen Grad gegebene Unverständlichkeit gelassen oder gar erfreut als Teil der literarischen Kommunikation betrachtetet wurde und wird, als Teil einer Begegnung also mit etwas mehr oder minder Fremdem, auf das überhaupt erst eine Neugier geweckt wird? In diesem Sinne dürfte mehrsprachige Literatur immer ein „translanguaging“ (Taylor-Bartty/ Dembeck 2023: 12) zelebrieren. Für Michel Butor (1996) 21 ist die Idee von der immanenten Vielsprachigkeit des jeweiligen Einzeltextes zentral, u. a. durch fremdsprachige Zitate und Über‐ setzungsprozesse, die den Anschluss an viele Sprachen gleichzeitig bedeuten. Innerhalb der Slavistik findet sich eine solche Idee bereits in Michail Bachtins Überlegungen zum neuzeitlichen Roman (vgl. Bachtin 1979: 156 f.). Nicht nur über die verschiedenen Sprechweisen einzelner Charaktere, die es Bachtin zufolge zudem mit sich bringen, dass im Roman eine große Bandbreite an Idio-, Dia- und Soziolekten aufgerufen wird, ensteht in der Integration von Gattungen aus anderen Literaturen eine Vielsprachigkeit bzw. Polyphonie. Ivana Pajić macht sich Bachtins Konzeption zunutze, um über die Polyphonie Besonder‐ heiten der Mehrsprachigkeit bei deutschsprachigen Autorinnen aufzuzeigen, die aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen. 3.1 Typologien Die bereits angeklungenen Reflexionen von Spielarten literarischer Vielspra‐ chigkeit systematisiert Natalia Blum-Barth (2019 und 2021). Mit Blick auf die Mehrsprachigkeit von Autor: innen verweist sie zunächst auf eine textexterne bzw. textübergreifende Mehrsprachigkeit, die (neben dem Sprachvermögen der Schreibenden) das Gesamtwerk, das in zwei oder mehr Sprachen vorliegt, umfasst (z. B. Vladimir Nabokov, für dessen Œuvre Selbstübersetzungen eine wichtige Rolle spielen; im Fall von Olga Martynova ist das an die Gattung gebunden, hat sie doch Lyrik auf Russisch, 22 Prosa auf Deutsch verfasst). 18 Einleitung <?page no="19"?> 22 2024 sind erstmals auch Gedichte von Martynova erschienen, die sie selbst auf Deutsch verfasst hat. Für die textinterne Mehrsprachigkeit führt Blum-Barth eine ganze Palette an Phänomenen an, die Dembeck (2017) ganz ähnlich vorschlägt: Nach Blum-Barth gibt es einerseits (1) eine manifeste Mehrsprachigkeit, die an der Oberfläche eines Textes und unmittelbar wahrnehmbar ist. Sprachwechsel innerhalb eines literarischen Textes (Nebeneinander der Sprachen durch Zitate, Figu‐ renrede, Mnemolexeme u.ä.) und Sprachmischung (Phantasiesprachen, Verball‐ hornungen, phonetische Transkription u. a.) sind hier die gängigen Formen (vgl. dazu im vorliegenden Band Agnes Kims Beitrag zur Figurenrede im deutsch-österreichischen Drama). Diese manifeste Form kann sich auch als „Mehrschriftlichkeit“ äußern, wenn sie z. B. über kyrillische oder hebräische Buchstaben sichtbar wird (vgl. zu solchen Phänomenen im vorliegenden Band die Beiträge von Eva Hausbacher und Mariya Donska). Der Umgang mit anderssprachlichen Elementen ist häufig spielerisch, etwas das in Uljana Wolfs meine schönste lengevitch besonders markant ist, sich beispielsweise auch in Olga Martynovas Gedichtzyklus Von Tschwirik und Tschwirka oder in Ilma Rakusas Love after love findet. Dem gegenüber verzeichnet Blum-Barth folgende Typen (2) einer latenten Mehrsprachigkeit, die in der Tiefenstruktur eines Textes verortet, also palimp‐ sesthaft und nicht unmittelbar wahrnehmbar ist: Unmarkierte Zitate oder Anleihen aus anderen Texten stehen hier neben „verdeckten“ Übersetzungen, Sprachlatenz und Sprachecho, es gibt also Einwirkungen auf die Grundsprache sowohl auf der lautlichen als auch auf der syntaktischen Ebene. Nicht nur erscheint Fremdsprachigkeit hier als ästhetisches Prinzip, sie durchdringt Texte vielmehr derart vielfältig, dass Monolingualität als Chimäre erscheint. Verstärkt wird das durch einen letzten Typus der Mehrsprachigkeit, die exklu‐ dierte Mehrsprachigkeit, der das eingangs mit Roelcke (2022) angeführte Ineinandgreifen individueller und politischer Dimensionen von Vielsprachigkeit abermals hervortreten lässt. Blum-Barth zufolge ist diese dann gegeben, wenn eine andere Sprache im Text thematisiert, aber nicht realisiert wird, z. B. in Form von Inquit-Formeln und Sprachverweisen (Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt mit einer Dolmetscherin als Protagonistin ist hier ein einschlägiges Beispiel). In ihrem Beitrag in dem vorliegenden Band konzentriert sich Blum-Barth dann auf die biographische Seite und sucht nach Möglichkeiten, verschiedene Formen von mehrsprachiger Autorschaft zu typologisieren. Innerhalb der manifesten Mehrsprachigkeit ist die in der Figurenrede die augenfälligste Form literarischer Mehrsprachigkeit. Sie kann unauffällig oder Einleitung 19 <?page no="20"?> 23 Dembeck (2017, 193) unterscheidet hier zwischen Wörtlichkeit und Paraphrase, was deren Stellung zwischen explizitem und implizitem Verweis analog ist. Motti sind eine weitere Form manifester Vielsprachigkeit, denen natürlich (da nicht in die Figurenrede verlegt) ein anderer Status im literarischen Text zukommt. offensichtlich auftreten; Funktionen von Mehrsprachigkeit wurden v. a. dafür reflektiert: Ein Sprachwechsel in der Figurenrede ist beispielsweise Teil von deren Charakterisierung, wie das etwa in Romanen des 19. Jahrhunderts prominent ist, dient aber - man denke an Lev Tolstojs Vojna i mir (1869, Krieg und Frieden) - auch einer Repräsentation der russisch-französischen Diglossie in Teilen der Gesellschaft. Ganz andere Funktionen erhält diese Form der Mehrsprachigkeit beispielsweise in der Lagerliteratur, in der post‐ kolonialen bzw. in der postmigrantischen Literatur, wo Sprachdifferenzen in ihrer soziokulturellen Einbettung für Hierarchisierungen und damit auch Darstellungen von Machtverhältnissen genutzt und so unmittelbar zur Kritik werden. Wenn Zitate als Verweis auf fremde Rede und Rekurs auf fremde Sprachverwendung 23 genutzt werden, insbesondere wenn handelnde Figuren Zitate benutzen, treten Bildungsanspruch und Kulturdifferenz - wenn auch nicht notwendig mit ihrem kritischen Potenzial - hervor. Diese Formen der Vielsprachigkeit finden sich auch in der Popliteratur (Thomas Meinecke, Chris‐ tian Kracht). Dembeck formuliert die Systematisierung zur Frage der Motivation von Zitaten (im Original oder in Übersetzung) als ein Forschungsdesiderat. Zemanek/ Willms (2014) führen eine ganze Reihe von Funktionen manifester Mehrsprachigkeit an, bei der textinterne und textexterne Wirkungsziele immer wieder interagierten (vgl. 6): Vielsprachigkeit kann als Verweis allgemein auf sprachliche Realitäten genutzt werden, der auch die Illusionsbildung verstärken kann; für die anderssprachige Figurenrede verweisen sie vor allem auf die Charakterisierung hinsichtlich der kulturellen Herkunft, des Bildungsstands und der sozialen Zugehörigkeit (vgl. 4). Mit Blick auf die Präsenz des Fremden ließen sich über die Mehrsprachigkeit „kulturelle Unterschiede überbrücken oder exponieren und problematisieren“ (5), was freilich zu sehr verschiedenen Funktionen führt. Hinsichtlich der Autor: innen gehören Bildungsnachweis oder die sprachhistorische Situation ebenso zu den Funktionen von Mehrsprachigkeit wie Spieltrieb und Sprachskepsis (ibid.). In dem vorliegenden Band weisen die Beiträge ganz unterschiedliche Funktionen von (latenter wie evidenter) Vielsprachigkeit auf. In ihrere Bandbreite werfen sie die Frage auf, ob hier eine Systematisierung möglich ist oder ob nicht - wie bereits mehrfach angeklungen - Vielsprachigkeit mit ihrem Potenzial für literarische Verfahren eine der Grundlagen für literarische Kreativität darstellt. 20 Einleitung <?page no="21"?> 3.2 Neue Akzente in der Forschung Die Forschung ist von Verschiebungen der Fragestellungen und Konzeptionen geprägt: wird in den 1990er-Jahren noch in erster Linie von der Sprachbiogra‐ phie der mehrsprachigen Autor: innen bzw. dem soziolinguistischen Produkti‐ onskontext eines Werkes ausgegangen, so werden zuletzt die mehrsprachigen Textverfahren immer deutlicher als literarische Experimente bzw. als Effekte der Poetizität von Texten gefasst. Zunehmend steht die „inszenierte Eigendynamik und Beweglichkeit von Sprachen wie von Sprache überhaupt“ im Mittelpunkt (Kilchmann 2017: 186). Jüngere Fallstudien wenden sich verstärkt dem litera‐ turästhetischen Gehalt zu, den Schreibverfahren und der dahinterliegenden Poetik - Kilchmann pointiert das als den „Gebrauch einer fremden Sprache als Grundform poetischer Verfremdung“ (2012: 110). Sie konstatiert zudem die zunehmende Produktivität mehrsprachiger literarischer Texte seit der Jahrtau‐ sendwende, insbesondere die „Erweiterung poetischer Verfahren […], die auf eine Durchbrechung einheitlich normierter - linear, nationalsprachlicher - Schriftbilder nebst zugehörigen Denkweisen und Lebensentwürfen abzielen“ (Kilchmann 2017: 186). Angesichts dieser immer offener reflektierten Vielspra‐ chigkeit in der literarischen Praxis fordert beispielsweise Dembeck (2017) eine Philologie der Mehrsprachigkeit: Damit verbunden ist die Infragestellung der nationalsprachlichen und monolingualen Determinierung von Literatur. Mehrsprachige Literatur stellt dann keinen „Sonderfall“ mehr dar, keine lite‐ rarische Randerscheinung (z. B. der „Migrationsliteratur“), sondern sie wird wahrgenommen als eine rege Literatur, die auf dem dialogischen Potential, das Sprachen per se inhärent ist, beruht. Mehrsprachige Texte ließen sich hier neben Texten der Avantgarde, der Konkreten Poesie oder der Spoken Word-Literatur verorten. Gabriella Pelloni & Ievgeniia Voloshchuk (2023) gehen der Frage nach, in welchen Formen und mit welchen Funktionen literarische Mehrsprachigkeit in Prozessen der Transkulturation zum Ausdruck kommt: „Transkultur“ wird […] auch als ein Befreiungsprozess aus dem ‚Gefängnis der Sprache‘ - als Einsprachigkeit verstanden - betrachtet, d. h. die Befreiung aus un‐ bewussten, unreflektierten Prädispositionen und Vorurteilen der ‚einheimischen‘, naturalisierten Kultur, die in der Sprache unhinterfragt weiter tradiert werden. (20) In ihrem Sammelband geht es also einerseits um die spezifische Qualität und Prägung literarischer Mehrsprachigkeit, andererseits gehen die Beiträge der Frage nach dessen Wechselwirkungen mit dem sogenannten „transkulturellen Schreiben“ bei Autor: innen mit Migrationshintergrund nach (vgl. 8). Einleitung 21 <?page no="22"?> 24 Mit einem Fokus auf der Mehrsprachigkeit in der österreichischen Literatur werden hier auch Aspekte der Vielsprachigkeit in unterschiedlichen Literaturepochen beleuchtet. 25 Das veranschaulichen auch die Beiträge in dem von Zemanek/ Willms 2014 herausge‐ gebenen Band, die bis in die Antike zurückreichen. 26 Stellvertretend sei hier auf einige Titel verwiesen: zu mehrsprachiger Kinderliteratur Gawlitzek 2013; Überlegungen zu Systematik, Didaktik und Verbreitung von mehr‐ sprachiger Kinder- und Jugenliteratur versammelt der von Anja Ballis et al. 2018 herausgegebene Band; Erzählen in mehrsprachigen und interkulturellen Kontexten erkunden Jeanette Hoffmann und Lynn Mastellotto (2023). 27 In ihrer Vorstellung der Didaktik der Mehrsprachigkeit als Teil einer multilingual education führen Anke Wegner und Eva Vetter (2024) interkulturelle Ansätze, Sprachen‐ bewusstheit, integrierte Sprachdidaktik sowie epistemische Mehrsprachigkeitsdidaktik konstruktiv zusammen (vgl. 123-126) und betonen, dass „die Orientierung und das souveräne Handeln in mehrsprachigen Gesellschaften vor allem der Anerkennung und Freisetzung der Subjektperspektiven auf diese bedarf “ (124). 28 Oben wurde bereits auf verschiedene Titel verwiesen; an neueren komparatistischen Publikationen zu Mehrsprachigkeit, die auch slavistische Beiträge enthalten, sind beispielsweise Cornejo/ Lènárt (2024) oder Siller/ Vlasta (2020) zu nennen. Durchaus ähnlich hinterfragen Renata Cornejo und Tamás Lénárt (2024) die traditionellen mit einer singulären Muttersprache verbundenen Implikationen, die in das Spannungsverhältnis zwischen eigen und fremd hineinspielen. 24 Vielsprachigkeit rückt demnach Sprache und Identität in ein anderes Licht und untergräbt, pluralisiert oder diversifiziert geläufige Identitätskonzepte (9). Für die Gegenwart akzentuieren sie den gesellschaftlichen Wandel. Aufgrund eines wachsenden Mobilitätsanspruchs einer globalen Gesellschaft könne „[u]nsere Welt […] nur in mehreren Sprachen erfasst und verstanden werden“ (10). So wird gezeigt, dass literarische Vielsprachigkeit ein umfassendes literarisches Phänomen darstellt, 25 das sowohl in unserer aktuellen sozialen und politischen Gegenwart präsent, als auch in unserer literarischen und poetischen Wahrneh‐ mung der Welt verankert ist (vgl. 8). Das spiegelt sich auch in der slavistischen Mehr- und Vielsprachigkeitsforschung. 4. Literarische Mehr- und Vielsprachigkeit in der Slavia Seit den 2000er-Jahren ist Mehrbzw. Vielsprachigkeit als Forschungsthema in den philologischen Teildisziplinen der Linguistik, der Sprachdidaktik 26 und Fremdsprachendidaktik 27 sowie der Literaturwissenschaft 28 etabliert. Auch in der Slavistik hat das Forschungsfeld „Literatur und Mehrsprachigkeit“ in den letzten Jahren einen beachtlichen Aufschwung erfahren, wobei wie oben er‐ wähnt der Fokus der Forschung weg von sprachbiographischen und soziolin‐ guistischen Fragen hin zu den (mehr-)sprachlichen Dynamiken und textuellen Verfahren - von der Mehrsprachigkeit der Autor: innen zur Mehrsprachigkeit 22 Einleitung <?page no="23"?> 29 Der Band ist allerdings offenkundig Teil der westlichen bzw. europäischen Dominanz der Forschung zur Mehr- und Vielsprachigkeit. Grutman (2023) verweist auf Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch als die dominanten Sprachen in der Forschung. Einige Beiträge zu afrikanischen Literaturen, in denen die Verwendungsweisen der Sprachen aufs Engste verknüpft sind mit der kolonialen Vergangenheit und also auch mit Fragen von Identität und Selbstpositionierung der Autor: innen finden sich in Arndt et al. 2007. 30 Zur Mehrsprachigkeit in Zentraleuropa, die also v. a. auch das Ungarische mit berück‐ sichtigt, vgl. die Beiträge in dem von Balogh & Leitgeb 2012 herausgegebenen Band. der Texte - erfolgt ist. Ein höchst anregender Beitrag ist der 2004 publizierte Aufsatz von Erika Greber, in dem sie die vielfältigen Formen und Funktionen sprachlicher Hybridbildungen in einigen Kurzgeschichten Tėffis analysiert. Tėffi, die als Ethnographin der ersten russischen Emigrationswelle in Paris bezeichnet werden kann, entwirft in der Darstellung eines zwei- oder mehrspra‐ chigen Exilkontexts eine Poetik der Interkulturalität, die Greber als „literarische Kosmopolitik“ bezeichnet (Greber 2004: 388). Die Sprachkreuzungen ebenso wie die Doppelschriftigkeit in Tėffis Texten, die nicht nur die Figurenrede kennzeichnen, sondern auch von erzähltechnischer Relevanz sind, erzeugen humorvolle, verfremdende oder auch sprachkritische Effekte. Von den neueren Forschungsarbeiten sind die Publikationen von Miriam Finkelstein u. a. zur russisch-amerikanischen transkulturellen Gegenwartslyrik (2016) oder Diana Hitzkes Nach der Einsprachigkeit. Slavisch-deutsche Texte transkulturell (2019) zu nennen; auch in einem der letzten Bände zur historischen Mehrsprachigkeit von Franceschini et al. (2023) sind einige slavistische Beiträge vertreten. Die slavischsprachigen Gebiete stellen einen vielseitigen Bereich dar, der in der anglophonen Dominanz (vgl. Taylor-Batty/ Dembeck 2023: 9) 29 bislang wenig berücksichtigt worden ist. 30 Einen Monolingualismus gab es im Alltag nicht. Allerdings wurde in der Institutionalisierung (von Einzelsprachen und Nationalliteraturen) sehr wohl eine Einsprachigkeit etabliert. Dennoch dürfte zumindest in Formen der Sprachlatenz die Vielsprachigkeit auch in den Lite‐ raturen ihre Spuren hinterlassen haben. In vielen Literaturen hatte darüber hinaus das Französische als Bildungssprache bzw. Sprache des Adels historisch und kulturell eine andere Stellung als innerhalb der westeuropäischen Staaten und ist weit bis ins 19. Jahrhundert hinein in die Literatur eingeflossen (wie in den oben genannten Beispielen literarischer Werke von Puškin und Tolstoj bereits angeklungen ist). Eine besondere Stellung haben zudem viele slavische Sprachen als Minderheitensprachen oder marginalisierte, z. T. lediglich lokale Mehrheitssprachen. Mindestens bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist für viele slavische Literaturen also das Einsprachigkeitsparadigma weniger deutlich ausgeprägt. Im vorliegenden Band wird das spezifische Potenzial Einleitung 23 <?page no="24"?> 31 Zur Übersetzungspolitik in der UdSSR, insbesondere der Ukraine vgl. Hofeneder 2013. 32 Eine Reihe literarischer Umgangsweisen mit diesem Exil analysieren die Beiträge in dem Band von Henseler/ Makarska 2013, explizit Fragen der Mehrsprachigkeit widmet sich hier Trepte 2013, vgl. zudem Glensk (2013) für polnischsprachige Literatur aus Israel. 33 Während Nabokovs Œuvre auch im Zuge der Mehrsprachigkeitsforschung einige Aufmerksamkeit erfahren hat, ist das Werk anderer Autor: innen dieser Exilwelle bislang kaum unter dem Gesichtspunkt der Mehrbzw. Vielsprachigkeit erkundet worden. 34 Alfrun Kliems (2002) stellt ihrer Analyse dreier Autor: innen einen Überblick über das Exil 1968-1989 voran; vgl. zur Rolle der Sprache und zu Vielsprachigkeit für das „tschechische Literaturexil“ insbesondere das Kapitel II 2.2 (79-95). einer Minderheitensprache und ihrer Literatur in Prunitschs Beitrag über das Sorbische deutlich: Die Forderung nach umfassender Teilhabe am kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs bildet den Rahmen für die ausge‐ nommen kritische Lyrik des sorbischen Dichters Kito Lorenc in Bezug auf die Krise von Natur, Gesellschaft und ethnisch-sprachlicher Abgrenzung in der DDR ab Mitte der 1980er-Jahre. Andere Aspekte von - in diesen Fällen durch das hegemoniale Russisch unterdrückten - Sprachen treten beispielsweise in den Beiträgen von Donska, Finkelstein und Willms hervor, 31 in deren Analysen poli‐ tische Stellungnahmen ebenso wie autobiographische Befreiung und poetisches Experimentieren mit Sprachwechseln und -mischungen aufgezeigt werden. Migrationsbewegungen bestehen selbstverständlich über Zeiten und Kultur‐ räume hinweg und stellen allgemein einen produktiven Faktor literarischen Schreibens dar. In den slavischen Kulturen haben sie allerdings eine auffällige Prominenz, die sich literarisch niederschlägt. Wohl bekannt sind etwa im Fall Polens die sogenannte Große Emigration nach der Niederschlagung des Novemberaufstands 1830/ 1831, so dass sich das kulturelle Zentrum zeitweise nach Paris verlagerte; eine weitere Emigrationswelle zog die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 nach sich. 32 In Russland führte die Oktoberre‐ volution zu einer massiven Fluchtbewegung auch von Autor: innen, zunächst mit Prag und Berlin, dann Paris als Zentren, 33 denen - nach den Exilant: innen aus sowjetischer Zeit, die sich häufig in den USA niederließen - mittlerweile weitere Zentren wie Riga oder Tel Aviv als Lebensmittelpunkt von Autor: innen zur Seite stehen. Aus der ČSSR flohen viele Intellektuelle nach der Nieder‐ schlagung des Prager Frühlings 1968, 34 und die jugoslawischen Zerfallskriege ließen unzählige das Land verlassen. Angesichts der vielen Länder, in denen Autor: innen leben, die einen biographischen Bezug zu den jugoslawischen Nachfolgestaaten haben, und der vielen Sprachen, in denen sie schreiben, hat Hana Stojić die Bezeichnung „Archipel Jugoslawien“ geprägt. 35 Betont wird 24 Einleitung <?page no="25"?> 35 Die Website „Traduki“ versammelt u. a. Aufzeichnungen von Lesungen und übersetzte Essays: https: / / traduki.eu/ archipel-jugoslawien/ (Stand: 4.4.2024); das Interview mit Hana Stojić ist abrufbar: https: / / www.swr.de/ swr2/ literatur/ archipel-jugoslawien-vo n-1991-bis-heute-wie-sich-aktuelle-literatur-aus-suedosteuropa-in-leipzig-praesentier t-100.html (Stand: 4.4.2024). 36 Zur Mehrsprachigkeit in der translingualen postjugoslawischen Gegenwartsliteratur (sowie der postsowjetischen) vgl. Finkelstein/ Hitzek 2014; Stiehler (2000) rückt bei‐ spielhaft für die Interkulturalität und literarische Mehrsprachigkeit in Südosteuropa Rumänien in den Blick; vgl. auch Strutz 1996. damit der gemeinsame südosteuropäische Bezugsrahmen bzw. der kulturelle Raum einer vielsprachigen Literatur. 36 Leider haben in den vorliegenden Band Fragen literarischer Mehrsprachigkeit im Fall des Burgenlandkroatischen oder des Kärntnerslowenischen, das mit Florian Lipuš einen namhaften Vertreter hat und das in Maja Haderlaps neuem Roman Nachtfrauen, dem wir das Motto für diesen Band entnommen haben, in erster Linie thematisch präsent ist, keinen Eingang gefunden. Geht man mit einem offenen Ohr durch die Straßen, wird wahrnehmbar, dass unsere gesellschaftliche Realität eine mehr- und vielsprachige ist. Mehrspra‐ chige Literatur spiegelt diese Entwicklungen und bricht damit die gewohnten Einsprachigkeitsnormen. 5. Die Beiträge des Bandes Die Beiträge des Bandes sind in drei Abschnitte untergliedert: Am Beginn stehen methodisch-programmatische Blickwinkel auf die Mehr- und Vielspra‐ chigkeitsforschung. Dem folgen Fallstudien zu zeitgenössischen Autor: innen, ehe der dritte Teil (chronologisch rückläufig) historische Perspektiven (von den 1990er-Jahren bis ins 19.-Jahrhundert) einnimmt. Neuere Forschungsperspektiven Eva Hausbacher betrachtet am Beispiel deutsch-russischer Gegenwartsromane (Lena Gorelik, Sasha Marianna Salzmann) Funktionsweisen manifester und latenter Realisierungsformen mehrsprachiger Poetizität analog zu psychoana‐ lytischen Modellen. Sie erkundet damit neue Möglichkeiten, Spielarten von latenter, an der Textoberfläche nicht deutlich sichtbarer Mehrsprachigkeit methodisch fundiert nachzugehen, und zwar auf Grundlage einer Zusammen‐ führung von Jakobsons Modellen von Metonymie und Metapher mit Aspekten der psychoanalytischen Traumdeutung. Einleitung 25 <?page no="26"?> Natalia Blum-Barth schlägt hier eine Typologie für die biographische An‐ näherung an mehrsprachige Autor: innen vor, die dem oben thematisierten Wechselspiel von individueller Mehrsprachigkeit und gesellschaftlicher Viel‐ sprachigkeit Rechnung trägt. Ilja Kukuj rückt mit der visuellen Mehrsprachigkeit die intermediale Viel‐ sprachigkeit in den Fokus. Als erste Künstlerin aus der Sowjetunion nahm Rea Nikonova zusammen mit Sergej Sigov ab Mitte der 1980er-Jahre aktiv an der Arbeit des internationalen Mail-Art Netzwerks teil. Der Beitrag zeigt am Beispiel der Zeitschrift Double, welche Rolle die Sprache in der Gattung der visuellen Poesie innerhalb einer mehrsprachigen Edition mit ihren Lesebzw. Interpretationsmöglichkeiten spielt. Miriam Finkelstein widmet sich den Mütter-Sprachen in der russophonen und russischen Gegenwartsliteratur mit der Frage, inwiefern der Bezug auf ihre Sprachen Regelabweichungen ermöglicht, individuelle Sprach- und Ausdrucks‐ weisen, die in der Standardsprache nicht vorgesehen bzw. toleriert sind. Aus dem Rückgriff etwa auf das Belarusische oder Ukrainische erweist sich ein solches Zurückweisen der Sprachnormen als Möglichkeit der individuellen Ausdrucks‐ formen, das die von Finkelstein analysierten mehr- und vielsprachigen Texte prägt. Zeitgenössische Positionen Weertje Willms betrachtet die ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ im Werk der 1982 in Minsk geborenen belarusischen Autorin Volha Hapeyeva. Für die Autorin (vornehmlich eine Lyrikerin) hat das Verlassen ihrer Heimat 2020 aus politischen Gründen - seither lebt sie in München - auch zu einem teilweisen Sprachwechsel geführt und womöglich (so legt ihr Rekurs auf einen uralten Topos der Exilliteratur nahe) zu einer Heimat, wie die Sprache im Allgemeinen und die Poesie im Speziellen sie darstellen. Ähnlich wie für Hapeyeva die Wahl des Belarusischen als Literatursprache ein politisches Bekenntnis darstellt, sind die Autor: innen und ihre Werke, die Mariya Donska analysiert, eminent politisch. Donska stellt die Frage, wie und warum in einem Text Sprachen gemischt werden, in den Mittelpunkt ihrer Reflexion von Mehrsprachigkeit innerhalb von Einzeltexten sowie einem Gedichtband in der ukrainischen Literatur nach 2014. Ivana Pajić greift Bachtins Konzept der Polyphonie bzw. Dialogizität für die Analyse ausgewählter Romane deutschschreibender Autorinnen mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien auf. Stellvertretend für eine Reihe von Autorinnen, deren Leben, Verortung, Selbstverständnis und Werke sich durch eine fruchtbare 26 Einleitung <?page no="27"?> Vielfalt auszeichnen, zeigt sie v. a. für Meral Kureyshis Elefanten im Garten (2015) und Ivna Žics Die Nachkommende (2020) die Vielschichtigkeit dieser Texte auf, die auf den interkulturellen Beziehungen beruhen. Andreas Leben wendet sich der manifesten Mehrsprachigkeit in der ak‐ tuellen slowenischen Literatur zu. Vielsprachigkeit, sprachliche Polyphonie und asymmetrische Relationen zwischen Sprachen waren maßgeblich an der Herausbildung slowenischer literarischer Genres und des polyzentrischen und per se mehrsprachigen slowenischen Literatursystems beteiligt. Vor diesem Hintergrund nähert er sich der mittlerweile kaum noch fassbaren Vielfalt von Verfahren, die Mehrsprachigkeit als ein zentrales textkonstitutives Element in der slowenischen Gegenwartsliteratur aufweisen. Historische Dimensionen Anna Förster betrachtet den 1990 von dem slowakischen Schriftsteller Martin M. Šimečka gegründeten Verlag Archa, in dem neben regimekritischen Schriften Übersetzungen westeuropäischer und nordamerikanischer Literatur und Philo‐ sophie ins Slowakische und Tschechische publiziert wurden. Unter Einbezug der historischen Entwicklungen lotet sie anhand des zweisprachigen Verlags- und Übersetzungsprogramms neben kultur- und gesellschaftspolitischen Aspekten auch Besonderheiten der Vielsprachigkeit im Fall einander so nahestehender Sprachen wie dem Slowakischen und Tschechischen aus. Christian Prunitsch stellt das Œuvre von Kito Lorenc in den Mittelpunkt seiner Analyse der Vielsprachigkeit im Fall des Sorbischen. Die Institutionali‐ sierung der sorbischen Kultur in der DDR nach 1945 tritt dabei ebenso hervor wie die Chancen, aber auch die Risiken literarischer Mehrsprachigkeit im Sinne einer ideologiekritischen Praxis unter den spezifischen Bedingungen einer kleinen Literatur im Sozialismus wie im Kapitalismus. Bisera Dakova analysiert das fremdartige Lexikon der bulgarischen Sym‐ bolisten. In der Gegenüberstellung des Soziolekts der Dichterströmung mit den Idiolekten der einzelnen Mitglieder fordert sie eine literaturgeschichtliche Re-Lektüre dieser Strömung und zeigt eine Vielsprachigkeit auf, die in ihrem Facettenreichtum und innovativen Verfahren häufig unterschätzt wird. Agnes Kim analysiert die Mehrsprachigkeit im tschechischen und österrei‐ chisch-deutschen Drama des 19. Jahrhunderts, und zwar im Wiener Volks‐ stück. Indem sie die Verfahren der sprachlichen Gestaltung mehrsprachiger Figurenrede in den Mittelpunkt rückt, zeigt sie beispielhaft auf, wie sich der Repräsentations- und Imitationscharakter literarischer Sprache auch für die linguistische Ergründung historischer Sprachkontaktphänomene nutzen lässt. Einleitung 27 <?page no="28"?> Zugleich macht sie damit den tschechisch-deutschen sekundären Ethnolekt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts - auch „Kuchldeutsch“ oder „Böhmakeln“ genannt - linguistisch fassbar. Anja Burghardt nimmt ein Fragment des polnischen Dichters Cyprian Norwid als Ausgangspunkt für die Betrachtung verschiedener Kontexte, in denen in der polnischen Romantik eine Reflexion von Mehr- und Vielsprachig‐ keit gegeben ist. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der latenten Mehrspra‐ chigkeit in Form der Rezeption insbesondere deutschsprachiger Texte. Literaturverzeichnis A C K E R , Marion/ F L E I G , Anne/ L ÜT H J O H A N N , Matthias. (Hrsg.) (2019). 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Neuere Forschungsperspektiven <?page no="35"?> Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt Mehrsprachigkeit in der deutsch-russischen Gegenwartsliteratur und ihre psychoanalytische Erschließung Eva Hausbacher Abstract: Since the 2000s, multilingualism has become a prominent research field also in the literary criticism of Slavonic Studies. Here textual devises of multilingualism have been viewed not any more in the context of the authors’ biographies, but rather as literary experiments or as an effect of the literacy of texts and of the multilingual capacities of language itself. In the chapter at hand I analyze the manifest and latent realizations of multilingual poetics in contemporary novels of German-Russian authors (Lena Gorelik and Sasha Marianna Salzmann) using psychoanalytical models. Latent multilingualism that is neither explicit nor visible at the textual surface is a particular challenge in multilingual research. Here I suggest a new approach, namely to follow psychoanalytical methods for developing analytical tools in order to mark latent language aspects. In psychoanalytical literary theory, processes of shifting (Verschieben) and intensifying (Verdichten) are equated with Roman Jakobson’s meto‐ nymical and metaphorical language operations. As in psychoanalytical analyses they allow us to get access to that which is “actually meant”, in multilingual analyses, the same methods allow us to recognize the latent parts and aspects of other languages in a multilingual text. Keywords: Manifest and latent forms of multilingualism - psychoanalyt‐ ical models for the exploration of multilingualism - Lena Gorelik - Sasha Marianna Salzmann <?page no="36"?> 1 Eine stringente Übersicht über die Spielarten literarischer Mehrsprachigkeit - von den textübergreifenden bzw. textexternen Formen zu den Varianten textinterner Mehrsprachigkeit, die in manifeste, latente und exkludierte ausdifferenziert sind - bietet der Aufsatz von Natalia Blum-Barth Literarische Mehrsprachigkeit. Versuch einer Typologie (2019). Dieser Typologie folgt auch die hier verwendete Begrifflichkeit für die unterschiedlichen Formen der Mehrsprachigkeit in literarischen Texten. 2 Der den Themenband Polyglotte Texte. Formen und Funktionen literarischer Mehrspra‐ chigkeit von der Antike bis zur Gegenwart einleitende Text von Weertje Willms und Evi Zemanek „Polyglotte Texte - Einleitung“ (2014) stellt die Vielzahl der Funktionen und Wirkungseffekte von Mehrsprachigkeit im literarischen Text vor. 3 Ein Abriss zum Forschungsstand, der auch neuere slawistische Forschungen inkludiert und die Verschiebungen der Fragestellungen und Konzeptionen von der sprachbio‐ graphischen Ausrichtung hin zur Poetizität mehrsprachiger Literatur nachzeichnet, findet sich in meinem Aufsatz: Eva Hausbacher ‚In der Kluft der Sprachen‘: Formen literarischer Mehrsprachigkeit in der russisch-deutschen Gegenwartsliteratur (2021). Als wichtige Vertreter: innen einer Philologie der Mehrsprachigkeit sind die Herausgeber des Handbuches Literatur und Mehrsprachigkeit (2017), Till Dembeck und Rolf Parr, sowie Esther Kilchmann und Sandra Vlasta, die zahlreiche Publikationen zum Thema verfasst haben (Kilchmann 2012, 2017 und 2019, Vlasta 2020 u. a.), hervorzuheben. 1. Einleitendes Ich dachte auf Russisch, suchte meine jüdischen Verwandten und schrieb auf Deutsch. Ich hatte das Glück, mich in der Kluft der Sprachen, im Tausch, in der Verwechslung von Rollen und Blickwinkeln zu bewegen. (Petrowskaja 2014: 115) In diesem Zitat aus dem mehrfach preisgekrönten Text Vielleicht Esther von Katja Petrowskaja (2014) klingt bereits an, was dem vorliegenden Beitrag zu den Formen literarischer Mehrsprachigkeit als Prämisse zugrunde liegt: dass das literarische Schreiben unter den Bedingungen eines Sprachwechsels, also das literarische Schreiben in einer anderen als der sog. „Muttersprache“, nicht als defizitär zu bewerten ist, sondern als Gewinn, ja sogar als Befreiung - es war „ein Schritt ins Freie“ bekräftigt Petrowskaja in einem Interview mit Volker Weidermann diese Sicht (Petrowskaja, zit. nach Weidermann 2015: 104). Auch die Erfolge, die etwa die deutsch-russische, wie auch die deutsch-ukrainische oder deutsch-türkische Gegenwartsliteratur in den letzten zwei Jahrzehnten am Literaturmarkt erzielen konnten, hängen - so meine ich - wesentlich mit dem innovativen Potential zusammen, das die Mehrsprachigkeit in sehr vielfältigen Formen 1 und mit einer Vielzahl unterschiedlicher Funktionen 2 in diese Texte einspeist. Entsprechend verweist die Forschung 3 auf die große Verbreitung und die enorme Produktivität von Mehrsprachigkeit in literarischen Texten, die insbesondere seit den 2000er-Jahren einen deutlichen Anstieg erlebt und „zur Erweiterung poetischer Verfahren geworden ist, die auf eine Durchbrechung einheitlicher normierter - linearer, nationalsprachlicher - Schriftbilder nebst 36 Eva Hausbacher <?page no="37"?> 4 Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Till Dembeck „Es gibt keine einsprachigen Texte! “ (2020), in dem er unter Berücksichtigung der un‐ terschiedlichen Methoden von sprach- und literaturwissenschaftlicher Mehrsprachig‐ keitsforschung die These verfolgt, „Einsprachigkeit [als] ein historisch spezifisches, ja, kontrafaktisches Konstrukt oder Regulativ“ aufzufassen (vgl. Dembeck 2020: 165). zugehörigen Denkweisen und Lebensentwürfen abzielen.“ (Kilchmann 2017: 186). Vor allem in interbzw. transkultureller Literatur - aber nicht nur dort - sind immer mehrere Sprachen am Werk, 4 die textinterne wie textexterne Wirkungsziele generieren und so für die Ästhetik eines Textes gleichermaßen wie für seine sozio-kulturelle Bedeutung relevant sind. 2. Fragestellung und methodische Überlegungen Es sind zwei neue Prosatexte aus diesem Literatursegment, die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen: Der 2021 erschienene, bislang letzte Roman von Lena Gorelik Wer wir sind (Abschnitt 3) und Sasha Marianna Salzmanns zweite Romanpublikation Im Menschen muss alles herrlich sein ebenso von 2021 (Abschnitt 4, 5 und 6). Der vergleichende Blick auf diese beiden Texte ist insofern aufschlussreich, weil wir es hier sowohl mit sehr ähnlichen biographischen Kontexten zu tun haben, als auch mit auffälligen Parallelen in der Genrewahl, den zentralen Narrativen und textuellen Strukturen: Beide Autorinnen kommen aus einer russisch-jüdischen Familie, in einem ganz ähnlichen Alter - Salzmann war zehn, Gorelik elf Jahre alt - wandern sie mit ihren Eltern aus der Sowjet‐ union nach Deutschland aus und erleben die Problematik der Migration, des Andersseins und der kulturellen und sprachlichen Anpassung; beide legen ihren russischen Akzent relativ schnell ab, und sie beginnen auf Deutsch zu schreiben. Die beiden Romane, um die es im Folgenden gehen wird, sind autofiktionale Erinnerungsbzw. Familienromane, beide erzählen - wenn auch in Setting und erzählerischer Perspektivierung unterschiedlich - dieselbe Story, wie sich die Emigration aus Sowjetrussland nach Deutschland im Generationenwechsel in den Familien vollzieht. Große Differenzen allerdings zeigen sich in den Modi der mehrsprachigen Schreibformen und damit in der sprachlich-stilisti‐ schen Dimension der beiden Romane: Dominieren bei Gorelik sehr eindeutig manifeste Formen der Mehrsprachigkeit und Mehrschriftlichkeit, die in erster Linie darauf abzielen, im Text Affekträume zu evozieren, die in dieser Form nur durch den Einsatz russischer Sprachelemente erzeugt werden können, so haben wir es im Salzmann-Roman über weite Strecken mit einem zumindest an der Oberfläche „rein“ deutschsprachigen Text zu tun. Lesen wir allerdings Salzmanns Ausführungen über ihre Schreibweise, wie sie sie beispielsweise Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 37 <?page no="38"?> 5 Ausführlich dazu im Abschnitt 4 „Latent mehrsprachig: Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein in diesem Beitrag. 6 Vgl. Blum-Barth (2019), Hergheligiu (2009), Chiellino (2001), Dembeck (2017), Radaelli (2011), Hausbacher (2021). 7 Roman Jakobson bezieht sich in dem Aufsatz „Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik“ in seiner Darstellung der beiden Tropen auf die von Sigmund Freud als zentrale Techniken der Traumarbeit charakte‐ risierten Vorgänge der Verschiebung, Verdichtung, Identifizierung und Symbolisierung und beschreibt sie - vor dem Hintergrund seiner Zwei-Achsen-Theorie der Sprache - als grundsätzliche sprachliche Operationen mit diskursprägenden Eigenschaften: „So ist es auch bei der Untersuchung von Traumstrukturen eine entscheidende Frage, ob die Symbole und die zeitliche Reihenfolge auf Kontiguität (Freuds metonymische Verdrän‐ gung und synekdochische Verschiebung) oder auf Similarität (Freuds Identifizierung und Symbolisierung) beruhen.“ ( Jakobson 1972: 173) 8 Julia Kristeva verbindet in ihrer Studie Die Revolution der poetischen Sprache von 1974 psychoanalytische Modelle mit einer Analyse von poetischen Texten der Moderne. in ihrer Mainzer Poetikvorlesung mit dem sprechenden Titel Dunkle Räume (2019) darlegt, 5 so muss angenommen werden, dass auch in ihrer Prosa das Russische präsent ist, allerdings in latenter Form. Die Kenntlichmachung dieser quasi unsichtbaren, echogleichen Präsenz des Russischen ist eine spannende Herausforderung, auch weil es zu den latenten Mehrsprachigkeitsformen in der Forschung bislang wenig erhellende Studien gibt 6 und in den Auseinan‐ dersetzungen mit Sprachlatenz bzw. Sprachecho - ganz ähnlich wie in den poetologischen Texten der Autor: innen selbst - häufig mit metaphorischen Umschreibungen operiert wird: da findet sich die Bildlichkeit des Palimpsests (Natalia Blum-Barth 2019: 23), des „unsichtbaren Mundes“ (Wladimir Krysinski 2002: 39) oder der „zweiten Zunge“ (Carmine Chiellino 2003: 14), es ist die Rede vom „herauftönenden Unterpfand“ (Marica Bodrožić 2007: 11), von einem „geheimen Text“ (Terézia Mora 2016), der mit im Spiel ist oder von einem „Hallbzw. Echoraum“ (Ilma Rakusa 2006: 30), den die unsichtbare Erstsprache im „Kopforchester“ der Autor: innen (Ilma Rakusa 2020: 134) evoziert. Diese bilderreichen Umschreibungen in der Rede von der Subversion und Tarnung der latenten Sprache in einem mehrsprachigen Text erinnert stark an psy‐ choanalytische Diskurse und regt dazu an, diese in die Kenntlichmachung latenter Sprachanteile eines Textes methodisch einzubeziehen: einerseits - so meine Hypothese - könnte die Analogie zur Traumanalyse bzw. die bei Jakobson 7 weiterentwickelten Überlegungen zu metonymischen und metapho‐ rischen Sprachoperationen ein Weg sein, die latenten Anteile der Erstsprache im Text zu erschließen; diesen verfolgt der vorliegende Beitrag. Andererseits ließe sich auch Julia Kristevas Modell der Semiotisierung des Symbolischen im kreativen Prozess 8 für den Nachweis latenter Anteile in mehrbzw. viel‐ 38 Eva Hausbacher <?page no="39"?> Dabei fokussiert sie die verschiedenen Phasen des Spracherwerbs: Das Kleinkind beginnt in der präödipalen Entwicklungsstufe Laute ohne Sinn zu artikulieren. Sprache hat in dieser Phase - Kristeva bezeichnet sie als die semiotische Phase - noch sehr viel mit lustvoll empfundenen Muskelbewegungen zu tun. Erst zu einem späteren Zeitpunkt lernt das Kind, dass bestimmte Lautfolgen bestimmten Gegenständen zugeordnet sind, dass Sprache symbolisch für die Realität stehen kann. Mit diesem Eintritt in das symbolische System der Sprache übernimmt das Kind aber auch unausweichlich das mit dieser Sprache verbundene symbolische Gesellschafts- und Wertesystem. Bei diesem notwendigen Entwicklungsschritt wird die lustvolle Komponente der lautlichen Artikulation und des Rhythmus aus der semiotischen Phase verdrängt. Doch in der dichterischen Sprache gewinnt diese verdrängte Ebene wieder an Wichtigkeit, Semiotisches dringt im poetischen Prozess in das Symbolische ein. Eine Analogie zwischen diesem Modell und mehrsprachigem Schreiben ist insofern gegeben, als die „symbolische Ordnung“ der Zweitsprache die latent vorhandene Mutter- oder Erstsprache auf die vor- oder unterbewußte bzw. semiotische Ebene „verdrängt“. Im poetischen Prozess verschafft sich als Folge eines subversiven Vorgangs die latente Sprache einen Platz in der dominanten Basissprache des Textes. Natalia Blum-Barths Beschreibung von latenter Mehrsprachigkeit legt beispielsweise eine solche Analogie nahe: „Deshalb tarnt sie sich an seiner Oberfläche im Gewand der Basissprache und kann vom Rezipienten als kreative Metapher oder Sprachbruch identifiziert werden. Unmarkiertes Zitat, Inkorporierung, Lehnübersetzung, Anreicherung, interlinguales Wortspiel oder Sprachlatenz sind die häufigsten Realisierungen der latenten Form der literarischen Mehrsprachigkeit.“ (Blum-Barth 2019: 19) 9 Eine der wenigen Studien zur Bedeutung von Mehrsprachigkeit in der Psychoanalyse liegt mit dem von Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri und Jore Canestri herausgegebenen Band Das Babel des Unbewussten. Muttersprache und Fremdsprache in der Psychoanalyse (2010) vor, jedoch fehlen auch hier Ausführungen zur literarischen Mehrsprachigkeit weitgehend. 10 Vgl. dazu den von Marion Acker, Anne Fleig und Matthias Lüthjohann herausgegebenen Sammelband Affektivität und Mehrsprachigkeit (2019), in dem die vielfältigen Ausge‐ staltungen des Verhältnisses von Affektivität und Mehrsprachigkeit dargestellt werden. sprachigen Texten adaptieren. In der Mehrsprachigkeitsforschung fehlen psy‐ choanalytisch ausgerichtete Ansätze weitgehend. 9 Allerdings sind in neueren literaturwissenschaftlichen Forschungen, die den Affective Turn mit Fragen der Mehrsprachigkeit verbinden, 10 in Bezug auf manifeste mehrsprachige Formen psychoanalytische Überlegungen im Spiel. Esther Kilchmann zeichnet in ihrem Beitrag zu Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse[n] (2019) anhand der Prosa von Marica Bodrožić nach, wie auf der semantisch-emotionalen Ebene Affekte den Wörtern in der Erstsprache anhaften und wie sie im mehrsprachigen Text als Vehikel für (erzählte) Emotionen fungieren und mit verborgenen oder verdrängten, oft in die Kindheit zurückweisenden Erlebnissen verknüpft sind: Ein Sprachwechsel [kann] Verdrängungsvorgänge überwinden und Zugang zu be‐ stimmten Erinnerungen verschaffen […], die am affektiv besetzten Wortlaut selbst haften. (Kilchmann 2019: 202) Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 39 <?page no="40"?> 11 Ein Beispiel für die Parallelität von Russisch und Deutsch ist folgendes Zitat: „‚Всë‘, sagt mein Vater. ‚Выезжаем из города‘. Fertig. Jetzt verlassen wird die Stadt.“ (Gorelik 2021: 117); ein Beispiel für das Nebeneinander von Russisch und Deutsch in einer Wendung ist: „Da, dawaj. Warte, ich hole meine Jacke.“ (Gorelik 2021: 183) 12 „Wir sagen Питер, Piter, liebevoll. Die Abkürzung von Petersburg, eine Stadt wie ein alter geliebter Freund, eine von russischen Barden besungene Sehnsucht, die nach traurig gezupften Gitarrensaiten klingt. Eine Stadt, der ein Kosename gebührt.“ (Gorelik 2021: 116) 13 Als Beispiel für eine Verballhornung im Text kann „Chände choch! “ (Gorelik 2021: 112) angeführt werden. In der Zweitsprache sind die Wörter nicht (zumindest nicht so stark) affektiv be‐ setzt, insofern herrscht hier eine befreiende Distanz; an den Berührungsflächen der Sprachen und entlang der Übersetzungsprozesse zwischen den Sprachen kann in der Erstsprache Verdrängtes im Aufscheinen von affektiv besetzten Wörtern wieder einsehbar bzw. formulierbar werden: Die Verwendung von Zweit- und Drittsprachen wird dabei, so defizitär sie auch sein mag, zur Alternative zum Verstummen in der Erstsprache. (Kilchmann 2019: 212) Wie Erinnerungsprozesse der Protagonistin aufgrund des Wechsels in die Erstsprache und deren starker Affektivität verlaufen, soll nun in der Analyse von Lena Goreliks Wer wir sind nachvollzogen werden. 3. Manifest mehrsprachig: Lena Gorelik Wer wir sind Die manifest mehrsprachigen Verfahren in Lena Goreliks Roman Wer wir sind - dazu gehören der Wechsel und die Mischung von russischen und deutschen Wörtern und Wendungen in der Figuren- und der Erzählerrede, 11 der Einsatz von Mnemolexemen 12 und Verballhornungen, 13 wobei zudem häufig in die kyrillische Schrift gewechselt wird - bedienen vielfach genau diese Funktion des Aufrufens besonders emotionaler Themen bzw. traumatischer Erfahrungen, wie beispielsweise den Tod des Onkels: Ljowa. So weich, dieser Name. Neuneinhalb Jahre und acht Tage nachdem er diesen Brief verfasst hatte, der den Pra‐ linen beilag und den Veilchen und der nun in meinem antiquarischen Hängeschrank steht, ging Лëва ins Wasser. […] Solange sie [die Großmutter der Protagonistin, E.H.] aber noch denken kann, klagt sie. Klagt um das Söhnchen, um ihren Jungen, ‚сынок‘, um ‚Лëвушка‘, Ljowuschka, sie seufzt und ächzt und jammert und weint und schluchzt und würgt seinen Namen: Лëвушка. ‚Лëвушка, мой, Ljowuschka, meiner. (Gorelik 2021: 38 ff.) 40 Eva Hausbacher <?page no="41"?> 14 Die Angabe wurde aus der an der Universität Kaunas verfassten Bakkalaureatsarbeit von Miglė Šaltinytė Literarische Mehrsprachigkeit im Roman ‚Wer wir sind‘ von Lena Gorelik (2022) übernommen. Im kreativen Prozess des Schreibens wird der zensurierende Türsteher für Worte - so der Titel eines Essays von Gorelik (2020), der implizit die psychoanaly‐ tische Dimension des Sprachwechsels zum Ausdruck bringt -, der für die Fehlerlosigkeit ihres deutschsprachigen Textes sorgt, quasi überlistet, sodass fremdsprachliche Einsprengsel Platz greifen können; mit Kristeva (1978: 88) gesprochen dringen semiotische Elemente in die symbolische Normsprache ein. Derer gibt es im Text sehr viele, es sind über vierhundert, 14 Großteils russische, aber auch jiddische und einige wenige englische und schwäbische Wörter und Wendungen. Ihre Funktion besteht neben der Stärkung von Authentizität und der Charakterisierung der Sprecherfiguren in erster Linie darin, im Text Affekträume zu öffnen sowie im Familiengedächtnis teils verdrängte Erinnerungen aufzurufen. In diesem autofiktionalen Roman erinnert sich das erzählende Ich - so wie Gorelik ist sie Schriftstellerin und Mutter - an die Zeit, als sie als Elfjährige mit ihrer Familie aus Leningrad nach Deutschland auswandert und in einem schwä‐ bischen Asylwerberheim landet. Die Identitätskrise der Familienmitglieder wird nicht nur auf Heimatverlust und Entwurzelung zurückgeführt, sondern auch auf den schmerzhaften beruflichen und damit auch sozialen Abstieg, den die Auswanderung mit sich bringt. Im Kapitel „Verstaubte Diplome“ wird eindrücklich von den Demütigungen der Mutter am deutschen Arbeitsmarkt erzählt: Was sind wir denn hier, nichts? […] Ich finde in unserer Sprache keine Worte, um zu sagen: Du bist das Gegenteil von Nichts. […] Sie meldet sich auf eine Zeitungsannonce hin, die nach einer Putzkraft sucht. […] Wie war es für sie, die beinahe fünfzigjährige Ingenieurin, die Universität mit Summa cum laude abgeschlossen, in einer fremden Sprache irgendwo anzurufen, um zu fragen, ob sie vielleicht ein fremdes Haus putzen darf ? (Gorelik 2021: 201-211) Die Frustration über die eigene Ausweglosigkeit kompensieren die Eltern, indem sie alle Energie auf den beruflichen Werdegang der Tochter setzen. Dass sie letztendlich „nur“ Schriftstellerin wird, enttäuscht die Eltern. „Das ist meine Geschichte. Ich schreibe sie auf, in der Sprache, die mir am besten gehorcht.“ (Gorelik 2021: 31), heißt es relativ zu Beginn im Roman. Es ist die deutsche Sprache, die sich die Protagonistin im Zuge ihrer Integration und als „Streberin“ in der Schule sehr rasch aneignet. Sie wird allerdings im Erzählen angereichert mit russischen Wörtern, Wendungen, Partikeln etc., denn Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 41 <?page no="42"?> im Deutschen „geht mir die Hälfte verloren, vor allem die Hälfte Gefühl“ (Gorelik 2021: 135), wie die Protagonistin meint. Immer wieder werden im Text die Schwierigkeiten, aber auch Potentiale einer mehrsprachigen Identität reflektiert. So heißt es an einer Stelle: Ich weiß nicht, wie viel zwischen den Sprachen verloren geht, wie viele zarte Andeu‐ tungen ich übermale, wie viele Fragen hindurchrieseln zwischen den lateinischen Buchstaben. (Gorelik 2021: 289) Um diese Leerräume zwischen den Sprachen möglichst klein zu halten, setzt die Autorin und mit ihr die Erzählerin russische Elemente ein. Es ist ihre russische Muttersprache, die eng mit Emotionen verknüpft ist, die sie „liebt, wie ein Kind“ (Gorelik 2021: 244), die „mehr Platz für Zärtlichkeiten“ (Gorelik 2021: 10) gibt, die niemals pathetisch oder übertrieben klingt (vgl. Gorelik 2021: 309). Es können Einzelwörter, wie „Babuschka“ (Gorelik 2021: 72), „Babulja“ (Gorelik 2021: 25) oder „Djeduschka“ (Gorelik 2021: 86) sein, die häufig die Funktion von Mnemolexemen haben; es können einzelne Partikel sein, wie die im Russischen typische Partikel nu, („Ну, пошли! - Nu, lass uns gehen! “, Gorelik 2021: 89), Sprichwörter oder ganze Sätze - immer eröffnen die russischen Sprachelemente Affekträume im Text, die dem rein deutschsprachigen Erzählen bzw. durch die Beschränkung auf eine direkte Übersetzung ins Deutsche verschlossen blieben. Die als Schriftstellerin bereits aufgrund ihrer Profession überdurchschnittlich sprachbewusste Erzählerin vergleicht ihre Erst- und ihre Zweitsprache und wechselt ihren Gebrauch wie „Register“, die situationsspezifisch über ein jeweils größeres Ausdruckspotential verfügen. Dies wird beispielsweise in Bezug auf die Kindererziehung deutlich: Wenn sie weinen oder wenn sie schlafen, flüstere ich ihnen auf Russisch zu, strei‐ chelnde Worte. Es gibt mehr Platz für Zärtlichkeit in der russischen Sprache. Auf Deutsch bringe ich ihnen bei, die Stimme auch für sich selbst zu erheben. (Gorelik 2021: 9 f) Der Vermischungsgrad der Sprachen im Text ist - wie bereits angedeutet - sehr hoch, wobei die Autorin verschiedene Verständnishilfen gibt, damit die Leser: innen die russischen und meist auch in kyrillisch geschriebenen Elemente verstehen: sie übersetzt oder erläutert sie, an einigen Stellen stoßen sie auch ausführliche Sprachreflexionen an. Das folgende Beispiel für solch metasprach‐ liche Reflexion im Roman verweist auf die semantischen Verschiebungen im Übersetzungsprozess: 42 Eva Hausbacher <?page no="43"?> 15 Exkludierte Mehrsprachigkeit liegt vor, wenn im Text eine andere Sprache erwähnt oder thematisiert wird, ohne dass sie die Basissprache des Textes beeinflusst (vgl. Blum-Barth 2019: 22). Es können verschiedene Formen von Sprachverweisen, Sprachreflexionen und Inquit-Formeln sein. 16 „Фермерша. Farmerin: Wir verwenden das aus dem Englischen abgeleitete Wort und haben dabei sowjetische Propagandafilme vor Augen, in denen weiße Menschen in weißen Hemden Strohhüte gegen die Sonne tragen und in dieser Sonne ihre schwarzen Sklaven auspeitschen. Sehen die Prärie, endlose Roggenfelder und Schweiß auf Gesichtern, die niemals weiß sind, wir sehen alle Ungerechtigkeit des Kapitalismus in dieser Bezeichnung: Farm. Das deutsche Wort Bauernhof kommt später, als meine Augen aufhören, Sklaven auf diesem Bauernhof zu suchen.“ (Gorelik 2021: 176 f.) Место, der Platz. Man verwendet es im Russischen auch als Statthalter für Gepäck‐ stück. Während Asta nach uns schnuppert, schleppen wir neun Plätze nach Deutsch‐ land, ein Leben ohne Hund. […] Sind alle Plätze da? (Gorelik 2021: 124 f) Neben den metasprachlichen Reflexionen zählen auch Sprachverweise zur sog. exkludierten Mehrsprachigkeit, 15 die sehr häufig zur Figurencharakterisierung eingesetzt werden, wie beispielsweise in folgendem Zitat: Wenn meine Mutter das Gefühl hat, dass die Kinder sich für ihre alten Geschichten nicht richtig begeistern, wechselt sie vom Russischen ins Deutsche. (Gorelik 2021: 133) Generell sind die Erinnerungen an die diversen Personen aus dem (Fami‐ lien-)Umfeld der Protagonistin mit verschiedenen Sprachen verknüpft: so ge‐ hört das Jiddische zur Großmutter, das Schwäbische zur „Farmerin“ 16 Anita, Russisch zum Großvater ebenso wie zum Onkel. Es gibt auch Passagen im Roman, in dem keine anderssprachigen Elemente vorkommen. Dabei handelt es sich um jene Abschnitte, in denen die Schwie‐ rigkeiten der Familie in der ersten Zeit in Deutschland bzw. die Scham der Protagonistin, anders, nämlich eine russische Jüdin zu sein, beschrieben werden. Diese Textpassagen sind allerdings auch frei von latenten anderssprachigen Elementen. Generell finden sich im Roman kaum Formen der latenten Mehr‐ sprachigkeit, lediglich in einigen Diminutiv-Bildungen ist es evident, dass es sich um Übertragungen aus dem Russischen handelt: „Blättchen“ (Gorelik 2021: 25), „Söhnchen“ (Gorelik 2021: 47) oder „ein Pärchen Tage“ (Gorelik 2021: 179) sind im Deutschen unübliche, im Russischen aber durchaus gängige Verniedlichungsformen. Insgesamt lässt sich für Goreliks Schreibweise zusammenfassen, dass sie die manifesten russischen Elemente im Roman nicht nur für sprachbiographische Erkundungen, die Evokation von Gefühlswelten oder das Einbringen soziokul‐ tureller Spezifika einsetzt, sondern auch, um Fragen der Identitätsfindung zwi‐ Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 43 <?page no="44"?> 17 Der Titel des Romans ist ein Zitat aus Anton Čechovs Drama Djadja Vanja (Onkel Wanja), in dem der Arzt Astrov zu seiner Verehrerin Sonja sagt, dass an einem Menschen alles herrlich sein müsse. Bereits bei Čechov erscheint die vermeintliche schen den Kulturen zu thematisieren. Gorelik bezieht sich in der Beantwortung der Titelfrage des Romans danach „wer wir sind“ sehr stark auf die Sprache bzw. den Sprachwechsel und macht dabei deutlich, wie eng sprachliche Eigenheiten und kulturelle Identität ineinanderwirken und dabei auch Stereotype bedingen, die im Text gleichermaßen rewie dekonstruiert werden. Das beginnt bereits im ersten Kapitel, das mit dem kyrillischen „Я“ (Ich) betitelt ist. Dass das Ich der letzte Buchstabe im kyrillischen Alphabet ist, wird zur Erklärung für eine fragwürdige (sowjetrussische) Erziehungsstrategie herangezogen, die Kollekti‐ vität vor Egozentrik stellt: „Die Ordnung der Buchstaben, die uns Kindern den Egoismus austrieb, in aller Seelenruhe.“ (Gorelik 2021: 9). Eine vergleichbare Intention, hinter einem bestimmten Sprachgebrauch (nationalkulturelle) Iden‐ tität abzulesen, vermittelt folgende Reflexion der Erzählerin: Brauchen ist ein Verb, das ich im Deutschen viel häufiger als im Russischen verwende. Wer zu viel hat, verlernt zu unterscheiden: Was ich will, möchte, wünsche, denke, als Möglichkeit sehe, als Alternative, in verschwommenen, weil geträumten Farben. Brauchen ist ein Verb, das sich knallend in den Raum stellt, danach ist erst einmal Stille. Wer tatsächlich braucht, sagt das selten. (Gorelik 2021: 215 f) Die in diesem Abschnitt angeführten Beispiele aus dem Gorelik-Roman zeigen, dass eine psychoanalytisch geleitete Lektüre des Textes letztlich die Motivation des Einsatzes russischer Sprachelemente erklärt: dass diese nämlich im Prozess der Identitätssuche der Protagonistin jene Anteile der Ichwerdung vergegen‐ wärtigen, die auf ihre Kindheit in Russland verweisen und in der deutschen Gegenwart nicht sichtbar sind. 4. Latent mehrsprachig: Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein Transkulturelle migrantische Identität ist ein Thema, das auch Sasha Marianna Salzmann als Theatermacherin und Autorin beschäftigt. „Aber wer wir sind, weiß keiner so genau. Wir sind die anderen.“, sagt sie in einem Interview mit Inez Okulska im Oktober 2018 anlässlich der Übersetzung ihres ersten Romans Außer sich (2017) ins Polnische - der wortidente Romantitel Goreliks (Wer wir sind) ist hier wohl kein Zufall. Salzmanns zweiter Roman mit dem ironisch gefärbten Titel Im Menschen muss alles herrlich sein 17 erzählt von den Lebensläufen zweier Mütter und ihrer beiden Töchter; beide sind sowjetisch 44 Eva Hausbacher <?page no="45"?> Herrlichkeit des Menschen im Licht der Ironie, ist doch an Astrov selbst wenig Herrliches. 18 Weitere Szenen, die die sprachlichen Defizite Edis beschreiben, finden sich auf den Seiten 260 und 347. sozialisiert, erleben Kindheit und Jugend in den 1970-er und 80-er Jahren in der Ostukraine und emigrieren in den 1990-er Jahren mit ihren Kindern nach Deutschland. Die Schwierigkeiten in der „neuen Welt“, in der die aus der UdSSR Ausgewanderten an „Phantomschmerzen“ (Salzmann 2021: 212) leiden, stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils des Romans. Diese kulturellen Differenzen bestimmen auch das problematische Verhältnis zwischen den Generationen: zwischen den sowjetisch geprägten Müttern Lena und Tatjana und deren postsowjetisch-migrantischen Töchtern Edi und Nina, die beide auf der Suche nach ihrer Identität gehörig straucheln. Der erste Teil des Romans widmet sich vor allem einer der beiden Mutterfiguren, nämlich Lena, die 1965 zur Welt kommt und in der ukrainischen Kleinstadt Gorlowka in einer sowjetischen Akademikerfamilie - der Vater ist Lehrer, die Mutter Ingenieurin in einer Chemiefabrik - aufwächst. Der frühe Tod der Mutter aufgrund einer neurolo‐ gischen Erkrankung und einer falschen, aber sehr kostspieligen Behandlung durch eine korrupte Ärztin motiviert Lenas Entscheidung für ein Medizinstu‐ dium, und sie erlebt die chaotischen 1990-er Jahre als Ärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten in einer Privatklinik. Aus ihrer unglücklichen Liebe zu einem Tschetschenen, von dem sie schwanger wird, bricht sie aus und emigriert schließlich mit David nach Deutschland, der als jüdischer Kontingentflüchtling aus der Sowjetunion auswandern kann. Wie bereits angedeutet, ist der Text Salzmanns an seiner Oberfläche nicht bzw. im Vergleich zu Goreliks Roman kaum mehrsprachig. Freilich trifft man auch hier auf das eine oder andere Wort, das russische Realia benennt, beispiels‐ weise die „Pelmeni“ (Salzmann 2021: 354), den „Kwas“ (Salzmann 2021: 31), oder verschiedene russische bzw. ukrainische Ortsnamen, die ähnlich wie bei Gorelik als Mnemolexeme fungieren, die in den Erinnerungen an die sowjetrus‐ sische Phase der Familiengeschichte vorkommen. Das Kyrillische wird aber an keiner Stelle eingesetzt und Reflexionen der Figuren über ihren Sprachwechsel bzw. das Leben zwischen oder mit zwei Sprachen fehlen weitgehend. An den wenigen Stellen, in denen diese vorkommen, verweisen sie darauf, dass das fehlende Verständnis zwischen den Generationen auch sprachliche Ursachen hat, Sprachwechsel wird also als problematische Herausforderung dargestellt, der defizitäre Ausdrucksmöglichkeiten nach sich zieht. Ein Beispiel dafür bietet folgendes Zitat: 18 Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 45 <?page no="46"?> 19 Die vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges sehr aktuell gewordene Frage des Ver‐ hältnisses von Russisch und Ukrainisch während der Sowjetzeit wird in einer Passage verhandelt, die Lenas Schwierigkeiten mit dem Ukrainischen im Schulunterricht an einem Dnipropetrowsker Gymnasium beschreibt. Die Mutter meint, sie könne sich vom Ukrainisch-Unterricht abmelden: „‚Das ist nicht wichtig‘“, sagte sie. ‚Kein Mensch braucht diese Sprache. Sie ist ein Relikt. Wir müssen vorwärtskommen.‘ […] Ukrainisch sei eine Fremdsprache, und Fremdsprachen waren nicht obligatorisch.“ (Salzmann 2021: 67). Lena selbst ist darüber zwar froh: „Russisch fiel ihr leicht, Ukrainisch dagegen sprach keiner um sie herum, und es fühlte sich wie eine Schikane an, Aufsätze in einer Sprache schreiben zu müssen, die ihrer Muttersprache zwar ähnelte, aber ihre eigenen Tücken hatte.“ (Salzmann 2021: 66). Aber insgeheim gefällt ihr das Ukrainische sehr gut: „Erst später im Bett fiel ihr ein, wie sie ihrer Großmutter einmal gestanden hatte, dass sie die ukrainischen Monate viel lieber mochte als die russischen, denn die hießen ‚der Schneidende‘ oder ‚der Raue‘ und nicht einfach Januar und Februar, was nichts bedeutete außer die schmucklose Markierung von Zeit. Die Großmutter hatte genickt, sie sprach auch kein Ukrainisch.“ (Salzmann 2021: 67) Edis Russisch war nicht gut genug für eine solche Diskussion. Das Gemisch aus deutschen und russischen Wörtern, in einen weitgehend deutschen Satzbau gepresst, war eine eigene Sprache, und sie war in jeder Migrantenfamilie anders. Wie das Rezept eines allgemein bekannten Gerichts, das bei Freunden eben doch anders schmeckt als zu Hause. (Salzmann 2021: 221) 19 Allerdings ist das Russische im Prozess ihres Schreibens sehr präsent, versichert Salzmann in ihrer Mainzer Poetikvorlesung: Es ist immer wieder aufs Neue eine irritierende Erfahrung: Ich sitze an meinem deutschen Eichentisch, tippe in meine logitech-Tastatur […], und plötzlich fange ich an, auf Russisch zu schreiben, obwohl bis zu diesem Moment Sätze, Absätze, ganze Seiten wie selbstverständlich auf Deutsch aus mir herausgeflossen sind. Heißt das, ich stoße jetzt vor zum Eigentlichen in mir, zum Verborgenen, oder heißt das, ich kann immer noch nicht Deutsch? Fehlen mir immer noch so viele Wörter, fehlt mir die Verbindung zwischen den Sprachen, der ersten, meiner Muttersprache, und der, die jetzt meine Schreibsprache ist? Was fehlt mir? (Salzmann 2019: 49) Für Salzmann sind Russisch und Deutsch Sprachen, zwischen denen man eigent‐ lich nicht übersetzen kann, sie folgen einer sehr unterschiedlichen Sprachlogik und verfügen über sehr eigene Bildwelten, in denen sich gesellschaftliche Normen spiegeln. Der Sprachwechsel ist für sie - ähnlich wie für die eingangs erwähnte Katja Petrowskaja - stark mit einem Distanzgewinn aus einer zu engen Umklammerung der Muttersprache verbunden, einer Distanz, die sie im Schreiben durch ein genaueres Hinhören und Hinschauen produktiv machen will (vgl. Salzmann 2019: 50). Sie bezeichnet das Deutsche als ein „Experimen‐ tierfeld“ (Salzmann 2019: 50): „Wie hebelt man eine so von sich überzeugte, 46 Eva Hausbacher <?page no="47"?> 20 In diesem kursorischen Abriss zu den psychoanalytischen Ansätzen der (literaturwissenschaftlichen) Mehrsprachigkeitsforschung folge ich den höchst aufschlussreichen Ausführungen von Esther Kilchmann (2012, 2017, 2019). geradlinige Sprache aus? An welchen Stellen lässt sie mal locker? “, fragt sie (Salzmann 2019: 50). Ebenso wie die in der Poetikvorlesung stark gemachte Metapher des „Darkrooms“, in dem sich das Erzählen abspielt, verweisen m. E. Salzmanns Beschreibungen des mehrsprachigen Schreibens im Sinne eines Vorstoßens zum Verborgenen auf die psychologische Dimension dieses Prozesses und legen einen psychoanalytischen Lektüreprozess nahe. Im Roman wird dieser Vorgang der „Ablagerung“ russischer Sprachelemente auf einer latenten, unbewussten Ebene metaphorisch im Bild des Teesuds beschrieben: Man sagt, es bringt Unglück, kreuzt ein schwarzer Kater deinen Weg - aber bis jetzt hat nur der schwarze Kater Pech …, summte es in Edis Kopf auf Russisch, ein Lied, von dem sich die Reime wie Teesud in ihr abgelegt hatten. (Salzmann 2021: 257) Wie lassen sich diese latenten Sprachelemente nun erfassen? Ein psychoana‐ lytischer Lektüreprozess legt im Close Reading die Brüche frei, an denen die (deutsche) Sprachnorm „lockerlässt“ und Anderssprachliches in den Text einfließen kann. In Anlehnung an die Freudsche Traumanalyse können analog zur Entschlüsselung der latenten Traumgedanken, die der Analytiker durch das Nachzeichnen der Mechanismen der Traumarbeit erreicht, die latenten Sprachelemente „gehoben“ werden, wenn wir die Wechselwirkungen, die zwischen der Erst- und der Zweitsprache während des Schreibprozesses am Werk sind, erfassen. Ehe ich versuche, diese Methode an einigen Passagen des Salzmann-Romans nachzuvollziehen, sollen in aller Kürze deren theoretische Rahmung in der psychoanalytischen Mehrsprachigkeitsforschung und das von Nicolas Abraham und Maria Torok entwickelte Modell der kryptonymischen Analyse mehrsprachiger (Traum-)Texte vorgestellt werden. 5. Mehrsprachige Kryptonymie 20 Obwohl die Psychoanalyse allein aufgrund der Emigration eines Großteils ihrer Pionier: innen als multilinguale Praxis betrieben werden musste und dabei früh sichtbar wurde, dass Mehrsprachigkeit im Kontext von psychischen Prozessen wie Abwehr, Verdrängung oder Entstellung eine wesentliche Rolle spielt, liegt bislang nur eine größere Studie zu Fragen der Mehrsprachigkeit in der Psy‐ choanalyse vor, nämlich der 2003 auf Italienisch erschienene, von Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri, Jorge Canestri herausgegebene Band Das Babel des Unbewußten (dt. 2010). Ein wesentlicher Aspekt dieser Forschungen Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 47 <?page no="48"?> 21 Als einen zentralen Aufsatz dazu siehe Lacans 1957 erstveröffentlichten Text Das Drängen des Buchstaben oder die Vernunft seit Freud (1999). Das Unbewußte funktioniert wie eine Sprache, wobei die Signifikanten des Unbewussten durch ihre besondere Beweglichkeit gekennzeichnet sind. In der Analyse hört der Analytiker deshalb weniger auf den Inhalt sondern die Form der Rede des Analysanten. 22 Sigmund Freud beschreibt diesen „Fall“ in dem Text Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918). geht zurück auf Freuds Auffassung von der sprachlichen Verfasstheit von Traum, Witz und Fehlleistungen sowie auf die Affinität von Unbewusstem und Sprache, ein Schlüsselmoment seines Modells der menschlichen Psyche, das insbesondere von Jacques Lacan aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. 21 Auch über das Problem des Wechsels von einer Sprache zu einer anderen hat Freud nachgedacht, explizit und systematisch hat er aber das spezifische Problem des Polylingualismus in der Psychoanalyse nicht behandelt (vgl. Amati Mehler et al. 2010: 90). In seinem berühmten Text zum Wolfsmann (1918) 22 ist allerdings seine bereits in der Traumdeutung entwickelte Methode der Analyse der unverständlichen Bilderschrift manifester Träume - es sind die diversen Mechanismen der Traumarbeit (Verschiebung, Verdichtung, Rücksicht auf Darstellbarkeit, sekundäre Bearbeitung), die die latenten Traumgedanken entstellen und deren Dechiffrierung den eigentlichen Trauminhalt erkennbar macht - um die Dimension der Mehrsprachigkeit zumindest implizit erweitert. Nicolas Abraham und Maria Torok stellen diese schließlich in das Zentrum ihrer Studie Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns (franz. 1976, dt. 1979). Indem sie den Traumtext des Wolfsmanns Wort für Wort nach den jeweiligen Entsprechungen in den Sprachen befragen, die im Spiel sind - die Muttersprache des Wolfsmanns war Russisch, er hatte ein englisches Kinder‐ mädchen und machte seine Analyse auf Deutsch -, entziffern sie verborgen gehaltene Wörter bzw. eigentlich Gemeintes. Dabei gehen sie von der Annahme aus, dass bei einem Bilingualen das Netz von Assoziationen - die semantischer, aber auch phonetisch-phonologischer Natur sein können - auch zwischen den Sprachen verläuft. In diesem Lektüreprozess machen Abraham / Torok soge‐ nannte Kryptonyme fest, Schlüsselwörter, die mittels Verschiebungen zwischen den Sprachen andere Sinngehalte, als die im Traumtext erzählten, verbergen. Bei dieser Relektüre werden durch die Arbeit an und mit Verschiebungs- und Verdichtungsmechanismen, die zwischen den Sprachen verlaufen, jene nur latent vorhandenen Bedeutungsdimensionen, die an den Elementen der anderen Sprachen haften, sichtbar. Die eigentliche bzw. neue Bedeutung dieser Schlüs‐ selwörter oder Kryptonyme wird deutlich. Beispielsweise wird das deutsche Wort „Glanz“ als englisches „glance“, die „Nase“ als „he knows“, „liegen“ als 48 Eva Hausbacher <?page no="49"?> 23 Nach Lacan besitzt das Unbewusste die Eigenheit, Wahrnehmungen auf konkretistische Weise zu versachlichen und Redensarten zu verdinglichen (vgl. Hanika/ Seifert 2018: 58). „lying“ gelesen, die „sechs Wölfe“ des Traums über die russische Übersetzung „schestjero“ als Verweis auf „sjestra“ (dt. Schwester) genommen (vgl. Kilchmann 2019: 205). Es ist eine spezifische Form der Übertragung bzw. Übersetzung zwischen den Sprachen, die den materiellen Wortlaut ins Visier nimmt, wie Kilchmann das sehr treffend formuliert (vgl. Kilchmann 2019: 205). Im psychoanalytischen Setting der Talking Cure hat diese Methode der Dekodierung mehrsprachlicher Verschiebungs- und Verdichtungsvorgänge die Aufgabe, Symptome bestimmter Erinnerungen zu erkennen. Dem gegenüber geht es in der Analyse eines literarischen Textes um ebensolche Verschiebungs- und Verdichtungsvorgänge zwischen den Sprachen in Hinblick darauf, welche Funktionen sie für die Generierung einer Poetik der Mehrsprachigkeit haben. Anders als in der Psychoanalyse geht es im Erkunden von latenter Vielspra‐ chigkeit - wie das Esther Kilchmann in ihrer Studie am Beispiel von Marica Bodrožićs Lyrik, in der sie zur Hebung der erinnerungskulturellen Dimension von Bodrožićs Texten deren Kryptonyme analysiert, auf den Punkt bringt - „nicht um Ichfindung, sondern um ein befreiendes Fremdschreiben“ (vgl. Kilchmann 2019: 216). Diese befreiende Dimension, die im mehrsprachigen Schreiben liegt, lässt sich demnach nicht nur auf die Hebung der verdrängten und in der Erstsprache nicht artikulierbaren (traumatischen) Erinnerungen beziehen, sondern auch auf eine Befreiung von bzw. aus automatisierten Sprach‐ normen und mit diesen einhergehenden Wahrnehmungskonventionen, die die distanzbringende Artikulation in einer Zweitsprache mit sich bringt. Diese Engführung von Sprach- und Ich-Befreiung im (mehrsprachigen) kreativen Prozess liegt auch dem bereits beschriebenen Modell Julia Kristevas zugrunde: Kunst als Semiotisierung des Symbolischen vermittelt die Lust mit der Sprache (vgl. Kristeva 1978: 89). 6. Russischer Echoraum in Salzmanns Roman Unter Zuhilfenahme eines Analyseverfahrens, das sich entlang kryptonymi‐ scher Textelemente bewegt, lassen sich unterschiedliche Formen latenter Präsenz des Russischen im Salzmann-Roman erfassen: Zunächst finden sich im Text einige „verdeckte“ Übersetzungen russischer Redewendungen bzw. Begrifflichkeiten, über die wir im Lesefluss stolpern, weil wir sie im Deutschen so nicht kennen: 23 Beispielsweise verbirgt sich hinter der Wendung „Manchmal gelangt man genau dort an die Kante, wo sie abbricht“ (Salzmann 2021: 222) Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 49 <?page no="50"?> 24 Wörtlich übersetzen lässt sich die Redewendung mit „Wo es dünn ist, da bricht/ reisst es.“ Im phraseologischen Wörterbuch von M. I. Michelʼson (1994) findet sich die Übersetzung: „Man zerreißt den Strick, wo er am dünnsten ist.“ (186). Das Sprichwort ist auch Titel der 1861 erschienenen Komödie von Ivan Turgenev Gde tonko, tam i rvetsja („Wo allzu fein gesponnen wird, da reißt es eben“). 25 Bei der Lektüre mehrsprachiger Texte sind Kenntnisse in allen beteiligten Sprachen von Nutzen. Aber man muss nicht zwangsläufig die jeweiligen Sprachkenntnisse mitbringen, um einen mehrsprachigen Text „richtig“ zu verstehen. Ähnlich wie bei sprachexperimentellen Texten kann auch bei mehrsprachigen der Effekt der Entautomatisierung und also die ästhetische Wahrnehmung eventuelle, aus sprachlichen Gründen gegebene Defizite im Textverständnis kompensieren. der russische Phraseologismus „Tam rvetsja, gde tonko“. 24 Neben solchen un‐ markierten Sprichwörtern oder Zitaten können auch spezifische Konnotationen eines Wortes in der Übertragung als Echo aus der Erstsprache „nachhallen“. Ein passendes Beispiel dafür ist die Beschreibung von Onkel Waleri, einem Freund aus der migrantischen Community von Edis Eltern, in der es heißt, dass „[…] die Nacktschnecken in seinem Gesicht zuckten“ (Salzmann 2021: 357). Dass damit der im Russischen für die Charakterisierung eines fiesen Typs verwendete Begriff des „slisnjak“ im Spiel ist, der sich von russ. „slizen’“ (dt. Nacktschnecke) ableitet, erschließt sich nur jenen Leser: innen, die des Russischen mächtig sind, 25 andernfalls dominiert ein entautomatisierender Wirkungseffekt. Eine dritte Form von Sprachlatenz im Roman findet sich in einer Schlüsselszene, die - so wird im Close Reading deutlich - nur aufgrund von Verschiebungsvorgängen zwischen den Sprachen funktioniert. Es ist jene Passage, in der der Tschetschene Edil die Hautärztin Lena als Patient konsultiert, es ist das erste Zusammentreffen des späteren Liebespaares: „,Wie Wolf ? Im Ernst? Das Ding in meinem Gesicht heißt Wolf ? ‘“ (Salzmann 2021: 130), fragt Edil nach der Diagnose seiner Erkran‐ kung. ‚Finden Sie das lustig? ‘, gab Lena kühl zurück. ‚Na, ich bitte Sie, ein Tsche‐ tschene hat eine Krankheit mit dem Namen Wolf ? Würden Sie nicht so nett aussehen, würde ich denken, Sie wollen mich beleidigen! ‘ (Salzmann 2021: 131) Darauf reagiert Lena folgendermaßen: „‚Tschetschene oder nicht, Sie haben Lupus. […]‘“ (Salzmann 2021: 131) Als Edil Lena gegen Ende der Konsultation zum Essen einladen will, greift er neuerlich den „Wolf “ auf, der als metapho‐ rischer Name für die Krankheit gleichzeitig auf die Wildheit des tschetscheni‐ schen Mannes verweist: „Hören Sie, ich weiß, was Sie denken.“, meint er zu Lena, als diese seine Einladung ausschlägt. ‚Aber nicht alle von uns sind Tiere. Kommen Sie, überzeugen Sie sich selbst. Wir werden Sie nicht schlachten. Versprochen.‘ ‚Ich habe nichts von Tieren gesagt.‘ 50 Eva Hausbacher <?page no="51"?> 26 Die durch diese Wortbrücke hergestellten Konnotationen sind nur auf Deutsch möglich; das russische Wort für „Fleischwolf “ lautet „minser“ und hat keinerlei klangliche Nähe zu „Wolf “ (russ. Wolk). ‚Sie haben von Wölfen gesprochen.‘ ‚So heißt Ihre Krankheit.‘ (Salzmann 2021: 133) Zunächst ist zu konstatieren, dass der interlinguale Verschiebungsprozess hier in der Figurenrede angesprochen wird: die lateinische Bezeichnung für eine Hautkrankheit wird im Zuge ihrer Übertragung auf den tschetschenischen Mann zum deutschen „Wolf “, der so als wild, gefährlich und menschenfressend konnotiert wird. Wo aber bleibt der russische „Wolk“, kann zurecht gefragt werden. Er taucht - als lautlicher Anklang in jenem Wort auf, das der eben zitierten Szene unmittelbar vorangestellt ist, nämlich in „Sowok“ (Wolk - Wok). Dieses Wort (dt. Kehrblech, Kehrschaufel) kommt Lena in den Sinn, als sie über ihr Land nachdenkt. Sie fragt sich, ob es zur Beschreibung der maroden gesellschaftlichen Verhältnisse in der späten Sowjetunion taugt, findet aber dann ein passenderes, nämlich das Wort „Fleischwolf “ (Salzmann 2021: 130) - der Gesellschaftskörper wird durch dieses Küchenutensil gedreht und geht dabei zugrunde: Seit ihrer Studienzeit kursierte das Wort Sowok für das, worin sie alle lebten: Kehrblech. Die einen sagten, die Bezeichnung ginge zurück auf die Abkürzung für ‚Sowjetische Okkupation‘, die anderen fanden das Bild naheliegend, dass aller Unrat in die UdSSR gekehrt wurde, der ganze Abfall der Welt schien sich hier zu sammeln, also ja, warum nicht das Ganze eine Kehrschaufel nennen, auf der der Dreck am Ende landet. Aber Lena fand beides nicht zutreffend. Sie schaute von der Brücke hinunter auf die dröhnende Baustelle und dachte, dass Fleischwolf das einzige Wort war, das beschrieb, was hier geschieht. (Salzmann 2021: 130) Dass ein Teil dieser gesellschaftlichen Entwicklung auch auf den Rassismus gegenüber Tschetschenen und anderen Menschen aus den ehemaligen Sowjet‐ republiken - Abchasier, Aserbaidschaner -, zurückzuführen ist, der in diesen Jahren zum Kitt des zerfallenden Landes wird, wird in der Wortbrücke „Wolf - Fleischwolf “ 26 implizit zum Ausdruck gebracht: Der am Wolf erkrankte Tsche‐ tschene Edil ist ganz wörtlich Teil der Probleme des Fleischwolfs Sowjetunion. Das Scheitern der Liebesbeziehung zwischen Lena und Edil ist bereits - so ließe sich argumentieren - in dieser ersten Szene ihres Kennenlernens erkennbar, wenn wir vermittels der mehrsprachigen Wortkette „Lupus - Wolf - Wolk - Sowok“ die latent gegebenen Semantiken zusammenführen, die sich aufgrund der phonetisch-phonologischen Kontaminationen (vgl. Kilchmann 2019: 161) Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 51 <?page no="52"?> 27 Eine entsprechende Redewendung im Deutschen ist „Fit wie ein Turnschuh“, die allerdings andere Konnotationen evoziert. 28 Die Häufigkeit der positiv konnotierten Verwendung der Gurken-Metapher im Russi‐ schen beweist folgendes Zitat aus Wer wir sind von Lena Gorelik, das gleichzeitig ein weiteres schönes Beispiel für eine Mehrsprachreflexion ist: „‚Wie fühlst du dich? ‘ frage ich meinen Vater. ‚Wie eine frische Gurke‘, antwortet er, eine russische Redewendung. Man denkt an frisch, an gut, an grün denkt man auch. Ich frage mich, ob mein Vater die dicken grünen Gurken, die auf der Datscha wachsen, vor seinen Augen hat, die mit den Stacheln. Oder ob er bereits eine deutsche Gurke sieht, eine lange, glatte, wässrige.“ (Gorelik 2021: 304) ergeben, die an den Übergängen zwischen den Sprachen verortet sind. Es entsteht eine Brücke zwischen den Konnotationsräumen der einzelnen Wörter (medizinisch, tierisch, gesellschaftspolitisch), und zwischen den Diskurs- und Sprachwelten, denen sie angehören. Hier wird auch deutlich, dass und wie der sprachspielerisch-ästhetischen Funktion von Mehrsprachigkeit eine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschrieben sein kann. Als weiteres Beispiel, das die enge Verschränkung der mehrsprachigen Ge‐ staltungsweise des Textes mit seiner Kritik an kulturellen Zuordnungsmustern zeigt, kann die Verwendung der Gurken-Metapher gelten, die im Roman an mehreren Stellen aufgegriffen wird. Auch hier legt die Analyse der mehrspra‐ chig-kryptonymischen Verschiebungstechnik den Blick frei auf die dadurch evozierte Bedeutungsvielfalt. Die Gurke wird einmal zur Beschreibung der Krampfadern verwendet, die sich eine Gynäkologin während ihres Berufslebens zuzieht, weil sie ständig am Operationstisch stehen muss - wir wissen, die Zahl der Abtreibungen war in der Sowjetunion extrem hoch. ‚Werd doch Gynäkologin, da verdienst du gut, und es ist kein kompliziertes Fach! ‘ ‚Nein, da muss sie ständig am Operationstisch stehen, bist du verrückt. Nach ein paar Jahren sehen ihre Waden aus wie aufgeschwemmte Gurken voller Würmer.‘ (Salzmann 2021: 114) Das im Deutschen nachvollziehbare drastische Bild relativiert sich durch die standardisierte Verwendung der Gurke in gängigen russischen Redewen‐ dungen, wie „Svežij kak ogurec“ (dt. Frisch/ fit wie eine Gurke). 27, 28 Dieses Echo, so lässt sich interpretieren, bringt die Relevanz des medizinischen Fa‐ ches der Gynäkologie als latenten Verweis positiv ins Spiel. So macht dieses Beispiel auch deutlich, dass die „heterolinguale Spannung“ (Kilchmann 2012: 124) eines mehrsprachigen Textes auch komische Effekte nach sich ziehen kann. Resümierend lässt sich feststellen, dass Salzmanns Schreibweise nicht nur durch produktionsästhetische, sondern verstärkt auch durch soziokulturelle und politische Dimensionen von Mehrsprachigkeit charakterisiert ist. 52 Eva Hausbacher <?page no="53"?> 29 Metapher und Metonymie sind bei Jakobson nicht mehr nur Beschreibungskategorien für differente, das Einzelwort betreffende Verfahren, sondern referieren, ausgeweitet und radikalisiert in eins, auf Schreibweisen (vgl. Lachmann 1984: 186). Beim metony‐ mischen Typ ist die Kontiguität vorherrschend, ein Schreiben, das nicht repräsentiert, sondern teilnimmt bzw. Anteil nimmt; beim metaphorischen Typ ist die Similarität bestimmend, eine metaphorische Schreibweise bildet ab und stellt dar. 7. Fazit Die Sichtung des Russischen in den deutschsprachigen Romanen von Lena Gorelik und Sasha Marianna Salzmann hat gezeigt, dass sowohl manifeste wie latente Formen der Mehrsprachigkeit analog zu psychoanalytischen Modellen funktionieren. Geht es bei den manifesten Russischformen bei Gorelik um die Erzeugung einer affektbesetzten Schreibweise, die in erster Linie der Identitäts‐ arbeit der Protagonistin dient, so werden bei Salzmann in der kryptonymischen Erschließung entlang der Übergänge der Einzelsprachen Diskursräume eröffnet, die die Erinnerungsarbeit der handelnden Figuren erleichtern und Einblicke in gesellschaftliche Verhältnisse geben. Beide Formen haben gleichermaßen das Potential, durch Sprachmischungen, interlinguale Sprachspiele oder kreative Wortschöpfungen Texte ästhetisch zu prägen, wie auch sprach- und kulturpo‐ litische Anliegen - etwa als Plädoyer für kulturelle Vielfalt oder als Vehikel für kulturspezifische Gesellschaftskritik - zum Ausdruck zu bringen. Im Modell von Roman Jakobson, der im Rückgriff auf Freuds Traumanalyse zwei Typen von poetischen Texten unterscheidet, 29 lassen sich die mehrspra‐ chigen Verfahren bei Gorelik und Salzmann entsprechend zuordnen: Demzu‐ folge verfolgt Gorelik eine metaphorische Poetik, die durch Similarität, Iden‐ tifizierung und Symbolik gekennzeichnet ist. Wie dargelegt, ergänzt sie die manifest vorhandenen russischsprachigen Elemente in ihrem Text mit deutsch‐ sprachigen Entsprechungen, wobei Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in den sprachlichen Ausdrücken abgewogen werden. Bei Salzmann hingegen dominieren mehrsprachig angelegte Verfahren, die auf Kontiguität abzielen, also auf Operationen die metonymisch verschieben bzw. verdichten und in denen das Russische zumeist lediglich latent vorhanden ist. In beiden Fällen wird offensichtlich, wie vielfältig die Art der Vernetzung von Elementen unter‐ schiedlicher Sprachen im poetischen Prozess sein kann. Die Autorinnen nutzen sowohl Brücken wie auch Brüche an den Übergängen zwischen den Sprachen und erzeugen damit eine vielsprachige Poetik, die nicht nur einen ästhetischen Mehrwert hat, sondern auch der sprachlichen Verfasstheit transkultureller Identitäten entspricht. Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt 53 <?page no="54"?> Literaturverzeichnis A B R A H A M , Nicolas/ T O R O K , Maria (1979): Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. [Übers. Von Werner Hamacher.] Frankfurt a.M./ Berlin / Wien: Ullstein. A C K E R , Marion/ F L E I G , Anne/ L ÜT H J O H A N N , Matthias (Hrsg.) (2019): Affektivität und Mehr‐ sprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr Francke Attempto [= Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilinualism Band 1]. A M A T I M E H L E R , Jacqueline/ A R G E N T I E R I , Simona/ C A N E S T R I , Jorge (2010): Das Babel des Unbewussten. Muttersprache und Fremdsprache in der Psychoanalyse. 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One fundamental distinction lies in whether authors already wrote in their mother-tongues (or language of origin) or not. The typology suggested here aims at structuring language changes as a phenomenon of literature and at describing the framing conditions of language changes. It thus brings into focus different constellations, which both represent the different processes and models of artistic writing in the context of multilingualism and understand the manifold forms of language changes. Keywords: bilingual authors, experimental language change, literature of exile, self-translation, collaborative writing 1. Kontextualisierungen In den meisten Fällen stellt der Sprachwechsel des Autors die Voraussetzung für die Mehrsprachigkeit des Textes dar. In der gegenwärtigen Forschung wird Mehrsprachigkeit als Normalfall beschrieben (vgl. u. a. Dembeck/ Parr (2017). Doch die Bewertung des Sprachwechsels war nicht immer positiv. Die Annahme, dass Zweisprachigkeit und Sprachwechsel nichts anderes als der Ausdruck einer (Sprach-)Krise sein könnten, etablierte sich in der Exilfor‐ schung. Die Äußerungen der Exilautoren und Exilintellektuellen 2 über ihre <?page no="58"?> 2 Allen voran Ernst Bloch, der in seinem Vortrag 1939 in New York das Bewahren der deutschen Sprache im Exil als das „Normale“ und „die Regel“ bezeichnete: Bloch (1970: 279); vgl. Utsch (2014: 29). 3 Hinzu kommt noch das quantitative Ausmaß der Vertreibung: Die wichtigsten Vertreter der deutschsprachigen Literatur jener Zeit waren ab 1933 im Exil: Thomas Mann, Bertolt Brecht, Alexander Döblin, Stefan Zweig, Robert Musil, Franz Werfel, Anna Seghers, Joseph Roth u. a. Sprachproblematik trugen entscheidend zu dieser Annahme bei. Hinzu kam die Auffassung vom Exil als Transitort, an dem es galt, der Heimat verbunden und treu zu bleiben. Für die Schriftsteller bedeutete dies, der Sprache treu zu bleiben. Neben Autoren, für die das Diktum galt, „[i]n einer fremden Sprache dichten, in einer fremden Sprache gestalten kann man nicht“ (Feuchtwanger 1984: 535), gab es auch eine Vielzahl von Exilanten, die aus existentiellen Gründen in einer fremden Sprache dichten und gestalten mussten. Eindringlich verwies Joseph Roth, eine der tragischsten Figuren unter den Exilliteraten, auf den grundlegenden Unterschied in der Situation der exilierten Autoren im 20.-Jahrhundert und der Emigrationsliteratur früherer Epochen: Die Bücher der Schriftsteller, die damals in der Fremde leben mussten, wurden in der Heimat herausgegeben, honoriert, gelesen und verbreitet. Vertrieben war nur der Autor - als Person. […] Sowjetrussland, Mussolini-Italien und Hitler-Deutschland haben die Schriftsteller nicht nur physisch vertrieben, sondern auch geistig. (Roth 1984: 401f.) 3 Ein Sprachwechsel war für viele Autoren die einzige Möglichkeit, dieser „geistigen Vertreibung“ zu entkommen. Nicht wenige Autoren und nicht nur jüngere gingen diesen Schritt. Die im Exil entstandene mehrsprachige Literatur widerspricht der These Guy Sterns, dass die Exilliteratur die „Fortführung einer Nationalliteratur der Heimatsprache in einem Asylland“ (Stern 1986: 382) ist. In seinem Essay Extraterritorial bezeichnete George Steiner die Sprachwechsler als „wanderers across language“ (Steiner 1971: 11) und lieferte damit ein Beschreibungsmodell, das in der englischsprachigen Forschung aufgegriffen und weitergedacht wurde (vgl. Olszewska 2007, Bird/ Curtis u. a. 1994). Im literaturwissenschaftlichen Kontext bleibt der Begriff „Sprachwechsel“ auch in den jüngsten Forschungen an die sprachwissenschaftliche Bedeutung gekoppelt und wird als Code-Switching beschrieben (vgl. Pelloni/ Voloshchuk 2023: 11; Dembeck/ Parr 2017: 125 f.). Es ist nicht falsch, linguistische Begriff‐ lichkeiten heranzuziehen. Allerdings sollte man darauf achten, dass sie den Blick auf das in der Literatur untersuchte Phänomen nicht verkürzen oder verstellen. Die Konzeption der Mehrsprachigkeit des Textes - so die These dieses Beitrags - folgt nicht nur ästhetischen Kriterien, sondern antizipiert die Rah‐ 58 Natalia Blum-Barth <?page no="59"?> menbedingungen des Sprachwechsels des Autors. Diese können sehr unter‐ schiedlich sein. Der Sprachwechsel kann etwa einen experimentellen Charakter aufweisen und eine Episode im Schaffen des Autors bleiben oder als Tribut einer literarischen Tradition erfolgen, vor allem im Mittelalter, als Sprache an die Gattung gebunden war. Der Sprachwechsel kann auch als bewußte und re‐ flektierte Schreibweise (post)koloniale Verhältnisse thematisieren oder aber die Absage an die vermeintlich rückständigen Sprachen „kleiner Literaturen“ vor‐ führen. Vor welchen Hintergründen und unter welchen Rahmenbedingungen der Sprachwechsel des Autors erfolgt, wirkt sich direkt oder indirekt auf den Sprachwechsel in seinen Werken aus: auf die Formen der Mehrsprachigkeit und ihre Realisierungen. Ihr Zustandekommen und ihr Stellenwert im literarischen Text erschließt sich dem Leser nicht allein über ästhetische Aspekte. Als Beispiel dafür sei auf den Roman Смерть лева Сеcіла мала сенс (2021) von Olena Stjaschkina verwiesen. Er ist in zwei Sprachen verfasst: Der Text beginnt in russischer Sprache und endet in der ukrainischen. Der Roman berichtet vom Schicksal von vier Protagonisten aus Donezk, die alle am selben Tag 1986 geboren wurden. Der Sprachwechsel ist an die Handlung gebunden und findet 2014 statt, als die prorussischen Milizen die Stadt besetzten. Die ästhetische Di‐ mension des Sprachwechsels in diesem Werk ist der historischen und politischen untergeordnet. Mit dem Sprachwechsel geht nicht nur der Wechsel der inter‐ textuellen Bezüge und die bewusste Rezeption der ukrainischen Literatur einher, sondern vor allem die Entdeckung der verheimlichten Familiengeschichte der Protagonisten, die auf die Verbrechen des kommunistischen Regimes verweist (Stjaschkina 2023). Der Zusammenhang zwischen dem Sprachwechsel und dem Machtaspekt ist in diesem Roman selbstredend. In den meisten Werken ist er jedoch viel subtiler, insbesondere in der Lyrik. In Gedichten verhilft der Sprachwechsel der Erzeugung von Klangeffekten, der Inszenierung verschiedener Sprachfrequenzen, akustischer Konvergenz und Kontrast. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel stellt der tschechische Exilschriftsteller Ivan Blatný dar, „der in seinen Versen zum Teil brüskierende sprachliche Vermischung schafft“ (Kliems 2007: 42). Im britischen Exil bleibt Tschechisch seine Grundsprache, die er mit englischen, deutschen, französi‐ schen, lateinischen und italienischen Sequenzen durchmischt: Ich bin nur Dichter einer Sprache Aber ich liebe fremdsprachige Einschübe Brasdessus brasdessous There is a remote chance that I’ll win The Prix Nobel for literature. (Blatný 1987: 56) Sprachwechsel und Literatur 59 <?page no="60"?> Die durch die Mehrsprachigkeit erzeugten Klangeffekte führen die Selbstsicher‐ heit des lyrischen Ich als Literaturgenie ad absurdum. Die klangliche Dissonanz zwischen dem Deutschen und Englischen widerspricht der durch das lyrische Ich artikulierten Hoffnung auf den Nobelpreis für Literatur und führt seinen Status als Sonderling vor. Durch den Sprachwechsel entzieht sich Blatný der herrschenden Ordnung und unterstreicht sein Außenseitertum: nicht nur als Folge seiner psychischen Erkrankung, sondern auch als existentielle Erfahrung eines Künstlers. Die Heranziehung des (sprachbiografischen) Wissens über den Sprach‐ wechsel des Autors sowie kultureller und historischer Kontexte ermöglicht ein tieferes Verständnis der Bedeutung und Funktion der Mehrsprachigkeit im Text. Dadurch wird die eindimensionale Betrachtung der Mehrsprachigkeit als kulturelle Bereicherung überwunden, um neue Aspekte, die die Mehrsprachig‐ keit in literarischen Werken verhandelt, wie etwa explizite und implizite Macht‐ verhältnisse, (post)koloniale Diskurse, politische, ideologische und historische Komponenten des Sprachwechsels, kulturelle Assimmilation bzw. Prozesse der Identitätssuche u.-v.-a. zu fokussieren. Das literaturwissenschaftliche Interesse sollte auf die Erforschung der Aus‐ wirkung des Sprachwechsels auf die Tiefenstruktur des Textes, etwa auf das Klangbild, die Intertextualität, die Bezugnahme auf verschiedene Kontexte - historische, politische, biografische etc. - gerichtet werden. Der Zusammenhang zwischen der ästhetischen Dimension der Mehrsprachigkeit des Textes und dem Sprachwechsel des Autors würde veranschaulichen, mit welchen Kunst‐ griffen und zu welchem Ziel die Autoren eine oder mehrere Sprachen in die Grundsprache ihres literarischen Textes einwirken lassen. Daran könnte man den durchaus unterschiedlichen Stellenwert des Sprachwechsels und der Mehr‐ sprachigkeit in verschiedenen Epochen, Literaturen und häufig im Gesamtwerk eines Autors beobachten. 2. Der Sprachwechsel und seine Gründe Ein Sprachwechsel eines Autors liegt dann vor, wenn die Sprache der Literatur eine andere als die Sprache der Herkunft, der Bildung, des Alltags etc. des Autors ist. Entscheidend dabei ist, ob der Autor die Erfahrung des literarischen Schreibens in seiner ersten Sprache mitbringt, so dass der Sprachwechsel den Wechsel der Literatursprache - und somit die Anpassung des eigenen individuellen Schreibstils an die neue Sprache und die Orientierung an einer anderen literarischen Tradition etc. - einschließt. Handelt es sich um den Wechsel der Literatursprache, so geht es um zweisprachige Autoren, wie bei 60 Natalia Blum-Barth <?page no="61"?> Nabokov. Sein literarisches Œuvre liegt in russischer und englischer Sprache vor, er ist Autor zweier Literaturen. In den meisten Fällen geht es nicht um den Wechsel der Literatursprache, sondern der Autor schreibt in einer anderen als seiner Herkunftssprache. Das ist eine typische Situation bei Autoren, die als Kinder migriert sind und in der Sprache ihrer Bildung literarisch tätig werden. Die ästhetisch konzipierte Mehrsprachigkeit der Texte hängt von der (litera‐ rischen) Vorbildung der Autoren in der Herkunftssprache, von persönlicher und emotionaler Bindung zum Herkunftsort, von der Vertrautheit mit literarischen Prozessen und der Popkultur im Herkunftsland, vom Image der Herkunfts‐ sprache und des -landes in der Welt etc. ab. Meistens korrelieren viele dieser Aspekte mit dem Alter, in dem künftige Autoren aus ihrem Herkunftsort herausgerissen wurden. Die Gründe für den Sprachwechsel können sehr unterschiedlich sein: his‐ torische, gesellschaftliche, persönliche, biografische, berufliche, ideologische u. a. Der Wechsel der Literatursprache im Exil hängt häufig mit der Illoyalität der Autoren gegenüber der Politik, Ideologie, Regierung und Herrschaftselite in ihrem Herkunftsland zusammen. Meistens werden Autoren aufgrund ihrer oppositionellen Haltung aus dem Land vertrieben oder müssen vor den Macht‐ habern aus Angst vor Verfolgung und Ermordung fliehen. Wie die meisten Vertreter der ersten Migrationswelle - Fedor Stepun, Vladimir Lindenberg, Alja Rachmanowa u. a. - floh auch Vladimir Nabokov vor den Bolschewiken und vollzog einen Sprachwechsel. Sicherlich spielte dabei die Entscheidung für einen neuen Leserkreis - nicht zuletzt wegen der Unmöglichkeit der Publikation im Herkunftsland oder angesichts der Alternative, nur für russische Migranten zu schreiben - eine wichtige Rolle. Die Erkenntnis über die Unmöglichkeit der Rückkehr verstärkte die Anstrengungen, die bei einem Wechsel der Literatur‐ sprache unumgänglich sind. Viele Autoren hatten Förderer, die als Initialzünder im Prozess des Sprach‐ wechsels fungierten. Bei Nabokov war es der US-amerikanische Schriftsteller und Literaturkritiker Edmund Wilson. Über zwei Jahrzehnte verband beide eine enge Freundschaft, bis Meinungsverschiedenheiten über Nabokovs Über‐ setzungen von Puškins Werken die beiden trennte. Für den Wechsel der Litera‐ tursprache bei Jiří Gruša beispielsweise spielte hingegen die Liebesbeziehung zu seiner späteren Frau Sabine Gruša eine große Rolle. Ein weiteres Beispiel stellt der Wechsel der Literatursprache vom Rumänischen und Deutschen zum Ukrainischen bei Olha Kobyljanska (1863-1942) dar, der unter dem Einfluss der ukrainischen Feministinnen Sofia Okunevska-Morachevska (1865-1926), die als erste Frau Ärztin in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wurde, und Sprachwechsel und Literatur 61 <?page no="62"?> Natalia Kobrynska (1855-1920), ukrainische Schriftstellerin und Kämpferin für Frauenrechte, stattfand. Abseits von Exil bzw. Migration lässt sich der Wechsel der Literatursprache als Folge der Assimilation in kolonialen Kontexten beobachten. Die Vorherr‐ schaft der russischen Sprache in der ehemaligen Sowjetunion führte zum Wechsel der Literatursprache insbesondere bei Autoren des Nordostens und Nordens der Sowjetunion. Der nanajische Autor Georgij Chodsher vollzog den Sprachwechsel und schrieb mehrere Werke auf Russisch. Sein Sprachwechsel erfolgte durch die Übersetzung der nanajischen Folklore ins Russische. Dadurch wurde die Funktion der Muttersprache als Bewahrerin der Identität aufgegeben und die Bereitschaft gesteigert, Russisch als Umgangssprache zu verwenden. Ähnliche Prozesse der Aneignung der russischen Sprache lassen sich auch bei burjatischen und tschukotischen Autoren beboachten. Indem ihre Märchen, Legenden, Lieder in der russischen Sprache verschriftlicht wurden, wurde die Grenzziehung zwischen dem Eigenen und Fremden aufgehoben, wodurch die Prozesse der Assimmilation erfolgreich fortschritten. Dies manifestiert sich im zweisprachigen literarischen Œuvre dieser Autoren, die in ihrer Mutersprache debütierten und dann fast ausschließlich auf Russisch schrieben, wie etwa der burjatische Dichter Nikolaj Damdinov und der tschukotische Jurij Rytcheu (Blum-Barth 2020). Zurecht schreibt Olga Grjasnowa in ihrem Essay Die Macht der Mehrspra‐ chigkeit: Man kann sich noch heute selbst in den entlegensten Dörfern im Kaukasus oder in Zentralasien auf Russisch verständigen, allerdings ist dies dem Umstand geschuldet, dass Russisch nicht nur eine wunderschöne, sondern auch eine imperiale Sprache ist. (Grjasnowa 2021: 8) Die Befreiung vom postkolonialen Erbe geht mit dem Sprachwechsel einher. Seit 2014, und spätestens seit der russischen Vollinvasion der Ukraine am 24.02.2022, wechselten viele ukrainische Sänger, Moderatoren, Politiker, Sportler, Autoren u. a. demonstrativ vom Russischen ins Ukrainische. Vitalij Kapranov, Ilja Kiva, Borys Khersonskyi, Olena Stjaschkina, Vitalii Sapeka, Andrej Kurkow u. a. vollziehen den Wechsel der Literatursprache als Ausdruck ihrer bewussten Entscheidung für die ukrainische Literatur und Kultur. 3. Typologie des Sprachwechsels Ob ein Autor die Erfahrung des literarischen Schreibens in seiner Mutterbzw. Herkunftssprache aufweist oder nicht, wird als Kriterium für die Unterschei‐ 62 Natalia Blum-Barth <?page no="63"?> 4 Ausführlich hierzu vgl. Cornejo (2010) und Kliems (2003). dung zwischen dem Wechsel der Literatursprache und dem Schreiben in einer anderen als der Herkunftssprache zugrunde gelegt. 3.1 Wechsel der Literatursprache Die Erfahrung des literarischen Schreibens in der Mutterbzw. Herkunfts‐ sprache beinhaltet nicht nur die Kenntnis der Literatur und des jeweiligen literarischen Feldes, sondern auch die Herausbildung des eigenen individuellen Schreibstils, der vor dem Hintergrund der literarischen Vorbildung in der Mutterbzw. Herkunftssprache geformt wird. Wenn sich der Autor einen Namen in seiner ersten Sprache gemacht hat, ist der Sprachwechsel für ihn zugleich ein Literaturwechsel. In diesem Fall handelt es sich um zweisprachige Autoren. 3.1.1 Zweisprachige Autoren Vladimir Nabokov ist sicherlich der bekannteste zweisprachige Autor (Blum-Barth 2015: 91 f.). Zweisprachige Autoren verfassen ihre literarischen Texte in mindestens zwei Sprachen und haben als Autoren Erfolg in der Literatur beider Sprachen. Mit dem Wechsel der Sprache wechseln sie auch die Zuordnung zu einer Nationalliteratur. Häufig geht dies mit ihrer Marginalisierung als Autor in der Literatur ihrer Herkunftssprache einher, weil sie als ideologische Gegner und Kritiker der Regierung verfolgt oder als Verräter und Nestbeschmutzer marginalisiert werden. Die Frage der Loyalität - sowohl des Autors zum Herkunftsland als auch der Literaturforschung zum Werk des Autors - taucht früher oder später auf. Die meisten zweisprachigen Autoren sind Exilautoren. Ota Filip (1930-2018) beispielsweise wurde 1974 aus der Tschechoslowakei ausgebürgert, Jiří Gruša wurden 1981 die tschechoslowakischen Bürgerrechte aberkannt, nachdem er von seinem USA-Aufenthalt nach Deutschland zurückgekommen war. Beide waren bereits in tschechischer Sprache als Schriftsteller aktiv, konnten aber einen Wechsel der Literatursprache vollziehen und debütierten erneut Anfang der 1990er-Jahre mit ihren auf Deutsch geschriebenen Werken. 4 Der Wechsel der Literatursprache wie auch der Sprachwechsel insgesamt wird von Vorbildern bzw. von literarischer Tradition beeinflusst, an die man anschließen kann. Den Autoren mit tschechischer Herkunftssprache 5 dient Franz Kafka als Identifika‐ tion und Referenzrahmen. Sprachwechsel und Literatur 63 <?page no="64"?> 5 Libuše Moníková studierte in Prag Germanistik, 1971 folgte sie ihrem deutschen Mann nach Göttingen und betrat bereits 1981 mit dem viel beachteten Roman Eine Schädigung die deutschsprachige Bühne. 6 „Eine ukrainische Melodie“ (1839) ist als Volkslied mit dem Titel „Ні, мамо, не можна нелюба любить“ bekannt; sein 1843 auf Russisch verfasstes Gedicht „Черные очи“ wurde von Schaljapin als Romanze „Очи черные, очи страстные…“ weltbekannt. Auch koloniale Verhältnisse spielen bei einem Sprachwechsel eine besondere Bedeutung. Ein Beispiel dafür stellt Yevhen Hrebinka (1812-1848) dar, der auf Ukrainisch und Russisch schrieb und sich als Lyriker in beiden Literaturen einen Namen machte. Seine Gedichte wurden vertont und sind heute als ukrainische und russische Volkslieder bekannt. 6 Neben Lyrik und Fabeln verfasste Hrebinka über vierzig Erzählungen und Romane. Besonders beliebt in Russland war sein Roman Čajkovskyj (1843), der - wie viele seiner russischsprachigen Werke - ukrainische Themen enthält: Geschichten eines Pyriatyniers (1837), die histori‐ schen Gedichte „Hetman Swirgowskij“ (1839) und „Bogdan“ (1843), die Novelle Der Nischener Oberst Solotarenko (1842). Der in Lviv geborene Thaddäus Rittner (1873-1921) debütierte mit in polni‐ scher Sprache verfassten Dramen. Nach seinem Umzug nach Wien wechselte er zum Deutschen. Während der heute in Vergessenheit geratene Rittner Bühnen‐ werke in polnischer und deutscher Sprache schrieb, verfasste er seine Romane auf Deutsch. Auf Polnisch erschienen sie in der Übersetzung seiner Frau, wobei der Textvergleich seine Mitarbeit am Übersetzungsprozess vermuten lässt. Seine kontroverse Rezeption in Polen veranschaulicht die mangelnde Loyalität für zweisprachige Autoren (Taborski 1983: 139 f.). Ein seltenes Beispiel des mehrfachen Wechsels der Literatursprache stellt Jurij Klen dar. Das dichterische und übersetzerische Œuvre des 1891 im dama‐ ligen russischen Gouvernement Wolhynien als Sohn eines Preußen und einer Baltendeutschen geborenen Oswald Burghardt liegt in drei Sprachen vor. Als Mitglied der „ukrainischen Neoklassiker“, einer 1920 entstandenen Gruppe, schrieb er unter dem Pseudonym Jurij Klen Werke, die zu Meilensteinen der ukrainischen Literatur wurden. Die Neoklassiker bemühten sich um Erneue‐ rung der ukrainischen Literatur durch klassische Gedichtformen sowie Motive und Stoffe der Weltliteratur. Sie lehnten die Implementierung der kommunis‐ tisch-sowjetischen Ideologie in der Kunst ab. Bis auf Klen, der sich 1931 nach Deutschland retten konnte, wurden die Neoklassiker Opfer stalinistischer Säuberungen. Klen setzte in der Emigration seine literarische Arbeit fort und prägte wegweisend die Entwicklung der ukrainischen Exilliteratur. Jurij Klen (vgl. Lindekugel 2003) ist nicht nur ein seltenes Beispiel für einen mehrfachen Wechsel der Literatursprache (sein Werk liegt auf Russisch, 64 Natalia Blum-Barth <?page no="65"?> 7 Die Gedichte in dem Band Spätlese schrieb Klen zwischen 1932 und 1945 (auf Deutsch), also weitgehend parallel zu seinem Sprachwechsel ins Ukrainische; ins Englische übersetzte er, schrieb aber keine eigenen Gedichte auf Englisch. Ukrainisch und Deutsch vor), sondern für dessen besondere Ausrichtung. Üblicherweise entscheiden sich Autoren gegen die Sprache der Peripherie, wenn sie nicht ihre Muttersprache ist. Unter seinem Geburtsnamen Oswald Burghardt verfasste er sein lyrisches Frühwerk in russischer Sprache. Bis zur Erlangung der Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg war die ukrainische Sprache verboten. Sein Wechsel vom Russischen zum Ukrainischen war eine bewusste Entscheidung. „Vorbereitet“ hat Klen seinen Sprachwechsel nicht nur durch Selbstübersetzung eigener Gedichte aus dem Russischen ins Ukrainische, sondern auch durch zahlreiche Übersetzungen deutscher (Rückert, Goethe, Heym, Rilke, George), französischer (Rimbaud, Verlaine, Valéry, Gau‐ tier) und englischer Gedichte (Shakespeare, Byron, Shelley) ins Ukrainische. Der Vergleich des russischen Frühwerks mit den Werken in ukrainischer Sprache (nach der Emigration nach Deutschland 1931) veranschaulicht die Orientierung des Autors an klassischen und romantischen Gedichtformen. Durch seine Lite‐ raturübersetzungen und später als Mitglied der „Neoklassiker“, die die Moderne in die ukrainische Literatur einbrachten, orientierte sich Klen an strengen lyri‐ schen Formen und weltliterarischen Stoffen. Meisterwerke, klassische Formen (Epopöe, Quatrain), romantische Gedichtformen (Sonett, Terzine, Oktave, Ses‐ tine, Ballade) und Stoffe wie die Odyssee, Vergils Aeneis, Catulls Lesbia oder Goethes Faust-Motiv führte Klen durch seine Übersetzungen und durch sein eigenes literarisches Schreiben, das diesen Kanon nachahmte, in die ukrainische Literatur ein. Die zahlreichen in deutscher Sprache verfassten Gedichte und Übersetzungen ukrainischer Lyrik ins Englische blieben unveröffentlicht. 7 Erst 2023 erfolgte dank der Editionsarbeit von Nataliia Kotenko-Vusatyuk und Andrii Portnov die Erstausgabe der von Klen geplanten Anthologie aus seinem Nachlass (Kotenko-Vusatyuk/ Portnov 2023). Der Sprachwechsel von Jurij Klen (Oswald Burghardt) zum Ukrainischen und seiner Popularisierung der ukrainischen Literatur im Ausland liefert ein seltenes Beispiel des bewußten Einschreitens für das Recht auf Existenz einer marginalisierten Sprache und Literatur, deren Vertreter - Neoklassiker - von den Sowjets physisch vernichtet wurden. Der Sprachwechsel der aus der Tschechoslowakei stammenden Autoren - wie auch Nabokovs - hängt mit ihrer persönlichen Ablehnung der kommunistischen Ideologie und als Konsequenz von Flucht bzw. Ausweisung aus der Heimat zusammen. Rittners Wechsel vom Polnischen zum Deutschen in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wie auch Hrebinkas Wechsel vom Ukrainischen zum Russischen im Russischen Sprachwechsel und Literatur 65 <?page no="66"?> Zarenreich folgte der Logik der Hierarchie der Sprachen im Kontext kolonialer Verhältnisse. Neben der angesprochenen Problematik der Loyalität, die im Zusammenhang mit dem Werk zweisprachiger Autoren auftaucht, kann ihnen eine weitere Gemeinsamkeit bescheinigt werden: die Selbstübersetzung. Nabokov, Filip, Gruša, Rittner, Klen und fast alle zweisprachigen Autoren übersetzten ihre in der Herkunftssprache verfassten Werke in die neue Literatursprache. Häufig behielten diese Übersetzungen einen Werkstattcharakter, aber manchmal waren sie Vehikel für die Um- und Fortschreibung der in der Herkunftssprache verfassten Werke, wie bei Nabokov und Filip. Unabhängig vom „Schicksal“ der selbstübersetzen Werke, scheint Selbstübersetzung der Hauptweg zu sein, auf dem sich der Sprachwechsel zweisprachiger Autoren vollzog. 3.1.2 Partieller Sprachwechsel Der Wechsel der Literatursprache ist ein Prozess. Bei den meisten Autoren wird er vermutlich nicht abgeschlossen und gipfelt in einem temporären oder parallelen Schreiben in zwei Sprachen. Meistens lässt sich jedoch quantitativ und qualitativ die Dominanz einer Sprache feststellen. Innerhalb des partiellen Sprachwechsels lassen sich drei Möglichkeiten unterscheiden: a. Experimenteller Sprachwechsel Insbesondere Dichter sind auf der Suche nach einem eigenen, individuellen Stil. Diese Suche kann durch Sprach- und Identitätskrisen verstärkt werden, so dass die Zuwendung zu einer anderen Kultur und Literatur, häufig in Folge von per‐ sönlichen Kontakten und Reisen, zur Inspirationsquelle für eigene Kreativität wird. Sie erhält den Stellenwert eines Experiments, um neue Stilrichtungen und -mittel sowie Themen auszuprobieren. Häufig verhilft der experimentelle Sprachwechsel zu einer Befreiung von etablierten Vorbildern und Formen, hat einen innovativen oder aber auch epigonalen Charakter. Der zweifache Sprachwechsel von Wladimir Lindenberg (1902-1997) stellt den Ausdruck seines literarischen Experimentierens und Suchens dar und dient der Entwicklung seines sprachlich-stilistischen Instrumentariums. In Russland verfasste er auf Deutsch zahlreiche Gedichte (Manuskripthefte Erlebtes und Erträumtes und De profundis), in Deutschland schrieb er auf Russisch seine autobiografische Skizze Tri doma und übersetzte diese zwei Jahre später ins Deutsche. Ähnliche Beweggründe können Stefan George und Rainer Maria Rilke bescheinigt werden: Auch sie praktizierten solche „Werkstattübungen“, die ihre Kunstfertigkeit in deutscher Sprache schulen sollten (vgl. Forster 1974). Viel mehr als Rilkes russische Gedichte sind seine Russlandeuphorie und seine 66 Natalia Blum-Barth <?page no="67"?> Freundschaft mit berühmten Persönlichkeiten (Lou Andreas-Salomé, Marina Cvetaeva, Lev Tolstoj, Maksim Gorʼkij u. a.) das Thema der Forschung (vgl. Asadowski 1986). Rilkes auf Russisch verfasste Gedichte - etwa „Пожаръ“, „Утро“, „Лицо“, „Старик“ - veranschaulichen seine Versuche, die Metrik in der russischen Sprache zu beherrschen und sind wertvolle Dokumente des experimentellen Wechsels der Literatursprache. b. Sprachlich bedingte Genrepräferenz Der Zusammenhang zwischen dem Genre und der Sprache war insbesondere im Mittelalter verbreitet. Dem Dichter standen mehrere Sprachen zur Verfügung, und ihre Wahl hing vordergründig von der Art des literarischen Textes ab. Nicht die Nationalität oder Muttersprache des Poeten war das Kriterium, sondern die Gattung, die nicht nur das Muster des Textes vorgab, sondern auch die Sprache reglementierte (vgl. Forster 1974: 30). Diesen Umstand erklärt Forster dadurch, dass „die Dichtung mit einer ver‐ gleichsweise beschränkten Anzahl von Themen, Formeln und Topoi arbeitete, die international waren und einen Teil des allgemeinen europäischen Kultur‐ erbes darstellten“ (Forster 1974: 35). Dieses Phänomen lässt sich auch bei den Gegenwartsautoren beobachten. Alfrun Kliems verwendet die Formulierung „sprachlich bedingte Genrepräferenz“ (Kliems 2003: 87) für Jan Novák, der auf Tschechisch und Englisch schreibt, wobei die Wahl der Sprache vom Genre motiviert ist. Sprachlich bedingte Genrepräferenz in der deutsch-russischen Literatur beobachtet man beispielsweise im literarischen Schreiben von Olga Martynova. Die Autorin veröffentlichte fünf Lyrikbände in russischer Sprache, bevor sie 2010 ihren ersten Roman Sogar Papageien überleben uns schrieb. Der fünfte Band, Von Tschwirik und Tschwirka, hat den Untertitel Gedichte aus dem Roman über Papageien und verweist auf das parallele Schreiben in verschiedenen Gattungen. Die russischen Gedichte übersetzte Martynova 2012 zusammen mit Elke Erb ins Deutsche. In einem Interview erläuterte die Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2012 ihre sprachlich bedingte Genrepräferenz wie folgt: Ich glaube, dass das eine sehr gute Möglichkeit für mich ist, die Lyriksprache und die Prosasprache auseinanderzuhalten. Weil, ich bin immer sehr unglücklich, wenn jemand sagt, aha, das ist Lyrikerprosa. Ich mag das nicht. (Scholl 2012) Die Bindung der Versform und des Versmaßes an die Besonderheit der jewei‐ ligen Sprache und literarischen Tradition erklärt die Schwierigkeit bzw. die Unmöglichkeit des Sprachwechsels für Lyriker. Sprachwechsel und Literatur 67 <?page no="68"?> 8 Diese Autoren waren mehrsprachig, aber für ihr literarisches Schreiben verwendeten sie selbst in der Deportation ihre krimtatarische Muttersprache. Cengiz Dagci (1919- 2011), der seit 1946 in Großbritannien lebte, gilt als Klassiker türkischer Literatur und stellt eine interessante Ausnahme des Sprachwechsels unter den krimtatarischen Autoren dar. 9 1775 wurde der Russisch-Türkische Krieg (1768-1774), aus dem Moskau als Sieger hervorging, beendet. Die Kosaken des Saporizka Sitsch verhalfen Moskau entschieden zu diesem Sieg. Nun waren sie überflüssig. Der partielle Wechsel der Literatursprache impliziert nicht nur das literari‐ sche Schreiben in zwei Sprachen, sondern eine parallele Teilhabe als Autor am Literaturbetrieb des Herkunfts- und des Aufenthaltslandes. Dieses Phänomen betrifft gerade nicht verfolgte und ausgewiesene Autoren, die sich ins Exil retten mussten, sondern solche, die ihr Herkunftsland freiwillig - auch wenn diese Freiwilligkeit durch wirtschaftliche, berufliche oder andere Überlegungen erzwungen war - verließen. Die Loyalität zur Politik des Herkunftslandes scheint das zentrale Unterscheidungsmerkmal dieser Autoren von den Exilau‐ toren zu sein. So erweist auch Olga Martynova ihre Dienste dem russischen Präsidenten Putin, indem sie in ihrem Beitrag „Zwischen Raum und Zeit“ für die Frankfurter Rundschau (Martynova 2019) die Spur einer ganzen Reihe namhafter Schriftsteller russischer Literatur auf der Krim markiert, ohne einen einzelnen Namen der krimtatarischen Literatur zu nennen oder die sowjetische Deportation der Krimtataren von 1944, den Völkermord an den Krimtataren oder die Annexion der Krim durch Russland zu erwähnen. Wie schwach muss jedoch diese Spur sein, wenn das Foto vom Balkon, auf dem Čechov und Tolstoj zu sehen sind, herausgestellt wird, aber Ismail Gaspirali (1850-1914), Asan Sabri Ayvazov (1878-1938), Osman Akçokraklı (1879-1938), Ümer Ipçi (1897-1955), Amdi Giraybay (1901-1930), Ziyadin Cavtöbeli (1995-1991), Şamil Aladin (1912-1996), Yusuf Bolat (1909-1986) u. v. a. krimtatarische Dichter und Schriftsteller 8 in Martynovas Zeitungsbeitrag verschwiegen werden. c. Politisch und ideologisch erzwungener Sprachwechsel Neben den von der literarischen Tradition geprägten und vorbestimmten Themen kann die Verwendung der Sprache politisch und ideologisch reguliert werden. Als Beispiel dafür sei das Verbot der ukrainischen Sprache im 18. Jahr‐ hundert durch die Anordnungen von Peter I. und Katharina II. erwähnt. Das im April 1775 erlassene kaiserliche Dekret über die Liquidierung der Saporoger Sitsch 9 ging mit der Vertreibung der Kosaken in das Kuban-Gebiet und einem völligen Verbot der ukrainischen Sprache in Literatur, Bildung, Verwaltung und Kirche einher. Allein im familiären Kontext wurde die ukrainische Sprache ge‐ duldet. Die wenigen, Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen 68 Natalia Blum-Barth <?page no="69"?> 10 Dieses Theaterstück liegt dem Libretto zugrunde, das Mychajlo Staryc’kyj 1872 zur Operette Čornomorci von Mykola Lysenko schrieb (Kucharenko 1958). 11 Ševčenko 2003. „Ich habe gerade mein Die Blinde umgeschrieben und weine darüber; welcher Teufel ritt mich und für welche Sünden, dass ich vor Kazapen in ihrer trockenen Kazapensprache beichte.“ (Übersetzung der Verfasserin) Werke in ukrainischer Sprache thematisieren deshalb familiäre und alltägliche Situationen und präsentieren sich als Travestie. Ein Beispiel hierfür ist das 1836 in ukrainischer Sprache verfasste Theaterstück Der Schwarzmeeralltag in Kuban 1794-1796 von Jakiv Kucharenko. 10 Auch der ukrainische Nationaldichter Taras Ševčenko (1814-1861), der für seine Gedichte 1847 zur lebenslangen Verbannung verurteilt war, wurde zum partiellen Sprachwechsel gezwungen. Im Brief an Jakiv Kucharenko vom 30. September 1842 schrieb Ševčenko: „Переписав оце свою Слепую та й плачу над нею, який мене чорт спіткав і за який гріх, що я оце сповідаюся кацапам черствим кацапським словом.“ 11 Insgesamt verfasste Ševčenko dreizehn Werke (davon zwei Gedichte) auf Russisch. Die Bezeichnung der russischen Sprache als „trocken“ ist der Ausdruck einer Selbstreflexion über den Wechsel der Literatursprache und seiner Haltung gegenüber dem russischen Imperialismus. Ausschlaggebend für diesen Wechsel war auch die finanzielle Not, die Ševčenko in Petersburg litt, wobei er hoffte, sie durch die Aufführung der Bühnenstücke zu mildern. Zu weiteren ukrainischen Autoren, die durch das Verbot der ukrainischen Sprache zum partiellen Sprachwechsel gezwungen waren, gehören Hryhorij Kvitka-Osnov’janenko (1778-1843), Pantelejmon Kuliš (1819-1897), Mykola Kostomarov (1817-1885) u. a. In den auf Russisch verfassten Werken implemen‐ tierten sie - wie auch Gogol’- ukrainische Themen in die russische Literatur. 3.2 Literarisches Schreiben in einer anderen als der Herkunftssprache Für die Werke von Autoren dieser Kategorie im deutschsprachigen Raum finden sich in der Forschungsliteratur mehrere Begriffe - „Chamisso-Literatur“, „Mi‐ grantenliteratur“, „Literatur der Migration“, „Literatur ohne festen Wohnsitz“, „interkulturelle / multikulturelle / transkulturelle Literatur“ -, die als Synonyme gelten, auch wenn sie unterschiedliche Facetten der Zugehörigkeit bzw. ihrer Zuschreibung fokussieren. Verallgemeinernd kann man behaupten, dass vier Aspekte für Autoren, die in einer anderen als ihrer Herkunftssprache literarisch schreiben, besonders kennzeichnend sind. Als erster Aspekt kann die Sozialisation und Bildung in der Sprache des Migrationslandes bezeichnet Sprachwechsel und Literatur 69 <?page no="70"?> werden, was mit dem jeweiligen Alter zusammenhängt, in welchem man migriert ist. Damit hängt das Aufgeben der Herkunftssprache und das mangelnde Interesse an Literatur und Kultur des Herkunftslandes zusammen. Die Distan‐ zierung von der Herkunftssprache ist häufig die Folge der traumatisierenden Erfahrung mit der Sprache bzw. mit der Mehrsprachigkeit. Aus diesen drei Aspekten ergibt sich, dass keine Erfahrung des eigenen literarischen Schreibens in der Erstbzw. Muttersprache vorliegt. Für Autoren, die in einer anderen als ihrer Herkunftssprache schreiben, lassen sich in Abhängigkeit vom Alter ihrer Migration zwei Möglichkeiten unterscheiden. 3.2.1 Schreiben in der Sprache der Bildung und Sozialisation Die Autoren der sog. „Vierten Migrationswelle“ - Vladimir Vertlib, Yulia Rabi‐ nowich, Eleonora Hummel, Alina Bronsky, Lena Gorelik, Olga Grjasnowa - sind im Kindesalter migriert. Da sie alle im schulpflichtigen Alter waren, wurde Deutsch für sie zur Bildungssprache. Hinzu kam, dass ihre bildungsorientierten Eltern sich um schnelle Integration im Migrationsland bemühten, sodass die Vermittlung der russischen Sprache kaum über die Kenntnisse für die Alltags‐ bewältigung denkbar war. Da die meisten von ihnen als „Kontingentflüchtlinge“ einreisten, wurden sie mit der Erwartung der Aufnahmegesellschaft konfron‐ tiert, sich auf ihre jüdische Identität zu besinnen. Auch dadurch rückte die Auseinandersetzung mit Russisch in den Hintergrund. Zugespitzt formuliert, stand kaum ein Autor dieser Gruppe ernsthaft vor der Entscheidung, in welcher Sprache der literarische Text geschrieben wird. Ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Literatur waren um ein Vielfaches besser als ihre entsprechenden Kenntnisse im Russischen. Am besten lässt sich dies an Olga Grjasnowa veranschaulichen: Im Jahr 1996 bin ich im Alter von elf Jahren mit meiner Familie aus Aserbaidschan nach Deutschland ausgewandert. Von da an wurde ich auf Deutsch sozialisiert, sodass ich das Deutsche heute um einiges besser beherrsche als meine russische Muttersprache. (Grjasnowa 2021: 11) An einer anderen Stelle vergleicht Grjasnowa ihre Vertrautheit mit Deutsch und Russisch: Ich kann meine Texte ausschließlich auf Deutsch schreiben. Deutsch ist die einzige Sprache, in der ich mir über alle Konnotationen eines einzelnen Wortes bewusst bin, in der ich weiß, ob es sich um eine politische oder popkulturelle Anspielung handelt. Mein Russisch ist im Vergleich dazu „eingerostet“ - ich habe die letzten zwanzig Jahre der Sprachentwicklung verpasst […]. (Grjasnowa 2021: 30) 70 Natalia Blum-Barth <?page no="71"?> Dieses Zitat korrespondiert mit der Konzeption der Mehrsprachigkeit in Grjas‐ nowas Roman Der Gott ist nicht schüchtern. Darin finden sich - anders als in ihrem ersten Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt - kaum Beispiele für manifeste, geschweige denn latente literarische Mehrsprachigkeit. Obwohl die erzählte Welt des Romans von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität geprägt ist und die Protagonisten mehrsprachig sind, ist die Autorin darauf bedacht, in die deutsche Sprache ihres Textes keine anderssprachigen Sequenzen einfließen zu lassen. Der Gott ist nicht schüchtern veranschaulicht, wie die Sprachen der Figuren und Handlungsorte aus dem Text ausgeschlossen werden. Die exkludierte Form der Mehrsprachigkeit (Blum-Barth 2021: 102 f.) in diesem Roman illustriert das Selbstzeugnis der Autorin: „Ich bin also mehrsprachig im Alltag und monolingual beim Schreiben: Wenn ich schreibe, dann, wie gesagt, ausschließlich auf Deutsch.“ (Grjasnowa 2021: 32) Ob traumatisierende Erfahrungen oder emanzipatorische Bestrebungen dabei vordergründig eine Rolle spielen, ändert nichts an der Tatsache, dass die persönliche Erfahrung des Sprachwechsels auf den Umgang mit der Mehrsprachigkeit im literarischen Text abfärbt. Das zweite Beispiel für die „sprachliche Verortung bzw. Entortung“ (Vertlib 2008: 48) liefert Vladimir Vertlib, der 1971 als fünfjähriges Kind mit seinen Eltern aus der Sowjetunion emigrierte. Obwohl jüdischer Herkunft, assimilierte sich seine Familie an die russische Kultur und gab jegliche Identität auf: Das Denken und Fühlen meiner Eltern war derart von der russischen Kultur und Sprache geprägt, dass für andere Kulturen und Sprachen nur wenig Raum blieb. Ihr Judentum bestand für sie aus den Marotten der Großeltern, aus Familiengeschichten und dem Antisemitismus, mit dem sie konfrontiert waren und der ihr Verhalten gegenüber ihrer nichtjüdischen Umgebung prägte. Die Religion spielte für sie keine Rolle. Sie waren Agnostiker, so wie es das Regime von seinen Bürgern verlangte. (Vertlib 2008: 50) Sehr subtil deutet Vertlib in diesen Zeiten die Umstände des Sprachwechsels und der Assimilation seiner Familie an. Die von seiner Familie geerbte Traumatisie‐ rung bindet den jungen Vertlib an die russische Sprache auch in der Emigration: Meine literarische Sozialisation erfolgte durch russische Literatur, danach durch die Literaturen anderer Sprachen in russischer Übersetzung. Deutsche Bücher begann ich erst verhältnismäßig spät zu lesen, nach der Emigration, mit fünfzehn. (Vertlib 2008: 50) Sprachwechsel und Literatur 71 <?page no="72"?> Über seine Werdung als Schriftsteller deutscher Sprache hat Vertlib sehr aus‐ führlich geschrieben: Deutschsprachiger Schriftsteller zu werden, ist für mich keine Selbstverständlichkeit gewesen. Die ersten Schreibversuche erfolgten auf Russisch. Im Deutschen hatten die Worte eine Bedeutung, im Russischen, meiner Muttersprache, einen tieferen Sinn. Die Struktur der deutschen Sprache war erst zu erlernen, ihre Nuancen und Doppelbödigkeiten waren zu erahnen, als das Russische mir schon als ein gut gestimmtes Instrument zur Verfügung stand, dessen Spiel ich mehr schlecht als recht, aber doch intuitiv beherrschte. Schließlich wählte ich jene Form, in der ich meine Gedanken am besten auszudrücken verstand: eine deutsche Oberfläche, unter der oft, eher unbewusst als gewollt, Satzbau, Melodie und Idiomatik des Russischen mitschwingen. (Vertlib 2008: 58f.) Vertlib entwirft zahlreiche Wortkonzepte (Vertlib 2008: 55), die in ihrer Bedeu‐ tung konkret festgelegt sind, wodurch sie Erinnerungen an frühere Erfahrungen transportieren und mit ihrem Klang das Sinnliche vorführen. In Folge der Sprachenbegegnung und -überlagerung entstehen „Klangpartnerschaften“, die zur zentralen Beschaffenheit von Vertlibs Prosa avancieren. Insgesamt sind die Geräuschkulissen seiner Texte, das Klangbild und der Rhythmus seiner Sätze so konzipiert, dass unter der deutschen „Oberfläche“ viel Russisches eingelagert wird. Neben verdeckter Übersetzung und Interferenz der Sprachen sind es zahlreiche unmarkierte intertextuelle Verweise auf die russische Literatur, die die Tiefenstruktur der deutschen Sprache dieser Texte anreichern und entautomatisieren (vgl. Shchyhlevska 2014: 168 f). Ermöglicht wird dies dem Autor durch seine Distanz zur deutschen Sprache: Kein einziges deutsches Wort hat für mich seine Fremdheit zur Gänze verloren. Darin liegt aber auch die Chance, den scheinbar bekannten und dennoch nicht ganz vertrauten Worten eine neue, manchmal überraschende Bedeutung zu geben oder sie in einen ungewohnten Kontext zu stellen. (Vertlib 2008: 59) 3.2.2 Kollaboratives Schreiben in der Fremdsprache Mit dem Begriff des „kollaborativen Schreibens“ wird die Unterstützung der Autoren durch eine andere Person, die wesentlich am Entstehen des Buches beteiligt ist, bezeichnet. Diese Unterstützung bezieht sich meistens auf die Sprache, beinhaltet hauptsächlich translatorische oder redaktionelle Elemente und wird vom Autor entsprechend öffentlich (in Paratexten) honoriert. Das kollaborative Schreiben findet sich bei Literaten, die im erwachsenen Alter migriert sind, sodass die Sprache des Migrationslandes für sie Fremdsprache 72 Natalia Blum-Barth <?page no="73"?> 12 Milchfrau in Ottakring (1933) war der dritte Band der autobiografischen Trilogie, die als Gesamtausgabe unter dem Titel Meine russischen Tagebücher und Symphonie des Lebens erschien: Rachmanowa (1960) und Rachmanowa (o. Jahr (ca. 1934)). 13 Vgl. auch Riggenbach (2015). 14 In der „Danksagung“ schreibt Petrowskaja: „Auf der Suche nach dem richtigen Aus‐ druck begleitete mich während der ganzen Entstehungszeit Sieglinde Geisel. Sie hat sich in dieses Wagnis gestürzt - ohne ihre Geduld, ihre Begeisterung und unsere Freund‐ schaft wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. / Meine Lektorin Katharina Raabe bestärkte mich in der Idee, dieses Buch zu schreiben. Aufmerksam und vertrauensvoll unterstützte sie mich in allen Phasen des Schreibens.“ Petrowskaja (2014: 284) ist. An zwei Autorinnen, Alja Rachmanowa und Katja Petrowskaja, soll dieser Typus des Schreibens in der Sprache des Migrationslandes erörtert werden. Alja Rachmanowa ist die einzige Autorin der ersten Migrationswelle, die einen „besonders starken Einfluß auf das Denken in Deutschland, wenn man die Zahl der Bücher und das Wirken in Vorträgen als Maßstab wählen kann“ (Kasack 1996: 24) ausübte. Ihr autobiografischer Roman Milchfrau in Ottakring (1933) wurde 600.000 mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt (vgl. Stahr 2012: 13). 12 Rachmanowa gehörte zu den meistgelesenen Autoren der Zwischen‐ kriegszeit, ihre Bücher wurden ausgezeichnet (1935) und verboten (ab 1938, 1946), neuaufgelegt und übersetzt. Anfang 1925 wurde sie „ohne Angabe der Gründe“ (Stahr 2012: 67) aufgefordert, Russland zu verlassen. Im Februar 1925 ging sie mit ihrem österreichischen Mann und dem dreijährigen Sohn nach Wien. Dort führte sie Tagebücher, in denen Erinnerungen an Russland, erste Eindrücke von Österreich sowie ihre Erfahrungen und Erlebnisse als Migrantin festgehalten wurden. Diese russischen Aufzeichnungen wurden von ihrem Mann ins Deutsche übersetzt und von beiden gemeinsam gestaltet. Um- und Fortschreibung sowie Modifikation und Transformation präsentieren sich als zentrale Verfahren der Sprachgestaltung, wie sie „das schreibende Paar“ (ebd.) im Rahmen dieser „Arbeitssymbiose“ (Stahr 2012: 174) 13 praktizierte. Während sich an Rachmanowas Texten das schöpferische Moment der Mehrsprachigkeit mit Hilfe der Textgenese untersuchen lässt, bietet sich für eine Analyse von Petrowskajas Roman Vielleicht Esther die hermeneutische Methode an. Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Petrowskaja - anders als bei anderen Autoren - die sprachreflexiven Äußerungen nicht von herkunftsspra‐ chigen Einsprengseln, d. h. von manifester Mehrsprachigkeit begleitet werden, wird angenommen, dass diese Stellen im Entstehungsprozess des Buches von der Freundin Sieglinde Geisel bzw. von der Lektorin 14 eingedeutscht und ge‐ glättet wurden. In diesem Fall ist von einer latenten Form der Mehrsprachigkeit auszugehen, die in der Tiefenstruktur des Textes verortet ist (Blum-Barth 2021: 77 f.). Als Indiz dafür gelten häufig intertextuelle Verweise auf Literatur in Sprachwechsel und Literatur 73 <?page no="74"?> 15 Zur Auflösung und Analyse dieser Inhalte vgl. Blum-Barth 2024: 309f. einer anderen Sprache, die Thematisierung des Klanges, akustische Stilmittel sowie lange syntaktische Konstruktionen und die Momente der Übersetzung. Latente Sprache muss in und aus der Hülle der Grundsprache ausgegraben und offengelegt werden. Die Sprache des Textes weist einen palimpsestähnlichen Charakter auf und offenbart in ihrer Tiefenstruktur die getarnte, versteckte, nicht offensichtliche Präsenz der anderen, latenten Sprache. Mein Deutsch blieb in der Spannung der Unerreichbarkeit und bewahrte mich vor Routine. Als wäre es die kleinste Münze, zahlte ich in dieser spät erworbenen Sprache meine Vergangenheit zurück, mit der Leidenschaft eines jungen Liebhabers. Ich begehrte Deutsch so sehr, weil ich damit nicht verschmelzen konnte […], denn dort waren nur Klänge, die man nicht einzufangen vermochte, wild waren sie und unerreichbar. Ich begab mich ins Deutsche, als würde der Kampf gegen die Stummheit weitergehen, denn Deutsch, nemeckij, ist im Russischen die Sprache der Stummen […] Ich wollte auf Deutsch schreiben, auf Teufel komm raus Deutsch, ich schrieb und versank unter dem Gewicht des aufquellenden Sprachfutters, als wäre ich Kuh und ungeborenes Kalb zugleich […] meine unübersetzbaren Leitsterne wiesen mir den Weg, ich schrieb und verirrte mich auf den geheimen Pfaden der Grammatik, man schreibt, wie man atmet, trist und Trost habe ich stets versöhnen wollen[.] (Petrowskaja 2014: 78 f.) In dieser für den gesamten Roman programmatischen Passage wird das litera‐ rische Schreiben in deutscher Sprache thematisiert. Die Information darüber, dass das Deutsch der Ich-Erzählerin eine „spät erworbene Sprache“ war, deren Klänge „nicht einzufangen“, „wild“ und „unerreichbar“ waren, soll den Leser dafür sensibilisieren, dass es noch eine andere Sprache gibt, die von zentraler Bedeutung sein kann. Die Autorin geht darauf ein, indem sie erläutert, was Deutsch im Russischen bedeutet. Dadurch wird nicht nur das Russische als latente Sprache in dieser Textstelle, sondern auch die Übersetzung als zentrales Verfahren für die Offenlegung des Russischen in der deutschen Grundsprache mitgeteilt. Ein weiterer Verweis auf die zu übersetzenden Inhalte liefert die Formulierung „meine unübersetzbaren Leitsterne“. Sie scheinen jenes „Gewicht des aufquellenden Sprachfutters“ zu sein, das in die deutsche Sprache des Textes eingegangen ist. 15 74 Natalia Blum-Barth <?page no="75"?> 4. Fazit Die Mehrsprachigkeit des literarischen Textes ist das Ergebnis eines ästheti‐ schen Konzeptes des Autors und wird direkt oder indirekt von seinen Erfah‐ rungen mit dem Sprachwechsel beeinflusst. Die verschiedenen Formen der Mehrprachigkeit und ihre Realisierungen im literarischen Text korrelieren mit dem erfolgten Sprachwechsel des Autors und reflektieren die damit verbun‐ denen Erlebnisse und Gefühle. Die verschiedenen Rahmenbedingungen und Hintergründe des Sprachwechsels des Autors verhelfen zum Verständnis der Mehrsprachigkeit, ihrer Funktion und ihres Stellenwerts im literarischen Text. Die hier vorgeschlagene Typologie präsentiert und ordnet die häufigsten Fälle des Sprachwechsels. Dabei wird deutlich, dass der Sprachwechsel emotional beladen und Konflikt behaftet ist. Der Wechsel der Sprache geht immer mit der Frage nach der Loyalität einher: sowohl des Autors zu Sprachen als auch des Rezipienten zum Text des Sprachwechslers. Der Sprachwechsel konfrontiert den Autor mit der Notwendigkeit einer Entscheidung und verlangt ihm eine Haltung ab, die auch Flucht, Ausweisung oder Migration als Konsequenz nach sich zieht. Die hier vorgestellte Typologie deutet an, dass es sowohl individuellen Sprachwechsel gibt - etwa des Autors im Exil und als Folge der Migration - als auch kollektiven, wenn beispielsweise durch Sprachverbote und imperiale Do‐ minanz einer Sprache ganze Regionen, Völker und Länder zum Sprachwechsel gezwungen werden. Angesichts der unter solchen Bedingungen herrschenden (Selbst)Zensur verfassen mehrsprachige Autoren einsprachige Texte oder ent‐ wickeln subversive Verfahren, um die Grundsprache ihres Textes mit latenter Mehrsprachigkeit anzureichern. Sprachwechsel ist der Ausdruck eines asymmetrischen Machtverhältnisses. Selbst wenn es ein experimenteller Sprachwechsel ist, beugt sich der Autor dem Reiz einer anderen Sprache und Literatur. Die durch diese Typologie herausgestellte politische bzw. ideologische Komponente des Sprachwechsels verleiht der Mehrsprachigkeit des Textes einen neuen Stellenwert, nämlich als Ausdruck der Eroberung, Unterdrückung, Anpassung oder Subversion. Auch die Reflexion der Autoren über ihren Sprachwechsel offenbart die von ihnen erlebten Traumatisierungen, die in literarischen Texten aufgegriffen werden und sich in verschiedenen Formen der Mehrsprachigkeit niederschalgen. Kurzum: die präsentierte Typologie sensibilisert den Leser für den Sprach‐ wechsel. Zugegebenermaßen kann sie die Vorstellung vom Sprachwechsel verändern: Der Sprachwechsel als ästhetisches Phänomen wird entromantisiert. Die heraugearbeiteten Typen machen deutlich, dass der Sprachwechsel eine Sprachwechsel und Literatur 75 <?page no="76"?> schwierige Entscheidung ist, die die Fragen nach Identität und Loyalität aufwirft und dem Autor titanische Arbeit abverlangt. Typologie des Sprachwechsels im literarischen Schreiben Literaturverzeichnis A S A D O W S K I , Konstantin (Hrsg.) (1986): Rilke und Rußland: Briefe, Erinnerungen, Gedichte. Berlin: Aufbau. B I R D , Jon et al. (Hrsg.) (1994). Travellersʼ Tales Narratives of Home and Displacement. 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Russische Futuristen interessierten sich für das Phänomen der Glossolalie religiöser Sekten. So kannte Kručenych eine Reihe von Artikeln von Dmitrij Konovalov unter dem Titel „Religiöse Ekstase im russischen mystischen Sektierertum“ (s. Konovalov 1907; 1908), in denen der Autor unter anderem über ekstatische Schreie in „verschiedenen Sprachen“ schrieb, die die Sektierer als „Reden in verschiedenen Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art Die Zeitschrift Double von Rea-Nikonova Ilja Kukuj Abstract: The article on visual multilingualism explores forms of interme‐ dial communication of artists and entanglement of different art genres and languages to the fore. From the mid 1980s Anna Tarshis aka Rea Nikonova together with Sergej Sigov aka Serge Segay as the first artists within the Soviet Union took part in the international mail-art network. Nikonova was also one of the most prominent unofficial neo-avant-garde artists in late Soviet times. In analysing Nikonova’s art in its development, difficul‐ ties of communication and artists’ cooperation within the mail-art-scene are discussed; with the example of the mail-art journal Double edited by Nikonova the particular role of language in visual poetry in a multilingual edition, where different possibilities of reading and interpretation prevail, comes to the fore. Keywords: Rea Nikonova, visual poetry, visual multilingualism, mail-art-scene, late Soviet neo-avant-garde, journal Double 1913 erklärte der russische Dichter Aleksej Kručenych auf den letzten Seiten seines Buches Vzorval′: „Am 27. April um 3 Uhr nachmittags beherrschte ich auf Anhieb alle Sprachen perfekt. So ist der Dichter von heute. Hier lege ich meine Gedichte auf Japanisch Spanisch und Hebräisch vor“ (Kručenych 1913). 1 Natür‐ <?page no="80"?> Fremdsprachen, […] eine der Manifestationen der übernatürlichen Gabe der Sprachen“ betrachten („речью на разных иностранных языках, […] одним из проявлений сверъестественного дара языков“; Konovalov 1907: 802; Kursiv der Quelle). Das Thema der sprachlichen Reflexion in der russischen Moderne im Allgemeinen und im Sektierertum im Besonderen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen; für weitere Einzelheiten siehe Ėtkind 1998. 2 Schon das Wort „Šiš“ bezeichnet im Russischen eine nur halbwegs anständige Geste, die im Deutschen mit dem Wort „Feigenhand“ bezeichnet wird. Dass das Buch „Vzorval′“ mit dieser provokativen Wortgeste endet, ist natürlich kein Zufall und passt in die Strategie der russischen Futuristen, alle Normen der (nicht nur sprachlichen) Kommu‐ nikation zu sprengen. (Der Neologismus im Titel des Buches „Vzorval′“ kommt von dem russ. vzorvat′, sprengen). Zu den jüdischen Kontexten dieses Gedichts und der russischen Avantgarde jener Zeit im Allgemeinen siehe Kacis 2006. 3 Bekanntlich gibt und gab es im hebräischen Alphabet keine Buchstaben für die Be‐ zeichnung der Vokale. Auch hier sprengt Kručenych mit seinem שи ש alle sprachlichen Normen. 4 Vgl. Kručenychs Gedicht „Vysoty (Vselenskij jazyk)“ („Höhen (Sprache des Univer‐ sums)“) aus der Sammlung Der tote Mond (Dochlaja luna, 1913), das nur aus Vokalen besteht, die eine Universalsprache bilden sollten (Kručenych/ Kul′bin 1913). Vladimir lich zeugten die beigefügten Gedichte (s. Abb. 1-2) eher von der performativen und provokativen Funktion dieser Erklärung als von den übernatürlichen sprachlichen Fähigkeiten Kručenychs. 2 Die Gedichte waren zum Lesen gedacht, da sie in kyrillischer Schrift geschrieben waren (einschließlich des „japanischen“ Textes), während die Schreibweise der Konsonanten im „jüdischen“ Gedicht, das aus einem Wort „šiš“ besteht, stilisiert wurde, um dem hebräischen Buchstaben ש („shin“) zu ähneln, der auch Teil des modernen hebräischen Alphabets ist. 3 Bezeichnend ist, dass der Dichter von den drei gewählten Sprachen in der ein‐ zigen indoeuropäischen Sprache - dem auf der lateinischen Schrift basierenden Spanisch - am wenigsten Erfolg hatte: Im Nachdruck von Vzorval′ aus dem‐ selben Jahr ersetzte Kručenych den Text. 1. Auf der Suche nach einer universellen Sprache Die Versuche von Kručenych, Velimir Chlebnikov, Vasilisk Gnedov und an‐ deren futuristischen Dichtern, eine universelle poetische Sprache zu erschaffen, die von den Lesenden unabhängig von ihrer sprachlichen Biografie wahrge‐ nommen werden könnte, gehören in dieselbe Zeit (siehe Janecek 1996). Die futuristische Zaum′ aktualisierte die materielle Faktur der Sprache, sowohl in ihren klanglichen als auch in ihren grafischen Komponenten (vgl. Hansen-Löve 2006): Der Klang des „Wortes als solchem“ und die Schreibweise des „Buchsta‐ bens als solchem“ (um die Titel der einschlägigen futuristischen Manifeste zu verwenden) traten in den Vordergrund. 4 Dieser Anspruch auf eine Univer‐ 80 Ilja Kukuj <?page no="81"?> Markov zufolge ist dieses Gedicht jedoch auf einem Gerüst von Vokalen aus dem kirchenslawischen Text des christlichen Glaubensbekenntnisses (russ.: Simvol very) aufgebaut (Markov 1967: 251). 5 «[…] больше русского национального чем во всей поэзии Пушкина». 6 «Никакой зауми не существует, каждое ощущение — это элементарная частица ума». Abb. 1 & 2: Aleksej Kručenych (1913): aus Vzorval’ salsprache war paradoxerweise mit dem Wunsch verbunden, nationale Tradi‐ tionen zu beachten. So behaupteten Chlebnikov und Kručenych, dass letzterer sein erstes Gedicht in Zaum′-Sprache „dyr bul ščyl“ (1912) „mehr national Rus‐ sisches als die gesamte Puschkin’sche Poesie“ 5 habe (Kručenych / Chlebnikov 1913: 9), während Gnedov später prinzipiell bestritt, je in Zaum′ geschrieben zu haben, die slawischen Wurzeln seiner Wortbildungen betonte und behauptete: „Es gibt keine Zaum′, jede Empfindung ist ein Elementarteilchen des Verstandes [ум]“ 6 (Gnedov 2018: 460). Hinter diesem Paradox stehen die Ambitionen der historischen Avantgarde, eine „Revolution des Geistes“ zu organisieren und, im Fall Chlebnikovs, eine „Sternensprache“ zu erschaffen, in der die emotionale und synästhetische Wahrnehmung der sprachlichen Faktur nur eine Komponente Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 81 <?page no="82"?> 7 «[…] как алгебра, так как за каждым звуком скрыт некий пространственный образ […], [и] по-русски, [и] на иностр‹анных› языках […]». 8 «[…] нынешнее поколение советских людей будет жить при коммунизме». 9 Im Westen verwendete die Künstlerin die Variante Rea Nikonova. Im Folgenden wird ausschließlich dieses Pseudonym verwendet, da es sowohl in der Zeitschrift Double als auch bei den früheren Werken, die Nikonova in den 1980erbis 2010er-Jahren im Samizdat und Tamizdat „wiederveröffentlicht“ hat, von der Autorin eingesetzt wurde. Für eine Kurzbiografie von Nikonova s. im Rahmen des Projekts „Anders sein: Dissens in der Sowjetunion“: https: / / dissident.dekoder.org/ ry-nikonowa/ (Stand: 18.09.2024). von vielen ist und die Sprache der Zukunft selbst charakterisiert ist „wie eine Algebra, da hinter jedem Klang ein räumliches Bild verborgen ist [….], [sowohl] im Russischen, [als auch] in ‚fremden‘ Sprachen […]“ 7 (zitiert in: Percova 2000: 359). In der Neoavantgarde der späten Sowjetzeit waren solche zukunftsorien‐ tierten utopischen Ansprüche durch die aktive Beteiligung vieler Akteure der historischen Avantgarde an der frühen sowjetischen Kulturpolitik kompromit‐ tiert. Die Staatsrhetorik der 1950erbis 1970er-Jahre mit ihrer Garantie, dass „die gegenwärtige Generation des sowjetischen Volkes unter dem Kommunismus leben wird“ 8 (Materialy XXII S′′ezda KPSS… 1961: 428) oder der abstrakteren Losung „Unser Ziel ist der Kommunismus! “ („Naša cel′ - kommunizm! “) wurde als Produktion leerer Signifikanten ohne die dahinter stehenden Signifikaten wahrgenommen. Die formalen Experimente der historischen Avantgarde be‐ saßen jedoch eine beträchtliche Anziehungskraft, die sich in die allgemeine Tendenz der inoffiziellen sowjetischen Kultur einfügte, sich nicht an der Zu‐ kunft, sondern an der Vergangenheit zu orientieren, da die Avantgarde als Teil des russischen Modernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts - mit ihrer unglaublichen Blüte in allen Bereichen der Kunst - aus dem öffentlichen Feld der Sowjetkultur als Beispiel für bürgerliche Kunst verdrängt und durch den sozialistischen Realismus, die Sprache der siegreichen proletarischen Kultur, ersetzt wurde. 2. Sprachexperimente von Rea Nikonova All dies sollte bei der Analyse des Werks von Anna Taršis (1942-2014), die ab 1982 unter dem Pseudonym Ry Nikonova 9 arbeitete, berücksichtigt werden. Die aktive Phase von Nikonovas schöpferischer Tätigkeit fand an drei geografischen Orten statt. Sie begann in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg), wo Nikonova seit 1946 lebte und in den 1960er-Jahren an den Aktivitäten der sog. „Uktus-Schule“ teilnahm, einer informellen Vereinigung experimenteller Kunstschaffender, die unter Nikonovas Leitung die Samizdat-Zeitschrift Nomer herausgaben. 10 82 Ilja Kukuj <?page no="83"?> 10 Eine elektronische Ausgabe der erhaltenen Exemplare dieser Zeitschrift ist auf der Website des „Project for the Study of Dissidence and Samizdat“: https: / / collections.libr ary.utoronto.ca/ view/ samizdat: nomer (Stand: 18.09.2024) verfügbar. 11 «Расширяя эти пределы чуть ли не до бесконечности, литература за счет интеграционных процессов: дополнений, замещений (связей не только с театром или живописью, не только с музыкой или математикой, но и с биологией, да и вообще любой областью человеческой деятельности) обогащает палитру собственных средств, доведенную до логического конца бессмертным шедевром Малевича». 1974 zog Nikonova mit ihrem Ehemann, dem Dichter, Künstler und Avant‐ garde-Forscher Sergei Sigov (Pseudonym Sergej Sigej), in ihre Geburtsstadt Ejsk, einer Hafenstadt am Azovschen Meer, wo sie die deutsche Besatzung überlebt und die sie im Alter von vier Jahren verlassen hatte. Von 1979 bis 1987 gaben Nikonova und Sigej in Ejsk die Samizdat-Zeitschrift Transponans heraus, die zu einer Art „Laboratorium der Neoavantgarde“ wurde und fast alle prominenten experimentellen Autoren zusammenbrachte, die damals in der UdSSR arbeiteten (s. Kukuj 2006). In Ejsk gründete Nikonova 1991 auch die internationale Zeitschrift für Mail Art und visuelle Poesie Double. 1998 emigrierten Nikonova und Sigej nach Kiel in Deutschland, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2014 lebten. Das gesamte Werk von Nikonova ist durch eine Synthese der Künste und radikales Experimentieren gekennzeichnet. In ihrem Werk verwandelt sich der Utopismus der historischen Avantgarde in den Versuch, ein universelles System künstlerischer Techniken zu schaffen, das nicht nur im Rahmen verschiedener Künste, sondern auch in den Wissenschaften, in der Religion und in verschie‐ denen Bereichen des menschlichen Lebens eingesetzt werden kann. In ihrem Aufsatz mit dem sprechenden Titel „Das Wort, überflüssig als solches“ schreibt Nikonova: „Indem die Literatur ihre Grenzen fast ins Unendliche erweitert, bereichert sie durch Integrationsprozesse - Ergänzungen, Substitutionen (Ver‐ bindungen nicht nur mit dem Theater oder der Malerei, nicht nur mit der Musik oder der Mathematik, sondern auch mit der Biologie und überhaupt mit jedem Bereich menschlicher Tätigkeit) - die Palette ihrer eigenen Mittel, die mit dem unsterblichen Meisterwerk von Malevič an ihr logisches Ende geführt wurde“. 11 Der Hinweis auf Malevič als Autor des „Schwarzen Quadrats“, einer „Ikone“ der historischen Avantgarde, und auf das Manifest von Chlebnikov und Kručenych „Das Wort als solches“ im Titel des Artikels ist nicht zufällig. Nikonova nimmt eine Korrektur der Theorie der Universalsprache vor, indem sie zwischen Zaum′ und Abstraktion unterscheidet. In ihrem Artikel „Die Kaaba der Abstraktion“ unterteilt sie die Literatur in zwei Sphären: einer „unbedeutend von der Norm abweichenden […], die die Spuren des realistischen Schreibens Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 83 <?page no="84"?> 12 «[…] незначительно отклонящейся от нормы […], сохраняющей следы реалистического письма»; «не сохранившей никаких следов обыденного смысла, то есть чисто абстрактную». 13 Als Beispiel für die poetische Zaum′-Sprache führt Nikonova die Zeile „mosnjal mazami seno“ von Igor′ Terent′ev an, in der „die üblichen grammatikalischen Formen mit einer neuen phonetischen Füllung sichtbar sind“ («явственны обычные грамматические формы при новом фонетическом наполнении их»; ebd.). 14 Zur futuristischen Tradition in Nikonovas Werk s. Klähn 2015. beibehält“, und einer „die keine Spuren der Alltagsbedeutung beibehält, also rein abstrakt“ ist (Nikonova 1987: 246). 12 Die „Kaaba“, d. h. das Heiligtum der wirklich experimentellen Kunst, ist für Nikonova die reine Abstraktion - Malevičs „Schwarzes Quadrat“ und Kručenychs „dyr bul ščyl“. Das Gedicht von Kručenych zählt für Nikonova nicht zur Zaum′, da diese Art von Sprache (wörtl. „transrational“) immer noch eine Verbindung mit dem Rationalen behält. 13 Entsprechend dieser Einteilung lassen sich in Nikonovas Werk zwei Ten‐ denzen ausmachen. Die erste, mit Zaum′ verbundene, betrifft ihr eigenes literarisches Werk in traditionellen Gattungen (Lyrik, Prosa, Drama), in denen Nikonova die futuristische Technik der Verschiebung (sdvig) maßgeblich ent‐ wickelt. 14 Mit der ihr eigenen Radikalität dehnt sie die Verschiebung auf alle Ebenen des Schaffens und der Existenz eines literarischen Textes aus und nennt eine solche Strategie „Transposition“ (was der von ihr und Sergej Sigej herausgegebenen Samizdat-Zeitschrift Transponans den Namen gab). Die zweite „abstrakte“ Tendenz beginnt in der Sphäre der Sprache, führt aber die künst‐ lerische Arbeit aus dem Bereich der verschriftlichten Literatur in verwandte Bereiche, in denen neben der ikonischen und semantischen Natur des Wortes auch seine visuellen, akustischen und performativen Komponenten in den Vordergrund treten. Eine Antwort auf die zentrale Frage, wo in diesem Fall die Grenzen der Literatur verlaufen und warum wir zum Beispiel von visueller Poesie auch dann sprechen, wenn das Werk auf den ersten Blick keinerlei verbale Elemente aufweist, gibt Nikonova in ihrem Artikel „Teoprakt“, der in der ersten Ausgabe von Transponans erschienen ist: Esperantismus, das heißt, das Streben nach einer unübersetzbaren, absoluten Literatur. Einer Literatur, die auf Klängen basiert, auf ihrer Bedeutung, daher die Sehnsucht nach der Kenntnis der hoch entwickelten Gesetze der Musik, die sich aus irgendeinem Grund nicht mit dem persönlichen Klang der Buchstaben beschäftigt. Die Musik ist an der Tonhöhe interessiert. Die Literatur interessiert sich für den reinen, allgemeinen, umfassenden, praktischen Klang. Aber die Kombinationsaufgaben sind dieselben. In der Musik geht es um die Einzelheiten: Klangfarbe, Tonhöhe usw. In der abstrakten Literatur geht es um die Differenz der Zeichen, um die Bedeutung der Kombinationen, 84 Ilja Kukuj <?page no="85"?> 15 «Эсперантизм, то есть стремление к литературе беспереводной, абсолютной. Литературе, настоенной на звуках, на их смысле, отсюда тяга к познанию великолепно разработанных законов музыки, почему-то не занимающейся персональным звучанием букв. Музыку интересует высота тона. Литературу — чистый, общий, всеобъемлющий, практический звук. Но комбинационные задачи те же. Музыку интересуют частности: тембр, высота и т.-д. Абстрактную литературу волнует разница знаков, значение получающихся и непонятных ей самой комбинаций, что роднит ее, в данном случае, с живописью. Но живопись уводит в глубину, это микромир, музыка охватывает пространства, это макромир, литература — это текучий человеческий глаз, превращенный в воду, заливающую землю». die sie empfängt, die für sie unverständlich sind, was sie in diesem Fall mit der Malerei verwandt macht. Aber die Malerei führt uns in die Tiefe, sie ist ein Mikrokosmos, die Musik umfasst Räume, sie ist ein Makrokosmos, die Literatur ist ein flüssiges menschliches Auge, das sich in Wasser verwandelt, das die Erde überflutet 15 (Nikonova 1979 [1977]: 15-16; Kursiv von mir, I.-K.). Auf diese Weise verlagert sich der Schwerpunkt vom Ergebnis des kreativen Akts auf seinen Prozess, von der durch den Autor kontrollierten Tätigkeit zur Spontaneität, vom verbalen Charakter der Sprache auf deren visuelle und per‐ formative Komponenten. Das Fließende („die Literatur ist ein flüssiges mensch‐ liches Auge“) entspricht der Natur von Nikonovas Textproduktion: Ihre Werke sind in der Regel mit mehreren Datierungen versehen, die auf verschiedene Stadien der Arbeit an den Texten hinweisen. Eines ihrer wenigen abgeschlos‐ senen globalen Projekte trägt den Titel Genetische Ketten der Poesie. Ausgewählte Gedichte («Генетические цепочки поэзии. Избранные стихотворения») und umfasst 36 Bände, die ihr poetisches Werk von 1947 bis 2013 versammeln und nacheinander präsentierte Versionen von Transformationen poetischer Werke enthalten. So wird eine „Notiz“ («Записка») aus dem Jahr 1947 (die Autorin ist fünf Jahre alt, siehe Abb. 3), mit der der erste Band eröffnet wird, von einer Reihe späterer Texte begleitet: ein eindrucksvolles Beispiel für die konsequente Überführung eines visuellen Textes in mehrere verbalen Gedichte mit Elementen von Zaum′ und Abstraktion. Ohne die von der Autorin ange‐ führte „genetische Kette“ wäre es unmöglich, einen Zusammenhang zwischen dem ersten und dem letzten Text zu sehen, sowie zu vermuten, dass der von einem Kind geschriebene Zettel überhaupt als Gedicht wahrgenommen werden könnte. Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 85 <?page no="86"?> 16 «[…] литература, существовавшая до этого момента (кроме абстрактной) останется только в бледных переводах на этот новый язык (и безусловно более богатый)». 17 «[…] усвоение иностранных звуков, слогов, грамматических и гармонических принципов»; « […] от фигуративности и изобразительности к абстракции». 18 «[…] создать знак, заменяющий собой весь алфавит». Sigej experimentierte in Anlehnung an Roman Jakobson mit der Verflechtung von Buchstaben und schuf ein ganzes Buch mit Gedichten, die in solchen Buchstaben geschrieben sind (siehe Sigei 1996). Abb. 3: Nikonova: Zapiska (1947), aus Genetische Ketten der Poesie. Ausgewählte Gedichte Besonders interessant ist der von Nikonova erwähnte „Esperantismus, das heißt, das Streben nach einer unübersetzbaren, absoluten Literatur“. Im dem erwähnten Artikel „Teoprakt“ bezeichnet Nikonova die Trennung der Sprachen als „Pathologie“ und „Atavismus“ und argumentiert, dass „die Literatur, die vor diesem Moment existierte (mit Ausnahme der abstrakten Literatur), nur in blassen Übersetzungen in dieser neuen (und zweifellos reicheren) Sprache bleiben wird“ 16 (Nikonova 1979 [1977]: 17). Der Weg zu dieser neuen Sprache liegt u. a. „in der Assimilation von fremden Lauten, Silben, grammatikalischen und harmonischen Prinzipien“ (ebd.: 19) und im Übergang „von der Gegen‐ ständlichkeit zur Abstraktion“ 17 (ebd.: 28). Nicht nur Wörter, sondern auch Buchstaben werden überflüssig - Nikonova schlägt in Anlehnung an Sergej Sigej vor, mehrere Buchstaben zu einem einzigen zusammenzufassen und „ein Zeichen zu erschaffen, das das gesamte Alphabet ersetzt“ 18 (ebd.). 3. Fremdsprache(n) einer Künstlerin aus der Sowjetunion Wie Kručenych, der Gedichte auf Japanisch, Spanisch und Hebräisch in Kyril‐ lisch aufnahm, veröffentlicht Nikonova in der letzten, 35. Ausgabe der Zeit‐ 86 Ilja Kukuj <?page no="87"?> 19 Die handschriftliche Zeitschrift Nomer, die in einem Exemplar herausgegeben wurde, war eine Kollaboration nicht nur der Autor: innen, sondern auch der Leser: innen: Seitenränder waren für Kommentare vorgesehen, und viele Ausgaben hatten eine spezielle Rubrik „Schreib dein eigenes rein“ („Vpiši svoё“). 20 «Какова была какава наглости, ведь не знала и не знаю почти ни одного немецкого слова. Но до чего же приятно писать, не зная что! » 21 Das Buch Šval′ basiert auf einem Katalog von Industrieprodukten der Wiener Firma Ernst Krause & Co (1930). schrift Nomer (1974) einen bemerkenswerten Text mit dem Titel „Weiter als Prosa“ („Dal′še prozy“): Дифорберунг дер Масбест Ёндигкайт ист бью инзерен Эндмассен дюрх Анвендюнг. Эрпробтер (меходен) унд айнес безондерс гиигнетен Стахлес им Хёшстен Град эрфюльт. Ауф Вюнсх унд геген безондере Верешнунг фюген айн Прюфюнг Цайгнис дэр Айнзальнен Массе бай, аусгефертигт энтведер фон дэр Райхзанстальт фюр Массе. Одер фон дизерем айгенен Месслаборатуриум. Эс вирд зольхен Бетрайбен, ди эрсмалиг Эндмассе бай зих воллен, эмрфохлен, мит дэн миндерен Генауигкайтсараден цу унд эрст стётер ауф Хёхере юберцугехен, да андеренфалье ди Эндмассе фон зер дарунтер лиден, вэн зи аух фюр грёбере Арбайтин бенутцт верден мюссен. Nikonova behauptet nicht wie Kručenych, alle Sprachen perfekt zu beherrschen. In einem Kommentar, der zehn Jahre später am Rande der entsprechenden Seite mit diesem Text in der Zeitschrift platziert wurde, 19 schreibt sie: „Welche Frechheit war das, denn ich kannte und kenne fast kein einziges deutsches Wort. Aber was für ein Vergnügen ist es, zu schreiben, ohne zu wissen was! “ 20 Allem Anschein nach handelt es sich bei dem Text um die Transliteration eines technischen Textes aus denselben Katalogen deutscher Industrieprodukte, die Nikonova Anfang der 1970er-Jahre für ihr Buch visueller Poesie Šval′ verwendete. 21 Der Originaltext lautete vermutlich wie folgt (zahlreiche Transli‐ terationsfehler und Wortauslassungen sind im Originalzitat erhalten geblieben): Die Förderung der Maßbeständigkeit ist bei unseren Endmaßen durch Anwendung erprobter Methoden und eines besonders geeigneten Stahles im höchsten Grad erfüllt. Auf Wunsch und gegen besondere Verrechnung fügen <wir> ein Prüfungszeugnis der einzelnen Maße bei, ausgefertigt entweder von der Reichsanstalt der Maße oder von <un>serem eigenen Meßlaboratorium. Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 87 <?page no="88"?> 22 «[…] выполнение Постановления ЦК ВКП(б) от 25 августа 1932 г. об обязательном обеспечении знания одного иностранного языка каждым оканчивающим среднюю школу, а также в высшей школе находится в совершенно неудовлетворительном и даже прямо нетерпимом состоянии». 23 «Только по РСФСР из общего количества 6189 средних школ иностранный язык не преподается в 483 школах. В школах изучается по преимуществу немецкий язык; английский и французский языки преподаются в очень немногих школах (по РСФСР: английский язык — в 16 % школ, французский — в 7 %)» (Zit. nach https: / / harding1989.livejournal.com/ 243341.html (Stand: 9.10.2024)). Es wird solchen Betrieben, die erstmalig Endmaße bei sich <einsetzen> wollen, empfohlen, mit den minderen Genauigkeitsgraden zu <beginnen> und erst später auf Höheres überzugehen, da andernfalls die Endmaße sehr darunter leiden, wenn sie auch für gröbere Arbeiten benutzt werden müssen. Nikonovas Deutschkenntnisse spiegeln im Allgemeinen die Situation des Fremdsprachenunterrichts an sowjetischen Schulen und Universitäten in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren wider. In einem Dekret des Rates der Volks‐ kommissare vom 16. September 1940 wurde festgestellt, dass die Durchführung des Dekrets des ZK VKP(b) vom 25. August 1932 über die obliga‐ torische Vermittlung vom Beherrschen einer Fremdsprache für alle Absolventen der Mittelschule sowie an den Hochschulen in einem völlig unbefriedigenden, ja geradezu unerträglichen Zustand ist“ 22 (Sobranie 1940: 858). Ein ähnlicher Erlass vom 4. Oktober 1947 zeigt, dass das ursprüngliche Ziel, jedem sowjetischen Schüler eine Fremdsprache beizubringen, nicht erreicht wurde: Allein in der RSFSR unterrichten von den insgesamt 6189 Mittelschulen 483 Schulen keine Fremdsprache. Die in den Schulen gelehrte Sprache ist hauptsächlich Deutsch; Englisch und Französisch werden nur in sehr wenigen Schulen unterrichtet (in der RSFSR: Englisch - in 16-Prozent der Schulen, Französisch - in 7-Prozent). 23 In seinem normativ-juristischen Teil ordnete das Dekret an, diese Norm zu ändern: Englisch sollte in 45 Prozent, Deutsch in 25 Prozent, Französisch in 20 Prozent und Spanisch in 10 Prozent der Schulen unterrichtet werden. Nach diesem Erlass wurde ein Jahr später in Leningrad die erste spezialisierte englische Schule in der UdSSR eröffnet, in der eine Reihe von Fächern auf Englisch unterrichtet wurde. Prominente Persönlichkeiten des Leningrader Un‐ tergrunds wie der Dichter und Sänger Aleksej Chvostenko (der Sohn des Schul‐ leiters, Übersetzers und Philologen Lev Chvostenko, der das Lehrprogramm für Englisch aufbaute) und Konstantin Kuz′minskij, der später die legendäre 88 Ilja Kukuj <?page no="89"?> 24 «[…] Третьим человеком, их [стихотворения 1959 г. — И.К.] прочитавшим, была преподавательница английского языка в музыкальном училище, которой я показала их… в английском (собственном) переводе — уникальный эпизод в моей жизни. Впервые серьезно заняться стихами и сразу неизвестно зачем перевести их на язык, которого я не знала». neunbändige Blue Lagoon Anthology of Modern Russian Poetry (1980-1986) verfasste, absolvierten diese Schule. Eine ähnliche Schule in Moskau hat der Dichter Stanislav Krasovickij absolviert. Nikonova besuchte eine normale Schule in Sverdlovsk und lernte dort Englisch. Es gibt keine direkten Daten, um das Niveau ihres Fremdsprachenerwerbs zu beurteilen, aber Nikonovas Kommentar zu ihren Gedichten von 1959 (die Autorin war 17) in der von ihr zusammengestellten „Gesamtausgabe der Gedichte“ zeigt, dass ihr Englisch nicht weit vom Deutschen entfernt gewesen sein dürfte: […] Die dritte Person, die sie [die Gedichte von 1959, I.K.] las, war eine Englischleh‐ rerin an der Musikschule, der ich sie… in englischer (meiner eigenen) Übersetzung zeigte - eine einzigartige Episode in meinem Leben. Zum ersten Mal mich ernsthaft mit Gedichten zu befassen und sie sofort aus irgendeinem Grund in eine Sprache zu übersetzen, die ich nicht kannte 24 (Taršis 1996: 90). Aber es war Englisch, das Nikonova und Sigej brauchten, nachdem sie 1985 zufällig eine Einladung zu einer internationalen Ausstellung für experimentelle Kunst in Budapest erhalten hatten. Ihre Ejsker Adressen waren zusammen mit allen anderen Autor: innen im Katalog angegeben. Von diesem Zeitpunkt an begannen Nikonova und Sigej eine umfangreiche Korrespondenz und eine aktive Tätigkeit im internationalen Mail-Art-Netzwerk. Nikonovas Sarkasmus über die damals eingetretenen sozialen Veränderungen in der UdSSR und ihre Skepsis bei der Beurteilung der Aussichten für die Integration Russlands in den internationalen künstlerischen Prozess sowie ihre allgemeine Einstellung zur kommunikativen Rolle der Sprache sind aus einem späteren Text deutlich herauszuhören: Das russische Volk ist kommunikativ. Unter anderem wird es schnell Englisch lernen, wenn es wirklich erlaubt ist; wenn Wörterbücher in unseren Geschäften erhältlich sind, werden wir glücklich sein! Man kann nur hoffen, am Leben zu bleiben, bis diese himmlischen Zeiten anbrechen. Voller Stolz werden wir fortfahren, unsere Einladungen an die visuellen Poeten der Welt zu verschicken, damit sie an einer internationalen Ausstellung visueller Poesie in Jejsk teilnehmen ohne zu warten, bis diese himmlischen Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 89 <?page no="90"?> 25 «ЗАМЕЩЕНИЕ СЛОВА (чем угодно: цветом, изображением, схемой и т. д.), а также идею коммуникабельности литературы по отношению к параллельным областям искусства и науки». Zustände eintreten. Wir arbeiten weiterhin unter schwierigen Bedingungen, denn wir wissen, daß Kunst trotz aller Widerstände fortbesteht. (Nikonova 1996 [1995]) Das düstere Bild vom Leben in der (post-)sowjetischen Provinz und im ganzen Land, das Nikonova in diesem Text zeichnet, legt nahe, dass die Worte über sagenhafte Zeiten, in denen die gesamte russländische Bevölkerung Englisch lernen wird, eine bittere Ironie sind. Die „kommunikative“ Tätigkeit von Niko‐ nova und Sigej vollzog sich auf der Ebene der Mail Art und umfasste sowohl die Beteiligung an zahlreichen Publikationen anderer Mail-Artist: innen als auch die Arbeit an eigenen Projekten sowie die Organisation von Mail-Art-Ausstellungen in der UdSSR und die Veröffentlichung von Materialien darüber, u. a. in der offiziellen sowjetischen Presse (s. Sigej 1989a, 1989b). 4. Visuelle Poesie als Kommunikationsmedium Charlotte Greve führt dies in ihrer Studie darüber, warum ausgerechnet Niko‐ nova und Sigej im internationalen Mail-Art-Netzwerk Erfolg hatten, auf das Zusammentreffen kommunikativer Prinzipien in dieser kollektiven Kunstform und im Werk von Nikonova und Sigej in den 1980er-Jahren zurück (vgl. Greve 2006; s. auch Elleström 2012: 110, 116). Die visuelle Komponente spielte in ihren Texten ab Ende der 1960er-Jahre eine große Rolle, wobei Sigejs Experimente eher im Bereich der Weiterentwicklung der Traditionen des futuristischen Schreibens lagen (Verfremdung der grafischen Seite des sprachlichen Zeichens, Arbeit mit Handschrift usw.), während Nikonova sich in Richtung Konzeptkunst und Gesamtkunstwerk bewegte. Zu Beginn der 1980er-Jahre wurde der spezi‐ fische Anteil des Wortes in ihrem Werk deutlich reduziert und verkörperte die Idee, dass „das Wort als solches“ überflüssig ist (s. Nikonova 1992). Dies bedeutete jedoch nicht die Ablehnung der kommunikativen Rolle der Kunst: Nikonova proklamiert „die SUBSTITUTION DES WORTES (wodurch auch immer: Farbe, Abbildung, Schema usw.), sowie die Idee der Kommunizierbarkeit der Literatur in Bezug auf die parallelen Bereiche von Kunst und Wissenschaft“ 25 (zitiert in Janeček 1999: 287). Die kommunikative Funktion der Sprache richtet sich nicht an die Rezipienten, sondern an die an die Literatur angrenzenden Bereiche. Im Rahmen des von ihr entwickelten „Systems“ plant Nikonova eine mehrbändige Publikation nach dem Prinzip „Literatur und…“, von der anschei‐ 90 Ilja Kukuj <?page no="91"?> 26 «часть пространства, лишенная известных человеку элементов материи»; «“вещество” литературы — это текст»; «пространство, где этого вещества нет (и соответственно нет никакого другого литературного) — вакуумное в условно-литературном смысле». 27 Zur piktografischen Poesie von Nikonova und Sigej s. Nazarenko 2006. S. auch Niko‐ novas Samizdat-Sammlungen Foro (Gestengedichte, Vektor-Gedichte, Poesie+Farbe, post-suprematische Poesie 1983-1990; Ejsk, 1990), Ektra-vektra (Vektor-Poesie; Ejsk/ Kiel, 1988-1990-1999) u. a. gesammelt in der LS Collection (Van Abbemuseum, Eind‐ hoven). 28 Für eine Analyse von Nikonovas Architexturen s. Tigountsova 2009. Von allen visuellen Arbeiten Nikonovas scheinen die Architexturen die „kommunikativste“ Form zu sein, die Text und Bild verbindet und eine hohe Anziehungskraft besitzt. Es ist kein Zufall, dass eine solche Architextur für das Cover eines ins Katalanische übersetzten Buches von Nikonova ausgewählt wurde (s. Nikonova 2003; Abb. 4). nend nur zwei Bände, Literatur und Vakuum und Literatur und Mathematik fertiggestellt worden sind. Der Begriff des Vakuums als grenzenlose Potenzialität ist für Nikonova von zentraler Bedeutung. Vakuum ist für sie „ein Teil des Raums ohne die dem Menschen bekannten Elemente der Materie“, und da „‘die Substanz’ der Literatur der Text“ ist, ist „der Raum, in dem diese Substanz nicht existiert (und in dem es folglich keine andere literarische Substanz gibt), Vakuum im konventionell-literarischen Sinne“ 26 (Nikonova 1983: 25). Nikonova unterteilt die Literatur in visuelle und phonetische und weist darauf hin, dass in der visuellen Literatur das Vakuum immer vorhanden ist, da ein Buchstabe nie die gesamte Fläche der Seite (die Vakuumplattform für den Text) restlos bedeckt, während der Ton den Raum vollständig ausfüllen kann (ebd.: 19). Bei der Erforschung der Beziehung zwischen Literatur und Vakuum experimentiert Nikonova mit Formen, die diese Beschränkungen umgehen. In der visuellen Literatur geht sie von Buchstaben zu anderen grafischen Zeichen über (Pikto‐ gramme, Vektoren, andere grafische Zeichen 27 ) oder kombiniert Wörter und Bilder so, dass die Plattform des Textes maximal ausgefüllt wird. Als Beispiel für eine solche hybride Technik können die zahlreichen „Architexturen“ von Nikonova dienen, von einfach bis hochkomplex, in denen der Text nicht linear, sondern „polygraphisch“ (analog zur „polyphonisch“) mit Hilfe von Farbe und verschiedenen Linien organisiert ist. 28 Im Bereich der phonetischen oder Sound-Poesie integriert Nikonova aktiv solche „leeren“ (d. h. nicht klingenden) Elemente wie Stille und Gesten in die Performance. Ein Beispiel dafür war Nikonovas „Harfenbuch“, in dem auf Papierstreifen geschriebene Gedichte über einen Holzrahmen gespannt waren und die „gelesen“ wurden, indem man diese „Saiten“ mit einer Rasierklinge zerschnitt. Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 91 <?page no="92"?> 29 Mail-Art-ähnliche kommunikative Praktiken verwendeten die Mitglieder der „Uktus-Schule“ in den frühen 1970er-Jahren (E. Arbenev, V. Djačenko, S. Sigej, A.-Taršis). S. Lapteva 2023: 114. Abb. 4: Titelbild zu Nikonova: Dous todo, Nikonova 2003 Als Nikonova und Sigej in die internationale Mail-Art-Bewegung eintraten, 29 besaß ihre Poesie also bereits eine Reihe von Eigenschaften, die ihre internatio‐ nale Anerkennung und die Kommunikation mit Mail-Art-Künstler: innen mög‐ lich machten. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Nikonova und Sigej, nach ihrer umfangreichen Korrespondenz zu urteilen, schnell die englische Sprache beherrschten, erweist sich die künstlerische Sprache der Mail Art mit ihrem Ver‐ 92 Ilja Kukuj <?page no="93"?> 30 John M. Bennett, der seine gemeinsamen Projekte mit Nikonova und Sigej als „trans‐ linguistisch“ charakterisiert, führt die Möglichkeit der translinguistischen Kommuni‐ kation auf die Verwurzelung seiner Arbeit im Zen-Buddhismus und der Poetik von Nikonova und Sigej in der Zaum′-Sprache des russischen Futurismus zurück (vgl. Bennett 2006: 362). Zur Kontinuität zwischen der Mail Art und dem Futurismus s. Parisi 2023: 145-146. 31 Das Wort „Heft“ passt hier für die Bezeichnung einzelner Ausgaben der Zeitschrift wegen der komplizierten Form der Zeitschrift nur bedingt. trauen auf die Kommunikation durch visuelle Effekte als übereinstimmend mit den Experimenten der Ejsker Kunstschaffenden. 30 Nachdem sie sich zunächst an verschiedenen Projekten anderer Autor: innen beteiligt hatten, organisierte das Paar im Jahr 1989 die ersten internationalen Mail-Art-Ausstellungen in der UdSSR (s. Sigej 1989a). Ein Jahr später beginnt Nikonova mit der Herausgabe der internationalen Zeitschrift für Mail Art und visuelle Poesie Double. Sechs „Hefte“ der Zeitschrift erschienen zwischen 1991 und 1993; die zwei letzten (No. 7 und 8), die noch 1993 vorbereitet wurden, erschienen bereits nach der Emigration von Nikonova und Sigej nach Deutschland in Kiel in den Jahren 1999 und 2000. 5. Die Sprache der Mail Art in der Zeitschrift Double Die Zeitschrift Double wurde nach dem traditionellen Prinzip der Mail Art herausgegeben: Die Herausgeberin teilte allen Teilnehmenden formale bzw. thematische Vorgaben mit, nach denen jede(r) eine bestimmte Anzahl von Kopien produzierte und sie zurück an die Herausgeberin schickte. Nikonova stellte die eingesandten Texte zu einem Ganzen zusammen, und je nach Anzahl der Exemplare erhielten die Autor: innen je ein Exemplar, während der Rest in Umlauf gebracht wurde. Im Falle der Zeitschrift Double schickte Nikonova den Autor: innen eine Beschreibung der „Plattform“, auf der der Text platziert werden sollte. Die Auflage der Zeitschrift blieb konstant (50 Exemplare), die Form variierte jedes Mal leicht. Sie basierte auf der so genannten „Ry-Struktur“, in der die Zeitschrift Transponans seit 1985 (No. 28) erschien: Ein gleichschenkliges Dreieck wurde in ein Viereck eingefügt (s. Abb. 5-6). Seine Hypotenuse wurde in den Einband der Zeitschrift gelegt und sein spitzer Winkel in den Ausschnitt des Vierecks auf der rechten Seite. Ab dem fünften „Heft“, 31 die dem Vakuum gewidmet war, enthielten sowohl das Dreieck als auch das Viereck unterschiedlich geformte Ausschnitte in der Mitte. Die Anordnung des Textes wurde damit nicht nur durch die Form des Blatts, sondern auch durch die Leere in dessen Mitte geregelt. Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 93 <?page no="94"?> Abb. 5 & 6: Nikonova: „Ry-Struktur“, für die Zeitschrift Double Obwohl sich Nikonovas Autorenschaft bei Double auf die Bereitstellung einer Plattform (im wörtlichen und übertragenen Sinne) und natürlich auf ihre ei‐ genen Texte beschränkte, ist es interessant, die Zeitschrift als Ganzes daraufhin zu untersuchen, wie sie sich verschiedener Sprachen bediente. Für die Analyse wurde die erste Nummer ausgewählt: Das Debüt gab der Zeitschrift die Richtung ihrer Entwicklung vor und zeigte auf, welche Möglichkeiten sich Nikonova sowohl in ihrer redaktionellen Arbeit als auch in ihrem eigenen Schaffen boten. 94 Ilja Kukuj <?page no="95"?> 32 S. https: / / knizhnica.com/ books/ DOUBLE.pdf (Stand: 6.10.2024). Im Weiteren wird auf die Gestaltung dieses Exemplars eingegangen. 33 Avgust Sigov, Sohn von Nikonova und Sigej, der unter dem Pseudonym „August Ėj“ an der Zeitschrift Transponans mitarbeitete. Das Pseudonym „Ėj“ spielt sowohl auf das Ende des Pseudonyms seines Vaters „Sigej“ als auch auf den Anfang des Autorennamens (den lateinischen Buchstaben „A“ im Englischen) an. 34 Die Wiederholung des Wortes „Poetry“ könnte die Metareflexivität des Werks unter‐ streichen. Außerdem steht auf der Vorderseite des Blattes das Datum „12. Sep. 1990“, eine sechsstellige Nummer (die möglicherweise die „Opus“-Nummer angibt, da solche Nummern auf Deislers Werken bei jedem Exemplar der Zeitschrift unterschiedlich sind) und der persönliche Stempel des Autors mit seiner Postanschrift. Ein solcher Stempel war üblich in der Mail Art und ist in diesem Fall besonders interessant, weil er den Namen eines Landes (DDR) enthält, das drei Wochen nach der Herstellung des Textes aufhörte zu existieren. Zur Rolle von Stempelsignaturen in der Mail Art im Allgemeinen und bei Nikonova und Sigej im Besonderen, s. Greve 2006. Darüber hinaus ist die erste Nummer derzeit die einzige Ausgabe von Double, die vollständig im Internet verfügbar ist. 32 Einunddreißig Autor: innen aus zehn Ländern (Belgien, Brasilien, Dänemark, England, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, USA, UdSSR) nahmen an der ersten Ausgabe teil. Mit Ausnahme von England und den USA hatte jedes dieser Länder eine andere Amtssprache, aber nur fünf nicht-englisch‐ sprachige Autoren, deren Texte auf Einsprachigkeit beruhten, verwendeten ihre Muttersprache (B. Konstriktor, S. Sigej und August A. 33 - Russisch, Seiei Nishimura - Japanisch, Jean-Noёl Laszlo - Französisch). Zehn Arbeiten waren rein visuell und beinhalteten keine sprachlichen Elemente, acht verwendeten in gewissem Umfang Englisch. Das Werk des italienischen Autors Umberto Stag‐ naro basierte auf einer Nachahmung (unbestimmter) sprachlicher Zeichen. Ein anderer Mail-Art-Künstler aus Italien, Marcello Diotallevi, verwendete disparate lateinischen Buchstaben, ohne aus ihnen Wörter zu bilden. Von besonderem Interesse sind die Werke, die auf Mehrsprachigkeit basieren. In zwei von ihnen stellten verschiedene Sprachen lediglich Elemente der Assemblage und des Ready-made dar: Das Werk von Paulo Bruscky aus Brasilien war eine Collage aus Elementen verschiedener Postsendungen in verschiedenen Sprachen, und der deutsche Mail-Art-Künstler Guillermo Deisler präsentierte das Formular einer deutschsprachigen Vertragsstrafenrechnung mit dem englischsprachigen Stempel „Found Poetry Poetry“. 34 In drei Arbeiten geht die Mehrsprachigkeit bewusst auf die Ästhetik der Mail Art und die kommunikative Situation des kollektiven Projekts ein. Dem Ready-made-Werk von Guillermo Deisler folgt in der Zeitschrift eine Arbeit von Ruggero Maggi, 35 die einem der Begründer der Mail Art, Guglielmo Achille Cavellini, gewidmet ist. Das Werk verwendet Elemente von Cavellinis Projekt Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 95 <?page no="96"?> 35 Maggi nahm an zwei Mail-Art-Ausstellungen in Ejsk teil: im Januar und im Juli-August 1989. In demselben Jahr fand auch seine Einzelausstellung in Ejsk statt. Zu Kontakten von Sigej und Nikonova mit Maggi s. Parisi 2023: 160-162. 36 S. https: / / www.arengario.it/ opera/ il-sistema-mi-ha-messo-in-croce-mostra-a-domiciliomostra-a-domicilio-n-7/ (Stand: 7.10.2024). Vgl. das Bild des neapolitanischen Künstlers Pietro Cavallini (sic! ) aus dem frühen 14.-Jhd.: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Datei: Pietro _Cavallini_-_Crucifixion_-_WGA04596.jpg (Stand: 7.10.2024). 37 Siehe: https: / / www.lomholtmailartarchive.dk/ correspondence-a-z/ 1984-10-09-cavellini (Stand: 7.10.2024). Zum Einfluss von Cavellinis Aufklebern auf die Ästhetik der Mail Art bei Nikonova und Sigej s. Lapteva 2023: 118. Dieser Aufkleber wurde von Sigej im Katalog der Mail-Art-Ausstellung im Ejsker Museum explizit erwähnt (Sigej 1989a: 6). Der Anfang der Aufschrift ist durch den Falz des Magazins verdeckt und kann nicht entziffert werden. Il sistema mi ha messo in croce (1986), einer Mappe mit zwanzig Bildern von Kruzifixen mit Cavellinis Gesicht und seinem Porträt von Andy Warhol auf dem Titelblatt. 36 Cavellini starb am 20. November 1990, und es ist anzunehmen, dass das Werk in Erinnerung an den legendären Künstler entstand: Auf der Vorder- und Rückseite des Blattes platzierte Maggi Fragmente eines Werbeaufklebers für eine fiktive Ausstellung zu Cavellinis hundertstem Geburtstag im Palazzo Ducale in Venedig und signierte es handschriftlich mit „[…] my dear friend“. 37 Auf der Vorderseite des Blattes sieht man statt eines Kruzifixes die Fotografie von Cavellini mit Cowboyhut, der sich mit beiden Händen auf die Motorhaube eines Autos stützt und in seiner Haltung an ein Kruzifix erinnert. Ruggero Maggi steht links von Cavellini und schaut in die Kamera. Auf derselben Seite sind handschriftliche Inschriften in grüner Farbe in vier Sprachen zu lesen: „Il sistema mi ha messo in croce / I was crucified by the system / Ich wurde vom System gekreuzigt / Le système m’a crucifié“. Diese handschriftlichen Inschriften, die Cavellinis Worte aus dem erwähnten Projekt zitierten, sind die einzigen farbigen Elemente auf dem fotokopierten Blatt, abgesehen von der blauen Tinte von Maggis persönlichen Stempeln auf der Rückseite. Die grüne Farbe und der handschriftliche Charakter von Cavellinis Parole betonen vor dem Hintergrund der schwarz-weißen Fotokopie den individuellen, von der Hand des Künstlers geschaffenen Charakter des Artefakts und richten die Botschaft durch ihre Mehrsprachigkeit an die Leserschaft aus verschiedenen Ländern. 96 Ilja Kukuj <?page no="97"?> Abb. 7 & 8: Ruggero Maggi, in: Double Nikonovas eigene Arbeit dient als Übergang vom dreieckigen zum rechteckigen Teil der Zeitschrift und besteht aus drei Blättern. Der Text auf dem ersten und dritten Blatt besteht aus Noten: Die Notation selbst ist mit Tinte eingekreist, das Notensystem (die Linien für Noten) ist weiß belassen, während der Raum dazwischen in Orange und Gelb gemalt ist (s. Abb. 9). Oben auf den Notenblättern Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 97 <?page no="98"?> 38 Die aktive Nutzung von Fotokopiergeräten war in der Mail Art ein weit verbreitetes Phänomen, aber im Gegensatz zu vielen anderen westlichen Autor: innen hatten Nikonova und Sigej erst relativ spät Zugang dazu gefunden. Vor der Perestroika gab es solche Möglichkeiten überhaupt nicht, danach waren Fotokopien zu teuer. Erst 1992, nach dem Verkauf eines kompletten Sets der Zeitschrift Transponans an das Marvin and Ruth Sackner Archive of Concrete and Visual Poetry (USA), konnte das Ehepaar ein eigenes Kopiergerät kaufen. Siehe Nikonovas Vermerk „Please originals! “ auf der Einladung für die Autoren sich an der Ausgabe zu beteiligen (Abb. 6). befinden sich gestrichelte Linien in schwarzer Tinte, von denen einige lateinischen Buchstaben ähneln (L, C, D, W). In der Mitte des ersten Blattes bilden diese Linien das Bild einer laufenden menschlichen Gestalt, auf der Rückseite des letzten Blattes die Elemente der lateinischen Buchstaben R und N (für Rea Nikonova). Während sich der Notentext in den verschiedenen Exemplaren des Magazins unterschied, waren die Linien und Figuren im Allgemeinen identisch. Sowohl die Unterschiede im Notentext als auch der handgemachte Charakter der Linien weisen auf eine wichtige Eigenschaft des Textes hin: Jedes Werk von Nikonova war ein Original, was nicht auf alle Materialien in der Zeitschrift zutrifft. 38 Abb. 9: Nikonova, in: Double 98 Ilja Kukuj <?page no="99"?> 39 Wie Nikonova, verwendet auch Sergej Sigej die Palimpsest-Technik, indem er eine maschinengeschriebene Seite aus Michail Mejlachs Artikel „Die Tür zur Poesie ist offen…“ („Dver′ v poėziju otkryta…“) zur Plattform für sein Werk nimmt. (Der Stempel „Palimpsest“ befindet sich auf der Vorderseite von Sigejs Werk.) August A. verwendete eine „versteckte“ Botschaft, indem er sein elegantes Bildwerk nur mit der ersten Zeile eines bekannten volkstümlichen Gedichts versah und den zweiten Teil ausließ: „Das Pferd geht über die Furche [/ ihm ist es scheißegal und mir ist es scheißegal]“ („Lošad′ idёt poperёk borozdy / Ej do pizdy i mne do pizdy“). In der Erinnerung des Autors sind „Schönheit, Farben, Raffinesse zu den Querfurchen unserer Zeit geworden. Die ‚Ästhetik des Hässlichen‘ war zu dieser Zeit im Westen der Höhepunkt der Mode“ (E-Mail von Avgust Sigov an Ilja Kukuj vom 24.09.2024). Das Werk „Red Ass[/ Heat/ Desert]“ („Krasnaja žopa[/ žara/ pustynja]“) von Boris Konstriktor, das in seinem grafischen Teil die rote Farbe demonstrativ verwendete, spielte auf die Titel der beiden berühmten Filme „Red Heat“ und „Il Deserto Rosso“ an und signalisierte gleichzeitig das Ende des kommunistischen Projekts. In dem russischsprachigen Gedicht von Konstriktor auf der Rückseite des Blattes wurde das Wort „Arsch“ (žopa) durch sein schematisches Bild ersetzt. Die Arbeiten von Evgenij Arbenev und Jurij Bolotov waren auf die Dekonstruktion der zweidimensionalen Ebene des Blattes ausgerichtet (Schnitte, Prägungen) und enthielten keine sprachliche Botschaft. Zwischen der ersten und der dritten Seite hat Nikonova in diesem Exemplar der Zeitschrift ein Blatt mit einem Artikel über die Emanzipation der Frau in Deutschland verwendet (s. Abb. 10). Der Text wurde nicht zufällig gewählt: Obwohl Nikonova nicht an der feministischen Bewegung teilnahm, die sich Ende der 1970er-Jahre in der UdSSR formierte (s. Mitrofanova 2024), spielte das Thema des weiblichen Schreibens in ihrem Werk eine wichtige Rolle. Verschiedene Motive der unterdrückten Stellung der Künstlerin in Familie und Gesellschaft nahmen einen wichtigen Platz in ihren Memoiren ein (s. Ni‐ konova 2015). In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Autor: innen der Zeitschrift nicht fließend Russisch sprachen (außer Nikonova, Sigej und ihrem Sohn Avgust haben Evgenij Arbenev, Boris Konstriktor und Jurij Bolotov die UdSSR vertreten), 39 blieb Nikonovas Auswahl der Plattform für die meisten Leser: innen unsichtbar. Paradoxerweise konnten Fragmente des musikalischen Textes „gelesen“ werden, wenn man über musikalische Kenntnisse verfügte; der Zeitschriftenartikel blieb für die fremdsprachige Leserschaft dagegen nur ein Hinweis auf die typografische Gestaltung der Seite. Der „leere“ quadratische Ausschnitt in der Mitte, durch den die nächste Seite der Zeitschrift sichtbar wurde, betonte die Tatsache, dass die Kommunikation der Lesenden mit dem Text nicht nur auf der sprachlichen (z. T. ausgeschnittenen), sondern auch auf der visuellen und taktilen Ebene stattfand. Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 99 <?page no="100"?> Abb. 10: Nikonova, in: Double Abb. 11: Peter Küstermann, in: Double 100 Ilja Kukuj <?page no="101"?> 40 Auf der Vorderseite verwendete der Künstler einen Aufkleber mit seinem Pseudonym Peter Endless und der Adresse des Ateliers „World Art Video“ in Minden, Deutschland; auf der Rückseite - eine Unterschrift per Hand mit der Nummer des Postfachs und dem Namen des Landes in Kyrillisch - „ФРГ“ (BRD). 41 Der Name des Schiffes, das zu Ehren eines der Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands und ehemaligen Präsidenten der DDR benannt wurde, konnte ein zu‐ sätzlicher Anreiz für einen deutschen Touristen sein, an Bord zu kommen und den entsprechenden Stempel in seinem deutsch-russischen Projekt zu verwenden. 42 Das Pseudonym wurde nach dem Landkreis Friesland gewählt, in der der Künstler lebte. S. https: / / mailartists.wordpress.com/ 2008/ 10/ 06/ pit-l-grosse/ (Stand: 8.10.2024). Die letzten Seiten der Zeitschrift repräsentieren verschiedene Herangehens‐ weisen an die Rolle der Sprache bzw. der Mehrsprachigkeit in der Mail Art. Während der letzte Text des französischen Mail-Art-Künstlers Jean-Noёl Laszlo nicht nur einsprachig war, sondern auch keinerlei grafische Elemente enthielt, stützte sich der vorletzte Text in seinem sprachlichen Teil ausdrücklich auf die Semantik des Englischen und des Russischen sowie auf die Besonderheiten des lateinischen und kyrillischen Alphabets. Das Werk des westdeutschen Künstlers Peter Küstermanns 40 (Abb. 11), der Nikonova und Sigej 1990 in Ejsk besuchte, wurde auf einem sowjetischen Briefumschlag ausgeführt, der (dem Stempel nach) vom Bord des Schiffs „Wilhelm Pieck“ verschickt wurde 41 , das dem Ejsker Reisebüro zugeordnet war. Das für sowjetische Briefumschläge übliche Bild auf der linken Seite zeigt eine Karte von Kamtschatka und ist der sowjetisch-italienischen Expedition in den Fernen Osten „Kamčatka-90“ gewidmet. Neben einer Fülle von verschiedenen Siegeln und Stempeln (teils postalisch, teils vom Autor selbst) hat der Künstler in dem für die Adressen des Empfängers und des Absenders vorgesehenen Feld das Wort BLACK (in lateinischer Schrift) handschriftlich in das Wort БЕЛЫЙ (in kyrillischer Schrift) übertragen und damit buchstäblich das Schwarze in das Weiße verwandelt. Küstermanns Arbeit legte metadiskursiv die für die Mail Art zentralen Motive der postalischen und interlingualen Kommunikation offen und spielte auf die Topografie des Entstehungsortes der Zeitschrift Double auf Makro- (UdSSR/ Russland) und Mikroebene (Ejsk) an. Ein prägnantes Statement zur Internationalität der Mail Art befindet sich auf der Umschlagsrückseite der Zeitschrift (s. Abb. 12). Der deutsche Autor Peter L. Grosse, bekannt unter dem Pseudonym „PLG Friesländer“ 42 , schickte Nikonova ein dickes Blatt Pappe, auf dem der zweizeilige Satz „THERE IS / DIE KUNST“ gedruckt war. Der dreieckige Ausschnitt des Pappbogens teilt den englischen Teil des Satzes von dem deutschen und erinnert ein wenig an Ėl´ Lisickijs Keil aus dem Plakat „Schlag die Weißen mit dem Keil der Roten“. Der Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 101 <?page no="102"?> 43 Zum Spiel mit der Zweisprachigkeit in der Zeitschrift Double s. Greve 2006: 453-454. Satz selbst kann auf zwei Arten interpretiert werden: als einfache Aussage („Kunst existiert“) und als deiktisch, wenn man das Wort „there“ als das De‐ monstrativpronomen „dort“ betrachtet. Der Blattausschnitt weist ins Innere des Magazins und lädt die Leser: innen ein, sich „there“ auf die Suche nach „der Kunst“ zu begeben. PLG Friesländer erstellte auch die Titelseite der Zeitschrift mit einer Anspielung auf den internationalen Charakter der Avantgarde: Neben dem lateinischen und kyrillischen Titel der Zeitschrift - «Дубль» und „Double“ 43 - wurde die faksimilierte Wiedergabe von Kručenychs Gedicht „dyr bul ščyl“ mit dem Fragment eines optophonetischen Gedichts von Raoul Hausmann kombiniert. Abb. 12: PLG Friedländer (eigentlich: Peter L. Grosse), in: Double. 102 Ilja Kukuj <?page no="103"?> 44 Siehe Nikonovas Autokommentar zu der von ihr zusammengestellten Werkausgabe: „Dort, im Ausland, war unsere visuelle Produktion mit Sergej gefragt, aber Texte auf Russisch, wer braucht die schon? […] Ich habe meine russischsprachige Literatur in einen tiefen Abgrund geworfen. Und ich habe nicht einmal nach Russland zurückge‐ blickt, das überhaupt nichts von mir wollte - im Jahr 1990“ («Там, за рубежом, наша с Сергеем визуальная продукция была востребована, но на русском языке тексты? кому они нужны? […] И я бросила свою лит-ру на русском языке в глубокую пропасть. И даже не оглянулась на Россию, которая не хотела от меня вообще ничего — в 1990 году»; Nikonova-Tarshis 2012). 45 Ein Beispiel für den eher auf Pop-Art basierten Umgang mit sowjetischer Symbolik in der 1. Nummer von Double liefert das Werk von Daniel Daligand aus Frankreich mit seinem Spiel mit dem sowjetischen Stern, Hammer und Sichel und Micky Mouse. 6. Grenzen der Mail Art: Zurück zu der eigenen Sprache Wie die durchgeführten „Stichproben“ gezeigt haben, waren einige Autorinnen und Autoren auf Nikonovas Spiel eingegangen und hatten sich in ihren Werken die Aufgabe gestellt, auf die Herausforderung einer aus der Sowjetunion stam‐ menden internationalen Mail-Art-Zeitschrift zu reagieren. Für Nikonova selbst war dies das erste groß angelegte kollektive Publikationsprojekt, das sie allein, ohne Sigejs Co-Autorenschaft, durchführte. Es entsprach ihrem Bestreben, sich aus dem russischsprachigen Umfeld in den Raum eines internationalen Kunstmilieus zu begeben, das vor allem visuelle Mittel als lingua franca nutzte. 44 Gleichzeitig hatte der demokratische Charakter der Mail Art eine Kehrseite: Nikonovas Experimentierfreude und Meta-Reflexivität, die auf den Traditionen der russischen und internationalen (Neo)Avantgarde basierten und eine Vielzahl von Verfahren für die Entwicklung künstlerischer und poetischer Sprachen boten, waren für viele Autor: innen wahrscheinlich zu radikal, möglicherweise auch elitär, und fanden keinen Widerhall in ihren Werken. 45 Eine wirklich internationale, auf Experimenten basierende Sprache der neuen Kunst, wie Nikonova sie verstand, war im Rahmen der Mail Art nicht immer möglich: Mail Art war oft mehr eine Kommunikation und ein Mittel zum Aufbau einer Kunstgemeinschaft als eine reflektierte Suche nach neuen Ausdrucksformen. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Nikonova, als sich ihr in der Emigration alle Wege zu öffnen schienen, nach den letzten beiden Nummern von Double im Jahr 2000 ihre Aktivitäten in der Mail-Art-Gemeinschaft praktisch beendete und sich wieder der literarischen Tätigkeit in ihrer eigenen - in allen Bedeutungen des Wortes - Sprache widmete. Weitere Gründe dafür waren natürlich auch die überhöhten Erwartungen an das Leben im Westen, aber in vielerlei Hinsicht ebenso die Enttäuschung über das Genre selbst, das nicht nur zur Innovation anregte, sondern auch zur Selbstreproduktion von vorgefertigten Formen, was für Nikonova inakzeptabel war. Der bereits zitierte Autokommentar zum Visuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art 103 <?page no="104"?> 46 «Не сердитесь на меня теперь, западные люди, когда я не отвечаю на Ваши письма — силы уже не те, а желания общаться совсем мало. Я давно живу в Германии — там, где якобы Европа. Ищите меня. Я ведь не прячусь. Я просто не выхожу из дома». Prosaband für das Jahr 1990, dem Geburtsjahr der Zeitschrift Double, endet mit den bitteren Worten der Autorin und Herausgeberin: Seid mir jetzt nicht böse, Ihr Westler, wenn ich eure Briefe nicht beantworte - meine Kraft ist nicht mehr dieselbe und mein Wunsch zu kommunizieren ist sehr gering. Ich lebe seit langem in Deutschland, das sich angeblich in Europa befindet. Suchen Sie nach mir. Ich verstecke mich nicht. Ich verlasse nur nicht das Haus. 46 (Nikonova-Tarshis 2012). Literaturverzeichnis B E N N E T T , John M. (2006): The Translinguistic Collaborative Poetry of Serge Segay, Rea Nikonova, and John M. Bennett. In: Russian Literature LIX (II-IV),-361-374. E L L E S T R ÖM , Lars (2012): The Paradoxes of Mail Art: How to Build an Artistic Media Type, in: Cultura. International Journal of Philosophy of Culture and Axiology IX (2), 103-122. Ė T K I N D , Aleksandr (1998): Chlyst. Sekty, literatura i revoljucija. Moskva: Novoe litera‐ turnoe obozrenie. 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Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung Miriam Finkelstein Abstract: The article focuses on different manifestations of multilin‐ gualism in the poetry of three Russophone writers, Aleksandr Averbuch (Ukraine/ Israel/ Canada/ USA), Tanja Skarynkina (Belarus), and Ekaterina Sokolova (Russia), and aims to identify the key functions of their multi‐ lingual devices. In their texts, these poets (re)construct the languages of imaginary mother figures, which are characterized by the continuous presence of German, Yiddish or Belarusian. This multilingualism of the mothers' languages is firstly understood as a mnemonic technique; the language of the mother always functions as an archive, in which, above all, the memories of the dramatic events of the 20th century are stored. At the same time, maternal languages develop a powerful productivity in that they invite, indeed challenge, the offspring to critically reflect on their own language and to tread new (linguistic) paths. The second central function is thus seen in the creative and linguistic renewal potential of the mother tongue. Where multilingual forms of writing are used as instruments of protest against discrimination of all kinds, they can ultimately also be understood as a practice of resistance against nationalist and illiberal discourses. Keywords: Contemporary Russophone poetry, multilingualism, mother figure, memory, creativity, resistance Am Ausgangspunkt für nachfolgende Überlegungen über Formen und Funk‐ tionen mehrsprachiger Verfahren in Texten russophoner und russischer Gegen‐ wartsdichter: innen steht die These von Yasemin Yildiz zur Rolle der mütterli‐ chen Sprache und des mütterlichen Körpers im Prozess der frühkindlichen Sprachaneignung. In ihrer wegweisenden Studie zur literarischen Mehrspra‐ chigkeit Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition (2012) führte Yildiz aus, dass der europäische Bildungsdiskurs um 1800 erstmals die Idee <?page no="108"?> von der Mutter als Sprachvermittlerin hervorbrachte, die ihren Kindern das Lesen beizubringen hatte. Ihrem Körper sollte dabei insofern eine Schlüsselrolle zukommen, als der erfolgreiche kindliche Erwerb der Sprach- und Lesefertig‐ keiten unmittelbar von der körperlichen Nähe zur Mutter abhing. Die Sprache, die durch den Mund der Mutter in ihr Kind „hineinfloss“, war allerdings nicht ihre eigene. Vielmehr war es, so Yildiz, die Sprache von Männern, von Sprachexperten, die die Normen und Regeln der jeweiligen Nationalsprache formulierten und die sie deshalb als „Bauchredner“ bezeichnet. Die Mutter selbst war hingegen lediglich eine Vermittlungsinstanz, die eine männlich kodierte Sprache wiedergab: The complex imbrication of the mother’s body with language and male authority is underscored by media theorist Friedrich Kittler’s historical account of the turn to phonetics in literacy education. Around 1800, the bourgeois mother began to be incorporated into the role of teaching her children to read. […] The child was supposed to see and hear the mother’s mouth produce sound at the same time that she pointed to the corresponding written letter. Thereby, a connection would emerge between the mother’s mouth, the sound, and the letter. The mother, however, was first instructed in textbooks by male experts in how to produce the sounds properly. Her body was meant to function as a medium for those male experts in their attempt to control the proper (re)production of language. As this scenario strikingly demonstrates, the “mother tongue” coming out of a women’s mouth was not just any language that a mother spoke, but rather the result of male ventriloquism. (Yildiz 2012: 11-12. Kursiv von mir - MF.) Entscheidend für meine Argumentation ist die Bedeutung dieserart von Yildiz angeführter Sprachnormierung, wie sie von autoritativen Instanzen seit Anfang des 19. Jahrhunderts geprägt wurden, indem sie die penible Einhaltung der von ihnen fixierten Sprachregeln bei der Weitergabe, etwa bei der Aussprache einzelner Laute, einforderten. Regelabweichungen, individuelle Sprach- und Ausdruckweise oder kollektive Sprachausprägungen (etwa Dialekte) waren demnach nicht nur nicht vorgesehen, sondern strikt untersagt. Angesichts dieser Argumentation von Yildiz drängen sich allerdings sogleich mehrere Fragen hinsichtlich der Mutter-Sprache auf: wenn die Mutter nur ein Medium ist, durch deren Körper eine fremde, männliche Sprache durchfließt, hat sie dann überhaupt eine eigene Sprache? Und wenn ja, wie ist sie beschaffen, wo und wie könnte sie (wieder) hörbar gemacht werden? Während einige Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen, etwa Julia Kristeva (1982) oder Mary Gossy (1995), das Vorhandensein eigener (teils auch non-verbaler bzw. bei Kristeva prä-ödipaler) Sprachen von Müttern behaupten und diese sogar im Sinne einer Alternative zu den männlich kodifizierten Sprachen betrachten‚ erteilt Yildiz 108 Miriam Finkelstein <?page no="109"?> 1 Vor allem bezieht sich Yildiz hier auf Braidottis Studie Nomadic Subjectivities. Embodi‐ ment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory aus dem Jahr 1994. 2 Der im Osten der Ukraine gebürtige, zuerst nach Israel ausgewanderte und nun seit vielen Jahren in Kanada und den USA lebende Dichter ist bilingual und schreibt in zwei Sprachen, Russisch und Ukrainisch; 2021 erschien sein erster ukrainischsprachiger Gedichtband Žydivs’kyi korol’. Zugleich ist Averbuch Literaturwissenschaftler und Übersetzer aus dem Ukrainischen. solch „utopischen Auffassungen“, wie sie sie nennt, eine Absage. 1 Auf die Arbeiten von Jacques Lacan und Rosi Braidotti bezugnehmend argumentiert sie, dass sich keine Sprache, auch nicht die der Mutter, dem „Gesetz des Vaters“ und so auch der „Sprache des Vaters“ entziehen kann; bestenfalls kann sie „quer“ zu diesen stehen (ibid.: 11). Doch unabhängig von der Frage, ob eine von der Sprache des Vaters und seinen Gesetzen unabhängige Mutter-Sprache in irgendeinem national-kultu‐ rellen Kontext tatsächlich existiert, kann sie in literarischen Texten imaginiert bzw. imaginativ (re)konstruiert werden. Im Fokus dieses Artikels stehen Figu‐ rationen von Mutter-Sprachen in russophoner Gegenwartslyrik, in den Texten russischund/ oder mehrsprachiger Dichter: innen aus der Ukraine (Aleksandr Averbuch) 2 , Belarus (Tanja Skarynkina) und Russland (Ekaterina Sokolova). Gemeinsam ist diesen Figurationen das Interesse an Mündlichkeit: schriftlich fixiert wird in den Gedichten zumeist die direkte, unmittelbare Rede der Mutter. Auf diese Weise soll die Leserschaft einer „unverfälschten“ bzw. „au‐ thentischen“ Sprache der Mutter gewahr werden, die - vorgeblich - durch keine übergeordnete Instanz kontrolliert, korrigiert oder normiert wurde. Aber auch dort, wo das Wiedergabemedium ein schriftliches ist, etwa die Briefe der Mutter in Averbuchs Gedichten, hat die Mutter-Sprache eine deutlich mündliche Prägung. Dieses Verfahren ist es, das für die mehrsprachige Ausgestaltung der Gedichte sorgt, wobei die konkreten Formen der manifesten Mehrsprachig‐ keit (Blum-Barth 2015) von Autor: in zu Autor: in unterschiedlich sind. Teils handelt es sich bei den Sprachen der Mütter um das Russische, teils um andere Sprachen, wie etwa das Belarusische in Skarynkinas Gedichten aus dem Band YesМамочка (2022, YesMama), in den sich das überaus regelkonforme Russisch des lyrischen Ich mit der belarusischen Sprache der Mutter abwechselt. Wenn die Mütter Russisch sprechen, etwa bei Averbuch und Sokolova, entspricht ihre Sprache mitnichten der standardsprachlichen Norm. Das Russische der Mütter in Averbuchs Gedichtzyklen „Poka tebja uže net“ („Solange du nicht mehr da bist“) und „Žitie“ („Die Vita“) aus dem 2017 erschienen Band Svideteľstvo četvërtogo lica (Die Zeugenaussage einer vierten Person) ist in sich mehrsprachig, es ist durchgängig von einem jiddischen, deutschen und anderen lexikalischen „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 109 <?page no="110"?> 3 Bei den Tschuden handelt es sich um eine indigene Gruppe, die traditionell im Nordwesten Russlands ansässig ist und die zu den finno-ugrischen Völkern gehört. Substrat durchsetzt. Sokolova gibt in ihren Gedichten aus dem Band Čudskoe pe‐ čen’je (2015, Tschudenkekse) in phonetischer Transkription minutiös die regional spezifischen Ausspracheeigenheiten, die grammatikalischen Abweichungen und Fehler aber auch Neologismen einer Mutter wieder, die erkennbar aus dem Norden Russlands kommt. Im Folgenden gilt mein Interesse vor allem den vielfältigen Funktionen der Mehrsprachigkeitsverfahren im Werk dieser drei Dichter: innnen, die ich an auswählten Beispielen diskutieren werde. Zum einen will ich Mehrsprachig‐ keit als eine eigenständige Form der Mnemotechnik verstanden wissen, bei der die imaginierte multilinguale Sprache der Mutter für die Dichter: innen als ein Archiv fungiert, in dem die Erinnerungen an dramatische und oft traumatische Ereignisse des 20. Jahrhunderts gespeichert sind. Insbesondere sind es Flucht, Vertreibung, (halb-)freiwillige und erzwungene Umsiedlungen sowie andere Migrationserfahrungen, die die Mutter-Sprachen angesichts der jahrhundertelangen Geschichte von Gewalt, Revolutionen, Kriegen und Grenz‐ verschiebungen in dieser Region geprägt haben. Nicht weniger bedeutend sind die imperialen und kolonialen Praktiken, die seit der frühen Neuzeit erst von Russland, dann von der Sowjetunion ausgingen und immer wieder zu territorialen Veränderungen führten. Die belarusischen, jüdischen und tschu‐ dischen 3 Mütter in den Texten Averbuchs, Skarynkinas und Sokolovas sind entweder unmittelbare oder nachgeborene Zeuginnen dieser Prozesse und selbst wenn sie nicht immer direkt davon erzählen, gibt ihre Sprache doch unmissverständlich darüber Auskunft. Die Präsenz weiterer Sprachen in der (russischen) Hauptsprache der Mütter verstehe ich deshalb als „Ablagerungen“ historischer Erfahrungen und sämtliche Abweichungen von der sprachlichen Norm als Spuren, die diese Erfahrungen in ihren Sprachen hinterlassen. Da also diese Mutter-Sprachen zutiefst individuell sind, so individuell wie die persönlichen Lebensgeschichten, von denen sie geprägt sind, können sie (anders als reguläre Standardsprachen) kaum an die Nachkommen vermittelt werden, wodurch die oben geschilderte Rolle der Mutter als Sprachvermittlerin entfällt. Die Sprachen der Mütter verfügen über kein nachvollziehbares Regelwerk und lassen sich nicht systematisch erlernen, sondern bestenfalls nachahmen oder nachbilden. Bei der Nachbildung der mütterlichen Rede handelt es sich um einen Akt (literarischer) Imagination und nicht oder nicht unbedingt um eine Rekon‐ struktion „realer“, „historisch verbürgter“ Sprach- und Redeweisen konkreter Personen. Der lyrische Text erfüllt demnach bei allen drei Dichter: innen eine 110 Miriam Finkelstein <?page no="111"?> doppelte Funktion: er ist zugleich Ort einer imaginativen Rekonstruktion und ein Speichermedium der Mutter-Sprache. Allerdings sollte das Speichern bzw. Archivieren dieser Mutter-Sprachen nicht mit deren Musealisierung gleichgesetzt werden, sie sind keine verstaubten Exponate im Museum ausgestorbener Sprachen. Auf der Rezeptionsseite stehen in den Texten den redenden Müttern Zuhörer: innen/ Leser: innen gegenüber, nämlich ihre Töchter, Söhne und weitere Familienangehörige. Vor allem für die Kinder fungiert die Multilingualität der mütterlichen Sprachen als Kreativitäts‐ quelle. Dort, wo die Mutter-Sprache die Kinder dazu ermächtigt und einlädt, die eigene Sprache und den eigenen Sprachgebrauch kritisch zu reflektieren, sich selbst über geltende Sprachnormen hinwegzusetzen und neue (Sprach-)Wege zu beschreiten, entfaltet sie eine wirkmächtige Produktivität. In dieser Kreati‐ vitäts- und Spracherneuerungspotenz der Mutter-Sprache sehe ich deren zweite zentrale Funktion. Mit der zweiten geht auch die dritte Funktion mehrsprachiger Schreibweisen einher, nämlich die einer innovativen und effizienten Widerstandspraxis. Heute, in einer Zeit exponentiellen Anstiegs national-chauvinistischer, illiberaler und antidemokratischer Tendenzen in Osteuropa (sowie anderswo auf der Welt), stehen solche Schreibweisen mehr denn je nationalen Identitätsbildungsprozessen entgegen, in deren Kern die Forderung nach einer uniformen und reinen Nationalsprache festgeschrieben ist, wie dies etwa Juliette Taylor-Batty feststellt: […] multilingualism troubles notions of linguistic, cultural and national identity and ‘origins’ through the productive stylisation of processes of interlingual interfe‐ rence, mixing and error, and in the use of translational processes that fundamentally undermine the traditional distinction between […] source and target languages and cultures. (Taylor-Batty 2013: 37-38) Insofern bilden mehrsprachige literarische Texte nicht nur die Realität multi‐ ethnischer und mehrsprachiger osteuropäischer Gesellschaften ab, sondern hinterfragen und unterlaufen jegliche national gedachte sprachliche Einheit und Normativität. Mit der Betonung der individuellen, mehrsprachigen Rede‐ weisen der Mütter und dem Sichtbarmachen ihrer zahlreichen und unterschied‐ lich gearteten Abweichungen von der Standardsprache, wird die jeweilige Mutter-Sprache im Sinne einer „unreinen“ parole imaginiert, die quer zur natio‐ nalen langue steht, zur (vermeintlich) „reinen“, standardisierten und normierten Nationalsprache, deren Regeln sie konsequent überschreitet. Mit Iga Nowicz verstehe ich literarische Mehrsprachigkeit deshalb auch als ein wirkungsvolles Instrument des Protests gegen sprachlich, ethnisch oder sonst wie begründete „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 111 <?page no="112"?> 4 Weitere Ausführungen zu diesem Konzept finden sich in auch in Caffee 2022, Frieß 2022, Puleri 2020. Diskriminierung, denn wo sie „[…] die Idee einer sprachlichen, ethnischen und kulturellen Reinheit untergräbt, kann sie auch gegen Ausgrenzung und Diskriminierung des ,Anderen‘ protestieren“ (Nowicz 2018: 222). In den Texten Skarynkinas, Averbuchs und Sokolovas sind alle drei Funk‐ tionen, die der Mnemotechnik, der Kreativitätsquelle und der Widerstands‐ praxis, stets präsent, sie werden aber unterschiedlich gewichtet und akzentu‐ iert. Während für Averbuch die Erinnerungsbzw. Archivierungsfunktion der Mutter-Sprache zentral ist, verbindet sie sich für Skarynkina aufs Engste mit der Kreativitätsfunktion, die für die belarusische Dichterin eine Schlüsselrolle spielt. Für Sokolova hingegen steht das Protest- und Widerstandspotenzial von Mehrsprachigkeit im Vordergrund. Der ausführlichen Diskussion der jeweiligen Texte seien zunächst einige An‐ merkungen zum Begriff der Russophonie vorangestellt, zu den Anforderungen, Chancen und Herausforderungen im Umgang mit russischsprachiger Literatur, die außerhalb Russlands entsteht. 1. Russophone Literaturen: Kontexte und Verortungen Der Begriff Russophonie wurde erstmals von der amerikanischen Slavistin Naomi Caffee eingeführt, um die Totalität russischsprachiger kultureller Pro‐ duktion im globalen Kontext zu bezeichnen. Auf postkoloniale Theoriebil‐ dung zurückgreifend, erhebt Caffees inklusiv gedachtes Konzept die russische Sprache zum alleinigen Kriterium russistischer literatur- und kulturwissen‐ schaftlicher Analysen und erlaubt somit die Ausweitung der einschlägigen For‐ schung auf alle Länder mit einer signifikanten russischsprachigen kulturellen Produktion: Therefore, taking a cue from postcolonial literary studies, especially from the disci‐ plines of Francophone and Sinophone studies, I propose the term “Russophone” to describe literature written in the Russian language, and “Russophonia” to describe the totality of social, linguistic, and geo-political environments in which Russian-speaking authors write and live. (Caffee 2013: 20) 4 Eine solche Ausweitung des Forschungsgegenstandes bringt zahlreiche Heraus‐ forderungen mit sich, vor allem im Hinblick auf eine erforderliche Kenntnis zahlreicher und sehr unterschiedlicher nationaler Kontexte. Wo russischspra‐ chige Literatur außerhalb Russlands im unmittelbaren Kontakt mit anderen 112 Miriam Finkelstein <?page no="113"?> 5 Die russophonen Dichter der uzbekischen Ferghana-Schule etwa, vor allem Šamšad Abdullaev, lehnen den Bezug auf die russische Literatur und die russische literarische Tradition explizit ab (Platt 2021: 231). Sprachen entsteht, mit anderen Nationalgeschichten sowie literarischen und kulturellen Traditionen, wird das Wissen um diese Sprachen, Literaturen und Geschichten unentbehrlich. Auf die eine oder andere Weise beziehen sich russo‐ phone Texte nämlich immer auf die andere oder mehrere andere Kultur(en) des jeweiligen Umfelds, integrieren dessen Geschichte(n) und operieren mit dessen andere(n) Sprache(n) und literarischen Traditionen. Somit muss russophone Literatur, ob sie nun etwa in Israel, Kasachstan, Österreich oder anderswo geschrieben wird, stets in Bezug zum jeweiligen Umfeld gedacht werden. Ob hingegen die Verwendung des Russischen als Literatursprache zwangsweise einen Bezug auf die literarische Tradition Russlands mit sich bringt, und wenn welcher Art dieser Bezug ist, muss hingegen von Fall zu Fall geprüft werden; eine „automatisch“ oder „natürlich“ gegebene Beziehung kann und darf man jedoch nicht voraussetzen. 5 Von besonderer Bedeutung für jede Diskussion der Russophonie ist auch und vor allem die Frage danach, auf welchem Wege die russische Sprache in das jeweilige Land gekommen war; der Kolonialgeschichte Russlands/ der Sowjet‐ union sowie den vielen Migrationswellen aus diesem Land kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Denn wie auch im Falle etwa der Verbreitung der englischen, französischen und spanischen Sprache im Kontext der Kolonialgeschichte der jeweiligen Länder, resultiert die weitverbreitete Präsenz des Russischen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion vor allem aus der jahrhundertelangen gewaltsamen Kolonisierungspolitik des russischen und später sowjetischen Im‐ periums, die die russische Sprache mit vielfach brachialen Mitteln einführte und die jeweiligen lokalen Sprachen und Kulturen zugleich massiv unterdrückte. Diese Geschichte der Unterdrückung und Zurückdrängung sowie der damit einhergehende traumatische Identitätsverlust wird in russophonen Literaturen auf unterschiedliche Weise transportiert, mal explizit, mal nur in Andeutung; in jedem Fall muss diese Geschichte von Forschenden stets mitgedacht werden. Wie es in den Anglophonen oder den Frankophonen Studien der Fall ist, ist auch der Beschäftigung mit russophonen Texten eine postkoloniale und bisweilen auch eine dekoloniale Perspektive deshalb geradezu automatisch inhärent. Darüber hinaus ist die globale Präsenz russophoner Literaturen in der Gegen‐ wart das Ergebnis von Migrationsbewegungen, die in den frühen 1970er-Jahren begannen und bis heute andauern. Aus der Sowjetunion und deren Nachfolge‐ staaten wanderten in dieser Zeit Millionen Menschen in die USA, nach Deutsch‐ land, Israel, Kanada sowie in viele andere Länder aus, was Maria Rubins dazu „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 113 <?page no="114"?> 6 Wie auch Caffees Russophonie-Konzept, ist Rubins’ Archipel-Modell bzw. -Metapher auf eine größtmögliche Dezentrierung und Dehierarchisierung kultureller Beziehungen angelegt und betont die Vielfalt, die Dynamik und die Fluidität russophoner Kulturen. Mit ihrem Modell wirkt Rubins der Vorstellung eines vertikalen, hierarchisch orga‐ nisierten Machtbeziehungsgefüges zwischen Russland als dem (kulturell, politisch, wirtschaftlich) dominanten Zentrum und einer restlichen Moskauhörigen „russischen Welt“ (russkij mir) entgegen. 7 Der Titel ist unübersetzbar. Ihm liegt das Wort „vojna“ zugrunde, russisch für Krieg, wobei die mittleren zwei Buchstaben umgestellt wurden. Diese Permutation auf phonetischer Ebene sorgt dafür, dass das Grundwort „Krieg“ zwar erkennbar bleibt, aber veranlasste, von einem weltweit verteilten „Archipel“ (archipelago) russischer Kulturen zu sprechen (Rubins 2019). 6 Handelte es sich in den 1970-80er-Jahren vornehmlich um sowjetische Jüdinnen und Juden sowie um Dissident: innen, die der Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung durch den Sowjetstaat entflohen, kamen ab den 1990er-Jahren viele weitere Personengruppen hinzu, so etwa Russlanddeutsche; heute sind es belarusische Oppositionelle, die vor dem brutalen Lukašenka-Regime fliehen, Ukrainer: innen, die sich vor dem Krieg in ihrem Heimatland in Sicherheit bringen sowie russländische Anders‐ denkende und politisch Verfolgte, die Putins Staat den Rücken kehren. Vielfach zweisprachig, tragen diese Menschen neben dem Belarusischen und dem Ukrai‐ nischen auch die russische Sprache in die Welt. Für wissenschaftliche Lektüren migrierter russophoner Dichter: innen und Schriftsteller: innen aus diesen und anderen Ländern gilt demnach das Gleiche wie für ehemalige imperiale und koloniale Subjekte, nämlich zum einen die zwingende Berücksichtigung der vielfach anders- oder mehrsprachigen Herkunftskulturen sowie der nun hin‐ zukommenden sprachlichen und kulturellen Einflüsse in den neuen Ländern zum anderen. Diese äußerst dynamischen, höchst komplexen und nicht selten ambigen Prozesse (trans)lingualer und (trans)kultureller Entwicklungen gilt es, in anderen Worten, in literaturwissenschaftlicher Forschung stets mitzudenken und abzubilden. 2. Aleksandr Averbuchs mehrsprachige Mutter-Monologe Averbuchs 2017 erschienener, zweiter Gedichtband Svideteľstvo četvërtogo lica (Die Zeugenaussage einer vierten Person) enthält fünf Gedichtzyklen, in denen er verschiedene Modi für das Bezeugen von Krieg und Kriegstraumata auslotet; der aktuelle Krieg im Osten der Ukraine bildet dabei den zentralen Bezugspunkt. Allerdings stellt ihn der Dichter in einen größeren historischen Kontext: der zweite Zyklus „Vonja“ 7 und der vierte, „Po vozduchu sderžannosti“ („In der Luft der Zurückhaltung“), die auf die aktuellen Kriegserfahrungen rekurrieren, 114 Miriam Finkelstein <?page no="115"?> zusätzliche Lesarten möglich werden, etwa „von-ja“ (dt. dort-ich); ebenfalls möglich wird dadurch die Assoziation des Kriegs mit Gestank („von’“: dt. Gestank). 8 Im Zyklus „Vonja“ verknüpft er sie ferner mit der Frage danach, wie sich gewaltsame Konflikte auf Mehrsprachigkeit und auf Sprachen im Allgemeinen auswirken. 9 Anders als bei Skarynkina und Sokolova, sind die schreibenden und sprechenden Frauen in Averbuchs Zyklen zwar Mütter, sie richten sich aber nicht (nur) an die eigenen Nachkommen. sind von drei weiteren umrahmt, die sich auf die Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg beziehen und in geographischer Hinsicht verschiedene Regionen fokussieren: das Baltikum in „Poka tebja uže net“ („Solange du nicht mehr da bist“), die Ukraine in „Žitie“ („Die Vita“) und Leningrad in „Vremennye no ispravimye neudači“ („Vorübergehende aber korrigierbare Misserfolge“). Im Mittelpunkt stehen dabei der Holocaust und andere nationalsozialistische Verbrechen an diesen Orten: der jüdische Genozid im Baltikum und in der Ukraine sowie die Belagerung Leningrads. Damit wird eine historische Klammer geschaffen, die Kontinuitäten suggeriert - der aktuelle Krieg wird als ein jüngstes Kapitel in der langen Geschichte von Kriegen verstanden, die die von Timothy Snyders (2010) als Bloodlands bezeichnete Region im 20. Jahrhundert immer wieder erschütterten. Zu den historischen Kontinuitäten dieser Region gehört für Averbuch aber auch die Mehrsprachigkeit ihrer Bewohner: innen, insbesondere der jüdischen, sowie die noch heute höchst brisante Frage nach sprachlicher Identität und Zugehörigkeit, die zumeist nicht mit nationalen Grenzen übereinstimmt. In allen fünf Zyklen rekonstruiert er deshalb sowohl historische als auch aktuelle Mehrsprachigkeitsformen. 8 Eine weitere Gemeinsamkeit aller fünf Zyklen ist das durchgehend präsente lyrische Ich, das als Zeuge oder Zeugin auftritt und über persönliche Erfah‐ rungen spricht. Um das Erlebte wiederzugeben, bedient sich Averbuch verschie‐ dener narrativer Genres: des Briefs in „Poka tebja uže net“, der Autobiographie in „Žitie“ sowie des Tagebucheintrags in „Vremennye no ispravimye neudači“ (Ľvovskij 2017: 7-8). In den Zyklen „Poka tebja uže net“ und „Žitie“, in denen eine weibliche Perspektive eingenommen wird, kontrastiert der schriftliche Charakter der Gattungen mit der Mündlichkeit des Erzählens: hier dominieren Verfahren und Erzähltechniken, die auf die Herstellung einer möglichst unmit‐ telbar und authentisch wirkenden Mündlichkeit abzielen, vor allem der skaz und der Bewusstseinsstrom. Zu den Kernelementen der weiblichen Rede zählt ganz wesentlich auch die Mehrsprachigkeit. Der Zyklus „Poka tebja uže net“, auf den hier näher eingegangen wird, umfasst zehn Briefe, die zwischen 1932 und 1934, in der Vorkriegszeit also, von einer jüdischen Frau, einer fiktionalen Gestalt, verfasst wurden. 9 Über „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 115 <?page no="116"?> 10 Sein Wunsch lässt sich nur indirekt aus den Antworten der Ehefrau erschließen, denn seine Briefe sind nicht Teil dieser fiktiven fragmentarischen Korrespondenz. In ihren Briefen beschreibt die Ehefrau ihren düsteren Alltag, der angesichts ökonomischer Instabilität zunehmend prekär wird. Sie berichtet über Krankheit und Tod von Fami‐ lienangehörigen, über die Auswanderung zahlreicher Bekannter und Freund: innen und über ihre Vereinsamung. Obwohl sie immer wieder darüber nachdenkt, kann sie sich nicht dazu entschließen, das Land zu verlassen. Der letzte, mit Juni 1934 datierte Brief impliziert ein nahendes Ende der Korrespondenz und auch der Ehe, als es der Frau zum wiederholten Male misslingt den Brief abzuschicken und sie nun explizit von verblassenden Erinnerungen an den Ehemann spricht. Für historisch informierte Leserschaft, die um die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung dieser Region während des Holocausts weiß, verweist das Zögern der Frau auf ihr wahrscheinlich tragisches späteres Schicksal. die Biografie der Verfasserin geben sie kaum Auskunft: ihr Name, Alter, der Geburtsort aber auch der aktuelle Wohnort werden nicht genannt. Plausibel, wenn auch nicht zwingend, ist Stanislav L’vovskijs Vermutung, dass sie zum Zeitpunkt des Briefeschreibens in Warschau lebt (L’vovskij 7). Deutlich geht aus ihnen hingegen die Mobilität ihres Lebenswegs hervor: erwähnt werden Riga, ihr früherer Wohnort, Reval (heute Tallin), wo Freunde und Verwandte leb(t)en und Berlin, wo sie mit ihrem Ehemann vor Jahren zu Besuch war (u. a. Averbuch 2017: 24, 26). Der Dichter entwirft hier also einen Chronotopos des Dazwischen: in der Zwischenkriegszeit spielt sich das Leben der Briefverfasserin in einer zwischen den beiden Großmächten Sowjetunion und Deutschland gelegenen Region ab (in den eigenständigen Staaten Estland und Lettland, die 1918 ihre Unabhängigkeit von Russland erklärten), die aber in wenigen Jahren unter diesen aufgeteilt wird. Der zirkulären Bewegung der Frau zwischen den polnischen und den baltischen Städten (zwischendurch verreist sie z. B. wieder nach Riga) ist die Bewegung ihres Ehemannes, des Adressaten der Briefe, gegenübergestellt: dieser verließ Europa und wanderte nach Palästina aus; nun möchte er seine Familie offenbar dazu bewegen, ihm nachzufolgen. 10 Genauso unklar wie der Geburtsort bleibt auch die Muttersprache dieser Frau, die das Russische und das Deutsche perfekt beherrscht. Ihr Leben ist aber wesentlich auch von anderen Sprachen und Kulturen geprägt, die Stationen in den vielen verschiedenen Ländern hinterlassen in ihrer Sprache Spuren, die sich v. a. als Bezeichnungen von alltäglichen Realia äußern. Eine Unterscheidung zwischen der Erstsprache und den später erworbenen Sprachen stellt sich hier insofern als irrelevant bzw. hinfällig heraus, als deren sprachliche Identität per se plural ist. Die mehrsprachige Ausgestaltung zieht sich so auch durch alle Briefe, wobei neben dem Russischen vor allem das Deutsche prominent zu Tage 116 Miriam Finkelstein <?page no="117"?> 11 Unter Umständen dient dies als Hinweis auf die Zugehörigkeit zum jüdischen Bildungs‐ bürgertum, das in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg überall im Baltikum einen großen Anteil an der jüdischen Gesamtbevölkerung hatte. In dem Gedichtband sind alle nicht-russischen Passagen in den Fußnoten glossiert und mit Erklärungen bzw. historischen Einordnungen versehen. tritt. 11 Die Verwendung der deutschen Sprache ist für die Verfasserin derart selbstverständlich, dass sie mitten im Satz zwischen den Sprachen wechselt: 5.11.1932 мальчик мой родной вероятно, это письмо дойдет когда кошки будут зарабатывать себе на тот свет wir sind ja noch jung — aber du kannst doch keine Pein вчера приехала элла und was sie erzählte со слов миры пляс их больница war Hölle auf Erden наша тамарочка в таких случаях говорит: dass ich nicht ertragen kann не правда ли лиманович еще там но скоро режкович и дина говорят о палестине всё очень серьезно со слов сони, ида викторовна говорит о том же […] папа вел себя довольно прилично последнее время стал много пить ich hab abgeredet wegen Analyse machen und zum Arzt gehn - ну знаешь ведь эти векселя его съедают - в конце концов камнем на душе но просто боялась дышать элла привезла карточку жены берля - прелестная девочка на фотографии по крайней мере майкин, иногда я думаю - у всех людей свои цоресы […] (Averbuch 2017: 19) mein lieber junge / wahrscheinlich wird dich dieser brief erreichen, / wenn sich die katzen geld für’s jenseits verdienen werden / wir sind ja noch jung - / aber du kannst doch keine Pein / gestern kam ella an / und was sie erzählte nach den worten von mira pljas / deren krankenhaus war Hölle auf Erden / unsere tamaročka sagt in solchen fällen: dass ich / nicht ertragen kann nicht wahr / limanovič ist noch dort aber bald / režkovič und dina sprechen von palästina / alles ist / sehr ernst sonjas worten nach, ida viktorovna spricht auch davon / […] / papa benahm sich einigermaßen „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 117 <?page no="118"?> 12 Jiddisch: Sorgen. anständig / in letzter zeit trinkt er viel ich habe abgeredet wegen / Analyse machen / und zum Arzt gehen - du weißt ja, diese schuldscheine fressen ihn auf / - wie ein stein am herzen schließlich / aber ich hatte angst zu atmen / ella brachte ein foto von berls frau mit - ein bezauberndes mädchen / auf dem foto zumindest / majkin, manchmal denke ich - alle menschen haben eigene zores 12 […] (Kursiv: im Original Deutsch, M.F.; soweit nicht anders angegeben sind alle Übersetzungen von mir.) Der hier und in allen anderen Briefen verschriftlichte Bewusstseinsstrom der Verfasserin erklärt das durchgängige Codeswitching: sie hält ihre Gedanken unmittelbar auf Papier fest, ganz so, wie sie sie auch mündlich formulieren würde. Diese (vorgeblich) durch keine Instanz reglementierte, ungeordnete und unmittelbare Wiedergabe von Denkprozessen bedingt auch den Verzicht auf sämtliche Schreibregeln, etwa auf die Groß- und Kleinschreibung (vollständig im Russischen und teilweise im Deutschen) sowie auf die Interpunktion, was die Sprunghaftigkeit der Gedanken, deren Fragmentarität oder Zusammenhangs‐ losigkeit unterstreicht. Wird das Leid der Frau besonders groß, machen fehlende Satzzeichen und zahlreiche Enjambements den Text kaum verständlich, wie etwa im vierten Brief vom 28.11.1933: […] позавчера хоронили сына артура кренчицкого было так страшно майка когда артур начал говорить кадиш раньше слышала что хуже провожать родителей или ребенка соня с ожесточением смотрела говорили что мать и мать и ничего другого нет но когда подняли артура zum Kadisch у моей сонечки сделались большие зрачки und mehr hat sie überhaupt kein Wort gesagt был у него туберкулёзный менингит до этого 3 недели лечили от тифа которого не было потом соня оступилась и буквально съехала в могилу ее долго пытались вытащить но она никак не помогала один из мужчин полез за ней было чувство что каждый день кто-нибудь едет […] (Ibid.: 21) […] gestern wurde der sohn artur krenčickojs beerdigt es war so / beängsti‐ gend / majka als artur das kaddisch zu sprechen begann / früher hörte ich es wäre schlimmer die eltern zu verabschieden / oder ein kind sonja blickte verbittert / man sagte dass eine mutter eben eine mutter und es gibt nichts anderes / doch als man artur 118 Miriam Finkelstein <?page no="119"?> 13 Auf Deutsch in etwa „solange du nicht mehr da bist“. Hierbei handelt es sich um eine Abwandlung und Zusammenziehung der gängigen Ausdrücke „poka tebja net“ (während du weg bist) oder „poka ty zdes’“ (solange du hier bist) und „tebja uže net“ (du bist nicht mehr da). 14 Ob es sich bei der Wendung „wenn sich Katzen Geld für’s Jenseits verdienen werden“ um eine tatsächliche Redewendung handelt, lässt sich nicht verifizieren, heute ist sie weder im Deutschen noch im Russischen geläufig. zum Kadisch hochhob wurden bei meiner sonečka / die pupillen groß und mehr hat sie / überhaupt kein Wort gesagt er hatte / schwindsuchtbedingte meningitis 3 wochen zuvor / wurde er gegen typhus behandelt den er nicht hatte danach / stolperte sonja und fiel wörtlich ins grab hinein man hat sie lange / rauszuholen versucht aber sie half überhaupt nicht mit / ein man stieg zu ihr hinab ich hatte das gefühl / dass jeden tag jemand weggeht […] (kursiv: im Original Deutsch, M.F.) Das Verständnis wird zudem dadurch erschwert, dass sich die Briefeschreiberin immer wieder sowohl im Russischen als auch im Deutschen über gültige stan‐ dardsprachliche Normen hinwegsetzt und häufig ungewöhnliche Wendungen benutzt, wie etwa das titelgebende contradictio in adjecto „poka tebja uže net“ 13 (ibid.: 20) oder das oben zitierte „kogda koški budut zarabatyvat’ sebe na tot svet“. 14 Dies verweist aber nicht auf eine mangelnde Sprachbeherrschung oder auf die Unkenntnis von Regeln, sondern ist im Sinne einer Lokalisierung der Briefschreiberin in einem nicht-russländischen und nicht-deutschen geographi‐ schen, historischen und kulturellen Kontext zu verstehen. Die Sprachen dieser Frau sind ex-zentrisch, insofern als sie fernab der jeweiligen (sprach-)politischen Machtzentren existieren - sie muss den von Berlin und Moskau diktierten Sprachregeln nicht Folge leisten. Ob nun in Riga, Tallin oder Warschau folgen die deutsche und die russische Sprache stattdessen eigenen, lokalen Entwick‐ lungen, für die der beständige Sprachkontakt entscheidend ist. In Averbuchs Imagination beeinflussen sich die dort gesprochenen Sprachen gegenseitig auf vielfältige Weise, was er in der so einzigartigen Sprachverwendung der Briefschreiberin anschaulich werden lässt. Die russophonen bzw. die mehrspra‐ chigen jüdischen Kulturen Polens, Lettlands oder Estlands zeichnet er somit ganz im Sinne des Archipel-Modells von Rubins als „Inseln“, die sich zumindest in dieser Epoche frei vom sowjet-russischen wie auch vom deutschen Einfluss entfalten konnten. Die von Aleksandr Averbuch (re)konstruierte mehrsprachige weibliche Re‐ deweise birgt allerdings ein Paradox. Zwar ist sie einerseits als Resultat einer persönlichen Biographie einer konkreten Person absolut individuell und unver‐ wechselbar, andererseits steht sowohl diese Biographie als auch die mehrspra‐ chige Redeweise als exemplarisch für die gesamte im Holocaust untergegangene „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 119 <?page no="120"?> jüdische Welt des östlichen Europas, die in vielen Ländern und in mehreren Sprachen zuhause war. Das Bezeugen dieser mehrsprachigen Vergangenheit und die Aufrechterhaltung der Erinnerung an sie ist das vorrangige Ziel Aver‐ buchs, gibt er sich doch selbst im Buchtitel als Zeuge „in der vierten Person“ zu erkennen. Die Verbindung zu dieser Vergangenheit stellt er allerdings nicht etwa über die religiöse oder kulturelle Zugehörigkeit, sondern über die Sprache(n) her. So, wie die Zugehörigkeit zum Judentum matrilinear vererbt wird, wird der Zugang zu einer mehrsprachigen und durch und durch kosmopolitischen jüdischen Welt in seinen Gedichten über eine Frau bzw. über die Sprache einer Frau tradiert. Deshalb gilt es sie unbedingt zu Rekonstruieren und zu Archivieren. 3. Tanja Skarynkinas zweisprachige Mutter-Tochter Dialoge YesМамочка (YesMama) ist der fünfte und jüngste Gedichtband der bilingualen Autorin, die die Arbeit in verschiedenen Gattungen konsequent auf zwei Spra‐ chen aufteilt: Gedichte schreibt sie auf Russisch, Prosa auf Belarusisch. Der 2022 im Minsker (mittlerweile aus dem Exil tätigen) Verlag Pflaŭmbaŭm erschienene Band versammelt siebzig Gedichte; sie kreisen um die Mutter der Autorin und dokumentieren deren letzte Lebensmonate und Wochen. Während einige von ihnen früher entstanden sind und bereits in älteren Gedichtsammlungen erschienen waren, verfasste Skarynkina die meisten in der Zeit, als sie die schwerkranke Mutter bis zu deren Tod im Dezember 2021 pflegte. In einem kurzen Vorwort ist das siebzigste und letzte, in elegischen Distichen verfasste Gedicht „Ja idu vperëd po snegu“ („Ich gehe vorwärts auf dem Schnee“) ent‐ halten, das programmatisch zwei zentrale Fragen des Bandes zusammenführt: die nach der Spur, die die Mutter im Leben der Tochter hinterlässt, sowie die nach den Möglichkeiten der Tochter, nach deren Verlust weiterzuschreiben. Der Tod der Mutter stellt nämlich eine Zäsur dar, die die Frage danach aufwirft, welche Richtung der eigene weitere Lebens-Weg nun einschlagen kann: Я иду вперёд по снегу вижу многие следы вижу пьяные следы вижу лыжные следы вижу птичьи и собачьи вижу непонятно чьи у меня забрали маму и сказали не грусти […] (Skarynkina 2022: 3) 120 Miriam Finkelstein <?page no="121"?> Ich gehe vorwärts auf dem Schnee / sehe viele Spuren / / sehe trunkene Spuren / sehe Skispuren / / sehe Vogel- und Hundespuren / sehe Spuren von irgendjemanden / / man nahm mir die Mutter weg / und sagte ich soll nicht traurig sein […] Unter den vielen im Schnee sichtbaren Spuren, denen das lyrische Ich folgt, fehlt die der Mutter. Es ist diese markierte Lacuna, die die Tochter in weiteren Gedichten zu schließen versuchen wird, nicht zuletzt, weil davon auch abhängt, ob sie selbst eine (poetische) Spur in der Welt hinterlassen wird. Denn damit ist unmittelbar die Frage verbunden, was für eine Dichterin sie nach dem Verlust der Mutter sein wird bzw. sein kann. Der Aufbau des Bandes folgt dementspre‐ chend einer klaren inneren Logik und einer präzisen Entwicklungstrajektorie: von der anfänglichen Orientierungslosigkeit, die die Trauer begleitet, über (scheiternde) Versuche in den „großen Weltliteraturen“ Modelle und Vorbilder für die eigene Poetik zu finden bis hin zur Erkenntnis, dass die Sprache der Mutter die eigentliche Kreativitätsquelle ist. Zu den Kernelementen der Poetik Skarynkinas gehört der weitgehende Verzicht auf explizite metapoetische Reflexionen. Wenn überhaupt, werden Überlegungen über ihr eigenes Schreiben zumeist in den Kontext alltäglicher, häuslicher, zumeist dezidiert weiblich markierter und oft ländlich konnotierter Tätigkeiten eingebettet. Oft blitzen sie mitten in der Beschreibung der Essens‐ zubereitung auf, geradezu beiläufig beim Einkaufen, während des Backens oder beim Einlegen von Gemüse. Eine der wenigen und umso bedeutenderen Ausnahmen bildet das Gedicht „Mamočka i neznakomyj počerk“ („Mama und die unbekannte Handschrift“), welches die Suche des weiblichen lyrischen Ich nach poetischen Vorbildern (zu Lebzeiten der Mutter) thematisiert: Я купила сборник автографов знаменитых людей искусства после недолгих колебаний я заменила свои каракули бисерной вязью Цветаевой и стала поэтом вот способ хороший советую […] (Skarynkina 2022: 19) Ich kaufte eine Autografensammlung / berühmter Künstlerpersönlichkeiten / nach kurzem Schwanken / ersetzte ich mein Gekritzel / durch Cvetaevas Glasperlenzier‐ schrift / und wurde zum Dichter / das ist eine gute Methode / kann ich empfehlen […]. „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 121 <?page no="122"?> 15 Wessen Autografen sonst noch in dem Buch zu finden waren, geht aus dem Gedicht nicht hervor. 16 Cvetaeva wuchs zweisprachig auf und sprach neben Russisch auch Deutsch, die Erstsprache ihrer Mutter, auf muttersprachlichem Niveau. Bereits in der Kindheit lernte sie außerdem Französisch, das sie später ebenfalls perfekt beherrschte. Diese Kenntnisse erlaubten ihr u. a. in der Emigration in Paris, eigene Gedichte ins Französische zu übersetzen und den (gescheiterten) Versuch zu unternehmen, sich als eine genuin frankophone Dichterin zu positionieren. Siehe dazu Wanner 2020. Skarynkinas Rezep‐ tion von Cvetaeva, insbesondere von deren autobiographischen Prosatexten, bedarf gesonderter Untersuchungen. Insbesondere wäre nach den intertextuellen Lektüren solcher Texte wie Mat’ i muzyka (1934, Mutter und Musik) zu fragen, die das Verhältnis der russischen Dichterin zu deren Mutter thematisieren und die mütterlichen (Inspi‐ rations-)Spuren im weiteren Leben reflektieren. Ich danke Anja Burghardt für die Hinweise in diesem Zusammenhang. Die Entscheidung für Cvetaeva als Vorbild ist einleuchtend, gilt sie doch als eine der größten russischen Dichter: innen, ist fester Bestandteil des weit über die Grenzen Russlands hinausreichenden, auch in Belarus präsenten russisch‐ sprachigen Literaturkanons. 15 Ein etwas weniger offensichtlicher aber nicht minder wichtiger Grund für diese Entscheidung ist Cvetaevas eigene Mehrspra‐ chigkeit sowie deren Verwurzelung in mehreren Kulturen, nämlich auch der deutschen und der französischen, worin das lyrische Ich gewiss Parallelen zur eigenen Biographie erkennt. 16 Doch der selbstbewusste Gestus eines scheinbar emanzipierten lyrischen Ich, das eigene Entscheidungen trifft und sich als Dichter tituliert („i stala poetom“), wird alsbald von der Mutter annulliert. Der anfänglichen Begeisterung über den auf „magische Weise“ eingesetzten Kreativitäts- und Schaffensschub setzt die Mutter ein jähes Ende, da sie in der neuen Handschrift der Tochter das Resultat eines Gewaltverbrechens vermutet: новым почерком волшебным образом я написала десяток стихотворений несколько писем одно из них мамочке мамочка тут же примчалась 8 часов электричкой три пересадки просыпаюсь в супружеской кроватке и слышу мамочкин голос - Кто писал? и близко к моим глазам конверт подносит - Я думала тебя украли арестовали 122 Miriam Finkelstein <?page no="123"?> 17 Die hier aufgerufene Erinnerung bezieht sich auf den Kampf belarusischer Par‐ tisan: innen gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Zum Partisanenmy‐ thos in der belarusischen Kultur siehe z. B. Akudowitsch 2013 sowie Weller 2022 und 2024. 18 Anders als die Tochter, die Belarusisch versteht, in den Gedichten aber nie aktiv verwendet, nutzt die Mutter beide Sprachen, jeweils aber in unterschiedlichen Kon‐ texten. Das Russische ist für sie stets die Sprache der öffentlichen Sphäre und der Kommunikation mit staatlichen Instanzen, wie das in diesem Gedicht sowie auch in dem Gedicht „Mama o partbilete“ („Mutter über den Parteiausweis“) zum Ausdruck kommt, in dem die Mutter vom Verlust ihres Parteiausweises zur Sowjetzeit erzählt. In privaten und familiären Kontexten spricht die Mutter hingegen ausschließlich Belarusisch. велели показать документы руку нарочно повредили заставляя выдать своих. in neuer Handschrift auf magische Weise / schrieb ich zehn Gedichte / einige Briefe einen davon an Mama / Mama eilte sofort herbei / 8 Stunden mit der Re‐ gionalbahn / dreimal umsteigen / ich wache auf im Ehebettchen / und höre Mamas Stimme / - Wer hat das geschrieben? / und hält mir den Umschlag / direkt vor die Augen / - Ich dachte man hat dich entführt / verhaftet / befahl dir die Papiere vorzuzeigen / verletzte absichtlich deine Hand / als man dich zwang die Eigenen zu verraten. Die hier geäußerte Vermutung, die Tochter wäre gefangen genommen und gefoltert worden um „die Eigenen zu verraten“ rekurriert auf den in der bela‐ rusischen Gesellschaft bis heute ausgesprochen präsenten Partisanenmythos. Implizit wird in dem Gedicht Bezug genommen auf die Nazis, die während des Zweiten Weltkriegs belarusische Partisan: innen gefangennahmen und folterten, damit sie die Namen weiterer Mitstreiter: innen verrieten. Mit diesem Bezug rückt die Suche der Tochter nach einer individuellen poetischen Ausdrucks‐ weise in einen größeren geschichtlichen Kontext. 17 Schwer wiegt der Verdacht der Mutter, ihr Kind könnte zur Verräterin „an den Eigenen“, am eigenen Volk und der eigenen Kultur geworden sein: der Wechsel der Handschrift und damit einhergehend die - freiwillige - poetische Orientierung an einem russischen Vorbild kann von der Mutter offenbar nur im Interpretationsrahmen des Zweiten Weltkriegs und nur im Sinne eines gewaltsam erzwungenen Verrats verstanden werden. Bemerkenswert ist ferner, dass sich die Mutter in diesem Gedicht der russischen Sprache bedient, der Sprache des staatlichen sowjetischen und postsowjetischen belarusischen Erinnerungsdiskurses zum Großen Vaterländischen Krieg, der eben vorrangig russisch und nicht belaru‐ sisch geprägt war und ist. 18 Das Sprechen über die „große Geschichte“, die „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 123 <?page no="124"?> Nationalgeschichte und die dramatischen Ereignisse des Kriegs ist, so scheint es, nur auf Russisch möglich, der Sprache autoritativer (und autoritärer) In‐ stanzen. Mit der Verwendung des Russischen partizipiert die Mutter so auch am offiziellen Erinnerungsdiskurs und nimmt damit auch eine quasi-offizielle Autoritätsposition vis-à-vis der Tochter ein. Für die Tochter zeitigt die Intervention der Mutter zwei Folgen: erstens weicht ihr gerade erworbenes dichterisches Selbstbewusstsein zugunsten eines (nur teilironischen) kindlichen Unterwerfungsgestus unter die mütterliche Autorität und macht einer Selbst-Infantilisierung Platz, die vor allem an den vielen Diminutiva wie „Mama“ („mamočka“ statt „mama“) und „Bettchen“ („krovatka“ statt „krovat’“) ablesbar ist. Zweitens trägt, wie an den späteren Gedichten des Bandes deutlich wird, der Verdacht bzw. Vorwurf des Verrats, so abwegig er auch sein mag, durchaus Früchte. So wird das lyrische Ich nie mehr Versuche unter‐ nehmen, seine poetische Sprache an russischen Vorbildern auszurichten. Dieses Gedicht markiert insofern einen Paradigmenwechsel innerhalb des Bandes, als ab hier die - belarusische - Sprache der Mutter zur einzigen Inspirationsquelle der Tochter-Dichterin wird. Deutlich wird dies im Gedicht „Maryja“: Половину ночи сочиняла необыкновенное по изящной простоте стихотворение вторую половину ночи пыталась записать его во сне запомнить не записывая утром только какие-то нарядные осколки лежали в разных частях головы их я в одно так и не собрала но мамина первая фраза с утра помогла сочинить более-менее сносную замену «Званiла Марыя расстроенная за банкi надо ёй цяпер iсц i купляць памiдоры ж порцяцца» […] Поэтому Мария и расстроеная поэтому и маме стыдно за меня перед сестрой что сразу как было приказано банки не отнесла а я сижу и знай себе записываю мамино укоряющее 124 Miriam Finkelstein <?page no="125"?> необыкновенно поэтичное высказывание в свете зарождающегося погожего денька на окончании августа «Званiла Марыя расстроенная за банкi». (Skarynkina 2022: 51) Die halbe Nacht schrieb ich / ein in seiner eleganten Schlichtheit außergewöhnliches Gedicht / in der zweiten Nachthälfte versuchte ich es aufzuschreiben / im Schlaf zu memorieren ohne es aufzuschreiben / am Morgen lagen nur irgendwelche hübschen Scherben / in verschiedenen Teilen des Kopfes verteilt / und es gelang mir nicht sie zu einem Ganzen zusammenzufügen / aber Mutters erster Satz am Morgen / half mir einen mehr oder weniger / passablen Ersatz zu schreiben / / „Maryja rief an / frustriert wegen den Einmachgläsern / jetzt muss man welche kaufen / die Tomaten gehen doch kaputt“ / / Deswegen ist Maryja ja frustriert / deswegen schämt sich Mama ja meiner vor ihrer Schwester / da ich nicht sofort wie befohlen / die Einmachgläser hinge‐ bracht habe / sondern sitze und notiere vor mich hin / Mutters vorwurfsvolle / außer‐ gewöhnlich poetische Aussage / im Licht des aufkommenden / schönen Tages am Ende August / / „Maryja / rief an / frustriert / wegen den Einmachgläsern“ (Kursiv: die direkte Rede der Mutter auf Belarusisch, M.F.). Der Verlust der eigenen Worte wird durch die auf Belarusisch gesprochenen Worte der Mutter kompensiert, denen das lyrische Ich eine besondere poetische Kraft zuspricht. Die mütterliche Rede wird so zur Inspirationsquelle der Tochter, unabhängig vom vorwurfsvollen Ton ihrer Worte und von deren denkbar alltäglichen Gehalt. Bezeichnenderweise steht dieser Inspirations- und Kreativitätsdiskurs in Skarynkinas Gedichten stets im Kontext alltäglicher weiblicher Tätigkeiten. Die Verschriftlichung der mütterlichen Rede korrespondiert direkt mit dem Konservieren von Gemüse; das Speichern und Archivieren der Worte der Mutter auf Papier bildet eine Parallele zum Einwecken von Tomaten in Einmachgläsern, wobei die erstgenannte Tätigkeit durch die semantische Nähe zur zweiten mit‐ nichten herabgesetzt oder entwürdigt wird. So, wie das im Sommer eingelegte Gemüse im Winter wichtige Vitamine und Nährstoffe liefert, liefert die auf Papier festgehaltene Sprache der Mutter der Dichterin auch in Zukunft wichtige Inspirationen für die eigene poetische Sprache. Unter dem Einfluss der mütterlichen Sprache beginnt sich das Russische der Tochter bereits in den nachfolgenden Gedichten zu verändern, freier und spielerischer zu werden. Ähnlich zweisprachig wie „Maryja“ ist das Gedicht „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 125 <?page no="126"?> 19 Skarynkina lebt in der nordwestbelarusischen Stadt Smarhon’, unweit der Grenze zu Litauen. Diese Region des Landes ist mehrheitlich katholisch geprägt. Die Thematisie‐ rung der Religion verweist implizit auch auf die wechselvolle und oft dramatische „Dekabr’skost’“, das bereits im Titel einen Neologismus trägt. Das im Russischen nicht vorhandene abstrakte Substantiv, das annäherungsweise mit „Dezember‐ lichkeit“ oder „Dezemberheit“ übersetzt werden kann, bezeichnet die Stimmung kurz vor den Weihnachtsfeiertagen: Снова декабрьскость осклабясь гроздьями предпрадзничными наваливается ещё и грипп этот мама приказывает: — Таня! Ты должна пры ўсім выздаравець да Куцці (католического рождественнского стола). — Как получится. — Хоць облатэк (тонкая пресная вафелька с вытесненной картинкой Рожденья Исуса) купі. — Куплю. — Мак не купляй. — Почему? — Мак ужо гатовы Марыя прывязла з Вільнюса. […] (Skarynkina 2022: 57) Wieder grinst die Dezemberlichkeit / und stapelt sich in vorweihnachtlichen Haufen auf mich drauf / und dann noch diese Grippe / Mama befielt: - Tanja! / Wie auch immer musst du / vor Kuccja / (katholischer Weihnachtstisch) / wieder gesund werden / - Mal sehen. / - Zumindest Oblaten / (dünne ungesäuerte Waffel mit einge‐ prägtem Bild / der Geburt Jesu) sollst du kaufen. / - Kaufe ich. / - Mohn brauchst du nicht zu kaufen. / - Warum? / Maryja hat aus Vilnius fertigen Mohn mitgebracht. […] (Kursiv: die direkte Rede der Mutter auf Belarusisch, M.F.) Die Tage und Wochen vor dem Weihnachtsfest, die Zeit am Ende des Jahres, in der das lyrische Ich von einer Krankheit befallen und geschwächt ist, wird hier als eine liminale Phase imaginiert, in der benannt und thematisiert werden kann, was sonst nicht zur Sprache kommt. In einem mehrheitlich orthodoxen Land kann nun zum einen vom kulturell Anderen, von katholischen Riten und Gebräuchen erzählt werden. 19 Zum anderen, und noch viel wichtiger, geraten in der katholischen Feiertagszeit die sonst unangefochten gültigen rus‐ 126 Miriam Finkelstein <?page no="127"?> Geschichte der Region, die lange zwischen Polen und Russland bzw. der Sowjetunion umkämpft war und mal dem einen, mal dem anderen Staat zugehörte. 20 Vgl. Kittel et al. (2018.) sischen Sprachregeln unter Druck, möglich wird nun das Experimentieren und Erneuern der eigenen Sprache. Der Dezember wird so zur Zeit der Veränderung, es ist aber auch eine Zeit des Verlustes und der Trauer, denn im Vorwort heißt es, dass in diesem Monat des Jahres 2021 die Mutter verstorben ist. Die Datierung dieses privaten Verlustes muss zudem vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in Belarus betrachtet werden: Die Krankheit der Mutter, deren Tod und das Verfassen vieler Gedichte dieses Bandes fallen in die Zeit der gefälschten Präsidentschaftswahl von 2020 und der brutalen Niederschlagung der anschließenden Massenproteste gegen den selbsterklärten Präsidenten Aljak‐ sandr Lukašenka. Der private Verlust der Mutter korreliert somit in zeitlicher Hin‐ sicht mit dem gesellschaftlichen Freiheitsverlust, der Zerschlagung der Hoffnung auf baldige Demokratisierung und Liberalisierung. Insofern liest sich Skarynkinas Rückzug ins Private als eine implizite Absage an das russifizierte öffentliche Leben in der patriarchalen Diktatur. Darüber hinaus erhält die Praxis des Speicherns des mütterlichen Belarusisch vor dem Hintergrund der dramatischen Geschichte der belarusischen Sprache und Kultur im 20.-Jahrhundert sowohl eine historische Tiefendimension, als auch weitere politische Brisanz. Nach dem Ende der „Bela‐ russisizacyja“ in den frühen 1930er-Jahren, einer Sprach- und Kulturpolitik, die die belarusische Sprache intensiv förderte, wurde diese in den folgenden Jahrezehnten zugunsten des Russischen massiv zurückgedrängt. 20 Vor allem in den Städten wurde Belarusisch geradezu zu einer Minderheitssprache, gesprochen wurde sie (sowie Trasjanka, eine sprachliche Mischform belarusischer Dialekte und des Russischen) vorwiegend in ländlichen Regionen. Noch heute kommunizieren Lukašenka und die politische Elite des Landes vorwiegend auf Russisch und kaum in der Titularsprache des Landes. Auch wenn die belarusische weiterhin neben der russischen die Staatssprache ist, sieht das Regime alle Inseln des Belarusischen mit Skepsis und verfolgt belarusischsprachige Äußerungen teils mit größter Härte. In ihren Gedichten errichtet also Skarynkina ihrer Mutter, einer einfachen Frau vom Land, ein Denkmal, sie archiviert deren belarusische Sprache und setzt deren Wort und deren Autorität den Gesetzen des oft als Väterchen (bac’ka) bezeichneten Präsidenten entgegen. Und schließlich gelingt es ihr, ein eigenes, distinktes, lokal verortetes und unverwechselbares Russisch zu erschaffen, das im und aus dem zweisprachigen Dialog mit der Mutter entstanden ist, ein Russisch, das die Spuren der anderen, mütterlichen Sprache in sich trägt und ein manifester Gegenentwurf zur Sprache des (Landes)Vaters ist. „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 127 <?page no="128"?> 21 Nach Boris Groys war ihr Objekt nicht die Realität, sondern die Sprache selbst: „специфическим предметом постмодернистской литературы является не действительность, а язык“ (Groys zitiert nach Skoropanova 2002: 174). 22 Die Zahl einschlägiger literaturwissenschaftlicher Studien, die sich diesem Phänomen widmeten, ist vergleichbar hoch. Hervorgehoben seien hier die Arbeiten Ingunn Lundes (2006), Tine Roesens (2006) und Dirk Uffelmanns (2006 und 2020) zu Sorokin und anderen Autor: innen. 23 So etwa bei Lunde/ Roesen (2006) und Krongauz (2008). 24 Zu solchen Sprachformen können etwa „olbanskij jazyk“ oder „jazyk padonkov“ gezählt werden (vgl. dazu Berdicevskis und Zvereva 2014 sowie Lunde und Paulsen 2009). 4. Das Broken Russian von Ekaterina Sokolovas Müttern Mehrsprachige, vielfach experimentelle und zugleich sprachkritische Lyrik entstand in den letzten Jahrzehnten auch in Russland; vor allem zeigten sich die in den 1980er- und 1990er-Jahren geborenen Dichter: innen an poetischer Mehrsprachigkeit interessiert, jene Generation also, die kurz vor oder bald nach der Auflösung der Sowjetunion zur Welt kam. Ihre Affinität zu mehrspra‐ chigen Schreibweisen hat unterschiedliche Gründe. Wesentlich geprägt wurde sie von den sprachkritischen gesellschaftlichen Diskursen der späten 1990er- und der 2000er-Jahre sowie von der postmodernen, sprachfixierten russländi‐ schen Literatur. 21 Im Rückblick scheint die literarische Sprachkritik und die intensive Suche nach neuen sprachlichen Ausdruckmöglichkeiten der 1990er- und 2000er-Jahre, die im Zuge der Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Sprachenerbe notwendig wurden, vor allem das Metier von Prosa gewesen zu sein, während die Lyrik hierbei eine eher nachgeordnete Rolle spielte. Die Romane Vladimir Sorokins (etwa Goluboe salo, 1999, Der himmelblaue Speck), Viktor Pelevins (Generation P, 1999, Generation P) und Tat’jana Tolstajas (Kys’, 2000, Kys) seien hier stellvertretend für eine sehr lange Reihe sprachkritischer Texte genannt. 22 Die Vielfalt der Schreibweisen und der Experimente, die sich über rigide Sprachnormen hinwegsetzten, führte dazu, dass diese Zeit mit Roman Jakobsons Begriff als „Erdrutsch der Norm“ beschrieben wurde. 23 In den 2000er-Jahren leistete die Verbreitung des Internets in Russland solchen Entwicklungen weiteren Vorschub, das Runet (russisches Internet) wurde zum endlosen Experimentierfeld, auf dem nicht nur neue Schreibpraktiken, sondern auch neue, explizit antihegemoniale Sprachen ersonnen werden konnten. 24 An diese literarischen und sprachlichen Praktiken knüpften in den 2010er-Jahren die bereits in einem (noch) posttotalitären Staat sozialisierten jüngeren Dichter: innen an; anders jedoch als für die Vorgängergeneration, stand im Fokus ihrer Interessen nicht mehr die Auseinandersetzung mit der verkrusteten offiziellen sowjetischen Sprache, sondern die sprachliche und kulturelle Vielfalt 128 Miriam Finkelstein <?page no="129"?> 25 Dies gilt auch für die jüngere feministische und queere Poesie, z. B. für die mehrsprachigen Texte der 1992 geborenen Dichterin Egana Džabbarova, in denen Russisch, Azeri und andere Sprachen kombiniert werden. In ihrem Vorwort zu F-Letter. New Russian Feminist Poetry hielt Galina Rymbu, eine der prominentesten feministischen Lyrikerinnen, so auch programmatisch fest: “The writing author is one who creates, discovers, and assimilates a number of ‘foreign’ languages within her own, who reveals the strangeness and otherness of her own native language, who seeks out within language islands of freedom. Poetry […] turns away from languages of enmity, producing other linguistic worlds that have no room for violence and oppression. […] The many voices in feminist poetry, which are emerging today in an antidemocratic state, are authentically democratic […] democratism implies a plurality of bodies and languages struggling for a new and just world.” (Rymbu 2020: 27-29) Russlands ihrer eigenen Gegenwart. Die Erinnerung an und die Sichtbarmachung der zahlreichen unterdrückten, vergessenen, bereits verschwundenen oder im Verschwinden begriffenen Sprachen und Kulturen etlicher ethnischer Bevölke‐ rungsgruppen der Russischen Föderation wurde zu ihrem Credo (vgl. Kukulin 2014). Die in den Metropolen Russlands kaum bekannten, nicht selten als provin‐ ziell diffamierten und marginalisierten Kulturen der sogenannten „Peripherien“, etwa des Nordens und Nordostens, des Urals und vieler anderer Regionen, rückten nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit; mehr noch, die Autor: innen verbanden die Darstellungen dieser Regionen oftmals mit expliziter Kritik an der neoimperialen Sprach- und Kulturpolitik von Putins Staat. Mehrsprachigkeitsverfahren wurden dabei zu wichtigen Instrumenten des Widerstands, zum Marker einer regimekriti‐ schen, demokratisch und liberal gesinnten Lyrik. 25 Als exemplarisch dafür können die in dem 2015 erschienenen Gedichtband Čudskoe pečen’e (Tschudenkekse) der 1983 in Syktyvkar geborenen Ekaterina Sokolova gelten. Programmatisch liest sich das erste Gedicht, in dem das nordwestliche Gebiet des Landes ausdrücklich als ein annektiertes Territorium bezeichnet wird; die Bevölkerung dieses Landstrichs, das finnougrische Volk der Tschuden, widersetzt sich - in Sokolovas Imagination - nach wie vor, Jahrhunderte nach deren Eingliederung ins Russisch Reich, der kulturellen und sprachlichen Kolonisierung: присоединенная территория убрана к седьмому числу все фигуры чудинов скрылись в дома оставив обувь за порогом угги свои выставив за порог а самокатный проезжий бесится, ищет укрытия […] (Sokolova 2015: 13) „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 129 <?page no="130"?> Das eingegliederte Territorium ist geschmückt / für den Siebten des Monats / alle Figuren der Tschuden versteckten sich in den Häusern / ihre Schuhe ließen sie vor der Türschwelle stehen / ihre Uggis stellten sie vor die Türschwelle / / und der rollende Reisende ist wütend, sucht / Unterschlupf […] Die Tschuden boykottieren die Feierlichkeiten zum siebten November und verweigern sich damit sowohl dem Gedenken an die Oktoberrevolution von 1917, der der Feiertag zu Sowjetzeit gewidmet war, als auch - und wichtiger - dem im Jahr 1996 an dessen Stelle eingeführten „Tag des Einvernehmens und der Versöhnung“ („den’ soglasija i primirenija“), der 2005 wiederum in den „Tag der Einheit des Volkes“ („den’ narodnogo edinstva“) umbenannt wurde. Damit wird die Absage der lokalen Bevölkerung an die staatlich forcierte Idee der nationalen und ethnischen Einheit markiert, an die Idee eines homogenen Volkes, die die kulturellen Spezifika einzelner Bevölkerungsgruppen einebnet und unsichtbar macht. Immer wieder thematisiert Sokolova deshalb auch das Schweigen der kolonisierten Subjekte, deren „Mund zugenäht“ wurde: мне 6 лет, я уколился - я с шитьем играл полдня. мне веселый сон приснился и пугал меня: будто нас зовут соседи бабушку забрать - увозить под землю едем мамину мать […] потом я вспомнил это дело - пошила темноту в углу и мне молчанье в губы вдела бабуля, словно нить в иглу. (Ibid.: 25) Ich bin sechs Jahre alt, ich pikste mich - / einen halben Tag spielte ich mit dem Nähzeug. / Ich hatte einen lustigen Traum / der mir Schrecken einjagte: / / als hätten uns die Nachbarn gerufen / die Großmutter abzuholen - / wir fahren unter die Erde wegzubringen / Mutters Mutter […] / Später fiel mir diese Sache ein / in der Ecke nähte sie Dunkelheit / und führte mir das Schweigen in die Lippen hinein / die Oma, wie einen Faden in die Nadel. Bezeichnenderweise sind es hier die Mütter bzw. Großmütter, die den eigenen Kindern und Enkeln das Schweigen auferlegen. Zwar bleiben die genauen Gründe dafür unausgesprochen, die Vermutung liegt aber nahe, dass die aus 130 Miriam Finkelstein <?page no="131"?> 26 Das Spielzeug des grammatikalisch männlich markierten Ich stellt ferner auch dessen Geschlechtsidentität infrage, da es mit Nähutensilien spielt, mit Gegenständen, die traditionell weiblich konnotiert sind. Der hier evozierte Bezug zum Märchen von Dornröschen, das sich an einer Nadel sticht, sorgt für eine weitere Verunsicherung hinsichtlich des Genders des lyrischen Ich. Wie auch Dornröschen, fällt das lyrische Ich nach dem Stich in den Schlaf, wobei dieser mit dem Tod (dem ewigen Schlaf) der Großmutter parallelisiert wird. den Repressionserfahrungen der sowjetischen und vorsowjetischen Zeit resul‐ tierte, tiefsitzende Angst, sich zur eigenen Identität, Geschichte und Sprache zu bekennen dafür verantwortlich ist und/ oder der Schmerz und die Scham über deren Verlust. Trotz dieser Bemühungen um sprachliche Anpassung und Unauffälligkeit seitens der Großmutter, werden Spuren von Alterität in der Sprache des Enkels bzw. lyrischen Ich sichtbar gemacht. Der grammatikalische Fehler im Wort „ukolilsja“ (statt „ukololsja“) verweist auf eine unvollständige Beherrschung der russischen Sprache, womit Fragen nach der sozialen aber eben auch ethnischen Identität des lyrischen Ich aufgeworfen werden. 26 Mütter können aber nicht nur Vermittlerinnen von Sprachlosigkeit und Schweigen sein, sondern im Gegenteil auch von sprachlichen Widerstands- und Resilienzpraktiken. Vor allem ist es das vom politischen Zentrum ausgehende Diktat der sprachlichen Homogenität und Normativität, gegen das Sokolova aus der Perspektive der anderssprachigen, marginalisierten Minderheiten an‐ schreibt. Die Sprache der Mutter ist das Vehikel dieses Widerstands: мама говорила в богородске на кладбище разноцветные кресты а тут всë уродски серые плит ы мама говорила в лесочке швивые грибочки василëчки ойфон покожи мне кортинки про вологодчину буду смотреть вспоминать стихи про родину писать. (Ibid.: 26) mama sagte in bogorodsk / auf dem friedhof sind bunte kreuze / aber hier ist alles hisslich / graue platt en / / mama sagte im wäldchen / wurmläusige pilzchen korn‐ blümchen / ojfon zajge mir pilder / von vologda gebiet / / ich werde sie anschauen mich erinnern / gedichte über die heimat schreiben. „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 131 <?page no="132"?> 27 Einen guten Überblick über diese Vorstellung sowie über die sprachliche Homogeni‐ tätsnorm geben Lara Ryazanova-Clarke (2006) und Michael S. Gorham (2006). 28 Vgl. Kapitel 2 „‚Re-Placing‘ Language. Textual strategies in post-colonial writing“, in dem diese und weitere Strategien ausführlich beschrieben werden. Mit der Aussetzung der Interpunktion und der Hervorhebung grammatikali‐ scher, lexikalischer und phonetischer Abweichungen von der Standardsprache, stellt Sokolova die vom Zentrum diktierten rigiden Normen in Frage, die Fehler („urodski“ statt „urodskij“, „pokoži“ statt „pokaži“) und die Neologismen („švivye“) der Mutter-Sprache ziehen die so wichtige Vorstellung von praviľ‐ nost’, der allseits verbindlichen Richtigkeit der Sprache, in Zweifel. 27 Diese Abweichungen, Fehler und Neologismen werden aber zugleich in einem ganz konkreten regionalen Setting verortet. Noch bevor die genaue Herkunftsregion der Mutter expliziert wird (das Vologoda Gebiet), gibt darüber die phonetische Transkription ihres Okan’e in der Verszeile „ojfon pokoži mne kortinki“ Aus‐ kunft, jener spezifischen Aussprache im russischen Norden, bei der auch in unbetonter Position das O als O ausgesprochen wird. Mit ihrer Verfahrensweise partizipiert Sokolova, eine studierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, nicht nur an den russischen sprachkritischen Diskursen und literarischen Traditionen; ihre Strategien gleichen jenen der anglophonen postkolonialen Literaturen, die bereits Bill Ashcroft, Gareth Grif‐ fiths und Helen Tiffin in ihrer klassischen Studie The Empire Writes Back: Theory and Practice in Post-Colonial Literatures (1989) beschrieben haben. 28 Deutlich erkennbar wird an ihren Gedichten auch die Rezeption von Gilles Deleuze, wobei sie hier insbesondere an die in Kritik und Klinik formulierte Idee anknüpft, dass Schriftsteller: innen die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen reißen und innerhalb ihrer Sprache eine Fremdsprache erfinden (Deleuze 2000: 9). In Sokolovas Texten erfahren die Überlegungen des französischen Philosophen insofern aber wesentliche Modifizierungen, als die eigene Sprache hier zugleich die der Fremden ist, die der Kolonialmacht, was wiederum an die Auseinandersetzung mit der französischen Sprache der in Algerien geborenen Helen Cixous und Jacques Derridas denken lässt. Derridas Dekonstruktion der eigenen Muttersprache in der Einsprachigkeit des Anderen, das Aufzeigen von Alienation und Aleatorik im bzw. als Kern der Muttersprache selbst ist auch für Sokolova das Verfahren schlechthin (Derrida 2003: 19). Ihre Lyrik ist demnach Resultat einer doppelten, literarischen wie theoretischen Rezeption: Mit der Aneignung von Verfahren, die ursprünglich in anderen Kontexten entwickelt wurden, partizipiert die russische Dichterin an globalen Diskursen und schreibt sich in weltliterarische Traditionen ein. 132 Miriam Finkelstein <?page no="133"?> 29 Ähnliche Thematiken und Tendenzen lassen sich auch für die Prosa festmachen, und zwar auch für das Werk russländischer Autor: innen, so etwa in den Romanen Sergej Lebedevs Predel zabvenija (2010, Der Himmel auf ihren Schultern, 2013) und Deti avgusta (2016, Menschen im August, 2015) sowie in Marija Stepanovas Roman Pamjati pamjati (2017, Nach dem Gedächtnis, 2018). Lebedev und Stepanova sind prominente Kritiker: innen des Regime Putins und verließen Russland vor mehreren Jahren. 5. Schlussbemerkung Betrachtet man die Entwicklung russophoner Lyrik der letzten zwei bis drei Jahrzehnete, so lassen sich Averbuchs, Skarynkinas und Sokolovas Rekon‐ struktionen und Repräsentationen mütterlicher Sprachen und mütterlicher Geschichte(n) in einem doppelten Kontext lokalisieren. Sie sind zum einen Teil jenes poetischen Diskurses der postsowjetischen Ära, in dessen Fokus die Aus‐ einandersetzung mit (teils autobiographisch fundierten) Familiengeschichte(n) stand, mit den Geschichten der Eltern- und Großelterngeneration im „langen 20. Jahrhundert“. Oftmals handelt es sich bei diesen, wie auch bei Averbuch und Sokolova, um die Geschichten von Minderheitengruppen und deren Diskrimi‐ nierung und Verfolgung, aber auch von Resilienz und Widerstand. Als exempla‐ risch hierfür kann einer der frühesten Texte dieser Art gelten, der Gedichtband Semejnyj aľbom des ukrainischen russophonen Dichters Boris Chersonskij, in dem er vom Schicksal seiner ukrainisch-jüdischen, in Odesa verwurzelten Familie erzählte (2006, Familienarchiv. Roman in Versen, 2014). Charaketeristisch für diesen Diskurs ist die ihm inhärente metareflexive Ebene: das Erzählen der Geschichte ist stets mit der Frage nach dessen Bedingungen, nach den sprachlichen, gesellschaftlichen, aber auch psychologischen Vorraussetzungen verbunden. Prominent treten solche Reflexionen zum Beispiel im lyrischen Werk Anastasija Afanas’evas auf, einer vormals auf Russisch schreibenden ukrainischen Dichterin. In dem Zyklus „Pesni strany maliny i jablok“ („Lieder des Landes der Himbeeren und der Äpfel“) aus dem Gedichtband Otpečatki (2014, Abdrücke) thematisiert sie eindrücklich die Sprachlosigkeit und das Schweigen der ukrainischen Großeltern des lyrischen Ich über deren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, das sie auf deren restlose Verin‐ nerlichung offizieller sowjetischer Kriegsnarrative und memorialer Rhetoriken zurückverweist sowie auf das Fehlen einer eigenen, individuellen Sprache der Erinnerung. 29 Zum anderen stehen die hier analysierten Texte der drei Dichter: innen im größeren Kontext rezenter mehrsprachiger Lyrik, die neben dem Russischen eine Vielzahl anderer Sprachen mit Hilfe unterschiedlichster Verfahren inte‐ griert. Stellvertretend seien hier der kasachstanische Dichter Anuar Dujsen‐ binov genannt, der in seinem 2022 erschienen Gedichtband Ruchani Kenguru „mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung 133 <?page no="134"?> 30 Die Geschichte ihrer tatarischen Familie spielte bereits in ihrem ersten veröffentlichten Gedichtband Su eine prominente Rolle, obwohl die darin versammelten Texte überwie‐ gend einsprachig russisch waren (Rasulewa, 2022). Seit dem 18.10.2022 veröffentlicht Rasulewa in ihrem Telegramkanal stichodinara unter dem Hashtag #lostlingual ihre bilingualen Texte. Im Jahr 2023 initiierte sie das Projekt TEL: L, das mehrsprachige Dichter: innen, deren Erstsprachen in der Sowjetunion und später in Russland margi‐ nalisiert wurden, zusammenbringt und sie dabei unterstützt, diese Sprachen wieder zu aktivieren und in ihnen dichterisch tätig zu werden. (2022, Ruchani Känguru) das Russische mit dem Kasachischen verbindet, die aus Russland stammende und in Deutschland lebende Dinara Rasulewa, die ihre Gedichte zweisprachig russisch-tatarisch schreibt und Inna Krasnoper, die in ihren Gedichten Russisch, Deutsch und Englisch kombiniert (Krasnoper 2024). Die augenfällige Popularität mehrsprachiger Verfahren bei Dichter: innen die kurz vor oder unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Welt kamen, kann so auch im Sinne einer Antwort dieser Generation auf die Frage nach den sprachlichen Voraussetzungen lyrischer Erinnerungsarbeit verstanden werden. Denn auch für Rasulewa und Dujsenbinov stehen die Re‐ konstruktionen und Reimaginationen der Familiengeschichten im Vordergrund, aber anders als dеren ältere Dichterkolleg: innen, die ihre Texte einsprachig gestalteten, erscheint dies den Jüngeren offenbar nicht länger als ‚natürlich‘, sinnvoll oder zielführend. Dort, wo sich Rasulewa auf die Suche nach der verdrängten und nahezu verlorenen tatarischen Sprache ihrer Kindheit begibt, 30 oder wo Dujsenbinov die eigene Sprachbiographie zu rekonstruieren versucht, ist dies nur unter der Einbeziehung der jeweils anderen Sprache, der tatarischen bzw. kasachischen, möglich. Die Sprache der individuellen Erinnerung ist hier prinzipiell mehrsprachig, ja der Prozess des Erinnerns überhaupt ist nur in mehreren Sprachen denkbar. Schließlich kann das gegenwärtige Interesse an poetischer Zwei- oder Mehr‐ sprachigkeit und die exponentiell wachsende Zahl mehrsprachig schreibender Dichter: innen nicht ohne einen Bezug auf das politische Zeitgeschehen ver‐ standen werden, auf den Krieg in der Ukraine. Wurden die zuvor florierenden Kooperationen mit russländischen Verlagen und Kultureinrichtungen nach der Annexion der Krim und nach dem Beginn des Kriegs im Osten der Ukraine 2014 zunehmend kritisch betrachtet, lehnten die allermeisten ukrainischen Autor: innen, ukrainischwie russischsprachige, nach dem Beginn des vollumfänglichen Kriegs im Februar 2022 jede Zusammenarbeit mit russländischen Institutionen und vielerorts auch mit russlandstämmigen Kulturschaffenden rigoros ab. Zur Disposition steht aber auch die russische Sprache selbst: wech‐ selten nach 2014 nur einzelne Autor: innen ganz oder teilweise ins Ukrainische (z. B. Vladimir Rafeenko), sagen sich seit dem 24. Februar 2022 immer mehr 134 Miriam Finkelstein <?page no="135"?> vom Russischen komplett los, unter anderen die oben erwähnte Anastasija Afanas’eva. Der Krieg in der Ukraine ist darüber hinaus zu einem transna‐ tionalen Trauma geworden, das weit über deren Grenzen ausstrahlt, denn Russlands Krieg diskreditierte die russische Sprache auch in den Augen vieler russophoner Autor: innen in anderen Ländern. Auch sie suchen nun nach Wegen im Umgang mit dem Russischen und beschreiten dabei unterschiedliche Wege. Vor allem für diejenigen unter ihnen, die nicht vollständig in eine andere Sprache wechseln können oder wollen, stellt mehrsprachiges Schreiben eine valide Alternative zum vollständigen Verzicht auf die russische Sprache dar. Die Präsenz weiterer Sprachen in ihren Texten fungiert als Marker der Nicht-Zugehörigkeit zur „russischen Welt“, als Ausweis ihrer Protesthaltung gegen das russische Regime und als eine Demarkationslinie, die sie von diesem Land trennt. Durch die unmittelbare Nähe zu und den Kontakt mit anderen Sprachen innerhalb ihrer Texte verändert sich zugleich die russische Sprache selbst, sie wird - in Robert Youngs Worten - „lokal gemacht“ (Young 2013: 34) und damit eindeutig als nicht-russländisches Russisch statuiert. Wenn also Averbuch, Skarynkina und Sokolova die mehrsprachigen und heteronormen russischen Sprachen der Mütter rekonstruieren, so handelt es sich dabei nicht nur um Erinnerungsarbeit, sondern ein ganzes Stück weit auch um in die Zukunft gerichtete, utopische Projekte, die ein Multiversum unterschiedlichster „World Russians“ entwerfen, russische Sprachen, die eines Tages nun endlich frei sein könnten von russländischer kolonialer Gewalt. Literaturverzeichnis A F A N A S ’ E V A , Anastasija (2014). Otpečatki. New York: Ailuros Publishing. A K U D O W I T S C H , Valentin (2013). Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen. Berlin: Suhrkamp Verlag. 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Zeitgenössische Positionen <?page no="141"?> ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ Zur belarusischen Autorin Volha Hapeyeva Weertje Willms Abstract: The phenomenon of multilingualism is significant for the life and work of Belarusian author Volha Hapeyeva (*1982) in many respects: she grew up speaking two languages, Belarusian and Russian, she is a lin‐ guist and translator and she has been living in exile in Germany for political reasons since 2020. In addition to her work in Belarusian, there are several poems written in German; some texts contain elements belonging to other languages (code-switching). The article traces the author’s poetics, which center on the idea that poetry exposes the semantic potential inherent in language, which is both unconsciously and deliberately restricted by society. Poetry thus reveals the ‚natural‘ multilingualism of language in the sense of the existence of multifaceted possibilities of semantization. Keywords: Poetry, Belarusian, exile, multilingualism, plurilingualism, categorisation, propaganda 1. Einleitung Lesen wir Gedichte poesie erinnert uns daran was das heißt menschsein sie macht uns offen und damit stark das wort kann niemand uns entziehen <?page no="142"?> unsere poesie kann niemand uns nehmen („Lesen wir Gedichte“, Hapeyeva 2021b: 45) In diesem Gedicht, das 2021 in dem Band Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung erschien, drückt sich die Poetologie der belarusischen Autorin Volha Hapeyeva aus: Poesie versteht Hapeyeva als Mittel zur Ausbildung von „menschsein“, und das bedeutet vor allem: zur Ausbildung von kritischem Denkvermögen und Empathie. Durch den genauen Sprachgebrauch, der frei ist von konventionalisierten Semantisie‐ rungen und damit von Kategorisierungen, wertenden Hierarchisierungen und Propaganda, erhalten die Leser: innen von Poesie einen neuen Zugang zur Welt, der sie widerständig macht. Dadurch ist Poesie für Hapeyeva letztendlich immer politisch, da sie eine Position des Widerstands gegenüber Missbrauch und Unterdrückung durch die Machthabenden ermöglicht. Das dichterische Wort wird zur politischen Widerstandskraft, indem es neue Kommunikationsformen zwischen Innen- und Außenwelt (Hapeyeva 2020b: 127) erprobt und zum Vertei‐ diger der Menschlichkeit wird. In einem auf Deutsch verfassten Gedicht drückt es Hapeyeva so aus: „meine wörter sind einfache steinchen / […] siehst du, steine können auch fliegen“ („meine wörter sind einfache steinchen“, Hapeyeva 2022e: o.S., unveröffentlichtes Manuskript). In anderen Texten führt die Autorin diesen Gedanken weiter aus, so etwa in einem Interview und in ihrem preisgekrönten Essay Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils: Als Dichterin arbeite ich an der Sprache, es geht gerade darum, dass meine Lese‐ rinnen und Leser die Fallstricke der Wörter, die Festlegungen auf einen durch die offizielle Sprache beschränkten Erfahrungsraum erweitern und sich nicht mit dem zufriedengeben, was bloß oberflächlich ist. Poesie hat die Kraft der Übertragung, der Metonymien und Metaphern, sie bringt Menschen dazu, anders zu denken. (Hapeyeva 2020a: 464-465) Deshalb ist Poesie für mich ein Mittel, um Empathie auszudrücken und Bildung zu verbreiten - nicht die Bildung, die man an Schulen oder Universitäten bekommt, sondern eine, die lehrt, menschlich zu sein und den Menschen in anderen zu sehen, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht oder ihrer Hautfarbe. Das ist ein Antidot zur Gewalt und zum Hass. (Hapeyeva 2022a: 29-30) Dadurch, dass Poesie neue Perspektiven schafft, indem sie die Willkürlichkeit und die Einschränkungen der konventionalisierten Semantisierungen offenlegt 142 Weertje Willms <?page no="143"?> 1 Mir liegt ein Kompendium von 27 auf Deutsch verfassten Gedichten vor (2022e), welche Volha Hapeyeva mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Daneben sind zwei original deutsche Gedichte bereits publiziert: „Muhruhr“ (2021c) und „verschüttete milch“ (2020c). und vielfältige Möglichkeiten anderer Semantisierungen aufzeigt, ist sie so poly-semantisch, dass sie sich in einem übertragenen Sinne als vielsprachig bezeichnen lässt. Sie trägt eine unendliche Zahl an Bedeutungen in sich, welche im Alltagsgebrauch verdeckt sind und durch die Dichterin geborgen und auf‐ gezeigt werden. Dieser Bedeutungsraum wird durch die Übersetzungstätigkeit und durch den Zustand des Exils noch erweitert. Im Folgenden soll den Facetten der Mehr- und Vielsprachigkeit im Werk Volha Hapeyevas nachgespürt werden. Nach einem Blick auf den biografischen Hintergrund der Autorin (Abschnitt 2) sollen auf der Grundlage des Romans Camel Travel (2021a), des Essays Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils (2022a), eines Kompendiums auf Deutsch verfasster und teilweise bislang unveröffentlichter Lyrik (2022e) sowie der Gedichte aus den beiden Bänden Mutantengarten (2020b) und Trapezherz (2023) sowie weiterer, verstreut publi‐ zierter Gedichte Hapeyevas poetologische Gedanken zur Vielsprachigkeit der dichterischen Sprache herausgearbeitet werden. 2. Biografischer Hintergrund: Mehrsprachigkeit, Heimatlosigkeit, Widerstand Die 1982 in Minsk geborene Volha Hapeyeva ist seit 2003 als Dichterin sichtbar und gilt mittlerweile als eine der bedeutendsten Autor: innen von Belarus. Ihr Werk umfasst vor allem Lyrik, aber auch Prosa, Dramen, Kinderbücher und audiovisuelle Performances. Seit 2005 ist Hapeyeva auf der internationalen Bühne aktiv, ihre Bücher wurden in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. 2019 war die Autorin Stadtschreiberin von Graz, aufgrund der politischen Entwicklungen in Belarus konnte sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Seitdem lebt sie mit Hilfe von Künslterprogrammen in verschiedenen deutschen Städten, u. a. in München, Berlin und Jena. Ihre Werke schreibt Volha Hapeyeva vor allem auf Belarusisch, mittlerweile liegt aber auch eine Reihe von original auf Deutsch verfassten Gedichten vor. 1 Mehrsprachigkeit ist für die promovierte Linguistin, Anglistin und Übersetzerin seit jeher ein wichtiges Thema, das grundlegend für ihre Literatur wurde. Denn ihre erste Sprache war Russisch, während das Belarusische erst später hinzukam. Die Entscheidung für das Belarusische als Literatursprache, obwohl der russische Markt so viel mehr Verbreitung versprochen hätte, ist auch als ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 143 <?page no="144"?> 2 In ihrem Essay Welche Sprache tragen Sie heute (o. J.) erläutert Hapeyeva die besondere sprachliche Situation in Belarus: Obwohl viele Belarus: innen in ihrem Alltag Russisch sprechen und dies die Sprache ist, die sie als erste gelernt haben und besser beherrschen als das Belarusische, bezeichnen sie sie nicht als ihre Muttersprache. Das Belarusische ist für viele dieser Menschen - wie auch für Hapeyeva - dagegen die Muttersprache, zu der eine starke emotionale Bindung besteht und die identitätsstiftend ist. 3 BSSR steht für Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik; belarusisch: Беларуская Савецкая Сацыялістычная Рэспубліка (Belaruskaja Saveckaja Sacyjalistyčnaja Respublika); russisch: Белорусская Советская Социалистическая Республика (Belo‐ russkaja Sovetskaja Socialističeskaja Respublika). UdSSR steht für Union der Sozialis‐ tischen Sowjetrepubliken, kurz: Sowjetunion. eine Art Widerstand gegen den sowjet-russischen Kolonialismus zu werten, der biografisch prägend für Hapeyeva war, da er schon in ihrer Kindheit spürbar war und bis heute nachwirkt (Hapeyeva 2021a: 65). 2 Das Leben in einem sowjetischen Land hat früh ein Gefühl der inneren Emigration bei Hapeyeva hervorgerufen, welches wiederum als ein Movens ihrer Dichtung begriffen werden kann. So berichtet die Dichterin, dass sie schon lange vor ihrer Exilierung ein Gefühl der Entfremdung erlebte: Als ich noch in Belarus war, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ein Exilant, ein Emigrant bin. Einerseits war es, als wäre ich zu Hause, andererseits fühlte ich mich nicht wie zu Hause. Menschen, die unter undemokratischen Regierungen leben, sind es gewohnt, in der inneren Emigration zu leben - ein Leben in zwei parallelen Welten […]. (Hapeyeva 2022a: 15) Die Entfremdung von der Heimat erfolgte indes nicht erst mit dem Machtantritt Lukaschenkos und der Umwandlung des Landes in ein diktatorisches Regime, wie es das Zitat suggeriert, sondern bereits während der Kindheit, die unter sowjetischen Bedingungen und damit dem „Vorhandensein zweier Länder (BSSR und UdSSR), zweier Hauptstädte (Minsk und Moskau) und zweier Hymnen (der BSSR und der UdSSR) […]“ erfolgte. 3 „Als lebten wir parallel in zwei Dimensionen oder im Bauch einer russischen Holzmatrjoschka.“ (Hapeyeva 2021a: 7-8) Dieser Zustand hat Hapeyevas besondere Sensibilität für den Gebrauch der Sprache geschärft, da er ihr die gewaltvollen Zuschreibungen, die durch Sprache erfolgen, besonders verdeutlichte. Dadurch erlebte sie sich immer wieder als Außenseiterin, die nicht „entlang der Normalität“ lebte (Hapeyeva 2022b: 102). Was also durch die sowjetischen Bedingungen und den Zustand der in‐ neren Emigration in Belarus vorbereitet war, wurde durch die Exilierung weiter vorangetrieben. Außenseiterstatus, Heimatlosigkeit und nomadisches 144 Weertje Willms <?page no="145"?> 4 Viele dieser Autor: innen stammen aus Osteuropa, wie etwa: Saša Stanišić, Terézia Mora, Alina Bronsky, Julya Rabinowich, Katja Petrowskaja, Olga Grjasnowa. Dasein werden nun zum Ausgangspunkt für eine transkulturelle Lyrik, die in sich eine länder- und sprachenunabhängige Vielsprachigkeit trägt, welche die Leser: innen von sprachlichen und emotionalen Beschränkungen befreien soll. Somit kann Hapeyeva nicht der Gruppe von Autor: innen nicht-deutscher Herkunft und Muttersprache zugerechnet werden, die in den letzten 20 Jahren verstärkt ins Zentrum des deutschsprachigen Buchmarkts und der interkultu‐ rellen Literaturwissenschaft gerückt sind; 4 vielmehr ist sie als Exilautorin zu begreifen, die sich selbst als Nomadin und Heimatlose bezeichnet, deren ganzes Denken und Schaffen „nomadisch“ sei: Wo immer ich hingehe, wo immer ich bleibe, auch wenn es nur für eine Nacht ist, fange ich sofort an, diesen Ort mein Zuhause zu nennen. […] Das ist eine Art nomadisches Denken. (Hapeyeva 2022a: 11-12; Hervorhebung im Original) So setze ich meine einsame Wanderung fort, probiere verschiedene Lebenskostüme an, bleibe aber eine Beobachterin, als ob ich mich für keines entscheiden könnte. (Ebd.: 13) Die Bezeichnung als Exilantin lehnt sie für ihren gegenwärtigen Zustand allerdings ab, weil diese wiederum aus einem begrenzten und begrenzenden Denken stamme, wie sie sagt: Welche Möglichkeiten bietet sie [d. i. die Sprache] mir: ein Emigrant, ein Flüchtling, ein Exilant zu sein - all diese Wörter sind aus der Position der Staatlichkeit heraus entstanden [d. h. nicht aus der Position der Menschlichkeit, W.W.]. Ich möchte nicht in solchen Begriffen denken - also höre ich bei Nomaden auf. (Hapeyeva 2022a: 14-15; Hervorhebungen im Original) Die Position des Nomadischen gibt der Dichterin - der uralten Tradition von Exildichtung folgend - die Freiheit, sich jenseits aller Konventionalisierungen und Beschränkungen im reinen Raum der Poesie zu bewegen. In diesem Sinne begreift Hapeyeva nicht allgemein die Sprache als ihre Heimat, sondern speziell die Poesie (vgl. Hapeyeva 2020a: 466). ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 145 <?page no="146"?> 3. Formen der Vielsprachigkeit im Werk Volha Hapeyevas 3.1 Einsamkeit: die Sprache von Gegenständen und Natur als vielsprachiger Gegenraum Es gibt eine Reihe von wiederkehrenden Themen im Werk Volha Hapeyevas, die vielfältig miteinander verschränkt sind; dazu gehören: Einsamkeit, Selbst‐ analyse, der weibliche Körper, Natur, Alltagsgegenstände, die Geschichte von Belarus, Krieg und Gewalt sowie vor allem die Sprache. Einsamkeit, die oft gepaart ist mit Angst, kann als eine Art Grundzustand des dichterischen Ichs bezeichnet werden: „und jeder von uns ist angst / und jeder von uns vereinzelt“ („ich bin die heimatlosen gesten meines körpers“, Hapeyeva 2023: 95). Die Einsamkeit des Menschen ist dabei bisweilen existenzieller Art (vgl. das Gedicht „auf dem planeten erde“, Hapeyeva 2023: 67), doch in den meisten Fällen scheint es sich um eine Einsamkeit zu handeln, die dem oben erläuterten Zustand gleicht - einer Heimatlosigkeit unter den Menschen, die vor allem sprachlich bedingt ist: Das dichterische Ich äußert eine sprachliche Ausgegrenztheit und Nicht-Dazugehörigkeit, die es durch Identifizierung mit Gegenständen, Abstrakta oder der Natur durchspielt, wie folgendes Beispiel zeigt: ich krieche über die fensterbank mit gebrochenem füßchen ich liege auf einem teller als kalte kiwi ich bin schnee, der nicht kommt ich bin ein grenzenloses feld ich bin ein paar tage vorm winter („ich esse kalte kiwi zum frühstück“, Hapeyeva 2023: 56-57) Diese Identifizierung impliziert auch eine sprachliche Kompensation bzw. Erweiterung: Den Dingen, Pflanzen und Tieren werden Gefühle, Gedanken und eine Sprache zugeschrieben, die unabhängig von unseren menschlichen Kategorisierungen sind (z. B. Hapeyeva 2020b: 102). Somit wird besonders die Natur als Raum der sprachlichen Entgrenzung begriffen, da die Sprache der Natur ohne die menschengemachten Beschränkungen auskommt: bei der frage wie viele sprachen ich beherrsche fühle ich mich unbehaglich genug egal wie viel man weiß es scheint, dass ich die wichtigsten noch nicht kenne 146 Weertje Willms <?page no="147"?> wie schön wäre es, ein lehrbuch in spinnensprache zu finden in der sprache der libellen der steine und schwarzen seetaucher der sprache der fahrräder und des schilfs der sprache von licht und schatten der sprache von konfitüre, verschmiert auf dem teller und der sprache des staubs dann würde ich anfangen zu sprechen und vielleicht würde ich sogar etwas übersetzen aus dem lavendel in die hummel aus dem see in die ziegel („bei der frage“, Hapeyeva 2023: 35) Vielsprachigkeit ist hier also in einem erweiterten und imaginären Sinne und abgelöst von der Existenz bestehender (Menschen-)Sprachen zu denken. Gegenständen und der Natur wird zugesprochen, Sprachen zu besitzen, die kompetenter und friedlicher als die Menschensprachen sind. Der Raum jenseits der menschlichen Sprachen wird somit nicht nur geschätzt, weil er das dichte‐ rische Ich von der Einsamkeit unter den Menschen befreit, sondern auch, weil er frei von der Gewalt ist, welche die Menschensprachen auszeichnet. Mit ihrer Position kehrt die Dichterin gewissermaßen zum Urgrund der Sprache zurück, indem sie den Wörtern eine von ihr selbst definierte Semantik verleiht, die sie allein vom Klang her bestimmt (vgl. Hapeyeva 2021a: 25). Denn obwohl jede ‚Nationalsprache‘ andere Realitäten schafft, werden die Semantisierungen aller Sprachen als einschränkend angesehen; lediglich jenseits der Menschensprachen entsteht etwas Neues: je nach der sprache beschreiben wir das gesehene das geschehene was machen die vögel damit? („was ich nicht über vögel weiß“, Hapeyeva 2022e: o.S., unveröffentlichtes Manu‐ skript) In dem Gedicht „wie fasst man ein jahr in hundert worte“ spielt die Dichterin diesen Gedanken durch und geht dabei bezeichnenderweise von dem Wort „Heimat“ aus, das sie in unterschiedlichen Sprachen überprüft: ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 147 <?page no="148"?> in wörterbüchern überprüfe ich was sie bedeuten patria locus natalis heimat welches davon ist radzima? die nachtigall wartet mit geschlossenen augen darauf dass sich das erste blatt entfaltet die wahre heimat gibt es nur im traum alte schriftrollen geben mehr antworten als nachrichten die ich seit einem jahr nicht mehr gelesen habe und immer öfter spreche ich mit motten und vögeln sie fragen nicht nach irgendetwas sie sind einfach da und erlauben mir einfach da zu sein wo es keine zeit gibt und keine worte („wie fasst man ein jahr in hundert worte“, Hapeyeva 2022a: 40-41 und Hapeyeva 2023: 54-55) Ausgehend von den lateinischen Begriffen für ‚Heimat‘ und ‚Geburtsort‘ ver‐ wendet die Dichterin die deutsche und belarusische Sprache, um nach der Heimat im Sinne des Herkunftsorts (‚radzima‘ = belarusisch für ‚Heimat‘) zu fragen. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass es keine Heimat in menschen‐ gemachten Zusammenhängen und Begrifflichkeiten geben kann, sondern nur „im traum“, also in einem Bereich jenseits der Vernunft und der konstruierten, diskursiven Zusammenhänge. Doch auch in der Sprache der Motten und Vögel scheint so etwas wie Heimat möglich zu sein, denn die Tiere erlauben ihr „einfach da zu sein“; das wiederum hat seine Ursache darin, dass die Sprache der Tiere frei von unseren menschlichen Zuschreibungen ist. Sich der Sprache der Natur anzunähern, wird dabei als ein Privileg der Dichter: innen bezeichnet: „[…] und dann wollen die vögel / die sprache der menschen vergessen / um zu schweigen und auf eine dichterin zu warten“ („für hartnäckige vogelfüßchen“, Hapeyeva 2023: 88). 148 Weertje Willms <?page no="149"?> 3.2 Strukturelle Gewalt durch Sprache: Kategorisierungen, Ein- und Zuschreibungen und Hierarchisierungen Ein wichtiger Gedanke, der sich durch Hapeyevas Werk zieht und sehr häufig in verschiedenen Variationen formuliert wird, betrifft das Phänomen der Katego‐ risierungen, die wir permanent und unbewusst mit unserer Sprache vollziehen. Durch das ständige Einordnen nehmen wir Zuschreibungen und Hierarchisie‐ rungen vor, durch die die ‚natürliche‘ Vielsprachigkeit der Sprache im Sinne von potenziell vielfältigen Möglichkeiten der Semantisierung begrenzt wird, ein Umstand, der etwa bei Übersetzungen offensichtlich wird. „Es ist eine paranoide Besessenheit, unser Gehirn scheint kategorisieren und klassifizieren zu müssen, um zu wissen, in welches Regal man dieses oder jenes Phänomen, diesen oder jenen Fall einordnen kann.“ (Hapeyeva 2022a: 14) Gerade der Blick aus der Distanz, der aus den oben beschriebenen Situationen der inneren Emigration und des Exils entsteht, ermöglicht es der Dichterin, diese Mechanismen zu durchschauen (vgl. Neckel in Hapeyeva 2022a: 57). Für Hapeyeva wohnt den durch die Sprache vollzogenen Kategorisierungen, Zuschreibungen und Hierarchisierungen immer etwas Gewaltvolles inne, wie sie in ihrem Essay ausführt: Gewalt entsteht durch die Art und Weise, wie man uns zu denken und zu leben lehrt, und sowohl Sprache als auch Macht spielen in diesen Prozessen eine gewichtige Rolle. […] Kein Wunder, dass so viele Konflikte ihren Ursprung in der Art und Weise haben, wie wir sprechen. (Hapeyeva 2022a: 23-24) Gewalt versteht sie dabei als ein strukturelles Phänomen - sie verwendet dafür den Begriff der „kulturellen Gewalt“: Kulturelle Gewalt ist jedes Element der Kultur, das Gewalt in ihrer strukturellen oder expliziten Form legitimiert. Es ist kulturelle Gewalt, die strukturelle und direkte Ge‐ walt durch die so genannten „sozialen und kulturellen Normen“, die durch Ideologie, Religion, Sprachgebrauch, Kunst, Wissenschaft usw. zum Ausdruck gebracht werden, rechtfertigt oder akzeptabel macht. Die Sprache wird verwendet, um Menschen und ihr Verhalten als gut oder schlecht, normal/ abweichend, richtig/ falsch zu bewerten. (Hapeyeva 2022a: 22) Naturgemäß spielt in dem kulturellen ‚Abrichtungsprozess‘ die Kindheit eine besondere Rolle, und während dieser Sozialisationsphase sind Familie und Schule zentrale Instanzen. In dem Gedicht „der körper hat am tisch gesessen“ heißt es etwa: ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 149 <?page no="150"?> er [d.-i. der Körper] brauchte lange, um sich daran zu gewöhnen auch um sich mit der tatsache vertraut zu machen dass man immer etwas von ihm wollte damit er flexibel und schlank wird damit er unermüdlich und schnell laufen kann damit er nach dem schlaflied ins bett geht und am morgen wieder aufwacht damit er isst, was immer ihm vorgesetzt wird damit er allen und allem dankbar ist damit er arbeitet und keine müdigkeit mehr kennt damit er pünktlich in den urlaub fährt planmäßig spaß hat und sich ärgert („der körper hat am tisch gesessen“, Hapeyeva 2023: 33) Alle wichtigen Bereiche des menschlichen Daseins - z. B. Wachstum, Essen, Schlafen, Gefühlslagen, der Tagesablauf - sind von der sprachlichen Abrichtung betroffen. Durch die Anapher „damit“, die sich in dem Zitat sieben Mal wieder‐ holt, wird die Unaufhörlichkeit dieses Prozesses unterstrichen. Besonders Frauen sind von der Abrichtung betroffen, wie immer wieder in den Gedichten unterstrichen wird (z. B. „an einem sonnigen tag“, Hapeyeva 2023: 26-27; „ist sie da - kehrt die sprache zurück“, Hapeyeva 2020b: 26-27; Hapeyeva 2021a: 46-49). Das auf Deutsch verfasste Gedicht „die prinzessin wurde entführt“ verhandelt Genderzuschreibungen bei Mädchen folgender‐ maßen: im leben jedes mädchens kommt die zeit dass es von einer prinzessin hört einmal wird es sogar nach einer benannt es scheint wichtig zu sein, eine zu sein oder zu werden als ob dieses wort das mädchen bewahren soll und ihm ein glückliches los schenken („die prinzessin wurde entführt“, Hapeyeva 2022e: o.S., unveröffentlichtes Manu‐ skript) Auf diese Passage folgen die Lebensgeschichten von verschiedenen realen Prinzessinnen, die allesamt schrecklich verliefen und mit einem verfrühten und/ oder gewaltsamen Tod endeten. Die konventionalisierte Semantisierung des Wortes ‚Prinzessin‘ steht diesen Tatsachen jedoch diametral entgegen: 150 Weertje Willms <?page no="151"?> laut wörterbuch sind die am häufigsten mit prinzessin verwendeten adjektive wunderschön, hübsch und verwunschen die typischen verben retten, befreien, heiraten und die, die das mit ihr machen sind meistens prinz, drache und hexe („die prinzessin wurde entführt“, Hapeyeva 2022e: o.S., unveröffentlichtes Manu‐ skript; Hervorhebungen im Original) Die Problematik der konventionalisierten Semantisierung besteht darin, dass sie trotz ihrer offensichtlichen Verlogenheit für weibliche Heranwachsende prägend ist. Mehrere Gedichte thematisieren den schmerzlichen und letztendlich auch unmöglichen Versuch des dichterischen Ichs, sich den Konventionalisierungen anzupassen: krankenschwestern und passanten nachbarn, lehrer, verwandte sie alle sagten etwas über meinen körper mein verhalten und meine gewohnheiten brachen mich in stücke, damit ich in ihre schubladen passe sodass ich bald nicht mehr wusste wer ich war („in der schule bekamen wir injektionen“, Hapeyeva 2023: 23-24) Dabei wird immer wieder betont, dass hier Prozesse der Sozialisation be‐ schrieben werden, von denen kleine Kinder noch nicht betroffen sind. Diese sind noch frei von den gesellschaftlich vermittelten sprachlichen Konventionen, durch die einengende, gewaltvolle und ausgrenzende Kategorisierungen und Hierarchisierungen vorgenommen werden: kinder kommen vom strand zurück sie können noch nicht lesen oder schreiben sie müssen alles in sich selbst tragen so wächst das gedächtnis sie zappeln, plaudern, streiten, tummeln sich und plötzlich nimmt eins die hand des andern ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 151 <?page no="152"?> so einfach und natürlich wessen hand - spielt keine rolle eines freundes oder eines feindes die sind noch nicht hier die kommen später mit den buchstaben jetzt gibt es nur hier und jetzt und das gefühl der hand, die auf dem weg zur hand ist um zusammen zu sein wenn es gefährlich wird („beim warten auf den bus“, Hapeyeva 2020a: 467) In der Welt kleiner Kinder gibt es noch keine Unterscheidung zwischen ‚Freund‘ und ‚Feind‘. Sobald sie jedoch eine Sprache verwenden, die schriftlich fixiert ist, pflanzen sich die diskursiven Zuschreibungen in sie ein und schreiben sich damit gesellschaftlich fort. 3.3 Staatliche Manipulation der Sprache und Propaganda Die Kategorisierungen, die Sprache eindimensional festlegen und ihren Bedeu‐ tungsspielraum beschränken, laufen zwar in der Regel unbewusst ab, können aber durchaus auch absichtsvoll und manipulativ eingesetzt werden. Dies geschieht regelmäßig in autokratischen und diktatorischen Regimen, etwa, indem diese bestimmte Wörter aus dem Sprachgebrauch löschen: „denn der staat wird sich immer um die menschen kümmern / liest zeitungen und bücher / und löscht schädliche wörter aus ihnen“ („schwierige arithmetik“, Hapeyeva 2023: 58-59). Des Weiteren bestimmt das diktatorische Regime die Semantisierungen und Wertzuschreibungen, mit denen ausschließlich eine einzige gültige Wahr‐ nehmung und Interpretation der Dinge festgelegt werden soll: „im nachbar‐ land herrscht krieg / aber wie immer hat jede seite ihre eigene terminologie“ („schwarzer apfelbaum“, Hapeyeva 2020b: 92). In diesem Sinne ist die Sprache „nie neutral, nie objektiv, sie ist immer politisch“ (Hapeyeva 2022a: 22). Indem mit staatlicher Propaganda einzelne Wörter definiert werden, wird die gesamte Lebensrealität festgelegt: „Die Sprache ist ein sehr mächtiges Werkzeug, das Realität schafft.“ (Ebd.: 26) Mit diesem Gedanken wird im Umkehrschluss eine Form von Vielsprachigkeit impliziert, die aber in der Alltagsrealität nicht ausgespielt, sondern im Gegenteil künstlich reduziert bzw. eliminiert wird. Eine wichtige sprachliche Technik, auf der Diktaturen gründen, besteht darin, dass Menschen in Zugehörige und Nicht-Zugehörige und damit in Wertvolle und Wertlose getrennt werden. Mithilfe von Bevormundungen, Beleidigungen, 152 Weertje Willms <?page no="153"?> Entmenschlichung und anderem (ebd.: 19) wird Kontrolle ausgeübt und eine bestimmte Realität geschaffen: Die Art und Weise, wie ein Mensch über den Körper nachdenkt, unterscheidet sich grundlegend von der Art und Weise, wie dieser Körper vom Staat wahrgenommen wird. […] Die staatliche Propaganda tut ihr Bestes, um die Kontrolle darüber zu übernehmen, wen wir als wertvoll ansehen und wer (welche Gruppe) entbehrlich ist. Aus diesem Grund sind die Begriffe Feind und Held (wie auch Schuld und Scham) im Diskurs über Macht und Krieg so wichtig. (Hapeyeva 2022c: 41; Hervorhebungen im Original) Man sollte jedoch bedenken, dass in jeder Sprache vieles das Ergebnis einer Sprach‐ politik ist, die immer von den Machthabern betrieben wird. Der Grundgedanke, auf dem Gewalt basiert, ist die Entmenschlichung des Gegners […]. Die gleiche Entmenschlichung findet auch durch die Sprache statt […]. (Hapeyeva 2022a: 25) Systemische Gewalt wird unter anderem durch die Sprache, den sprachlichen Diskurs ausgeübt. Wenn wir einen anderen entmenschlichen, greifen wir leichter zu Gewalt‐ mitteln und haben weniger oder gar kein Mitgefühl, denn er ist ja kein Mensch mehr und verdient in unseren Augen keine Gnade. So entsteht ein System aus Gruppen von Menschen, deren Leben wichtig oder wertvoll ist, und solchen, die geopfert werden können. (Hapeyeva 2022c: 44) In mehreren Texten thematisiert Hapeyeva kriegerische Gewalt. In dem Gedicht „13. oktober“ wird dies in Zusammenhang mit dem Aspekt der Wertzuschrei‐ bung an Menschen gebracht, die vom Regime rücksichtslos geopfert werden können: mama hier bin ich in den nachrichten meine größte errungenschaft war wohl durch mörserbeschuss zu sterben und weiter mit bitterem lächeln: am internationalen tag der katastrophenvorbeugung ein unbedeutender tag in der geschichte unbedeutender menschen („13. oktober“, Hapeyeva 2020b: 112-113; Hervorhebungen im Original) ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 153 <?page no="154"?> Durch das Mittel der Wertzuschreibung rechtfertigen diktatorische Regime unrechtmäßige Handlungen. Ein wichtiges Element dieser Manipulationen sind Euphemismen, die von Regimen eingesetzt und explizit von staatlichen Institu‐ tionen zu manipulativen Zwecken gefordert werden. Dies erläutert Hapeyeva in ihrem Essay Eine Chrysantheme, die in zwanzig Sekunden blüht in Bezug auf einige Gedichtzeilen: ich bin jetzt auf dem grund der tod ist der tod könnte ich nur mit einem kleinen stück ruhm sterben 1942 und ich frage: wer ist dieser ruhm und was macht er mit den herzen schenkt er der sinnlosigkeit ringsum ein wenig sinn als wäre doch nicht alles umsonst? Diese Zeilen habe ich 2017 geschrieben nach einem Besuch des Nationalen Museums der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg in Kyjiw. Aber in offiziellen Dokumenten, die ich für die OSZE übersetzte, durfte man das Wort Krieg nicht benutzen, nur Konflikt, auch die Bezeichnung Prisoners durfte nicht auftauchen, sie wurden nur als Detainees in den Texten geführt. […] Mit diesen Euphemismen oder Dysphemismen gestaltet man ein ganz anderes Bild der Realität. (Hapeyeva 2022c: 42; Hervorhebungen im Original) Und an anderer Stelle: Ein weiteres zweideutiges Sprachphänomen sind Euphemismen. Die Worte, die ursprünglich dazu gedacht sind, das zu mildern, was unangenehm klingen könnte, werden oft dazu verwendet, schreckliche Ereignisse zu vertuschen und Verbrechen und Gräueltaten zu verschleiern. […] In Kriegszeiten bezeichnet sich eine Seite als Freiheitskämpfer, während andere sie als Terroristen bezeichnen, obwohl dieselben Personen gemeint sind - aber es ist die Sprache, die sie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. (Hapeyeva 2022a: 24-25; Hervorhebungen im Original) In dem Gedicht „schwierige arithmetik“ schreibt Hapeyeva über die Geschichte von Belarus, in der die genannten Phänomene eine große Rolle spielen. Die Festlegung der Sprache, Umdefinitionen und Ausgrenzungen von Menschen erfolgten hier durch die Politik, den öffentlichen Diskurs und die Medien und durchdrangen schließlich das alltägliche, private Leben eines jeden Menschen: 154 Weertje Willms <?page no="155"?> 5 Das Gedicht „schwierige arithmetik“ wird hier aus dem Band Trapezherz (2023) zitiert. Es ist außerdem in Stimmen der Hoffnung (Hapeyeva 2021d: 36-43) abgedruckt und ist dort dem Originaltext („Няпростая арыфметыка“) gegenübergestellt. Der Übersetzer ist in beiden Fällen Matthias Göritz. In dem zuletzt genannten Band wird das Wort im übersetzten Gedicht jedoch nicht durch kyrillische Buchstaben kenntlich gemacht. diejenigen, die heute über achtzig sind erinnern sie sich noch daran, wie des nachts die nachbarn plötzlich verschwanden verwandte zu volksfeinden wurden - personen mit falschen nachnamen gefährlichen ideen schädlichen büchern die nicht die richtigen sprachen sprachen in jedem haus wohnte ein kleines haustier mit dem spitznamen ангст […] diejenigen, die heute unter vierzig sind lasen vor dreißig jahren noch märchen und glaubten vielleicht, das gute würde siegen doch das, was gut für den einen ist schafft trauer bei den andern („schwierige arithmetik“, Hapeyeva 2023: 58-59) Das Wort „Angst“ ist in der Übersetzung mit kyrillischen Buchstaben ge‐ schrieben („ангст“), was in Analogie zu dem belarusischen Wort im originalen Gedichttext steht, das statt mit kyrillischen mit lateinischen Buchstaben ge‐ schrieben ist - „strach“. 5 Die Dichterin wechselt hier also nicht die Sprache, sondern verfremdet sie lediglich durch die Verwendung des anderen Alphabets, das in Belarus jedoch zu der Zeit, um die es in dem Text geht, weit verbreitet und bekannt war. Der Abschnitt des Gedichts, in dem das Wort verwendet wird, rekurriert auf die 1930-er Jahre, also auf die Hochzeit des Stalinismus, in der Menschen grundlos verhaftet und hingerichtet und ein Großteil der belarusischen Intelligenzija vernichtet wurden. Eine fremde Sprache zu spre‐ chen, wie es zwei Zeilen vorher heißt, war bereits ein hinreichender Grund für eine Verhaftung. Gleichzeitig war die Angst so verbreitet und ‚normal‘ im Leben der Menschen, dass sie als der „spitzname“ eines „kleine[n] haustier[s]“ bezeichnet wird, also eines lebenden Mitbewohners, der gemocht und familiär angeredet wird. Wie die Dichterin in einem Gespräch anmerkte, diente ihr ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 155 <?page no="156"?> die Verfremdung hier auch dazu, das Wort zu maskieren, damit es nicht auf Anhieb verstanden wird. Das damit erzwungene Innehalten beim Lesen und die Beschäftigung mit dem Begriff lassen die Diskrepanz zwischen der allumfassenden Angst in der Diktatur und dem kleinen Haustier besonders erschreckend wirken. Die sprachlichen „Fallstricke“, wie Hapeyeva sie nennt, die „Festlegungen auf einen durch die offizielle Sprache beschränkten Erfahrungsraum“ (Hapeyeva 2020a: 464-465) möchte die Autorin mit ihrer Dichtung sichtbar machen, aufbrechen und erweitern. In diesem übertragenen Sinne drückt auch die pro‐ pagandistische Manipulation der Sprache in autokratischen Systemen die Idee der Vielsprachigkeit aus. Vielsprachigkeit meint dabei wiederum nicht primär die Existenz mehrerer Nationalsprachen in einem Text, sondern bezeichnet in diesem Fall begrenzte und zu bestimmten Zwecken festgelegte sprachliche Bedeutungen, die andere Sprachbedeutungen absichtsvoll ausschließen und un‐ terdrücken. Das Resultat dieser Manipulation ist letztendlich eine angstbesetzte, gewaltvolle Gesellschaft, die viele Menschen ausgrenzt. 3.4 Code-Switching und Übersetzung Das Phänomen der unbewussten oder bewussten Kategorisierung von Men‐ schen und Dingen durch Sprache hat für alle Sprachen Gültigkeit, wie Hapeyeva im Gedicht „Agathe va à la gare“ (2023: 45; Hervorhebungen im Original) zum Ausdruck bringt, indem sie Floskeln aus dem „fremdsprachenlehrbuch“ (ebd.: 45) auf Französisch, Deutsch, Spanisch, Niederländisch und Polnisch benennt. Das ist darauf zurückzuführen, dass ein Wort immer mehrere Bedeu‐ tungen für den Menschen hat, je nachdem, aus welchem Kontext heraus es verwendet wird oder auf welche Situationen und Funktionen das jeweilige Wort rekurriert. In dem Gedicht „der baum, unter dem Buddha saß“ listet die Dichterin solche Situationen, Funktionen und Bedeutungen auf: der baum, unter dem Buddha saß der baum, unter dem Newton dachte der baum, unter dem Mohammed ruhte der baum, unter dem Hippokrates lehrte der baum, in dessen nähe Jeanne d’Arc stimmen hörte der baum, den Anne Frank vor dem fenster sah („der baum, unter dem Buddha saß“, Hapeyeva 2023: 50) Dadurch, dass hier der ‚Baum‘ in seiner Funktion für verschiedene, sehr bekannte Menschen aus diversen Kulturkreisen, Zeiten und mit ganz ver‐ 156 Weertje Willms <?page no="157"?> 6 Die Mur fließt teilweise als Grenzfluss durch Österreich, Slowenien, Kroatien und Ungarn. schiedenen Lebensläufen genannt wird, wird verdeutlicht, dass mit ein und demselben Wort über die Jahrhunderte und Ländergrenzen hinweg ganz unter‐ schiedliche Dinge verbunden sind, einem Wort also wiederum viele Semantisie‐ rungen im Sinne von Vielsprachigkeit innewohnen. Besonders durch das Übersetzen von einer Sprache in eine andere wird dieses Phänomen offensichtlich. Doch es offenbart sich auch die Feststellung Jakobsons (1959), dass die Sprache immer eine Übersetzung zwischen dem Menschen und der ‚Wirklichkeit‘ ist, also den Phänomenen, denen wir eine Benennung geben. jede sprache - eine erzwungene reise niemand sagt wo sie anfing jede sprache ist übersetzung („ein schnellkäfer von der fahrradkette gelockt“, Hapeyeva 2023: 65) Somit ist die Sprache das Ergebnis eines vielfältigen Übertragungsprozesses, während dessen subjektives Erleben durch die Konstruktion und Narration von Erinnerung hindurchläuft. Diese potenziell vielsprachigen Prozesse enden in einer Manifestation von Klang und Rhythmus einer bestimmten Sprache. In dem langen, auf Deutsch verfassten „gedicht in vier akten“ mit dem Titel „Muhruhr“ (Hapeyeva 2021c) kommen viele der bislang erläuterten Gedanken zusammen. Im ersten „akt“ des Langgedichts werden die grundlegenden Themen Gewalt, Angst und Grenzen anhand des Grenzflusses Mur 6 entwickelt: Die Menschen, so heißt es im Text, haben das Bedürfnis, Grenzen zu ziehen, die sie dann aber - und das wird mit dem Bild des Flusses als Naturgrenze angezeigt - als natürlich gegebene Tatsachen wahrnehmen. Außerdem wird die Gewalt als eine menschliche Grundeigenschaft bezeichnet, die sich in Bezug auf Natur, Dinge und Menschen äußert. Auch Angst wird als ein Grundzustand des Menschen bezeichnet, der von den Menschen gehegt und gepflegt (vgl. ebd.: 23) würde. Dies führt die Dichterin anhand der Exilthematik aus: „nomaden, zigeuner, fremde, landstreicher, strolche […], exile, refugee, emigrant“ (ebd.) - das sind die Personen, die von der Mehrheitsgesellschaft besonders als Be‐ drohung empfunden werden, da sie sich als Ortsungebundene den Kategorisie‐ rungen und konventionalisierten Korsetts der Mehrheitsgesellschaft entziehen. Die heimatlose Nomadin dagegen „hoppelt“ „wie die grille“ „von Sprache zu Sprache“ (ebd.) und erkundet dabei die Offenheit und Vielsprachigkeit, die der ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 157 <?page no="158"?> Sprache eigentlich potenziell innewohnt. Dies wird anhand einer Sprachkette anschaulich gemacht: [MUR] bedeutet auf belarussisch WAND [VAN] bedeutet auf sanskrit WALD [VALD] bedeutet auf isländisch KRAFT („Muhruhr. gedicht in vier akten“, Hapeyeva 2021c: 23) Mit dieser Assoziationskette wird aufgezeigt, dass die Sprache nur eine Mani‐ festation von Klang - ein ‚signifiant‘ - ist, hinter der je nach Perspektive unterschiedliche Bedeutungen - unterschiedliche ‚signifiés‘ - stecken. Der Zusammenhang von Klang und Semantik ist willkürlich, und damit steckt hinter jeder Sprache eine vielsprachige Bedeutungswelt. In einem langen Sprachspiel mit den Wörtern „links“ und „rechts“ am Ende des zweiten Aktes des Gedichts wird dieser Gedanke noch einmal entfaltet: links und rechts hängen von der person ab auch oben und unten manche sprachen sind so egoistisch links und rechts wie dienstag und freitag wie fahrenheit oder kronen das sind wörter die nichts mehr bedeuten wenn man ein fluss ist („Muhruhr. gedicht in vier akten“, Hapeyeva 2021c: 26) Die menschengemachten Willkürlichkeiten, die Begrenzung implizieren und potenziell in Gewalt und Angst münden, werden hinfällig in der Sprache der Natur („die nichts mehr bedeuten wenn man / ein fluss ist“), welche in ihrer unendlichen Semantik begrenzende Kategorisierungen nicht kennt. Während im dritten Akt des Gedichts das Bild des Flusses in eine zeitliche Dimension übertragen wird („mur uhr“, ebd.: 26) und die Schicksale von Menschen aus unterschiedlichen Zeiten skizziert werden, schließt der Text in „akt iv.“ (ebd.: 28) wiederum mit einem Sprachspiel. Um „die sprache von wasser“ (ebd.) lautmalerisch auszudrücken, verwendet Hapeyeva belarusische Wörter, die sie mit jeweils vier deutschen Wörtern übersetzt: die sprache von wasser ist laut мармытаць (marmytac) murmeln mummeln brümmeln und memmeln 158 Weertje Willms <?page no="159"?> die sprache von wasser ist licht мiгцець (mihciec) blinken zwinkern glitzern und flimmern die sprache von wassers bewegung iмчыць (imčyc) laufen strömen fluten und quellen мора (mora) мор (mor) мур (mur) мармур (marmur) мора мор мур мармур мора мор мур мармур мора мор мур мармур („Muhruhr. gedicht in vier akten“, Hapeyeva 2021c: 28) Die meisten Gedichte Hapeyevas sind einsprachig und thematisieren dabei, wie gezeigt, in unterschiedlicher Weise Vielsprachigkeit; hier dagegen dient die konkrete Mehrsprachigkeit von Deutsch und Belarusisch dazu, das Fließen des Wassers onomatopoetisch abzubilden. Die „sprache des wassers“ kann aber vor dem Hintergrund des bisher Herausgearbeiteten wiederum als vielsprachige aufgefasst werden. Die Eigenschaft des Flusses Mur als Grenzfluss zwischen mehreren Ländern und Gegenstand des Gedichts verweist auf einer Metaebene letztendlich wiederum auf die grenzenüberwindende Eigenschaft der Poesie, die auch ihrer vielsprachigen Dimension zu verdanken ist, wie Hapeyeva in ihrer Rede Am Rande der Einsamkeit ausführt: „Die Sprache hat doch ihre Grenzen und wir haben sie auch, weil wir in den Sprachen wohnen, aber die Poesie hat eine Zauberkraft: diese Grenze, wenn schon nicht zu überschreiten, dann aber doch wenigstens auszuweiten.“ (Hapeyeva 2022f: 13-14) 4. Fazit Auf vielfältige Weise drückt Volha Hapeyeva in ihrem Werk den Gedanken der Vielsprachigkeit aus. Zentral dafür ist der Aspekt der Kategorisierungen, die unbewusst im Zuge der Sozialisation oder bewusst durch mächtige Institutionen und staatliche Propaganda vollzogen werden und die natürlich gegebene Viel‐ sprachigkeit der Sprache beschränken. Die auf diese Weise künstlich begrenzte Sprache hat eine gewaltvolle Wirkung auf die Menschen, die sich den Katego‐ risierungen unterwerfen müssen, ‚abgerichtet‘ und hierarchisiert werden. Diese Gedanken drückt Hapeyeva sowohl in einsprachigen - auf Belarusisch und auf Deutsch verfassten - Gedichten aus als auch in mehrsprachigen, wobei sie neben Belarusisch und Deutsch noch zahlreiche weitere Sprachen verwendet (z. B. Polnisch, Spanisch, Englisch, Französisch, Niederländisch). Die mehrsprachigen ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 159 <?page no="160"?> Gedichte verweisen einerseits darauf, dass der Grundgedanke der Dichterin für alle ‚Nationalsprachen‘ gleichermaßen Gültigkeit hat, andererseits wird durch die konkrete Mehrsprachigkeit die Sprache auf ihre rein klangliche Dimension zurückgeführt und von einer spezifischen Semantik befreit. Gegenräume zu der gewaltvollen Einengung der Sprache stellen zum einen die Sprachen der Natur dar und zum anderen die Sprache der Poesie, welche die Kategorisierungen und Begrenzungen wieder aufhebt. Damit stellt die Poesie nicht nur die eigentliche und einzige Heimat der nomadischen (Exil-)Dichterin dar, sondern ihr wohnt auch stets ein Moment des Widerstands inne und macht sie politisch, indem sie die Menschen zu ihrer Menschlichkeit zurückführt: alles was uns geschieht sind worte alles was wir füreinander sind bleiben gedichte („ich versuche herauszufinden“, Hapeyeva 2023: 14) Literaturverzeichnis Primärliteratur H A P E Y E V A , Volha (2020a). „Auf Tritt die Poesie. Gedichte“. In: Sprache im technischen Zeitalter 236, 467-477. H A P E Y E V A , Volha (2020b). Mutantengarten. Gedichte. [Aus dem Belarussischen von Mat‐ thias Göritz, Martina Jakobson, Uljana Wolf. Mit einem Nachwort von Matthias Göritz. Mit Federzeichnungen von Christian Thanhäuser.] Ottensheim: Edition Thanhäuser & Internationales Haus der Autorinnen und Autoren Graz. H A P E Y E V A , Volha (2020c). „verschüttete milch“. In: Sprache im technischen Zeitalter 236, 469. H A P E Y E V A , Volha (2021a). Camel Travel. Roman. [Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler.] Graz/ Wien: Droschl. H A P E Y E V A , Volha (2021b). „Lesen wir Gedichte“. [Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler.] In: L I S I T Z K A Y A , Alina (Hrsg.). Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Ge‐ dichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung. Zweisprachige Ausgabe. Berlin: Das kulturelle Gedächtnis, 45. H A P E Y E V A , Volha (2021c). „Muhruhr. gedicht in vier akten“. In: Manuskripte 234, 21-28. H A P E Y E V A , Volha (2021d). „Schwierige Arithmetik“. [Aus dem Belarussischen von Mat‐ thias Göritz.] In: L I S I T Z K A Y A , Alina (Hrsg.). Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung. Zweisprachige Ausgabe. Berlin: Das kulturelle Gedächtnis, 36-43. H A P E Y E V A , Volha (2022a). Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils. [Mit einem Vorwort von Sandra Poppe und Christiane Riedel sowie einer Laudatio auf die 160 Weertje Willms <?page no="161"?> Ulrike Crespo Literaturpreisträgerin von Sighard Neckel und zwei handschriftlichen Gedichten von Volha Hapeyeva.] Berlin: Verbrecher. H A P E Y E V A , Volha (2022b). „Intermezzo. In einem anderen Land“. In: Kursbuch 58, 102-103. H A P E Y E V A , Volha (2022c). „Eine Chrysantheme, die in zwanzig Sekunden blüht“. In: Neue Rundschau 133, 39-48. H A P E Y E V A , Volha (2022d). „give peace a chance“. Online verfügbar unter: https: / / litera turoutdoors.com/ 2022/ 03/ 27/ nightingales-must-be-so-lonely-in-the-dark-but-they-si ng-volha-hapeyeva-lyrikerin_munchen-27-3-2022/ . H A P E Y E V A , Volha (2022e). Gedichte. Unveröffentlichtes Manuskript. H A P E Y E V A , Volha (2022 f). „Am Rande der Einsamkeit. Überlegungen zu Poesie und Übersetzung“. Rede von Volha Hapeyeva zur Konferenz Lyrikübersetzungen 2022 in Dresden, 1-11. Abrufbar unter: https: / / www.netzwerk-lyrik.org/ files/ upload/ Materi alien%20Tagung%20Dresden/ rede-dresden-hapeyeva.pdf. (Stand: 05.03.2024) H A P E Y E V A , Volha (2023). Trapezherz. Gedichte. [Aus dem Belarussischen von Matthias Göritz.] Graz/ Wien: Droschl. H A P E Y E V A , Volha (o. J.). „Welche Sprache tragen Sie heute? Über Fremd- und Heimat-spra‐ chen“. Essay mit Kunstwerken der Autorin. Abrufbar unter: https: / / mdjstuttgart.s ynology.me/ drive/ d/ s/ uFVeIVJ0cWlWRnxhpXcSgqGJXxw99rnX/ WvlGgF2YP7d--B-8 1W-jKXI72OaCdxYk-FbvgChZDkQo. (Stand: 05.03.2024) H A P E Y E V A , Volha (o.-J.). „Ein Hauch des Grauens. Volha Hapeyeva über Pazifismus und patriarchale Strukturen des Krieges“. Online verfügbar unter: https: / / www.muenc hner-kammerspiele.de/ de/ mk-forscht/ 19465-female-peace-palace/ 21691-ein-hauch-d es-grauens. Sekundärliteratur B L E U T G E , Nico (2023). „Dieser abstrakte Ort“. In: Süddeutsche Zeitung. 22.04.2023, 71. H A P E Y E V A , Volha/ G Ö R I T Z , Matthias (2020a). „Auf Tritt die Poesie. Wasser und Ente. Ein Gespräch“. In: Sprache im technischen Zeitalter 236, 463-466. H A P E Y E V A , Volha/ P O S S E L T , Timo (2022 f). „Alle sagten, komm bitte nicht zurück“. In: Süddeutsche Zeitung. 27.04.2022, o.S. H O L M , Kerstin (2023). „Im Wald von Minsk blüht die Angst“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 22.04.2023, 9. J A K O B S O N , Roman (1959). „On Linguistic Aspects of Translation“. In: B R O W E R , Reuben Arthur (Hrsg.). On Translation. Cambridge/ Massachusetts: Harvard University Press, 232-239. R A K U S A , Ilma (2021). „Das 20.-Jahrhundert verfolgt Osteuropäer, auch wenn sie seinen Schrecken nicht am eigenen Leib erlebt haben“. In: Neue Zürcher Zeitung. 26.01.2021, o.S. ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ 161 <?page no="163"?> „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ Textinterne Mehrsprachigkeit in der zeitgenössischen ukrainischen Lyrik Mariya Donska Abstract: This chapter deals with ‘text-internal multilingualism’ in con‐ temporary Ukrainian lyrical poetry. It analyzes texts by three authors - Oksana Osmolovska, Oleksandr Averbukh and Borys Khersonskyi -, which present different scopes of multilingual elements: from one word over several verse lines to the whole text as an interweaving of different languages (Ukrainian, Russian, Yiddish, Hebrew, English, German and Old Church Slavonic). The strategy with which multilingualism is integrated into the respective lyrical text and the construction of the Ukrainian subject as well as the Ukrainian civic national identity are in the focus of the analyses. The theoretical framework of the present chapter constitutes the theory of the postmonolingual condition (Yildiz). In the analyzed poems the Ukrainian subjects appear in their diversity: as a multilingual subject, who has to deal with Russian aggression; as a subject that unites and reconciles Jewish, Ukrainian (Polish and Russian) parts in itself, clearly names and forgives mutual crimes; as a subject that insists on a plural hybrid identity. The poems negate the monolingual paradigm in different ways, construct the image of multilingual intended recipients and performatively reinforce Ukrainian plurilingualism. Keywords: Ukrainian literature, Ukrainian poetry, multilingualism, post‐ monolingualism, Osmolovska, Khersonskyi, Averbuch <?page no="164"?> 1 Als situative Mehrsprachigkeit wird die Fähigkeit bezeichnet, abhängig von der Situa‐ tion, dem Lebensbereich oder dem Kontext die Sprache zu wechseln. Annette Werberger beschreibt diese Besonderheit der Ukraine im Vergleich zur Mehrsprachigkeit in Westeuropa folgendermaßen: „Die Verbindungen zwischen Sprache und Herkunft sind elastischer und fließender, die Sprachwahl ist oft eine kontextabhängige bewusste, pragmatische oder politische Entscheidung“ (Werberger 2022: 43). 0. Einleitung Als „wichtigste Grundlage für die Widerstandsfähigkeit der Ukraine“ bezeichnet Andrij Portnov (2023: 22) die kulturelle Vielfalt des Landes. Auch Rory Finnin und Ivan Kozachenko sehen im „multilingualen Pluralismus“ eine bedeutende Grundlage für die Konsolidierung der inklusiven ukrainischen bürgerlichen Identität, die nicht auf der Sprache oder Ethnizität, sondern auf Werten wie Demokratie und Rechststaatlichkeit basiert (vgl. Finnin/ Kozachenko 2022: 45). Die sprachliche Situation in der Ukraine ist stark von Mehrsprachigkeit, einem elastischen und fluiden (vgl. Shkandrij 2020: 41) sprachlichen Verhalten geprägt. Tatsächlich ist die ‚situative Mehrsprachigkeit‘ 1 in der Ukraine weit verbreitet: Die Ukrainer: innen sind häufig zumindest passiv bilingual (Bilaniuk 2020: 59) und wechseln die Sprache je nach Situation häufig mehrmals am Tag. 2022 wird dabei als eine ‚historischen Zäsur‘ betrachtet, die einen signifikanten Schub für die Zunahme der Verwendung des Ukrainischen in vielen Lebensbe‐ reichen bewirkte (vgl. Kulyk 2022). Die situative Mehrsprachigkeit ist dabei kein Novum und kein Zeichen des 21. Jahrhunderts, sondern hat die ukrainische Geschichte begleitet (vgl. Cher‐ netsky 2019). Bilingualismus oder Multilingualismus waren die Norm für die meisten ukrainischen Intellektuellen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts - z. B. für Lesja Ukraїnka, Ivan Franko oder Ol’ha Kobyljans’ka (vgl. Shkandrij 2020: 44). Die Unabhängigkeitserklärung der Ukrainischen Volksrepublik 1917 mit dem so genannten „Dritten Universal“ wurde in einem Paralleltext in vier Sprachen proklamiert: Ukrainisch, Russisch, Polnisch und Jiddisch (vgl. Finnin und Kozachenko 2022: 49). Häufig wird diese Diversität als ein distinktives Merkmal der Ukraine in Folge ihres multiimperialen Erbes erachtet (vgl. Werberger 2022); auch jenseits des ukrainischen Falls wird die Meinung vertreten, dass „Zwei- oder auch Mehr‐ sprachigkeit […] ein häufig vorkommendes Phänomen [darstellen], weltweit möglicherweise weiter verbreitet als Einsprachigkeit“ (Kremnitz 2015: 9). Die literarische Mehrsprachigkeit wird ebenfalls zunehmend nicht als Sonderfall, sondern als Regel wahrgenommen (vgl. Hausbacher 2021: 306). Die Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Gegenwartsliteratur ist ein wich‐ tiges Untersuchungsthema der letzten Jahre, wobei zwei Aspekte besonderes 164 Mariya Donska <?page no="165"?> 2 Natalia Blum-Barth unterscheidet in Weiterführung dieses Ansatzes weitere Formen, wobei die textinterne Mehrsprachigkeit nicht nur manifest, sondern auch latent und exkludiert sein kann (vgl. Blum-Barth 2021: 77-87). 3 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht handelt es sich um eine ‚polylinguale Variation‘, wenn der Wechsel „innerhalb einer Äußerung oder eines Textabschnittes“ (Ptashnyk 2013: 125) erfolgt. Ein ähnliches Phänomen nennt die Literaturwissenschaftlerin Renate Makarska (2013) ‚Mischsprachigkeit‘, wenn sie Literatur aus Ostgalizien analysiert. Interesse bei den Forscher: innen wecken. Dies sind erstens die russophone Literatur in der Ukraine (vgl. Averbuch 2023, Chernetsky 2019, Puleri 2020, Uffelmann 2019b) und zweitens die Frage des Sprachwechsels oder einer bewussten Wahl des Ukrainischen für das literarische Schaffen, vgl. die bahn‐ brechende Arbeit von Yohanan Petrovsky-Shtern (2009) zur antiimperialen Sprachwahl von ukrainisch-jüdischen Autor: innen sowie neuere Studien, z. B. von Shkandrij 2020 und Uffelmann 2022. Der vorliegende Artikel widmet sich einem weniger erforschten Thema: der ‚internen Mehrsprachigkeit‘ in zeitgenössischen lyrischen Texten aus der Ukraine. Als textinterne Mehrsprachigkeit bezeichnet Georg Kremnitz den bewussten Sprachwechsel von einer Sprache zu einer anderen innerhalb eines Textes (vgl. Kremnitz 2015: 18). 2 Es geht also nicht um Selbstübersetzungen oder das Nebenaneinander von Texten in verschiedenen Sprachen, etwa in einem Gedichtband. Der Sprachwechsel erfolgt innerhalb eines Textes, und in den analysierten Beispielen geschieht dies häufig sogar mehrmals in einem Satz (bzw. in einem Vers), was nach Kremnitz als „Sprachmischung“ (ibid: 19) bezeichnet wird. 3 Die textinterne Mehrsprachigkeit bedeutet kein Nebenein‐ ander, sondern ein Ineinander von verschiedenen Sprachen, was eine Mehrspra‐ chigkeit auf der Rezeptionsebene erfordert. Im Bereich der Lyrik ist interne Mehrsprachigkeit besonders markant, da aufgrund der relativen Textkürze und Überstrukturiertheit der Lyrik selbst einzelne Wörter in der Fremdsprache eine große Gewichtung für den Text haben können. Der vorliegende Beitrag analysiert Texte von drei Autor: innen, die exem‐ plarisch für textinterne Mehrsprachigkeit in der heutigen ukrainischen Lyrik stehen. Dabei liegt der Fokus auf der Strategie, mit der die Mehrsprachigkeit in den jeweiligen lyrischen Text integriert wird, sowie deren Auswirkungen auf die Konstruktion des ukrainischen Subjekts. Die Analyse ist nach dem Um‐ fang der Mehrsprachigkeit in den Texten aufgebaut: Beginnend mit einzelnen Wörtern bzw. Eigennamen in einer Fremdsprache (bei Osmolovs’ka), über längere Textpassagen in mehreren Fremdsprachen (bei Averbuch), bis hin zu mischsprachigen Texten, bei denen keine Sprache als Grundlage dient, sondern ein Geflecht aus verschiedenen Sprachen gebildet wird (bei Chersons’kyj). „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 165 <?page no="166"?> 4 Die Skepsis gegenüber dem Monolingualem eint die heutige Trans- und Mehrsprachig‐ keitsforschung (Taylor-Batty/ Dembeck 2023: 11). Der vorliegende Text soll als eine wissenschaftliche rozvidka (Annäherung) an das Thema mit exemplarischen Analysen ohne den Anspruch auf Vollstän‐ digkeit verstanden werden. Die mehrsprachigen Texte werden im Kontext einer dynamischen Situation betrachtet, bei der die Identität, das Verständnis der ukrainischen Nation und die Rolle der Sprache besonders nach 2014, aber noch stärker nach 2022 ständigen Aushandlungs- und Veränderungsprozessen unterliegen. Auf theoretischer Ebene basiert der vorliegende Artikel auf der Hinterfragung des ‚Monolingualen‘ als eines einflussreichen Paradigmas, das im Rahmen des Postmonolingualen ebenfalls in ständiger Aushandlung steht. 4 Das monolinguale Paradigma ist nach Yildiz (2012) nicht nur das Dominieren einer Sprache, sondern ist untrennbar mit bestimmten Vorstellungen der Nation, Ethnie und Kultur verbunden: According to this paradigm, individuals and social formations are imagined to possess one ‘true’ language only, their ‘mother tongue,’ and through this possession to be organically linked to an exclusive, clearly demarcated ethnicity, culture, and nation. (Yildiz 2012: 2) Dieses Paradigma hat seinen Ursprung im 18. Jahrhundert mit Ideen von Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher, bleibt jedoch bis heute einflussreich, wie Yildiz überzeugend zeigt. Tatsächlich ist gerade die Vorstellung der ukrainischen Diversität als Adversität (‚diversity as adversity‘ nach Finnin und Kozachenko 2022, der verbreitete Topos eines nach Sprache geteilten Landes) oder die Idee, dass russischsprachige Menschen zum Staat Russland „gehören“ würden, ein Beispiel für die unreflektierte und gefährliche Haltung, die Ideen des monolingualen Paradigmas für politische Zwecke nutzt. Diese vereinfachende Sichtweise ignoriert die Pluralität und die situative Mehrsprachigkeit, die in der ukrainischen Gesellschaft, wie oben skizziert, verbreitet sind, und geht von der Zugehörigkeit eines Menschen nur zu einer Sprache aus. Der Monolingualismus wird zunehmend auch international als „Mythos“ bezeichnet (vgl. Dembeck/ Minnaard 2014); im ukrainischen Kon‐ text hat dieser Mythos konkrete politische Folgen, da mit ihm Russland seine Aggression zu rechtfertigen versucht. Die intern mehrsprachigen Texte von Olsmolovs’ka, Averbuch und Chersons’kyj stellen auf unterschiedliche Weisen eine Herausforderung für das monolinguale Paradigma dar und entwerfen eigene Konzepte des plurilingualen ukrainischen Subjekts. 166 Mariya Donska <?page no="167"?> 5 In deutscher Übersetzung erschienen 2023 drei Gedichte von Osmolovs’ka in einer Antho‐ logie mit Kriegslyrik aus der Ukraine und Georgien (Chekurishvili/ Schiffner 2023). 6 Diese und weitere wörtliche Übersetzungen von mehrsprachigen Gedichten sind von mir - M.D. 1. Oksana Osmolovs’ka Oksana Osmolovs’ka (*1989) ist eine ukrainische Dichterin und Übersetzerin aus Čerkasy. Ihre Gedichte wurden in der Ukraine in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. 5 In dem folgenden 2022 geschriebenen Gedicht setzt sie pointiert ukrainisch-russische textinterne Mehrsprachigkeit ein. українська дитина засмучується, коли виростає, бо її - дорослу - буде не так шкода. просто зараз наді мною летить татьяна толстая! не влучай у мене, татьяна, бачиш, он там - вода! протри окуляри, татьяна, глянь як красиво: шовковиця лащиться до горіха, сирена лащиться до вікна. татьяна мене не слухала, татьяну небом носило. а тепер я скажу дещо моторошне: безкінечна весна! (Osmolovs’ka 2023, graphische Hervorhebungen von mir - M.D.) ein ukrainisches Kind wird traurig, wenn es erwachsen wird, denn um einen Erwachsenen tut es nicht so leid. gerade jetzt fliegt tatjana tolstaja über mir! schlag mich nicht, tatjana, siehst du, da drüben ist Wasser! wisch dir die Brille ab, tatjana, schau, wie schön es ist: der Maulbeerbaum schmiegt sich an den Walnussbaum, die Sirene schmiegt sich ans Fenster. tatjana hörte mir nicht zu, tatjana irrte im Himmel umher. und jetzt werde ich etwas Unheimliches sagen: der endlose Frühling! 6 Das Gedicht weist eine interessante formale Organisation auf, die die Expressi‐ vität der Mehrsprachigkeit unterstützt. In der Internet-Publikation Osmolovs’ka 2023 wird das Gedicht in drei Strophen von fünf, drei und zwei Zeilen geteilt. Das Gedicht besteht somit aus zwei ähnlich strukturierten Teilen von jeweils fünf „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 167 <?page no="168"?> 7 Die ukrainische Entsprechung zum Namen ‚Tat’jana‘ wäre ‚Tetjana‘. Der Familienname wird allerdings häufig nicht übersetzt, die ukrainische Entsprechung zum Adjektiv ‚tolstaja‘ wäre ‚tovsta‘. Da ukrainische Adjektive im Femininum keine Form auf ‚-aja‘, sondern nur auf ‚-a‘ haben, ist der Familienname eindeutig als ein russischsprachiges Wort im ukrainischen Text erkennbar. Versen mit dem Reimschema AbACb (wobei die neunte Zeile C hyperdaktylisch ist). Ausrufezeichen im dritten, fünften und zehnten Vers tragen dazu bei, dass das Gedicht in ähnliche Teile von jeweils 3+2 und 3+2 Versen unterteilt wird. Unter Berücksichtigung des Reimschemas zeigt sich, dass aus dem traditionellen Kreuzreim (AbAb) aufgrund der Aufteilung der letzten Zeile jedes Teils in zwei kürzere das Reimschema AbACb entsteht. Das Gedicht weist eine lose tonische Organisation auf: die Verse haben fünf bis sechs Betonungen (bzw. die kürzeren vierter und fünfter Vers sowie neunter und zehnter Vers zusammengenommen jeweils sechs Betonungen). Der Text beginnt mit dem ukrainischen Adjektiv ‚ukraïns’ka‘ (‚Ukrainisch‘) und markiert somit gleich die Zugehörigkeit zur ukrainischen Sprache und dem Kulturraum, auch mit lexikalischen Mitteln. Die Aussage über das ukrainische Kind, welches als Erwachsener weniger Mitleid hervorruft, erweckt den Kontext des Krieges, in dem Mitleid ein knappes Gut darstellt. Nach dieser Allgemeinaussage über ukrainische Kinder, die in der Ukraine in der Kriegszeit situiert ist, werden sowohl die Raumals auch die Zeitbe‐ zeichnung konkreter. Im dritten Vers erscheint das lyrische Ich, aus dessen Perspektive („nadi mnoju“ - „oberhalb von mir“) das weitere Geschehen erzählt wird. Die syntaktische Struktur dieses dritten Verses ist beachtenswert: Nach zwei adverbialen Bestimmungen der Zeit („gerade jetzt“) und des Raumes („oberhalb von mir“) kommt ein Prädikat („letyt’“ - „fliegt“) und erst dann das Subjekt („tat’jana tolstaja“). Trotz der freien Wortfolge im Ukrainischen ist die Inversion von Subjekt und Prädikat doch ein wirksames expressives Mittel, wel‐ ches dieses Subjekt als besonders hervorgehoben präsentiert. Außerdem steht dieses Subjekt in einer betonten Reim- und Kadenzposition des ersten Reimes (AbA). Schließlich wird die Wichtigkeit der Aussage durch das Ausrufezeichen nochmals betont. Der somit mehrfach hervorgehobene kleingeschriebene Name Tat’jana Tolstaja (im Vers ‚tat’jana tolstaja‘) ist ein russischer Name und wird im ukraini‐ schen Text in seiner russischsprachigen Version belassen. 7 Ein überraschendes Bild einer oberhalb des lyrischen Ichs fliegenden bekannten russischen Schrift‐ stellerin wird durch die russischsprachige Bezeichnung dieser und somit den plötzlichen Sprachwechsel noch brisanter. 168 Mariya Donska <?page no="169"?> 8 Im Jahr 2020 eröffnete sie einen youtube-Kanal Belyj Šum (weißes Rauschen), welcher bis November 2022 aktiv war, in dem sie Interviews und Diskussionen mit bekannten russischen Persönlichkeiten präsentierte. In einem Video von 2020 mit dem Titel Krym. Naš ili ne naš (Krym: Unser oder nicht unser) (https: / / www.youtube.com/ watch? v=ful wWvbpZf4&t=1450s, Stand: 10.10.2023) nennt sie die völkerrechtswidrige Annexion der Krym „vozvraščenie“ („Rückkehr“) und beteuert, dass sowohl Charkiv als auch Odesa „russkij gorod“ („eine russische Stadt“) seien. Somit bestreitet sie öffentlich die Souveränität der Ukraine in den international anerkannten Grenzen, was mit den russischen propagandistischen Narrativen, die im Laufe der militärischen Aggression Russlands verwendet werden, übereinstimmt. 9 Bis Ende 2023 wurden in mehr als 600 Kriegstagen 7400 Raketen und 3700 Drohnen von Russland abgeworfen (vgl. https: / / www.reuters.com/ world/ europe/ russia-has-fired-74 00-missiles-3700-shahed-drones-war-so-far-kyiv-says-2023-12-21/ , Stand: 21.12.2023). 10 Die metonymische Verbindung der russischen Sprache mit der Russischen Föderation ist unter ukrainischen (russophonen) Autoren weit verbreitet, wie eine Studie von Oleksandr Averbuch (2023: 150) zeigt. Nach Corinne Seals (2020: 74 ff.) ist die Meto‐ nymie eine verbreitete Trope in Diskussionen über die Verantwortung für den Krieg. Tat’jana Tolstaja (*1951) ist eine russische Schriftstellerin und Publizistin, die jahrelang auch eine Fernsehshow leitete. Sie ist die Enkelin des Schriftstellers Aleksej Nikolajevič Tolstoj, der seinerseits ein entfernter Verwandter von Lev Nikolaevič Tolstoj ist. Mütterlicherseits ist sie die Enkelin des bekannten Übersetzers Michail Leonidovič Lozinskij. Durch ihren Namen und ihre Fami‐ liengeschichte gilt sie häufig als Repräsentantin der russischsprachigen ‚Intel‐ ligencija‘. Sie ist für ihre Position bekannt, die russische Annexion der Krim unterstützt (vgl. Pastuch 2022). 8 Das Bild, das im Gedicht entsteht, zeigt Tat’jana Tolstaja oberhalb des lyrischen Ichs fliegend und ruft das Bild einer Rakete hervor. Bekanntermaßen besteht im gesamten Territorium der Ukraine seit dem 24.02.2022 die Gefahr von Raketenangriffen, die häufig mehrmals am Tag und auch in der Nacht auftreten. Daher ist das Bild eines fliegenden Luftkörpers eine alltägliche, beängstigende Realität in der Ukraine. 9 Naheliegend wäre, dass Tolstaja hier synekdochisch für den Teil der russischen Intelligencija steht, der den aggressiven Krieg Russlands in der Ukraine unterstützt. 10 Die immaterielle geistige Unterstützung der Aggression wird hier zu einem sehr materiellen Bild einer gerade hier und jetzt fliegenden Rakete, die das lyrische Ich treffen kann. Das Gefühl der Unmittelbarkeit wird dabei durch das Präsens des Verbs verstärkt. In den nächsten zwei Zeilen wendet sich das lyrische Ich direkt an „tat’jana“: mit einer Bitte, es nicht zu treffen, die einem Beschwörungsversuch ähnelt. Die zweite Verwendung des Namens mit dieser Bitte im vierten Vers ist über die Kadenzposition der ersten kürzeren Zeile hervorgehoben. Auch im sechsten Vers wird Tatjana mit einer direkten Anrede angesprochen: Das lyrische Ich versucht, „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 169 <?page no="170"?> 11 Dies wurde in ‚inoffiziellen Texten‘ sogar von der Nationalen Kommission für Standar‐ disierung der ukrainischen Sprache in einem Beschluss vom 23.09.2023 bekräftigt, vgl. https: / / mova.gov.ua/ news/ napysannia-nazv-rosiiska-federatsiia (Stand: 10.10.2023). 12 In manchen Gedichten von Osmolovs’ka werden nur Minuskeln im Stil von e.e.cum‐ mings, in anderen jedoch werden Majuskeln sowohl am Anfang des Satzes, des Verses und bei Eigennamen wie ‚Dnipro‘, ‚Zemlja‘ (‚Erde‘ als Planet) oder ‚Šenhen‘ (‚Schengen‘) verwendet (vgl. Osmolovs’ka 2020). sie vom Flug abzulenken und auf die Schönheit zu verweisen. Dabei wird in beiden Fällen nicht nur die russische Version des Namens, sondern auch die für die russische Sprache in der Anrede übliche Form des Nominativs verwendet (im Ukrainischen hingegen wäre hier der Vokativ „Tetjano“ angebracht). Trotz dieser Versuche erweist sich die Kommunikation als unmöglich: „tat’jana mene ne sluchala“ („tatjana hörte mich nicht“). Die Schriftstellerin wird im achten Vers als schweigend (stumm) und auch nicht zum Zuhören fähig (taub) dargestellt. Sie stellt weiterhin durch ihr Umherirren im Himmel eine Gefahr dar. Interessant ist hier die konsequente Verwendung des kleinen Buchstabens für den Namen und Familiennamen von „tat’jana“. Dies erinnert an die in der Ukraine seit 2022 stark verbreitete Praxis, Eigennamen, die mit dem Aggressor‐ land zu tun haben, mit kleinem Buchstaben zu schreiben: z. B. wie „rossijskaja federacija“ oder „moskva“, was den bewusst fehlenden Respekt zeigen soll. 11 Das analysierte Gedicht besteht zwar nur aus Minuskeln, was jedoch eine bewusste Wahl in diesem Gedicht darstellt und kein Zeichen der allgemeinen Poetik der Schriftstellerin ist. 12 Die Schreibweise mit einem kleinen Buchstaben betont die doppelte Zuge‐ hörigkeit des fliegenden Körpers: als ein Ding und ein Mensch. Das Bild dieser personifizierten Rakete (oder der verdinglichten Schriftstellerin) wird durch die Erwähnung von plastischen Details bereichert: Sie trägt eine Brille („okuljary“), die tatsächlich zum Erscheinungsbild der Schriftstellerin Tat’jana Tolstaja gehört. Auch der Familienname wird durch den kleinen Buchstaben doppeldeutig: Der Familienname „Tolstaja“ ist ein Homograph des Adjektivs „tolstaja“ („beleibt“); die Bedeutung ‚beleibt‘ trägt in diesem Kontext zur Mate‐ rialität und Körperlichkeit der dargestellten „Menschrakete“ bei. Nach Pastuch 2022 wird mit der Kleinschreibung auch die Allgemeinheit der gezeigten Person gestärkt, wodurch sie noch mehr den Teil der russischen Kultur bzw. der Kulturschaffenden repräsentiert, der aggressiv auftritt. Das russische Wort „tat’jana“ kommt fünfmal im Gedicht in den Versen 3, 4, 6 und 8 vor (vgl. Hervorhebungen im Text). Sogar graphisch scheint es im Text des Gedichts „umherzuirren“, wie die gefährliche Rakete am ukrainischen Himmel. Die russische Sprache trägt dazu bei, dieses Wort als „Fremdkörper“ 170 Mariya Donska <?page no="171"?> 13 Vgl den Begriff der latenten Mehrsprachigkeit nach Blum-Barth 2021. 14 Im ukrainischen Korpus der Sprache seit 2014 mit 1,5 Billionen Tokens (corpora.uni-leipzig.de) gibt es 1432 Einträge für „hljan’“ gegenüber 6976 von „dyvys’“ (mit der Alternativform „dyvysja“) sowie 14018 Einträge für „krasyvo“ gegenüber 38727 Einträge für „harno“. im ukrainischen Gedicht wahrzunehmen, was auf der Metaebene das Bild einer feindlichen umherirrenden Rakete bekräftigt. Der Kommunikationsversuch des lyrischen Ichs mit ihr scheitert - ein Sinnbild für den Teil der russischen Intellektuellen, die stumm und taub für Positionen der ukrainischen Menschen sind und diese überhaupt nicht als Subjekte wahrnehmen. Die Verfremdung passiert - wie in der Theorie Šklovskijs - sowohl in Bezug auf das Wort (mit den Mitteln der Mehrsprachigkeit) als auch in Bezug auf das Ding (das verfremdende Bild einer fliegenden Schriftstellerin, das die Absurdität der Kriegssituation mit den über dem Kopf der Zivilist: innen fliegenden Raketen anschaulich zeigt). Die Mehrsprachigkeit ist allerdings auch in etwas versteckterer Form in anderen Worten dieses Gedichts vorhanden. 13 Die Wörter „hljan’“ („Schau“) und „krasyvo“ („schön“) existieren zwar in der ukrainischen Sprache, gebräuchlicher wären jedoch die Formen „dyvys’“ („Schau“) und „harno“ („schön“), die im Unterschied zu „hljan’“ und „krasyvo“ keine Entsprechung im Russischen haben. Somit wendet sich das lyrische Ich an „tolstaja“ in einer angepassten Sprache, die für sie verständlich sein kann. 14 Das Wort „syrena“ („Luftalarm“ oder „Syrene“) ist ein falscher Freund: das russische „siren’“ bedeutet „Flieder“, was auf Ukrai‐ nisch „buzok“ heißt. Im botanischen Kontext der siebten Zeile wird auch dieses russische Wort evoziert, wobei hier offensichtlich nicht der Strauch, sondern ein Luftalarm oder ein mythisches Wesen (auf Russisch ‚sirena‘ und auf Ukrainisch ‚syrena‘, wobei sie in kyrillischen Buchstaben bei unterschiedlicher Aussprache homograph sind) gemeint wird. Das Bild der Sirene als eines mythischen Wesens in Polysemie mit dem Luftalarm unterstützt die Mehrdeutigkeit, die bereits im Bild der „Menschrakete“ vorhanden ist: Die Schriftstellerin wird dadurch zu einem Ding und gleichzeitig zu einem aggressiven mythischen Wesen. Das System der impliziten Adressate in diesem kurzen Gedicht ist ziemlich komplex. Die ersten zwei Zeilen thematisieren die Ökonomie der Aufmerksam‐ keit wohl der westlichen Gesellschaften an. In einer als zynisch dargestellten ‚Aufmerksamkeitsrechnung‘ ist es für ein ukrainisches Kind ‚vorteilhafter‘ klein zu bleiben, da die kleinen Verwundeten, Toten oder Bedrohten mehr Mitleid erwecken und somit eher Hilfe bekommen können. Die Kommunikation mit Mitleidenden wird hier als unvollständig dargestellt: um Aufmerksamkeit und Mitleid muss gerungen werden, da sie leicht schwinden. Das lyrische Ich ist wohl zweisprachig und kann Russisch vom Ukrainischen unterscheiden, spricht die fliegende ‚tat’jana‘ mit ihrem russischen Namen an „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 171 <?page no="172"?> und spielt mit Doppeldeutigkeiten wie im Fall von ‚sirena‘ und „siren’“. Die fliegende „tat’jana“ ist dagegen zu keiner Kommunikation in keiner Sprache fähig. Somit wird ein ungleiches System von einem zweisprachigen ukraini‐ schen lyrischen Ich, einem tauben russischen Subjekt, welches keine Sprache beherrscht, und (westlichen) Mitleidenden als Adressaten, die ein sehr einfaches Zeichensystem (klein/ groß) verstehen, aufgebaut. Das kurze Gedicht schafft es, pointiert das ukrainische Subjekt mit seinen Bedrohungen und Sorgen auch als Mehrsprachiges darzustellen sowie nach der Verantwortung (oder, nach Pastuch 2022, der ‚kollektiven Veranwortungslosigkeit‘) jenes Teiles der russischen Intelligencija zu fragen, die den aggressiven Krieg unterstützt. Die interne Mehrsprachigkeit impliziert die Mehrsprachigkeit der intendierten Rezipient: innen. Tatsächlich ist die ‚situative Mehrsprachigkeit‘ in der Ukraine, wie bereits erwähnt, sehr verbreitet. Für die intendierten Rezipienten sind alle Formen gleich als russische oder ukrainische erkennbar und brauchen keine zusätzliche Erklärung. Somit dient die ukrainisch-russische Mehrsprachigkeit als expressives Mittel zur Darstellung der unmittelbaren russischen kriegerischen Bedrohung und der Kommunikationssschwierigkeiten mit russischen Subjekten, die Ukrainer: innen nicht hören und mit ihnen nicht sprechen wollen. Im Sinne des lateinischen nomina sunt numina ist es wichtig, dass die russischsprachigen Elemente Namen sind: Es ist für die magische Beschwörung wichtig, dass das Gegenüber mit einem ‚richtigen‘ Namen genannt wird. Die Verwendung einer ‚archaisierender Namensmagie‘ (Petzer et al. 2009: 9) ist ein gescheiterter Versuch, die russische aggressive Instanz zu ‚besänftigen‘. Die Verwendung eines fremdsprachigen Namens ist klarerweise nicht an Fremdheit oder Aggressivität gebunden; sie kann durchaus umgekehrt Nähe oder Verbun‐ denheit mit der anderen Kultur evozieren. Als Kontrastbeispiel wird hier die erste Strophe des russischsprachigen Gedichts „Памяти Васыля Стуса“ („Zum Gedenken an Vasyl’ Stus“) von Marlena Rachlina angeführt: Ох, Васылыку мой, Васыль, ты, мой брате, родной, далекий, и во сто аистиных сил в синем небе кричат лелеки. (Rachlina 2015: 428, Hervorhebung M.D.) Oh, Vasyliku, mein Vasyl, du, mein Bruder, lieb und fern, und mit der Kraft von hundert Störchen am blauen Himmel rufen die Leleky. 172 Mariya Donska <?page no="173"?> 15 Dabei ist nicht nur die unterschiedliche Entstehungszeit der Gedichte zu beachten, sondern auch die Tatsache, dass Rachlina und Stus in einem Land - der Ukraine - gelebt, aber in verschiedenen Sprachen geschrieben haben, wobei Osmolovs’ka und Tolstaja zu zwei verschiedenen Ländern gehören in der Zeit, in der die Russische Föderation die Ukraine täglich militärisch angreift. Marlena Rachlina ist eine russischsprachige Autorin aus Charkiv, die u. a. Gedichte des bekanntesten ukrainischen Dichters der Generation der sechziger Jahre („šistdesjatnyky“) und Dissidenten Vasyl’ Stus ins Russische übersetzt hat. In diesem Mitte der 1990er-Jahre geschriebenen Gedicht wird der ukrainische Name „Vasyl’“ (an Stelle des russischen „Vasilij“) an die russische Orthografie angepasst - als Erstes in der diminutiven Form „Vasylyk“ und mit dem ukraini‐ schen Vokativ, der im Russischen nicht existiert. Bei der zweiten Verwendung wird die Grundform des Namens „Vasyl’“ verwendet. Ein weiterer Rückgriff auf das Ukrainische erfolgt durch Mittel der Grammatik (Vokativ „brate“) und Lexik („leleky“ - das ukrainische Wort für „Storch“, russ. „aist“). Auch das Wort „dalekyj“, welches auf Russisch („dalёkij“) oder auf Ukrainisch („dalekyj“) bei gleicher Orthografie gelesen werden kann, bekommt durch den Reim mit „leleky“ eine eindeutige ukrainische Lesart. Mit dem Diminutiv des Namens und Lexemen wie „rodnoj“ („nah“, „verwandt“) wird eine besondere Nähe zu dem sich weit von der Ukraine im Lager gestorbenen Dissidenten Vasyl’ Stus evoziert. Und tatsächlich verbindet Marlena Rachlina und Vasyl’ Stus trotz der verschiedenen Sprachen ihrer Texte sowohl der Lebensort, die Ukraine, als auch die Ausbildung als Philologen und die Arbeit in der Schule sowie das Dissidententum. Wie der Rückgriff auf „leleky“, einen Vogel, welcher symbolisch für die Ukraine steht, zeigt, repräsentiert der namentlich genannte Dichter synekdochisch auch die Kultur und das Land. In ein grobes Schema aus Oppositionen gegossen, steht bei Osmolovs’ka - 2022 vollkommen verständlich - Tolstaja für Aggressivität und Gefahr, während bei Rachlina, einer primär russischsprachigen Autorin aus Charkiv, die gleichzeitig zur russischen und ukrainischen Kultur gehört, die Figur von Vasyl’ Stus und das Ukrainische in den 1990er-Jahren mit Nähe und Verbundenheit assoziiert werden. 15 Es ist zu betonen, dass bestimmte Wörter in den hier analysierten Gedichten eine unklare oder doppelte Zugehörigkeit aufweisen und damit latent mehrspra‐ chig sind. Dazu gehören Formen ‚brate‘ (Russisch oder Ukrainisch mit Vokativ), ‚Vasylyku‘ (Ukrainisch in russischer Orthographie), ‚syrena‘ (russisch-ukrainische Mehrdeutigkeit). Aus der postkolonialen Perspektive könnte dieses ‚Ineinander‐ greifen‘ von Sprachen als Hybridität wahrgenommen werden. Aus der Perspektive der Mehrsprachigkeitsforschung bestätigen diese Beispiele die Idee von Yasemin Yildiz, wie sehr das monolinguale Paradigma Einschränkungen bedeutet. „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 173 <?page no="174"?> 16 In ihren im Dezember 2023 auf facebook publizierten Gedichten verwendet Osmolovs’ka ein ähnliches Verfahren mit russischen Namen („Dostoevskij“ oder „Marija iz Voroneža“), die im ukrainischen Text mit einer erkennbaren russischen Form belassen werden. Auch im Mai 2023 erscheint auf facebook ein Gedicht, das auf Ukrainisch beginnt und auf Russisch endet. 17 Die primäre Sprache des Buches ist Ukrainisch, wobei Averbuch zuvor zwei Gedicht‐ bände auf Russisch publizierte (Vstrečnyj svet (2009, Entgegenkommendes Licht) und Svidetel’stvo četvertogo lica (2017, Zeugnis von der vierten Person)), wobei der zweite Band bereits eine ausgeprägte Mehrsprachigkeit mit Deutsch, Ukrainisch, Rumänisch, Hebräisch und Jiddisch aufweist. Die Verwendung der ukrainisch-russischen Mehrsprachigkeit ist bei Osmo‐ lovs’ka (und auch bei Rachlina) ein expressives Mittel, das anlassbezogen punktuell erscheint. 16 Hingegen ist bei den beiden anderen Autoren, die in diesem Artikel behandelt werden, die Verwendung der Mehrsprachigkeit eine systematische Erscheinung. 2. Oleksandr Averbuch Oleksandr Averbuch (*1985) ist ein Dichter und Literaturwissenschaftler aus Novoajdar im Gebiet Luhans’k in der Ukraine. Mit 16 Jahren emigrierte er nach Israel und lehrt derzeit an der University of Michigan in den USA. Sein mehrheitlich auf Ukrainisch 17 geschriebener Gedichtband Žydivs’kyj korol’ (Der jüdische König) wurde in die Shortlist des renommierten Ševčenko-Preises aufgenommen und von Oleh Kocarev als eines der wichtigsten poetischen Ereignisse der ukrainischen Literatur des Jahres 2021 bezeichnet (Kocarev 2022). Der Band beginnt mit einem programmatischen Gedicht, bei dem das lyri‐ sche Ich die Diversität seiner ethnischen Zugehörigkeit proklamiert und die Verbrechen der verschiedenen Nationen gegeneinander als die, die er sich selbst verziehen hat, bezeichnet: я пробачив собі прадіда-українця що ходив погромом на прадіда-єврея пробачив прабабу-польку яка рвала коси прабабі-єврейці я пробачив собі прадіда-москаля який забрав останній шматок у прабабиукраїнки я пробачив прабабу-єврейку що написала донос на прадіда українця (Averbuch-2021: 5) ich habe mir verziehen den ukrainischen Urgroßvater, der gegen den jüdischen Urgroßvater randaliert hat ich habe mir meine polnische Urgroßmutter verziehen, die die Zöpfe meiner 174 Mariya Donska <?page no="175"?> 18 Wortwörtlich ‚mein kleiner Fisch‘, eine übliche liebevolle Anrede an Kinder, die durch den Vokativ als ukrainische Anrede präsentiert wird. jüdischen Urgroßmutter zerrissen hat ich habe mir meinen moskowitischen Urgroßvater verziehen, der meiner ukrainischen Urgroßmutter das letzte Stück abnahm ich habe mir meine jüdische Urgroßmutter verziehen, die eine Denunziation gegen meinen ukrainischen Urgroßvater geschrieben hat In einem anderen Gedicht wird die Situation eines Kindes dargestellt, das zwi‐ schen der jüdischen und der polnischen Urgroßmutter hin- und herläuft. Beide bezeichnen und schimpfen das Kind als fremd: „žydenja“ („kleinen Juden“) oder „pol’s’kyj vyplodok“ („polnische Brut“). Als das Kind jedoch frustriert äußert, dass es zu keiner der von ihnen repräsentierten Kulturen gehören möchte und weder nach ‚Jerusalem‘ noch nach ‚Poland‘ mitgenommen werden möchte, nehmen es beide liebevoll an. Im Fall der zweiten, jüdischen Urgroßmutter wird dies folgendermaßen beschrieben: а друга - руда та передсмертно веснянкувата нашіптує - мій Сигизмунде майн лібе їнгале, рибонько мій не хочеш і не треба […] (Averbuch-2021: 7) und die andere - rothaarig und sommersprossig vor dem sich nähernden Tod flüstert - mein Sigismund [auf Jiddisch] mein liebes Jungchen, [auf Ukrainisch] mein Kleiner wenn du nicht willst, dann brauchst du auch nicht […] Die Mehrsprachigkeit der liebevollen Bezeichnung („mein Jungchen“ auf Jid‐ disch, „mein Kleiner“ 18 auf Ukrainisch), die nicht übersetzt oder kommentiert wird, trägt zum Bild der jüdischen Urgroßmutter als einer mehrsprachigen Person bei und zur performativen Aufnahme des ethnisch gemischten Urgroßenkels in ihre jiddische Sprachwelt. Auch Hebräisch kommt im Buch mehrmals vor, meistens als sakrale Sprache des Gebets: чому, Боже, нехтуєш перемогою? […] шма ісроейл адойной елоєйну адойной еход (Averbuch-2021: 14) „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 175 <?page no="176"?> 19 S. eine detaillierte Analyse in der Rezension von Pavlyšyn 2022. Warum, Gott, vernachlässigst du den Sieg? […] [auf Hebräisch in kyrillischen Buchstaben] Höre, Israel Der Herr ist unser Gott Der Herr ist einer Das Gebet עמשׁ לארשׂי („Schma Israel“, „Höre, Israel! “) ist wohl das bekannteste jüdische Gebet, der zentrale Bestandteil des traditionellen Morgen- und Abend‐ gebets. Seine Verwendung in kyrillischen Buchstaben (in einer für aschkenasi‐ sche Juden typischen Version mit „o“ anstelle von „a“) zeigt dieses als Teil des ukrainischen Textes, wobei die Kyrillica im Hebräischen das ukranische Subjekt markiert. In seinem Gespräch mit Gott beginnt das lyrische Ich die Anrede auf Ukrainisch, wechselt mühelos zum Hebräischen und zurück. Der Gedichtband besteht aus drei Teilen (alle in vers libre und ohne Reim), wobei der erste und der dritte Teil von einem weitgehend homogenen lyrischen Ich stammen und der zweite Teil aus dokumentarisch anmutenden Texten be‐ steht, die als Briefe der ukrainischen Zwangsarbeiter in Deutschland und der Juden, die nach ihren getöteten Verwandten suchen, wirken. 19 In der Mitte des Gedichtbandes befindet sich eine anders gesetzte Seite, die jüdische Namen mit einer kurzen Beschreibung der Todesursache angibt, die auch unbekannte Opfer in einer Art Bewusstseinsstrom würdigt und am Ende in ein kyrillisch geschrie‐ benes jüdisches Gedenkgebet שׁידק (‚Kaddisch‘, ‚heilig‘) übergeht. Бахурінська Сара розстріляна Купчеленький Сруль розстріляний […] Улицькі Естер Феня Клара Олтер Юзя Фіма Моше Борис розстріляні на цукровому заводі та скинуті у яму […] Гольдштейн Мотл вбитий українцем у якого мешкав […] Прізвище невідомо Ім’я невідомо вбиті Прізвище невідоме Ім’я невідомо відомо відомо відомо невідомо відомо відомо відомо відомо мені відомо відомо нам відомо відомо все ісгадел веіскадеш шмей рабо беолмо ді вро […] омейн омейн омейн омейн (Averbuch 2021: 49 f.) Bachurins’ka Sara erschossen Kupčelen’kyj Srul’ erschossen […] Ulyc’ki Ester Fenja Klara Olter Juzja Fima Moše Borys in einer Zuckerfabrik erschossen und in eine Grube geworfen […] Gol’dštejn Motl wurde von einem Ukrainer getötet bei dem er lebte […] Nachname unbekannt Name unbekannt getötet Nachname unbekannt Name unbekannt bekannt bekannt bekannt unbekannt bekannt bekannt bekannt bekannt mir bekannt bekannt uns bekannt bekannt bekannt ist alles [in Hebräisch] erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt […] Amen Amen Amen Amen 176 Mariya Donska <?page no="177"?> Der Text würdigt die bekannten und unbekannten Opfer des Holocausts und führt am Ende ein Subjekt ein - „meni“ („mir“) und „nam“ („uns“). Somit wird die Frage der Erinnerung und der Verantwortung an das lyrische Ich und die kollektiven jetzt lebenden ukrainischen Subjekte übertragen. Das hebräische Gebet in kyrillischer Schrift und aschkenasischer phonetischer Variante schließt den Text ab. Die sprachliche Hybridität zeigt, dass hier kein Gegeneinander von Opfertum und Schuld, kein Gegeneinander von Jüd: innen und Ukrainer: innen erstellt wird. Im Gegenteil, wie auch im ersten Gedicht des Bandes, geschehen das Gedenken und die Verantwortungsübernahme von einem Subjekt, in einem Kollektiv, aber in mehreren Sprachen. Dies entspricht auch den Aussagen von Averbuch im Epitext zum Gedichtband. In einem Interview sagt er beispielweise „Голокост треба проговорювати разом, у спільному єврейсько-українському діалозі“ („Der Holocaust muss zusammen diskutiert werden, in einem gemeinsamen jüdisch-ukrainischen Dialog“, Averbuch 2022). Der Gedichtband enthält eine weitere mehrsprachige Schicht. Sie ist in 45 dokumentarisch anmutenden Gedichten zu finden, die in einer Mischung aus Russisch und Ukrainisch manchmal mit deutschen Elementen besteht, die ukrainischen Zwangsarbeiter: innen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs zugeschrieben werden können. Ein Beispiel daraus ist folgendes Gedicht: добрый день дорогие тато мама и сестричка лідуська […] города который был у нас в 14 км уже нема тількі стіны стоят ну пока досвидание крепко целую ваша доч М.C. (Averbuch 2021: 74) [Auf Russisch] Guten Tag ihr Lieben [auf Ukrainisch] Papa, [? ] Mama [auf Russisch] und Schwester [auf Ukrainisch] Lydia […] [auf Russisch] die Stadt, die 14-km entfernt war [auf Ukrainisch mit einem Fehler] gibt es nicht mehr, nur [? ] die Mauern stehen [auf Russisch mit Fehlern] Auf Wiedersehen und einen dicken Kuss Eure Tochter M.C. Die Mischung entsteht auf der lexikalischen, aber auch der Schriftebene, z. B. das Wort „стіны“ ist weder auf Russisch noch auf Ukrainisch korrekt, da es „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 177 <?page no="178"?> 20 Während eine derartige Mischung im 19. Jahrhundert noch typisch war, wie z. B. in den Briefen von Taras Ševčenko, ist sie nach mehreren Kodifizierungswellen und Reformen der ukrainischen Schreibung (die s. g. „Želechivka“ 1886, benannt nach Jevhen Želehivs’kyj, „Skrypnykivka“ oder Charkiwer Orthographie 1928, benannt nach Mykola Skrypnyk, oder die orthographische Reform von 1933, um nur einige zu nennen) in den 1940er-Jahren nicht mehr üblich. 21 Zur Stabilisierung von Suržyk s. Hentschel/ Palinska 2022. 22 „Vielleicht ist das der Grund, warum ich dokumentarische Poesie mache, denn die Stimmen der anderen, die Intonationen, sogar die Fehler, sind für mich sehr attraktiv.“ 23 Zur stufenweisen Normierung des Ukrainischen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. z. B. Moser 2017. 24 Laada Bilaniuk (2017-2018: 307) attestiert generell die wachsende Verwendung der Mischung von Sprachen und Sprachspielen in einer Spannung zwischen Purismus und Pluralismus in der Ukraine. Buchstaben vereint, die nur im ukrainischen Alphabet („і“) oder nur im russi‐ schen Alphabet („ы“) existieren. 20 Dies stellt eine bewusste „Denormierung“ der Sprache dar, die sie nicht nur zwischen die Sprachen, sondern auch abseits der Literaturnorm und sogar des Substandards Suržyk als eines stabilisierten Idioms 21 platziert. Diese Würdigung der authentischen Stimmen ist intendiert: „Може, саме тому я займаюся документальною поезією, бо голоси інших, інтонації, навіть помилки мене дуже приваблюють“, 22 so der Autor. Aver‐ buch pflegt einen ‚Plurilingualismus des Anderen‘ in seiner Diversität. Bekanntlich wurden die meisten modernen Sprachen im 19. Jahrhundert normiert, was als Teil des ‚monolingualen Paradigmas‘ gesehen werden kann - eine Nation soll eine Sprache haben, die festgelegte Normen und Grenzen enthält. 23 Averbuch überschreitet in seinem Buch nicht nur die Grenzen der Literatursprachen, sondern auch von Varietäten. Dies kann auch als Teil des postmonolingualen Paradigmas gesehen werden, als eine radikale Würdigung der leidenden Subjekte, ohne sie in den Rahmen einer normierten Sprache zu zwängen. Die Verwendung und Würdigung der Ausdrucksweise und Orthogra‐ phie abseits der normierten Hochsprache hat eine subversive und antikoloniale Komponente, indem das Lokale und Gemischte (und nicht das Zentrale und Puristische) seinen Ausdruck findet. 24 Damit verbindet das Buch eine postmo‐ nolinguale mit einer postkolonialen Haltung. Die Mehrsprachigkeit dient bei Averbuch einerseits der sprachlichen Cha‐ rakterisierung der präsentierten Subjekte (des lyrischen Ichs selbst, der Urgroß‐ mutter des lyrischen Ichs und der Zwangsarbeiter: innen), andererseits schafft sie eine inklusive ukrainische sprachliche Realität, in der Fragen des Verzeihens und des Gedenkens in einem mehrsprachigen Kontinuum ausgehandelt werden. Im Gedichtband gibt es - im Unterschied zu seinem russischen Gedichtband von 2017 - keine Übersetzungen und Erklärungen, der intendierten Rezipienten‐ 178 Mariya Donska <?page no="179"?> 25 Dieser Unterschied ist vielsagend: in einem im russischen Verlag NLO publizierten Buch gibt es in vielen Fällen Fußnoten mit Übersetzungen, zudem gibt Stanislav L’vovskij im Vorwort offen zu, dass er kein Ukrainisch beherrscht und die ukrainischsprachigen Gedichte nicht genau beurteilen kann. Dem ukrainischen Rezipienten im Buch von 2021 wird dagegen zugemutet, die Mehrsprachigkeit (wenn auch nicht in demselben Umfang und in anderen Sprachen) zu bewältigen. 26 Es ist zu betonen, dass auch frühere Publikationen von Chersons’kyj, wie etwa Semejnyj archiv gelegentlich mehrsprachige Elemente beinhalten, beispielsweise aus dem Jiddischen und Hebräischen (vgl. Donska 2020: 115 ff.). schaft wird die Mehrsprachigkeit im Text stillschweigend zugemutet. 25 Marko Pavlyšyn (2022) ist zuzustimmen, dass das lyrische Ich im Gedichtband von Averbuch eine radikale Ethik des Verzeihens und gleichzeitig die Möglichkeit proklamiert, als Bürger der heutigen Ukraine die jüdische und die ukrainische Identität zu vereinen. 3. Borys Chersons’kyj Die Figur von Borys Chersons’kyj (*1950) sowie die Frage seiner Sprachver‐ wendung hat in letzter Zeit große Beachtung in der Forschung gefunden (vgl. Kukulin 2016, Donska 2020, Uffelmann 2019a, 2019b und 2022). Der Lyriker, Essayist und Arzt aus Odesa gehört zu den bekanntesten früher russischspra‐ chigen Autoren mit einer klaren proukrainischen Position. Er ist als russisch‐ sprachiger Autor v. a. mit seinem Buch Semejnyj archiv (2006 Familienarchiv, deutsche Übersetzung im Wieser Verlag 2010) bekannt, publizierte in russischen Verlagen und erhielt Preise, brach allerdings 2014 jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen ab. Als mehrheitlich russischsprachiger Autor und ethnischer Jude mit einer während und nach dem Euromaidan klar artikulierten politischen ukrainischen Identität wurde Chersons’kyj zu einem wichtigen Beispiel für die Loslösung der bürgerlichen Identität von ethnischen und linguistischen Gegebenheiten, einer Identität nach Wahl (vgl. McGrane 2015). 26 Die Geschichte seines stufenweisen Übergangs vom mehrheitlich monolingualen zum bilingualen Schreiben und Selbstübersetzungen ist detailliert bei Uf‐ felmann (2022) nachgezeichnet. Tatsächlich publiziert Chersons’kyj derzeit in beiden Sprachen und übersetzt seine Texte häufig selbst (vgl. als Beispiel seine Gedichtbände Rozdrukivka und Raspečatka (beides: ‚Ausdruck‘), die anlässlich des siebzigjährigen Jubiläums des Dichters im Verlag Folio 2020 erscheinen; der erste Band versammelt eine Auswahl der ukrainisch-, der zweite der russischsprachigen Poesie des Autors). „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 179 <?page no="180"?> 27 Publiziert auf facebook https: / / www.facebook.com/ borkhers/ am 08.02.2022, Stand: 01.12.2023. In einem Gedicht, das 2022 auf facebook publiziert wurde, wird die Urszene der Hybridisierung beschrieben, die Begegnung des wohl in der Kindheit monolingual russischsprachigen lyrischen Ichs mit der ukrainischen Sprache: Знаешь, что месяц май, а написано — травень. Булочная просто булочна, куда подевалось я? Идешь по парапету, глядишь на военную гавань, это советское детство — заря моего бытия. Семья как семья — все три поколения живы. Дед остался дома — с газетой лежит пластом. Я пока не знаю, что эти газеты лживы. что [sic! ] русский язык — не единственный, это узнаю потом. […] 27 (Hervorhebung M.D.) Du weißt, dass es Mai ist, aber es steht „traven’“ [„Mai“ auf Ukrainisch] drauf. Die Bäckerei ist nur eine „Bäckere“ [die „Bäckerei“ auf Ukrainisch], wo ist das i? Ich gehe an der Brüstung entlang und schaue auf den Militärhafen, Diese sowjetische Kindheit ist der Beginn meines Seins. Die Familie ist ganz typisch - alle drei Generationen sind am Leben. Mein Großvater ist noch zu Hause - er liegt totmüde da mit einer Zeitung. Ich weiß noch nicht, dass diese Zeitungen Lügen sind. Dass Russisch nicht die einzige Sprache ist, werde ich später erfahren. […] Das Ukrainische dringt in Form von Schildern und Aufschriften sehr früh ins Bewusstsein des Kindes ein. Die Sprache wirkt verfremdend und wirft Fragen auf. Dieser ‚Urzustand‘ wird nicht mit romantischer Nostalgie, sondern mit einem nüchternen Blick auf die Verlogenheit der sowjetischen Gesellschaft gesehen. Der Übergang geschieht jedoch nicht von Russisch zu Ukrainisch, deren Existenz für das Kind noch nicht offensichtlich ist, sondern von einer Sprache (Russisch) zu mehreren - und somit vom monolingualen zum postmo‐ nolingualen Paradigma. Die Unwissenheit des Kindes kontrastiert mit dem Wissensstand des Erwachsenen: Russisch ist nicht die einzige Sprache. In mehrsprachigen Gedichten von Chersons’kyj wird dieses Wissen über die Pluralität der Sprachen performativ inszeniert, indem in einem Gedicht viele Sprachen vorkommen. Der vorliegende Artikel widmet sich dieser weiteren Entwicklung im Schaffen von Chersons’kyj, die im Unterschied zu ‚Code-Switching‘ noch wenig Beachtung in der Forschung fand - seinen intern mehrsprachigen Gedichten. 180 Mariya Donska <?page no="181"?> 28 „Einige der Gedichte sind absichtlich zweisprachig - dies ist ein bewusstes künstleri‐ sches Mittel, wie auch die Verwendung von Russismen, einschließlich Anspielungen auf Gedichte russischer Dichter.“ Die meisten dieser Gedichte wurden - wie viele andere - auf der Facebook-Seite des Autors erstveröffentlicht und sind 2021 in den mehrheitlich ukrainischspra‐ chigen Gedichtband Rozdrukivka eingegangen, welcher mindestens 15 Gedichte enthält, die durchgehend mehrsprachig sind. Auf dem Umschlag des Gedicht‐ bands befindet sich folgender Satz: „Деякі з поезій навмисно двомовні - це свідомий художній прийом, так само як і використання русизмів, зокрема алюзій на вірші російських поетів.“ (Chersons’kyj 2021) 28 Offensichtlich können die impliziten Rezipienten dieses Bands die mehrsprachigen Elemente und Russismen im ukrainischen Text identifizieren, der Dichter geht aber nicht davon aus, dass sie die Intentionalität dieser Verwendung adäquat wahrnehmen und betont seine Absicht im Paratext des Bandes. Im Folgenden wird exemplarisch ein solches mehrsprachiges Gedicht ana‐ lysiert. Es wurde am 21.02.2020 anlässlich des ‚Tages der Muttersprache‘ - „Міжнародний день рідної мови“ auf Facebook publiziert und wird am 21.02. in anderen Jahren meistens wiederholt veröffentlicht. Der Autor selbst nennt es in einem Kommentar im Repost vom 21.02.2023 ein hybrides Gedicht („гибридное стихотворение“). Мой родной язык — русский с примесью идиш, с толикой украинизмов, странная помесь. Трохи знаю іврит, але в Ізраїль не поїдеш, не свяжешь двух слов, прощаясь или знакомясь. Не свяжешь фразу, со старым приятелем ссорясь, бо пам’ятаєш лише «киш ин тухес» та інші лайки, но я хорошо различаю «нахес» и «цорес», крупицы слов — как мальков серебристые стайки в потоке речи, але вода непрозора — плавати в ній неможливо та небезпечно. Не поднимешь к небу вовек покаянного взора, разве только вспомнишь учебник-увечник «Родная речь», но какой твой язык родной, яка в тебе мова рідна, — уже не помнишь, войною память отбило. Бачиш, Вітчизна твоя знову знищена, бідна, траурний дзвін лунає, димить кадило, лунає третя мова старослав’янська, біблійна: прилипни язык мой к гортани, аще — чи якщо? - забуду. „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 181 <?page no="182"?> Там где радость двойная, там і скорбота подвійна, такий вельтшмерц на серці, як згадаю споруду — Вавілонську вежу, за будівниками стежу — коли розіб’є Господь мову єдину, уламки збираючи, о майн Гот, від жалю збентежу, ду форгив, Адонай Елохейну, самотню стару людину. (Chersons’kyj 2021: 293) [Auf Russisch] Meine Muttersprache ist Russisch mit einem Hauch von Jiddisch, mit etwas Ukrainisch, eine seltsame Mischung. [Auf Ukrainisch] Ich kann ein bisschen Hebräisch, aber ich kann nicht nach Israel fahren, [auf Russisch] kann keine zwei Worte beim Verabschieden oder Kennenlernen verbinden. Ich kann keinen Satz zusammenbringen, wenn ich mit einem alten Freund streite, [auf Ukrainisch] weil ich mich nur an [auf Jiddisch] ‚küsse mich in den Arsch‘ [auf Ukrainisch] und andere Beschimpfungen erinnere, [auf Russisch] aber ich kann zwischen [auf Jiddisch] Glück [auf Russisch] und [auf Jiddisch] Problemen [auf Russisch] unterscheiden, die Wortfetzen sind wie silberne Jungfischschwärme im Strom der Sprache, [auf Ukrainisch] aber das Wasser ist undurchsichtig es ist unmöglich und gefährlich, in ihm zu schwimmen. [Auf Russisch] Du kannst deinen büßenden Blick nicht zum Himmel erheben, es sei denn, du erinnerst dich an das Lehr-Verletz-buch „Muttersprache“, aber was ist deine Muttersprache, [auf Ukrainisch] was ist deine Muttersprache, [auf Russisch] weißt du nicht mehr, der Krieg hat dein Gedächtnis vertrieben. [Auf Ukrainisch] Siehst du, dein Mutterland ist wieder zerstört, arm, die Trauerglocke läutet, der Weihrauch raucht, eine dritte Sprache, Altslawisch, biblisch, ist zu hören: [auf Russisch] Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, [auf Altkirchenslawisch] wenn - [auf Ukrainisch] oder wenn - ich an dich nicht mehr denke. [auf Russisch] Wo doppelte Freude ist, [auf Ukrainisch] da ist auch doppeltes Leid, Ich fühle einen solchen [auf Deutsch] Weltschmerz [auf Ukrainisch] in meinem Herzen, wenn ich an den Bau denke - Den Turm zu Babel, dessen Erbauer ich beobachte, und warte, bis der Herr die eine Sprache zerbricht, ich sammle Splitter, [auf Deutsch] oh mein Gott, [auf Ukrainisch] und werde verrückt vor Trauer, [auf Englisch] bitte vergib, [auf Hebräisch] unser Herr, [auf Ukrainisch] dem einsamen alten Mann. 182 Mariya Donska <?page no="183"?> 29 Vgl. zur Vereinnahmung dieser Denkweise auch als antisemitisches Argument, welches bei Yildiz (2012: 36) analysiert wird: „Wagner not only denies Jews’ aesthetic sense and musical creativity, but goes further to claim that Jews are inherently unable to master any so-called non-Jewish languages“. 30 Das Motiv des ‚Sich-nicht-mehr-Erinnerns‘ ist ein ironischer Topos auf Chersons’kyjs Facebook-Seite. 31 Die Position des lyrischen Ichs von Chersons’kyj als eines Juden, der zum othodoxen Christentum übergetreten ist, wird in anderen Gedichten thematisiert, vgl. Chersons’kyj 2021: 296; 298. Das Gedicht weist einen häufigen Wechsel zwischen der russischen und ukrai‐ nischen Sprache auf, manchmal sogar innerhalb eines Verses. Dabei tritt zu Beginn etwas mehr Russisch auf, während am Ende vermehrt Ukrainisch verwendet wird. Punktuell werden weitere Sprachen verwendet: Jiddisch, Alt‐ kirschenslawisch, Deutsch, Englisch und Hebräisch, alle in kyrillischer Schrift. Das Metagedicht setzt sich mit der Frage der Muttersprache auseinander und beginnt mit dem für Chersons’kyj typischen Motiv, dass er keine Sprache richtig gut beherrsche (vgl. auch Chersons’kyj 2021: 296). Auf der Metaebene widerspricht das Gedicht performativ dieser Aussage, da das lyrische Ich virtuos mit mehreren Sprachen jongliert. Das Gedicht verwendet einen Kreuzreim (ABAB), ohne Strophenaufteilung, und integriert mehrsprachige Reime (rus. идиш - ukr. поїдеш, rus. ссорясь - jid. цорес, ukr. непрозора - rus. взора), die mühelos in den Text eingebunden sind. Es offenbart und dekonstruiert das monolinguale Paradigma, welches vor‐ sieht, dass ein Jude eine ‚jüdische‘ Sprache beherrschen sollte - wie Hebrä‐ isch oder Jiddisch. 29 Das lyrische Ich kann sich auch angesichts des Krieges nicht mehr erinnern, welche Muttersprache es hat. 30 Das Vaterland jedoch - „Вітчизна“ (großgeschrieben) - wird im Kontext des Krieges eindeutig als die leidende Ukraine definiert, da das ukrainische Wort verwendet wird. Die Muttersprache wird im Gedicht hingegen zu einer Aushandlungssache, ähnlich wie es Corinne Seals in ihrem Buch Choosing a Mother Tongue (2019) für die moderne ukrainische Gesellschaft aus soziolinguistischer Sicht beschreibt. Das essentialistische Konzept der Muttersprache wird im Gedicht verneint - „родная речь“ (kleingeschrieben) wird als Name eines Lehrbuchs präsentiert und somit als von Institutionen aufgezwungener russischer Diskurs dargestellt. Das Zitat mit dem altkirchenslawischen und - als Variante - ukrainischen Wort stammt aus dem Psalm 136 „An den Strömen von Babylon“ und bezieht sich auf die Aufforderung an die Juden, Jerusalem nicht zu vergessen. Es kann als Selbstvorwurf des lyrischen Ichs gelesen werden, dass es seine jüdische Identität nicht ausreichend bewahren konnte. 31 Am Ende des Gedichts treten mehrsprachige Elemente besonders gehäuft und kurz auf, was auf der Metaebene das Bild „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 183 <?page no="184"?> 32 Publiziert auf facebook https: / / www.facebook.com/ borkhers/ am 25.11.2023, Stand: 01.12.2023. 33 Vgl. den Begriff der exkludierten Mehrsprachigkeit nach Blum-Barth (2021: 85-87). 34 Tatsächlich definiert Kremnitz die interne Mehsprachigkeit als Phänomen, welches immer auf einer Grundsprache beruht: „Gleichgültig, ob es sich dabei um Zitate in einer (oder verschiedenen) anderen Sprachen handelt oder um ganze Passagen, die fremdsprachigen Stücke funktionieren immer im Rahmen eines Textes in einer Grundsprache“ (Kremnitz 2015: 18). der babylonischen Zersplitterung unterstützt. Dieser Rückgriff auf die biblische Geschichte des Turms von Babylon macht allerdings das lyrische Ich zu jedem Menschen und die Situation der zersplitterten Sprachen zu einer allgemeinen Situation auf der Welt. Der Monolingualismus erscheint als eine vielleicht ersehnte, aber unmögliche Einheit, die nur vor der babylonischen Zerstreuung möglich war. Die interne Mehrsprachigkeit ist auch in neuen Gedichten von Chersons’kyj zu finden, die auf Facebook publiziert werden, aber noch nicht in Buchform vorliegen. So wurde Ende 2023 ein Gedicht publiziert, aus dem hier eine Strophe zitiert wird: Мой мозг словами, что снежком припорошен. що поробиш, мово моя. мuttersprache [sic! ], чи mame lоshun? То штовхає мене до івриту. то - до латыни, ось, блукаю по пустелі, авось доберусь до пустыни. 32 [Auf Russisch] Mein Gehirn ist mit Wörtern wie mit Schnee bedeckt. [Auf Ukrainisch] was kann man tun, meine Sprache. [Auf Deutsch] muttersprache, oder [auf Jiddisch] Muttersprache? [Auf Ukrainisch] Es drängt mich in Richtung Hebräisch oder Latein, hier bin ich, wandere in der Wüste, [auf Russisch] vielleicht erreiche ich die Wüste. Abermals wird das biblische Bild des Sich-in-der-Wüste-Umherirrens ver‐ wendet und eine Pluralität an möglichen Sprachen thematisiert: hier Ukrainisch, Russisch, Deutsch, Jiddisch, die verwendet, und Hebräisch und Latein, die zusätzlich genannt werden. 33 Vitaly Chernetsky (2019: 65) behauptet, dass Chersons’kyj seine poetische Persona zwischen der ukrainophonen und der russophonen Welt platziert. Tatsächlich ist ‚sich nicht festlegen wollen‘ ein Programm, welches die Notwendigkeit nur einer Sprache negiert. Für Gedichte, die Chersons’kyj ‚hybrid‘ nennt, ist es meistens unmöglich, eine Grundsprache festzulegen - ein seltenes Phänomen im Bereich der textinternen Mehrspra‐ chigkeit. 34 Nicht nur die Identität der Person, auch die sprachliche Identität des Textes ist nicht eindeutig festzulegen; sie entzieht sich einer klaren monolingu‐ alen Identifikation. 184 Mariya Donska <?page no="185"?> 35 Obwohl in der Forschung die Hybridität betont wird, birgt allein die Terminologie des ‚Code Switching‘ oder dessen, was Myroslav Shkandrij ‚conversion trope‘ (Shkandrij 2020: 46) nennt, eine Simplifizierungsgefahr. Die Idee des ‚Switchens‘ könnte das Bild nahelegen, dass der Übergang von einer reinen klar definierten alle Bereiche des Lebens deckenden Sprache zu einer anderen reinen klar definierten etc. Sprache passiert. Dies ist nicht nur für die situativ mehrspachige ukrainische Gesellschaft mit ihrem ‚fluiden sprachlichen Ökosystem‘ (Finnin/ Kozachenko 2022: 46) nicht richtig, sondern auch unabhängig vom Sprachpaar und dem Land der Austragung des Wechsels eine starke Verkürzung. Über die allgemeine Kritik am monolingualen Denken hinaus ließe sich einwenden, dass erstens häufig bereits vor dem Wechsel eine Sprachmischung vorliegt oder nach dem Wechsel die abgelegte Sprache möglicherweise weiterwirkt (zur Sprach‐ latenz vgl. Hausbacher 2021). Der als ‚monolingual‘ rezipierte Autor Jurij Andruchovyč zeigt ein elegantes intertextuelles Sprachspiel, welches eine antiimperiale Haltung nur dank der profunden Kenntnis der russischen Literatur im Original hervortreten lässt (vgl. Donska 2023). Diese Gedichte sind an dezidiert mehrsprachige Rezipient: innen adressiert. Es werden keine Kommentare zu einzelnen Wörtern gegeben, bis auf die bereits erwähnte Erklärung auf dem Umschlag, dass die Mehrsprachigkeit gerade im Fall des umstrittenen Russischen intendiert sei. Die Gedichte von Chersons’kyj nutzen die Mehrsprachigkeit der ukrainischen Gesellschaft und schreiben sie fort. In der Forschung wurde das Oeuvre von Chersons’kyj als ein Beispiel für Bilingualismus und russisch-ukrainisches ‚Code-Switching‘ betrachtet (Uffel‐ mann 2022). 35 Die obigen Beispielanalysen zeigen hingegen, dass einige Texte von Chersons’kyj im Kontext der Hybridität und einer pluralen sprachlichen Zugehörigkeit fruchtbar gelesen werden können. Die wachsende Diversität seiner Sprachverwendung (von Russisch, Jiddisch und Hebräisch in Semejnyj archiv zu Ukrainisch, Russisch, Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch, Altkir‐ chenslawisch in den analysierten Beispielgedichten) ist bemerkenswert; dabei wird keine Sprache komplett abgelegt, sondern es werden neue Sprachen hinzugewonnen. Der Plurilingualismus ist bei Chersons’kyj Programm, der Übergang zur stärkeren Verwendung des Ukrainischen geschieht innerhalb des postmonolingualen Paradigmas. 4. Zusammenfassung Der 24.02.2022 bedeutete einen Bruch im Leben und der Kultur der Ukraine, der für viele Menschen, darunter viele Künstler: innen, alles veränderte. Oksana Osmolovs’ka schreibt über die Veränderung in ihrem Schaffen: „Previously I wrote texts about everything except the war. Now I don’t write about anything but the war“ (Osmolovs’ka 2023). Tatsächlich erhält das Russische noch stärkere „Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“ 185 <?page no="186"?> 36 Um nur eine von mehreren Initiativen zur krimtatarisch-ukrainischen Mehrsprachig‐ keit zu nennen: Im Rahmen des literarischen ukrainisch-krimtatarischen Projekts „Kryms’kyj inžyr“ („Qırım İnciri“), das 2018 ins Leben gerufen wurde, finden jährlich ein Festival und Wettbewerb statt und es wird eine mehrbändige literarische Anthologie herausgegeben, die auch 2023 publiziert worden ist. Konnotationen der Aggression, wie das Gedicht von Osmolovs’ka mit dem synekdochischen skurrilen Bild der fliegenden russischen Schriftstellerin zeigt. Russisch wird von manchen Respondent: innen sogar physisch mit Angst ver‐ bunden (vgl. Averbuch 2023: 150). Innerhalb des mehrsprachigen ukrainischen linguistischen und literarischen Raums gibt es deutliche Verschiebungen, wobei Ukrainisch als Sprache des Widerstandes (Kulyk 2022) und als antiimperiale Sprache (Bilaniuk 2017-2018: 306) an Bedeutung gewinnt. Die in diesem Artikel analysierten Beispiele zeigen diese Veränderungen als eine Verschiebung in einem dezidiert als mehrsprachig gedachten und gezeigten Raum, sowohl auf der Produktionsals auch auf der Rezeptionsebene. Die analysierten Texte zeigen die Mehrsprachigkeit als ein starkes expres‐ sives Mittel, als Mittel zur Charakterisierung der Personen oder auch als eine Textgrundlage für wahrhaft postmonolinguale Gedichte, die keine Grund‐ sprache mehr erkennen lassen. Das ukrainische Subjekt erscheint dabei in seiner Diversität: als ein mehrsprachiges und kommunikatives im Unterschied zum tauben, stummen, aggressiven und unberechenbaren russischen Subjekt; als ein Subjekt, welches Jüdisches, Ukrainisches (Polnisches und Russisches) in sich vereint, gegenseitige Verbrechen klar benennt und verzeiht, verschiedene Erfahrungen und Traumata würdigt; als ein Subjekt, das viele Identitätssplitter zusammenführt, wobei keine von diesen Identitäten eine reine ist, sie aber in ihrer Pluralität gewürdigt werden. Die Lebendigkeit der ukrainischen Mehrsprachigkeit wird auch durch die ge‐ stiegene Aufmerksamkeit für Sprachen wie Krimtatarisch belegt, die in weiteren Analysen zur textinternen Mehrsprachigkeit stärker beachtet werden könnten. Dies zeigt sich zum Beispiel im Buch Za Perekopom je zemlja (2023, Es gibt Land jenseits von Perekop) von Anastasija Levkova, das eine starke krimtatarische Komponente mit längeren krimtatarischen Passagen aufweist. Dieser Roman stellt programmatisch die Wahl der ukrainischen bürgerlichen Identität und der damit verbundenen Werte auf der Krim von ethnisch krimtatarischen oder russischen jungen Menschen dar. 36 Annette Werberger (2022) attestiert ein Schrumpfen des ‚polyglotten Erbes‘ der Ukraine. Ich würde allerdings dafür plädieren, weniger von einem Schrumpfen, denn von einer antiimperialen Verschiebung innerhalb eines post‐ monolingualen Kontinuums zu sprechen. Eine weitere Analyse von textinterner 186 Mariya Donska <?page no="187"?> Mehrsprachigkeit in der Ukraine wäre jedenfalls wichtig, um Tendenzen jenseits der analysierten Beispiele nachzuzeichnen. Texte von Osmolovs’ka, Averbuch und Chersons’kyj zeigen verschiedene Facetten der heutigen ukrainischen Gesellschaft mit ihrer Mehrsprachigkeit, Diversität und Diversifizierung, der Wut auf die aus Russland fliegenden Raketen, Aufgaben zur Vergangenheitsbe‐ wältigung, der Hybridität und entwickeln die kulturelle Vielfalt der Ukraine performativ weiter. Literaturverzeichnis A V E R B U C H , Alex (2023). Russophone literature of Ukraine: Self-decolonization, deterrito‐ rialization, reclamation. In: Canadian Slavonic Papers, 65 (2), 146-162. A V E R B U C H , Oleksandr (2021). Žydivs’kyj korol’. Kyïv: Duch i litera. A V E R B U C H , Oleksandr (2022). Oleksandr Averbuch pro poeziju ta mižkul’turni zv’jazky ukraïnciv i evreïv. In: Čytomo. https: / / chytomo.com/ oleksandr-averbukh-pro-poeziiu -ta-mizhkulturni-zv-iazky-ukraintsiv-i-ievreiv/ (Stand: 20.10.2023). B I L A N I U K , Laada (2017-2018). Purism and Pluralism: Language Use Trends in Popular Culture in Ukraine since Independence. 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New York: Fordham University Press. 190 Mariya Donska <?page no="191"?> Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur Andreas Leben Abstract: Multilingualism and asymmetrical relations between languages are among the characteristics of the Slovenian linguistic and cultural area and had a sustained impact on the development of Slovenian literature as well as the emergence of the Slovenian literary system. Phenomena of linguistic diversity can be traced back to the beginnings of Slovenian literature, but were marginalized by the effects of the singular national lan‐ guage paradigm, especially from the last third of the 19 th century onwards. However, since Slovenia’s independence, which has been accompanied by a significant expansion of literary production, an increasing diversity of manifest forms of linguistic diversity can be observed, which makes these phenomena appear to be a frequent constitutive element of contemporary Slovenian literature. Against this background, the article discusses recent forms of manifest multilingualism, taking into account different authors, text types, and aesthetic concepts, to illustrate the diversity of contexts in which forms of manifest literary multilingualism appear and develop their effect. Keywords: Slovenian literature, multilingualism, language diversity, lan‐ guage change, language mixing Wenn die Herausgeber des Handbuchs Literatur und Mehrsprachigkeit darauf hinweisen, dass aus welthistorischer Perspektive „keinesfalls Einsprachigkeit, sondern Mehrsprachigkeit den Normalfall menschlicher Kommunikation dar‐ stellt“ (Dembeck/ Parr 2017: 19), geben sie eine Auffassung wieder, die in der Mehrsprachigkeitsforschung gemeinhin geteilt wird. Die damit einhergehende Kritik am Paradigma der Einsprachigkeit ändert jedoch nichts daran, dass in literatursystemischer Hinsicht sowohl im nationalliterarischen als auch globalen Zusammenhang die Tendenz zur Verwendung oder Aneignung der jeweils dominanten Einzelsprache(n) ungebrochen ist, selbst wenn aus phi‐ <?page no="192"?> 1 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von Yildiz (2012), Dembeck/ Mein (2012), Martyn (2014), Hitzke (2019), McMurtry et al. (2023). lologischer und sprachwissenschaftlicher Sicht „mit Recht“ darauf insistiert wird, „dass Einsprachigkeit weder logisch noch phänomenal existieren kann“ (Gramling 2017: 42). Ähnlich argumentiert Robert Stockhammer (2017: 17) in Nachschärfung seiner Überlegungen über das „Sprachige“ als Medium eines Sprachgeschehens, dass es „Sprache stets nur in Gestalt von Sprachen gibt, die es als ‚Einzelsprachen‘ zugleich nicht gibt“. Till Dembeck (2020: 165) bringt diese Sichtweisen auf den Punkt, wenn er behauptet: „Es gibt keine einsprachigen Texte! “ Trotz aller Befunde, die auf Einsprachigkeit abgestellte Konzepte und Be‐ trachtungsweisen hinterfragen, 1 und auch wenn die Vorstellung, dass „die Literatur einer Region, eines Landes, eines Staatsgebietes ausschließlich in einer einzigen Sprache verfaßt wird, eine allenfalls pragmatisch zu rechtfertigende Fiktion darstellt“, wie Claudia Schmitz-Emans (2004: 11) konstatierte, scheint das Einsprachigkeitsparadigma kaum an Wirkmächtigkeit zu verlieren. Dass hier neben kulturellen Traditionen, Machtverhältnissen im literarischen Feld und wirtschaftlichem Kalkül des Buchmarktes auch politische, gesellschaftliche und ideologische Faktoren zum Tragen kommen, liegt auf der Hand. Auch im slowenischen Kontext wirkte sich das Ideal der Einsprachigkeit, das im langen 19. Jahrhundert in den Prozessen der Nationswerdung und der Herausbildung des modernen Slowenisch eine maßgebliche Rolle spielte (Kosi 2013: 258-360), auf die Erscheinungsformen slowenischer Literatur, deren literaturgeschichtliche Darstellung und die Entwicklung des slowenischen Literatursystems tiefgreifend aus. So wurden anderssprachige Texte oder das Schreiben einer anderen Sprache als dem Slowenischen bis in die jüngere Zeit weitgehend ausgeblendet, was mit Blick auf die europäischen und slawischen Nationalphilologien keine Ausnahme ist. Dies erklärt auch die Selbstverständ‐ lichkeit, mit der im slowenischen kulturellen Zusammenhang wie auch in der internationalen Rezeption slowenischer Literatur gemeinhin davon ausge‐ gangen wurde, dass es sich dabei um Literatur handle, die in slowenischer Sprache geschrieben ist oder sogar geschrieben zu sein hat, um als solche gelten zu können. Diese Wahrnehmung slowenischer Literatur hat sich indessen nach innen wie nach außen verändert. Dazu haben nicht nur die neuere literaturwissenschaft‐ liche Forschung und die sprachlich diverse wie polyphone Literaturproduktion beigetragen, sondern auch literatursystemische Anpassungen. So präsentierte sich das offizielle Slowenien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2023 192 Andreas Leben <?page no="193"?> nicht zuletzt auch als vielsprachiges Literaturland, indem etwa die Englisch Schreibenden Zoe Ashwood, Noah Charney und Erica Johnson-Debeljak in das Spektrum slowenischer Literatur aufgenommen wurden. Maja Haderlap, Fabjan Hafner, Cvetka Lipuš und Florjan Lipuš sowie Dušan Jelinčič und Boris Pahor repräsentierten die Literatur von Angehörigen der slowenischen Minderheit in Österreich und in Italien, die in ihrer slowenischen Erstsprache oder auch auf Deutsch bzw. Italienisch schreiben. Maruša Krese, Ana Marwan, Uroš Prah und Lucija Stupica zählen zum Kreis aus Slowenien migrierter Autor: innen, in dem ebenfalls das Phänomen des Sprachwechsel zu beobachten ist. Den Bereich der Migrationsbzw. postjugoslawischen Literatur in Slowenien machten wiederum Autor: innen wie Esad Babačić, Samira Kentrić und Goran Vojnović greifbar (vgl. die Website sloveniafrankfurt2023). Auch wenn viele Literaturschaffende unberücksichtigt blieben, wie die in Paris lebende Schriftstellerin Brina Svit, der bosnisch-slowenische Lyriker Josip Osti, die mazedonische Lyrikerin Lidija Dimovska sowie Stanislava Chrobáková-Repar, Žanina Mirčevska, Carlos Pas‐ qual und Svetlana Slapšak, um nur einige zu nennen, machte der Gastauftritt Sloweniens deutlich, wie vielfältig und vielsprachig die heutige slowenische Literatur ist. 1. Zur Sprachvielfalt slowenischer Literatur Die sprachliche Vielfalt slowenischer Literatur resultiert nicht nur aus den historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, sondern betrifft auch das Slowenische selbst, das an die 50 Dialekte und zwei regionale schrift‐ sprachliche Varianten aufweist. Zudem hat sich im slowenischen Zentralraum ein hybrider, urban geprägter umgangssprachlicher Slang herausgebildet, der sich ebenso in der Literatur manifestiert wie die Idiome von Migrant: innen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Neben den nach oder aus Slowenien migrierten Autor: innen umfasst dieses Spektrum auch die Literatur der ethnischen Min‐ derheiten. Zur größeren Wahrnehmung dieser Sprachvielfalt haben unter anderem die Arbeiten zur Migrationsliteratur (Žitnik Serafin 2008; Dimkovska 2014) und interkulturellen Slowenistik (Košuta 2008, Borovnik 2017) beigetragen. Wichtige Impulse in der Diskussion hinsichtlich der Position anderssprachiger Autor: innen und deren Texten in Slowenien gingen auch von der Frage aus, wer überhaupt ein slowenischer Schriftsteller bzw. eine slowenische Schrift‐ stellerin sein darf ( Johnson Debeljak 2013). Außerdem wurde das Begriffsfeld slowenischer Literatur einer kritischen Revision unterzogen, das, einem Dis‐ kussionsbeitrag von Miran Hladnik zufolge, wesentlich breiter gefasst werden Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 193 <?page no="194"?> müsse, als dies in den bisherigen slowenischen Literaturgeschichten der Fall sei: Slowenisch als Sprache des Originals sei für die Einordnung eines Textes kein Schlüsselkriterium mehr, vielmehr müssten auch Übersetzungen ins oder aus dem Slowenischen und anderssprachige Literatur slowenischer oder anderer Autor: innen berücksichtigt werden (Hladnik 2013: 323). Diese Anregungen haben den Blick für die Vielsprachigkeit slowenischer Literatur zweifellos geschärft, dennoch ist der Mehrsprachigkeitsdiskurs im slowenischen Zusammenhang ein Nischenthema. Die jüngste Forschung kon‐ statiert sogar, dass die Produktion und Rezeption mehrsprachiger Literatur in Slowenien trotz einiger Schritte in Richtung größerer Wahrnehmung und Bewusstheit von Mehrsprachigkeit rückläufig seien, was einmal mehr auf den Status der slowenischen Sprache zurückgeführt wird, die lange gebraucht habe, um sich als „unumstritten vorherrschende Sprache der slowenischen Kultur“ durchzusetzen (Skapin 2021: 21-22). Die aktuellen Diskurslinien zu inter-, transkulturellen und mehrsprachlichen Aspekten slowenischer Literatur (Borovnik 2022: 7-21) machen jedenfalls deutlich, wie dehnbar und vielschichtig dieser Begriff geworden ist, unge‐ achtet dessen, ob man den Fokus auf Slowenien, den gesamtslowenischen Zusammenhang oder einzelne Regionen slowenischer Literatur richtet. Aus der bisherigen Forschungsliteratur scheint sich bereits ein gewisser Grundstock namhafter Autor: innen herauszukristallisieren, die im Kontext literarischer Mehrsprachigkeit wiederholt behandelt werden. Dass es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs handelt, zeigen schon die hohe Zahl italienisch-slowenischer und österreichisch-slowenischer Autor: innen (Košuta 2019: 208-211, Kohl et al. 2021) oder die Zahl von mindestens 140 migrantischen oder minoritären Autor: innen in Slowenien (Dimkovska 2014: 3, Dimkovska 2019: 190). Sowohl die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als auch die innere Diversität des Slowenischen sagen über die Anwendung von Verfahren literarischer Sprachvielfalt freilich ebenso wenig aus wie der Umstand, dass viele Literatur‐ schaffende in mehr als einer Sprache schreiben und publizieren. Aktuell gibt es zum Gebrauch und den Formen manifester Sprachvielfalt im slowenischen literarischen Kontext zwar einige Einzelstudien, jedoch keine systematische Gesamtdarstellung, wie sie etwa Helmich (2016) für den Sprachwechsel in den neueren romanischen Literaturen vorgelegt hat. Daher lassen sich weder forschungsgestützte Aussagen über die Verbreitung expliziter oder manifester literarischer Mehrsprachigkeit in der fraglichen Literaturproduktion machen noch über die praktizierten Formen und Techniken. Für die Zeit nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Entfaltung sloweni‐ scher Literatur und das Entstehen eines eigenen slowenischen Literatursystems 194 Andreas Leben <?page no="195"?> zum Ausschluss deutschsprachiger Literatur aus dem slowenischen öffentlichen Diskurs, der slowenischen Literaturgeschichte und dem kulturellen Bewusst‐ sein führte (Hladnik 2016: 49), zeigen erste Stichproben, dass Verfahren von Sprachwechsel und Sprachmischung, etwa mit dem Deutschen, Italienischen, Französischen und Varietäten des Serbokroatischen erwartungsgemäß keine Seltenheit sind. Ähnliches gilt für die literarische Moderne rund um Ivan Cankar, der auch selbst, wie schon France Prešeren, Texte in deutscher Sprache verfasste, während etwa die Schriftstellerin Zofka Kveder ins Kroatische wech‐ selte. Auch in der Literatur der Zwischenkriegszeit, speziell in der Avantgarde der 1920er-Jahre, lassen sich Sprachmischung und Sprachwechsel beobachten, ebenso wie in der Literatur der Nachkriegszeit, etwa in Form der Lagersprache bei Vladimir Kralj, sowie bei Autor: innen modernistischer Prosa. Der Dichter Tomaž Šalamun brachte in den 1960er-Jahren in literarische Texte umgangs‐ sprachliche und englische wie auch italienische und serbokroatische Elemente ein, andere bedienten sich slowenischer literarischer Archaismen oder öffneten „mit ihrem Spiel der Signifikanten […] die Türen der Literatur für die Plurali‐ sierung und Hybridisierung der slowenischen Literatursprache mit Fragmenten aus Dialekten, Soziolekten, benachbarten Sprachen und Weltsprachen sowie der ‚Kreolsprache‘ der Zuwanderer“ ( Juvan 2019: 30-31). Die hier angesprochene Pluralisierung und Hybridisierung reicht bereits in die neueste Literaturproduktion hinein und betrifft praktisch alle Formen und Genres, wobei die Zunahme von Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit auf der Textebene und das Schreiben in einer anderen Sprache als Slowenisch ab den frühen 2000er-Jahren nicht mehr zu übersehen sind. Dies korreliert zeitlich auch mit dem neuen Interesse für die interkulturellen Aspekte der slo‐ wenischen Literatur sowie für Texte, die vom standardsprachlichen Gebrauch des Slowenischen abweichen. So gewann etwa auch die regionalsprachlich markierte Literatur von Florjan Lipuš, Marjan Tomšič und Feri Lainšček oder die Mundartlyrik eines Renato Quaglia oder Janez Ramoveš an Beachtung. 2. Beispiele manifester Mehrsprachigkeit Um die Spielarten von Sprachvielfalt auf der textinternen Ebene in ihrer Gesamtheit zu erfassen, müssten neben den manifesten auch die latenten und exkludierten Formen von Mehrsprachigkeit erfasst werden, wie sie Natalia Blum-Barth (2019: 18-24) in ihrem Versuch einer Typologie literarischer Mehr‐ sprachigkeit zusammengefasst hat. Im Weiteren sollen jedoch vor allem die Formen manifester Mehrsprachigkeit in den Mittelpunkt gerückt werden, die auf der Textebene unmittelbar sichtbar sind und auch eine Herausforderung für Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 195 <?page no="196"?> die Rezeption darstellen können. Während Formen der Latenz und Exklusion, etwa das unmarkierte Zitat, Lehnübersetzungen, interlinguale Wortspiele oder Inquit-Formeln und Sprachverweise, weniger auffällig sind, kann die Verwen‐ dung manifester Formen als ein Indiz dafür gelten, dass die Paradigmen der Einsprachigkeit und „Reinheit“ der Sprache bewusst durchbrochen werden sollen. Von daher lässt sich die Anwendung dieser Techniken als sichtbares Zeichen für die Auseinandersetzung mit „kulturellen, sozialen und politischen Implikationen sprachlicher Vielfalt in literarischen Texten“ deuten, die Dem‐ beck (2020: 174) auch als ein Hauptinteresse einer Mehrsprachigkeitsphilologie postuliert. Die folgenden Beispiele nehmen nur einen kleinen Bruchteil der neueren mehrsprachigen Literaturproduktion in den Blick, wobei mit Jani Oswald, Maja Haderlap und Elena Messner ein erster Fokus auf textuelle Mehrsprachigkeit in der Literatur kärntnerslowenischer Autor: innen gelegt wird, gefolgt von der in Österreich lebenden, slowenisch wie deutsch schreibenden Autorin Ana Marwan. Goran Vojnović ist einer der namhaftesten Vertreter der aktuellen Migrationssowie postjugoslawischen Literatur in Slowenien, während die Texte von Vinko Möderndorfer und Boris A. Novak die Implikationen von sprachlicher Vielfalt auf das 20. Jahrhundert erweitern. Die Auswahl soll somit unterschiedliche Referenz- und Entstehungskontexte umreißen, in denen sich die Formen manifester Mehrsprachigkeit ausgehend von den jeweiligen Ästhetiken und Schreibstilen entfalten. 2.1 Jani Oswald, Maja Haderlap, Elena Messner Beginnen wir mit dem kärntnerslowenischen Zusammenhang, in dem Formen von textueller Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel schon in den frühen 1970er-Jahren deutlich in Erscheinung treten (vgl. Kohl et al. 2021: 27-37). Sie betreffen vor allem das Slowenische und Deutsche und resultieren aus der thematischen Bindung an die zweisprachige Lebenswelt und der Darstel‐ lung damit verbundener Kommunikationssituationen. Als wichtigster Vertreter zwei- und mehrsprachiger Literatur ist Janko Messner zu nennen, der mit dem Prosaband Ansichtskarten von Kärnten (1971) sein literarisches Debüt gab und mit einer Reihe gesellschaftspolitisch engagierter Texte die Öffentlichkeit auf die Situation und Probleme der slowenischen Minderheit aufmerksam machte. Messners Gesamtwerk umfasst neben deutscher und slowenischer Prosa auch slowenische Dialektliteratur, zweisprachige dramatische Texte und slowenische Lyrik, die in weiten Teilen auch in der Übersetzung in die jeweils andere Sprache vorliegen. Formen manifester Mehrsprachigkeit betreffen in seinen Texten 196 Andreas Leben <?page no="197"?> insbesondere die Figurenrede sowie die Verwendung von Zitaten, Realien und Toponymen. Nicht selten ist der Sprachwechsel ins Deutsche signifikant hervorgehoben, wobei auch zahlreiche sprachmittlerische Stellen zu finden sind, insbesondere in den Text integrierte Übersetzungen ins Slowenische, da seine Texte, etwa der Auswahlband Skurne storije (1975), auch in Slowenien publiziert wurden. Ebenso sind bei einigen anderen Autor: innen rund um die Literatur‐ zeitschrift mladje in dieser Zeit manifeste Formen von Mehrsprachigkeit zu finden (Kohl 2020: 95-98); insgesamt bewegt sich jedoch die Zahl in größerem Umfang zwei- oder mehrsprachiger Texte in überschaubaren Grenzen. Das Bild zweisprachiger kärntnerslowenischer Literatur änderte sich grundlegend mit dem Lyriker Jani Oswald, der in seiner Poesie gänzlich neue Möglichkeiten im künstlerischen Umgang mit der sprachlichen Viel‐ falt der Region und dem Instrumentarium literarischer Mehrsprachigkeit zu erschließen begann. Sein 1992 erschienener Gedichtband Babilon. Babylon wurde auch zu einer zentralen Referenz in den Forschungsarbeiten zur mehrsprachigen Literatur in der Alpen-Adria-Region und zur interkulturellen Germanistik. Oswald erhob Sprachwechsel, Sprachmischung und Sprachspiel zum poetischen Prinzip seines dichterischen Werks, aus dem er im Band Non minus ultra (2017) eine umfassende Auswahl vorlegte. Seine Poetik basiert auf der Verwendung verschiedener Sprachen und Idiome, die bis hinunter auf die phonetische Ebene zerlegt, kombiniert und variiert werden, was zu unter‐ schiedlichen semantischen Perspektivierungen des Wortmaterials führt und mehrere Lesarten ermöglicht. Slowenisch und Deutsch sind in der Regel die Basissprachen, die mit englischen, französischen, italienischen, lateinischen, spanischen, südslawischen, russischen (kyrillischen) und anderen Elementen kombiniert werden, ebenso wie mit slowenischem und deutschem Dialekt oder zentralslowenischem Slang. Zugleich ist die an der Avantgarde geschulte Poetik Oswalds hochgradig intertextuell, indem sie Anleihen bei H. C. Artmann, Matej Bor, Paul Celan, Karel Destovnik-Kajuh, Carlo Gesualdo, Srečko Kosovel, Christine Lavant, France Prešeren und Oton Župančič nimmt oder Versatzstücke aus der Folklore, Musik und Popkultur zitiert, parodiert und verfremdet. Thematisch referenzieren die Gedichte auf den kärntnerslowenischen und überregionalen Zusammenhang ebenso wie auf die Jugoslawienkriege, den Finanzkapitalismus oder die Flücht‐ lingsproblematik. Auch wenn der Umgang mit den Verfahren und Formen von Sprachmischung spielerisch und amüsant wirkt, ist der gesellschaftskritische wie mitunter selbstbefragende Unterton nicht zu überhören. Viele Gedichte basieren auf translatorischen Zugängen und Techniken, was sich auch auf die rezeptive Dimension der Sprachmischungen auswirkt. Durchgängig zweispra‐ Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 197 <?page no="198"?> chig gestaltete Gedichte wie das programmatische „Jaz Ich“ - „Ich ljubim │ liebe svoj mein │ dvojni │ doppeltes jaz-ich“ - aus dem Jahr 1992 (Oswald 2017: 36-37) gehören hier ebenso zum Repertoire wie Doppelgedichte, die einmal in (primär) slowenischer, ein andermal in (primär) deutscher Basissprache verfasst sind und in die jeweils andere Sprache bzw. eine Sprachmischung transformiert werden. Ein solches Beispiel sind die Gedichte „Nova ordninga“ und „Neue alte Ordnung“ (1992), aus denen hier die ersten Verszeilen wiedergegeben werden, die zugleich illustrieren, wie durch die Umformung in die andere Sprache auch die semantischen Felder und sprachlichen Anleihen und Assoziationen variieren. Spomini naprej│spomini│na prej│remember│spremember the times│de tajnih│ge‐ heimich│me members│in times│terms│and konec│debate (Oswald 2017: 68) Erinnerungen an│Veräußerungen│remember│veränderte times│the tajne│ge‐ heime│mich memberts│in times│rechtzeitig│reim’s│terms│and Ende│der Watte│Debatte (Oswald 2017: 69) Um einen Eindruck von der Komplexität von Oswalds Mehrsprachigkeitspoetik zu vermitteln, sei hier das Gedicht „Eastland“ (49) in vollem Umfang angeführt. - Eastland - - Ist Land Eis Lend - - aufgetaufrischt - Eastland west go - - noče iti buenas - noches lahkos nočos - - podoma če pišme - v Banana split - nakit na rit - - ? nanu - primite tatoo - - ist der Balkan - in uns allen - - ? auffer blüht - ist nicht rein die Rein - gewaschen in der - - Hände Unschuld 198 Andreas Leben <?page no="199"?> aufgefrischtaut - - dober tek na - - Mahlzeit na - zmrzišču preživeti - - je deviza je - dejala mi devica - - Koroschitza - (2013) - Diese Poetik der Vielsprachigkeit, die im Frühwerk auch Formen konkreter Poesie umfasst, macht Oswald zu einem profilierten Vertreter sprachlich hy‐ brider, translationaler und transnationaler Literatur, die sich jeglichen Einspra‐ chigkeitsmodellen entzieht. Diese Unverkennbarkeit mag auch ein Grund dafür sein, dass im kärntnerslowenischen Zusammenhang über die Lyrik hinaus kaum vergleichbare ästhetische Zugänge zu verzeichnen sind. Doch auch im Allgemeinen sind in der Literatur aus den Reihen der slowenischen Minderheit explizite Formen von Sprachmischung oder Sprachwechsel nicht allzu oft zu finden, weder in slowenischen noch in deutschsprachigen Texten, wie dies auch im Prosawerk von Maja Haderlap und Elena Messner der Fall ist. In Haderlaps Romanen Engel des Vergessens (2011) und Nachtfrauen (2023) begegnet man dem Slowenischen in Toponymen, Eigenamen, einzelnen Worten, Mnemolexemen, kurzen Syntagmen, Zitaten aus Liedern und Gebeten, wodurch sie sich kaum von den Texten anderer deutschschreibender Autor: innen unter‐ scheiden, die sich ebenfalls auf den slowenischen oder kärntnerslowenischen Zusammenhang beziehen (vgl. Kohl et al. 2021: 118-120). Zu einem manifesten Wechsel ins Slowenische kommt es nur an wenigen Stellen, wobei diese Pas‐ sagen nicht immer auf Deutsch wiederholt oder paraphrasiert werden. So stehen im Roman Nachfrauen, der im fiktiven Südkärntner Ort Jauendorf angesiedelt ist, die umgangssprachlichen Wendungen „saj nisem šlampsta“ (bin ja nicht schlampig) (Haderlap 2023: 26) und „prmojduš“ (meiner Seel) (277) ebenso für sich wie das slowenische „Gegrüßet seist du, Maria“ (72) oder das nicht ausgewiesene Simon Gregorčič-Zitat: „Kot zamaknjena kleči gori v prvem stoli, na oltar ti vpre oči in ponižno moli“ (Wie entrückt kniet sie oben im ersten Gestühl, blickt zum Altar und betet demütig) (242). An anderer Stelle stößt man wiederum auf parallele Formen wie „Ich bin schon da, sem že prišva“ (19), „Ati, kje si, wo bist du? “ (75) und „Smrt fašizmu, svoboda narodu, Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volk“ (270). Ein kurzer slowenischer Brieftext wird im Original zitiert (269), der daran anschließende Inhalt eines slowenischen Berichts wird nur auf Deutsch paraphrasiert. Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 199 <?page no="200"?> Während manifeste Formen von Mehrsprachigkeit nur selten vorkommen und sich in der Basissprache kaum offensichtliche Spuren des Slowenischen eru‐ ieren lassen, sind beide Romane von latenter und exkludierter Mehrsprachigkeit geradezu durchwoben. Oder wie sich mit Neidlinger und Pasewalck (2021: 169) sagen lässt: sie sind auf der Ebene des discours Deutsch, auf der Ebene der histoire weitgehend Slowenisch. Dieser lebensweltliche Bezug ist auch ein Mitgrund, weshalb der Roman Engel des Vergessens spätestens seit seiner Übertragung ins Slowenische auch als Teil slowenischer Literatur kanonisiert wurde, wie dies auch für den Roman Nachfrauen zu erwarten ist. Anders verhält es sich mit den Romanen Elena Messners, von denen sich nur ein Teil auf den slowenischen Zusammenhang bezieht und die auch nicht in slowenischer Übersetzung vorliegen. Bezugspunkte zu Slowenien und Kärnten finden sich in ihrem Erstling Das lange Echo (2014), der aus historischer und erinnerungskultureller Perspektive den Ersten Weltkrieg behandelt, während Nebelmaschine (2020) inhaltlich geradezu ein Kärnten-Roman ist: auf den zwei‐ sprachigen Raum als Ort des Geschehens wird nur in flüchtigen Erwähnungen oder Textstellen wie „dragi moj, ein moja draga hier, ein nobl možej dort“ (Messner 2000: 37) hingewiesen. Auch wenn Messner von expliziter Mehrspra‐ chigkeit fast vollständig absieht, setzt sie sprachliche Interferenzen mit dem Slowenischen als Stilmittel ein, so auch im Roman In die Transitzone, wie hier aus der Verwendung des Verbalaspekts sichtbar wird: „Annie hatte begonnen, pausenlos zu brüllen“ (Messner 2016: 68). 2.2 Ana Marwan Diese Beobachtungen führen uns zu der in Wien lebenden Schriftstellerin Ana Marwan, die sowohl auf Deutsch als auch Slowenisch schreibt. 2019 veröffentlichte sie den Roman Der Kreis des Weberknechts (slow. Lipitsch), 2021 folgte der Roman Zabubljena (dt. Verpuppt), 2022 gewann sie den Ingeborg-Bach‐ mann-Preis mit der Erzählung Wechselkröte. Alle genannten Texte sind in die jeweils andere Sprache übersetzt und zeigen wie die Romane von Messner und Haderlap einen ökonomischen Umgang mit manifester Mehrsprachigkeit. In Der Kreis des Weberknechts wird der Bezug zum Slowenischen schon früh hergestellt, indem die Verszeile einer slowenischen Lyrikerin im Original zitiert wird: „Od rojstva se zavijaš v tisočere niti, pa nikoli ne boš metulj. Mila Kačič“ (Marvan 2019: 21). In der Fußnote wird zwar eine Übersetzung nachgereicht, 200 Andreas Leben <?page no="201"?> 2 „Von Geburt an wickelst Du Dich in tausend Fäden ein, aber Du wirst nie ein Schmetterling werden.“ (ebd.) die Sprache, in der die Verszeile geschrieben ist, wird jedoch nicht benannt. 2 Im Text gibt es noch einige weitere subtile Hinweise auf das Slowenische, etwa indem man erfährt, dass der Protagonist Karl Lipitsch, ein zurückgezogen lebender Schriftsteller, der in einer Schreibkrise steckt, von dort stamme, wo es unüblich sei, „ein Mädchen Mathilda zu nennen; man nannte so den Tod, wenn man ihn bei einem Namen nennen wollte“ (139). Mathilda ist der Name der Nachbarin, wobei auch der Name Lipitsch, ähnlich wie Tschapka und Rotko, eine slowenische oder zumindest slawische Färbung aufweisen. Andere Formen manifester Mehrsprachigkeit betreffen das Lateinische, in der Figurenrede das Französische sowie ein Originalzitat aus Virginia Woolfs The Waves. Eine Lehnübersetzung aus dem Slowenischen und damit eine latent mehrsprachige Form ist wiederum die Redewendung: „Die Gewohnheit ist ein eisernes Hemd“ (navada je železna srajca) (26), die am Ende der Erzählung in dem Buch, an dem Lipitsch geschrieben zu haben scheint, noch einmal aufgegriffen wird (190). Ähnliche Verfahren verwendet Marwan im Roman Zabubljena, der sich aus Beobachtungen, Gedanken, Phantasien und Aufzeichnungen der jungen Rita zusammensetzt, die sich aus therapeutischen Gründen in einer psychiatri‐ schen Einrichtung aufhält. Hier trägt eine der Figuren den deutsch klingenden Namen Karolina Klammer. Sie liest Bachmann, Heidegger, Hegel und andere Philosophen und wird an ihrem 48. Geburtstag von einem Gast gefragt, ob sie aus Kärnten sei, weil sie das R nicht rollend, sondern als gutturalen Kehllaut ausspreche. Auch wenn sie erwidert, sie sei aus Ljubljana, macht sie dieser ‚Sprachfehler‘ in den Augen einer der Figuren zu einer Fremden (Marwan 2021: 14, 15). In Verbindung mit dem bürgerlich-intellektuellen Milieu der Handlung wird an etlichen Stellen in Form von Einwort-Referenzen, kurzen Syntagmen und Zitaten ins Französische, Lateinische, Altgriechische, Italienische, Spanische oder Englische gewechselt. Auf das Deutsche verweist lediglich das Einzelwort „gemein“ (67) im Sinn von gewöhnlich, dessen sich einer der Protagnisten entsinnt, der es wiederum von einem seiner Lehrer übernommen zu haben glaubt. Gegen Ende des Romans erfolgt ein Wechsel in eine scheinbare Phantasiesprache, tatsächlich aber ist auf 17 Buchseiten nachzulesen, was Rita in den vergangenen sechs Wochen auf ihrer Schreibmaschine getippt hat, um schließ‐ lich festzustellen, dass kein einziges Wort einen Sinn ergibt: Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 201 <?page no="202"?> Skjgk dklasč difu, difk fjašem urrt. Goieweo sdflkjew, oewru, ru. Pierwkjlra, hfn, dflkjsdf sdofisdf siofšp, arerug io pooakjl ffg. Qsiyjl! oeirwje tjrt, irurn kfjm, osirfr kdjfoi fkj. Ifns hhjhhtowpet q, tqwoeiutqwer, wer poqirq! sputpwej? E jtwet - rtrt ejwqoeu, qweurwoim drit iu, oiuer, iqšprekjqhč, eoirqowi qwrwoieršw iei oioi oioi km. Liočrkwq, ewkje iiui, wieuroiu: erlkjr, petqwjetho, powuetpuw, kjpoi. Rwegjaj, ieutqop werqw ilkejropiwr lerj in ksjwewe sweor, wjehoqwi, oiweroiu. (Marwan 2021: 179) Auf den letzten Seiten Romans stößt man wie schon im Kreis des Weberknechts auf eine Handzeichnung (199), die Skizze einer angelehnten Tür, denn Rita steht offenbar die Entlassung aus der Psychiatrie bevor. In beiden Romanen arbeitet Marwan auf unterschiedliche Weise mit den Semantiken und der Zeichenhaftigkeit von Sprache, charakteristisch ist aber auch, dass sie mit manifestem deutsch-slowenischen Sprachwechsel sehr gezielt umgeht. 2.3 Goran Vojnović Geradezu überbordend sind hingegen die Formen und die Häufigkeit von Sprachwechsel und Sprachmischung in den Romanen von Goran Vojnović, insbesondere in seinem Erfolgsroman Čefurji raus! (2008, dt. Tschefuren raus! ), mit dem er ein hybrides literarisches Idiom geformt hat, das sich einerseits am slowenischen Slang Ljubljanas orientiert und andererseits in Lexik, Syntax, Phraseologie und Orthografie mit südslawischen Idiomen interfriert, wie sie in Slowenien gesprochen werden. Der Sprecher dieses Idioms, für das sich in Slowenien die Bezeichnung ‚če‐ furščina‘ (übersetzbar mit ‚Jugo-Sprache‘) eingebürgert hat, ist der jugendliche Protagonist Marko Đorđić, der mit seiner Familie im Stadtteil Fužine lebt und das dortige triste Leben wie auch die Spannungen zwischen Tschefuren und Slowenen bildhaft und emotional in einem langen erzählerischen Monolog schildert und erklärt. Innerhalb dieses Monologs kommt es durch die Figuren‐ rede anderer Protagonisten auch zu einem Wechsel in graduell unterschiedliche Idiome, weiters wechselt Marko selbst in das Idiom seiner Eltern, das sich von jenem der zweiten Zuwanderergeneration unterscheidet. Zudem fließen in den Slang der Protagnisten und die Sprache des Erzählers auch Germanismen und Anglizismen ein. Hybride, umgangssprachliche Formen von Sprachwechsel und Sprachmi‐ schung dieses Typs, wie sie schon im Roman Fužinski blues (2001) von Andrej E. Skubic zu finden sind (Koron 2019: 174), sind heute in der slowenischen Literatur durchaus verbreitet. Wie auch andere Formen von Sprachwechsel und Sprachmischung, die Bosnisch/ Kroatisch/ Montenegrinisch/ Serbisch als 202 Andreas Leben <?page no="203"?> 3 Unter Einbettungssprachen werden hier jene Sprachen verstanden, die in die Basis- oder Trägersprache eines Textes integriert sind. 4 „Bosnien verarscht dich immer vorschriftsmäßig, mein Freund. Du weißt, dass es im Arsch ist, nur ist es noch viel mehr im Arsch, als du glaubst. […] Gut, vielleicht war am Anfang noch alles in Ordnung, bis alle kapiert hatten, dass ich nicht nur auf Kaffee und Kuchen gekommen war. […] ‚Was machst du denn hier? Was ist? Was geht? Bis wann bleibst? Mašala. Ciao, man sieht sich.‘ Aber als die Bosnier herausgefunden hatten, dass ich nach Visoko gekommen war, um zu bleiben, wurde es langsam unangenehm. ‚Ein Đorđić mehr‘ bedeutet auf Neubosnisch ‚ein Serbe mehr‘“. (Vojnović 2023: 24) Einbettungssprachen 3 betreffen, werden diese Textstellen im Allgemeinen nicht ins Slowenische übersetzt, so auch nicht in Vojnovićs Romanen Jugoslavija, moja dežela (2013, Vatersland) und Figa (2016, Unter dem Feigenbaum). Auch wenn davon auszugehen ist, dass die slowenischen Leser: innen Texte wie Vojnovićs Čefurfji raus! nicht hundertprozentig verstehen, scheinen die südslawischen Elemente die Lektüre nicht allzu sehr zu erschweren (Strsoglavec 2010: 85). Die in den beiden oben erwähnten Romanen von Vojnović verwendeten Verfahren expliziter Mehrsprachigkeit erreichen nicht die Komplexität wie in seinem Romanerstling und in dessen Fortsetzung Đorđić se vrača (2021, 18 Kilometer bis Ljubljana). Wieder erzählt Marko, der nach zehn Jahren in Bosnien nach Fužine zurückgekehrt ist und alles verändert vorfindet, aus seiner Lebens- und Erfahrungswelt und von den internen und sozialen Problemen seines familiären Umfelds. Dabei dürfte Vojnović durchaus sprachliche Konzessionen gemacht haben, denn eigenen Aussagen zufolge habe er versucht, sich so weit wie möglich der Leserschaft und dem Slowenischen anzupassen und zugleich die Sprachmuster seines ersten Romans beizubehalten (Golja 2022). Nichtsdestotrotz erfordert die Lektüre des Textes weit über das Slowenische hinausgehende Kenntnisse, wie die folgende Szene aus dem bosnischen Visoko zeigt: Bosna te, jarane, vedno propisno zajebe. Veš ti, da je ona v kurcu, samo ona je vedno v veliko večjem kurcu, kot se tebi čini. […] Ajde, mogoče je bilo na začetku še v redu, dokler še niso vsi skontali, da nisem samo prišel samo na kafu i kolače. […] „Đe z ba? Kako je? Ša ima? Do kad ostaješ? Mašala. Haj, vidimo se.” Ko pa so Bosanci razbosančili, da sem jaz v Visoko prišel ostat, je pa počasi ratal belaj. „Jedan Đorđić više“ je v prevodu na novobosanski pomenilo “Jedan Srbin više”. (Vojnović 2021: 30) 4 Abermals sind die Übergänge zwischen den Idiomen fließend, sodass zwischen Sprachmischung und Sprachwechsel keine scharfen Grenzen gezogen werden können. Durch den hohen Grad an sprachlicher Hybridität erklärt sich auch, dass in beiden Đorđić-Romanen, anders als in der slowenischen Erzählprosa Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 203 <?page no="204"?> beim Wechsel in eine andere Sprache üblich, keine Kursivsetzungen zu finden sind. 2.4 Vinko Möderndorfer Neben den südslawischen Varietäten zählt das Deutsche zu jenen Einbettungs‐ sprachen, die in der älteren wie neueren slowenischen Erzählprosa in größerem Umfang verwendet werden. Dies ist, wie schon erwähnt, weniger in Texten von Angehörigen der slowenischen Minderheit in Kärnten der Fall, sondern tendenziell öfter in der Literatur von Autor: innen aus Slowenien. Auch in diesem Fall ist der Wechsel vom Slowenischen ins Deutsche oft an konkrete historische, kulturelle und lebensweltliche Zusammenhänge gebunden, etwa an die Zeit der Habsburgermonarchie und deren sprachliches Erbe, an den Zweiten Weltkrieg oder an familiäre Konstellationen. Ein Bezugspunkt ist mitunter auch die deutschsprachige Minderheit in Slowenien, etwa in Drago Jančars Roman Ob nastanku sveta (2022, Als die Welt entstand), der im Maribor der 1950er-Jahre angesiedelt ist und in der Figurenrede an einigen Stellen das Deutsch der Einwohner anklingen lässt ( Jančar 2022: 30). Wie ein Blick auf andere Texte mit manifestem Sprachwechsel ins Deutsche zeigt, werden die betreffenden Passagen im Regelfall ins Slowenische übersetzt und in den Fußnoten angeführt. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Kriegs- und Familienchronik Prišleki (1984/ 85, Die Zugereisten) von Lojze Kovačič. Das deutsche bzw. Schweizer Idiom, das die Familie Kovačič nach ihrer Ausweisung aus Basel nach Slowenien mitbringen, ist ein integraler Teil der Erzählsprache wie auch des Autors, der sich das Slowenische erst aneignen musste. In der Figurenrede gibt er wieder, wie in der Familie gesprochen wurde, z. B. in dieser Szene, in der der etwa zehnjährige Ich-Erzähler mit seiner Nichte spielt: „Salut! Guten Tag, Gisela! Guten Tag! “ Postal sem zajec in pomolil Giseli taco, stresel sem njeno rokico, ki je imela majceno žilo in Gisela je pozdravila v zadregi: „Guten Tag, Hasli, was machts? “ „Ich laufe im Walde und warte auf Gisela“ je odgovoril zajec … Gisela je zardela in oklevaje rekla: „Weisch, der Boot isch zu langsam gffare…“ „Er isch halt recht a Remorker. Gehen wir in den Wald. Der Wald ist schwarz.“ … „Wart, dort isch a Heks“ je rekla. „Die will uns fressen! “ „Wir schmeissen sie ins Feuer.“ (Kovačič 1984: 25) Unter den neueren slowenischen Romanen weist der Kriegs- und Familien‐ roman Druga preteklost (2017, Die andere Vergangenheit) von Vinko Mödern‐ dorfer einen besonders hohen Anteil an manifester Mehrsprachigkeit auf. Über drei Generationen hinweg wird das Schicksal der slowenischen Wirts- und Bür‐ 204 Andreas Leben <?page no="205"?> germeisterfamilie Novak und deren Nachkommen, der aus Bayern stammenden Großgrundbesitzerfamilie Eichhein und des kommunistischen Arbeiterführers Bregar erzählt, die alle - früher oder später - ein verwandtschaftliches Ver‐ hältnis miteinander verbindet. Die Handlung ist in einem fiktiven Ort namens Dolina angesiedelt, irgendwo in einem weitläufigen Waldgebiet, wo vor dem Zweiten Weltkrieg die soziale Elite Deutsch und die einfache Bevölkerung Slowenisch spricht und nach dem Krieg mit den Besatzern auch die deutsche Sprache aus der Region verschwindet. Manifeste Formen von Mehrsprachigkeit sind vor allem in den ersten beiden Teilen des Romans zu finden, im dritten Teil unter anderem im Zusammenhang mit einem der Novak-Söhne, der nach dem Krieg nach München ausgewandert ist und das Slowenische fast schon verlernt hat, sowie in den Erinnerungen der drei Söhne an ihre Kindheit und die verschollene Mutter. Weitere Einbettungs‐ sprachen sind an einigen wenigen Stellen (bosnisches) Serbisch und Russisch (in kyrillischer Schrift), die ins Slowenische übersetzt sind. Die Mehrsprachigkeit äußert sich zumeist in der Figurenrede, aber auch auf der Erzählebene, darunter in Hinweisen auf deutsche und zweisprachige Aufschriften und in vielen Namen. Zu Sprachwechsel und Sprachmischung kommt es sowohl auf der syntaktischen als auch der lexikalischen Ebene, etwa in der Bezeichnung „kurbenhaus“ für Bordell (Möderndorfer 2017: 37) oder wenn bei der ersten slowenischen Theateraufführung im Ort einer der Darstellerinnen, einer slowenischen Dienstbotin, ausgerechnet der slowenische Text nicht einfällt und sie ins Deutsche wechselt: „Ich gebe das Geld nicht her! O, ne! “ (59). Daneben unterstreichen Germanismen wie „ni trpel drugih frocev“ (er duldete keine anderen Fratzen) (121), „kotle poribat“ (Kessel ausreiben) (151), „sem šparala“ (ich habe gespart) (267), oder „brkat dojčer“ (der bärtige Deutsche) (498) den umgangssprachlichen Ton von Gesprächssituationen. Zitiert werden die Lieder „Lili Marlen“ und „O, du lieber Augustin“, eine Kapitelüberschrift lautet „In einem separaten Raum“ (751) und eine weitere „Po vseh višavah je mir“ (‚Über allen Gipfeln ist Ruh’) (795), mit dem Verweis, dass es sich um ein Goethe-Zitat handelt. Mitunter ist in den Sprachwechsel auch die funktionell eingeschränkte Zwei‐ sprachigkeit der Bewohner Dolinas einschrieben, etwa in die Figurenrede des Familienpatriarchen Oto von Eichhein, dessen Vorname aus einem amtlichen Versehen nur ein T aufweist. Sein Slowenisch, zu dem er sich manchmal durchringt, interferiert mit dem Deutschen, in dem sich an manchen Stellen offensichtliche sprachliche Ungereimtheiten und Fehler offenbaren. So heißt es an einer Stelle, wo sich Oto seinem Gegenüber auf Slowenisch verständlich Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 205 <?page no="206"?> 5 „Herzlich willkommen! Ich werde po wasche zu euch sprechen, weil ich weiß, dass ihr zwar Deutsch versteht, aber viele von euch es nicht verstehen wollen. Ich weiß das. Ich bin gut informiert. Na, ich bin nicht so oft unter euch, das werfen mir gewisse Leute auch vor, aber jetzt bin ich da, weil ich euch etwas Wichtiges mitteilen möchte. Der Tod unseres geschätzten Bürgermeisters und meines großen Freundes Ivan Novak hat uns alle tief erschüttert.“ (Möderndorfer 2023: 179). 6 „Stimmen waren zu hören: Banditen! Mörder! Schaut euch das Gesindel an! Lasst sie verrecken! Sie sind schuld am Krieg. Kommunisten! Da schau her, bist gestolpert? Ich habe acht Menschen getötet und noch viele andere Verbrechen verübt. Und Lachen. Und Pfeifen. Geschieht euch recht. Pfui! Pfui Teufel! Es wurde gespuckt. Eine Frau kreischte hysterisch: Den da kenn ich! Den kenn ich, diesen Halunken! Er war immer schon ein Halunke! Der Umzug, der immer mehr Begleiter anzog, ging am Marktplatz, machen will: „Takoj ko sem vstopil v Bibliothek, sem videl prazen Raum...“ (Mö‐ derndorfer 2017: 166). Die wörtliche Übersetzung dieses Satzes lautet: „Sofort, als ich die Bibliothek betreten habe, habe ich den leeren Raum gesehen […].“ Gemeint ist allerdings die Lücke, die ein fehlendes Buch im Regal hinterlassen hatte. An anderer Stelle werden Oto wiederum durchaus gute Slowenischkennt‐ nisse zugestanden, etwa in seiner Rede vor der versammelten Arbeiterschaft in seinem Sägewerk: Herzlich Willkommen! Bom govoril po vaše, ker vem, da sicer razumete nemško, vas je pa veliko takšnih, ki nočete razumeti. Vem to. Sem obveščen dobro. No, jedoch, malokdaj pridem med vas, to mi nekateri tudi očitajo, zdaj sem prišel, ker bi vam rad nekaj važnega mitteilen. Vse nas je zelo pretresla smrt našega dragega in mojega großer Freund, gospoda župana Ivana Novaka. (Möderndorfer 2017: 190) 5 Mit der Okkupation des Gebiets durch die Wehrmacht rückt das Deutsche als Militär- und Befehlssprache in den Vordergrund und wird zur Sprache der Besatzer und Menschenschinder, aber auch der Mitläufer, die den Partisanen‐ widerstand ablehnen: Slišijo se glasovi: Banditi! Mördrer! [sic] Sehen sie die Bastarde! Lassen sie die sterben! Sie sind schuld für den Krieg. Kommunisten! Seht ihn, bist du hingefallen? Ich habe acht Menschen getötet und noch viele andere Verbrechen verübt. In smeh. In žvižganje. Geschieht euch recht. Pfui! Igitt! ! Pljuvanje. Neka ženska histerično kriči: Diesen da kenne ich! Ich kenne ihn! Der Bastard. Er war immer schon ein Bastard! Povorka, ki je imela vedno več spremljevalcev, se je mimo tržnice in potem ob mestni hiši, pa mimo Kulturzentruma usmerila do visokega belega zidu ob velikem kostanju. (Möderndorfer 2017: 520) 6 206 Andreas Leben <?page no="207"?> am Rathaus und am Kulturhaus vorbei und dann zu der hohen weißen Mauer beim großen Kastanienbaum.“ (Möderndorfer 2023: 487-488) Auch diese Textstelle zeigt, dass die Verwendung des Deutschen Probleme bereitet und es sich mitunter um Übersetzungen aus dem Slowenischen handeln dürfte. 2.5 Boris A. Novak Zu den auch in sprachlicher Hinsicht bemerkenswertesten Texten der jüngeren Zeit zählt das aus 44.000 Versen bestehende dreibändige Epos Vrata nepovrata (Tor ohne Wiederkehr) von Boris A. Novak, der nach dessen Erscheinen mit dem Großen Prešeren-Preis ausgezeichnet wurde, der höchsten Anerkennung, die das offizielle Slowenien für herausragende künstlerische Leistungen ver‐ gibt. Wie kaum in einem anderen slowenischen dichterischen Werk begegnet man hier auf verschiedenen Ebenen einer Vielzahl von Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit. Schon das Genre des Epos und die verwendeten Versformen legen die Frage nach der Übertragung von Versbaumustern als Form des Sprachwechsels nahe, wobei das epische Subjekt, das mit dem Autor identifiziert werden kann, mit Dante, Homer, Vergil, Ovid, Milton und anderen Dichtern in Dialog tritt. Inhaltlich rollt Novak in seinem Opus magnum auch die eigene Fa‐ milien- und Verwandtschaftsgeschichte über drei Generationen sowie zentrale Kapitel aus der österreichisch-jugoslawisch-slowenischen Geschichte bis zu den Jugoslawienkriegen und den Flüchtlingsströmen der Gegenwart auf. In zahlreichen Gedichten wird vom Slowenischen ins Deutsche, Englische, Französische, Italienische, Lateinische, Russische, zu Varietäten des Serbokroa‐ tischen und andere Sprachen gewechselt, jeweils in Einklang mit den Bewe‐ gungen des epischen Subjekts durch Raum und Zeit, die er umreißt und durchwandert, oder auch in Verbindung mit expliziten Referenzen und Zitaten, die von Dante, Faulkner, Verlaine und Bob Dylan, Sprüchen und Graffitis bis hin zur Familienkorrespondenz reichen. Ebenso facettenreich sind die Sprachmischungen verschiedenster Form, seien es deutsche Bezeichnungen für slowenische topographische Begriffe, anderssprachige Realien oder kulturelle Embleme wie „Gemütlichkeit“, „Sacher torte“ und „moschelen met frits“. Nicht selten überwiegt das Nebeneinander von Sprachen, wie in den Syntagmen „češki echt kristal“ und „domovina pa je Heimat (Novak 2014: 47, 182) oder „Blitzkrieg pogledi“ (Novak 2015: 531). Auch umgangssprachliche Ausdrücke wie „muskontarji“ und „se pofočkajo“ (Novak Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 207 <?page no="208"?> 7 „Für diesen Besuch setzte sie ihre Geburtsmaske auf, │ eine echte Deutsche, Jungfrau aus der alten, vergessenen Zeit │- es heißt: das Kostüm bis zum Hals, graues Hütchen, dezente Schminke … ││ Ruhig und kalt klang ihr adelgeborener Alt: │ Ich habe diesen Menschen nie gesehen, ich kenne diese Person nicht, │ aber ich kenne Sie, Sie sind ein Marburger Deutscher, nicht wahr? “ (Übers. A. L.) 2014: 31, 126) sind zu finden, sogar überlieferte familiäre Bezeichnungen für Putzlappen: „ta šmucig“, „ta glanc“, „ta zauber“, „ta šik“ (Novak 2015: 98-99). Auch mehrsprachige Situationen werden rekonstruiert, erinnert oder imagi‐ niert, so etwa die Begegnung von Frauen aus verschiedenen Ländern im KZ Ravensbrück: „- Ich bin Mara, aus Jugoslawien, Marburg an der Drau. │ - Und ich bin Milena, aus der Tschechoslowakei, │ aus dem goldenen Prag …“ (Novak 2015: 461). Ebenso gibt es längere Dialoge im Wechselspiel von Slowenisch und Bosnisch oder Serbisch, etwa im Zusammenhang mit Haft und Internierung in der Kriegs- und Nachkriegszeit (ebd.: 307-319), wobei Letztere auch als Basissprache fungieren können (Novak 2017: 279-282). Unter den verschiedenen Strophenformen überwiegt die Terzine, wobei im unten angeführten Beispiel dem ersten Gedicht, einem Nebeneinander von Slowenisch und Deutsch, eine mit ihm korrespondierende kurze Versform in deutscher Sprache zur Seite gestellt wird. Zur Veranschaulichung seien hier in einer graphisch nicht ganz exakten Nachbildung die ersten Zeilen eines Gedichts angeführt, das den Gang einer Mutter zu einem Gestapo-Mann zum Inhalt hat, die ihren Sohn identifizieren soll (Novak 2015: 112): - Za ta obisk si je nadela svojo rojstno krinko, Rüchtig - pravcata Nemka, Jungfrau aus der alten, vergessenen Zeit - und - es heißt: kostum do grla, siv klobuček, rahlo šminko … tüchtig - - - Mirno in mrzlo je zvenel njen adelgeborene alt: Was ist das? - Ich habe diesen Menschen nie gesehen, te osebe ne poznam, Ein - pač pa poznam vas, vi ste mariborski Nemec, nicht wahr? Mensch? 7 Auch hier tritt der harmonische Sprachwechsel in Einklang mit der konkreten Situation in Erscheinung, wie dies für das gesamte Epos charakteristisch ist. Die Sprachvielfalt in den Gesängen und Gedichten ist gleichsam ein Ausdruck gelebter Mehrsprachigkeit in einem biographisch konturierten Raum, dessen Koordinaten sich vom südlichen und zentralen Europa bis nach Australien und Amerika erstrecken, auch in Orte wie Kasernen, Gefängnisse, Konzentra‐ tions- und Straflager, zugleich aber im überzeitlichen Zusammenhang einer Familiengeschichte verwurzelt bleiben. Merkmalhaft ist, dass die andersspra‐ chigen Textstellen hervorgehoben, aber nicht übersetzt sind, und die beteiligten 208 Andreas Leben <?page no="209"?> Sprachen klar unterscheidbar sind. Ferner ist anzumerken, dass Novaks Epos auch zahlreiche Formen von Mehrschriftlichkeit beinhaltet, angefangen von verschiedenen Alphabeten, Schriftarten und Schriftgrößen über graphische Elemente, Symbole bis hin zu Elementen konkreter Poesie. 3. Schlussbetrachtungen Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Beispielen ziehen? Wie zu er‐ warten, werden Verfahren manifester Mehrsprachigkeit in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Ausprägung verwendet. Ausgehend von den Autor: innen und Texten, die in den Blick genommen wurden, sowie den Spra‐ chen bzw. Idiomen, die an den Formen von Sprachwechsel und Sprachmischung beteiligt sind, deutet vieles darauf hin, dass mehrsprachige lebensweltliche Zusammenhänge, sei es bedingt durch die Biographien der Autor: innen oder aufgrund der verhandelten Themen, die Verwendung von manifesten Formen begünstigen, jedoch nicht immer zur Folge haben. Der Zugriff auf Techniken manifester Mehrsprachigkeit kann daher, ungeachtet der etwaigen Präsenz latenter und exkludierter Formen, höchst reduziert oder auch avanciert sein, wie dies bei Jani Oswald, Goran Vojnović und Boris A. Novak der Fall ist. Was den Grad von Sprachmischung angeht, heben sich Oswalds Poetik der Vielsprachigkeit und die Đorđić-Romane von Vojnović, die beide in einem minoritären Kontext verankert sind, von den anderen Texten nochmals ab, indem sie das Einsprachigkeitsparadigma durch die Hybridität ihrer Texte mehrfach durchbrechen. Die Romane von Maja Haderlap, Elena Messner und Ana Marwan indizieren, dass in der deutschsprachigen Literatur zweisprachiger Autor: innen Formen manifester Mehrsprachigkeit in eher geringerem Umfang verwendet werden, auch bzw. gerade dann, wenn das Verhandeln von Sprache und sprachlichen Verhältnissen explizit thematisiert wird. Die relative Häufigkeit manifester Formen in den Romanen von Möderndorfer und Vojnović, aber auch in der epischen Dichtung Novaks, weisen wiederum darauf hin, dass es mit den Konventionen der Literatur in Slowenien leichter vereinbar scheint, auf der textuellen Ebene zwischen Sprachen und Idiomen zu wechseln. Unterschiede in den Konventionen betreffen auch die Frage der grafischen Markierung von Sprachwechsel und Sprachmischung in den Texten: in den deutschsprachigen Texten werden sie nicht immer hervorgehoben, während dies in slowenischen Veröffentlichungen weitgehend üblich ist. Die Frage des Übersetzens anderssprachiger Textstellen zeigt ein heterogenes Bild. So werden in den slowenischen Texten die deutschen Textstellen in der Regel Manifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur 209 <?page no="210"?> in die Basissprache übersetzt, was im Epos Novaks jedoch nicht der Fall ist, während Passagen auf Bosnisch/ Kroatisch/ Montenegrinisch/ Serbisch zumeist nicht übersetzt werden. Auch Vojnović und Oswald nehmen in Kauf, dass ihre Texte nicht von allen Leser: innen zur Gänze verstanden werden, aber bei Maja Haderlap gibt es ebenfalls neben parallelen Formen einige Textstellen, die nicht paraphrasiert oder übersetzt sind. Zwar sind die hier besprochenen Texte nur Fallbeispiele, doch zeigen sie, dass manifeste literarische Mehrsprachigkeit auch in zentralen Werken der slowenischen Gegenwartsliteratur deutlich sichtbar ist und dass sie zu der steten Veränderung und Erweiterung der slowenischen Literatursprache wie auch des Begriffsfelds slowenischer Literatur beitragen. Die Frage, inwieweit Sprachwechsel und Sprachmischung mittlerweile zu den konstitutiven Ele‐ menten slowenischer Gegenwartsliteratur gezählt werden können, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Festgehalten werden kann jedoch, dass die Gemengelage im slowenischen kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang weitere von Sprachvielfalt gekennzeichnete Texte erwarten lässt. Literaturverzeichnis Primärquellen H A D E R L A P , Maja (2011). Engel des Vergessens. Roman. Göttingen: Wallstein. H A D E R L A P , Maja (2023). Nachtfrauen. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. J A N ČA R , Drago (2022). Ob nastanku sveta. 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Vrata nepovrata. Epos, 1. knjiga: Zemljevidi domotožja. Novo mesto: Goga. 210 Andreas Leben <?page no="211"?> N O V A K , Boris A. (2015). Vrata nepovrata. Epos, 2. knjiga: Čas očetov. Novo mesto: Goga. N O V A K , Boris A. (2017). Vrata nepovrata. Epos, 3. knjiga: Bivališča duš. Novo mesto: Goga. O S W A L D , Jani (2017). Non minus ultra. Ausgewählte Gedichte. Izbrane pesmi. Klagen‐ furt/ Celovec: Drava. V O J N O V IĆ , Goran (2008). Čefurfji raus! Ljubljana: Študentska založba. V O J N O V IĆ , Goran (2021). Đorđić se vrača. Ljubljana: Beletrina. V O J N O V IĆ , Goran (2023). 18 Kilometer bis Ljubljana. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Wien: Folio-Verlag. Forschungsliteratur B L U M -B A R T H , Natalia (2019). Literarische Mehrsprachigkeit. Versuch einer Typologie. In: Spiegelungen, 14 (2), 11-24. B O R O V N I K , Silvija (2017). Večkulturnost in medkulturnost v slovenski književnosti. Maribor: Univerzitetna založba Univerze. B O R O V N I K , Silvija (2022). 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Ihr erster Roman Polyphonie und Dialogizität Ausgewählte Romane deutschschreibender Autorinnen mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien Ivana Pajić Abstract: The concept of “Dialogism” was developed in the 1920s by Mikhail M. Bakhtin and found its way into the literary theory of Western Europe from the late 1960s onwards. With the textual analysis of two novels - Ivna Žic’s Die Nachkommende (2019) and Meral Kureyshi’s Elefanten im Garten (2015) - this paper aims to demonstrate how Bakhtin’s concept can be applied in the examination of literary works by German-writing female authors with roots in former Yugoslavia, in order to gain deeper insights into the texts. With the exception of some works, this emerging group has not yet been sufficiently explored. Therefore, the article also wants to contribute to the increased visibility of these female writers and encourages readers to engage more intensively with their works. Keywords: Dialogism, Polyphony, intercultural novel, female writers with roots in former Yugoslavia 1. Einleitung Im vorliegenden Beitrag werden zwei Romane der Autorinnen Ivna Žic 1 und Meral Kureyshi 2 untersucht - Die Nachkommende (2019) und Elefanten im Garten (2015). <?page no="216"?> Elefanten im Garten wurde mehrfach ausgezeichnet und war für den Schweizer Buchpreis nominiert. 3 Neben Ivna Žic und Meral Kureyshi können noch folgende gegenwärtige Autorinnen genannt werden: Adriana Altaras, Anna Baar, Alida Bremer, Marica Bodrožić, Sandra Gugić, Jagoda Marinić, Barbi Marković, Melinda Nadj Abonji, Arta Ramadani und Shqipe Sylejmani. Diese beiden Romane erweisen sich als Teil eines mittlerweile recht umfassenden Korpus von Autorinnen aus dem früheren Jugoslawien. 3 So sind sie vergleichbar mit autobiografisch angehauchten Romanen anderer Autorinnen mit Bezug zu diesem Kulturraum wie Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie (Altaras 2011), Die Farbe des Granatapfels (Baar 2015), Olivas Garten (Bremer 2013), Kirschholz und alte Gefühle (Bodrožić 2012), Restaurant Dalmatia (Marinić 2013) und Wahrscheinliche Herkünfte (Žic 2023). Die Romane thematisieren das komplexe Verhältnis der Hauptfiguren zu ihrer Herkunftskultur, der im Aufnahmeland (Deutschland, Österreich oder Schweiz) und/ oder Herkunftsland (Kroatien) lebenden Familie, zu ihrem eigenen Leben zwischen verschiedenen Kulturen und der damit einhergehenden Mehrsprachigkeit, Identitäts- und Hei‐ matsuche. Mit ähnlichen Themen beschäftigen sich auch Meral Kureyshis Roman Fünf Jahreszeiten (2020), der eine Fortsetzung des hier untersuchten Romans Elefanten im Garten ist, sowie Gugićs Familienroman Zorn und Stille (2020), in dessen Mittelpunkt die Fotografin und Nomadin Billy Bana, eigentlich Biljana Banadinović, steht, und in dem ihr Aufwachsen in Österreich, ihr nomadisches Leben sowie ihr Verhältnis zu den serbischen Gastarbeitereltern und ihrem Her‐ kunftsland thematisiert werden. In Nadj Abonjis Roman Tauben fliegen auf (2010) wird den Leser: innen ebenfalls eine Familiengeschichte erzählt: die weibliche Hauptfigur Ildiko gehört zur ungarischen Minderheit in der Vojvodina und ist als kleines Kind mit den Eltern in die Schweiz ausgewandert, wobei auch sie mit den Themen der Identitäts- und Heimatsuche konfrontiert wird. Ähnliche thematische Schwerpunkte greift Shqipe Sylejmani in ihrem Roman Bürde & Segen (2020) auf, in dem die Hauptfigur Shote, die in der Schweiz lebt, durch den Tod ihrer Großmutter dazu veranlasst wird, in die Länder ihrer Herkunft, Albanien, Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien, zu reisen, um Klarheit über ihr eigenes Ich zu erlangen. Ähnliche thematische Bezüge finden sich in Ramadanis Roman Die Reise zum ersten Kuss. Eine Kosovarin in Kreuzberg (2018), in der die Geschichte der 15-jährigen Era erzählt wird, die mit ihrer Familie in den 1990er-Jahren aus Pris‐ tina nach Deutschland flieht, wo sie in dem „Multikulti-Bezirk“ Berlin-Kreuzberg versucht, eine neue Heimat zu finden, sowie Markovićs Stadtroman Superhel‐ dinnen (2016), der das Leben von drei modernen Superheldinnen in Berlin, Belgrad, Sarajevo und anderen Städten beschreibt. Neben diesen Übereinstimmungen in 216 Ivana Pajić <?page no="217"?> 4 Der Begriff cross-cultural-writing bezieht sich auf das Verfassen von Texten, die ver‐ schiedene kulturelle Traditionen, Hintergründe und Perspektiven berücksichtigen oder miteinbeziehen. Der Begriff impliziert die Fähigkeit, kulturübergreifend zu schreiben und zu kommunizieren, um dadurch ein Verständnis und eine Brücke zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten herzustellen (vgl. Dagnino 2012). den thematischen Schwerpunkten ist ein weiteres gemeinsames Merkmal der erwähnten Werke zu nennen, nämlich dass die Hauptfiguren zur ausgewanderten Generation gehören, wobei ihre Auseinandersetzung mit der älteren Generation und der eigenen Familiengeschichte zugleich auch eine Auseinandersetzung mit dem Herkunftsland bzw. der Herkunftskultur impliziert. Zudem überwiegt in den angeführten Romanen das nicht-lineare Erzählen und Erinnern, was wohl dadurch erklärbar ist, dass durch den Übergang aus der einen in die andere Kultur und das Pendeln zwischen den Kulturräumen das Leben und die Erinnerungen der Hauptfiguren nur schwer chronologisch erzählbar sind. Dadurch, dass sich die Texte zwischen verschiedenen Kulturen bewegen, werden auch die Aspekte der Mehrsprachigkeit und Sprachmischung zu interessanten Merkmalen und Untersuchungsgegenständen. Die Textanalysen der beiden Romane sollen exemplarisch aufzeigen, wie man die Konzepte „Polyphonie“ und „Dialogizität“ in der Untersuchung der Werke von deutschschreibenden Autorinnen mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien einsetzen kann. Dabei kann die Analyse von Polyphonie und Dialogizität, die eng mit den Prinzipien des Austauschs und des Zusammenbringens heterogener Stimmen verbunden sind, Aufschlüsse darüber geben, wie die Autorinnen die Mehrsprachigkeit in ihrer literarischen Verarbeitung der verschiedenen Kulturräume realisieren und für ihre Kulturvermittlung fruchtbar machen. In den Texten dieser Autorinnen ist unter anderem ein cross-cultural-writing 4 erkennbar, da ihr schriftstellerisches Gesamtwerk mindestens ein Werk enthält, in dem die Herkunftskultur einen bedeutenden Bestandteil des Erzählten bildet. Dem wird im vorliegenden Beitrag, nach einer theoretischen Erläuterung, anhand der beiden erwähnten Romane - Die Nachkommende und Elefanten im Garten - nachgegangen. 2. Theoretischer Rahmen Die Begriffe „Polyphonie“ und „Dialogizität“ sind unmittelbar mit Michail Bach‐ tins literaturtheoretischem Werk verbunden. Bereits ab Ende der 1920er-Jahre entwickelte der sowjetrussische Literaturtheoretiker in seiner ersten Version des Dostoevskij-Buches (Bachtin 1929) und in seinem Essay Das Wort im Roman (1979) von 1936 den diesbezüglichen Theorieansatz. 5 Die Voraussetzungen dafür Polyphonie und Dialogizität 217 <?page no="218"?> 5 Vgl. zur Datierung den Kommentar in der kritischen Werkausgabe, M. Bachtin: Sobranie sočinenij v semi tomach, t. 3, Moskva 2012, 29−53. 6 Der Begriff „Polemik“ (πολεμικός; polemos = Krieg) verweist auf einen Meinungsstreit (Bünting 1996: 877). Zwar kommen in der Polemik gelegentlich auch sachliche Argu‐ mente zum Einsatz, doch, wie der deutsche Begriff „Meinungsstreit“ andeutet, ist in der Polemik primär die persönliche Stellungnahme zu einem Gegenstand oder einer Person präsent. In einem literarischen Werk wird die „versteckte Polemik“ dadurch erkennbar, dass das fremde Wort (indirekt, verschleiert) aufgegriffen und abgewiesen oder anders gedeutet wird (Bachtin 2002: 139). 7 Im „versteckten Dialog“ wird das fremde Wort (des unsichtbaren Gesprächspartners) nicht ausgesprochen, es ist aber verdeckt anwesend und es bestimmt die Worte des sichtbaren Gesprächspartners (ebd.: 141). 8 Bei der „Dialog-Replik“ bewirkt die Berücksichtigung der Gegenrede spezifische Ver‐ änderungen in der Struktur des dialogischen Wortes und beleuchtet den Gegenstand des Wortes neu. Die eigene Rede ist eine indirekte Reaktion auf das fremde Wort, wobei liegen in Bachtins kritischer Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Linguistik Ferdinand de Saussures. Wie auch Lotman darauf verweist, meint Bachtin, anders als Saussure, dass sprachliche Zeichen nie etwas Gegebenes, sondern das Produkt einer dynamischen Beziehung zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden sind (1990: 35). Bachtin zufolge ist oder war jede Äuße‐ rung bereits der Gegenstand einer anderen Rede (1979: 168-177). Diesbezüglich ist der Sinn einer bestimmten Äußerung nicht eigens durch seinen bisherigen Gebrauch im Voraus festlegbar, sondern er unterliegt einer Dynamik und konstruiert sich in dem jeweils gegebenen Kontext aufs Neue (Eilenberger 2009: 146-147). Demzufolge hängt die Verwendung eines Wortes, Satzes oder Textes von unterschiedlichen Verwendungssituationen bzw. von der kontextuellen Einrahmung ab (Martinez 1996: 430). Dialogizität ist vor allem ein Merkmal der sogenannten „polyphonen Ro‐ mane“ (Bachtin 1971). Diese zeichnen sich durch eine Hybridität, dialogische Offenheit, Polyvalenz und Kombinatorik aus und wirken zentralisiert ausge‐ richteten Macht- und Wahrheitsansprüchen entgegen (Volkmann 2008: 153). In einem polyphonen Roman können die Figuren auch heterogene und unverein‐ bare Standpunkte vertreten (Martinez 1996: 438). Somit fungiert Dialogizität prinzipiell als ein Unterscheidungsmerkmal zu solchen Werken, in denen die Monologizität dominiert, d. h. eine homogenisierend-monologische und konser‐ vativ-dogmatische Sprache und Rede (Pajić/ Zobenica 2021: 92-99). Dialogizität kann in einem literarischen Werk mithilfe unterschiedlicher Kunstgriffe und Gestaltungsmittel realisiert werden wie Stilisierung, Verfremdung, hybride Mischungen heterogener Stimmen, Parodie, Satire, versteckte Polemik, 6 ver‐ steckter Dialog, 7 oder Dialog-Replik 8 (Bachtin 1979: 143; Deubel 2007: 153). 218 Ivana Pajić <?page no="219"?> das fremde Wort verarbeitet und antizipiert und dadurch eine Bedeutungsveränderung des Gegenstands ermöglicht wird (ebd.). 9 Seit Einführung des Begriffs sind unterschiedliche theoretische Ansätze zur Intertex‐ tualität entstanden (vgl. Barthes, Bloom, Genette, Lachmann u. a.). Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf Bachtins und Kristevas Ansätze. 10 Beispielhaft seien hier einige Titel aus dem deutschen Sprachraum angeführt: Bach‐ mann-Medick 2003: 439-448; Hofmann 2006: 9-60; Hofmann/ Patrut 2015: 7-21; Hundson-Wiedenmann 2003: 448-456; Leskovec 2011: 9-37 sowie 86-113; Mecklen‐ burg 2009: 11-40 sowie 90-119. Bachtins Überlegungen wurden Ende der 1960er-Jahre in einer modifizierten Form in der Literaturtheorie des westeuropäischen Raums übernommen. In den Jahren 1966 und 1967 brachte die bulgarisch-französische Philosophin und Literaturtheoretikerin Julia Kristeva im Rahmen des poststrukturalisti‐ schen Intertextualitätsdiskurses dem westeuropäischen Publikum die Werke des russischen Autors näher. In ihren Texten Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman (1966/ 7), Le texte clos (1966/ 7) und Problèmes de la structuration du texte (1968) prägte Kristeva, nach ihrer eigenen Deutungs- und Leseart von Bachtins Texten, den Begriff „Intertextualität“, 9 wobei sie dafür Bachtins Überlegungen erheblich modifizierte. Während Bachtin sich primär auf den Dialog der Stimmen innerhalb einer Äußerung bzw. eines einzelnen Textes konzentriert (Pfister 2003: 2), meint Kristeva, dass keine literarische Struktur aus sich selbst heraus existiert, sondern, dass sie immer in Bezug auf andere (Text-)Strukturen entsteht. Jeder Text ist somit ein Mosaik von Zitaten (Kristeva 1986: 35-37). Die Texte anderer werden bewusst oder unbewusst in den eigenen Text integriert, da die Autor: innen solche Rezipient: innen voraussetzen, die zumindest teilweise die bewusst gewählten Replikationen erkennen können (Lachmann 1990: 66-67). In der postkolonialen Literaturtheorie und der interkulturellen Literaturwis‐ senschaft haben sich solche dynamisch-theoretischen Konzepte wie Polyphonie und Dialogizität, die die Hybridität, Polyvalenz und Pluralität literarischer Texte hervorheben, als besonders hilfreich für die Textanalyse erwiesen. 10 Eva Hausbacher betrachtet die Texte von Autor: innen mit einem polykulturellen Hintergrund als eine Literatur des Dialogs und Austauschs (2009: 139). So wie die Handlung der Texte in verschiedenen Kulturräumen verortet ist, könnte man auch die damit einhergehende Mehrsprachigkeit bzw. Integration der Herkunftssprache in den deutschen Text als einen spezifischen Kunstgriff in den Texten der erwähnten Autorinnen betrachten. Ihre Zugehörigkeit zu mehreren Kulturräumen ermöglicht den Autorinnen solche polykulturellen Texte zu erschaffen, in die sie Wörter, Texte, Satzstrukturen und Bedeutungen aus ihren Herkunftssprachen integrieren und mit solchen der deutschen Spra‐ Polyphonie und Dialogizität 219 <?page no="220"?> 11 Der genaue bzw. wirkliche Ortsname der kroatischen Insel, wo die Großmutter lebt und die im Roman „Großmutterinsel“ bezeichnet wird, wird im Text nicht genannt. 12 Die im Text vorhandene Mehrsprachigkeit wird ebenfalls in Monika Riedels Beitrag „Sprachreflexion und textinterne Mehrsprachigkeit in Ivna Žics Die Nachkommende und Lena Goreliks Wer wir sind“ betont (vgl. Riedel 2023, 141-169). 13 „Es geht mir gut in Alaska“. 14 „Fels in der Brandung“. 15 „Ein Rosenkranz rückwerts: wenn ich träume“. 16 „Wir gehen aufwärts, wir gehen abwärts“. chen verknüpfen (Steinmetz 2003: 462-65). Durch den Einsatz einer solchen „interkulturellen Dialogizität“ fordern sie indirekt auch ihre Leser: innen dazu auf, sich nicht nur mit der „Wirklichkeit“, sondern auch mit der Sprache der ihnen jeweils weniger bekannten Kultur intensiver auseinanderzusetzen. 3. Polyphonie und Dialogizität in Ivna Žics Roman Die Nachkommende Im Roman Die Nachkommende begegnen wir einer Ich-Erzählerin, deren Namen man nicht erfährt. Umso mehr erfährt man etwas über ihr Verhältnis zu ihrer Her‐ kunftskultur, über die einzelnen Herkunftsorte (Zagreb und Großmutterinsel 11 ), die mit ihrer Familie verbundenen sind, und über ihr von Reisen geprägtes Leben zwischen dem Herkunfts- (Kroatien) und dem Aufnahmeland (Schweiz). Der Roman ist überwiegend in deutscher Sprache geschrieben, doch bereits ein Blick auf die Kapitelüberschriften zeigt, dass sich die Autorin nicht nur auf die deutsche Sprache beschränkt, sondern auch die kroatische und englische Sprache in den Text einfließen lässt, 12 wodurch sie bereits vor Beginn der Geschichte offenlegt, in welchen Kulturräumen das Erzählte verortet ist: JAHRE JAHRE GROßVATER EINE NUR SITZT I’M DOING FINE IN ALASKA 13 FELS IN DER BURA 14 TÜRKIS, KEIN ORT EIN ROSENKRANZ FRAU MARIJANA EIN ROSENKRANZ RÜCKWÄRTS: KAD SANJAM 15 VERGISS NICHT: DIE LANGSAMEN IDEMO GORE, IDEMO DOLE 16 ES WURDE NICHT GESAGT 220 Ivana Pajić <?page no="221"?> 17 „Ich war hier schon viele Male zuvor“. 18 „Entschuldigen Sie“. 19 „Ich weiß es nicht, meine Liebe“. ANKUNFT: ZÜRICH KEIN NAME NACHT 1-3 UND (Žic 2019: 9) Die Autorin stellt dem Handlungsbeginn exemplarisch ein englisches Zitat von Sophia Kennedy voran - „I’ve been here many times before.“ 17 (7) Der intertextuelle Bezug zu Kennedys Song Being Special (2017) verweist unter anderem darauf, dass der folgende Text eine dem Song ähnliche Rhythmik besitzt. So kann man sowohl in Kennedys Song als auch in Žics Text im Hintergrund vage eine Rhythmik heraushören bzw. herauslesen, die an eine Zugfahrt erinnert. Der Romantext greift zudem Themen auf, die auch der Songtext behandelt - die Beziehung zu einem Mann, einen bestimmten Ort, den man mit dem Mann verbindet, eine Zugfahrt, die man immer wieder macht, und die Heimfahrt. Ebenfalls verweist das Zitat auf die gewählte Struktur des Erzählten: dass man im Laufe der Geschichte zwar über dieselben Orte spricht, diese aber immer wieder anders wahrgenommen und erzählt werden. Das Mon‐ tageprinzip des Nebeneinanders ist im Roman auch auf der Discourse-Ebene gegeben, da der Text beliebig, je nach der gegebenen Assoziation, in der Zeit springt, ohne dass die aufeinanderfolgenden Textabschnitte unmittelbar logisch zusammenhängen. Generell kommt die englische Sprache, als globale Verständigungssprache, in Žics Roman an jenen Textstellen zum Einsatz, wo die Erzählerin über die ihr Leben prägenden Transit-Momente reflektiert. In diesen Transit-Momenten befindet sie sich auf der Reise ins Herkunfts- oder Aufnahmeland bzw. an solchen Orten, wo viele Kulturen und Sprachen zusammenkommen und wo die Reisenden eine gemeinsame Sprache für das gegenseitige Verständnis benötigen. So fragt z. B. im Kapitel „I’M DOING FINE IN ALASKA“ die weibliche Hauptfigur mit „sorry, excuse me“ 18 (31) danach, wann der erste Zug nach Wien, Ljubljana oder Budapest fährt, und bekommt die Antwort „I don’t know my dear.“ 19 (Ebd.) Den Kunstgriff, englischsprachige intertextuelle Verweise auf Songtexte so einzusetzen, dass sie den Bedeutungs‐ gehalt des eigenen Textes auf einer erweiterten außertextuellen Ebene erläutern, verwendet Žic auch in dem erwähnten Kapitel. Wie das Eingangszitat, so ist auch „I’m doing fine in Alaska“ ein intertextueller Verweis auf einen Song der amerikanischen Gruppe Port O’Brien mit dem Titel Fisherman’s Son (2008), der ähnliche Themen aufgreift wie der Roman Die Nachkommende, wie beispiels‐ Polyphonie und Dialogizität 221 <?page no="222"?> 20 Mit der Beschreibung meint die Ich-Erzählerin die im ex-jugoslawischen Raum be‐ kannten kleinen Schokolden „Životinjsko carstvo“ (dt. Tierreich). 21 „Krautrouladen“. 22 „Länglicher Kipfel mit Salz“. weise die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit und wie sich eine Person in der Fremde fühlt. Einem polyphonen Roman entsprechend finden sich in Žics Text heterogene Stimmen, Perspektiven und Standpunkte in Bezug auf das Beschriebene. Wäh‐ rend des Erzählens wird kein homogen-einseitiges Bild von Land und Leuten entworfen, sondern der beschriebene Gegenstand wird, entsprechend Bachtins These, situations- und kontextbedingt immerzu neudefiniert. Wenn die Ich-Er‐ zählerin bestimmte Orte besucht, wie z. B. den Platz Trg bana Josipa Jelačića in Zagreb, dann erwähnt sie historisch-gesellschaftliche Ereignisse, die das Land betreffen, die sie zwar aus Büchern oder anderen Quellen kennt, die jedoch außerhalb ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt liegen. Durch die Geschichten des mittlerweile verstorbenen Großvaters, der im Laufe seines Lebens durch die erlebten historischen Umbrüche bzw. Kriege im Land seine Alltagssprache verloren, aber eine Märchensprache gefunden hat, bekommen wir ein weiteres Bild über dasselbe Land. Die Geschichten des Großvaters sind eine Mischung aus Realität und Fiktion und nehmen an vielen Stellen märchenhafte Züge an. Das Verhältnis der Ich-Erzählerin zu dem, was sie aus verschiedenen Quellen oder vom Großvater über ihr Herkunftsland erfahren hat, impliziert eine versteckte Polemik, da zu dem von außen Erfahrenen die subjektiven Kul‐ turwahrnehmungen der Ich-Erzählerin selbst hinzukommen. Über diese Polyperspektivik hinaus ist die Wahrnehmung des Herkunftslandes von Seiten der Ich-Erzählerin ein Mosaik, das aus ihren lückenhaften Kindheitserinnerungen, ihren Reisen dorthin, den dort jährlich stattfindenden Familientreffen und Treffen mit den dort lebenden Freund: innen entsteht. Jede ihrer unzähligen Reisen lässt das Herkunftsland in einem neuen Licht erscheinen, da das Land in verschiedenen Phasen ihres Lebens immer ein anderes Gefühl hervorruft. Letzt‐ lich führt die Ich-Erzählerin immer aufs Neue eine versteckte Polemik mit dem Bedeutungsgehalt bezüglich der Begriffe Erinnerung, Herkunft und Heimat. Für sie, die zwischen mehreren Kulturen lebt, bekommen einfache und alltägliche Dinge eine ganz spezifische persönliche Bedeutung. Beispielsweise spricht die Ich-Erzählerin nicht einfach nur über das Essen, sondern erwähnt die „kleinen Schokoladen mit Tierbildern“ 20 sowie „Sarma“ 21 und „Slanac“ 22 , die die Autorin in der Originalsprache im Text belässt. Das Erwähnte ist eine gut behütete Erinnerung an die Kindheit und zugleich ein Zeichen des Dazugehörens oder ein Zeichen für die Rückkehr der Ich-Erzählerin ins Heimatland, wenn diese auch 222 Ivana Pajić <?page no="223"?> 23 „Opa“. 24 Riedel verweist darauf, dass die Implikationen der Mehrsprachigkeit im Roman nicht nur für die Erzähl- und Schreibweise relevant sind, sondern auch eine kultur- und sprachpolitische Agenda verfolgen. Sie plädiert für einen wertschätzenden Umgang mit den sprachlichen Ressourcen, die die älteren Generationen im Roman mitbringen, denn sie verweisen auf Geschichten dieser Generation, die darin mitklingen (vgl. 2023: 157). 25 „Wie kurz und blöd das Leben sein kann. Nicht meins. Nicht meins.“ nur eine kurzzeitige ist. Da die Ich-Erzählerin als kleines Kind in die Schweiz ausgewandert ist, spielt sich ihr ganzes alltägliches Leben (Schule, Studium, Arbeit) primär in der deutschen Sprache ab. Auch Riedel betont in ihrer Studie die damit einhergehende transgenerationale Entfremdung innerhalb der Familie im Roman von Ivna Žic (vgl. 2023: 156). Die Kindheitserinnerungen, mit denen die Ich-Erzählerin bestimmte kroatische Wörter wie „Deda“ 23 und „Slanac“ verbindet, sowie die mit Traditionen und Bräuchen aufgeladenen Feiertage, die überwiegend im Herkunftsland verbracht werden, bilden für sie allerdings eine feste Brücke zur Herkunftskultur. Generell nutzt Žic die Mehrsprachigkeit der Ich-Erzählerin, um ihre Zugehö‐ rigkeit zu mehreren Kulturen zu betonen. Der Text des Romans ist überwiegend in deutscher Sprache geschrieben. Wie bereits aufgezeigt wurde, integriert die Autorin in den deutschen Text aber auch neben dem Englischen kroatische Wörter, Sätze oder längere Textabschnitte, wodurch sie auch auf der performa‐ tiven Ebene des Textes eine solche Polyphonie erzielt, die den Text durchgehend zwischen verschiedenen Kulturen verortet. Die Aussage der Ich-Erzählerin − „Deda sage ich, denn ein Großvater warst du nie, du warst unser rauchender Deda.“ (23) − verdeutlicht z. B., dass die Ich-Erzählerin vor allem über die Großeltern und die Erinnerungen an sie ihre Verbindung zum Herkunftsland pflegt. 24 Das wird durch die direkte Figurenrede der Großeltern in kroatischer Sprache verstärkt, wie z. B. die folgende Aussage der Großmutter: „Kako život može biti kratak i glup. Ne moj. Ne moj.“ 25 (78) Die Autorin verweist über kroatische Wörter und Sätze in der Rede der Figuren, die im Herkunftsland leben und die deutsche Sprache nicht beherrschen, implizit darauf, dass die im Text überwiegend in deutscher Sprache geschriebene Rede dieser Figuren eigentlich in der Herkunftssprache stattfindet. Mit Blick auf die Ich-Erzählerin wirft das für die Leser: innen die Frage auf, in welchen Sprachen sie eigentlich spricht und denkt? Dass die Sprache für die Ich-Erzählerin ein lebensrelevantes Thema ist, kann man an ihrer expliziten Frage erkennen „Woher kommt die Sprache? “ (34) und an den Aussagen über ihren eigenen Sprachgebrauch. Ihre Herkunftssprache bezeichnet sie persönlich als „Familiensprache“, „Küchen‐ tischsprache“, „aufbewahrte Sprache“ und als eine „Sprache, die davonrennt, Polyphonie und Dialogizität 223 <?page no="224"?> 26 Dabei handelt es sich um eine Mischung von Coca-Cola und billigem Rotwein, die in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens besonders unter den Jugendlichen in den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre beliebt war. stolpert“ (ebd.). Ihre Aussagen lassen erkennen, dass sie die kroatische Sprache in konkreten Koversationssituationen nur dann spricht, wenn sie in Kroatien ist oder wenn sie sich mit jemandem aus ihrer Famile unterhält. Bezüglich der Figurengestaltung der Ich-Erzählerin ist jedoch eine weitere, komplexere Polyphonie-Ebene des Textes erkennbar, da sie während ihres Aufenthalts in Kroatien zwar in Gesprächen mit Familienmitgliedern, Freund: innen und Bekannten ihre Herkunftssprache nutzt, die Passagen, in denen ihre Gedanken‐ gänge wiedergegeben werden, lassen aber erkennen, dass die Ich-Erzählerin die deutsche Sprache, in der sie komplexer denken und sich besser ausdrücken kann, ungeachtet ihres gegenwärtigen Aufenthaltsorts durchgehend als Sprache des Denkens nutzt. Das Gestaltungsprinzip der Integration der Herkunftssprache in den deut‐ schen Text verwendet die Autorin auch dort, wo die Ich-Erzählerin über die Momente erzählt, die ihr besonders stark in Erinnerung geblieben sind und sich mit der deutschen Sprache weniger gut beschreiben lassen. Ein Beispiel hierfür ist die Beschreibung der Sommer in Kroatien, der „wichtigsten Jahreszeit“, die sie mit ihrer kroatischen Freundinnen-Clique als Teenager verbrachte und in der „Lippenstift in Übermaß, verschmierter Mascara, manikürte Nägel, Teil des Alltags“ waren, wobei der „Bambus“ 26 das Schlagwort ist, das diese unbekümmerte Partyzeit markierte (41-44). Den Kunstgriff der Parodie setzt die Autorin unter anderem auch dazu ein, spezifische Erscheinungen in der Herkunftskultur hervorzuheben, denen die Ich-Erzählerin in ihrem alltäglichen Leben und Sprachgebrauch in der Schweiz nicht begegnet, sondern nur dann, wenn sie sich in ihrem Herkunftsland be‐ findet. Ein Beispiel hierfür ist das Beten, das in der Herkunftskultur einen hohen Stellenwert hat, was durch die täglichen Gebete der Großmutter verdeutlicht wird. Wie stark präsent das Beten im alltäglichen Leben der Bewohner: innen ist, sieht man auch, wie es die Ich-Erzählerin liebevoll-humoristisch erklärt, in dem Moment, in dem „fluchen, beten oder beides zusammen“ (34) erfolgt. So merkt sie an, dass solche Kombinationen wie „Pička ti materina […]. Isuse kak si zgoda. […] Bem ti miša kak si zgodna“ unübersetzber sind (ebd.), da in der wörtlichen Übersetzung der ganze Reiz der Aussage verlorengeht und das Gesagte, anders als im Original, vulgär und derb klingt: „Mutters Fotze […]. Jesus bist du schlank […]. Ich ficke deine Maus bist du schlank.“ Durch das Gedicht, das die Autorin sowohl in kroatischer (im Text) als auch in deutscher (als Anhang) Sprache ins Buch integriert, verdeutlicht sie, dass 224 Ivana Pajić <?page no="225"?> sowohl der Text als auch die Ich-Erzählerin selbst nicht im Kontext nur einer Kultur deutbar sind: EIN ROSENKRANZ RÜCKWÄRTS: KAD SANJAM I kad sanjam sanjam bez jezika i na svima istovremeno. I kad sanjam sanjam da bih sve to napisala ovim riječima ne bi se promjenile ni ruke ni noge ni glava. Ne bi. Ali bi doticaj bio drugačiji. SVIMA. Jer te riječi gledaju i slušaju kao iz nekog drugog kuta kao iz nekog drugog vremena kao iz devedesete ili od onog trenutka kad su opet i opet rekli: IDEMO. Broje od tada unatrag no i danas dalje sjede gdje bura puše i jugo puše pa opet bura puše STALNO. (90) Und wenn ich träume träume ich / Sprachlos und zugleich alle Sprachen. / Und wenn ich träume träume ich / wäre all dies in jenen Worten geschrieben / würden sich weder Hände noch Füße noch Kopf ändern. / Nein. / Doch die Berührung wäre eine andere. / FÜR ALLE. / Weil jene Worte / wie aus einer anderen Richtung zuhören / wie aus einer anderen Zeit zusehen / wie aus den Neunzigern / oder diesem Moment / als sie wieder und wieder sagten: / WIR GEHEN. / Sie zählen seit damals / rückwärts / und sitzen noch heute dort / Wo die Bura weht und der Jugo weht / und dann wieder die Bura weht. / FÜR IMMER. (167) Den in diesen Versen sowohl gegebenen als auch thematisierten Kunstgriff der Wiederholung verwendet die Autorin mehrmals im Text. Sie wiederholt Sätze, die einen konkreten Situationsgehalt beschreiben, wobei sie die Textstelle zwischen den beiden gleichen oder ähnlichen Sätzen mit einem solchen Bedeu‐ tungsgehalt auflädt, der die Wichtigkeit des Gesagten für die Ich-Erzählerin Polyphonie und Dialogizität 225 <?page no="226"?> erklärt. Man könnte diesbezüglich sagen, dass die Autorin in ihrem Text eine Art Dialog-Replik mit ihrem eigenen Text führt. Als ein Beispiel dafür kann exemplarisch die Textstelle „Mutter mich in den gelb gestreiften Rock steckte und sich den Bruder um den Bauch hängte“ (12) angeführt werden, die Žic einige Sätze später fast wortgleich wiederholt. Der Abschnitt zwischen den beiden fast identischenen Textstellen wird so semantisch aufgeladen, dass den Leser: innen verdeutlicht wird, dass dieser Moment, als sie das Herkunftsland verließ, das „damals noch ein anderes war“ (ebd.), für die Ich-Erzählerin ein einschlägiger Moment war, weil „die Erinnerung ab diesem Moment anders verlaufen würde“ (ebd.) und ihr Leben vom Pendeln zwischen zwei Kulturen, Sprachen und Lebensstilen geprägt sein wird. 4. Polyphonie und Dialogizität in Meral Kureyshis Elefanten im Garten Im Roman Elefanten im Garten begegnen wir ebenfalls einer namenlosen Ich-Er‐ zählerin, die ungefähr im gleichen Alter ist wie die Ich-Erzählerin im Roman Die Nachkommende, nämlich Mitte zwanzig. Wie in Žics Roman, kommt auch die Ich-Erzählerin im Kureyshis Text zu der Erkenntnis, dass sich mit der Zeit, durch die Migrationserfahrung, ihr Verhältnis zur Herkunftskultur verändert und eine neue Interpretation erfordert. Während in Žics Roman primär die Herkunftskultur im Fokus der Wahrnehmung und Deutung steht, wird im Roman Elefanten im Garten zwar auch das Verhältnis zur Herkunftskultur thematisiert, jedoch liegt hier das Augenmerk primär auf der Wahrnehmung der Aufnahmekultur bzw. des Aufnahmelandes (Schweiz). In Kureyshis Roman werden ähnlich wie bei Žic Land und Leute nicht „objektiv“ beschrieben: den Leser: innen wird ebenfalls ein polyphones Bild der Schweiz präsentiert. Was man von dem Land sagt und hört wird dem gegen‐ übergestllt, wie man es unter den gegebenen Umständen wahrnimmt, in denen man sich selbst gerade befindet, d. h. aus der Perspektive einer Familie, die aus einem osteuropäischen von politischen Konflikten und Krieg gekennzeichneten Herkunftsland (ehemaliges Jugoslawien) emigriert ist. Dabei kann man die Auseinandersetzung der Ich-Erzählerin mit den Wahrnehmungen und Einstel‐ lungen anderer Figuren und Figurengruppen als eine versteckte Polemik deuten, was das folgende Beispiel verdeutlicht: „In der Schweiz ist man glücklich. Sagt meine Familie in Prizren.“ (Kureyshi 2015: 136) Entgegen dieser Meinung der im Herkunftsland lebenden Familienmitglieder erzählt die Ich-Erzählerin während der ganzen Handlung, was der Umzug in das fremde Land und das Leben dort für sie tatsächlich bedeuten. So kommentiert sie ihre Emigration mit den Worten: 226 Ivana Pajić <?page no="227"?> „Ich wurde aus meinem Leben genommen. Ich wurde in ein anderes Leben fallen gelassen.“ (Ebd.) Im Laufe der Erzählung bekommen die Leser: innen kein Bild von einem sorglosen (ganz zu schweigen von einem „glücklichen“) Leben der Familie in der „reichen“ Schweiz, denn die Familie muss, sowohl was ihre finanzielle Lage und gesellschaftliche Stellung als auch was ihre persönlichen und familiären Verhältnisse betrifft, viele Hürden überwinden und vieles neu ordnen. Die Ich-Erzählerin schildert z. B. die anfänglichen Wohnverhältnisse in dem überfüllten Flüchtlingsheim im Luftschutzbunker in Bern, in dem die Familie nach ihrer Ankunft für einige Wochen untergebracht wurde, sowie von dem sehr bescheidenen Leben in der späteren Wohnung im Stadtteil Bümpliz (17-20), das ebenfalls weit weg von den Vorstellungen der im Herkunftsland lebenden Familienmitglieder liegt. Wie in Žics Roman, so ist auch in Kureyshis Text die erste Reise ins Aufnahmeland das Ereignis, nach dem die Erinnerung in einer anderen Richtung verläuft und wodurch das Ich dazu aufgefordert wird, sich selbst und seine Umgebung sowohl in Bezug auf die Herkunftsals auch in Bezug auf die Aufnahmekultur immer aufs Neue zu definieren und zu verstehen. Um diese mehrschichtige Wahrnehmung zu verdeutlichen, gibt Kureyshi - auch hier gibt es Ähnlichkeiten zu Žic - keine lineare Erzählung und klare Kapitelabfolge, sondern unterteilt das Erzählte assoziativ in verschiedene Abschnitte, um es kontext- und situationsgebunden zu beleuchten. Auch in Kureyshis Roman sind die eingeschobenen Erinnerungen der Ich-Erzählerin ein bedeutendes Merkmal der Textgestaltung. Das Erinnern wird in seiner Lückenhaftigkeit - vergleichbar mit dem Handlungsstrang über den Großvater in Žics Roman, der durch das Vergessen bzw. Verdrängen gekennzeichnet ist - in dem Roman Elefanten im Garten mit phantastischen Elementen angereichert und der Realität entgegengestellt. Im Vergleich zu Žics Roman ist Kureyshis Text fast durchgehend in deutscher Sprache geschrieben. Auch die Rede der Figuren, die in der Schweiz leben, die deutsche Sprache aber nicht gut beherrschen (Großmutter, Mutter und Vater der Ich-Erzählerin), schreibt die Autorin in einem fließenden und korrekten Deutsch. Das Thema „Sprache“ und „Mehrsprachigkeit“ ist aber im gesamten Erzählverlauf präsent. So beschreibt die Ich-Erzählerin ihr Verhältnis zum Auf‐ nahmeland, ihre dortigen Famiienverhältnisse und die Charakterzüge einzelner Familienmitglieder auch ihr Verhältnis zu den Sprachen, wobei sich dieses je nach dem gegebenen Kontext ändert. Dass die Erzählerin aus einem ehema‐ ligen multiethnischen Land kommt, in dem verschiedene Sprachen gesprochen wurden, verdeutlicht die Ich-Erzählerin z. B. durch ihre Beschreibungen des Luftschutzbunkers, wo es keine Musik gab, die verschiedenen Sprachen aber, Polyphonie und Dialogizität 227 <?page no="228"?> 27 „Großvater“. 28 „Großmutter“. 29 „Vater“. 30 „Mutter“. die dort gesprochen wurden, klangen für sie wie Musik (20). So minimal in Kureyshis Roman die Herkunftssprache in den deutschen Text integriert ist, haben wir doch auch hier ihre Verwendung in Bezug auf solche Momente, die der Ich-Erzählerin als fester Verbindungsanker zur Herkunftskultur dienen. Im Laufe des Textes werden verschiedene Liedsänger: innen erwähnt - Dragana Mirković, Coşkun Sabah, Sinan Sakić (80, 82, 89) -, wobei ihre Namen den deutschsprachigen Leser: innen kaum geläufig sind. Diese intertextuellen Ver‐ weise beleuchten einerseits den kulturellen Hintergrund der Ich-Erzählerin, andererseits stellen sie eine Verbindung zu ihrer Familie und ihren Freund: innen aus dem Herkunftsland her, wo immer sie leben mögen. Wie in Žics Roman stehen auch in Kureyshis Text die Bezeichnungen für die Familienmitglieder - „Dede“, 27 „Babaanne“, 28 „Baba“, 29 „Anne“ 30 - in der Herkunftsprache, wobei es türkische und nicht albanische Bezeichnungen sind, wie man es zunächst ver‐ muten würde, da ihre Familie aus Prizren kommt. Das erklärt die Ich-Erzählerin und unterstreicht dabei die offenbar selbstverständliche Mehrsprachigkeit: Wir gehörten zur türkischen Minderheit in Jugoslawien. Das musste ich allen um‐ ständlich erklären. Meine Eltern beherrschten die türkische, albanische und serbo‐ kroatische Sprache. (20) Die Ich-Erzählerin berichtet von ihrer Schulzeit, als sie zwar in eine gut geregelte Schweizer Schule ging, jedoch diese als ein Kind mit osteuropäischem Migrationshintergrund ganz anders wahrgenommen hat, als ein in der Schweiz geborenes und aufgewachsenes Kind. Für die Ich-Erzählerin war die Schulzeit keine sorglose Zeit, in der man nur lernte, spielte, mit den Eltern verreiste und eigene und fremde Geburtstage feierte, sondern eine Zeit, die von Scham, Aus‐ grenzung und Minderwertigkeitsgefühlen begleitet wurde. Dieses verdeutlicht die Ich-Erzählerin auch in der Beschreibung ihres Spracherwerbs und der damit verbundenen Schwierigkeiten, in der Schule akzeptiert zu werden: Als Kind hockte ich stundenlang vor dem Fernseher oder dem Radio und hörte zu. Mein Fernsehdeutsch kam bei den Schülern nicht gut an, wir seien in der Schweiz und nicht in Deutschland. (104) Die Ich-Erzählerin lässt Fremdheits-Erfahrungen über Situationen und innere Konflikte hervortreten, die in ihrem Herkunftsland kein Thema für sie waren, wie ihr einst geläufiger Name, der im Aufnahmeland als etwas Fremdes emp‐ 228 Ivana Pajić <?page no="229"?> funden wird, was der Ich-Erzählerin Schwierigkeiten bereitet, sich in ihrer Haut wohlzufühlen: „Sarah, so wollte ich heißen. Ich hasste meinen Namen, den sich niemand merken konnte. Wenn mich ein Fremder fragte, wie ich heiße, so antwortete ich immer Sarah.“ (65). Nach mehreren Jahren in der Schweiz stellt die Ich-Erzählerin fest, dass sich ihr Verhältnis zur Herkunfts- und Aufnahmesprache verändert hat: Ihre Herkunftssprache Türkisch wurde durch die erfolgte Integration in der Schweiz für sie zu einer Fremdsprache und Deutsch zu ihrer Muttersprache (133), was mit einem fundamentalen Identitätsverlust einherging: Ich mag die deutsche Sprache nicht; sie ist meine Muttersprache. Meine Mutter spricht kein Deutsch. Mit dem Verlassen meiner Kindersprache habe ich mich selbst verlassen. Ich habe mir meine Muttersprache selber beigebracht, da war ich zehn. (135) Wie bereits erwähnt, beschreibt die Ich-Erzählerin auch ihre Familienverhält‐ nisse in der Schweiz vermittels der Sprachthematik. Mehrmals ewähnt sie, dass sie sich in der Schweiz für die Lebensumstände ihrer Familie schämt, die z. T. auch dadurch gegeben sind, dass die Eltern die deutsche Sprache nicht beherr‐ schen. Im Licht der Dialogizität sind solche Passagen zugleich eine Einladung an die Lesenden, ihre eigene Kultur in der Fremdperspektive zu betrachten. Das Unwohlsein bezüglich der eigenen familiären Situation verdeutlicht die Autorin, indem sie der Ich-Erzählerin die in der Schweiz geborene Figur Sarah entgegenstellt, die in der Geschichte als „beste“ Schulfreundin der Ich-Erzählerin fungiert: Am nächsten Tag wollte ich Sarah fragen, ob sie und ihre Mutter einmal Zeit hätten, uns zu besuchen. Wo sollten wir sitzen, auf dem Bett, wo wir schliefen? Den Kuchen, den Anne machte, würde die Mutter nicht essen wollen, der enthielt zu viel Schokolade und Butter. Ihre Mutter war eine sehr sportliche Frau, die ging sogar joggen, wenn es regnete. Das versuchte ich einmal mit Anne, sie blieb nach drei Minuten stehen und rauchte eine Zigarette. Dann wollte sie mit der Zigarette im Mund weiterjoggen. (67) Expliziter als bei Žics Roman wird bei Kureyshi die Entfremdung zwischen Kindern und Eltern durch die Migration. Während sich die Kinder mit der Zeit mit ihrem Leben in der Schweiz arrangieren, integrieren und das Aufnahmeland als ihre neue Heimat akzeptieren, erkennt man am Verhalten der Mutter, dass diese die Schweiz durchgehend als fremdes Land empfindet. Die unterschiedli‐ chen Wahrnehmungen der Ich-Erzählerin und ihrer Mutter in Bezug auf das Herkunfts- und Aufnahmeland führen immer wieder zu Spannungen in der Mutter-Tochter-Beziehung. So versucht die Mutter, auch im Aufnahmeland gewisse Elemente aus ihrer Herkunftskultur weiterzupflegen, wie z. B., dass sie Polyphonie und Dialogizität 229 <?page no="230"?> in der Schweiz primär im türkischen Laden „Alima“ einkaufen geht (6), auch weiterhin den 8. März, der in Prizren „ein großer Feiertag“ (29) war, feiern möchte oder ein Kopftuch trägt und die Sprache des Aufnahmelandes nicht lernt, sondern überwiegend in der Herkunftssprache kommuniziert. Dagegen möchte die Tochter im Land, in dem sie nun lebt, dazugehören, wobei ihr ihre Herkunftskultur in gewissen Momenten als Last erscheint. So kommentiert sie das Kopftuchtragen der Mutter mit den Worten „Ich schäme mich dafür. Niemand in unserer Familie trug ein Kopftuch, warum musste sie gerade jetzt hier in der Schweiz ein Kopftuch tragen? “ (9) Während die Mutter die Zeit aufhalten und jede einzelne Erinnerung wie einen Schatz aufbewahren möchte, empfindet die Tochter die Erinnerungen als eine Last, die ihr das alltägliche Funktionieren erschweren, was in der „Haar-Szene“ verdeutlicht wird: Ich schneide meine Haare, ich beobachte, wie sie zu Boden fallen, ein Büschel nach dem anderen. Jede einzelne Erinnerung trenne ich mit der Stoffschere von meinem Kopf. Sie tragen eine Last auf ihren Spitzen, bis sie sich zu langen Gabeln verwandeln, die mich in den Rücken stechen. (32) Bezüglich ihrer Mutter, die das Leben in der Aufnahmekultur nur schwer akzeptieren kann oder will, erwähnt die Ich-Erzählerin auch explizit das Sprach‐ problem. Die Mutter wirft ihren Kindern, die mit der Zeit die deutsche Sprache fließend sprechen gelernt haben, vor: „Ihr versteht mich nicht, sprecht eine andere Sprache als ich.“ (116) Die Ich-Erzählerin gesteht, dass die Vorwürfe der Mutter nicht ganz unbegründet sind: „Anne wurde mit jedem türkischen Wort, das aus meinem Mund verschwand, mir fremder, und Baba benutzte immer mehr deutsche Wörter, wenn er mit uns sprach.“ (133) Wie in Žics Roman wird auch hier neben der Sprache das Leben zwischen den Kulturen durch die Pflege der Tradition ausgedrückt. In der Beschreibung von Babaanne sagt die Ich-Erzählerin z. B., dass sie in „arabischer Sprache, der Sprache des Mohameds“ (99) liest, um ihre starke Verbundenheit zur muslimi‐ schen Religion zu betonen, wobei sie hinzufügt „meine Sprache ist das nicht“ (ebd.). Die Religion ist auch ein Charakterisierungsmerkmal des sehr gläubigen Vaters, der in der Schweiz jede Woche mit anderen albanischen Männern in der Moschee betet (6). Interessanterweise haben wir auch in Kureyshis Roman das einschlägige Ereignis, dass ein der Ich-Erzählerin nahestehendes Familienmit‐ glied verstorben ist, wobei auch hier die Auseinandersetzung mit den Worten, Wahrnehmungen und Einstellungen des verstorbenen Vaters zum Geschehenen einerseits als eine Art versteckte Polemik und andererseits als versteckter Dialog gedeutet werden können. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass die 230 Ivana Pajić <?page no="231"?> 31 „Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“. Ich-Erzählerin im Laufe des Textes die Worte eines „Du“ aufgreift oder ihre Worte und Gedanken immer wieder an ein „Du“ richtet, das aber als keine am Gespräch aktiv teilnehmende (noch lebende) Figur identifizierbar ist, wie das folgende Beispiel zeigt: Auch deine Stimme verschwindet mehr und mehr aus meinem Ohr. Ich habe Angst, dass du eines Tages ganz verschwunden sein wirst. Aus meiner Erinnerung, aus meinem Mund, aus meinem Gesicht. Aga sagt, ich sehe dir ähnlich. An anderen Tagen ist es, als wärst du kaum ein paar Tage tot. (11) Obwohl sich die Ich-Erzählerin nicht als so religiös wie ihre Großmutter und ihr Vater betrachtet, sind für sie die Gebete in ihrer Herkunftssprache eine Art Trostanker in schwierigen Momenten oder ein Ruhepol. So spricht sie z. B. nach dem Tod des Vater das „Yasin Totengebet“ (5). Sie spricht auch Gebete in der Schule, auf dem Nachhauseweg, in der Bibliothek und flüstert beim Verlassen des Hauses immer die Worte „bismillahi rahmani rahim“ 31 (100), die die Autorin im Roman in der Originalsprache belässt und die ein intertextueller Verweis auf eine arabische Anrufungsformel aus dem Koran darstellen. Dass, wie es Bachtin betont, die Verwendung eines Wortes nicht auf einen festen Sinn festlegbar ist, sondern dessen Bedeutung von der kontextuellen Einrahmung abhängt, kann man am Beispiel des roten Mercedes der Familie erkennen: der Vater kauft das Auto „ohne Geld zu haben“ (22) für zehntausend Franken, „[das] er monatlich in fünf Jahren abbezahlen wollte“ (ebd.). Zwar begründet der Vater den Kauf damit, dass das „Zugfahren zu […] teuer“ (ebd.) sei; doch im Kontext des Heterostereotyps der reichen Schweiz bekommt das Auto eine andere Bedeutung. Es ist nicht bloß ein Transportmittel, sondern, im Gegensatz zu der Wohnung im Ausland, auch etwas, was die Verwandten aus dem Herkunftsland zu sehen bekommen, wenn man damit nach Hause fährt. Der symbolische Bedeutungsgehalt des Wortes „Mercedes“ in der Herkunftssprache ist im Kontext des Gastarbeiterlebens viel „breiter“ als in der Aufnahmesprache; es ist ein Statussymbol der Gastarbeiter und steht dafür, dass man es im Ausland „geschafft“ hat. Somit kann man mithilfe des Autos zumindest im Herkunftsland den Schein wahren und den Erwartungen der Verwandten gerecht werden, dass es einem in der Schweiz gut geht. Polyphonie und Dialogizität 231 <?page no="232"?> 5. Schlussbemerkungen Bachtins Konzept der Polyphonie stößt (wie oben dargelegt) immer eine aktive Lektüre an, da die verschiedenen Stimmen (bzw. Wörter und Sichtweisen), die der Text manchmal nur punktuell eröffnet, durchgängig mitzudenken sind. Daher scheint dieses Konzept für in Migrationserfahrungen gründender Mehr‐ sprachigkeit besonders fruchtbar, nicht nur um interkulturelle Erfahrungen darzustellen bzw. diese zu analysieren, sondern auch für die Aufforderung an die Leser: innen, Selbstverständlichkeiten ihres alltäglichen Lebens neu zu betrachten. In den obigen Analysen klang das v. a. mit den Hinweisen auf die implizite Polemik der Texte an. In den Analysen der Romane Die Nachkommende und Elefanten im Garten ist ersichtlich geworden, wie die beiden Autorinnen Elemente der Dialogizität und Polyphonie verwenden, um den Leser: innen zur Aufnahme- und Herkunfts‐ kultur, die im Text thematisiert werden, sowie zum Leben der Hauptfiguren zwischen den Kulturen einen Zugang zu eröffnen. Teil der Bewegung zwischen verschiedenen Kulturen ist in beiden Texten die Mehrsprachigkeit. Ihre Zu‐ gehörigkeit zu mehreren Kulturräumen ermöglicht den Autorinnen, solche polykulturellen Texte zu erschaffen, in die sie Wörter und Bedeutungen aus den ihnen nahestehenden Kulturen integrieren und miteinander verknüpfen. Die beiden Romane können als paradigmatisch dafür angesehen werden, wie die Autorinnen ihr inter- und transkulturelles Wissen in das schriftstellerische Schaffen einfließen lassen und sich mit Themen wie der Identitätssuche/ -be‐ stimmung, dem Leben zwischen verschiedenen Kulturen, dem persönlichen Verhältnis der Figuren zum Herkunfts- und Aufnahmeland und den damit einhergehenden Phänomenen von Mehrsprachigkeit befassen. Während Žic die Mehrsprachigkeit gleichermaßen auf der inhaltlich-thematischen als auch auf der performativen Ebene des Textes thematisiert bzw. realisiert, tendiert Kureyshi dazu, sich inhaltlich mit dem Thema auseinanderzusetzen. In beiden Texten kann man interkulturelle und intertextuelle Verweise (Songtexte, Ge‐ bete) finden, die für eingehendere Figurencharakterisierungen oder für zu‐ sätzliche Perspektiven auf den thematischen Kontext der Gesamtgeschichte genutzt werden; zudem spiegeln sie die Rhythmik, Struktur und thematischen Schwerpunkte und den kulturellen Hintergrund der Ich-Erzählerinnen und ihrer Familie. Des Weiteren erlauben die Textanalysen den Schluss, dass die Autorinnen Elemente aus der Herkunftssprache an solchen Stellen einsetzen, wo die Ich-Erzählerinnen Personen, Dinge, Momente oder Situationen aus ihrer Herkunftskultur erwähnen, mit denen sie emotional besonders verbunden sind und die ihre polykulturelle Identität mitbestimmen, ebenso wie an den Stellen, wo sie solche Phänomene aus der Herkunftskultur beschreiben, die 232 Ivana Pajić <?page no="233"?> mit der deutschen Sprache nicht beschreibbar sind. Der versteckten Polemik und des versteckten Dialogs bedienen sich die Autorinnen an den Stellen, wo sie die Einstellungen der Ich-Erzählerinnen in Bezug auf im Herkunfts- oder Aufnahmeland gültige Vorstellungen oder Betrachtungsweisen anderer Figuren entgegenstellen. Diesbezüglich wird auch in beiden Texten keine geläufige Definition der „Muttersprache“ gegeben, als „Sprache, die ein Mensch als Kind von den Eltern erlernt und primär im Sprachgebrauch hat“ (Duden 2023), sondern beide Ich-Erzählerinnen geben ihre ganz persönliche Sichtweise und Deutung ihrer „Muttersprache“, die den kontextuellen Bedingungen entspre‐ chen, unter denen sie aufgewachsen sind und leben. Durch den Einsatz einer solchen „interkulturellen Dialogizität“ fordern sie indirekt auch ihre Leser: innen dazu auf, sich mit den Lebensumständen und der sprachlichen „Wirklichkeit“ solcher Personen auseinanderzusetzen, deren Leben von Migration und der Zugehörigkeit zu mehreren Kulturen geprägt ist. 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Historische Dimensionen <?page no="239"?> Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc Christian Prunitsch Abstract: Multilingualism became a regular phenomenon for Sorbian literature after 1945, parallel to the institutionalization of Sorbian culture in the GDR. This opened up new aesthetic spaces in an effort to stabilize the threatened minority of Sorbs in Germany, the potential of which Kito Lorenc (1938-2017) unlocked throughout his poetic work. Volumes such as “Struga” (1967), “Wortland” (1984) until “Zymny kut” (2016), as well as several anthologies of Sorbian literature edited by Lorenc demonstrate the opportunities, but also the risks of literary multilingualism, given the specific conditions of a small literature under both socialism and capitalism. For Lorenc, Sorbian-German bilingualism has always been a critical practice - as an endeavor into Sorbian cultural history, as a critique of language and ideology, and as an emphasis on the Sorbian added value that Lusatia gains from its biculturalism. Keywords: Multilingualism, Sorbian literature, Kito Lorenc (1938-2017) 1. Historische Kontexte Die sorbische Literatur ist von Beginn an eine mehrsprachige Literatur. Ob man nun ihre Anfänge bei einzelnen, lateinisch schreibenden Vertretern des Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert suchen und finden kann oder ob eine tatsächlich mehr oder weniger kontinuierliche Entwicklung sorbischer Literatur doch erst ab dem späten 18., frühen 19. Jahrhundert plausibel aufgezeigt werden kann: in jedem Fall wird neben einer außerhalb der Lausitz zumeist ganz unbekannten binnensorbischen Zweisprachigkeit mit Ober- und Niedersorbisch der intensive Kontakt zum Tschechischen, auch dem Polnischen, vor allem aber dem Deutschen berücksichtigt werden müssen. Dabei dürfte mit zuneh‐ mendem zeitlichen Abstand die Bedeutung der kulturhistorischen Zäsur, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg vollzieht, weiter zunehmen: Mit Beginn der <?page no="240"?> 1 Vgl. Förster (2014); seit der Erstausgabe seiner Dokumentation devastierter Dörfer im Jahr 1995 ist die Zahl Verschwundene[r] Dörfer im Lausitzer Braunkohlerevier um weitere zehn auf ca. neunzig angewachsen. 1950er-Jahre findet in der sorbischen Literatur zugleich der Wechsel von der privaten auf die staatliche Ebene, von der Basis etwa des Vereins gleichgesinnter Aktivisten (Domowina, Maćica Serbska etc.) zur öffentlichen Institution (Verlag, Hochschule etc.) und der Wechsel von der dominant sorbischsprachigen zur (sorbisch-deutschen) zweisprachigen Literatur statt. Das vielfach beschriebene Paradox sorbischer Kultur in der DDR, bestehend aus massiver staatlicher Institutionalisierung vorwiegend in urbanen Räumen einerseits, massivem Schwund ländlichen sorbischen Siedlungsgebiets durch den Braunkohlentagebau 1 andererseits, tritt exakt in jenem Moment auf, als das Großprojekt einer an europäischen Standards orientierten kulturellen Selbst‐ vergewisserung für die Sorben zum ersten Mal überhaupt möglich wird. Mit Gründung etwa des Instituts für sorbische Volksforschung (Institut za serbski ludospyt) in Bautzen 1951 konnten wissenschaftliche Vorhaben in Akademiedi‐ mension wie etwa eine (aus heutiger Sicht leider aufgrund ideologischer „Über‐ säuerung“ unbrauchbare) mehrbändige Geschichte der Sorben, groß angelegte sprachwissenschaftliche Projekte, nicht zuletzt aber auch die systematische Erforschung der Geschichte der sorbischen Literatur erstmals jenseits der Reichweite individueller Forscherpersönlichkeiten (vor dem Zweiten Weltkrieg etwa Josef Páta oder Józef Gołąbek) in Angriff genommen werden - notabene zu genau derselben Zeit, in der historisch angestammte Lebensräume der Sorben auf den Braunkohlevorkommen in der Lausitz von eben jenem Staat wortwört‐ lich abgetragen wurden, der in so umfassender Weise für die - ideologisch konforme - Stabilisierung sorbischer institutioneller Kultur Sorge trug. Mehr‐ sprachigkeit wird also für die sorbische Literatur genau dann zum - höchst am‐ bivalenten - Normalfall, als sich für die Sorben eine historisch erste Gelegenheit eröffnet: Mit ausdrücklicher staatlicher Billigung kann ein Kulturmodell nach der aus sprachnationalen Tendenzen des 19. Jahrhunderts mitgeführten Norm dominanter Einsprachigkeit aus den für kanonisch erklärten Erbstücken jenes Jahrhunderts auf- und ausgebaut werden. Es überrascht aus dieser Perspektive nicht, dass sorbisch-deutsche Zweisprachigkeit, strukturell überformt durch das sozialistisch gewandelte Konzept slavischer Wechselseitigkeit, über Jahrzehnte hinweg höchst kontrovers diskutiert, ja stellenweise tabuisiert wurde. Denn es handelte und handelt sich hier ja nicht um eine Konstellation mehrsprachiger Chancengleichheit, sondern um die Integration der Mehrheitssprache im iden‐ titätskonstitutiven kulturellen Zentrum der Minderheit, also aus sorbischer Sicht um ein potenziell gefährliches Assimilationsrisiko. Literarische Mehrspra‐ 240 Christian Prunitsch <?page no="241"?> 2 Vgl. aktuell die Kampagne „Sorbisch? Na klar“ der sächsischen Staatsregierung: https: / / www.sorben.sachsen.de/ sorbischnaklar.html (Stand: 23.08.2023) chigkeit ist im sorbischen Fall also wohl nur sehr eingeschränkt mit jüngeren Phänomenen wie Globalisierung oder Migration zu korrelieren; hingegen wird „das Jahrhunderte lang gültige Paradigma der Einsprachigkeit von Literatur“ (Hausbacher 2021: 306) bei den Sorben vor dem Hintergrund ganz realer Angst vor dem Verschwinden verhandelt. Minderheits- und sprachpolitische Agenden, 2 Maßnahmenpakete und daran geknüpfte gesellschaftliche Konventionen seit 1990 haben dieser Problemlage bislang eher oberflächlich Rechnung getragen. Aus den diversen Äußerungs‐ formen politischer Affirmation, beginnend mit der - für sich genommen schon signifikant marginalen - Protokollnotiz zu den Sorben im Einigungsvertrag und fortgesetzt in der gegenwärtigen Struktur der Förderung sorbischer Kultur (Stiftung für das sorbische Volk) geht implizit immer noch die normative Grund‐ annahme hervor, dass Sorbe ist, wer sorbisch spricht (oder sich zumindest ernst‐ haft darum bemüht). Der unauflösliche Zusammenhang von (Erst-)Sprache und Identität scheint auch unter den multiplen Herausforderungen der Gegenwart, vor die sich eine auch quantitativ sehr kleine Sprach- und Kulturgemeinschaft wie die sorbische gestellt sieht, in positiver (durch Subventionierung sorbischer Spracherzeugnisse in schriftlicher wie mündlicher Form) als auch negativer (durch Invektivierung des Sorbischen als listige Camouflage verschworener Subventionsprofiteure) Weise Bestand zu haben. Sorbische Autoren stehen dabei […] vor der Entscheidung (oder unter dem Druck), ihre Werke in einer kleinen oder in der dominanteren Sprache zu verfassen (oder auch in beiden) und damit auch über die Wahrnehmbarkeit der Texte zu bestimmen. (Hitzke 2019: 37) Das ist nicht neu. Sorbische Sprache, viel mehr noch sorbische Literatur, stand seit jeher unter Verdacht: als überflüssige Spielerei, als Marotte, Liebha‐ berei, Zierat oder Lokalkolorit im 19. Jahrhundert, als minderheitenpolitisch zunehmend riskanter und von den Nationalsozialisten schließlich verbotener Irredentismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schließlich als von der deutschen Mehrheit durchaus schmallippig beobachtete, vermeintlich positive Diskriminierung der Minderheit in einer Mangelgesellschaft der Neider bis 1990 und vermutlich weit darüber hinaus. Zugleich ist der Erfahrungsraum dieser Sprache und dieser Literatur gerade aufgrund dieses historischen Hintergrunds so einzigartig, dass in ihm elementare Grundfragen europäischen Selbstver‐ ständnisses ästhetisch erprobt und durchdacht werden können. Weit vor dem Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 241 <?page no="242"?> Aufstieg des „Virtuellen“ im Sinne von Digitalisierung, sozialen Netzwerken oder generell der Verlagerung von Beziehungen aus dem Materiellen heraus gelangen in der sorbischen Literatur seit den 1960er-Jahren beeindruckende Experimente im Spannungsfeld von Hybridität, Pluralität, Minorität, Polysemie, insbesondere aber auch Sprachreflexion und -kritik. Der Anprall sozialistischer Modernisierung (i.e. Industrialisierung) an den bis dahin vorwiegend ruralen Zeichenraum des Sorbischen führt insofern zu einem so spezifischen wie zu‐ gleich repräsentativen sprachästhetischen Instrumentarium, wie es Kito Lorenc (1938-2017), der zweisprachige Dichter der Sorben schlechthin, über Jahrzehnte hinweg entwickelt und benutzt hat. Zugleich lässt sich an Lorenc’ Oeuvre die Frage erörtern, wie Zwei- und Mehrsprachigkeit ihr genuines, auch im Sozialismus erhebliches Provokationspotenzial im Übergang zum Kapitalismus nach 1990 wirksam erhalten kann. Anders formuliert: Wenn schon im mehr oder weniger uniformen sozialistischen System (sprachliche) Uneindeutigkeit als gesellschaftliche Belästigung begriffen werden konnte - wie steht es dann mit sprachlicher und kultureller Toleranz bzw. Affirmation von Vielfalt in jüngerer Vergangenheit und Gegenwart? Hat sich die Sehnsucht nach Eindeutigkeit (erhofft aus und projiziert in Konzepte von Traditionalität) in einer Umgebung der permanenten Disruption (Koch 2021) nicht eher so verstärkt, dass die Bereitschaft zum Aufbruch in Lorencʼ „Wortland“ abnimmt? 2. Kito Lorenc - das „poetisch Dritte“ Walter Koschmal, Verfasser nicht nur der ersten kultursemiotischen Grund‐ lagenanalyse sorbischer Kultur (Koschmal 1995), sondern auch der ersten literaturwissenschaftlichen Monographie über Kito Lorenc (Koschmal 2018), plädiert bei der Befassung mit dessen Werk für Zurückhaltung, wenn es um biographische Referenzpunkte für die Interpretation der literarischen Texte geht. Für diese Zurückhaltung spricht in der Tat die aus der Rückschau klar er‐ kennbare, über Jahrzehnte entwickelte Zielstellung des Dichters in Richtung auf sprachliche, kulturelle und ästhetische Zwischenräume der Mehrdeutigkeit, in denen Biographisches generell eine untergeordnete Rolle einnehmen dürfte. Lo‐ rencʼ Lebensstationen (Koschmal 2018: 12-13; Prunitsch 2018) sind dennoch in ihrer zeithistorischen Kontextualität vor allem im Kontrast zu seinem indirekten Konkurrenten im sorbisch-deutschen Literaturfeld, Jurij Brězan (1916-2006), wesentlich: Während Brězan nach dem Zweiten Weltkrieg die sorbisch-deut‐ sche literarische Zweisprachigkeit mit dem Buch Auf dem Rain wächst Korn (1951) zumindest formal einleitete und eine quasi lupenreine Karriere als staat‐ licherseits hofierter, ausgezeichneter und herumgereichter DDR-Großschrift‐ 242 Christian Prunitsch <?page no="243"?> 3 Die Werkausgabe von Bart-Ćišinski erschien in den Jahren 1969-1992, die von Zejler in den Jahren 1972-1996. Mato Kosyk, der entsprechend einzuordnende niedersorbische Klassiker, wurde erst in den Jahren 2000-2017 mit einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke gewürdigt. steller machte, wählte Lorenc, der mit dem Slavistikstudium in Leipzig sowie der unmittelbar anschließenden Anstellung als Literaturwissenschaftler am Institut für sorbische Volksforschung in Bautzen ebenfalls den Weg in die neu geschaf‐ fenen Kulturinstitutionen fand, in den 1970er-Jahren den riskanten Status des frei schaffenden Schriftstellers. Er löste sich damit gleich in mehrfacher Hinsicht aus den Bindungsanforderungen sozialistischer sorbischer Kultur, für deren Legitimierung die überwiegend bäuerliche Vergangenheit der Sorben als immer aufs Neue ausgespielter Trumpf im marxistisch-leninistischen Klassen-Spiel herhalten musste. Es ist heute kaum abzuschätzen, welch unerschütterlichen Mutes, welcher Unabhängigkeit im Denken es bedurfte, in diesem Jahrzehnt außerhalb der - durchaus standesbewussten - nationalkulturellen Institutionen der Sorben eine radikal alternative Variante sorbischer Literaturgeschichte zu erarbeiten: das mehrsprachige Sorbische Lesebuch / Serbska čitanka (1981). Lorenc war zu dieser Zeit bereits seit knapp zwanzig Jahren als sorbischer Autor bekannt und v. a. durch den bahnbrechenden zweisprachigen Gedicht‐ band Struga. Wobrazy našeje krajiny. Bilder einer Landschaft (1967) etabliert. Während in den 1970er-Jahren die Arbeit an den kritischen Gesamtausgaben der beiden obersorbischen Nationaldichter Handrij Zejler (1804-1872) und Jakub Bart-Ćišinski (1856-1909) in Lorencʼ früherer Arbeitsstelle, dem Institut für sorbische Volksforschung, unter strikter Beibehaltung sorbischer Einspra‐ chigkeit vorangetrieben wurde, 3 wollte Lorenc ganz bewusst einen neuen, den multidirektionalen und mehrsprachigen Polylog der sorbischen Literatur gleichsam aus sich selbst heraus geschehen lassen (vgl. a. Prunitsch 2021): Vor allem sollte ihr Spektrum nach Möglichkeit durch das Prisma dieser Literatur selbst betrachtet werden, sollten die Texte für sich und wechselseitig über sich sprechen, auch mit kritischem Selbstverständnis. (Lorenc 1981: 9) Damit machte Lorenc zugleich klar, dass sich der „Selbstverständigungsprozeß der sorbischen Literatur“ immer auch unter der Auflage vollzieht, „sprachlichen Realitäten Rechnung zu tragen“ (ebd.). Diese Realitäten waren im Entstehungs‐ zeitraum des Sorbischen Lesebuchs bereits weit weniger von der euphorischen Aufbruchsstimmung der 1950er- und frühen 1960er-Jahre geprägt, als für die Sorben unter sozialistischen Vorzeichen schlechterdings alles möglich und er‐ reichbar schien. Die 1970er-Jahre ließen das eingangs skizzierte und von Lorenc in Struga meisterhaft gestaltete Dilemma sorbischer Kultur immer deutlicher Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 243 <?page no="244"?> 4 Nachdem die Teilnahme am Sorbischunterricht in der Schule 1964 auf freiwillige Basis gestellt wurde, ging die Zahl Sorbisch lernender Schüler in den Schulen mit sorbischem Sprachunterricht in kürzester Zeit auf ein Drittel zurück. Pech (2012: 207) sieht in den anhaltenden Konflikten um die Präsenz von Minderheitensprachen an Schulen „ein Zeichen des langen Schattens nationalstaatlicher Bildungs- und Minderheitenpolitik“. Ausführlicher vgl. auch Pech (1999). hervortreten. Das Interesse der Bevölkerung im zweisprachigen Gebiet an sor‐ bischem Schulunterricht mit dem Ziel vollumfänglicher aktiver Beherrschung einer sorbischen Sprache in Wort und Schrift nahm dramatisch ab, 4 während ganz konkret räumliche Zukunftsperspektiven durch den ungehindert weiter voranschreitenden Tagebau und damit die Devastierung sorbischer Lebenswelt immer mehr eingeschränkt wurden. In gewisser Weise nimmt sich die Situation der Sorben in dieser Zeit wie eine regional umgrenzte Vorwegnahme gegenwärtiger Diskurslagen zur Be‐ wohnbarkeit von Landschaft in der Klimakrise bzw. im Anthropozän aus. Lorenc enthielt sich vor wie nach 1990 spekulativer Fiktionen, wie sie Jurij Brězan in seinem zweiten Krabat-Roman (Krabat oder die Bewahrung der Welt, 1995) versucht hatte. Ihm blieb die geduldige Rekonstruktion sorbischer literarischer Herkunft (der „Selbstverständigungsprozeß“) als Bedingung für sorbische kulturelle Zukunft wichtiger denn ein zeitweilig diskutierter, quasi ökologieästhetischer Antizipationsvorsprung der sorbischen als einer kleinen Literatur. In das polyphone Gesamtbild sorbischer (sprach-)kultureller Herkunft war aber zwingend dessen Zweibzw. Mehrsprachigkeit einzuschreiben, nicht etwa um archivarischen Vervollständigungserwartungen zu genügen, sondern um etwas ganz Neues zu schaffen: „das verfremdende Ineinander der Metapher, die letztlich auf ein poetisch Drittes abzielt, auf ein noch nicht in Begriffe zu fassendes geistiges Konzept“ (Koschmal 2018: 16). Die wichtigsten Elemente dieses Konzepts finden sich einerseits in kommentierenden Äußerungen zu seinem eigenen Werk und zu seiner Position in der sorbischen als einer programmatisch mehrsprachig verstandenen Literatur, andererseits in seinem lyrischen sowie dramatischen Werk. 2.1 Flurnamen Der Weg zu diesem „poetisch Dritten“ führt Lorenc in jenes „Wortland“, das seiner - nach dem Sorbischen Lesebuch - zweiten Publikation bei Reclam den Titel gibt (Lorenc 1984). Viele seiner Gedichte liegen in zwei - sorbischen und deutschen - Autorversionen vor, die nicht unbedingt als sprachliche Varianten verstanden werden können. Koschmal (2018) untersucht an vielen 244 Christian Prunitsch <?page no="245"?> 5 Abrufbar unter: https: / / www.liederlexikon.de/ lieder/ im_schoensten_wiesengrunde (Stand: 23.08.2023) 6 Seit 1965 erschien unter sowjetischer Führung der „Allslavische Sprachatlas“; seit demselben Jahr legte Helmut Faßke den 1996 zuletzt fünfzehn Bände umfassenden Sorbischen Sprachatlas vor. Beispielen gerade die semantischen, lautlichen, rhythmischen etc. Unterschiede zwischen sorbischer und deutscher Version, die dem je einzelsprachlichen Zugriff verborgen bleiben, ähnlich wie die auf dem Umschlag des Bandes verwendete Unerforschte Landschaft, eine Grafik von Peter Sylvester (1937- 2007) aus dem Jahr 1968 Unbekanntes, noch zu Entdeckendes, umrisshaft vage Sichtbares zeigt. Bis 1984 hatte Lorenc neben Struga bereits mehrere Bände mit Gedichten veröffentlicht, darunter mit Flurbereinigung (1973) jenen, in dem das viel zitierte „Wortland“ im Gedicht „Flurnamen“ die zentrale Position einnimmt. Dieses Gedicht markiert eine exponierte Schnittstelle zwischen der toponymischen Konkretheit des Flüsschens Struga in der Lausitz einerseits, die Lorenc 1967 im Titel des Gedichtbandes an die vorderste Stelle setzt, und der me‐ taphorisch-sprachreflexiven Abstraktheit im ortsungebundenen Sprach-Raum, der für Lorenc programmatisch zweisprachig und damit doppelt groß und erforschenswert ist. Kurz vor Beginn der Arbeiten am Sorbischen Lesebuch formuliert er so die Ergänzung regional verortbarer, damit noch räumlich restringierter Landschaftsdichtung durch den entgrenzten, damit freilich nicht automatisch ortlosen (der „ort“ ist im „Wortland“ phonetisch noch enthalten) Universum der Sprache. Er tut dies unter intensiver Einbeziehung sorbischer sprachlicher und kultureller Codes; dennoch gibt es keine sorbischsprachige Variante des Gedichts. Das Gedicht (Lorenc 1973: 93-95) beginnt mit dem sprachwissenschaftlichen Zugriff auf die „Landschaft, zerschnitten / von den Isoglossen der Dialekto‐ logen“ namens „Łužica - Lausitz“, toponymisch aus dem Slavischen ableitbar als „Grassumpf, nasser Wiesengrund“ und zugleich bereits durch die folgende Zeile „im schönsten“ auch deutsch markiert: „Im schönsten Wiesengrunde“ zählt zu den wohl bekanntesten deutschen Volksliedern, das freilich mit dem württem‐ bergischen Gelegenheitsdichter Wilhelm Ganzhorn einen konkreten Autor und auch ein Entstehungsjahr (1851) aufweist und besonders bei Auswanderern, nach dem Zweiten Weltkrieg auch bei Flüchtlingen und Vertriebenen beliebt war. 5 Damit ist bereits ein Hinweis auf die sorbische Auswanderungsbewegung im 19.-Jahrhundert impliziert. Auch das lyrische Subjekt macht sich wie die „Dialektologen“ 6 an die Er‐ schließung der gleichsam überfließenden Landschaft: „Ich halte mein Sieb drauf, gleich / springen die Quellen hervor.“ Mit diesem Werkzeug wird Wertvolles Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 245 <?page no="246"?> aus der Sprach-Strömung gefiltert; die Stoffgewinnung funktioniert aber auch andersherum, etwa beim Tanz im „Mairegen“, dem das lyrische Subjekt zuhört, „bis der Flachs mir ans Kinn reicht, / der Hanf mir die Ohren zuwächst / und mein Blut schwarz wird“. Das Gedicht bietet mehrere Ermittlungsdurchgänge bzw. Ebenen der Einsicht in die Möglichkeiten der Grenzüberwindung auf dem Weg der Abstraktion vom Toponym zur Metapher. Zunächst wird in einem vage angedeuteten Dialog („Sitzen zwei / unterm Wacholderstrauch“) noch die Unzuverlässigkeit des Erinnerns, die Unmöglichkeit des Benennens beschrieben: Sagt der eine: Es hieß da was wie, aber ich erinnere mich nicht. Sagt der andre: Besonders im Sommer spür ichs, weil ich es da viel brauche. Und sie sprechen irgend anders, obwohl man alles versteht. Oder man scheint es nur zu verstehen, denn ist es vorbei, war alles ein Traum. Wörter, Bezeichnungen, ja Sprache insgesamt sind in dieser Szene ungenau, un‐ greifbar, flüchtig und changierend wie das Verhältnis der beiden Dialogpartner - die „sind sonst / wie ein Hund und eine Katze“, also ein Sorbe und ein Deutscher oder aber doch ein Herz und eine Seele? In jedem Fall wendet sich das lyrische Subjekt von den beiden „Läuseknicker[n]“ ab, die laut Wörterbuch der Gebrüder Grimm damit als Geizhälse markiert sind. An deren statt erinnert sich das lyrische Subjekt, und zwar an ein ganz konkretes Toponym: „Da ist ein Weg / Sommer wie Winter, heißt Lange Liebe, / es ist der kürzeste.“ Bei Neudorf/ Spree in der Gemeinde Malschwitz nordöstlich von Bautzen gibt es tatsächlich einen Waldweg mit diesem Namen, auf dem, wie sich im Gedicht erinnern lässt, eine „Alte“ ihren toten Mann auf dem Leiterwagen nach Hause holt - am Ende einer mutmaßlich wirklich „langen Liebe“. Aus dem „Traum“ des vorhergehenden Abschnitts ist hier der bereits fassbarere, benennbare „Weg“ geworden. Dieser wird im Folgenden erweitert zur Ebene des Feldes, analog „Sommer wie Winter“ benannt als „Amerika“ hüben und „Australien“ drüben, auf einer Seite in Sachsen, auf der anderen in Preußen gelegen - ein weiterer Hinweis auf historische Zäsuren für die Sorben im 19. Jahrhundert, wenn etwa an die Verschiebung der sächsisch-preußischen Grenze im Zuge der Teilung des Königreichs Sachsen 1815 gedacht wird; seitdem befand sich die gesamte Niederlausitz zusammen mit der nördlichen Oberlausitz unter preußi‐ 246 Christian Prunitsch <?page no="247"?> 7 „Jaden dub - tśi narody, jaden kamjeń - tśi duby.“ (Hose 1996: 54) scher Herrschaft. Nach Amerika und auch nach Australien waren im späteren 19.-Jahrhundert wiederum zahlreiche sorbische Auswanderer gegangen. All dies ist mehr oder weniger rekonstruierbar, kann in Miniaturszenen gefasst und poetisch anskizziert werden. Es ist jedoch vergangen: „ist es vorbei, war alles ein Traum“; „[n]ichts / mehr zu machen“; „es ist vorbei“ - was also anfangen mit den Erinnerungsmarkierungen, geronnen in all den Flurnamen, die sich im Sieb des Dichter-Forschers wiederfinden? Vom „Weg“ geht es über das „Feld“ zur „Pfütze“, in die das lyrische Subjekt Steine wirft. Dessen Pendant in der zweiten Person Singular sagt daraufhin das sorbische Sprichwort „Ein Stein überdauert drei Eichen und eine Eiche drei Generationen“ 7 her. Die Eiche als symbolischer Baum der Deutschen gibt aber noch keine Kontinuitätsgarantie für die Sorben. Deshalb wird sogleich angefügt: „Es geht auch mit Linden“, also mit dem symbolischen Baum der Sorben. Mit Pfütze und Eiche endet sorbisches Sein keineswegs, denn: „Und dann / gibt es da noch das Meer, aber / das wußten sie noch nicht“. Hier gewinnt das Meer als größtmögliche Klimax der Pfütze Mehrdeutigkeit einerseits als Distanz, die die sorbischen Auswanderer überwinden müssen, andererseits als Verweis auf das von Lorenc später noch so häufig verwendete Bild von der ‚sorbischen Insel im deutschen Meer‘, die zu ganz neuen Bilder- und Metaphernvorräten führt. Weg, Feld und Pfütze, alles Elemente des Ländlichen, münden schließlich in „mein Dorf “, in dem sich die beiden Dialogpartner schließlich treffen, um die „poetologische Zukunft des Wortlandes“ (Koschmal 2018: 90) als sprachliche Überwölbung der erinnerten Natur vorzuzeigen: Eine ganze Reihe von Komposita mit je einem sprachlich-literarischen und einem natürlich-objektweltlichen Element öffnet den Zugang zum „Wortland“, gelegen „im Liedwind, im Märchenlicht, unter dem Rätselstern“ als Summe von „Reimrain“, „Sagenstein“, „Tierfabelbusch“, „Bildquell“, „Spruchkraut“ oder „Silbenwurzel“ - sämtlich „Flurnamen des Gedichts“. Bis auf die sprachwissenschaftlich etablierte „Silbenwurzel“ sind dies sämtlich neue Metaphern, die aus der Abkehr vom Modus der Vergangenheit hin zum nicht länger umgrenzten Modus der Zukunft entstehen: „Und nun können wir überall hingehn, / nicht wahr? “ Damit ist zugleich die das Gedicht bis zu diesem Schluss beherrschende Dichotomie von „ich“ und „du“ zum „wir“ hin aufgelöst, eine neue Gemeinschaft schöpferischer Arbeit nicht nur im, sondern auch auf dem Wortland wird möglich. Die gründliche, quasi jeden „Sagenstein“ umwendende forschende Beschäf‐ tigung mit sorbischer und zugleich deutscher Vergangenheit der Lausitz ist die Voraussetzung dafür, den Zustand des ungewissen Träumens, der offenen Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 247 <?page no="248"?> 8 Koschmal (2018: 90) sieht den Aufbruch ins „Wortland“ berechtigerweise mit Struga (1967) beginnen, fügt jedoch hinzu: „Im Jahr 1984, in dem der Gedichtband Wortland erscheint, erfährt es in diesem gewachsenen Sinne vielleicht gerade sein Ende.“ Fragen („der Weg? “, „das Feld? “), des Unbewussten („das wußten sie noch nicht“) zu überwinden. Zumindest könnte so eine aus dem Gedicht ableitbare Hypothese lauten; dennoch endet der Text explizit mit einer Rest-Unsicherheit, denn die Feststellung „nun können wir überall hingehn“ wird nochmals in Frage gestellt: „nicht wahr? “ Es ist zu Beginn der 1970er-Jahre keineswegs ausgemacht, dass diese Reise ins sorbisch-deutsche Wortland auch wirklich gut gehen wird - die am „Hügel der Ode / vom glücklichen Wetter, vom guten Beginn“ mitgenommene optimistische Grundhaltung eines Handrij Zejler, auf den hier verwiesen wird (Lorenc 1984: 146), reicht als solche im 20. Jahrhundert nicht alleine aus. Kulturhistorische Forschung und darauf fußendes literarisches Schaffen müssen ihre kritische Perspektive, die Bereitschaft, immer wieder alles in Frage zu stellen, immer wieder erneuern. Erst damit wird aus einer vergangene Zustände dokumentierenden Volkskunde alten Stils eine neue Kulturanthropologie, eine moderne Konzeption sorbischer Kultur im engen Austausch mit deutscher und slavischer Kultur. 2.2 Wortland Zehn Jahre später hat diese poetisch ausführlich reflektierte und durch die Ar‐ beit am Sorbischen Lesebuch erfahrungsgesättigte Aufbruchsbereitschaft einer neuen Perspektive Platz gemacht. 8 Das in Wortland abgedruckte Interview von Marieluise de Waijer-Wilke mit Kito Lorenc (1984: 155-167) gehört bis heute, auch nachdem dessen weitere für eine sprach- und kulturkritische Analyse des sorbischen Paradigmas relevanten Texte zugänglich sind (vgl. insb. Lorenc 2013a, 2022), zu den bedeutendsten Quellen für die Untersuchung von Mehr‐ sprachigkeit in der sorbischen Literatur. Wiewohl dies in Fachkreisen durchaus bekannt ist, lohnt sich vor dem Hintergrund des Gedichts „Wortland“ - das nicht nur als Klimax im Gedicht verstanden werden braucht, sondern zugleich auf Lorencʼ literarischen Vorgänger und Großvater Jakub Lorenc-Zalěski (1874- 1939) sowie auf Johannes Bobrowski als einen der wichtigsten Impulsgeber für den angehenden Dichter verweist - ein nochmaliger genauerer Blick auf die hier vertretenen Ansichten zu Geschichte, Gegenwart und Perspektive sorbischer Mehrsprachigkeit im letzten Jahrzehnt der DDR. Das Interview greift zunächst Lorencʼ Anfang der 1980er-Jahre bereits be‐ trächtliche „slawische Resonanz“ (155) etwa in Anthologien slavischer Lyrik auf. Mehrsprachigkeit sorbischer Literatur impliziert also zu dieser Zeit bereits 248 Christian Prunitsch <?page no="249"?> weit stärker als etwa noch im 19. Jahrhundert die zunehmende Zahl von Übersetzungen sorbischer literarischer Texte in andere slavische Sprachen, die unter den eingangs angedeuteten ideologischen Präsuppositionen sozia‐ listischer Brüderlichkeit eine gute konjunkturelle Grundlage haben. Eine ver‐ gleichsweise zentralere Rolle kommt aber Lorencʼ individueller Mehrsprachig‐ keits-Geschichte zu, denn wir haben es hier mit einem zunächst deutschsprachig aufgewachsenen Menschen zu tun, der erst als Jugendlicher Zugang zum sorbischen „Großvater-Land“ sucht und findet: Öfter und öfter besuchte ich dann das Großvater-Land, erfuhr es, erschreibe es mir immer noch auch mit sorbischen Gedichten und in dem ich es mir und andern ins Deutsche „übersetze“. […] Mußte ich erst einen sarmatischen V-Effekt aus Bobrowski beziehen, ehe ich dies Sorbisch-Einmalige für mich wiederholen konnte, ohne es doch schon einzuholen? (157 f.) Es sind also von Beginn an Eindrücke aus der konkreten Erfahrung von Zweisprachigkeit, die Lorenc und mit ihm die gesamte sorbische Literatur auf mehreren Ebenen prägen. Wie Lorenc selbst immer wieder auf den auch pragmatisch-vermittelnden Aspekt zwischen Sorbisch und Deutsch hinweist, so soll auch das Sorbische Lesebuch die eigene (sorbische) Literaturgeschichte für alle Rezeptionslagen und -gruppen - sprachenübergreifend - geeignet sein. Zur Zielsetzung der Anthologie gehörte es, […] daß sie als sorbisch-deutsche Zweisprachenedition gleichermaßen für die Sorben selbst nicht nur elementare literaturvermittelnde, sondern auch schlechthin sprach‐ mittlerische Aufgaben zu tragen hatte: Die zwei Schrift- oder Standardsprachen Obersorbisch und Niedersorbisch, in welche sich das heutige Sorbisch aus Gründen gliedert, deren Vorgeschichte bis in die slawische Besiedlung zurückreicht, unter‐ scheiden sich neben ihrer geographischen Abgrenzbarkeit voneinander so beträcht‐ lich, daß ohne entsprechende Vorbildung der Sorbe in der Oberlausitz nicht das niedersorbische, der Sorbe in der Niederlausitz nicht das obersorbische Schrifttum rezipieren konnte noch kann. (159) Diese sprachhistorische Vereinzelung wird verstärkt durch die weitere Isolie‐ rung von (Sprach-)Inseln im Zuge der - im 19. Jahrhundert ja bereits begon‐ nenen - Industrialisierung der Lausitz, die mit dem extensiven Tagebau ihren Kulminationspunkt erreicht. Deshalb muss sich die Konzeption des Lesebuchs als von vornherein zweisprachig in den antizipierten Konfliktraum stellen, in dem Vorbehalte gegen jene Zweisprachigkeit zuverlässig aus beiden monolin‐ gualen Richtungen erhoben werden: Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 249 <?page no="250"?> 9 Umfassend zur aktuellen Situation sorbischer Sprachpolitik insbesondere mit Blick auf schulische Bildung vgl. Dołowy-Rybińska (2023), die für die katholischen Obersorben sogar von sprachlichen „Mauern“ („Walls“) zwischen Sorben und Deutschen ausgeht: „whether someone is called a ‘Sorb’ or a ‘German’ is strongly related to the language that person uses at home, practically excluding those who do not speak Sorbian from the minority group“ (70). Dies dürfte freilich nur für die o. g. „Core Community“ in Anschlag gebracht werden. Demgegenüber dürfte die Entscheidung für den Namen „Serbska Murja“ („Sorbische Mauer“) für einen 2017 gegründeten sorbischen Jugendverein eher als positive Provokation gedeutet werden. Gerade in der Praxis des zweisprachig schreibenden sorbischen Gegenwartsautors kollidiert ja ein nationalliterarisch überliefertes Selbstverständnis, dem die sorbische Sprache, ihre Pflege und Bewahrung wesentlichste, unverzichtbare Dominante sein mußte, sehr konkret und oft krisenhaft mit den heute so veränderten Entstehungs- und Wirkungsbeziehungen sorbischer Literatur. Gerade ihm stellt man und stellen sich ja die Sprachenfragen, welche von „sorbischer“ (seiner eigenen) Seite etwa lauten: Warum schreibst du jetzt auch deutsch, da es doch noch einige tausend sorbischsprachiger Leser gibt […]? Und von „deutscher“ (auch schon der eigenen) Seite: Warum schreibst du überhaupt noch auf sorbisch, da alle Sorben deutsch können und der sorbischsprachige Teil mit den historischen und regionalen Varianten des Schriftsorbischen Lese- und Übersetzungsnöte hat […]. (160) Dieses „Dilemma“ (161) zu überwinden, ist nicht nur eine ästhetische, son‐ dern eine bis heute weder sprachpolitisch noch gesellschaftlich bewältigte Aufgabe geblieben. Während die deutsche Mehrheit immer wieder zuverlässig ökonomisch-zweckrationale Argumente gegen Aufbau oder Weiterführung einer sorbischsprachigen literarischen Tradition vorbringt, betont die sorbische Minderheit den unersetzbaren Stellenwert des Sorbischen für den eigenen Zusammenhalt. 9 Für Lorenc führt nur ein Weg aus dieser permanenten Kon‐ frontation, der beiden Seiten Vorteile verspricht: Erst in der Gegenüberstellung, der wechselseitigen Korrektur, Verfremdung, Durch‐ dringung kommt es auch hier zu etwas Neuem, kommt man von den Sprachenfragen auf die eine Frage nach einem sorbischen literarischen Bewußtsein neuer Identität, das ja nur in der besonderen strukturellen Verbindung, der widersprüchlich-produktiven Einheit all seiner vergangenen und gegenwärtigen und zu gewärtigenden Elemente erreichbar sein kann. (161) Diese Schlussfolgerung ist weder naiv noch illusorisch - ganz deutlich schließt Lorenc hier auch die „verlustbewußte Abkehr von jeglicher (auch sprachlicher) Exklusivität“ (162) ein, sondern ermuntert zur verflochtenen, „mehrdimensio‐ nalen Bewegung in und aus der Richtung“ (ebd.) des mehrsprachigen sorbischen 250 Christian Prunitsch <?page no="251"?> „Literatur-Hauses“. Von diesem Punkt aus wird dann auch die politisch und gesellschaftlich zumeist im Vordergrund stehende Vernichtung traditionellen sorbischen Lebensraumes zur nicht mehr so katastrophal und unverhofft her‐ einbrechenden Apokalypse nur für die Sorben, ist vielmehr das ökologische Risiko „für den Wald- und Menschenbestand nicht nur der Lausitz in Mit-Rede, öffentliche“ (ebd.) zu stellen! Lorenc transponiert die Problematik, aus der Perspektive einer Minderheitenliteratur wohlgemerkt, in den Diskursraum des Anthropozän: Für den Fortbestand der sorbischen Sprache ist die erweiterte Kohle- und Energiegewinnung in der Lausitz kaum noch „merkmalhaft“. Die Sprachsituation konnte […] nicht komplizierter als kompliziert werden, und die sorbische Lausitz […] gab es nicht, auch nicht mehr als agrarisch „heile Welt“ von Sprachinseln, zumal die Industrialisie‐ rung gerade der - auch heute meistbetroffenen - Mittel- und Niederlausitz schon Ende des 19.-Jahrhunderts begann. (162 f.) Die literarische bzw. diskursive Erfassung der unabsehbaren Konsequenzen der Devastierung ist auch schon 1984 nicht mehr als „eine Art lyrischer Kohlever‐ edlung“ (163) leistbar, die Lorenc rückblickend in seinem in Struga versuchten Zugriff erblickt. Das „Wir“ in seiner Beschreibung ist kein rein sorbisches und auch kein rein deutsches mehr, sondern ein allgemein-menschliches: Die Kohlen stimmten, und der Schornstein rauchte - ja. Dafür entschädigten wir und dachten uns schadlos zu halten mit zusätzlicher Düngung der Kiefern- und Fichtenschonungen aus der Luft, mit Kunst-Dünger zur Menschenschonung. Wir schrieben das Wort Um zu groß und lieferten frei Welt, was uns Luft zum Atmen war - als ging es uns nicht um Welt, als wäre sie bloß um uns, nicht wir in ihr und sie nicht in uns. (164) 2.3 Sorbische Insel und deutsches Meer Diese neue, größere sprachliche und zweifellos auch umweltpolitische Kommu‐ nikationsgemeinschaft benötigt ein viel ausgeprägteres Bewusstsein für das kritische Potenzial von Sprachen, gerade auch in deren wechselseitiger Einfluss‐ nahme. Lorencʼ neuer „Filter des Gedichts“ lässt ihm „nichts Quasiges mehr durchgehn“, und er wird ergänzt durch eine kräftige „Prise Sprach-Kontrast‐ stoff “ (ebd.), mit dem neben der Umweltverschmutzung auch die zeitgenössische Verschmutzung der Sprache benennbar wird. Die ab Mitte der 1980er-Jahre entstehenden Gedichte reagieren viel entschlossener auf die Krise von Natur, Gesellschaft und ethnisch-sprachlicher Abgrenzung: Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 251 <?page no="252"?> Wenn Lyrik hier, und überhaupt Kunst heute, nicht Selbstgespräch bleiben, sondern den Dialog, also Gemeinschaft will, darf sie an einem öffentlichen Sprachzustand nicht vorbeigehn, der die „große Aussprache“ der vielen hemmt. (167) Deutlicher kann man zu Beginn der 1980er-Jahre wohl nicht unterstreichen, worin das spezifische Potenzial einer mehrsprachigen Minderheitenliteratur wie der sorbischen liegen kann, die den Anspruch auf umfassende Beteiligung am kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs nicht nur nicht aufgibt, sondern vielmehr noch verstärkt. Mit diesem Anspruch jedenfalls zieht Lorenc in den Wendejahren Gegen den großen Popanz (Lorenc 1990) und entwirft in den folgenden Jahrzehnten weitere Räume, in denen Mehrsprachigkeit nicht nur geduldet, sondern geschätzt werden könnte. Die kulturelle Realität hat diesen Entwürfen nach heutiger Einschätzung kaum Rechnung getragen. Ein Grund hierfür ist vor dem Hintergrund des realen Schwundes an aktiver Beherrschung des Sorbischen schon auf der Ebene der Alltagskommunikation sicherlich im - ästhetisch nicht wirklich verhandelbaren - Bedarf nach kom‐ petenten Rezipienten zu sehen. Lyrik auf dem Niveau von Lorenc oder Róža Domašcyna, die das Projekt sorbischer Mehrsprachigkeit mit beeindruckender Konsequenz in jenen „dritten Raum“ vorantreibt, der im 20. Jahrhundert allen‐ falls erahnbar war (vgl. ausführlich Koschmal 2021), erfordert Leser, die tatsäch‐ lich in beiden Sprachen hinreichend rezeptionsfähig sind, um die vielfältigen Äußerungsformen manifester, latenter oder exkludierter Mehrsprachigkeit (vgl. Blum-Barth 2021) ästhetisch nachvollziehen zu können. Auf dieses Kompetenz‐ gefälle weist auch Walter Koschmal zu Recht immer wieder deutlich hin. Die daraus resultierende erhebliche Einschränkung der „Lesergemeinschaft“ (Lorenc 1984: 165) wird durch die Konzentration auf Lyrik als Gattung für diese ästhetischen Erkundungen freilich nochmals verstärkt. Lorenc war sich dieser Sachlage selbstverständlich bewusst, wobei allein hieraus sein in den 1990er-Jahren vollzogener Schritt u. a. zur Dramatik kaum abgeleitet werden kann. Ihm dürfte vielmehr jener Idealzustand von Lyrik bzw. Kunst allgemein als dialogisches Gemeinschaftsgeschehen weiter vor Augen gestanden haben, als er mit Interventionen wie Die Insel schluckt das Meer (1991/ 1999), Bikulturalität und Selbstverständnis (1995) oder der zweiten großen, von ihm verantworteten Anthologie Das Meer Die Insel Das Schiff (2004) an die Öffentlichkeit trat. 1991 war Lorenc als Referent vor britischen Wissenschaftlern mit dem Vortrag Die Insel schluckt das Meer aufgetreten. Der Vortrag erschien 1999 in der Zeitschrift für Slavische Philologie sowie 2013 in nochmals redigierter Form (Lorenc 2013a: 141-156). Ähnlich wie im oben erläuterten Interview reflektiert Lorenc über die Geschichte der sorbischen Literatur sowie seine eigene Position in deren Entwicklung anhand der im 19. Jahrhundert erstmals 252 Christian Prunitsch <?page no="253"?> belegten Metapher von der sorbischen Insel im deutschen Meer. Auf der Suche nach Alternativen zu - naheliegenden und auch frequenten - Warnungen vor dem Untergang der Insel im übermächtigen Meer rät er zur Ersetzung der üblichen Opposition von (sorbischem) Eigenem und (deutschem) Fremdem durch die viel adäquatere Opposition von Besonderem und Allgemeinem. Erst dann erkennt man hinter solchen Land-unter-Rufen auch den heillosen, in (nicht nur literarische) Untiefen führenden Insel-Narzissmus, der sich zuletzt umso exklusiver wähnt, in je größerem Meer zu versinken er sich schmeicheln darf. (151) Indem die „zweisprachige Praxis sorbischer Literatur“ (ebd.) der längst Realität gewordenen Zweisprachigkeit der Sorben Rechnung trägt, wird es möglich, zugleich die bedrohte Insel zu verlassen und dennoch nicht im Meer zu verschwinden - nämlich auf dem Schiff, als das Lorenc gerade sein Gedicht „Wortland“ konfiguriert: Das Gedicht, ein Weberschiffchen Sprache, mit der Zitatfracht aus sorbischer und deutscher (Volks-)Überlieferung, zwischen Meer-Wortland und Insel-Wortland fährt es hin und her, treibt Handel und Wandel, tauscht etwas ein. Nicht Doppelexistenz. Der Text hat keine sorbische Autorversion. Er könnte aber auch sorbisch geschrieben worden sein und keine deutsche haben. (155) Bauelemente und Besatzung dieses Schiffs wären, so ließe sich weiterdenken, Literatur und Literaten, die in einer solchen maximal dynamisch verstandenen Zukunft das Schiff erhalten und voranbewegen. Der aus solchem „Handel und Wandel“ erwartete Ertrag ist nichts Geringeres als Erlösung aus der uner‐ träglichen Spannung zwischen Minderheits- und Mehrheitssprache, aus „Über‐ setzungsschwierigkeiten, Verlustmonolog“ (154): „Identität als Widerspruch, ausgehaltener, unaufgelöster, wirkt erlösend (…)“ (155 f.). Damit verlangt Lorenc seinen Zeitgenossen einiges ab. Zur extremen gesell‐ schaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Unsicherheit sollte auch noch die Bereitschaft treten, (traditionelle) Identitätskonzepte in Frage zu stellen bzw. daraus sogar eine „dialogisch gelöste Gewinnhaltung“ (154) zu erreichen. Dass dies poetisch tatsächlich äußerst gewinnbringend sein kann, zeigt neben Lorencʼ eigenem Werk u. a. der inzwischen äußerst reiche Werkbe‐ stand von Róža Domašcyna. Kultur-, sprach- und regionalpolitisch jedoch hatte die sorbische Literatur die Last der ideologischen Restriktion gegen die Last der kapitalistischen Restriktion eintauschen müssen. Die 1990er-Jahre waren für die sorbische Kultur eine einzige Aneinanderreihung von Schwund- und Fremdbestimmungserfahrungen, in denen sich Lorenc zur massiven Verteidi‐ Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 253 <?page no="254"?> 10 V.a. Elka Tschernokoshewa vertrat in ihren kulturanthropologischen Arbeiten einen hybridologischen Ansatz. gung selbst der infrastrukturellen Grundlagen für eine Praxis des vorgenannten Identitätskonzepts genötigt sah. 1994 etwa trat er in einem Diskussionsbeitrag zu Empfehlungen einer Strukturkommission (Tschernokoshewa 1994) zu den kulturellen Perspektiven der Sorben in Deutschland (hier konkret anhand von Vorschlägen zum Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen, Lorenc 2013a: 134-140 in Reaktion auf Tschernokoshewa 1994: 157) erneut gegen die Abdrän‐ gung des als fremd gefassten Sorbischen an die Ränder des Kulturlebens in der Lausitz auf und explizit für die Fortsetzung jener Implikatur des Sorbischen als besonders innerhalb des Deutschen als allgemein ein. Diese „Bikulturalität“ unter ökonomischem und strukturellem Transformationsdruck preiszugeben, würde kaum zu ermessenden Schaden bewirken. Wer in der bikulturellen Praxis des genannten Theaters Sorbisches und Deutsches voneinander trennen und daraus z. B. Förderbzw. Produktionsanteile berechnen wolle, der grenzt ab und aus, der schneidet ins empfindlich-lebendige, ganzheitliche Fleisch, der macht von der in diesem Haus gottlob gewonnenen, unter größten Anstrengungen erreichten kulturellen, ästhetischen Kategorie der Bikulturalität wieder Schritte zu‐ rück zur politischen Kategorie nationaler Konkurrenz, zu deren Rivalitäten und Grup‐ penegoismen mit all den sattsam bekannten, höchst unappetitlichen, abstoßenden Querelen. Der verlässt schließlich die Kultur und Kunst, und den verlässt sie auch. (140) Dass Lorenc sich hier zu solch drastischen Formulierungen gezwungen sieht, kennzeichnet mindestens die ersten beiden Jahrzehnte nach der Wende. Die Konzepte von Bikulturalität oder Hybridität 10 bargen und bergen das Risiko der Nichtvermittelbarkeit, wie Lorenc ebenfalls genau wusste. Schon 1991 hatte er mit Bezug auf den sorbischen Publizisten Mikławš Andricki (1871-1908) festgehalten, dass etwa mit der Großmetapher des sorbischen Schiffs durchaus der oben skizzierte „erlösende“ Ausweg aus dem Dilemma sorbisch-deutscher Konfrontation möglich sei; dennoch […] ist es ein großer Verlust, eine schmerzliche Entbehrung, wenn diese heilenden Impulse nicht ankommen, nicht „nach Hause“ gelangen können, vielleicht weil das Volk ihre Sprache nicht mehr versteht, noch nicht verstanden hat. (Lorenc 2013a: 152) Auch dem in „Bikulturalität und Selbstverständnis“ zur baldigen Premiere (Oktober 1994) angekündigten Stück Die wendische Schiffahrt war umfassende Anerkennung von Spezialisten neben gemischten Reaktionen seitens der Sorben 254 Christian Prunitsch <?page no="255"?> beschieden (vgl. Młynk/ Scholze 2003: 347-349, Koschmal 2018: 184 ff.). Lorenc fand in den folgenden Jahren in einer ganzen Reihe abwechselnd deutschbzw. sorbischsprachiger Gedichtbände dennoch weitere, neue Nuancen für seine Lyrik, was ihm schließlich - auch dank der Unterstützung von Peter Handke - die Aufnahme in den Olymp deutscher Schriftsteller, nämlich den Suhrkamp-Verlag, einbrachte (Lorenc 2013b). Damit war Lorenc einem wich‐ tigen Lebensziel sehr nahegekommen: Sorbischer Dichtung - in diesem Fall in deutscher Sprache - die ihr gebührende Präsenz in der „allgemeinen“ deutschen Dichtung zu verschaffen. Der Suhrkamp-Band trug freilich die deutliche Handschrift Peter Handkes, der für Lorencʼ sprachspielerische (dabei immer sprachkritische) Neigungen wenig übrighatte; es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass mit dem posthum erschienenen Band Es war nicht die Zeit (Lorenc 2023) gewissermaßen das Komplement zu der von Handke besorgten Ausgabe veröffentlicht wurde. 2.4 Gartenzimmer Den letzten sorbischsprachigen Gedichtbänden Podomk (2010) und Zymny kut (2016) wird vor dem Hintergrund des bisher Vorgebrachten künftig ganz beson‐ dere Aufmerksamkeit gebühren, setzt Lorenc doch hier um, was er in seinen zeitlebens betriebenen Überlegungen zur Spezifik sorbischsprachiger Lyrik gegenüber deutschsprachiger Lyrik immer wieder beobachtet hatte, darunter der exponierte Stellenwert des Reims. Exemplarisch sei hier abschließend mit dem titelgebenden Gedicht aus Zymny kut eine der letzten Passagen des Dichters vom sorbischen zum deutschen „Wortland“ und zurück näher betrachtet. In den Gedichten ab ca. 2000 gewinnt der Zusammenhang zwischen kon‐ kreter Region und Sprache wieder mehr an Bedeutung. Zugleich mischt sich in Lorencʼ Texte jene Tendenz zur Melancholie, mehren sich Motive des Rück‐ zugs, Abschieds, des Vergehens, der Erinnerung, die in den Gedichten aus den 1960er- und 1970er-Jahren mit der erklärten Bereitschaft zum Aufbruch in die „bikulturelle“ Zukunft des gemeinschaftlich bewohnten „Wortlandes“ verbunden waren. Das Leben als freier Schriftsteller, insbesondere als Lyriker, war mehr als zehn Jahre nach der Wende nicht eben auskömmlicher geworden; Lorenc zog sich, unzufrieden nicht nur mit den Empfehlungen der o. g. Strukturkommission, sondern auch mit der Entwicklung anderer sorbischer Kulturinstitutionen, aus dem öffentlichen Leben weitgehend zurück. Die Rolle, die u. a. der Literatur in seinem Konzept einer bikulturellen Lausitz zugedacht war, schien in der sorbischen Öffentlichkeit, die sich in diversen institutionellen und persönlichen Grabenkämpfen verlor, nicht ausdrücklich erwünscht. Statt Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 255 <?page no="256"?> Modelle der Zukunft erforschte Lorenc nun vermehrt die Simultanität von erinnerter (Familien-)Geschichte und Gegenwart vor dem Hintergrund seiner zeitlebens angestellten philologischen bzw. dialektologischen Beobachtungen. So tritt wiederholt der Czorneboh, nördlicher Gipfel des Lausitzer Berglandes, ins dichterische Bild, der mythologisierte „Schwarze Gott“, der lokal auch als „Čorny bok“ geläufig ist und im Gedicht „An der Schwarzen Seite“ (Lorenc 2002: 40) als „Wetterwand“ von „böhmischen Stürmen“ daherkommt. Die Natur erscheint hier nicht mild oder ersprießlich, sondern bedrohlich und begrenzend: Čorny bok Schwarze Seite, er sah sie den Fichtenbuckel die Wetterwand drüber ineins schwellen von böhmischen Stürmen Zäunebrechern Toraushebern Dachabdeckern die den Rauch in die Stuben drücken im Frühjahr das später über den Berg kommt wie die Sonne früher den Schatten hierläßt wo Nord und Ost offen West weit Süd zu „Säge“ und „Axt“ (deutsch), „Piła“ (sorbisch, polnisch) und „Sekera“ (sorbisch, tschechisch) kommen in den Wäldern zum Einsatz, „Sprachweiber / scharfe die kreischen und gellen“. Weltkriegsvergangenheit („Häuflein Männerlaub, zusammen- / gekehrt vom Krieg“) wird an der „Schwarzen Seite“ ebenso aufge‐ rufen wie die Gegenwart. Es ist diese Landschaft, diese Geschichte, Gegenwart und - ins Idyllische umschlagend - immer noch vorstellbare Zukunft, in der ein „Lichtblick“ (Lorenc 2002: 5-9) möglich ist - dies der Titel eines Textes, in dem die Lausitz zur traumverklärten, vergangenheitsdurchwirkten wie künftig metaphorisch aufwachsenden Landschaft wird. Auf dem Czorneboh stehend, blickt der Sprecher, dem die Schwarze Seite Jahre zuvor die Grenzen aufgezeigt hatte, auf das Bautzener Land und erlebt eine Vision: Als ich vor zwanzig Jahren hierher zog, im Frühling, und den Himmelsweg über den letzten Hügelrücken des Vorlandes kam, wollte mir der Atem stocken beim Anblick des ausgedehnten Tales […] hin bis zu jener Bergewand, die einzig aus der Perspektive des ins Tal Kommenden so steil aufwächst und es begrenzt. […] Würde ich von hier aus künftig nur noch „kleine“ Ausfahrten unternehmen? Und, meinten die Freunde von der sarmatischen und anderen Ebenen her: jetzt sitzt du also mit dem Rücken an der Wand - was machst du denn da so den ganzen Tag? ! (6) Das Land da unten erschien mir plötzlich wie ein einziges großes, lichtdurchströmtes, nach allen Seiten offenes „Gartenzimmer“, und überall, „drinnen“ und „draußen“, sind Tische aufgestellt, und man winkt dich herbei: Chrystofje, setz dich, nimm dir 256 Christian Prunitsch <?page no="257"?> Kuchen… An den Tischen wird in vielen Sprachen gesprochen, zumindest in zweien, und jeder versteht jeden, keiner fragt, ob du ein Fremder oder Einheimischer, ein Zugezogener oder Durchreisender, ein naher oder ferner Verwandter oder Bekannter bist… (7 f.) Gegen die Begrenzung setzt Lorenc die Offenheit, gegen die geographische, sprachliche oder kulturelle Absonderung und Konfrontation der kreischenden „Sprachweiber“ das Ideal des vertrauensvollen Austauschs, der sich lokal in toponymischen Besonderheiten wie der lexikalischen Amalgamierung von Baum und Wald vollzieht. „Unten“ in seinem Heimatdorf pflanzt der Sprecher Bäume gegen den andrängenden „böhmischen Wind“, was seinen Nachbarn verärgert: Seine Vorfahren hätten hier alles gerodet, und jetzt kämen mit den Anpflanzungen die „Berge“ wieder. Zunächst traute ich meinen Ohren kaum - hatte er tatsächlich ‚hory‘-Berge gesagt, wo er doch Baum oder Wald meinen mußte? (…) Später ging mir auf, daß ‚hory‘ in den Dörfern an der Schwarzen Seite neben ‚Berge‘ auch ‚Wald‘ bedeuten mochte: Geht man hier in den Wald, kommt man zu den Bergen, und umgekehrt. (8) Sprachhistorisch ergibt sich tatsächlich eine gemeinslavische Wurzel „für eine alte, gemeinsame und allgemeine Bedeutung des Hervorragenden (Berg) oder aufrecht Wachsenden (Baum, Wald)“ (9). Damit erwächst selbst aus der Schwarzen Seite sprachlich ein Ausgriff auf sprach- und damit kulturübergrei‐ fende Gemeinsamkeiten der „Menschheitssprache Poesie“ (9). Die Waldberge, Bergwälder usw. weisen auf die Vorgänglichkeit der Gemeinschaft gegenüber der Sonderung, auf das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem hin - über das Lorenc ja in den Jahren zuvor intensiv nachgedacht hatte. Bedeutsam erschien Lorenc nicht erst seit dieser Zeit auch die Sonderstellung des Reims in der sorbischen Lyrik gegenüber einem bereits länger anhaltenden Schwund des Reims als dichterisches Gestaltungsmittel in der deutschen Lyrik. 2000 hatte er an einem sorbischen Reimlexikon zu arbeiten begonnen (das er nicht mehr fertigstellen konnte); ein Ergebnis dieser Arbeiten war der „Krótki wopis ryma w hornjoserbskej metrice“ (Lorenc 2013a: 299-351). Die poetischen Potentiale des Reims seien, so Lorencʼ Hypothese, in der sorbischen Lyrik weitaus weniger ausgeschöpft als in der quantitativ dominierenden deutschen Lyrik. Deshalb lohne es sich im Sorbischen durchaus, auch weiterhin in traditioneller, also gereimter und strophischer Form zu dichten. „Zymny kut“ folgt genau diesem Prinzip, und es hat - anders als einige wenige in zwei Autorversionen vorliegende gereimte Gedichte aus der späten Schaffensphase - keine deutschsprachige Entsprechung. Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 257 <?page no="258"?> 11 Im Sorbischen ist diese Mehrdeutigkeit aufgrund der Assonanz zu „wosrjedź“ - „inmitten“ durchaus vorstellbar. In drei Strophen zu je sechs fünfhebig trochäischen Zeilen in Paarreimen erscheint eine im Vergleich zu den vorgenannten Texten räumlich engere, zeitlich aber geradezu entgrenzte Szene. Neben einem Garten findet sich hinter einer hoch aufragenden Linde (ein „štomisko“, also ein sehr großer Baum) ein „kalter Winkel“ („zymny kut“), ein leerer und schauriger Ort. Dort nimmt zuweilen ein Greis alleine auf der Bank Platz, von einem „sanften Wind“ („cuni wětřik“) von der Gartenseite her umweht und gleichsam eingerahmt von der spezifischen Landschaft der Schwarzen Seite: „Lěsne hory tworja wobzor tam, / zwučeny wšěm polam, łućinam“ („Die Waldberge bilden dort den Horizont, / wie er allen Feldern, Auen gewohnt ist“; C.P.). Von dort blickt der Alte auf den von einer „altschönen“ („starorjana“) Mauer umgrenzten Garten, der aber das Ackerbeet der Eltern („staršich wosrjedk“) ist bzw. die Eltern in sich hat, wenn das Eltern-Beet zugleich auch deren Grab sein kann. 11 Es beginnt leicht zu regnen, der Alte kann, da er unweit seine „kleine Stube“ („małku stwu“) weiß und die Schlüssel dabeihat, aufbrechen, auch ohne die Blumen (im Garten) zu gießen. Der „kalte Winkel“ ist in den letzten beiden Zeilen wieder verlassen, „geduldet“ sich aber („sćerpnje so“) und wird letztlich zum „hungrigen Abgrund“ („hłódne dno“), der dem Alten hinterherseufzt - und ihn eines Tages offenbar verschlingen wird. Die Motive und Bilder in diesem Gedicht greifen, wie gezeigt, die Opposi‐ tion von heimelig-ummauertem, dabei aber nicht wie in „Lichtblick“ in alle Richtungen offenen „Gartenzimmer“ (das hier eher mit dem Grab der Eltern gleichgesetzt wird) und dem sprachlich nur hier, nur lokal bedeutsamen (also nicht „allgemeinen“ sondern „besonderen“ Horizont der „Waldberge“ auf. Das Gedicht weist zugleich in die Vergangenheit (der Garten der Eltern) und die nahe Zukunft (der eigene Tod). Dabei markiert der einsetzende Regen nicht nur die natürliche Bewässerung der Garten-Blumen, sondern auch die resignative Wahrnehmung, bei der Pflege des Sorben-Gärtleins nicht länger vonnöten zu sein: In den folgenden Zeilen finden sich Markierungen mehrerer wichtiger sorbischsprachiger Gedichtbände, die Lorenc in den Jahren zuvor veröffentlicht hat: Domoj nima daloko, kluče w zaku ma (Nach Hause hat er es nicht weit, die Schlüssel hat er in der Tasche) enthält neben Podomk (Lorenc 2010, die deutsche Entsprechung wäre „Hausrat“ - den man eben zu Hause hat) den früheren Band Kluče a puće (Schlüssel und Wege, Lorenc 1971) und auch Suki w zakach (Knoten in Taschen, Lorenc 1998), während der Zymny kut auf das Gedicht selbst sowie 258 Christian Prunitsch <?page no="259"?> den gleichnamigen Gedichtband verweist. Zeitlich umfassen diese Verse also mehr oder weniger sein Gesamtwerk. Der Dichter nimmt seine Gedichtbände mit nach Hause, wo sie sich weiterhin „gedulden“, also auf Rezeption, Diskussion, Impulswirkung warten müssen. Der vom Dichter verlassene Ort verwandelt sich in einen gierigen Abgrund, in den das „Gartenzimmer“, die visionär gezeichnete bikulturelle Lausitz, das poetische Lebenswerk aber nur dann unwiederbringlich hineinstürzen müssen, wenn auch die Gedichtbände verloren gehen. Das tun sie freilich nicht - das Werk ist dank der kurzen Wege („nima daloko“) gesichert und kann dereinst auch ohne seinen Urheber weiter wirken, dies künftig in einer insgesamt fros‐ tigeren, unwirtlicheren Umgebung, in der die sorgsam zusammengetragenen sorbischsprachigen Dichtungen dennoch gedeihen sollen. 3. Schlussbemerkungen Dieser Interpretationsansatz mag etwas kühn daherkommen. In den späteren Gedichten finden sich allerdings zahlreiche Indizien für eine auch bei Lorenc selbst gewachsene skeptische Haltung zum Verbreitungs- und Vermittlungspo‐ tenzial des im „Wortland“ Gewachsenen und Geernteten. Hervorhebenswert ist deshalb die Konsequenz, mit der Lorenc gerade in seiner späten Schaffensphase auf die regelmäßige Veröffentlichung sorbischsprachiger Gedichtbände bedacht war - eine Praxis, die in Zusammenarbeit mit dem einzigen dafür in Frage kommenden Verlag umso schwieriger geworden war, je nachdrücklicher von diesem Verlag die Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeitsaspekten erwartet wurde. Von den „Flurnamen“ führt Lorencʼ zweisprachige Dichtung ins „Wortland“ der bikulturellen Lausitz, in die kulturpolitische Debatte, zuletzt in einen melan‐ cholisch gefärbten „Kalten Winkel“, wo aber die reine Poesie der „Flurnamen“ in sorbischer Spezifik restituiert erscheint. „Zymny kut“ ist von formaler Makel‐ losigkeit und beweist unmissverständlich die im „Krótki wopis“ angenommene ästhetische Produktivität sorbischer Dichtung auch im traditionellen Gewand aus Strophe, Versmaß und Reim. Lorenc kehrt damit zugleich zu seinen folklo‐ ristischen und literaturhistorischen Recherchen aus der Zeit seiner Arbeit am Sorbischen Lesebuch zurück, die in dieser Praxis als formale Anknüpfung an die Entwicklungsschritte sorbischer Poesie im 19.-Jahrhundert (Zejler, Bart-Ći‐ šinski, Kosyk) zugleich die Kontinuität sorbischer Literatur bestätigen. Die zweisprachige sorbische Literatur muss seit einigen Jahren ohne die Stimme von Kito Lorenc auskommen. Doch steht ihr mit dessen Gesamtwerk ein noch nicht annähernd erschlossenes Inspirations-, Motivations- und Vorbildre‐ Sprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc 259 <?page no="260"?> servoir zur Verfügung, wie es in anderen kleinen Literaturen nicht häufig zu finden sein dürfte. Literaturverzeichnis B L U M -B A R T H , Natalia (2021). Poietik der Mehrsprachigkeit. Theorie und Techniken multi‐ lingualen Schreibens. Heidelberg: Winter. B R Ě Z A N , Jurij (1951). Auf dem Rain wächst Korn. Sorbische Erzählungen und Gedichte. Berlin: Volk und Welt. B R Ě Z A N , Jurij (1995). Krabat oder die Bewahrung der Welt. Bautzen: Domowina. D O Ł O W Y -R Y B IŃ S K A , Nicole (2023). Upper Sorbian Language Policy in Education. Bringing the Language Back, or Bringing it Forward? With a Research Contribution by Cordula Ratajczak. Leiden/ Boston: Brill. F Ö R S T E R , Frank (2014). Verschwundene Dörfer im Lausitzer Braunkohlerevier. 3. Aufl. Bautzen: Domowina. 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Přez křidu basnje. Eseje, rozmołwy, nastawki. Hrsg. von Ruth Thiemann und Franz Schön. Bautzen: Domowina. L O R E N C , Kito (2013b). Gedichte. Berlin: Suhrkamp. L O R E N C , Kito (2016). Zymny kut. Basnje a-smorženki. Z-dodawkom čěskeje poezije Kyrko‐ nošow. Bautzen: Domowina. L O R E N C , Kito (2022). Gedicht-Geschichten. Literaturkritische Studien. Wólny wjerš a formy ryma. Literarnokritiske studije. Hrsg. von Franz Schön und Christian Prunitsch, unter Mitarbeit von Juliane Rehnolt. Bautzen: Domowina. L O R E N C , Kito (2023). Es war nicht die Zeit. Gedichte. Auswahl und mit einem Nachwort von Michael Krüger. Göttingen: Wallstein. M Ł Y N K , Jurij/ S C H O L Z E , Dietrich (2003). Stawizny serbskeho dźiwadła 1862-2002. Bautzen: Domowina. P E C H , Edmund (1999). Die Sorbenpolitik der DDR 1949-1970. Anspruch und Wirklichkeit. Bautzen: Domowina. P E C H , Edmund (2012). Ein Staat - eine Sprache? Deutsche Bildungspolitik und autochthone Minderheiten im 20.-Jahrhundert. 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Šimečka, son of dissident philosopher Milan Šimečka, founds the publishing house Archa. In the following years, Archa not only publishes dissident writings but also heavily invests in the translation of Western European and North Amer‐ ican literature and philosophy into both Slovak and Czech. It also becomes a role model for other publishing houses. Against the historical backdrop of the nationalist reconfiguration of Slovak politics, culture, and academia in the aftermath of the ‘tender revolution‘ (Slovak: nežná revolúcia) and, eventually, the dissolution of Czechoslovakia and the founding of two independent republics, this bilingual editorial and translational program can be understood, on the one hand, as an attempt to maintain the multi‐ lingual intellectual community that has emerged within Slovakia during the seven decades of the political union with the Czechs. On the other hand, however, and, in particular, in comparison to other bilingual publishing houses founded in Slovakia in the 1990s, such as the Slovak-Hungarian Kalligram, Archa’s bilingualism remains surprisingly non-programmatic and barely reflected upon as such. The paper discusses this phenomenon by drawing on three examples from Archa’s editorial program: the bilingual autobiographical book Světelná znamení by Archa’s founder Šimečka, the bilingual philosophy series Filozofie do vrecka, and a series of Slovak and Czech translations of Derrida’s writings published by Archa. Keywords: Slovak publishers - multilingual publishers - Czech-Slovak bilingualism - French Theory in East Central Europe - Derrida in Trans‐ lation <?page no="264"?> 1 Zu den bekanntesten und nach dem erzwungen Ende ihrer akademischen Karriere entstandenen Übersetzungen Šimečkovás zählt die erste tschechischsprachige Ver‐ sion von George Orwells 1984, die mit einem Vorwort von Milan Šimečka versehen 1984 im Exilverlag Index in Köln erschien. Eine elektronische Version findet sich unter https: / / www.odaha.com/ george-orwell/ dilo/ 1984 (21.8.23). Einer von Šimečkovás Enkel kolportierten Anekdote zufolge kam es während der Entstehung der Übersetzung mehrfach zu Hausdurchsuchungen. Šimečková versteckte das unfer‐ tige Manuskript in einem Bierfass und trocknete die Seiten anschließend einzeln. https: / / www.facebook.com/ miso.simecka/ photos/ osobne-o-orwellovitento-týždeň-je- 70-rokov-čo-zomrel-george-orwell-v-našej-rodin/ 475744256452510/ (21.8.23). Zur Übersetzungsarbeit Šimečkovás siehe auch den Nachruf der Soziologin Jiřina Šiklová (Šiklová 2003). 1. Archa: ein zweisprachiger Verlag in der Slowakei der 1990er-Jahre Anfang der 1990er-Jahre kommt es in Bratislava zur Gründung des Verlags Archa, der sich in den Folgejahren neben der Veröffentlichung dissidenti‐ scher Literatur und Publizistik auch um die Übersetzung westeuropäischer und nordamerikanischer Literatur und Philosophie verdient macht. Dabei setzt er von Anfang an auf ein zweisprachiges Programm, gibt also gezielt slowakische und tschechische sowie zweisprachige Publikationen heraus. Außerdem übersetzt der Verlag internationale Literaturen und Philosophie in beide Sprachen. Federführend ist dabei der Schriftsteller und Journalist Martin M. Šimečka, der 1957 als Sohn des urpsrünglich aus dem tschechischen Landesteil der Tschechoslowakei stammenden Philosophen Milan Šimečka und der Anglistin und Übersetzerin Eva Šimečková 1 in Bratislava geboren wurde und dort in einem zweisprachig slowakisch-tschechischen Umfeld aufgewachsen ist. Über das Verhältnis beider Sprachen aber auch seine eigene Beziehung zu ihnen wird er später schreiben: Žijem […] dvojaký život, český a slovenský. Mám dva mobily, dve emailové adresy, píšem a hovorím dvoma rodnými jazykmi, mám asi rovnaký počet znamých a priateľov v oboch krajinách a súdiac pod’la ohlasov, Česi ma považujú za Čecha a Slováci za Slováka. Je to dedičstvo po mojich českých rodičoch, ktorí sa prisťahovali na Slovensko ešte skôr, než som sa narodil. Môj otec vždy hovoril, že jedna komora jeho srdca je slovenská a-druhá česká. To srdce mu puklo v-roku 1990, v-čase, keď už 264 Anna Förster <?page no="265"?> 2 „Ich führe […] ein zweifaches Leben, ein tschechisches und ein slowakisches. Ich habe zwei Mobiltelefone, zwei Email-Adressen, ich schreibe und spreche zwei Mutterspra‐ chen, habe etwa die selbe Anzahl Bekannter und Freunde in beiden Ländern und nach den Aussagen Anderer zu urteilen, nehmen mich die Tschechen als Tschechen und die Slowaken als Slowaken wahr. Dies ist das Erbe meiner tschechischen Eltern, die noch vor meiner Geburt in die Slowakei gezogen sind. Mein Vater sagte immer, eine seiner Herzkammern sei slowakisch und die andere tschechisch. Dieses Herz versagte ihm 1990 den Dienst, [also, Verf.] zu einem Zeitpunkt, als er dank seiner legendären Klarsichtigkeit bereits wusste, dass die Tschechoslowakei zerfallen würde.“ (Sofern nicht anders angegeben stammt die Übersetzung slowakischer und tschechischer Zitate im Folgenden von Verf.). 3 Zu den wichtigsten Unterschieden zwischen der slowakischen und der tschechischen Oppositionsbewegung zählen neben dem Einsatz für die spezifischen Interessen der slowakischen Teilrepublik die in der Slowakei sehr viel ausgeprägtere Rolle der katho‐ lischen Kirche und der sog. Tajná církev (Geheime Kirche) sowie die Zusammenarbeit mit den Interessenvertretungen der ungarischsprachigen Minderheit. Unter den Grün‐ dungsmitgliedern von VPN findet sich neben Vertretern aller genannter Gruppen auch der ehemalige Generalsekretär der KPČ Alexander Dubček. Ab Januar 1991 ist VPN im tschechoslowakischen Föderations-Parlament vertreten; im Frühjahr 1991 spaltet sich der nationalistische Flügel um den späteren slowakischen Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar ab und gründet die Partei Hnutie za demokratické Slovensko (Bewegung für eine demokratische Slowakei, HZDS) (vgl. u. a. Jakeš 2015; Leff 1997: insb. Kap.-1). 4 Eine Gesamtausgabe von Tatarkas Werk gehört 1990 zu den Gründungsvorhaben von Archa, scheitert allerdings an Unstimmigkeiten mit dessen Erben (vgl. Šimečka 2001). vo svojej legendárnej jasnozrivosti vedel, že Československo sa rozpadne. (Šimečka 2012) 2 Im Herbst 1989 ist Šimečka unter den Gründungsmitgliedern der Bürgerrechts‐ organisation Verejnosť proti násiliu (Öffentlichkeit gegen Gewalt, kurz VPN), die trotz wesentlicher struktureller wie programmatischer Unterschiede häufig als slowakisches Pendant zu Havels Občanské fórum (Bürgerforum) betrachtet wird. 3 Die nur wenige Monate später erfolgende Gründung von Archa dient zunächst der Herausgabe dissidentischer Texte sowie dazu, bislang nur nur im Samizdat oder in Exilverlagen erschienene literarische, sozialwissenschaft‐ liche und philosophische Schriften einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Zweisprachigkeit des Programms ist zu diesem Zeitpunkt vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Neuveröffentlichung dieser Texte grundsätzlich in ihrer urprünglichen sprachlichen Form erfolgt, dass also - um nur zwei Beispiele zu nennen - der Kultroman Invalidní sourozencí (Die invaliden Geschwister) des Prager Underground-Autors Egon Bondy in seiner urprünglichen tschechischen Fassung (Bondy 1991), die Schriften des slowakischen Schriftstellers und Charta 77-Signatars Dominik Tatarka hingegen in slowakischer Sprache erscheinen (Tatarka 1991). 4 In den darauffolgenden Jahren Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 265 <?page no="266"?> 5 Interview mit Miroslav Marcelli, Bratislava 24.9.2021; Gespräch mit Adam Bžoch, Bratislava 21.9.2021. 6 Interview mit Martin Kanovský, Bratislava 22.9.2021. 7 Interview mit Miroslav Marcelli, Bratislava 24.9.2021. Dieses Interview wurde in tschechischer Sprache geführt. 8 Das Konzept der rezeptiven Bi- oder Multilingualität umfasst sowohl Phänomene der Nicht-Kongruenz von aufnehmender (hören, lesen) und produzierender Sprachkompe‐ tenz (sprechen, schreiben) wird als „language constellation in which interlocutors use their respective mother tongue while speaking to each other“ (Zeervaert/ ten Thieje 2007: 1) bestimmt. Die damit beabsichtigte Ersetzung der früher verbreiteten Rede von der ‚passiven‘ Mehrsprachigkeit zielt auf die Hervorhebung dessen, dass auch das Hören und Lesen aktive Vorgänge der Sprachverarbeitung sind. In der soziolinguisti‐ schen Forschung besteht weitgehend Einigeit darüber, dass diese Form der Bilingualität werden jedoch zunehmend auch Übersetzungen fremdsprachiger Literatur und Theorie sowohl in slowakischer als auch in tschechischer Sprache publiziert. Es gehört zu den verblüffendsten Befunden der hier vorgenommenen Unter‐ suchung, dass die Zweisprachigkeit der Verlagsarbeit von Archa ganz ohne programmatische Deklarationen auskommt, ja mehr noch: dass sie auch seitens der Beteiligten selbst auf eine merkwürdige Weise unreflektiert bleibt. Indi‐ kativ hierfür ist nicht nur die Abwesenheit jeglichen publizierten Kommentars zu diesem Gegenstand, sondern auch eine Reihe von im September 2021 in Bratislava geführten Interviews und persönlichen Gesprächen mit Personen, die Archa in den 1990er-Jahren als Autoren, Übersetzer oder Herausgeber verbunden waren. Keiner von ihnen kommt selbst auf die Zweisprachigkeit der Verlagsarbeit zu sprechen. Auf explizite Nachfrage hin verweisen die Respon‐ denten auf die Prävalenz tschechischsprachiger Fachliteratur im slowakischen akademischen Alltag sowie auf eine im Vergleich zum tschechischsprachigen Kontext schwächer ausgeprägte Übersetzungskultur. 5 Aber auch das Vorhan‐ densein republikbzw. grenzüberschreitender intellektueller und akademischer Netzwerke wird auf Nachfragen hin als mögliche Ursache angeführt. 6 Insgesamt jedoch bestätigt sich der von einem Beteiligten treffend formulierte Eindruck, dass „wir darüber überhaupt nicht nachgedacht haben“ („my jsme o tom vůbec ne přemýšleli“). 7 Damit scheint die zweisprachige Verlagsarbeit von Archa soziolinguistische Befunde zu bestätigen, denen zufolge Bilingualität im Falle genetisch eng ver‐ wandter und gegenseitig intelligibler Sprachen von den Sprachverwender: innen häufig gar nicht als solche wahrgenommen, geschweige denn reflektiert wird. Für den slowakisch-tschechischen Fall untersucht hat dies die Bratislavaer Linguistin Mira Nábělková. Neben der auf Jahrzehnte gemeinsamer Staatlich‐ keit zurückgehenden und zumindest rezeptiven Vertrautheit mit dem Tsche‐ chischen 8 verweist sie auf die unter Sprecher: innen des Slowakischen und 266 Anna Förster <?page no="267"?> sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei im Rückgang begriffen ist, wobei aber der Kontakt mit der anderen Sprache in der Slowakei immer noch häufiger und breitgefächerter ist als in Tschechien; zunehmend wird der slowakisch-tschechische Fall deshalb auch als Beispiel für einen ‚asymmetrischen Bilingualismus‘ bezeichnet (Nábělková 2007). 9 Innerhalb der mit dem Slowakischen und Tschechischen befassten soziolinguistischen Forschung ist dies gelegentlich bestritten worden. Exemplarisch hierfür ist die Appli‐ kation des ursprünglich aus dem skandinavistischen Kontext stammenden Konzeptes der ‚Semikommunikation‘, welches das Auftreten zweisprachiger Kommunikation zwar anerkennt, gleichzeitig aber deren kommunikative Effizienz jenseits von All‐ tagsbelangen anzweifelt (vgl. Budovičová 1987). Fälle wie der hier untersuchte der zweisprachigen Verlagsarbeit von Archa widerlegen diesen Einwand jedoch zumindest mit Blick auf bestimmte soziale Milieus. Tschechischen weit verbreitete Praxis der zweisprachigen Kommunikation, also der Möglichkeit, dass im interethnischen Kontakt jede: r die eigene Sprache verwendet und eine Verständigung trotzdem gegeben ist. 9 Praktiken wie diese, so Nábělková, führten im slowakischen Kontext dazu, dass Präsenz und Ver‐ wendung des Tschechischen zumindest in bestimmten Milieus „zu selbstver‐ ständlich“ („príliš samozrejm[é]“) seien, um von den Sprachverwender: innen überhaupt als bilinguale Phänomene erkannt und reflektiert zu werden (Náběl‐ ková 2008: 94). Diese Sonderstellung der slowakisch-tschechischen Zweisprachigkeit schlägt sich auch in der Sprachpolitik des in den 1990er-Jahren dreimaligen slowaki‐ schen Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar nieder. Obwohl für ihre xenophobe Rhetorik und durchaus auch für nationalistische Ausfälle gegenüber Prag be‐ kannt, wird diese gemeinhin als weniger gegen das Tschechische denn vor allem gegen das von ca. 10 % der Bevölkerung der Slowakischen Republik gesprochene Ungarische gerichtet verstanden. So schreibt denn die am 1.1.1993 in Kraft getretene Verfassung das Slowakische als „Staatssprache“ (štátny jazyk) fest und schränkt das Ende 1995 verabschiedete Gesetz über die Staatssprache der Slowaki‐ schen Republik (Zákon o štátnom jazyku Slovenskej Republiky) die Verwendung aller anderen Sprachen im öffentlichen Raum und in den Massenmedien auf zum Teil drakonische Weise ein. Gleichzeitig enthält das Gesetz jedoch einen Passus, demzufolge Inhalte von diesen Regelungen ausgenommen sind, sofern sie den Anspruch einer „fundamental intelligibility from the view of the state language“ erfüllen - eine Formulierung, die, wie Tilman Berger treffend angemerkt hat, unter allen von diesem Gesetz betroffenen Sprachen ausschließlich auf das Tschechische zutrifft (Berger 2003: 27; siehe auch Ondrejovič 2011). Im Folgenden soll slowakisch-tschechische Mehrsprachigkeit dezidiert aus einer „Verlagsperspektive“ ( Jaspers 2022: 70) betrachtet werden. Im deutsch‐ sprachigen Raum ist eine solche vor allem mit dem Unseld-Archiv des Suhr‐ Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 267 <?page no="268"?> kamp-Verlags assoziiert, dessen Ankauf das Deutsche Literaturarchiv Marbach mit einer Reihe von Forschungsprojekten sekundiert hat. Gezeigt hat sich dabei nicht nur, wie sehr die Einbeziehung von Entstehungs-, Produktions- und Distributionsprozessen der seit Jahrzehnten geforderten Dynamisierung des Werkbegriffs zuarbeiten (vgl. ebd.), sondern auch, dass insbesondere konzeptio‐ nelle Verlagsarbeit und Verlagsprogramme eine ganz eigene Form des Paratextes konstituieren, die in der Forschung bislang kaum theoretisch erfasst, für die Literatur- und Wissenschaftsgeschichte jedoch einflußreiche Verbindungen zwischen Einzeltexten, -werken und -publikationen herstellt (Michalski 2018; Kemper et al. 2019; Jaspers 2022; Paul 2023). Der Entscheidung, diese Perspektive auf die Beschäftigung mit Fragen der slowakisch-tschechischen Mehrsprachigkeit in der slowakischen Verlagsland‐ schaft der 1990er-Jahre zu übertragen, liegen zwei Thesen zu Grunde. Erstens dass Mehrsprachigkeit auf diese Weise nicht nur auf der Ebene von Einzeltexten oder -werken untersucht, sondern dass auch auf den ersten Blick Monolinguales als Teil eines größer dimensionierten mehrsprachigen Ganzen sichtbar gemacht werden kann. Und zweitens, dass insbesondere im Falle genetisch eng ver‐ wandter und deshalb gegenseitig intelligibler Sprachen wie des Slowakischen und des Tschechischen die Verlagsperspektive besonders geeignet ist, neben primär linguistischen und ästhetischen auch wissenschaftsgeschichtliche und philosophische Dimensionen von Mehrsprachigkeit offenzulegen. Untersucht werden soll dies anhand dreier Beispiele: dem zweisprachigen Buch Světelná znamení (1984/ 1991) des Archa-Gründers Martin M. Šimečka, indem dieser slowakisch- und tschechischsprachige Textpassagen in einen Dialog treten lässt und zugleich die komplexen linguistischen Verhältnisse innerhalb einer mehrsprachigen Familie und Gesellschaft dokumentiert; der Reihe Filozofia do vrecka/ Filosofie do kapsy, in der Archa 1993-1999 slowakische und tschechische Übersetzungen überwiegend zeitgenössischer westeuropäi‐ scher und nordamerikanischer Philosophie publiziert; sowie dreier bei Archa erschienener slowakischer und tschechischer Übersetzungen von Texten des französischen Philosophen Jacques Derrida, die sich auf spielerische Weise der je anderen Sprache bedienen, um zentrale philosophische Kategorien Derridas nicht nur zu reproduzieren, sondern auch weiterzuentwickeln. 268 Anna Förster <?page no="269"?> 10 ‚Martin M. Šimečka‘ ist ein Pseudonym, das Šimečka bereits in den 1980er-Jahren zur besseren Unterscheidbarkeit von seinem Vater angenommen hat; sein bürgerlicher Name lautet ‚Milan Šimečka jr.‘. 11 Die nachfolgenden wiedergegebenen Zitate entstammen dieser Ausgabe. 12 Verweigert wird Martin M. Šimečka u. a. das Ablegen des Abiturs und die Aufnahme eines Hochschulstudiums. Statt dessen absolvierte er nach der Beendigung der Ober‐ schule eine Schlosserlehre und arbeitete anschließend in wechselnden, überwiegend handwerklichen Berufen. Siehe hierzu auch Šimečkas ebenfalls zunächst im Kölner Exilverlag Index erschienene autobiographische Novelle Žabí rok (Das Jahr des Fro‐ sches) (Šimečka 1990b); anders als Světelná znamení liegt dieser Text auch in englischer Übersetzung vor (Šimečka 1996). 2. Das zweisprachige Buch: Světelná znamení (Helle Zeichen/ Lichtzeichen, 1984/ 1991) Das erste vor diesem Hintergrund näher in den Blick zu nehmende Beispiel ist das Buch Světelná znamení (Helle Zeichen) des Archa-Gründers Martin M. Šimečka. 10 Verfasst 1984 und zunächst ausschließlich im Samizdat zirkultiert, erscheint es 1991 erstmals offiziell bei Archa (Šimečka 1991); 2018 kommt es zu einer für ihre Gestaltung preisgekrönten Neuausgabe durch den ebenfalls in Bratislava ansässigen Verlag Salon (Šimečka 2018). 11 Světelná znamení ist eine Collage-Arbeit. Im Zentrum stehen Briefe, die Šimečkas Vater während seiner politisch bedingten dreizehnmonatigen Haft 1981-1982 verfasst und an seine Ehefrau, die beiden Söhne sowie seine Schwie‐ gertochter Marta geschickt hat. Neben Intimem und Familiärem enthalten diese Briefe auch ausführliche Schilderungen des Gefängnisalltags sowie um‐ fangreiche philosophische Reflexionen über die Natur des Menschen und über Freiheit, Arbeit und Zeit. Gerahmt und immer wieder intermettierend kommentiert werden die Briefauszüge durch die Stimme des Sohnes, der wenige Jahre später, als er auf die Geburt seines ersten Kindes wartet, die Briefe erneut zur Hand nimmt, um sein Verhältnis zum Vater, dessen Beziehung zu seiner Mutter aber auch seine eigene Rolle im familiären Gefüge zu reflektieren. Der haftbedingten räumlichen, aber - wie im Verlauf des Buches deutlich wird - auch darüber hinausgehenden, lebenslangen intellektuellen Distanz des Vaters zu seiner Familie setzt der Sohn Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend sowie an den Familienalltag während der väterlichen Inhaftierung entgegen und konfrontiert so auch die unterschiedlichen Diktaturerfahrungen des dissidentischen Vaters und seines Sohnes, der aufgrund des elterlichen Engagements zahlreichen Einschränkungen unterworfen ist . 12 Neben diesen Erfahrungs- und generationellen Differenzen konfrontiert Šimečkas Collage aber auch zwei Sprachen miteinander. Der Vater nämlich schreibt konsequent Tschechisch, der Sohn hingegen Slowakisch. In der un‐ Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 269 <?page no="270"?> 13 „[Milan Šimečka] Langsam beginne ich an der Existenz einiger Erscheinungen und Dinge des Lebens zu zweifeln. Ihre lange Abwesenheit aus meinem jetzigen Leben erzeugt ein Misstrauen gegenüber dem Gedächtnis, das fortwährend behauptet, sie existierten noch wie früher. […] Existiert es noch, das gealterte, verrußte Mietshaus unter dem [Bratislavaer] Kalvarienberg? Der Flur mit den Wänden, von denen die Farbe abblättert, dem Fahrstuhl, in dem es dröhnt und ächzt? […] Und was ist mit dem Schreibtisch? Existiert er noch? Und die Schreibmaschine? […] [Martin M. Šimečka] Sie existiert noch […]. Das maschinenge‐ wehrartige Rattern der Schreibmaschine ist meinem Gedächtnis so tief eingeschrieben, dass mir seine Anfänge entfallen sind. Offenbar ist es zeitgleich aufgetreten mit der Entdeckung des Geschmacks von Muttermilch, mit dem Vertrautwerden mit Hell und Dunkel, Lärm und Stille. Dabei hat mein Vater nie gelernt, mit zehn Fingern zu schreiben, so dass er mit seinen groben Zeigefingern auf die Maschine eindrosch und so ihrer zarten mechanischen Seele tödliche Schüsse zufügte.“ (kursiv: Tschechisch, unmarkiert: Slowakisch) mittelbaren Juxtaposition gerät dies zu einer Absetzbewegung, in der die sprachliche Differenz den auf der inhaltlichen Ebene oft kritischen Kommentar des Sohnes linguistisch amplifiziert: [Milan Šimečka] Pomalu začínám pochybovat o existenci některých jevů a věcí života. Jejich dlouhá nepřítomnost v mém nynějším životě vzbuzuje nedůvěrů k paměti, která tvrdí stále, že ano, že vše existuje tak jako dříve. […] Existuje ten nemladý, očouzený činžák pod Kalvárií? Chodba s otlučenými zdmi, výtahem, v němž to hučí a sténá? […] A co psací stůl? Existuje? A psací stroj? […] [Martin M. Šimečka] Existuje. […] Guľometný rachot písacieho stroja je zapísaný v mojej pamäti tak hlboko, že mi unikajú jeho počiatky. Zrejme sa vyskytuje spolu s objavovaním chute materinského mlieka, s poznaním světla a tmy, hluku a ticha. Pritom sa otec nenaučil písať všetkými desiatimi, takže búši do stroja hrubými ukazovákmi a zasadzuje nežnej mechanickej duši smrteľné rany. (12-15 passim, kursiv: Tschechisch, unmarkiert: Slowakisch) 13 Darüber hinaus dokumentiert Světelná znamení aber auch die komplizierten und vielschichtigen linguistischen Verhältnisse innerhalb einer zweisprachigen Familie und - weiter gefasst - einer bibzw. multilingualen Gesellschaft, in der die sprachlichen von den Macht- und Hierarchieverhältnissen nie ganz zu trennen sind. Auf textueller Ebene wird dies durch die zahllosen, in direkter Rede wiedergegebenen Dialoge in den Passagen des Sohnes realisiert, in denen die Figuren sich miteinander unterhalten, dabei aber jede: r eine andere Sprache verwendet. So schreibt und spricht der aus dem tschechischen Landesteil stammende Vater auch nach drei Jahrzehnten in der Slowakei ausschließlich Tschechisch, und zwar mit der tschechischen Ehefrau ebenso wie mit der slowakischen Schwiegertochter. Die Mutter hingegen spricht mit ihrem Mann 270 Anna Förster <?page no="271"?> 14 „Als ich meine Mutter an der Tür mit diesem Brief begrüßte, stürzte sie sich noch im Pelzmantel darauf, legte ihn aber nach dem Lesen eingeschüchtert weg. ‚Solche Briefe schickt er aber doch nicht an mich‘, lästerte sie und blickte, sich der schrecklichen Worte bewusst, auf mich herab. ‚Vielleicht hat er sie auch gar nicht an dich geschickt‘, erwiderte ich rachsüchtig. ‚Er denkt wahrscheinlich, dass irgendjemand sie für ihn veröffentlichen wird‘, entrüstete sie sich verärgert. ‚Seine ganzen Gedanken! ‘ ‚Wart’s mal ab, er wird nach Hause kommen, sich an die Maschine setzen und anfangen, diese Gedanken zusammenzufügen‘, sagte ich. ‚Dann werfe ich seine Schreibmaschine aus dem Fenster‘, schimpfte sie. ‚Und überhaupt. Besser, er kommt gar nicht erst zurück! ‘“ (kursiv: tschechisch) und zu Hause Tschechisch, verwendet in der Öffentlichkeit aber Slowakisch, das sie auch mit den eigenen Söhnen spricht (vgl. 82). Diese wiederum sprechen untereinander und mit ihren jeweiligen Partnerinnen Slowakisch, mit dem Vater aber Tschechisch; mit der Mutter hingegen verwenden sie beide Sprachen, so wie hier, in einer Passage, in der sich Šimečka an ein Gespräch mit der Mutter über einen eben eingetroffenen Brief des Vaters erinnert und dabei von einer Replik zur nächsten und ohne erkennbaren Grund vom Slowakischen ins Tschechische wechselt: Keď som mamu vítal s týmto listom vo dverách, vrhla sa naň ešte v kožuchu, ale prečítaný ho štítivo odložila. „Takové dopisy mi ani nemusí posílat“, povedala rúhavo a vedomá si strašných slov pozrela sa zospodu na mňa. „Možno ich neposiela tebe“, odvetil som pomstychtivo. „Myslí si, že mu to někde vydají“, rozdúchavala v sebe pohoršenie. „Ty jeho myšlenky! “ „Počkej, vrátí se domů, sedne za stroj a začne ty myšlenky dávat dohromady“, povedal som. „Vyhodím mu psácí stroj z-okna“, rozčúlila sa. „A vůbec. To ať se radši ani nevrací! “ (37, kursiv: tschechisch) 14 Die Schwiegertochter wiederum spricht mit Šimečkas Eltern Tschechisch, mit ihrem Mann und Schwager hingegen Slowakisch. Šimečkas Buch lässt sich als Beispiel für eine sehr spezifische textuelle Mehr‐ sprachigkeit verstehen: die Präsenz mehrerer Sprachen in einem (literarischen) Text hat mithin nicht nur ästhetische, sondern auch und vielleicht sogar vor allem mimetische Funktion und erweitert die Darstellung individueller wie historischer Verhältnisse um eine linguistische Dimension. Aus der Perspektive des Verlagsprogramms von Archa betrachtet, reiht sich Šimečkas Buch damit nicht nur in die von ihm verlegte dissidentische und Underground-Literatur ein, sondern auch in eine lose Reihe von Publikationen zum Verhältnis von Slowaken und Tschechen sowie zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der gemeinsamen Staatlichkeit (vgl. Šimečka 1990a; Kusý 1991; Žiak 1996). Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 271 <?page no="272"?> 3. Die zweisprachige Reihe: Filozofia do vrecka/ Filosofie do kapsy (1993-1999) Wesentlich anders gelagert ist das zweite hier zu diskutierende Beispiel aus dem zweisprachigen Verlagsprogramm von Archa, die Reihe Filozofia do vrecka/ Filosofie do kapsy (Hosentaschenphilosophie). Hier nämlich zeigt sich das zuvor erwähnte Potenzial der Verlagsperspektive, Mehrsprachigkeit nicht nur auf der Ebene von Einzeltexten wie Světelná znamení zu untersuchen, sondern auch einzubeziehen, was auf den ersten Blick einsprachig, bei näherer Betrachtung jedoch Teil eines größerdimensionierten, mehrsprachigen Ganzen ist. Schon bald nach der Gründung von Archa entwickelt Šimečka die Idee einer eigenen philosophischen Reihe. Ziel ist es, Texte westeuropäischer, nordameri‐ kanischer und zum Teil auch russischsprachiger Autor: innen zu übersetzten und so die durch Jahrzehnte erschwerter kultureller und akademischer Kontakte und Publikationsbedingungen entstandenen Lücken im philosophischen, aber auch im geistes- und sozialwissenschaftlichen Theoriekanon zu schließen. Die aus‐ gewählten Texte sollen vergleichsweise kurz und die einzelnen Bände klein und im preiswerten Taschenbuchformat gehalten sein und so weniger ein Fachpu‐ blikum denn eine breite intellektuell interessierte Öffentlichkeit erreichen (vgl. Marcelli 2020: 266). Damit setzt sich das Vorhaben trotz vereinzelter personeller Kontinuitäten konzeptionell von vergleichbaren vorangegangenen Unterneh‐ mungen wie der zwischen 1973 und 1990 erschienenen Reihe Filozofické odkazy (Philosophisches Erbe) ab, die mit ihren umfangreichen Einleitungen, Anmer‐ kungsapparaten und Übersetzerkommentaren einen eindeutig akademischen Anspruch kommunizierte (vgl. Zigo 2009; Bednárová 2020: 48-49). Filozofia do vrecka ist aus deutschsprachiger Perspektive denn auch eher mit den Bändchen des Merve-Verlags als mit editorisch elaborierten Theorie-Reihen wie jenen des Suhrkamp- oder zeitweise auch des Luchterhandverlags zu vergleichen. Unter den Herausgebern sind neben reinen Fachwissenschaftlern entspre‐ chend auch Personen, die sich als Übersetzer und Vermittler fremdsprachiger Philosophie und Theorie einen Namen gemacht haben, darunter der preisge‐ krönte Kant-Übersetzer Teodor Münz sowie Miroslav Marcelli, der bereits in den 1980er-Jahren mit der ersten in der Tschechoslowakei erschienen buchlangen Übersetzung Michel Foucaults hervorgetreten ist (Foucault 1987). Zwischen 1993 und 1999 publiziert Archa in der Reihe 39 Bände. Sprachlich überwiegen dabei Publikationen französisch-, englisch- und deutschsprachiger Provenienz, wobei unter den englischsprachigen zahlreiche auf Englisch ver‐ fasste Texte ursprünglich französischer Autor: innen oder aber solche sind, die das Werk französischspracher Denker: innen verhandeln (z. B. Culler 1993); bei den aus dem Deutschen übersetzten Titeln wiederum handelt es sich 272 Anna Förster <?page no="273"?> 15 Wie Claudia Michalski am Beispiel der regenbogenfarbenen Umschläge der edition suhrkamp gezeigt hat, ist dies neben der Stiftung eines gemeinsamen kontextuellen Rahmens eine der wichtigsten Funktionen der einheitlichen und wiedererkennbaren graphischen Gestaltung von Buchreihen (vgl. Michalski 2018: 185). überwiegend um Philosophiehistorisches, das den in der Reihe vertretenen zeitgenössischen Autor: innen als Referenztext dient (u. a. Kant 1993; Nietzsche 1995; Freud 1996). Der Fokus liegt mithin - wenn auch breit gefasst - auf der französischen Philosophie und -theorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Inhaltlich betrachtet lassen sich zwei Schwerpunkte ausmachen: zum einen Klassiker des Strukturalismus und der strukturalen Semiotik sowie deren post‐ strukturalistische Relektüren (Lévi-Strauss 1993; Barthes 1994; Lotman 1994; Eco 1995); und zum anderen Texte aus dem Bereich der Sprach-, Literatur- und Kunsttheorie, wobei hier Arbeiten unterschiedlicher epistemologischer und methodischer Ausrichtung zusammentreten und neben den bereits erwähnten strukturalistischen und poststrukturalistischen Beiträgen auch solche aus den Bereichen der analytischen Philosophie (beispielsweise. Mehta 1995; Goodman 1996), der Hermeneutik (Gadamer 1995) und der nordamerikanischen Linguistik (Chomsky 1995) vertreten sind. Im hier in Frage stehenden Kontext von Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit ist die Reihe jedoch vor allem deshalb von Interesse, weil in ihr nicht nur Übersetzungen ins Slowakische, sondern auch vier tschechischsprachige Bände erscheinen (Merleau-Ponty et al. 1994; Mehta 1995; Goodman 1996; Putnam/ Rorty 1997). Über den gesamten Zeitraum hinweg betrachtet ist ihr Anteil am Gesamtumfang der Reihe vergleichsweise gering, in den Jahren 1994-97 machen sie jedoch fast ein Drittel der erscheinenden Bände aus. Was bei näherer Betrachtung dieser tschechischsprachigen Bände vor allem auffällt, ist, wie nahtlos sie sich in den Gesamtzusammenhang der Reihe einfügen, und zwar nicht nur in inhaltlicher, sondern auch und vor allem in gestalterischer Hinsicht. So zeichnen sie sich durch genau dieselbe Umschlagge‐ staltung aus, wie die slowakischen Bände: monochrom in hellem Grau gehalten, findet sich auf den Covern neben Autor: innennamen und Titeln jeweils ein auf den Hinterbeinen stehendes Beuteltier, ein Logo, das binnen Kurzem so emble‐ matisch wird, dass Leser: innen die einzelnen Bände liebevoll als „klokank[y]“ (Michalovič 2020: 283; Zelinský 1998) bezeichnen. Dank dieser Einheitlichkeit ist nicht nur die Zuordnung der Einzelbände zur Reihe als Ganzes gewährleistet, sondern die Reihe selbst wird zum Paratext, der von den einzelnen Bänden insofern losgelöst ist, als er neben sie tritt und von ihnen unabhängig zitiert werden kann. 15 Die Sprache der jeweiligen Bände gerät dabei zur Nebensache. Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 273 <?page no="274"?> Der einzige gestalterische Unterschied zwischen den slowakischen und den tschechischsprachigen Bänden besteht darin, dass der jeweils unterhalb des Kängurus zu findende Reihentitel nicht in seiner slowakischen, sondern seiner tschechischen Fassung abgedruckt ist, dass dort also nicht ‚Filozofia do vrecka‘, sondern ‚Filosofie do kapsy‘ steht. Dabei aber ist die Schriftgröße so klein und der Unterschied angesichts der ansonsten identischen Umschlaggestaltung so gering, dass insbesondere im Falle solcher Bände, deren Titel aus Eigennamen besteht - wie z. B. bei Jonathan Cullers Saussure (1993) - oder bei solchen, bei denen die slowakische und die tschechische Übersetzung des Titels identisch oder zumindest homograph sind, zumindest auf den ersten Blick gar nicht erkennbar ist, um welche Sprache es sich handelt. Auch Bibliothekskataloge sind hier meist nur bedingt hilfreich, führen doch slowakische Bibliotheken meist konsequent den slowakischen, tschechische aber - wenn überhaupt - nur den tschechischen Reihentitel an; in vielen Fällen muss die Leserin die Bücher also materialiter in der Hand halten, um feststellen zu können, ob es sich um tschechische oder slowakische Übersetzungen handelt. Diese gestalterische Unmarkiertheit verstärkt den eingangs bereits kommen‐ tierten und für die Verlagsarbeit von Archa insgesamt geltenden Eindruck, dass es sich bei der hier anzutreffenden Zweisprachigkeit um ein seitens der Akteur: innen fast vollständig unreflektiertes Phänomen handelt. Im konkreten Fall von Filozofia do vrecka/ Filosofie do kapsy ist dies umso erstaunlicher, als ihre Herausgeber die Reihe als Beitrag nicht nur zur Philosophie- und Theorieübersetzungsgeschichte der Slowakei, sondern auch zur Schaffung einer nach dem Ende des Staatssozia‐ lismus dringend notwendigen neuen philosophischen Sprache verstanden wissen wollen. Mitherausgeber Peter Michalovič schreibt hierzu: [P]o novembri 1989 bolo jasné, že ak filozofia, estetika a humanitné vedy majú v našom stredoeurópskom regióne prežiť a začať viesť rovnocenný a produktívny dialóg s filozofiou, estetikou a humanitnými vedami na západ od Hainburgu, musia sa zbaviť vyprázdneného ideologický deformovaného a obmedzovaného jazyka marxizmu-le‐ ninizmu. […] Dobre si pamätám, ako niektorí učitelia tvrdili študentom, že […] stačí z textov vyškrtnúť citáty zo zjazdovyćh materiálov KSČ a KSSZ, ďalej si netreba všímať také slová, ako marxisticko-leninský, oportunistický, poprípadne je vhodné doplniť niektorými fragmentmi nových prekladov západnej produkcie a takto poľahky obidvoma nohami vhupneme do intelektuálneho priestoru západného myslenia. Nuž 274 Anna Förster <?page no="275"?> 16 „Nach 1989 wurde klar, dass Philosophie, Ästhetik und Geisteswissenschaften, wenn sie in unserer mitteleuropäischen Region überleben und einen gleichberechtigten und produktiven Dialog mit der Philosophie, Ästhetik und den Geisteswissenschaften west‐ lich von Hainburg [d. i. österreichische Grenzgemeinde, unweit von Bratislava, Anm. Verf.] führen wollten, sich der entleerten, ideologisch deformierten und limitierenden Sprache des Marxismus-Leninismus entledigen mussten. […] Ich erinnere mich noch gut daran, wie einige Lehrer ihren Studierenden sagten, dass […] es ausreiche, Zitate aus den Kongressmaterialien der KSČ und KPdSU aus den Texten zu streichen, und es nicht notwendig sei, auf Wörter wie marxistisch-leninistisch oder opportunistisch zu achten. Sie sagten, es reiche aus, einige Auszüge westlicher Produktion in Übersetzung hinzuzufügen, um ganz einfach und mit beiden Füßen voran in den intellektuellen Raum des westlichen Denkens hineinzustolpern. Nun, so einfach ist das nicht. […] Der alten Sprache ist es ex principio unmöglich, Neues zu sehen […].“ také jednoduché to nie je. […] Starý jazyk ex principio neuožňuje vidieť nič nové […]. (Michalovič 2020: 285 f.) 16 4. Zweisprachige Übersetzung: Jacques Derrida bei Archa Beim dritten hier zu betrachtenden Beispiel handelt es sich um die Publikation dreier Buchausgaben mit Übersetzungen von Schriften des französischen Phi‐ losophen Jacques Derrida durch Archa in den 1990er-Jahren. Eine von ihnen, Ostrohy. Štýly Nietzscheho (Épérons. Les styles de Nietzsche, dt. Sporen, die Stile Nietzsches) (Derrida 1998), erscheint in Übersetzung von Martin Kanovský innerhalb der Reihe Filozofia do vrecka, die beiden anderen hingegen erscheinen ohne Reihenzugehörigkeit im Hauptprogramm von Archa. Der 1993 vom Philosophen Miroslav Petříček herausgegebene Band Texty k dekonstrukci. Práce z let 1967-72 (Texte zur Dekonstruktion. Arbeiten aus den Jahren 1967-72) enhält Übersetzungen von sechs der wichtigsten Aufsätze Derridas aus dem im Untertitel genannten Zeitraum - darunter „La différance“, „La structure, le signe et le jeu dans le discours des siences humaines“ und „Signature événement contexte“ - sowie ein Gespräch mit Julia Kristeva, veröffentlicht ursprünglich 1972 in Derridas Interviewband Positions (Derrida 1993b). 1999 erscheint außerdem Kanovskýs Übersetzung von Derridas De la grammatologie Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 275 <?page no="276"?> 17 Bis heute handelt es sich hierbei um die einzige auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei erschienene vollständige Übersetzung von De la Grammatologie. Eine Übertragung ins Tschechische steht nach wie vor aus; erschienen ist lediglich die Übersetzung eines kurzen Auszugs durch Petříček (Derrida 1993a). Damit stellt Kanovskýs Übersetzung eine bemerkenswerte Inversion jener immer wieder kommen‐ tierten ‚Standardsituation‘ dar, derzufolge 1) Fremdsprachiges zuerst ins Tschechische übersetzt wird bzw. 2) „to, čo bolo preloženo do češtiny sa už do slovenčiny nepre‐ kladalo“ [das, was ins Tschechische übersetzt wurde, ins Slowakische nicht mehr übertragen [wird]]. (Vajdová 2020: 104) 18 Zur Samizdat-Publikation tschechischer philosophischer Übersetzungen liegt eine 2019 am Institut für Translatologie der Karls-Universität Prag eingereichte MA-Arbeit von Tereza Musilová vor. Zu der in 17 Heften erschienen Übersetzung von Sein und Zeit siehe das Interview mit einem der Übersetzer, Ivan Chvatík im Anhang (Musilová 2019: insb. LIV-LX). (Derrida 1999a). Den von Petříček übersetzten Band veröffentlicht Archa in tschechischer, die beiden Bände Kanovskýs hingegen in slowakischer Sprache. 17 In vielerlei Hinsicht ähnelt dieser Fall dem von Filozofia do vrecka, ist doch auch er auf den ersten Blick vor allem ein Produkt der das Ende der gemein‐ samen Staatlichkeit überdauernden zweisprachig slowakisch-tschechischen intellektuellen und akademischen Netzwerke. Der 1951 in Prag geborene und in den illegalen Wohnzimmer-Seminaren von Jan Patočka und Ladislav Hejdánek (vgl. Prášek/ Roreitnerová 2021: 8) ausgebildete Philosoph Petříček beschäftigt sich ab Mitte der 1980er-Jahre mit dem Denken Derridas, aber auch dem anderer französischer Theoretiker wie Merleau-Ponty, Barthes und Deleuze; erste Aufsätze und Rezensionen zu ihren Schriften erscheinen gegen Ende des Jahrzehnts in tschechischen Samizdat-Zeitschriften (vgl. u. a. Petříček jr. 1987; Petříček jr. 1989a; Petříček jr. 1989b; Petříček jr. 1989c). Ebenfalls in diesem Zeit‐ raum entstehen seine ersten Übersetzungen von Texten Derridas und anderer (post)strukturalistischer Denker, darunter auch eine vollständige Übertragung von Manfred Franks Genfer Vorlesungszyklus Was ist Neostrukturalismus? Au‐ ßerdem ist er an der ersten tschechischen Übersetzung von Heideggers Sein und Zeit beteiligt. Alle diese Übersetzungen kursieren zunächst ausschließlich als maschinenschriftliche Manuskripte oder in Samizdat-Editionen und erscheinen erst nach 1990 offiziell (vgl. u. a. Heidegger 1996; Frank 2000). 18 Obgleich in Prag lebend und ab Mitte der 1990er-Jahre auch dort lehrend hat Petříček zudem enge Verbindungen nach Bratislava. Seine noch unveröf‐ fentlichten Übersetzungen sind fester Bestandteil von Marcellis und Michalo‐ vičs Lehrveranstaltungen am Philosophischen Institut der Bratislavaer Come‐ nius-Universität; nach 1989 publiziert er nicht nur in tschechischen, sondern auch regelmäßig in slowakischen Fachjournalen. 276 Anna Förster <?page no="277"?> 19 Kanovský räumt offen ein, Ende der 1980er-Jahre noch über recht dürftige Französisch‐ kenntnisse verfügt und Derrida anfangs v. a. auf Grundlage seiner Lateinkenntnisse übersetzt zu haben. Seine Arbeit an De la grammatologie nimmt denn auch erst wesent‐ lich später systematischere Form an, als er Mitte der 1990er-Jahre von einem längeren Studien- und Forschungsaufenthalt in Frankreich zurückkehrt (vgl. Interview mit Kanovský, 22.9.2021). Aus der Distanz betrachtet ergeben sich hieraus bemerkenswerte Parallelen zur Entstehung von Gayatri Spivaks englischsprachiger Übersetzung (vgl. hierzu Spivaks Interview mit Steve Paulson, 2016). 20 Marguerite Derrida wird 1932 in Prag als Tochter des Journalisten und Übersetzers Gustave Aucouturier und dessen tschechischer Ehefrau Marie Alferi geboren. Die ersten Jahre ihrer Kindheit verbringt sie in Prag, mit Tschechisch als Familiensprache. Aufgrund der Korrespondententätigkeit des Vaters verbringt die Familie später mehrere Jahre in Belgrad und Moskau; dauerhaft in Frankreich lebt Marguerite Derrida erst ab dem Teenageralter. Ihr Bruder Michel Aucouturier wird später einer der wichtigsten französischen Slavisten seiner Generation und macht sich u. a. um die Übersetzung des Werks von Boris Pasternak verdient. Marguerite Derrida selbst übersetzt Ende der 1960er-Jahre Vladimir Propps Morphologie des Märchens ins Französische (vgl. Roudinesco 2020; Depretto 2018). Der 1970 geborene Philosoph und Anthropologe Martin Kanovský wiederum ist ein Schüler Marcellis. Im Kontext einer seiner Lehrveranstaltungen entstehen um 1990 Kanovskýs erste Übertragungen aus Derridas De la grammatologie. Dass es bis zu deren Veröffentlichung fast ein Jahrzehnt dauern wird, hat mit dem Schwierigkeitsgrad des Textes ebenso zu tun wie mit dem Umfang des Buches. 19 Mehrere Übersetzungen kürzerer Texte Derridas - darunter auch Ostrohy - publiziert er bereits Jahre vorher, ebenso zahlreiche Rezensionen und Aufsätze zu Derrida und anderen strukturalistischen und poststrukturalis‐ tischen Denker: innen (u. a. Kanovský 1994; Kanovský 1998; Kanovský 1999; zu Kanovskýs Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion siehe auch Förster 2021, 56 f.). Gleichzeitig bestehen zwischen der mimetischen Zweisprachigkeit von Svě‐ telná znamení und der seriellen Bilingualität der Reihe Filozofia do vrecka auf der einen und der Zweisprachigkeit der bei Archa erschienenen Derrida-Über‐ setzungen auf der anderen Seite einige wesentliche Unterschiede. Aus Platz‐ gründen seien an dieser Stelle lediglich zwei genannt. Da sind, zum einen, philosophie- und theoriegeschichtliche Gründe sowie die Tatsache, dass sich innerhalb der Tschechoslowakei in den 1980er- und frühen 90er-Jahren eine nachgerade arbeitsteilige Topografie der Derrida-Rezeption herausbildet. Wäh‐ rend nämlich in Prag Derrida aufgrund der familiären Beziehungen seiner Frau Marguerite Derrida zu Böhmen 20 sowie seines 1981 in einer Verhaftung durch die Staatssicherheit und der Mitbegründung der Association Jan Hus (Day 1999; Bendová et al. 2013) gipfelnden Engagements für den tschechischen Dissens weniger als ‚fremder‘ denn fast schon als ‚quasi-eigener‘ Autor gelesen wird, 21 Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 277 <?page no="278"?> 21 Exemplarisch angeführt hierfür seien die Nachrufe, die nach Derridas Tod 2004 in tschechischen Tageszeitungen und Zeitschriften erscheinen. Ausnahmslos und zum Teil bereits im Titel erinnern sie Derrida vor allem anderen als Verbündeten des tschechischen Dissens und Kommentator der tschechischen und böhmischen Literatur und Philosophie (vgl. u. a. Pospiszyl 2004; [kul] 2004; [zr] 2004). 22 Beispielhaft genannt sei hier Teória literatúry, eine Anthologie mit slowakischen Fassungen ausgewählter Schriften der russischen Formalisten, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Mikuláš Bakoš. Obgleich Bakoš Zeit seines Lebens eng mit tschechischen Kollegen zusammenarbeitete, verstand er seine Übersetzungstätigkeit doch als Versuch, sich nicht nur von der in Prag und Brünn u. a. durch Roman Jakobson kanonisierten Perspektive auf den Formalismus zu emanzipieren, sondern auch die Grundlage für einen eigenständigen, vom Prager Kontext unabhänigigen slowakischen Strukturalismus zu legen. Im Januar 1937 schreibt er an seinen Kollegen Andrej Mráz: „Als ich die Arbeit an dieser Auswahl begann, hatte ich dabei eben dieses Ziel im Sinn - die slowakische Kultur durch die Übersetzung literaturtheoretischer Arbeiten von epochaler Bedeutung zu bereichern, die die weitere Entwicklung der Literaturwissenschaft beeinflusst haben und […] damit zu zeigen, dass die Slowaken aufgehört haben, alles so zu machen wie die Tschechen und damit begonnen haben, sich selbst zu orientieren.“ [Ak som sa dal do tohto výberu, sledoval som tým iba ten cieľ - obohatiť slovenskú kultúru prekladom literárno-teoretických prác epochálneho významu, ktoré určia celý ďalší vývin literárnej vedy, a spraviť […], ako to majú Česi, aby bolo vidno, že Slováci sa odpútavajú a už nerobia všetko po Čechoch, že sa už sami orientujú.“] (zit. in Popovič 1970: 25). In den 1960er- und 70er-Jahren wurde Bakošs emanzipatorische Rhetorik von slowakischen Literaturwissenschaftler: innen wiederaufgenommen und um eine Kritik an der ihnen zufolge in Prag stattfindenden ‚Musealisierung‘ des Zwischenkriegsstrukturalismus erweitert; sie selbst plädierten für eine stärkere Auseinandersetzung mit neueren, westeuropäischen und insbesondere französischen Strukturalismen (vgl. Popovič 1970: 51; Krausová 1967). entwickelt sich ab Mitte der 1980er-Jahre in Bratislava ein vor allem auf die Dekonstruktion fokussierendes Interesse an Derridas Arbeit. Anknüpfend an die bis in die 1930er-Jahre zurückreichende Distanzierungsgesten gegenüber dem Prager linguistischen Zirkel 22 wird Derrida dabei vor allem als Kritiker und Überwinder des Strukturalismus gelesen; in Prag hingegen wird in den 1990er-Jahren eher über Gemeinsamkeiten zwischen Derridas Denken und dem einheimischen Zwischenkriegsstrukturalismus nachgedacht. Petříčeks Arbeit und insbesondere sein Publikationsverhalten ist in dieser Hinsicht in hohem Maße indikativ. In Prag nämlich und in dort erscheinenden Zeitschriften publiziert er fast ausschließlich Arbeiten, die Derridas Denken mit dem tschechischen Strukturalismus parallelisieren bzw. nach proto-dekon‐ struktivistischen Spuren etwa in der Arbeit Mukařovskýs suchen (vgl. u. a. Petříček jr. 1989c; Petříček jr. 1991). Ausschließlich in slowakischen Zeitschriften hingegen erscheinen auf Derridas Dekonstruktion fokussierende Studien (vgl. u. a. Petříček jr. 1992a; Petříček jr. 1992b). Ähnliches gilt auch für Petříčeks über‐ setzerische Arbeit mit und an Derrida: in Prag publiziert er in den 1990er-Jahren 278 Anna Förster <?page no="279"?> nur eine einzige Übersetzung Derridas, und zwar dessen Vortrag „Geheimnis, Ketzerei und Verantwortung“ zu Jan Patočkas Kacířské eseje (Ketzerische Es‐ says), gehalten 1992 auf Einladung des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen im Rahmen der Patočka Memorial Lectures (Derrida 1992). In der Slowakei hingegen erscheinen Übersetzungen von Auszügen aus De la grammatologie und Écriture et différance (Derrida 1990; Derrida 1993a) sowie 1993 der hier in Frage stehende und von Archa verlegte Band Texty k dekonstrukci. Der zweite wesentliche Unterschied zwischen der Mehrsprachigkeit von Světelná znamení und Filozofia do vrecka einerseits und den von Archa ver‐ legten slowakischen und tschechischen Derrida-Übersetzungen andererseits ist philosophischer und übersetzerischer Natur. Es ist hinlänglich bekannt, dass Derrida selbst jede Definition von ‚Dekonstruktion‘ explizit verweigert und sich statt dessen lediglich auf eine Formulierung eingelassen hat, derzufolge Dekonstruktion „an adventure of translation“ sei (Derrida 1995: 17). Dass sowohl die Dekonstruktion als auch die Übersetzung für Derrida Fälle des Mit-sich-selbst-nicht-identisch-Seins sind, verdeutlichen sowohl Neologismen wie ‚différance‘ als auch seine Überlegungen zu sprachübergreifenden Homo‐ nymen und -graphen wie beispielsweise ‚relevant(e)‘ (vgl. Derrida 1999b). Was dies für die Übersetzung der Dekonstruktion in einem mehrsprachigen Kontext wie dem der (tschecho)slowakischen Wissenschaftslandschaft der 1980er- und 90er-Jahre bedeutet und weshalb ein solcher für das übersetzeri‐ sche Umgehen mit der Dekonstruktion ein geradezu ideales Umfeld bietet, zeigt sich in den bei Archa erschienen Derrida-Übersetzungen Petříčeks und Kanovskýs und insbesondere in ihrem Umgang mit Derridas Terminologie deutlich. So ziehen nämlich beide die je andere Sprache bzw. bereits vorliegende Übersetzungen in diese zur Übertragung philosophischer Neologismen heran. Kanovský beispielsweise tut dies, wenn er bei der Übersetzung des Lévi-Strauss gewidmeten Kapitel in De la grammatologie auf die in den 1960er- und frühen 70er-Jahren von Jiří Pechar vorgelegten tschechischen Übersetzung von Tristes tropiques und La pensée sauvage (Lévi-Strauss 1966; Lévi-Strauss 1971) zurück‐ greift. So übersetzt er etwa ‚bricolage‘ durch das dort vorgeschlagene und vom Syntagma ‚domácí kutil‘ (Heimwerker) abgeleitete Wort ‚kutilstvo‘. In einer Fußnote erklärt er, dies getan zu haben, da er „keinen ausreichend klar entsprechenden slowakischen Terminus kenne.“ („Výraz bricolage som preložil bohemizmom kutilstvo, pretože dostatočne jasný zodpovedajúci slovenský termín nepoznám.“) (Kanovský in Derrida 1999a: 147, Anm. 6) Für slowakische Muttersprachler: innen, so Kanovský, sei ‚kutilstvo‘ u. a. aufgrund dialektaler Verwendungen im Grenzgebiet zu Mähren unmittelbar verständlich, trotdem Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 279 <?page no="280"?> 23 So Kanovský im Interview am 22.9.2021. 24 „Tschechisch zu lesen wird von Slowaken als interlinguale Lektüre wahrgenommen, die es ihnen ermöglicht, die Fremdheit des Textes zu erspüren, ihn aber zugleich vertraut und semantisch verständlich macht.“ aber eindeutig als Bohemismus und damit als anderssprachiges Element zu erkennen. 23 Ähnliches gilt, umgekehrt, auch für Petříčeks übersetzerischen Umgang mit Derridas Neologismus ‚différance‘. Wie Kanovský greift auch er dabei auf die andere, in diesem Fall die slowakische Sprache zurück und bedient sich zur Markierung des Unterschiedes ‚différence‘/ ‘différance‘ des zwar im Slowaki‐ schen, nicht aber im Tschechischen selbst vorhandenen Graphems ‚ä‘. In einer Anmerkung schreibt Petříček hierzu: „Die Aussprache der Wörter différence und différance ist im Frazösischen identisch (in der Übersetzung markiere ich das Wortpaar diference: diferänce).“ („Výslovnost slov différence a différance je ve francouzštině stejná (v překladu naznačuji dvojicí diference: diferänce).“) (Derrida 1993b, 174 Anm. 2, Herv. i. O.) Diese Übersetzungslösung setzt darauf, dass die tschechischen Leser: innen um die Homophonie des slowakischen Umlauts ‚ä‘ mit dem tschechischen ‚e‘ wissen und deshalb den so geschaffenen Neologismus als Zusammenfall des (linguistisch) Eigenen und Fremden lesen. Aus Perspektive der slowakischsprachigen Leser: innenschaft zielt sie auf die Hypertrophierung eines Effekts, der nicht wenige Leser: innen Theorieüberset‐ zungen ins Tschechische denen in die eigene Muttersprache sogar vorziehen lässt: „[L]a lecture des traductions en tchèque est ressentie par les Slovaques comme une lecture dans une interlangue qui laisse ressentir l’étrangéité du texte, mais le rend familier et sémantiquement compréhensible en même temps.“ 24 (Bednárová 2013: 253). Damit nutzt Petříček das spezifische linguistische Ver‐ hältnis beider Sprachen sowie die Beziehung der beiden Sprachgemeinschaften zueinander nicht nur, um Derridas Neologismen zu reproduzieren, sondern auch, um eine zentrale Kategorie der Derrida’schen Dekonstruktion auf den aufnehmenden Kontext hin weiterzudenken. 5. Kalligram und die Zukunft der mehrsprachigen Verlagsarbeit in der Slowakei 1999 ist Archa aus finanziellen Gründen gezwungen, seinen Betrieb einzu‐ stellen. Kanovskýs Übersetzung von De la grammatologie ist eine der letzten vom Verlag noch realisierten Publikationen. Šimečka, der bereits zwei Jahre zuvor aus der aktiven Leitung ausgeschieden und inzwischen Chefredakeur der renommierten Tageszeitung SME ist, wird seine eigenen Bücher in den 280 Anna Förster <?page no="281"?> 25 „Martin M. Šimečka gründete in der VPN-Zentrale [d. i. Die Bürgerrechtsorganisa‐ tion Verejnosť proti násilí] im Mozart-Haus in der Jirásková-Straße, der heutigen Ventúrska-Straße in Bratislava, Archa, den ersten unabhängigen nach dem November 1989 entstandenen Verlag. Als ich ihr erstes Buch sah […], war ich sehr neidisch. Donnerwetter, das war es, was ich tun wollte! Für mich kam plötzlich alles zusammen - mein Leben, meine Liebe zur einheimischen Literatur, zum Lesen, zum Wort, zu Buchhandlungen, zum Samizdat. Archa! Auch ich wollte Bücher veröffentlichen! Philo‐ sophische, historische, politische, anthropologische, juristische Literatur, hochwertige Belletristik, wahre Geschichten; ein Verleger für die kulturelle und soziale Elite der Ungarn in der Slowakei wollte ich sein.“ darauffolgenden Jahren in verschiedenen slowakischen und tschechischen Verlagshäusern publizieren. Einige seiner zentralen verlegerischen Projekte hingegen werden durch László Szigetis Verlag Kalligram übernommen. Gegründet 1991 verschreibt sich auch Kalligram von Anfang an einem dezidiert zweisprachigen, in diesem Fall slowakisch-ungarischen Programm. Wie der Gründer und langjähige Verlagschef, der Publizist, Bürgerrechtler und aktive Streiter für die Rechte der Anfang der 1990er Jahre fast 10 % der Gesamtbevölkerung repräsentierenden ungarischsprachigen Minderheit in der Slowakei, László Szigeti später einräumen wird, orientiert sich Kalligram damit explizit an dem von Archa etablierten Vorbild: Martin M. Šimečka v centrále VPN [d. i. die Bürgerrechtsorganisation Verejnosť proti násiliu] v Mozartovom dome na Jiráskovej, dnes opäť Ventúrskej ulici v Bratislave, založil Archu, prvé ponovembrové nezávislé knižné vydavateľstvo. Keď som uvidel ich prvú knihu […] veľmi som mu závidel. Doparoma, toto by som chcel robiť! Odrazu sa mi to spojilo - môj život, moja láska k domácej knižnici, k čítaniu, k slovu, ku kníhkupectvám, samizdatom. Archa! Aj ja chcem vydávať knihy! Filzofické, histo‐ rické, politologické, antropologické, právnickú literatúru, kvalitnú beletriu, pravdivé príbehy, byť vydavateľom kultúrnej a spoločenskej elity Maďarov na Slovensku. (Szigeti und Štrasser 2020: 553) 25 Stärker als Šimečka bemüht Szigeti mit Blick auf seine verlegerische Arbeit ein (kultur)politisches framing und verortet ihre Mehrsprachigkeit explizit in der Kontinuität dissidentischer Mitteleuropa-Diskurse der 1980er-Jahre, welche die ethnische, linguistische, kulturelle und religiöse Heterogenität der Region zum Gegenmodell zu hegemonial codierten Homogenisierungstendenzen vor allem russisch-sowjetischer Provenienz erklärten (vgl. u. a. Chmel 2020). Spe‐ zialisiert zunächst auf ungarischsprachige Literatur in slowakischer sowie auf slowakische, tschechische und später auch polnische Literatur in ungarischer Übersetzung, wird Kalligram im Laufe der 1990er- und 2000er-Jahre zu einem der größten Player sowohl auf dem slowakischen als auch dem ungarischen Mehrsprachigkeit und Verlagsarbeit 281 <?page no="282"?> 26 Im selben Gebäude ihren Sitz haben außerdem die slowakische Redaktion von Radio Free Europe, die Zeitschriften Kultúrny život (Kulturelles Leben) und Fragment, die Charta 77-Stiftung und das slowakische Helsinki-Komittee, George Soros Open Society Fund und die slowakische Abteilung der Jan Hus Association (vgl. Bútora 2020: 56 f.). 27 Ausdruck findet diese u. a. in dem 1987 zunächst im Samizdat und in den 1990er-Jahren offiziell publizierten Interviewbuch Kličky na kapesníku (Taschentuchtricks) mit dem tschechischen Schriftsteller Bohumil Hrabal (Hrabal 1996). Eine auszugsweise Überset‐ zung ins Deutsche erschien jüngst in der Zeitschrift Sinn und Form (Hrabal 2019; vgl. hierzu auch Förster 2020). 28 Exemplarisch genannt sei hier die Zeitschrift OS - Fórum občianskej spoločnosti (Forum Bürgergesellschaft), die Anfang 1997 als Beilage der Tageszeitung SME erscheint, der damals bereits Šimečka als Chefredakteur vorsteht; ab der zweiten Nummer wird die Zeitschrift von Kalligram verlegt. Chefredakteur ist der hier ebenfalls bereits zitierte spätere Diplomat Rudolf Chmel. OS versteht sich selbst als „Monatsschrift zur Gegenwart mit Vergangenheit und für die Zukuft“ („mesiačník o prítomnosti s minulosťou pre búdocnosť“) und wird von Zeitzeugen erinnert als „Raum, der dem kritischen Denken Asyl gewährte“ (Bílik 2020: 41). Unter den regelmäßigen Beiträgern sind zahlreiche ehemalige tschechische, slowakische und ungarische Dissident: innen. Buchmarkt, und zwar sowohl im literarischen als auch im philosophischen, historischen, sozialwissenschaftlichen und Theorie-Segment; zu den bislang größten Erfolgen in letzerem Feld zählen eine bislang drei Teile umfassende slowakische Ausgabe der Schriften Foucaults. Über Jahre hinweg haben beide Verlage ihren Sitz im selben Gebäude in der Altstadt von Bratislava und verfügen über zum Teil stark überlappende Netzwerke. 26 Unter den Projekten, die Kalligram übernimmt, ist auch die Reihe Filozofia do vrecka. Inhaltlich führt Kalligram sie weiter wie zuvor, erst um 2010 kommt es in Folge eines Generationenwechsels im Herausgebergremium zu einer stärkeren philosophiegeschichtlichen Ausrichtung sowie zur Öffnung hin zur analytischen Philosophie. Was Kalligram allerdings nicht übernimmt, ist die slowakisch-tschechische Zweisprachigkeit der Reihe; die nachfolgend verlegten 58 Bände erscheinen ausnahmslos in slowakischer Sprache. Dies ist umso erstaunlicher, als die Übernahme nicht nur der Archa-Pro‐ jekte, sondern auch ihrer slowakisch-tschechischen Zweisprachigkeit Kalli‐ gram die Möglichkeit geboten hätte, sein bisheriges slowakisch-ungarisches Programm zu einem dreisprachig slowakisch-tschechisch-ungarischen weiter‐ zuentwickeln. Angesichts von Szigetis eigener Affinität zur tschechischen Lite‐ ratur und Kultur 27 sowie vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Selbstver‐ ortung Kalligrams in der Kontinuität der dissidentischen Mitteleuropa-Diskurse der 1980er-Jahre wäre dies nicht nur eine denkbare, sondern auch eine überaus produktive Option gewesen; und zwar auch deshalb, weil sich Kalligram in der konfliktreichen Atmosphäre der Mečiar-Jahre durchaus um die Wiederbelebung alter dissidentischer Netzwerke und Diskurse bemüht. 28 282 Anna Förster <?page no="283"?> Bedenkt man jedoch die Differenz zwischen dem weitgehend unreflektierten Charakter der slowakisch-tschechischen Zweisprachigkeit auf der einen und die erst durch die Politik Mečiars und nach der Jahrtausendwende auch durch die irredentistische Rhetorik Viktor Orbáns hochgradig angespannten slowa‐ kisch-ungarischen Beziehungen auf der anderen Seite erscheint diese Entschei‐ dung bereits weniger irritierend. Eine zweisprachig ungarisch-slowakische Verlagsarbeit zu betreiben ist in der Slowakei der 1990er- und 2000er-Jahre eine notwendigerweise programmatische Angelegenheit und mit der „allzu selbst‐ verständlichen“ slowakisch-tschechischen Zweisprachigkeit Archas kaum auf einen Nenner zu bringen. Und auch die eher pragmatisch gelagerten Erklärungen einiger Akteure für die zweisprachige Verlagsarbeit von Archa scheinen um die Jahrtausendwende, als Kalligram die Projekte übernimmt, der Vergangenheit anzugehören. Dies gilt insbesondere für den immer wieder angeführten Mangel an qualifizierten Übersetzer: innen. Bereits Ende der 1980er-Jahre beginnt vor allem Marcelli, seine herausgeberische und übersetzerische Arbeit für Archa um gezielte pädagogische Bemühungen zu erweitern und bietet an der Comenius-Universität in Bratislava Seminare zur Übersetzung philosophischer Texte ins Slowakische an (vgl. Interviews mit Marcelli 2021; Bžoch 2021); nicht wenige seiner Studie‐ renden werden erst zu Mitarbeitenden von Filozofia do vrecka/ Filosofie do kapsy und nach der Jahrtausendwende Teil des festen Übersetzer: innenstamms von Kalligram. 2016 schließlich endet auch die zweisprachige Verlagspraxis von Kalligram; das ungarischsprachige Geschäft wird von nun an unter dem Namen Pesti Kalligram in Budapest weitergeführt, das slowakische geht im neugegrün‐ deten neugegründeten - und nunmehr von einem slowakisch-polnischen Team geführten - Verlag Absynt auf (Szigeti 2015). Literaturverzeichnis Interviews und Gespräche Miroslav Marcelli, Bratislava, 24.9.2021 Martin Kanovský, Bratislava, 22.9.2021 Adam Bžoch, Bratislava, 21.9.2021 Bibliographie B A R T H E S , Roland (1994). Světlá komora. Vysvětlivka k fotografii. Bratislava: Archa. B E D NÁ R O VÁ , Katarína (2013). Dejiny umeleckého prekladu na Slovensku. I: Od sakrálneho k-profánnemu. Bratislava: VEDA. 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Über das fremdartige Lexikon der bulgarischen Symbolisten Bisera Dakova Abstract: The paper analyses the literary language of the Bulgarian Symbolists, in particular its very specific lexis (from 1905 until 1925). Taking into account the highly polemical situation in the literary landscape of the time, it questions the widespread rejection of Symbolist poetics, as it has been argued because of its alleged monotony without any innovation. Looking at this entire period, the paper suggests that it would be worthwhile to re-consider such judgements. Such a re-evaluation of the individual contributions of single poets (from Pejo Javorov up to Christo Smirnenski) also allows us to understand better the history of Bulgarian literature in the first decades of the 20 th century. Keywords: Bulgarian Symbolism, Bulgarian Postsymbolism, sociolect, idiolect, literary language. 1. Einleitende Bemerkungen zur Geschichte des bulgarischen Symbolismus In der bulgarischen Literatur gilt der Symbolismus, der - etwas zeitlich versetzt zu den anderen europäischen Literaturen - 1905 begann und um 1925 endet, als die wichtigste und auch als die langlebigste Kunstrichtung. Die ersten symbolistischen Texte (in der zeitgenössischen Rezeption nicht selten abfällig als „dekadente Schöpfungen“ bezeichnet) haben auch Begeisterung geweckt. Die Literaturzeitschriften Missăl (1892-1907), Naš život (1901-1912), Chudožnik (1905-1909), der Almanach Južni cvetove (1907) waren repräsentativ für die neue Kunstrichtung, und eben in diesen Publikationen fand der Symbolismus Aner‐ kennung, vor allem in den Beiträgen ihrer bedeutendsten Vertreter, Pejo Javorov (1878-1914), Teodor Trajanov (1882-1945), Emanuil Popdimitrov (1885-1943), <?page no="290"?> 1 Im ersten Heft der Zeitschrift Nov păt (Neuer Weg) aus dem Jahre 1923 veröffentlicht, eine Zeitschrift, die von der bulgarischen kommunistischen Partei finanziell unterstützt wurde. Hier ist die Publikation aus einer späteren Ausgabe der Werke Canevs zitiert (Canev 1983). Nikolaj Liliev (1885-1960), Dimčo Debeljanov (1887-1916), Ljudmil Stojanov (1886-1973). Als Höhepunkt des bulgarischen Symbolismus wird die kurzlebige Zeitschrift Zveno (1914) angesehen. Nach dem Ersten Weltkrieg beobachtet man in der modernen bulgarischen Literatur zeitgleich zum gesamteuropäischen Kontext die Entfaltung anderer Kunstrichtungen. Der Symbolismus wird heftig bekämpft und als eine deaktualisierte, hermetische Poetik mit einer dichterisch abgegriffenen Sprache zurückgewiesen. Diese Kampagne gegen den Symbolismus (geführt von den Zeitschriften Vezni, Nov păt, Plamăk) geht paradoxerweise mit der ideologischen Begründung und Etablierung des Symbolismus einher (im Grunde genommen retrospektiv) in der Zeitschrift Chiperion (1922-1931). Daher wird diese verspä‐ tete symbolistische Plattform zu einer Zielscheibe gnadenloser Kritik (neben Nov păt, Plamăk, auch seitens Strelec und Zlatorog), was zu einer spannenden und erbitterten Polemik zwischen den Repräsentanten des (nachdrücklich so bezeichneten) ideologisierten Symbolismus und seinen Widersachern führte. Zugleich entwickelt sich die Zeitschrift Chiperion unmerklich aber auch zu einem Schauplatz neuer ästhetischer Trends - der sachlichen Poetik zum Bei‐ spiel (vgl. Dakova 2004). Den Kritikern des Symbolismus in dem dynamischen Jahrzehnt der 1920er-Jahre ist diese Tatsache völlig entgangen: Sie führen eine aggressive Polemik gegen Chiperion, und gelangen zu einseitigen Schlussfolge‐ rungen über die dort publizierte Poesie, und zwar aufgrund der Texte junger und noch nicht etablierter Autoren, deren Poetik als epigonenhaft beurteilt wird. Georgi Canev betitelt deswegen einen Artikel aus dem Jahre 1923 1 mit „Мъртва поезия“ („Tote Poesie“), eine Diagnose, die sich ausdrücklich auf die symbolistische Poesie in der bulgarischen Literatur dieser Zeit beziehen sollte. So wird dieser Text zumindest später in der Literaturgeschichte betrachtet: er wird als ein antisymbolistisches Manifest gedeutet und aufgewertet. Das eigentliche Ziel Canevs ist jedoch ein Überblick über die poetische Produktion junger, noch nicht bekannter Autoren. So entsteht ein definitiv markiertes Sujet im Artikel „От замъка до гробищата“ („Vom Schloss zu den Friedhöfen“), ein Sujet über die emotional leere und klischeehafte Poesie, in welcher die „Zwischenstationen“ (der Weinrausch, die hysterische Pornographie, der Tod und der Mystizismus) verschiedene Autoren unter einen Nenner bringen: Jordan Stratiev, Jordan Stubel, Bojan Danovski, Ivan Mirčev, Ivan Grozev. Die Zitate aus den Werken dieser Autoren 2 sind mit manipulativem Geschick angeführt, 290 Bisera Dakova <?page no="291"?> 2 Die hier betrachteten Literaten stehen (mit Ausnahme von Grozev) noch am Anfang ihres dichterischen Weges: gespalten zwischen dem Symbolismus und den anderen, sie mehr ansprechenden zu dieser Zeit aktuellen Kunstrichtungen und Themenbereichen. Jordan Stratiev (1898-1974) bleibt - bedauerlicherweise - außerhalb der Literaturge‐ schichte, trotz seiner fein dekadenten Dichtung; Jordan Stubel (1897-1952) wird später zu einem beliebten Kinderbuchautor; Bojan Danovski (1899-1976) entwickelt sich unter dem Einfluss der italienischen Avantgarde von einem Autor innovativer poetisch-dra‐ maturgischer Texte, „феерии“ (Feerien) genannt, zu einem anerkannten Dramaturgen und radikalen Reformator im bulgarischen Theater. Über den quasisymbolistischen Dichter Ivan Mirčev (1897-1982), dessen Poetik zur Sachlichkeit tendiert, und der im Artikel Canevs gnadenlos ausgelacht wird, wird später in diesem Beitrag die Rede sein. Ivan Grozev (1872-1957) - ein ausgewiesener Theosoph, Literat, Übersetzer, zweimal zum Nobelpreisträger (1928, 1929) von Prof. Michail Arnaudov vorgeschlagen, wird auch in den weiteren Überlegungen - wegen seiner bedeutungsvollen Abweichungen von der symbolistischen Sprache - ein wichtiger Protagonist in unseren Beobachtungen sein. 3 Canev (1895-1986) wird später zu einer der bedeutendsten Figuren im Literatur- und Akademieleben Bulgariens sein: Leiter des Lehrstuhls „Bulgarische Literatur“ an der Sofioter Universität (1950-1961); Dekan der Philologischen Fakultät an der gleichen Universität (1951-1952); Direktor des Instituts für Literatur, BAW (1959-1963), zum Akademiemitglied im Jahre 1974 ernannt. produktiv dafür genutzt, die literaturhistorische Vision einer formelhaften Dichtung zu erzeugen. Die Beobachtungen und die Schlussfolgerungen des jungen Kritikers Canev 3 , der - paradoxerweise - derselben Literaturgeneration angehört, sind in den Literaturkanon eingebettet: Sie folgen auf ein implizites Zitat des großen bulgarischen Dichters Nikolaj Liliev „в глухите падини на скръбта“ (in den verstummten Mulden der Trauer), im Anschluss werden mit konkreten Zitaten bzw. einer expliziten Bezugnahme Mirčev und Grozev angeführt. Diese zwei Dichter werden von Canev offensichtlich wegen ihres „poetischen Nebels“ verhöhnt. Es muss betont werden, dass Canevs Artikel die „днешната“ (heutige) Poesie der Jungen behandelt, d. h. die Bezeichnung „symbolistische Dichtung“ fehlt hier. Oder geht es überhaupt nicht um den Symbolismus? Dafür spricht, dass sich die Kritik des jungen, noch nicht etablierten Literaturkritikers auch gegen gleichgesinnte (politisch links orientierte) Autoren richtet, wenn er in ihren Werken nur ein hohles Pathos und keine Einfühlung ins Leben selbst entdeckt. Canev bekämpft also in Wirklichkeit die oberflächliche Poesie, die abgedro‐ schenen Kunstmittel, die schablonenhaften Phrasen, unabhängig davon, ob sie sich aus der politischen Propaganda oder aus fremden Kultureinflüssen ergeben und bloß „angelesen“ sind (Canev 1923/ 1983). Die Beobachtungen und die entschiedene Ablehnung von Canev werden in Milevs Beitrag in ein manifestartiges Pathos verkehrt, d. h. alles, was Canev Sprache in der Sprache? 291 <?page no="292"?> 4 „Die bulgarische Poesie braucht eine Barbarisierung. Rohe Säfte, in denen es ein primitives Leben gibt - damit sie ihr Leben geben. Damit sie der „toten Poesie“ Leben einflößen. 5 Ihre ersten Veröffentlichungen erscheinen in der symbolistischen Zeitschrift Chiperion (1923). an dieser „toten Poesie“ entlarvt (die schablonenhafte Bildlichkeit, die Puppen‐ figuren, der Mangel an echten Erlebnissen und an Bekenntnissen, die fehlende Empathie, Pornographie und nicht zuletzt der „Nebel“ des Mystizismus) wird von Milev übernommen, aber aggressiv verstärkt. Auf diese Weise wird schließ‐ lich das Ende der symbolistischen Poetik erklärt und die berühmte Devise formuliert, dass die bulgarische dichterische Sprache eine gewisse Barbarisie‐ rung braucht: „Българската поезия има нужда от оварваряване. От сурови сокове, в които има първобитен живот - за да ѝ дадат живот. Да влеят живот на „мъртвата поезия.“ (Milev 1924: 70) 4 Nur ein Jahr später erscheint der programmatische Artikel von Atanas Dalčev und Dimităr Panteleev, nicht verwunderlich wieder mit „Mărtva poezija“ be‐ titelt, in dem die Dichtung von Nikolaj Liliev als Emblem der inhaltlosen, formellen Poesie herangezogen, und entsprechend mit durchdachter Gnaden‐ losigkeit kritisiert wird. In der Tat wollten sich die beiden jungen Verfasser von der Generation der Symbolisten klar distanzieren. Ihre deutliche Abgrenzung ist auch daher so scharf, weil Milev sie in seinem Manifest den Erzeugern der „toten Poesie“ zuordnet. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der eigentliche Auslöser für die Rebellion gegen Nikolaj Liliev die Nivellierung der jeweiligen dichteri‐ schen Individualität, und die verallgemeinernde Erklärung von deren Sprache als inhaltlos und formelhaft, die aus ersetzbaren Wörtern besteht. Dalčev und Panteleev 5 werden kurz danach eine markante poetische Entwicklung durchleben, und zwar mit einem steten Trend zu Sachlichkeit und inhaltlicher Konkretion. Um sich der rücksichtslosen Nivellierung zu entziehen, unterwerfen die beiden Autoren andere Dichter - oder eher Rivalen in der Literatur - demselbem Akt, diesmal mit dem Vorwurf der alogischen Bildlichkeit: So gerät auch der Dichter Nikola Furnadžiev in die wütende Kritik, dessen Lyrik sich zu dieser Zeit wesentlich von der Poesie Lilievs unterscheidet, und der heutzutage als ein vom Imaginismus beeinflusster postsymbolistischer Autor gilt. Namentlich aus dieser deutlichen Ablehnung des Symbolismus in der bulga‐ rischen Poesie am Anfang der 1920er-Jahre geht die Idee über eine gemeinsame poetische Sprache hervor, die ich in der vorliegenden Abhandlung metaphorisch 292 Bisera Dakova <?page no="293"?> 6 Erstmals äußerte Radoslav diese Einschätzung 1922 (Radoslavov 1922). In seinen weiteren, längeren Abhandlungen von 1925 „beschwört“ der Kritiker diese Tatsache, die er anfangs noch auf folgende Art und Weise formulierte: „Пиесетка, която остава не само като едно от най-ярките неща в българската лирика, но с която се откри новата и пищна страница от историята на българската поезия.“ (Ein dramatisches Gedicht, das nicht nur eines der grellsten Dinge in der bulgarischen Lyrik bleibt, sondern mit dem auch die neue und üppige Seite in der Geschichte der bulgarischen Poesie eröffnet wurde.) mit dem Begriff „Soziolekt“ bezeichne. Ich knüpfe hier an die Auffassung des Soziolekts als „Abgrenzung nach außen - als Stabilisationsfaktor nach innen“ (Kubczak 1979: 104) an. Aus dieser Perspektive betrachtet, bedienen sich die geschmähten Autoren eines gemeinsamen Sprachgutes, hinter dem sie ihre eigenen Kreationen zurücktreten lassen. Inwieweit entspricht aber eine solche Beobachtung der textuellen Realität? Ist dieser Soziolekt verifizierbar oder handelt es sich dabei um ein ideologisches Konstrukt, das sich als literaturge‐ schichtliche Vision durchgesetzt hat? Ist der bulgarische Symbolismus wirklich eine „tote Poesie“, anämisch und leblos, wie das seine heftigen Gegner überzeugt behaupten? Im vorliegenden Text wird die Literatursprache der Symbolisten, insbeson‐ dere ihr spezifisches Lexikon, überprüft, und zwar anhand seiner Entwicklung in den Jahrzehnten zwischen 1905 und 1925, d. h. zwischen dem Jahr, in dem das programmatische Gedicht von Teodor Trajanov „Nov den“ (Neuer Tag) veröf‐ fentlicht wurde, und dem Jahr, in dem der „Gesetzgeber“ des Symbolismus in der bulgarischen Literatur, Ivan Radoslavov, den Symbolismus als die führende Kunstrichtung in der bulgarischen Literatur erklärt und eben dieses Gedicht von Trajanov als ein unbestrittenes Manifest aufwertet und etabliert. 6 Nur eine Betrachtung dieser ganzen Periode von zwanzig Jahren erlaubt es nachzu‐ vollziehen, ob die Literatursprache der Symbolisten wirklich in bestimmten Formen erstarrte und dadurch die Ausdrucksmittel der verschiedenen Dichter keine besonderen Merkmale beinhalten und vollkommmen ersetzbar sind, oder ob nicht das Gegenteil gilt: Entgegen den ideologischen Vorurteilen, entwickelte sich eine markante Sprache, eine besondere Stilistik, zu deren Modifikation und Bereicherung jeder einzelne Dichter (von dem Urheber Pejo Javorov bis zu dem Postsymbolisten Christo Smirnenski) seinen spezifischen, individuellen Beitrag leistet. Ich selbst habe ursprünglich dazu tendiert, die auffälligen Besonderheiten der symbolistischen Sprache in der bulgarischen Literatur hervorzuheben und evident zu machen, die konkreten Beobachtungen Sprache in der Sprache? 293 <?page no="294"?> 7 Das hat bereits Stojanova (2006) für die Poesie Lilievs präzise untersucht, und in diesem Sinne sind meine Beobachtungen v.-a. Ergänzungen und Erweiterungen dazu. Wie ich aufzeigen werde, ist diese Sprache in Idiolekte geteilt und zerfallen. 8 Der „Soziolekt“, wenn auch nicht im streng sprachwissenschaftlichen Sinne, ist hier Gegenstand der Analyse, nicht der Kode (das Symbolsystem, die Geheimsprache), der keinen Zugang bietet und zudem Barrieren für das Verstehen errichtet. Der symbolistische Kode wurde von D. Dobrev (1996) statistisch-quantitativ umfassend erforscht. an den Texten der ausgewiesenen Vertreter des Symbolismus haben aber die ursprüngliche Absicht und Erwartung eindeutig widerlegt. 7 Grundsätzlich versteht dieser Beitrag die poetische Sprache der symbolisti‐ schen Dichter im Verhältnis zur bulgarischen Standardsprache ihrer Zeit als anderssprachige Varietät, die sich aus sozio- und idiolektal motivierten künst‐ lerischen Verfahren generiert. Inwiefern die hier vorgestellten sozio- und idio‐ lektalen Formen jenen „klassischen“ Formen der literarischen Mehrsprachigkeit entsprechen oder die in der Forschung gängige Typologie sprengen, bedarf einer gesonderten Untersuchung. Die im Titel des vorliegenden Beitrags formulierte These einer „Sprache in der Sprache“ wurde während der Untersuchung dieser textuellen Realität immer problematischer. Denn es hat sich gezeigt, dass es sich bei der bulgarischen symbolistischen Literatur nicht um eine geschlossene Stilistik als allgemeines künstlerisches Instrumentarium handelt, sondern um ein flüchtig umrissenes Sprachparadigma, in welches jeder Beteiligte seine eigenen idiolektalen Nuancen einbringt. Es steht also nicht etwas Stabil-Her‐ ausgearbeitetes zur Verfügung, sondern in der genannten Zeitspanne vollziehen sich verschiedene Prozesse, die konstitutiv sind für diese Ausdrucksweise, nicht selten auch plötzlich abbrechen, wobei sich diese angeblich nivellierte Stilistik als eine Illusion entpuppt. Anders gesagt: es entsteht ein offenes Sprachsystem, in dem die Innovationen der einzelnen Autoren immer mehr Entgrenzungslinien aufweisen, d. h. mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Im Folgenden wird versucht, das Spezifische bei jedem angesehenen Vertreter der symbolistischen Bewegung hervorzuheben, ohne dabei die gemeinsamen Züge und die Schnittpunkte außer acht zu lassen. Die radikale Abkehr vom Verhältnis zur Sprache bzw. zur Poetik des bulga‐ rischen Symbolismus besteht darin, dass die eventuelle stilistische Einheit (oder genauer gesagt, der sich herausbildende Soziolekt) 8 als eine lästige Monotonie ohne jede Innovation aufgefasst und aus diesem Grund abgelehnt wurde. Die kritischen Manifeste von Milev und von Dalčev/ Panteleev sind Paradebeispiele dafür. Die folgende Analyse geht der bislang kaum beachteten Frage nach, in welchem Grade diese schroffe Ablehnung gerechtfertigt und begründet ist. 294 Bisera Dakova <?page no="295"?> 9 Es gab Versuche, den „Dekorativismus“ als eine Strömung in der bulgarischen Literatur zu begründen, und zwar als eine ornamental-manirierte, absichtsvoll „ausgeschmückte“ poetische Sprache. 10 Die Poesie Popdimitrovs, die eine Menge verwunderlicher „Sprachexotismen“ enthält, - z. B. „щил“, vom deutschen Wort „Stille“ abgeleitet im Gedicht „Рибарка“ (Fischerin) oder „ненюфари“ (Nenufare, ein nicht so bekannter Name für die Wasserlilien) im Zyklus „Саркофаг“ (Sarkophag) von 1900, - ist ein wichtiges Indiz für die Entstehung des fremdartigen Lexikons des bulgarischen Symbolismus. 11 Popdimitrov (1909b: 47). 12 Nach Hugo Friedrich handelt es sich um eine „prädikative Metapher, deren Prädikats‐ verb ,ist‘ fehlt“ (Friedrich 1983: 209). 2. Der Soziolekt der Symbolisten Wie bereits erwähnt, gibt es oder haben sich im Laufe der Zeit von 1905 bis 1925 bestimmte gemeinsame Merkmale in der Ausdrucksweise der symbolistischen Literaten entwickelt, die als Abgrenzungsmerkmale der sprachlichen Gruppe dieser Dichter gelten können. Die im Weiteren angeführten Merkmale sind nicht unbedingt die grundlegenden für den bulgarischen Symbolismus, erlauben aber einzelne Idiolekte besonders plastisch aufzuzeigen. 2.1 Doppelte Epitheta Als markantester Zug der symbolistischen Sprache gilt die auffallende Verwen‐ dung doppelter Adjektive (Stojanova 2006), wobei der führende Vertreter dieses Verfahrens der „dekorative“ 9 Dichter Emanuil Popdimitrov ist. Sein Früh-, aber auch sein Spätwerk, das schon einen Ausweg aus dem Symbolismus markiert, wimmelt regelrecht von diesen Formen, die die dichterische Sprache berei‐ chern, manchmal aber auch belasten. Popdimitrov kreiert Adjektive folgender‐ maßen: „гъвкотела“ (schmiegsamkörperlich), „бледонощни“ (blaßnächtlich), „синевзoра“ (mit blauem Blick), „розобагра“ (rosafarben) usw. (Popdimitrov 1909a: 10-11). Bei ihm ist die Tendenz spürbar, das Bekannte/ Gewöhnliche mit unüblichen Benennungen für den damaligen bulgarischen Leser zu bezeichnen und dadurch eine betont fremdartige (nicht heimatliche) Realität zu erschaffen. 10 Der Dichter greift dabei nicht nur gerne zu Fremdwörtern, sondern er erschafft auch spannende Doppelbegriffe aus Substantiven, in denen ein Vergleich impli‐ ziert ist oder der sprachliche Analytismus geschickt vermieden ist durch das Aussparen der Präposition: z. B. „лодка раковина“ (Boot Muschelschale) oder „мрамор порти“ (Marmor Tore) 11 . So taucht ein ungewöhnliches Objekt auf, wobei der Gegenstand und der Stoff als ebenbürtig fungieren, d. h. das Boot ist mit einer Muschelschale verglichen, und umgekehrt - die Muschelschale selbst sieht wie ein Boot aus. 12 Vermutlich kultiviert Popdimitrov solche häufigen Sprache in der Sprache? 295 <?page no="296"?> 13 Bei Javorov kann man ähnliche Formen entdecken, und zwar in seinem frühen Schaffen („слънце пламък“: Sonne-Flamme). In seinen symbolistischen Texten treten sie sporadisch auf, wie z. B. „огън-рана“ (Feuer-Wunde) oder „радост-горестта“ (der Freude-Schmerz). Hier wird die Tendenz sichtbar, die Eigenschaft des ersten Gliedes zu verstärken, um daraus eher oxymoronische Bedeutungen zu gewinnen. 14 Vom Autor mit dem Jahr 1912 datiert, und als Eingangstext in der kurzlebigen, echt symbolistischen Zeitschrift Звено (Bindeglied) im Jahre 1914 veröffentlicht. 15 Die kritischen Texte von Stojanov, die bis heute in der bulgarischen Literaturgeschichte nicht ausreichend berücksichtigt worden sind, zeigen immer eine polemische Distanz gegenüber dem Symbolismus, d. h. der Autor gehört zwar zu der Gruppe der Symbo‐ listen, aber er hält immer Ausschau nach neuen Entwicklungslinien und beurteilt den Symbolismus eher als ein verbrauchtes poetisches und sprachliches Paradigma. Komposita absichtlich, um die analytischen, für „antipoetisch“ gehaltenen sprachlichen Kombinationen in der bulgarischen Sprache seiner Zeit zu ver‐ meiden. Solche doppelten Begriffe, durchaus kennzeichnend für Popdimitrov, sind bei den anderen Symbolisten nicht in so großer Zahl vorhanden. 13 Es geht also um ein idiolektales Merkmal, das - vielleicht eine Folge der verbreiteten Kreation der doppelten Adjektive - in jedem Fall in enger Verbindung mit diesen Wortschöpfungen steht. Mit Blick auf die Innovationen der doppelten Epitheta, die eine Vollendung im Poem „Легенда за разблудната царкиня“ („Legende über die buhlerische Prinzessin“) 14 finden, zeichnen sich Popdimitrov und Dimčo Debeljanov als feinfühlige Erfinder detaillierter Eigenschaftsbegriffe aus. Bei beiden Dichtern geht es nicht nur um eine mechanische Zusammensetzung verschiedener Qua‐ litäten, sondern sehr oft auch um eine versteckte metaphorische Übertragung: „дълбокорунна“ (mit tiefem Vlies); „среброструнна“ (mit silbernen Saiten), wie es im Poem von Debeljanov heißt. Die beiden Dichter sind imstande, wirk‐ lich neue Erscheinungen und Vorstellungen in ihren Werken zu evozieren und durchzusetzen. Das bedeutet, dass ihre sprachlichen Neologismen synthetisch, „organisch“, nicht auflosbar sind. Anders läuft der Prozess der Herausbildung doppelter Epitheta bei Ljudmil Stojanov, bei dem diese Adjektive nicht so häufig anzutreffen sind; wenn sie im poetischen Text auftauchen, sind die beiden Glieder der Komposita nicht gleichwertig: „хладно-пищни“ (kühl-prächtig, Stojanov 1914: 45), „невинно-непостижна“ (unschuldig-unerreichbar, ibid.). Die Eigenschaften liegen nicht auf demselben Niveau, das erste Glied der lexikalischen Komposi‐ tion dominiert über das zweite und bestimmt so die Semantik des Ganzen. Die Neubildungen von Stojanov erweisen sich als auflösbar und als beliebig. Der Dichter teilt also dieses Merkmal mit den anderen Autoren der Kunstrichtung, betrachtet diese Formen aber stärker analytisch-rational. 15 296 Bisera Dakova <?page no="297"?> 16 Der Zyklus wurde in Работнически вестник (Arbeiterzeitung) im Literaturanhang am 27.01.1923 veröffentlicht. Als selbstständiges Buch wurde der Zyklus im Jahre 1924 posthum herausgegeben, illustriert von Aleksandăr Žendov, und mit einem Vorwort von Canev. Wie es bei Übersetzungen von Poesie häufig geschieht, hat der Übersetzer Norbert Randow im Deutschen diese Epitheta vermieden: „gelbascheartig“ wird zu „Nebel‐ schwaden“, und der „blassblaue Nebel“ verwandelt sich in „Nachtdunst“ (Smirnenski 1979: 83; 85). Bei Trajanov (1907) und später bei Milev (1920) sind die doppelten Ad‐ jektive nicht selten durch eine psychologische Komponente charakterisiert: Sehr oft wird die weiße Farbe durch einen Seelenzustand wiedergegeben und nuanciert, z. B. „тъжнобяла“ (traurigweiß), „мълчаливобели“ (schweigsam‐ weiß) bei Trajanov (1907), oder „морнобял“ (todmüdeweiß), „девствено-бял“ (keusch-weiß), „буйно-бял“ (stürmisch-weiß) bei Milev (1919). Es ist bemer‐ kenswert, dass eine solche Innovation, deren Urheber Trajanov mit seinen Publikationen im Almanach Южни цветове (Südliche Blüten) in der bulgari‐ schen Poesie ist, später, in der Übergangsphase zur avantgardistischen Poetik, von einem Schlüsselautor wie Milev übernommen und weiterentwickelt wird. Und nicht nur das: Bei den so genannten „Epigonen“ des Symbolismus, wie Ivan Mirčev und Ivan Chadžichristov, deren Poetik vielmehr zum Sachlichen tendiert und nicht wirklich symbolistisch ist, stößt man auf doppelte Adjektive, die aber nicht so überladen-ornamental sind, wie z. B. bei den Dichtern Christo Jas‐ senov und Christo Smirnenski, die in der Literaturgeschichte als „Überwindler“ des Symbolismus anerkannt sind. Sogar im Zyklus „Зимни вечери“ (1923, Winterabende) von Smirnenski, einem Werk, das unbestritten als eine Wende zur sachlich-sozialen Poetik gilt, sind solche nuancierten Epitheta innovato‐ risch-gemäßigt vorhanden: „жълтопепелява“ (gelbascheartig), „бледожелти“ (blassgelb), „бледосиня“ (blassblau) (Smirnenski 1959: 405; 406; 407). 16 Das bedeutet, dass dieser Kunstgriff, diese Erfindung des bulgarischen Symbolismus entweder als eine stilistische, hochpoetische Leistung zusammen mit anderen ästhetischen Eigenarten weiter bestehen bleibt oder, was wahrscheinlicher ist, dass Dichter wie Jassenov und Smirnenski, fraglos Erneuerer des poetischen Themenspektrums, sich der erfolgreichen „alten“, für den Symbolismus typi‐ schen Stilmittel bedienen. Wenn sich die Erneuerer in der Poesie gerne der „alten“ Kunstmittel bedienen oder sogar ganz in der Atmosphäre des symbolistischen Soziolekts leben, wäre es nicht erstaunlich, dass einzelne Lexeme aus dem „abgegriffenen“ Vokabular zu allgemeinen poetischen Topoi dieser Zeitspanne werden. Smirnenski als Dichter, der die proletarische Revolution besingt und apologetisiert, verwendet sehr oft das doppelte Epitheton „искрометен“ (funkensprühend) - ein Epi‐ Sprache in der Sprache? 297 <?page no="298"?> theton, das in der späten, monostilistisch überarbeiteten Poesie von Trajanov, die von einer Licht- und Feuermetaphorik bestrahlt ist, auch häufig zu entdecken ist, obwohl es nicht immer angemessen gebraucht ist. Man könnte sagen, dass sich diese Form des Epithetons zu einem poetischen Emblem der 1920er-Jahre entfaltet hat. 2.2 Präfixe und Präpositionen zur Darstellung besonderer Nebensächlichkeit Während die doppelten Adjektive eine semantische Vielfalt aufweisen und sich als ein typisches Stilmittel der symbolistischen Poetik durchsetzen, ist eine weitere Spezifik vorhanden, die den Soziolekt der Symbolisten deutlich auszeichnet. Es handelt sich dabei um nebensächliche Besonderheiten, die den Hintergrund dieser Ausdrucksweise bilden und die den symbolistischen Texten eine prägnante sprachliche Physiognomie verleihen. Grammatikalisch gesehen, sind es eher Details oder einzelne Morpheme mit krasser, gravierender Bedeu‐ tung, wie z. B. das sehr oft von allen Vertretern der Kunstrichtung verwendete Präfix „въз-“ (auf, herauf, nach oben gerichtet). In der Tat wird dieses Präfix von dem Dichter Trajanov häufig eingesetzt, was zu unüblichen, innovativen Verb- und Partizipkomposita führt („възсепната“: aufgeschreckt; „възпламва“: aufflammt; „възлита“: auffliegt; „възсия“: hat aufgestrahlt; „възридава“: auf‐ heult; „възмечтан“: aufgeträumt; „възжелан“: aufbegehrt). Es wird aber bald von den anderen Autoren dieser Generation akzeptiert und in so hohem Maße aufgewertet, dass es eine eindeutige Bedeutung der ewigen Bestrebung nach oben, nach Transzendenz, bekommt. Es drückt nämlich den Drang aus, sich von der Niederträchtigkeit der Existenz abzuwenden und die Lebensumstände, die die Seele bedrücken, zu überwältigen. In dieser Hinsicht wird das antithetische Präfix „низ-“ (herunter-, hinunter-, herab-) auch überaus wichtig, und man trifft es nicht selten als einen modifizierten Bestandteil verschiedener Prädikate: „низвергна“ (hat erniedrigt; hat geschändet), „низпосла“ (hat eine Botschaft nach unten gerichtet), „низронени“ (herab/ abgebröckelt; herabvergossen), „низпаднали“ (herabgefallen; verfallen), „низхожда“ (steigt herab). Spannend und einmalig bei den bulgarischen Symbolisten ist auch die Verwendung verschiedener Präpositionen, deren Semantik immer noch für das heutige Lesepublikum verständlich ist: „кръз“ (kreuzwegs); „вдън“ (im Abgrund; abgrundtief), „низ-“ (niedrig, herab, durch), sowie auch die etablierte Verwendung von Adverbien, die gegenüber der heutigen Literatursprache einen archaischen Beigeschmack erfahren, die aber dialektal bzw. umgangssprachlich verbreitet sind: „нивга“ (niemals); „нявга“ (einst); „вредом“ (überall, eine alte 298 Bisera Dakova <?page no="299"?> 17 So lautet der Titel eines bekannten Gedichts von Debeljanov, wahrscheinlich ein Verweis auf den Roman von Hermann Sudermann Frau Sorge. 18 Mutafov ist kein Dichter im traditionellen Sinne des Wortes, aber seine filigran-deko‐ rative, innovative Prosa, die keiner Gattung zuzuordnen ist, lässt sich im gegebenen Kontext als ein aufschlussreiches postsymbolistisches Werk betrachten. Form des Instrumentals), „невям“ (als ob). Interessanterweise sind diese Adver‐ bien jenes unauffällige Merkmal im Soziolekt der Symbolisten, von dem sich kein Vertreter der Kunstrichtung abwendet, eine Art stilistische Modifizierung oder Umrahmung der symbolistischen Sprache. Dazu kommen noch solche, einmal mehr von Trajanov etablierten unüblichen Wörter wie: „свръхмощна“ (übermächtig); „надзвездна“ (über den Sternen hinweg); „надгробна“ (über dem Grab hinweg); „всевечна“ (allewig), abgeleitet mit den Präfixen „свръх-“ „над-“ (über), „все-“ (all), die die symbolistische Dichtung als Poesie, die nach absoluten Werten strebt, durchdringen. Andere soziolektale Merkmale sind die typisch gewordene Vielzahl abs‐ trakter Begriffe, die nicht nur im Bulgarischen normalerweise keine Pluralform bilden können, wie z. B. „самоти“ (Einsamkeiten), „печали“ (Traurigkeiten/ Me‐ lancholien), „умори“ (Müdigkeiten), „разрухи“ (Zerfälle), „злоби“ (Gehässig‐ keiten), „мълчания“ (Schweigsamkeiten) usw. Was für einen Effekt erzeugt diese sonderbare Lexik, die bei den Symbolisten so gängig wird? Diese Begriffe, meist Seelenzustände beschreibend, werden ihrer Einzigartigkeit beraubt, sie werden „automatisiert“, wenn nicht gar banalisiert und zu einer sprachlichen Gewohnheit. Andererseits führt diese betonte Häufigkeit von abstrakten Sub‐ stantiven zu einer offensichtlichen Maniriertheit der symbolistischen Poesie. 2.3 Begriffsbildungen und sprachliche Idiosynkrasien Die Pluralisierung des Unikalen und Extraordinären steht im Gegensatz zu einer anderen Besonderheit im Soziolekt der bulgarischen Symbolisten: die Schreib‐ weise eines Begriffes mit Großbuchstaben, z. B. „Грижа“ (Sorge/ Kummer) 17 , „Гора“ (Wald), „Глад“ (Hunger), „Смърт“ (Tod), „Живот“ (Leben), „Пролетта“ (Der Frühling), „Любовта“ (Die Liebe), „Времето“ (Die Zeit) usw., Begriffe, die auf diese Weise zu Allegorien oder zu Symbolen erhöht und aufgewertet werden. Überhaupt zeigt sich ein Prozess „der Personifizierung von Abstraktheiten“, wie das der Literaturwissenschaftler Minko Nikolov (Nikolov 1968: 306) in den 1960er-Jahren bezüglich der Dichtung von Smirnenski formulierte. Im Prinzip fungiert diese Personifizierung beliebig, je nach Autor, sie kann „Abstraktes“ ebenso wie Konkretes betreffen. Bei einem postsymbolistischen Autor wie dem dekorativen Prosaiker Čavdar Mutafov 18 wird dieses Merkmal Sprache in der Sprache? 299 <?page no="300"?> 19 Veröffentlicht in Milevs Zeitschrift Везни, die über den Symbolismus hinaus in der Avantgarde weiterbesteht und damit die Grenze zwischen diesen gewaltigen Literatur‐ strömungen aufhebt. 20 Im Gedicht „Parsifal“ (Parsival) aus dem Jahre 1915, später in der Zeitschrift Везни publiziert, Milev 1920. übernommen und gleichzeitig auch parodiert: Die anonymen Figuren in seinen Texten „Празникът“ (Das Fest) und „Зимна любов“ (Liebe im Winter), 19 Героят (Der Held), Дамата (Die Dame) und Непознатият (Der Unbekannte), sind zu inhaltlich entleerten, hohlen Emblemen der Nachkriegsperiode geworden. Als typische Verwendungen, unvermeidlich klischeehaft geworden, bestä‐ tigen sich im Laufe der hier betrachteten zwei Jahrzehnten die Vorliebe zu dem Adjektiv „смарагден“ (Smaragd-), das meistens die Benennung der grünen Farbe automatisch ersetzt, der Gebrauch des Russismus „луч“ (Sonnenstrahl), statt der bulgarischen phonetischen Variante „лъч“ ( Javorov ist z. B. eine große Ausnahme davon) und letztendlich die konsequente Ersetzung der neu‐ tralen roten Farbe durch die Erwähnung des Edelsteins „рубин“ (Rubin) oder durch den erlesenen Stoff „пурпур“ (Scharlach, Purpur). Originelle Wortkom‐ posita mit „Rubin“ und „Purpur“ entdeckt man fast überall in der Poesie der bulgarischen Symbolisten, und bei einem Autor, der demonstrativ zum Expressionismus übergeht, wie Geo Milev, stößt man auf die kreative Metapher „пурпурната плът“ (das purpurne Fleisch) 20 - eine Vereinigung zwischen dem edlen Stoff und dem Lebendig-Reizbaren. Weiter charakteristisch, vorwiegend für Lilev und Debeljanov, ist die Verwendung von ausdrucksvoll knappen Verbformen, die der poetischen Sprache eine monumentale Unwiederbringlichkeit verleihen. Hier sind Verben gemeint, wie „вишѝ statt извисява“ (erhöht), „лъчѝ statt излъчва“ (aus‐ strahlt), „прострелѝ“ (hat durchschossen), „мрачѝ statt смрачава“ (verdun‐ kelt), „бременѝ“ statt „обременява“ (belastet), „струѝ“ (sprudelt hervor, ein von dem Substantiv „струя“ (Wasserstrahl) abgeleitetes Verb). Auf diese Weise gewinnt man den Eindruck von einmalig „abgehackten“, für immer gemeißelten, unentwegten, regelrecht auserkorenen Wörtern. Vor dem Hintergrund dieses Soziolekts sollen nun die neologistischen Er‐ findungen der einzelnen Vertreter der symbolistischen Kunstrichtung in der bulgarischen Poesie betrachtet werden. 300 Bisera Dakova <?page no="301"?> 3. Das Idiolektale in der Sprache der bulgarischen Symbolisten „Idiolektal“ bedeutet hier das Sonderbare, Einzigartige, Unikale, d. h. jene Wörter und Komposita, die die Vertreter der Kunstrichtung voneinander abson‐ dern und abgrenzen. Der vereinigende Soziolekt wird rein quantitativ von den idiolektalen Zügen dominiert. Die Idiolekte bestehen aus auffälligen Segmenten in der individuellen Sprache jedes einzelnen Autors derart, dass sie die jeweilige Ausdrucksweise nicht nur durchdringen, sondern sie eigenartig prägen. Bei dem Dichter Pejo Javorov z. B., der in diesem Bereich der innovativste Autor der Literaturströmung ist, sind das die originellen Neologismen. Interessanterweise erfindet Javorov neue Vokabeln, indem er die bekannte, übliche Lexik extrem abkürzt, sozusagen, das Wort bis zum semantischen Stamm reduziert und es so „entblößt“ - so entstehen bei ihm die semantisch klaren Einsilbler, die sich in der Literatursprache nicht weiter etablieren können, deren Wirkung aber in der Poesie Javorovs schlagkräftig ist: „яв“ von „явен/ явствен“ (augenscheinlich, evident), „мах“ von „замах“ (Schlag, Wink), „ръф“ von „ръфане“ (Zerfetzung, Zerreißung), „дих“ von „дихание“ (Atem, Hauch), „сбир“ von „сбирщина“ (Sauhaufen), „жад“ von „жажда“ (Durst, Begierde). Diese innovativen und den‐ noch als Ableitungen erkennbaren Wörter, mit ihrer wirkungsvollen Knappheit, verleihen dem Stil Javorovs besonders in den letzten Jahren seiner poetischen Entwicklung (1907-1910) ein beinahe expressionistisches Gepräge. Ansonsten greift Javorov gerne altertümliche Wörter auf, sichtbar im Gedicht „Покаяние“ („Reue“), wie z. B. „ложе“ (Bettlager); „повергнат“ (erniedrigt/ zerschlagen); „твар“ (Kreatur) ( Javorov 1909b: 2). Und dieser Hang zu archaisierten Formen nähert ihn anderen Autoren wie Nikolaj Rajnov an, dem am schwersten verständlichen Dichter der symbolistischen Bewegung. Rajnovs Stil stellt ein kompliziertes Gewebe aus Archaismen, Neologismen und Dialektismen dar. Letztere sind bei Javorov nicht so oft vertreten, es gibt aber ein paar spezifische Verwendungen auch in seiner Früh- und Spätdichtung, die als repräsentativ für den Dichter gelten können: „прижуря“ (es sengt, das dialektale Verb bezieht sich auf die gnadenlose Sonne) oder „придавя“ (es bedrückt, erstickt), „натякне“ (Vorwürfe machen) aus dem berühmten symbolistischen Gedicht „В часа на синята мъгла“ (In der Stunde des blauen Nebels) ( Javorov 1909a: 3). Die Verwendung von Dialektismen ist insofern bemerkenswert, als dieser innovative Zug der gängigen Vorstellung von den bulgarischen Symbolisten widerspricht, ihr Stil sei vorwiegend archaisch-erhaben, in konservativ-reprä‐ sentativen Literaturformen eingeschlossen. Dialektale Formen sind auch bei dem zweiten wichtigen Vertreter des bul‐ garischen Symbolismus anzutreffen, Teodor Trajanov: z. B. ist das Adverb Sprache in der Sprache? 301 <?page no="302"?> 21 Zu den Einflüsse auf den jungen Trajanov vgl. Dakova 2013. 22 Dieses zwischen den individuellen Dichtersprachen zirkulierende Partizip war der Anlass für den bulgarischen Symbolismusexperten Stojan Iliev, seine Monographie über Trajanov damit zu betiteln und dadurch eine bestimmte poetische Individualität hervorzuheben: Теодор Траянов - грядущ и непознат (Teodeor Trajanov - erbauend und unbekannt, Iliev 1983). 23 Darüber gibt es nur Erwähnungen in den Erinnerungen der Trajanovschen Zeitge‐ nossen. Obwohl man über keine konkreten Daten verfügt, gibt es in den poetischen Texten Trajanovs aus den 1920er-Jahren, insbesondere im Poem Pesen na pesnite (1923, „нивга“ (nie, niemals) ein Bestandeil eines bekannten Gedichttitels: „Нивга веч“ (Nie mehr). Aber auch in Trajanovs früher Dichtung stößt man auf solche Variationen wie „болежка“ (Schmerz), das dort merkwürdigerweise in drei Varianten vorkommt: das volkstümliche „болежка“, das idiolektale „бол“ und das konventionelle „болка“. Andere dialektal gefärbte Verwendungen bei Trajanov sind „скорпия“ (Skorpion), „вглед“ (Einblick), „тършувам“ (wühlen). Solche Lexeme, die heutzutage, für mich als Leserin, keine Poetizität mehr haben, sind in der Trajanovschen Dichtung mit Innovationen grammatikali‐ scher Art kombiniert: meistens mit Verben, gebildet mittels des Präfixes „от-“ (ab-, weg-), wie „отлюпва“ (abblättern), „откапват“ (abtropfen), „оттръгвам“ (abtrennen, zerreißen), deren Frequenz beim frühen Trajanov geradezu über‐ trieben scheint. Zusammen mit dem ausgiebigen Gebrauch von Präsenspartizi‐ pien, die betont schwerfällig wirken, erreicht diese Poesie einen bizzarr-fremd‐ arigen Klang. Zu den Präsenspartizipien bei Trajanov gehören auch einige spannende Doppelepitheta (Trajanov 1907) - „глухомолящата“ (die Taubbetende), „морнокреящата“ (die Todmüdeschmachtende), „вечнотърсящото“ (das Ewigsuchende), wobei der unverkennbare Einfluss des österreichischen Dichters Felix Dörmann darin deutlich zu vernehmen ist. 21 Zu diesem bizarren Vokabular, und zwar bezeichnend für das Schaffen Trajanovs überhaupt, gehört auch das Epitheton „грядущ“ (erbauend, schöpferisch). 22 Die eingehendere Betrachtung im Kontext der bulgarischen Symbolisten allgemein führt zu einer überraschenden Feststellung: Der erste Dichter, der diese ungewöhnliche Form verwendete, ist Ljudmil Stojanov (Stojanov 1909: 63), und zwar im Gedicht „Сън Грядущий“ („Erbauender Traum“) aus dem Zyklus „Звезда на исток“ („Ein Stern im Osten“). Dabei handelt es sich um eine russische Endung des Partizips, um eine Sprachrarität, die bei einigen Kanzleibegriffen im gegenwärtigen Bulgarischen bewahrt geblieben ist („живущ“ - wohnend; „текущ“ - laufend). Zweifellos ist bei Stojanov der Einfluss der Trajanovschen Präsenspartizipien zu erkennen, dennoch ist Stojanov der Erfinder dieses Konzeptes, welches Trajanov selbst in den 1920er-Jahren - vielleicht nicht ohne einen Zusammenhang mit dem Rosenkreuzertum 23 - in seiner überarbeiteten Dichtung ideologisch 302 Bisera Dakova <?page no="303"?> Hohelied), ausreichend Indizien für die Auseinandersetzung des Dichters mit dieser Lehre bzw. Weltsicht findet (Šivačev 2008). Für Trajanov ist der innovatorische Umgang mit den grundlegenden rosenkreuzerischen Symbolen (dem Pentagramm, der Rose, dem Quadrat, dem Kreuz) kennzeichnend, eine kreative Herangehensweise, der das Rosenkreuzemtum zugrundeliegt (Frietsch 1999: 133). Mehr über das Rosenkreuzertum bei Trajanov: Dakova 2009: 97-113. 24 Hinzu kommt, dass die literaturwissenschaftliche Forschung eine Distanz zur Stilistik Trajanovs erzeugte, indem sie sie als unverständlich und hochsymbolisch definierte, letztlich aus ideologischen Gründen, wenn diese auch anders gelagert waren als die zu Lebzeiten des Autors. 25 Dabei handelt es sich um Prosafragmente (oder um Gedichte in Prosa, ähnlich wie bei Mutafov eine Mischgattung) aus dem im selben Jahr anonym veröffentlichten Buch Богомилски легенди (Legenden der Bogomilen), Anonim 1912 (N. Rajnov). Ein Gutteil der Lexik ist kaum ausdrückbar und ins gegenwärtige Bulgarische nahezu unübersetzbar. ausbreiten und aufwerten wird, d. h. im Nachhinein mit Nachdruck in seine eigenen Texte einschreiben wird. Die bis jetzt erwähnten Besonderheiten, vor allem in der Frühdichtung Trajanovs, führen zu der Schlussfolgerung, dass diese poetische Sprache über‐ wiegend idiolektal wirkt, und vermutlich wurde sie deswegen jahrzehntelang für eine äußerst verschlüsselte, unentzifferbare Sprache gehalten. 24 Wenn aber die poetische Sprache des jungen Trajanov in sich idiolektal und entsprechend hermetisch ist, dann handelt es sich dabei um eine spontan entstandene idio‐ lektale poetische Stilistik. Die sprachlichen Experimente finden zudem zu einem Zeitpunkt statt, als das Bulgarische sich erst als Literatursprache etabliert und diese noch nicht fest kodifiziert ist. Trajanovs Schreibweise unterscheidet sich deutlich von dem konsequent durchdachten Idiolekt Nikolaj Rajnovs. Hinter Rajnovs beinahe unleserlicher Dichtung steht ein ästhetisches Programm, die „Dekorativität“ von Rajnov wird durch untransparente Neologismen volkstümlichen Ursprungs absichtsvoll konstruiert. Zudem finden sich auffällige Komposita im Früh- und im Spät‐ werk Rajnovs: „прочелници“ statt „прокобници“ (Propheten), „извитъци“ statt „свитъци“ (Bündel), „трепки“ statt „мигли“ (Wimpern), „церител“ statt „лечител“ (Heiler), bis zu den frei erfundenen Wörtern „пепелъци“ (Aschenstaub) und „загърличе“ (Deckchen). Diese für heutige Leser: innen immer noch verständlichen Vokabeln stammen aus dem Jahr 1912 und sind in den Publikationen des Autors in der Zeitschrift Наш живот (Unser Leben) enthalten. 25 Auch ist die Stilistik von Rajnov mit aller denkbaren Ausgiebigkeit von Edelsteinen überladen: сардоникс (Sardonyx), смарагд (Smaragd), топаз (Topaz), сапфир (Saphir), аметист (Amethyst), сардикс (Sardis/ Sardion) usw. Leider ist die umfangreiche lexikalische Erneuerung in der poetischen Sprache dieses Autors nicht in die konventionalisierte Literatursprache eingegangen. Sprache in der Sprache? 303 <?page no="304"?> 26 Man denke an den Zyklus „Есенно злато“ („Herbstgold“), Mirčev 1921 sowie sein Poem „Мария“ („Maria“), Mirčev 1923. 27 Diese wortwörtliche Übersetzung dient der Hervorhebung der gegenständlichen Rea‐ lien im Text. Sie wurde weitgehend vergessen, obwohl sie für Sprachwissenschaftler: innen ein überaus produktives Forschungsobjekt wäre. Die lexikalische Innovativität Rajnovs bewegt sich sozusagen im engen Rahmen seines Idiolektes: eine reich vertretene Symbolik der lyrischen Figuren, vermittelt durch eine nach innen gerichtete, ganz vom Aussagesubjekt bestimmte Aussage. Wenn wir die dekorative Stilistik von Rajnov als den höchsten Grad eines Idiolekts einschätzen, gibt es unmittelbar um das Jahr 1920 herum eine quasi‐ symbolistische Dichtung, die die sachliche Poetik in der bulgarischen Literatur (konkret die Poetik des radikalen Gegners des Symbolismus, Atanas Dalčev) vorwegnimmt, nämlich die Dichtung von Ivan Mirčev. Sprachlich ist sie durch eine Vereinfachung des Stils und die Bewahrung der nebensächlichen sozio‐ lektalen Spezifiken der symbolistischen Sprache gekennzeichnet. In den poeti‐ schen Werken von Mirčev, veröffentlicht in den Zeitschriften Везни (Waage) von Milev und Хиперион (Hyperion) von Radoslavov, 26 ist eine gewisse Ten‐ denz zur Präsenz alltäglicher Gegenstände zu beobachten: „балкон“ (Balkon), „прозорец“ (Fenster), „стряха“ (Vordach), „часовник“ (Uhr), „балтон“ (Her‐ renwintermantel) sind nur einige Beispiele solcher Realia, die bald zu den wesentlichen Konstituenten der dichterischen Welt des jungen Atanas Dalčev werden sollten. Erstaunlich, weil im Geiste Dalčevs Lyrik so nah, klingen die Verse Mirčevs aus dem Zyklus „Есенно злато“ „Herbstgold“: Тъжен призрак е старий часовник, - Будна съвест е неговий звън. Ще обличам пак старите дрeхи - Оня стар и износен балтон - И ще будя пак чуждите стрехи, И ще спирам под всеки балкон. Ein trauriges Gespenst ist die alte Uhr, - Waches Gewissen ist ihr Läuten. Ich werde wieder die alten Gewänder anziehen - Jenen alten und abgetragenen Wintermantel - Und ich werde wieder die fremden Vordächer aufwecken, Und ich werde unter jedem Balkon verweilen. 27 (Mirčev 1921: 90) 304 Bisera Dakova <?page no="305"?> Bei eingehender Lektüre der Gedichte und Poeme von Mirčev zeigt sich, dass der Dichter bei weitem kein „blasser“ oder gesichtsloser Epigone des Symbolismus ist, als der er zusammen mit Ivan Chadžichristov traditionell geringschätzig marginalisiert wird. Vielmehr erweist er sich als ein Urheber der Sachlichkeit in der bulgarischen Poesie der 1920er-Jahre. In literaturgeschichtlichen Einord‐ nungen findet diese polemische Dimension kaum Beachtung. Daher stellt sich die Frage, ob die in der bulgarischen Literaturgeschichte etablierte Bezeichnung „Epigonen des Symbolismus“ für diese beiden Dichter überhaupt korrekt ist. Hinzu kommt die Frage, woher solche negativen Bezeich‐ nungen und anprangernden Etikettierungen stammen. Sie sind in den damals aktuellen kritischen Texten und Rezensionen entstanden, die üblicherweise von den Gegnern des Symbolismus verfasst worden sind. Gleich in doppelter Weise mag man hier von einer „Sprache in der Sprache“ reden: zum einen dem Soziolekt der Symbolisten, der sich aber erst als eine ausdrucksreiche, extrem innovative Sprache erweist, wenn wir die verschiedenen höchst individuellen Idiolekte mit berücksichtigen. 4. Modifizierungen der symbolistischen Sprache in den 1920er-Jahren Die „Juwelensprache“ von Popdimitrov, die einen Trend zur Verwestlichung aufweist, bleibt im Nachkriegsjahrzehnt eigentlich unverändert, trotz der ent‐ schiedenen Wende in der Thematik zum Sozialen, und obwohl der Dichter in seinen Schilderungen immer extrovertierter wird. Die Poeme „Eринии“ („Erin‐ nyen“) und „Знамена“ („Fahnen“) aus der Periode 1921-1923 enthalten nicht wenig augenfällige Züge des angeblich überwundenen Soziolekts. Andererseits erschaffen die radikalen Überarbeitungen von Trajanov eine markante Monostilistik (in der Forschung irreführend als seine authentische dichterische Sprache wahrgenommen und akzeptiert). Aber sogar in dieser gründlich revi‐ dierten lyrischen Welt, worin die ästhetischen Tendenzen der 1920er-Jahre berücksichtigt sind, bleibt vieles aus dem einstigen Vokabular repräsentativ erhalten, und diese lexikalische Schicht wird in die Anthologie Oсвободеният човек (1929, Der befreite Mensch) übertragen und deutlich expliziert, vermutlich als eine stilistische Quintessenz der Jahrhundertwende oder als Zeichen der Nostalgie für die Periode der einstigen poetischen Heranreifung: „дрезгавина“ (Dämmerung), „прибрежен“ (Küsten-/ Ufer-), „глед“ statt „поглед“ (Blick), „болежка/ бол“ statt болка (Schmerz), „зрак“ (Licht), „вси“ statt всички (alle), „нивга“ (niemals), „тъжовни“ statt „тъжни“ (traurig), „отсенки“ (Ab‐ schatten=Reflexe), „просъница“ (Durchschlafen), „всесилна“ (allmächtig), Sprache in der Sprache? 305 <?page no="306"?> 28 Diese Publikation des Dramas (in der Tat die zweite Fassung des Werkes nach der Erstveröffentlichung 1914 in der Zeitung Mir) sollte eigentlich nur ein Ausschnitt aus dem vollständigen Werk sein, das im Jahre 1927 auf Französisch erschienen ist. 29 Die Periode der Regierung des BZNS (des Bulgarischen Volksbundes der Bauern), mit dem Premier Aleksandăr Stambolijski (1919-1923) an der Spitze, prägte nicht nur die Themen in der Literatur entscheidend (z. B. hat sich die „Erdigung“, die Rückkehr zu den Wurzeln, als ein dominantes Motiv durchgesetzt), nicht nur die Rechtschreibung (wo der Ѣ-Vokal mit dem massiv aufgetragenen e-Reflex ersetzt ist), sondern zeigt sich auch darin, wie das Beispiel von Grozevs Drama deutlich zeigt, dass das auserkorene Vokabular plötzlich ins Sachliche „verfallen“ konnte. 30 Karadjoff 1920; eine repräsentative Seite davon ist in der Zeitschrift Везни als Anhang veröffentlicht (II, 1920, H. 3, 122). „отсякват“ (abhacken = wiederspiegeln) usw. In der Zeitschrift Хиперион (1922- 1931), entworfen als eine Plattform der symbolistischen Poetik, entwickelt sich der Soziolekt der sprachlichen Gruppe - entgegen allen Erwartungen - immer stärker zu einer simplen Ausdrucksweise, sehr oft mit überwiegend sachlichen Elementen. Die verschlüsselte poetische Sprache, mit symbolträchtigen Ge‐ stalten, mit Abstrahierungen verschiedener Art überfüllt, erweist sich insgesamt vom Kontext vorbestimmt und durch ihn bedingt. Ein prägnantes Beispiel in dieser Hinsicht ist das Werk des sogenanten „verspäteten Symbolisten“ Ivan Grozev. Fest verankert in dieser Poetik, tendiert er dazu - je nach konkretem Anlass - die poetische Sprache (und damit seine eigene, typische Stilistik), gründlich zu ändern, betont esoterisch, mit einer Überfülle von gold- und feuerverbrämten Epitheta. Diese erweist sich im Grunde als unverwechselbar. Sein Drama aus dem ersten Jahrgang der Zeitschrift Хиперион - Златната чаша (Der goldene Kelch), als „Tragödie in 5 Akten“ betitelt 28 - ist in einer offensichtlich sachlichen Sprache verfasst worden, was vermutlich mit der politischen Richtung der Zeitschrift erklärbar ist. 29 Seine Übersetzung des Dramas Die Heilige von Dimitri Karadjoff 30 ins Bulgarische verkompliziert die Sprache des deutschen Originals mehrfach, indem eine ornamental-symbolisti‐ sche Stilistik hinzugegedichtet wird. Das symbolistische Paradigma hat sich also zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelöst und war von seinen ausgewiesenen Vertretern überwunden. Es konnte aber wieder herangezogen werden, wenn ein bestimmter Kontext das notwendig machte, wenn eine bestimmte Stilistik herausgearbeitet werden musste. Nicht zufällig wird der Begriff des Stils in dieser Zeit (1919-1920) so in den kritischen Manifesten von Milev, Mutafov und Rajnov diskutiert. Stil erweist sich als ein übergeordneter Begriff, der nicht mit dem Soziolekt einer sprachlichen Gruppe oder gar mit der konkreten Stilistik eines Autors identisch ist. Gleichgesetzt mit dem Symbol (Rajnov 1921) oder mit der Linie in der 306 Bisera Dakova <?page no="307"?> 31 „Weil der Stil eine Synthese ist. Eine Synthese in den Gedanken und eine Synthese in den Mitteln. […] Ein Minimum an Mitteln: Verdichtung : Fragment : Stil.“ (Milev 1919: 95). Darstellungskunst (Mutafov), wird der Stil einstimmig aufgewertet als eine ästhetische Synthese: als eine unerschütterliche Identität, wie Milev in seinem Manifest Фрагментът (1919, Das Fragment) verkündet: „Защото стилът е синтез. Синтез в мисълта и синтез в средствата […] Минимум от средства: сгъстяване: синтез: стил“. 31 Mutafov (1920a: 129) postuliert in seinem verblüf‐ fenden Text „Зеленият кон“ („Das grüne Pferd“) aus dem Jahre 1920 den Stil als ein Produkt nicht des Gesichtssinnes, sondern der Weltanschauung, auf Bulga‐ risch ein effektvolles Wortspiel mit den ähnlich klingenden Vokabeln „зрение“ (Gesichtssinn) und „въззрение“ (Weltanschauung). So erweist sich etwa das Spektrum der Farben auch als eine Folge des Stils, d. h. der Spekulation, und nicht der unmittelbaren Wahrnehmung. Das könnte teilweise erklären, warum die Postsymbolisten (vorwiegend Autoren wie Milev, Mutafov, Smirnenski) nicht selten zu den auffälligsten Kunstmitteln des symbolistischen Soziolekts greifen: nämlich um sie in der neuen ästhetischen Situation spielerisch zu verwenden, und damit einen Parodie-Effekt zu erzeugen. Die Doppeladjektive in den Texten von Milev wurden bereits erwähnt, wie auch die von Mutafov mittels Großschreibung zu anonymen Figuren erhobenen Wörter. Bei dem übermäßig dekorierenden Autor Rajnov (sieht man von seiner sozialkritischen Prosa der 1920er-Jahre ab) sind bizzarre Wortschöpfungen entstanden: Der expressionistisch beschleunigte Rhythmus im Text wird von routinehaften Symbolgestalten erfüllt, auch wird er von intensiv wirkenden Neologismen getragen, eigentlich von experimentellen Adverbien, Präpositionen, Adjektiven, deren semantische Nuancen schwer zu übersetzen sind: „ввис“ (inderhöhe), „издън“ (ausdemabgrund), „отвръх“ (vomgipfel), „вбезумял“ (inumnachtet) (Rajnov 1921a: 140). Wie diese Beispiele zeigen, setzt der jeweilige literari‐ sche Kontext den gewählten Stil voraus, und die führenden bulgarischen Autoren gehören weniger einer bestimmten aktuellen Kunstrichtung an (ganz zu schweigen davon, dass sie einen bestimmten Soziolekt verwenden) als dass sie einen kontextuell bedingten Stil verwenden. Was den hartnäckigsten Kritiker des Symbolismus Dalčev betrifft, zeichnen sich seine ersten Publikationen in der Zeitschrift Хиперион aus dem Jahre 1923 nicht durch radikale Innovationen aus: Der Dichter erreicht ein Gleich‐ gewicht oder eine ausdrucksvolle Gespaltenheit im Gedicht „Хижи“ (1923, „Hütten“) zwischen dem üblichen symbolistischen Vokabular - „костер“ (Lagerfeuer/ Scheiterhaufen); „жъртвеник“ (Opfertisch); „молитвен тимиам“ (Gebetsthymian) - und der Begrifflichkeit des Alltags, die grundsätzlich un‐ Sprache in der Sprache? 307 <?page no="308"?> 32 Daltschew 1980: 49; 50; 53. beschränkt sein könnte: „крайнини“ (Randgegenden); „струпеи“ (Schorfe). Merkwürdigerweise wird dieses Verhältnis auch in der späteren Dichtung Dalčevs bewahrt, wie z. B. im Gedicht „Носачи на реклама“ („Werbungsträger“) aus dem Jahre 1934, obwohl der Dichter in seinen literaturkritischen Frag‐ menten immer wieder darauf besteht, dass er einen fundamentalen Bruch mit dem Symbolismus, mit den konstitutiven Besonderheiten seines ausgeprägten Soziolekts durchlebt und geleistet hat. 32 Freilich wird die Verneinung des Symbolismus in diesen Fragmenten behutsam-dialektisch vollzogen: aufgrund einer Art notwendigen Rebellion seiner Generation und einer Ablehnung der übertriebenen Begeisterung der Vorgänger. Dalčev bezeichnet das treffend als „любовна омраза“ (Liebeshass), und beschreibt es immer wieder als eine unentrinnbare Bewegung zur Konkretheit, d. h. zu einem poetischen Inhalt mit klaren Umrissen. 5. Die verteilten Rollen in der Literaturgeschichte und der Soziolekt der bulgarischen Symbolisten Aus den bisherigen Beobachtungen ist deutlich geworden, dass der bulgarische Symbolismus notwendig zu einem Ende kommen musste, und dass dieses Ende in Wirklichkeit von komplexeren Erscheinungen begleitet worden war. Eine Literaturströmung beginnt und endet nicht so abrupt, wie es sich ihre Anhänger und ihre Gegner wünschen. Sie besitzt keine streng abgesonderte, leicht identifizierbare Sprache, und für den bulgarischen Symbolismus zeigt sich, dass die genuin symbolistische Ausdrucksweise situativ-bedingt (Grozev) oder spielerisch (Mutafov) benutzt wurde. Nicht nur angesehene Vertreter des Symbolismus erleben eine gewisse Hinwendung zum sozial-extrovertierten Weltbild in ihrem Schaffen (Popdimitrov, Stojanov, Debeljanov, Trajanov mit seinen radikalen Autorevidierungen in der Anthologie Освободеният човек (1929, Der befreite Mensch)), sondern auch die hier der Einfachheit halber als Postsymbolisten bezeichneten Autoren (Milev, Smirnenski, Dalčev, Mutafov) verwenden ironisch, ambivalent oder auch antithetisch (Dalčev) die Elemente der symbolistischen Sprache bzw. des Soziolekts. Der Symbolismus - modifiziert oder sogar vollständig bewahrt (wie bei dem Dichter Smirnenski) - existiert also nach 1925 weiter. Eine inhaltlich entleerte, nivellierte Sprache ist eigentlich nur in wirklich epigonenhaften Texten zu beobachten, deren Verfasser außerhalb des Blickfelds der Literaturgeschichte geblieben sind; sie ist also nicht bei 308 Bisera Dakova <?page no="309"?> 33 Dalčev erklärt die spätere, an der Front entstandene Dichtung Debeljanovs zu einem „Verbindungsglied“ zwischen dem Alten und dem Neuen, indem er sich spannender Vergleiche bedient: „das gleiche Gefühl, das ich hatte, als ich zum erstenmal eine Brille aufsetzte“; „die Dinge erlangten Konturen, sie rückten, wie nach einem Regen, unwahrscheinlich nahe und wurden deutlich wahrnehmbar“ (Dalčev 1980: 53, Fr. 130). jenen Autoren zu entdecken, die in den Manifesten gegen den Symbolismus als Zielscheibe der anprangernden Kritik fungierten. Hier möchte ich noch einmal die nicht beachtete, aber bedeutungsvolle Rolle des Dichters Ivan Mirčev hervorheben: Er publizierte seine Werke in den Zeitschriften Везни und Хиперион, später wurde er zum Mitglied des neuge‐ gründeten Literaturkreises „Стрелец“ (Schütze), der eine ausgeprägt sachliche und teilweise diabolische Kunstrichtung in der bulgarischen Literatur etablierte. Seine Verdienste für die Umwandlung des symbolistischen Paradigmas sind - paradoxerweise - in seinem Frühwerk enthalten, das als symbolistisch eingestuft wird. Genau in diesen Texten, in den Büchern Реките викат (1920, Die Flüsse rufen) und Есенна флейта (1924, Herbstflöte), beobachtet man das unverhoffte Eintauchen in die entzauberte Realität des Alltags und sogar in die Banalität, Züge also, die als charakteristisch für die spätere sachliche Poetik gelten. In seinen etwas später veröffentlichten Betrachtungen pries Dalčev immer wieder die Schlüsselrolle von Dimčo Debeljanov in der Überwindung des Symbolismus, und zwar wegen seiner Kriegsgedichte. 33 Die Verdienste von Mirčev hingegen und seine Rolle als „Lehrer“ seiner Generation erwähnt Dalčev nur in einem Brief (Tonkov 1985: 215). Doch die gegenständliche Poetik hat ihre Wurzeln im Werk des frühen Mirčev, genau bei diesem, hier als quasisym‐ bolistisch definierten Dichter, dessen entscheidender Beitrag für die Literatur schlichtweg übersehen worden ist. Das gilt auch für seine Rolle im Symbolismus: Dobrev beispielsweise untersucht in seinem Справочник на символите в българския символизъм (Handbuch der Symbole im bulgarischen Symbolismus) nur die Symbolik der großen Vertreter des bulgarischen Symbolismus: Javorov, Trajanov, Liliev, Debeljanov, Popdimitrov, Jasenov, Stojanov (Dobrev 1996). Auch in diesem Forschungsparadigma erweist sich Mirčev also als marginal; weder im Kontext der neuen ästhetischen Trends der 1920er-Jahre, noch in dem veralteter poetischer Stereotype, dessen Nachfolger er angeblich ist, findet er Beachtung. Mit einer gewissen Vorliebe für die idiolektalen Elemente habe ich im vorlie‐ genden Text die impliziten Prozesse in der Entwicklung der symbolistischen Poetik nachgezeichnet sowie die Machtverhältnisse im Bereich der Literatur skizziert. Die wichtigsten Thesen und sogar „Sujets“ in der Literaturgeschichte Sprache in der Sprache? 309 <?page no="310"?> basieren auf den literarischen Manifesten aus den 1920er-Jahren. Aus diesem Grund bleibt das Werk des Dichters Ivan Mirčev außerhalb des Literaturkanons: Er wird durchgehend als eine Randfigur in der Literaturgeschichte betrachtet, und zwar als ein Epigone des Symbolismus, wobei die Neuerfindungen in seinen Texten (in den Zeitschriften Vezni, Chiperion, später auch in Strelec) übersehen und verschwiegen werden oder unbemerkt bleiben. Diese Nichtbeachtung eines Autors (oder auch umgekehrt: die Hervorhebung eines Autors) beschreibe ich als ein Machtverhältnis, das mit den Leistungen des jeweiligen Autors in der Tat nichts oder nur wenig zu tun hat. Damit ging einher, die kanonischen Rollen in der Literaturgeschichte in Frage zu stellen: Javorov und Trajanov als die Urheber des Symbolismus, Liliev, Popdimitrov und Debeljanov als die unbestrittenen Repräsentanten der Bewegung, Smirnenski, Milev und Dalčev als die Kritiker und „Reformatoren“ und schließlich Mirčev und Chadžichristov als die zweitrangigen Dichter. Die Analyse der Idiolekte der einzelnen Dichter vor dem Hintergrund des symbo‐ listischen Soziolekts - also die Analyse der Sprachen in der Sprache - erlaubt es, die realen dichterischen Individualitäten wahrzunehmen und eingehender zu erkunden. Der Versuch, durch die Opposition Soziolekt - Idiolekt die dichterische Schreibweise der bulgarischen Symbolisten eingehender zu analysieren, hat definitiv dazu geführt, dass das Idiolektale (bzw. das Vielsprachige) über den gemeinsamen Soziolekt die Oberhand gewinnt, ihn unmerklich auflockert (oder gar auflöst) und ihn als vorausgesetzte kritische Vorstellung, als eine mehr oder weniger manipulative Vision enthüllt und entlarvt. So erweist sich der Soziolekt als eine Abstrahierung von der authentischen Text- und Sprachrealität, als eine Spekulation also, die nur aufgrund der Verallgemeinerung, d. h. der Tilgung der jeweiligen sprachlichen Spezifika bestehen kann. Die Idiolekte der hier untersuchten Autoren ergeben sich aus der Entschlossenheit jedes einzelnen Vertreters, einer sprachlichen bzw. dichterischen Gruppe anzugehören und aus der Entwicklung der gemeinsamen sprachlichen Merkmale in Richtung des Individuellen. Wenn wir nach Kubczak den Soziolekt als identisch mit einem Weltbild verstehen, dann wäre es dringend geboten, auf das komplexe System von Weltbildern zu verzichten, weil „die ihm zugrunde liegende Vielzahl von Idiolekten“ oder Variationen des Weltbildes immer der exakten, systematischen Beschreibung widersteht und ihr entgleiten kann (Kubczak 2000: 151). 310 Bisera Dakova <?page no="311"?> Literaturverzeichnis A N O N I M [R A J N O V , N.]. 1912: Slovata na Blaženija. In: Naš život, 1912, H. 9-10, S. 399-401. B O R I N O V , B. [C A N E V , G.]. 1983: Mărtva poezija. In: C A N E V , G. Stranici ot minaloto. Sofia: Bălgarski pisatel, 42-45. C A N E V , G. 1923. 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Variation - Kontakt - Perzeption“ (SFB F60-G23), genauer im Projektteil „PP06: Deutsch und slawische Sprachen in Österreich: Aspekte des Sprachkontakts“ (FWF F06006, Projektleitung: Stefan Michael Newerkla) entstanden. „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ Individuelle Mehrsprachigkeit in tschechischen und österreichisch-deutschen Dramen des frühen 19. Jahrhunderts 1 Agnes Kim Abstract: Many theatre plays that were written and frequently performed in the Bohemian and Austrian crown lands of the Habsburg monarchy during the early 19 th century reflect aspects of contemporary societal and individual Czech-German multilingualism in their character speech. This paper aims at describing three selected plays from both Czech and German literature (Han[n]s Klachl by Steinsberg [1795], Čech a Němec by Štěpánek [1816], Fidlovačka by Tyl [1834]) regarding the form of imitation and the function of multilingual character speech with a linguistically-informed approach that explicitly accounts for the artistic mediation of mundane speech in literature by employing Bakhtin’s concept of primary and secondary speech genres. Ultimately the analyses allow to draw conclusions both on the literary field and sociolinguistic setting in early 19 th century Bohemia - with the latter including aspects of language attitudes, ideolo‐ gies and myths as reflected by literature. Keywords: multilingualism, character speech, Bohemia, Prague, Czech, German, theatre plays, 19 th century <?page no="314"?> 2 Vgl. zu innerer vs. äußerer Mehrsprachigkeit z. B. Riehl 2014: 16. 1. Einleitung In der Analyse von in literarische Texte eingeschriebener Mehrsprachigkeit berühren literatur- und sprachwissenschaftliche Fragestellungen bzw. For‐ schungsinteressen einander so eng, dass es ratsam scheint, als Ausgangspunkt der vorliegenden Argumentation mit Michail Bachtin (1896-1975) einen Theo‐ retiker zu wählen, der mit seinen Konzepten in beiden aus der Philologie hervorgegangenen Disziplinen seine Spuren hinterlassen hat. Sowohl seiner frühen Romanstilistik („Das Wort im Roman“, 1935; cit. Bachtin 2015) als auch späteren Aufsätzen (z. B. „Sprechgattungen“, 1956; cit. Bachtin 2017) liegt die grundsätzliche Differenzierung von einer als statisch verstandenen „Ein‐ heitssprache“ und sogenannten „sozioideologischen Sprachen“ zugrunde (vgl. Bachtin 2015: 165). Diese Konzeption Bachtins überschneidet sich konzeptuell mit Coserius (1958) Auffassung von „historischen“ oder Li Weis (2018) von „benannten Sprachen“. Während Einheitssprachen durch die „zentripetalen Kräfte“ und durch „verbal-ideologische Zentralisierung“ möglichst stabil und statisch gehalten werden, bilden sich die sozioideologischen Sprachen durch die „ununterbrochene Arbeit der zentrifugalen Kräfte der Sprache“, durch „Prozesse der Dezentralisierung und Differenzierung“ heraus (vgl. Bachtin 2015: 165). Soziolinguistisch gefasst spricht Bachtin (2015) damit Variation innerhalb einer benannten Sprache und sohin (das Potential für) (individuelle und/ oder gesell‐ schaftliche) „innere“ Mehrsprachigkeit, also Kompetenz in sowie Verwendung von verschiedenen - z. B. diatopisch oder diastratisch konnotierten - Varietäten einer Sprache (vgl. Wandruszka 1979) an. Das im Kontext dieses Beitrags relevantere begriffliche Gegenstück „äußere“ Mehrsprachigkeit bezeichnet demgegenüber Kompetenz in bzw. Verwendung von verschiedenen benannten Sprachen. 2 Die moderne Mehrsprachigkeitsforschung unterscheidet im Zeichen des Verständnisses von individueller Mehrsprachigkeit als Multikompetenz nicht mehr kategorisch zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit (vgl. z. B. Cook 2016), was erlaubt, Bachtins Konzept auch auf den Einsatz bzw. die Interaktion von verschiedenen benannten Sprachen in literarischen Werken zu übertragen. Als insbesondere in Bezug auf seine relative Stabilität zum linguistischen Konzept der „Varietät“ teiläquivalentes Konzept kann bei Bachtin (2017: 7) jenes der „Sprechgattung“ verstanden werden: Als solche definiert er „spezifische, re‐ lativ stabile Typen von Äußerungen“, die sich im konkreten Sprachgebrauch ent‐ wickeln. Die in der außerliterarischen Welt aus der „einfachen, unmittelbaren Kommunikation“ entstehenden, einfachen oder primären Sprechgattungen un‐ 314 Agnes Kim <?page no="315"?> terscheidet er von den komplexen oder sekundären, die in einem an eine komplexe Schriftkultur gebundenen Prozess die primären in sich „aufnehmen“ und „verarbeiten“. Damit sind v.-a. literarische Werke angesprochen. In diesem Prozess gilt, dass dort, wo die primären Sprechgattungen „in die Konstitution der komplexen Gattungen eingehen, […] [sie] einer bestimmten Transformation unterliegen: Sie verlieren ihren unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit und zu realen fremden Äußerungen“ (vgl. Bachtin 2017: 9). Die besonderen Charakte‐ ristika der sohin umrissenen künstlerischen „Vermittlung“ der primären Sprech‐ gattungen über die sekundären tritt auch zutage, wenn Bachtin (2015: 220) die literarische Abbildung „sprechender Menschen und ihrer Worte“ zwar als Materialisierung der außerliterarischen Redevielfalt in der Literatur betrachtet, der tatsächlich abgebildeten Sprache jedoch nicht den Status eines konkreten Idiolekts, einer konkreten Äußerung eines Individuums also, zukommen lässt, sondern sie als „potentielle Sprache“ mit sozialem Charakter bezeichnet (vgl. Bachtin: 2015: 221). Daraus folgt, dass literarischer - im Sinne Bachtins zunächst innerer - Mehrsprachigkeit genau wie seinem realen Pendent sozio-indexikali‐ scher Charakter zukommt. Ich lege basierend darauf dar, dass in die Figurenrede von Dramen einge‐ schriebene Mehrsprachigkeit nicht als Abbildung „individueller Mehrsprachig‐ keit“ gelesen werden kann, sondern im Hinblick auf „gesellschaftliche Mehr‐ sprachigkeit“ interpretiert werden muss (Kim 2020; 2025). Im ersten Beitrag (Kim 2020) wurde eine entsprechende Interpretation anhand zweier Werke (Tyls Fidlovačka und Nestroys Lumpacivagabundus) in Bezug auf die Kommunikati‐ onsdomäne „(klein-)bürgerlicher Salon“ im vormärzlichen Prag und das soziale Kapital, das tschechischen und deutschen Varietäten in diesem sozialen Raum zukam, versucht. Im zweiten Beitrag (Kim 2025) lege ich den Fokus stärker auf die in diesen und einem weiteren Werk (Čech a Němec von Štěpánek) eingesetzten sprachlichen Mittel zur Darstellung individueller Mehrsprachig‐ keit auf Figurenebene. Ziel dieser Untersuchung war einerseits, Einblick in die Entwicklung des als sekundärer Ethnolekt (Auer 2013) interpretierten Bühnenregisters des Böhmakelns zu gewinnen und andererseits aufzuzeigen, wie sprachwissenschaftliche Analyse helfen kann, das von Dembeck (2017: 189) identifizierte Desiderat der systematischen Beschreibung verschiedener Tech‐ niken der mehrsprachigen Gestaltung von Figurenrede in Dramen anzugehen und dadurch Sprach- und Literaturwissenschaft zu verbinden. Der vorliegende Beitrag führt diese Überlegungen anhand von drei Komödien aus der tschechischen und österreichisch-deutschen Literatur aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert fort; auf den Lumpacivagabundus von Nestroy wird zusätzlich kursorisch eingegangen. Gemein haben die Werke, dass sie „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 315 <?page no="316"?> gesellschaftliche, tschechisch-deutsche Mehrsprachigkeit im zeitgenössischen ländlichen Böhmen bzw. dessen Hauptstadt Prag unter verschiedenen gesell‐ schafts- und kulturpolitischen Vorzeichen reflektieren und anhand von in ihre Figurenrede eingeschriebener individueller Mehrsprachigkeit künstlerisch verarbeiten. Eine systematisch-kontrastive Analyse versucht, Tendenzen dieser Darstellung über die einzelnen Werke hinausgehend zu identifizieren und Rückschlüsse im Hinblick auf das zeitgenössische literarische Feld aber auch die soziolinguistischen Bedingungen, die etwa auch Einstellungen, Ideologien und Mythen zu Mehrsprachigkeit umfassen, zu ziehen. Analytische Schwerpunkte liegen in den drei Beispielstudien einerseits auf der Funktion mehrsprachiger Figurenrede in sowohl der primären als auch der sekundären Kommunikationssituation des Bühnenstücks sowie andererseits auf der Form, also den sprachlichen Mitteln, die zu ihrer Darstellung gewählt werden. Starke Anleihen nimmt der Aufsatz bei den Arbeiten des Prager Sprach- und Kommunikationswissenschaftlers Petr Mareš (2003; 2012). 2. Analysekategorien 2.1 Funktionen mehrsprachiger Figurenrede in verschiedenen Kommunikationskontexten Mareš (2003: 24) unterscheidet zwei für literarische Werke und ihre Analyse relevante Kommunikationskontexte: Als an der primären Kommunikationssi‐ tuation beteiligt beschreibt er das im Text gestaltete Subjekt der Überbringer: in (č. „podavatel“), welches etwa als Autor: in, Erzähler: in oder lyrisches Ich reali‐ siert werden kann (vgl. Mareš 2003: 25) und das mit den vom Text implizierten Adressat: innen in Kommunikation tritt (vgl. Mareš 2003: 24). Davon, ob die Adressat: innen als alle oder nur eine der im mehrsprachigen Text verarbeiteten Sprachen (oder Varietäten) rezeptiv (bis zu einem bestimmten Grad) mächtig konstruiert werden, ist die konkrete Ausgestaltung mehrsprachiger Passagen, d. h. auch der Figurenrede, abhängig (vgl. Mareš 2003: 26-31). Die gesellschaft‐ liche und zeitliche Gebundenheit, der die Konstruktion des idealtypischen rezipierenden Subjekts eines bestimmten Werkes unterliegt, kann die Rezeption eines mehrsprachigen Textes in anderen gesellschaftlichen und historischen Kontexten erschweren, wobei dies besonders für die Bühnenaufführung drama‐ tischer Werke gilt, wie Mareš (2003: 32) anhand eines der auch hier behandelten Stücke - Tyls Fidlovačka - exemplifiziert. Die primäre Kommunikation eines literarischen Werks könnte dementsprechend auch als textexterne bezeichnet werden. Bei der sekundären (textinternen) Kommunikation handelt es sich hin‐ gegen um die im Werk dargestellte, die zwischen im Werk mithilfe sprachlicher 316 Agnes Kim <?page no="317"?> Mittel als semantische Einheiten konstruierten Figuren stattfindet (vgl. Mareš 2003: 24). Die Funktion mehrsprachiger Figurenrede in einem bestimmten Werk muss für jede der beiden Kommunikationsebenen eigens bestimmt werden (vgl. Mareš 2003: 40), wobei ich dafür argumentiere, dass genau aus der Beschreibung des Zusammenhangs der beiden wertvolle historisch-soziolinguistische Infor‐ mationen gewonnen werden können (Kim 2020: 28). Mareš (2003: 40-44) identifiziert darüber hinaus zahlreiche Funktionen von Mehrsprachigkeit in literarischen Werken, die in drei Typen zusammengefasst werden können: Als grundlegend kann insbesondere die kommunikationsori‐ entierte Funktion von Mehrsprachigkeit in literarischen Texten bezeichnet werden. Besonders deutlich tritt sie auf Ebene der sekundären Kommunikation hervor, wenn Verstehen und/ oder Missverstehen explizit gemacht oder thema‐ tisiert wird (vgl. Mareš 2003: 41). Dadurch gewinnt Mehrsprachigkeit auch handlungsgestaltende und verheimlichende bzw. die Funktion von Informati‐ onsrestriktion, die sowohl auf primärer als auch sekundärer Kommunikations‐ ebene von Relevanz sind (Mareš 2003: 42-43). Weiters benennt Mareš (2003: 41-42) zahlreiche indexikalische Funktionen. Er beschreibt einerseits Fälle, in denen die in literarische Werke eingeschriebene Mehrsprachigkeit etwa die „nationale Zuordnung“ einer Figur ermöglicht oder sie darüber hinaus (in Bezug auf andere Eigenschaften) charakterisiert. Andererseits kann über Mehrsprachigkeit auch eine bestimmte, z. B. sozio-historische oder räumliche Atmosphäre evoziert oder es können auch Einstellungen und Werte vermittelt werden. Schließlich kommt Mehrsprachigkeit in literarischen Werken auch ästheti‐ sche Funktion zu: Ihr Einsatz kann Komik erzeugen und Ausdruck besonderer Kreativität sein (vgl. Mareš 2003: 43). Sowohl auf der Ebene der primären als auch der sekundären Kommunikation sollen in den Beispielstudien die zentralen Funktionen der Abbildung individu‐ eller Mehrsprachigkeit in der Figurenrede bestimmt werden. 2.2 Formen der Gestaltung mehrsprachiger Figurenrede Neben diesen Funktionen literarisch abgebildeter Mehrsprachigkeit auf den verschiedenen Kommunikationsebenen unterscheidet Mareš (2003: 35-40) auch verschiedene Formen dieser Abbildung auf zwei Ebenen, der Basisebene und jener der speziellen Repräsentationsformen. Auf der Basisebene entspricht die Form („označující“ [das Bezeichnende], vgl. auch die „sekundären Sprechgat‐ tungen“ nach Bachtin [2017]) direkt der von ihr bezeichneten, also durch sie literarisch verarbeiteten primären Sprechgattung bzw. Äußerung („označované“ „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 317 <?page no="318"?> [das Bezeichnete], vgl. Mareš 2003: 35). Mit Präsenz, Elimination, Evokation und Signalisation, die der Basisebene zukommen, beschreibt er vier aus seiner Sicht relativ stabile, als literarische Konventionen wahrgenommene Typen. Ausgangspunkt ist, dass ein literarisches Werk eine Matrixsprache L M hat. Sprachlich ist diese in der fiktiven Welt des Werks derart gestaltet, dass primäre Sprechgattungen in zwei Versionen gegeben sind, und zwar sowohl in einer - prototypisch durch L M repräsentierten - Primärsprache L p als auch einer Sekundärsprache L S . Im Fall der Präsenz werden primäre Äußerungen in L s innerhalb des Textes in L S wiedergegeben, im Fall der Elimination hingegen in L M übertragen, sodass bei der Rezeption nur indirekt auf die Mehrbzw. Anderssprachigkeit der primären Äußerung geschlossen werden kann (vgl. Mareš 2003: 35-36). Evokation meint, dass nur bestimmte, oft formelhafte Teile wie Anreden der primären Äußerung in L s , der - meist inhaltstragende - Rest jedoch in L M gehalten ist (vgl. Mareš 2003: 36-37). Der Typ der Signalisation entspricht weitgehend jenem der Elimination, jedoch mit der Differenz, dass vor der Wiedergabe der eine primäre Äußerung in L S repräsentierenden Passage durch das Glottonym von L S direkt auf die Mehrsprachigkeit der Situation in der fiktiven Welt verwiesen wird (vgl. Mareš 2003: 37). Die zweite Ebene bilden für Mareš (2003: 37-40) die speziellen Formen der Repräsentation von Mehrsprachigkeit, die die konkreten sprachlichen Umsetzungen von im Text in L S „präsenten“ Passagen beschreiben, sofern sie nicht einer standardisierten Varietät einer benannten Sprache entsprechen. Da jedoch davon auszugehen ist, dass die literarisch verarbeitete soziolinguistische Realität nicht ausschließlich solchen Varietäten entspricht, sollen hier andere, aus der Linguistik stammende Konzepte der auf Abweichung fokussierenden Systematik von Mareš (2003) vorgezogen werden. Die in den folgenden Beispielstudien zur linguistischen Beschreibung ver‐ schiedener Formen von mehrsprachiger Figurenrede eingesetzte Terminologie kombiniert die Imitationsstrategien nach Schäfer (2017) auf der Makromit der Code-Mixing-Typologie nach Muysken (2000) auf der Mikroebene der Beschrei‐ bung. Schäfer (2017: 11-13) unterscheidet zwei grundlegende Strategien der Imitation, also der künstlerischen Verarbeitung primärer Sprechgattungen bzw. Äußerungen: Bei der sogenannten Emulation wird eine „zu imitierende Sprache […] [oben: L s ; A.K.] in ein bestehendes Grundsystem einer Matrixsprache [oben: L M ; A.K.]“ eingebettet. Ihr steht die Simulation entgegen, bei der nur „einzelne unzusammenhängende Formen“ der zu imitierenden Sprache auftreten. Kim (2025) leitet aus drei Beispielstudien ab, dass zur Darstellung von restringierten und tendenziell instabilen, weil in Entwicklung begriffenen (Lerner: innen-)Re‐ gistern einer Figur beide Strategien zum Einsatz kommen, wohingegen bei 318 Agnes Kim <?page no="319"?> 3 Dass hier trotz der beinahe gleichlautenden Definitionen der Emulation bei Schäfer (2017) und Insertion bei Muysken (2000) die beiden Konzepte nicht gleichgesetzt werden, liegt daran, dass sie m. E. auf unterschiedlichen Ebenen (der Analyse) an‐ zusiedeln sind. Während ersterer eine grundsätzliche Imitationsstrategie beschreibt, die potentiell im gesamten Werk oder in der gesamten Rede einer Figur (in einer spezifischen Szene) eingesetzt werden kann, hat zweiterer einen engeren Skopus und wird primär auf die individuelle Äußerung angewandt. stabileren ethnolektalen Registern die Emulation bevorzugt wird. In letzterem Fall kann sie potentiell auch so weit gehen, dass die Matrixsprache der Äußerung nicht mehr eindeutig als eine der benannten Sprachen (L M / P oder L S ) identifi‐ zierbar ist. Dem entspricht in der linguistischen Beschreibung von Code-Mixing der Typ der kongruenten Lexikalisierung, den Muysken (2000: 3) definiert als Verwen‐ dung von „material from different lexical inventories into a shared grammatical structure“. Neben der kongruenten Lexikalisierung unterscheidet Muysken (2000: 3) auch die Insertion „of material […] from one language into a structure from the other language“ 3 sowie die Alternation von Strukturen der beteiligten Sprachen als Code-Mixing-Typen. Sie werden sowohl in der Simulation als auch der Emulation von Mehrsprachigkeit in literarischen Werken eingesetzt, wobei insbesondere die Alternation auf lexikalischer Ebene ohne morphologische Integration in die Matrixsprache typisch für die Imitation ist. 3. Beispielstudien 3.1 Han[n]s Klachl Bei den ersten beiden Werken, Hanns Klachl, oder: Das Rendevous in der neuen Alee [sic! ] (Erstaufführung 1795, gedruckte Ausgabe von 1797) sowie Hanns Klachl Zweyter Teil (Erstaufführung und gedruckte Ausgabe von 1797), handelt es sich der Genrezuschreibung auf dem Titelblatt zufolge um Libretti zu einem „komischen Singspiel“ (1. Teil) bzw. einer „komischen Oper“ (2. Teil) in je zwei Aufzügen. Als Komponist wird der Komponist und Kapellmeister Vincenc Tuček (auch: Tuczek; 1773-1820; vgl. Wiesinger 2015; Jahn/ Fastl 2017; N. N. 2020) genannt, das Libretto im Allgemeinen dem Publizisten und Theaterdirektor Karl Franz Guolfinger von Steinsberg (1756 oder 1758-1806; vgl. N. N. 2021) zugeschrieben. Beide stammten aus Böhmen - wobei Steinsbergs exakter Geburtsort unbekannt geblieben ist, während Tuček in Prag geboren wurde und aufwuchs - und wirkten in den 1790er-Jahren am Vaterländischen Theater (im Hibernertheater) in Prag. Diese Tätigkeiten überlappten sich jedoch nicht: Der um ca. 15 Jahre jüngere Tuček war dort von 1794 bis 1796 zunächst noch „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 319 <?page no="320"?> als Tenor, später als Cembalist und Komponist tätig, Steinsberg übernahm die Direktion derselben Spielstätte erst nach Abgang des Erstgenannten 1797 und leitete sie bis 1799. Details zur vermuteten Zusammenarbeit der beiden finden sich in den vorhandenen Biographien (Wiesinger 2015; Jahn/ Fastl 2017; N. N. 2020; N.-N. 2021) keine. Auf der einfach gehaltenen Handlungsebene entsprechen beide Stücke einer Liebeskomödie im Stil der zeitgenössischen Lokalposse: Im ersten Teil ist The‐ rese, die Tochter des Prager Arztes Doktor Fieber, dem aus Přelouč stammenden Sohn eines reichen Wirtes, Hans Klachl (wie sich später zeigt, Ersatz für einen befreundeten Arzt, Herrn Grünthal), versprochen, allerdings unglücklich in Leutnant von Frieder verliebt. Eine Entführung Thereses scheitert am Ende des ersten Aufzugs. Der zweite Aufzug stellt dar, wie Hans Klachl aufgrund seines als lächerlich-bäurisch dargestellten Benehmens bei der Familie seiner Braut einen äußerst schlechten Eindruck hinterlässt. Doktor Fieber hält jedoch aus finanziellen Gründen an der Hochzeit fest. Gleichzeitig dringen Frieder und sein Bursche als Rauchfangkehrer verkleidet in Fiebers Haus ein. Bei diesem zweiten Entführungsversuch stellt sich jedoch heraus, dass Frieder der Neffe Grünthals ist, weshalb dieser Therese heiraten darf. Der zweite Teil spielt direkt im Anschluss an den ersten und setzt mit der Rückkehr Hans Klachls nach Přelouč ein. Die Nachricht des Scheiterns der Verlobung ist ihm bereits vorausgeeilt und um die Schande zu minimieren, hat sein Vater Christoph Klachl erneut eine Verlobung arrangiert - und zwar mit Luise, der Tochter des Hamburger Kaufmanns Bernhard, der wiederum seine Tochter aus finanziellen Gründen verheiraten will und die Hochzeit mit Baron Waldheim, Luises großer Liebe aus früherer Zeit, ablehnt. Hans Klachl selbst möchte eigentlich das „Kuhmädchen“ Marža heiraten, das sein Vater im Alter von drei Jahren aufgenommen und als Magd aufgezogen hat, was ihm sein Vater verweigert. Schließlich taucht jedoch ein alter, wohlhabender Müller auf der Suche nach seiner vor 16 Jahren verloren gegangenen Tochter Marža auf. Daraufhin ist es allen Paaren möglich, aus Liebe zu heiraten. Als Matrixsprache fungiert in beiden Teilen das Deutsche; tschechische Figurenrede ist im Libretto für einige wenige Figuren fakultativ vorgesehen. Dabei handelt es sich im ersten Teil (Tuček 1797a) primär um Hans Klachl selbst sowie an einer einzigen Stelle (Tuček 1797a: 44) auch einen Bediensteten der Familie Fieber namens Kasper. Im zweiten Teil (Tuček 1797b) sprechen neben Hans Klachl auch dessen Vater Christoph sowie seine Auserwählte Marža ebenfalls (wahlweise) Tschechisch. Die Fakultativität des Tschechischen wird sowohl über den in Klammern nachgestellten Druck der tschechischen 320 Agnes Kim <?page no="321"?> 4 Die Ausgabe, aus der zitiert wird, verwendet eine zeitgenössische Form der diakriti‐ schen Orthographie, in der dem Háček der gegenwärtigen tschechischen Orthographie, z. B. <č, ě>, teilweise eine Koronis <c̓, e̓> - wohl als Weiterentwicklung des früheren punctus - entspricht. Hier werden sie, um die Lesbarkeit zu vereinfachen, als Háčeks wiedergegeben. Andere graphematische Anpassungen erfolgen nicht, es ist allerdings zu beachten, dass <g> einem <j> entspricht, <j> hingegen einem <í> / iː/ . 5 Wörtl.: Herr Soldat, ich bitte hübsch, er weiß nicht, wo dieser Herr Doktor bleibt, auf den ich frage? 6 Wörtl.: Du verstehst nicht. 7 Wörtl.: Aha, der kann nicht Tschechisch. Sakrament, ich habe vergessen, dass ich in Prag immer Deutsch sprechen (erzählen) muss. Oder in Prag, sagte mein Herr Vater, schämen sich die Leute angeblich, Tschechisch zu sprechen; sie schwafeln angeblich lieber alle deutsch, vielleicht hat sie auch niemand verstanden. 8 Wörtl.: auf Tschechisch. 9 Wörtl.: Was wollte ich sagen? Entsprechungen deutscher Textstellen als auch an zwei Stellen über Fußnoten expliziert. Dabei handelt es sich u. a. um den folgenden Auszug: K L A C H L : Herr Soldat, ich bitte recht schön, wissen sie nicht, wo der Herr Dokter wohnt, auf den ich frage? (Pane soldat pěkně 4 prosym, newědj kde ten pan Doktor zustáwá na kterýho gá se ptám? ) 5 T E R Z : Ich weiß nicht. (nerosumisch) 6 K L A C H L : (*) (Aha, ten neumj česky. Staframente, gá zapomenul, že mám w Praze wzdycky německy rozpráwět. Nebo w Praze, prawil můg Pantáta, stiděgj se prey lidé česky mluvit; oni prey raděg wssichni německy žwachtagj; třebas gim taky žádný nerozuměl.) 7 Ich kann auch deutsch sprechen. (rozpráwět) Der Herr Soldat muß nicht denken, daß ich ein Böhm bin, weil ich po česky 8 sprechen thu. Sag mir der Herr Soldat, - - co pak sem chtěl řjct? 9 (*) Falls Hanns Klachl nur allein deutsch sprechen sollte, so muß diese Rede, und all das Böhmische ganz ausgelassen werden. (Tuček 1797a: 16-17) Diese Stelle lässt erkennen, welche Funktionen die mehrsprachige, deutsch-tschechische Figurenrede in dem Stück übernimmt: Auf Ebene der sekundären, d. h. textinternen Kommunikation wird oberflächlich einerseits - wie hier im Dialog zwischen Klachl und Terz - das (Miss-)Verstehen von Spre‐ cher: innen verschiedener Sprachen und damit die Kommunikationsfunktion thematisiert. Dass Terz tatsächlich nur über ein äußert restringiertes Repertoire des Tschechischen verfügt, wird durch die falsche Personendeixis (2. Person Sg. „nerozumíš“ [du verstehst nicht] anstatt von 1. Person Sg. „nerozumím“ [ich verstehe nicht]) seiner (fakultativen) tschechischen Antwort verdeutlicht. Zentraler als diese kommunikationsorientierte ist jedoch die indexikalische Funktion, die dem Deutschen und Tschechischen zukommt: Deutsch zu spre‐ „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 321 <?page no="322"?> 10 Wörtl.: Wenn Sie erlauben, ich kann Ihnen aufrichtig sagen, dass ich von diesem Reiten ganz abgedrückt bin. 11 Wörtl.: Es ist die Wahrheit, ich habe ganz vergessen, was mir der Herr Vater verboten hat. - Man beachte hier den Entfall der Klammern, der wohl aufgrund der bereits ausreichenden Markierung der Fakultativität durch die Fußnote erfolgt. 12 Wörtl.: Ah ja, er isst viel. chen wird vonseiten der Vertreter: innen der Prager Gesellschaft wiederholt als Voraussetzung für sozialen Erfolg im Kommunikationsraum Prag hervorge‐ hoben, so etwa auch, wenn Therese als eines von zahlreichen Bedenken an der Ehe mit Klachl äußert, er „soll nicht einmal gut deutsch sprechen“ (Tuček 1797a: 35). Auch ihr Vater spricht Hans Klachl auf dessen Sprachgebrauch an, wobei an dieser Stelle ebenso wie an der oben zitierten deutlich wird, dass die tschechischsprachige, ländliche Gesellschaft, aus der Klachl stammt, den beiden Sprachen nicht dieselbe soziale Bedeutung zuschreibt: K L A C H L : Wenn Sie’s erlauben, ich muß Ihnen aufrichtig sagen, daß ich von dem Reiten stark abgedruckt bin. (Když dowolegj, Gá gim můžu vpřimně řjct, že sem od toho gezděnj celý wotlačen.) 10 D O K T .: Warum sprechen Sie nicht deutsch. (*) K L A C H L : Ge prawda, gá sem zapoměl co mně Pantata zakázal. 11 Ich kann auch deutsch sprechen, aber am liebsten spreche ich halt böhmisch. D O K T .: Wie befindet sich denn der wertheste Herr Papa? K L A C H L : (A ga, on hodně papa) 12 Gott Lob, er hat immer reinen guten Apetit, besonders auf Spannferkel; […] (*) Sollte der Klachl bloß deutsch sprechen, so wird diese und die darauf folgende Rede ausgelassen. (Tuček 1797a: 54-55) Für Hans Klachl als Vertreter der ländlichen Gesellschaft erscheint deutsch-tschechische Zweisprachigkeit alltäglicher als in Prag; die Sprachwahl obliegt ihm zufolge überdies stärker der individuellen Wahlfreiheit als einem gesellschaftlichen Zwang und dient - wie der erste zitierte Dialog zeigt - auch der Verständnis- und Kommunikationssicherung. Die sozioindexikalische Bedeutung von Sprache(n) bleibt ihm im ersten Teil ebenso verschlossen, wie andere in Prag gängige Ausdrucksformen sozialen Kapitals, darunter etwa Kleidungsstil und Benehmen, weshalb er - mitbedingt durch seine Naivität - auf Ebene der sekundären Kommunikation durchwegs von den anderen Figuren als lächerlich wahrgenommen wird. Im zweiten Teil hingegen bemächtigt er sich, soweit ihm möglich, dieser Mittel, wie die folgenden Strophen aus seiner Eingangsarie zeigen: 322 Agnes Kim <?page no="323"?> 13 Kursivsatz zeigt Antiquastatt Fraktursatz im Original an. Tschechisch wird im Gegensatz zu Französisch, Englisch und Italienisch ebenso wie das Deutsche in Fraktur gesetzt, allerdings mit anderen Typen mit etwas breiterem Schnitt, die auch für die Bühnenanweisungen Verwendung finden. 14 Wörtl.: Was machen Sie, mein Herr Vater: 15 Wörtl.: Streckt der Tscheche/ Böhme den Kopf aus dem Fenster heraus, / So schreie ich[: ] Guten Tag, Onkelchen. In Prag, da tragt man sich gar schön, Es ist doch Freud, ein’n anzusehn. Den Kopf deckt ein Hamburger Hut, Ein dicker Stecken ist auch gut. Ich sprech schon andre Sprachen auch; Das Böhmische ist außer Brauch, Ich sag, Monsieur vot servitéur 13 Das heißt ihr Diener lieber Herr! Auf Englisch sag ich, haud ju du, Geh aus dem Weg du Esel du. Und wällisch blos comme stato, (Co děláte mug pantato: ) 14 Herr Vater! lebt ihr gut und froh. Dem Böhmen wünsch ich guten Tag Und presentir ihm den Tabak, (Winda Cžech hlawu s-okna wen, Tak křičjm stregčku dobreg den,) 15 Ich kenn die Mode lieber Herr, Und bin kein solcher Klachl mehr. (Tuček 1797b: 15) Auf die deutschsprachigen, aus dem heutigen Norddeutschland stammenden und teils adeligen Figuren wirkt er aufgrund seiner Imitation jedoch nicht weniger lächerlich und einfältig als im ersten Teil auf die Prager Gesellschaft. Dies illustriert der folgende Auszug, in dem Klachl erstmals Baron Waldheim und dessen Bediensteten Johann begegnet. Er erreicht Přelouč zu Fuß, da sein Pferd auf der Heimreise gestorben ist, trägt jedoch volle Reitmontur. K L A C H L : […] Guten Morgen; je vous schwez, bon schur. W A L D H .: Ha ha! - je vous souhait, bon jour wollte der Herr sagen. Ellement [sic! ], er sieht ja stattlich geputzt aus. K L A C H L : Das glaub ich, hat mich auch viel gekost. (Er besieht sich mit Wohlgefallen.) „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 323 <?page no="324"?> 16 Wörtl.: Überall erkennen sie mich. W A L D H .: Alles auf englische Art, sogar Sporn an den Schuhen? K L A C H L : Das ist ja Mod. J O H .: Der Herr hat gewiß einen Bock geritten. K L A C H L : Was? (er wendet sich, und stößt unversehens den Johann um.) J O H .: Nu nu, das ist ein rechter Klachl! K L A C H L : Schaut; ich bin doch bekannt in der Welt, überall erkennen sie mich, (wssudy mne poznagj.) 16 (Tuček 1797b: 16) Diese Stelle signalisiert zweierlei deutlich: Erstens wird der sprechende Cha‐ rakter des Namens Hans Klachl auf der Bühne dargestellt. Als „Klach(e)l“ wurde - wohl abgeleitet von der Grundbedeutung ‚Glockenschwingel‘ - in den deut‐ schen Dialekten Nordböhmens ein ‚Lümmel, Bengel, großer Kerl‘ bezeichnet, wobei im Erzgebirge dem sogar das Kompositum „Hansklachel“ entsprochen haben dürfte (Deutsches Wörterbuch 1866: Sp. 888-889; Petters 1855: 31). Zweitens tritt in dieser Szene der Imitations- und Aneignungscharakter der Prager (sprachlichen) Mode in Klachls (neuem) Auftreten insbesondere auf der graphematischen Ebene seiner französischen Grußformel zutage, die jedoch in‐ teressanterweise einen tendenziell bairischen und weniger einen tschechischen Akzent auszudrücken scheint (<sch> signalisiert eher / š/ als / ž/ ). Die indexikalische Funktion der mehrsprachigen Figurenrede auf Ebene der sekundären Kommunikation spielt auch auf der Ebene der primären, an das Publikum gerichteten Kommunikation eine zentrale Rolle und stellt daher gewissermaßen einen Pivot zwischen den beiden Kommunikationsebenen dar. Auch für das Publikum werden die deutsch- und tschechischsprachigen Figuren über ihre Mehrsprachigkeit sowohl in Bezug auf ihre geographische als auch soziale Herkunft charakterisiert, wobei dieselben Prinzipien Geltung haben dürften wie textintern. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sich das Stück an ein zwar potentiell zwei-, primär jedoch deutschsprachiges Prager Publikum richtete, das sich selbst sozial eher mit den nur deutschsprachigen Figuren identifizierte. Diese Orientierung wird auch in den Schlusspassagen der beiden Teile unterstrichen, in denen sich die Figur Hans Klachl entgegen den sonst für sie üblichen Alternationen ausschließlich auf Deutsch, also in der Matrixsprache des Werks, an das Publikum wendet (Tuček 1797a: 88; Tuček 1797b: 91). Neben der indexikalischen Funktion erfüllt die mehrsprachige Figurenrede auf Ebene der primären Kommunikation des Werks als komisches Element auch ästhetische und damit rezeptionssteuernde Funktion. Die oben zitierte Stelle aus dem ersten Teil, in dem Klachl auf die Frage von Doktor Fieber nach dem Befinden des „wertheste[n] Herr[n] Papa“ antwortet: „on hodně papa [er 324 Agnes Kim <?page no="325"?> 17 Vgl. Abschnitt 2.2 für meine Verwendung dieses Terminus. isst viel],“ ist ein gutes Beispiel für den Wortwitz, der aus diesen bilingualen Dialogen entstehen kann. 3.2 Čech a Němec Die zweite Beispielstudie widmet sich Jan Nepomuk Štěpáneks (1783-1844) 1816 uraufgeführtem Volksstück Čech a Němec (Der Tscheche und der Deutsche, cit. Štěpánek 1901; zum Autor vgl. Ludvová/ Petrbok 2008; Tureček/ Petrbok 2008). Zur Entstehungszeit des Werks war sein Autor, einer der einflussreichsten Ver‐ treter der zeitgenössischen tschechischsprachigen Theaterszene Prags, bereits am Ständetheater (Stavovské divadlo) tätig, an dem er ab 1824 auch als Regis‐ seur für die tschechischsprachigen Nachmittagsvorstellungen fungierte. Čech a Němec entwickelte sich Tureček (2004a: 14) zufolge zum ersten „richtige[n] Magnet[en] des tschechischen Repertoires“, was sich in insgesamt 52 Reprisen bis 1854 äußerte. Das Stück ist ausschließlich im ländlichen Raum und primär rund um die Mühle des titelgebenden Tschechen, des Müllers Tomáš, angesiedelt. Dessen Ersparnisse werden im Auftrag des in finanzielle Schwierigkeiten geratenen lokalen Verwalters und Verlobten der Müllerstochter Kačenka vom Juden Aron gestohlen. Die Handlung setzt nachts während eines Unwetters im Wald ein. Hierher hat sich Aron nach dem Diebstahl geflüchtet, verliert jedoch seine Beute an den durchreisenden Studenten Javorník. In der Absicht, sie dem Besitzer wiederzubringen, gelangt dieser bei seiner Suche nach einer Unterkunft zur Mühle, in die ihn Kačenka ohne Wissen ihres Vaters aufnimmt. Überrascht vom Verwalter und vom Müller kann sich Javorník in letzter Sekunde aus dem Fenster retten. Zunächst wird er des Diebstahls bezichtigt, allerdings belauscht der deutschsprachige Diener des Müllers und titelgebende Deutsche, Jirka, am nächsten Morgen ein Gespräch: Der Verwalter und Aron verwenden dabei Deutsch als Geheimsprache, um vor der nicht des Deutschen mächtigen Magd Dorotka offen über den Diebstahl sprechen zu können. Er berichtet dies seinem Herrn, während gleichzeitig Javorník in die Mühle zurückkehrt, um das gefundene Geld zurückzubringen und um Kačenkas Hand anzuhalten. Die Matrixsprache 17 des Lustspiels ist Tschechisch, was daraus hervorgeht, dass immerhin 66 % der Figurenrede sowie alle Bühnenanweisungen auf Tsche‐ chisch gehalten sind. Umgekehrt folgt aus dieser Feststellung, dass einer eigenen Zählung auf Wortebene zufolge 34 % der Figurenrede Deutsch sind (vgl. Kim 2025) und das Stück zu einem so hohen Grad zweisprachig ist, dass es ohne „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 325 <?page no="326"?> 18 Wörtl.: Wie ich Ihnen erzähle, diese Ängste, die ich ausgestanden habe - (er sieht sich um). Aber wer ist das denn dort? 19 Wörtl.: Das ist mein Mädchen, sie harkt Gras. Erzähl nur. 20 Wörtl.: Nichts werde ich erzählen, sie könnte es hören und weitertragen. 21 Wörtl.: Sprich deutsch, das versteht sie nicht. 22 Wörtl.: Weise! weise! Kompetenz in beiden Sprachen nicht rezipiert werden kann. Die mehrsprachige Figurenrede erfüllt damit auf der Ebene der primären Kommunikation des Werks mit dem Publikum zentral die kommunikationsorientierte Funktion, wie insbesondere in dem für die Handlungsentwicklung wichtigen Gespräch zwischen Aron und dem Verwalter deutlich wird: A R O N : Jak vám povídám, ty strachy, které jsem vystál - (ohlédne se). Ale kdo pak je to tady? 18 S P R ÁV E C : To je má děvečka, hrabe trávu. Jen povídej. 19 A R O N : Nic nebudu povídat, mohla by to slyšet a roznést. 20 S P R ÁV E C : Mluv německy, tomu nerozumí. 21 A R O N : Moudře! moudře! 22 - Also wie ich Ihnen sage, bin ich über den Gartenzaun gesprungen, das Fenster war offen, und ich bin hineingestiegen. (Štěpánek 1901: 35) Anhand der Stelle wird ersichtlich, dass im Fall von Čech a Němec die kommu‐ nikationsorientierte Funktion die Pivotrolle zwischen primärer und sekundärer Kommunikation des Werks übernimmt: Auch für die Figuren ist textintern entscheidend, wer welche Sprache zu sprechen oder zu verstehen imstande ist. Nur manche der Figuren werden dabei als kompetent zweisprachig dargestellt: Der Jude Aron, der auch in seiner Figurenrede am deutlichsten variiert (ca. 65 % Deutsch zu 35 % Tschechisch), spricht wohl in Anbetracht seiner religiös-eth‐ nisch definierten Zugehörigkeit beide Sprachen, bildungsbzw. standesbedingt hingegen ebenso der Student Javorník, der Verwalter sowie ein Offizier. Über niedrige Deutschkompetenzen verfügen hingegen der Müller Tomáš und seine Tochter Kačenka sowie die Dienstmagd des Verwalters Dorotka; das Umge‐ kehrte gilt für die deutschsprachigen Dienstboten der Müllersfamilie Jirka (dt. Görge) und Anička. Mehrsprachige Figurenrede zeichnet sich auch im Fall von Čech a Němec durch allerdings obligatorische Alternation der beiden Sprachen entweder auf Figurenebene oder bei mehrsprachig charakterisierten Figuren auf Replikenbzw. Satzebene aus; Insertion ist vergleichsweise selten und wenn, dann Hinweis für ein restringiertes Repertoire wie im folgenden Beispiel, in dem wiederum auch die textinterne Kommunikationsorientierung in der Thematisierung von Mehrsprachigkeit hervorgehoben wird: 326 Agnes Kim <?page no="327"?> 23 Wörtl.: Was ist denn mit dem Herrn Vater? 24 Wörtl.: (Er denkt nach.) Herr Vater - ist - Geld - stehlen - machen - alles. (Kursiv: im Original Deutsch) 25 Wörtl.: Was erzählst du? Dass dein Herr Vater Geld gestohlen hat? 26 Wörtl.: Kammer. 27 Wörtl.: Oh mein Gott! Möchtest du etwa sagen, dass sie den Herrn Müller bestohlen haben? 28 Wörtl.: (Sie beginnt zu lachen.) Du bist verrückt! 29 Wörtl.: Ach, verschwinde mit deinen dummen Reden, […]. D O R O T K A : Co pak je s pantátou? 23 J I R K A : Ja, es ist wahr, sie versteht mich nicht, da muss ich schon böhmisch sprechen. Hör also. (Přemýšlí.) Pantato - ist - peníze - kradlovat - machen - alles. 24 D O R O T K A : Co povídáš, tvůj pantáta že kradl peníze? 25 J I R K A : Ja, ja, aus der komora 26 alles peníze weg. D O R O T K A : Ó můj Bože! snad chceš říci, že pana mlynáře okradli? 27 (Štěpánek 1901: 32) Einzelne tschechische Lexeme zur basalen Verständnissicherung einzubauen, ist für Jirka nur isolierend-inserierend möglich. Aus diesem als äußerst restrin‐ giert dargestellten Repertoire im Tschechischen ergeben sich auch komische Elemente: Jirka versteht nicht korrekt, dass Dorotka seine Äußerungen zunächst dahingehend interpretiert, dass der Müller selbst gestohlen hätte. Zudem werden ähnliche Mittel wie in Hans Klachl eingesetzt: Früher in derselben Szene entwickelt sich ein auf Homophonie der Wörter č. „blázen“ (verrückt) und dt. „blasen“ basierender Wortwitz zwischen Jirka und Dorotka, nachdem ersterer versucht, ihr eifersüchtig begreiflich zu machen, dass er einen anderen Verehrer in der vorangegangenen Nacht vor ihrem Fenster beobachtet hätte. Auf Ebene der primären Kommunikation ist demnach ebenfalls wieder eine ästhetische Funktion mehrsprachiger Figurenrede erkennbar. D O R O T K A : (dá se mu do smíchu). Tys blázen! 28 J I R K : . Nein, geblasen hat er nicht. D O R O T K A : Ne, ne, du blázen! J I R K A : Ich hab geblasen? wo denn? worauf denn? D O R O T K A : I jdi s tvou hloupou řečí, 29 du blázen - du Narr! (Štěpánek 1901: 31) Kehren wir zurück zur sekundären, textinternen Kommunikationsebene, auf der das permanente Missverstehen bei den primär einsprachigen Figuren zu Frustration und der Orientierung an ihnen sprachlich gleichen Figuren führt. Dorotka etwa beschwert sich abschließend beim Müller Tomáš über dessen „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 327 <?page no="328"?> 30 Wörtl.: Aber ich will ihn nicht; ich halte mir lieber einen tschechischen Burschen, mit dem kann ich mich wenigstens unterhalten. 31 Wörtl.: Wunderlich, wie es in unserer böhmischen Heimat aussieht! Gleich ist man zwischen Deutschen und gleich wieder zwischen Tschechen. Grüße ich jemanden deutsch, dankt er mir tschechisch; grüße ich ihn tschechisch, dankt er deutsch. Gut, dass ich beide Sprachen kann, so kann ich mich immer verständigen. Dienstmagd Anička, da diese ihr aufgrund Jirkas Interesse an ihr böse wäre. Sie möchte jedoch klarstellen: „Ale já ho nechci; raději se českého hocha přidržím, s tím si aspoň mohu pohovořit“ 30 (Štěpánek 1901: 56). Um den titelgebenden Konflikt zwischen dem Tschechen und dem Deutschen zu thematisieren, beklagt eingangs Jirka seine Frustration im Haus des Müllers in ähnlicher Weise: „Ich sags halt immer, ich und der Pantato wir kommen halt nicht gut weg. Nichts rozumíš, sagt er; ach ja, ich rozumíš schon, wenn ich will. Zum Fikerment, bin ich denn gar so ein Hackstock, dass er mich für so dumm hält? “ (Štěpánek 1901: 11) Sprachlich bedingtes Nicht-Verstehen wird zu einem Zeichen für Dummheit und mangelnde Bildung; die als kompetent zweisprachig dargestellten Figuren wie etwa Javorník können hingegen ihre Zweisprachigkeit als soziales Kapital einsetzen. Er charakterisiert die sprachliche Situation in Böhmen wie folgt: K podivení, jak to v naší české vlasti vypadá! Hned je člověk mezi Němci a hned zas mezi Čechy. Pozdravím-li někoho německy, děkuje mi česky; pozdravím-li jej česky, děkuje německy. Dobře, že umím obě řeci, tak se přec dorozumím. 31 (Štěpánek 1901: 14) In dem so dargestellten Umfeld gewinnt Sprache aus der kommunikationsorien‐ tierten Funktion heraus auch indexikalische Relevanz, die jedoch weniger eine soziale als ethnisch-nationale Dimension hat. Mareš (1998: 102) interpretiert die Darstellung dieses Konfliktfeldes jedoch als Anerkennung der zeitgenössi‐ schen böhmischen Realität, die von der Suche nach Koexistenz und einem entsprechenden gegenseitigen Verständnis und noch nicht von einem national konnotierten „Sprachkampf “ geprägt ist. 3.3 Fidlovačka, anebo Žádný hněv a žádná rvačka Verfasser des in der dritten Beispielstudie analysierten, 1834 uraufgeführten Stückes Fidlovačka, anebo Žádný hněv a žádná rvačka (Das Schusterfest, oder Kein Zorn und kein Handgemenge, cit. Tyl 1926) war Josef Kajetán Tyl (1808-1856; vgl. Otruba 2008) und damit einer der zentralen Theatermacher des tschechischen Theaterbetriebs seiner Zeit. Er zählte zu den ersten Dramatikern, die sich dem von Josef Jungmann (1773-1847) angeregten aufklärerischen Bildungsprogramm der tschechischen národní obrození (Nationalen Wiedergeburt) verpflichtet fühlten 328 Agnes Kim <?page no="329"?> 32 Man beachte auch hier den sprechenden Namen: č. „dudek“ bezeichnet den ‚Wiedehopf ‘, einen Vogel mit auffallendem Kopfschmuck. 33 Wörtl.: Ich weiß, was das ist: Andreas hat es gelernt, auswendig! und der dementsprechend sein Werk nutzte, um sein Publikum zu national bewussten Tschechen zu erziehen (vgl. Macura 1995: 191-192). Fidlovačka, anebo Žádný hněv a žádná rvačka zählt zu seinen frühen Werken und stellt seine einzige Lokalposse mit Gesang dar. Wenngleich aus dem Werk der Text der heutigen Nationalhymne der Tschechischen Republik „Kde domov můj? “ (Wo ist meine Heimat? ) stammt, wurde es vom Publikum nicht gut aufgenommen und erfüllte auch Tyls eigene Ansprüche nicht (Tureček 2004: 18). Die Handlung entfaltet sich wie in den beiden vorangehenden Fällen um eine Liebesgeschichte, nämlich jene von Jeník, Sohn des Schmieds Kroutil, und seiner Nachbarin Lidunka, die von ihrer Tante, der Butterhändlerin Mas‐ tílková aufgezogen wird. Die Vormunde der beiden sind aus (identitäts-)politi‐ schen Gründen verfeindet: Kroutil ist nationalbewusster Tscheche und selbst‐ bewusster Handwerker, Mastílková hingegen sucht den sozialen Aufstieg und liebäugelt daher mit dem national indifferenten Milieu der Prager besseren Gesellschaft. Mit einem Besucher ihres Salons, dem angeblichen Baron Dudéc (eigentlich: Dudek 32 ), hat sie Lidunka verlobt. Aufgrund seiner Schulden bei einem Juden versucht er, die deutschsprachige Dienstbotin der Mastílková, Margarethe bzw. Markyta, zu umgarnen, um auf ihr Erspartes zugreifen zu können. Seine Intrige fliegt auf dem sogenannten Schusterfest auf, wo Jeník Mastílková und seinen Vater versöhnen kann und in der Folge die Erlaubnis erhält, Lidunka zu ehelichen. Als Matrixsprache fungiert auch in Tyls Fidlovačka Tschechisch, was so weit geht, dass selbst sonst als primär deutschsprachig charakterisierte Figuren wie der deutschsprachige Diener von Mastílková Andreas Jammerwein (bzw. Ondřej) zwar deutsche Monologe halten, aber tschechische Lieder singen (Tyl 1929: 26-27). Dass er mit seinem sonst als sehr restringiert dargestellten tschechischen Repertoire (vgl. etwa Tyl 1929: 33-36) dazu in der Lage ist, wird darüber gerechtfertigt, dass er es auswendig gelernt hätte: „[…] ich kann davon ein Liedchen singen! - Já vím, co to je: Učil se Andrezl, nazpaměť! “ 33 (Tyl 1926: 27) Für eine umfassende Rezeption des Stückes ist wie im Fall von Čech a Němec ebenfalls tschechisch-deutsche zweisprachige Kompetenz erforderlich. Darüber hinaus bringt Tyl jedoch nicht nur zwei Sprachen, sondern auch diverse Varietäten derselben sowie sekundäre Ethnolekte auf die Bühne. Dies zeigt sich in beiden Auftritten des dritten Bildes, in dem der Jude Živeles die Maskerade Baron Dudécs/ Dudeks aufbricht und in der Folge bei der vorbeikommenden Markyta Schutz sucht. „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 329 <?page no="330"?> 34 Wörtl.: Sie irren sich - ich bin le baron Dudéc. 35 Wörtl.: Ihrem Vater sagten sie Christoph Dudek (d. h.: Ihren Vater nannten sie Christoph Dudek) - Ihr Großvater war ein Dudek -. 36 Wörtl.: (plötzlich ohne jede Verstellung). Bei Gott, ich bitte dich, Jude! Nimm den Verstand in die Hand -. 37 Wörtl.: Oh, nehmen Sie Geld in die Hand - und sorgen Sie dafür, dass Ihre Papiere aus meinen Händen kommen -. 38 Wörtl.: Schick morgen nach mir -. 39 Wörtl.: Mich hier festzuhalten hast du kein Recht. Ich werde mich über dich beschweren. 40 Wörtl.: Ich habe kein Recht? 41 Wörtl.: Sehen Sie dieses Zettelchen - Sie werden so schön spazieren - in den Arrest. D U D E K : Corpo di Dio! - vy se mejlíte - já sem le baron Dudéc 34 - je suis - Ž I V : Aiwai, aiwai! K L U C I : Aiwai, aiwai! Ž I V : Was ist das - Dudéc? Waš tatík říkali Krištof Dudek - dědek váš byl Dudek 35 - D U D E K (najednou bez všeho zatajování): Pro Bůh tě prosím, Mojžíši! Vezmi rozum do ruky 36 - Ž I V : Ai, vezmete vy peníze do ruky - a hleďte aby se vaše papíry z moji ruky dostaly. 37 D U D E K : Pošli zejtra ke mně 38 - Ž I V : Pošli? Soll ich leben - hab ich geschickt den Mauschel, habʼ ich geschickt den Wolfl - hab ich geschickt mich selbst - Warum? D U D E K : Zde mne zadržovati nemáš právo. Já si na tebe stížnost povedu. 39 Ž I V : Aiwai, aiwai! K L U C I : Aiwai, aiwai! Ž I V : Já nemám práfo? 40 - Soll ich leben - was ist das? Sind sie mir schuldig 1500 Gulden - hab ich mir laßen geben ein Zettelchen - vidíte ten ceduliček - vy budete tak dobrej špacirovat - do arest. 41 (Tyl 1929: 46-47) Die Figurenrede beider Charaktere dieses ersten Abschnittes ist durch Variation und ihr mehrsprachiges Repertoire geprägt, das bei beiden deutsche und tschechi‐ sche Varietäten sowie im Fall von Dudéc/ Dudek zusätzlich noch Versatzstücke aus romanischen Sprachen umfasst. Eine weitere Differenz besteht darin, dass Dudéc/ Dudek auch in der Lage ist, in einem monolingual tschechischen Modus mit böh‐ mischer dialektaler Prägung - wie an der gemeinböhmischen Entsprechung / ej/ für standardtschechisch / iː/ in „mejlíte se“ für „mýlíte se“ (Sie irren sich) oder „zejtra“ statt „zítra“ (morgen) erkennbar - zu kommunizieren. Dies legt in der Rezeption nahe, dass die Figur als in einem primär tschechischen Umfeld aufgewachsen charakterisiert wird, und ihr mehrsprachiger Modus eine sprachliche Maskerade zum Mittel des sozialen Aufstiegs darstellt (vgl. auch Kim 2020: 32). 330 Agnes Kim <?page no="331"?> 42 Bei Schäfer (2017) sind sie in dieser Form jedoch nicht dargestellt. 43 Wörtl. [französische Stellen bleiben unübersetzt]: (fliegt nur zu ihr): Oh mein Stern! Je suis - toujours - wie sagt man - so froh, dass ich Sie finde. Herz - le coeur meiniges hat nach Ihnen gerufen! 44 Wörtl. [französische Stellen bleiben unübersetzt]: […] wie das sagen? - auf die Schönheit Ihres geschminkten Antlitzes, dass ich Sie gerade erblicken wollte. 45 Wörtl. [deutsche Stellen bleiben original]: Vinse? - Kennen Sie meine vinse? Wenn ich Sie nehme - an der Hand - wenn - von die Vermählunk - von Hochzeiten sprechen; Die Figurenrede des Juden Živeles ist hingegen ausschließlich im multi‐ lingualen Modus gehalten, wobei sowohl die dem Tschechischen als auch die dem Deutschen zuordenbaren Elemente so gestaltet sind, dass sie als „Jiddeln“, also als sekundärer Ethnolekt, interpretierbar werden. Dabei handelt es sich einerseits um die lexikalische Markierung mittels der wiederholten Interjektion „ai“ (oh) und „aiwei“ (oh weh) sowie des auto-bono-petitiven psycho-ostensiven Ausdrucks „soll ich leben“ (vgl. auch Schäfer 2017: 96-99), andererseits jedoch auch über nichtkanonische Phänomene im Deutschen und Tschechischen. 42 Im Deutschen fällt in diesem Kontext insbesondere die nichtka‐ nonische Verb-Erststellung im Hauptsatz auf („hab ich geschickt“; „sind sie mir schuldig“; …), im Tschechischen um graphematisch dargestellte Inkonsistenz be‐ züglich der Wiedergabe labiodentaler Frikative (<práfo> / praːfo/ statt <právo> / praːvo/ [Recht]), der Vokallängen (<waš> / vaʃ/ und <váš> / vaːʃ/ [euer]), der Genuszuweisung des Diminutivs von „cedule“ f. (Notizzettel) („ceduliček“ m. statt „cedulička“ f.), sowie der Deklination nach Kasus („[waš tatík] N O M říkali“ statt „[vašemu tatíkovi] D A T říkali“ (sie nannten Ihren Vater)). Für eine nähere Analyse des mehrsprachigen Modus in der Figurenrede des Dudéc/ Dudek wird eine Szene näher betrachtet: D U D E K (k ní jen letí): O moje hvězdo! Je suis - toujour - jak se říká - tak rád, še vás nacházet. Srdce - le coeur moje po vás volalo! 43 M A R K : Der Herr Baron sind immer guter Laune - D U D E K : Corpo di Dio! - Ich swöre sie -- comment to říkat? - na krásu vašich líčených tváří, že jsem vás akkurat vyhledat chtěl. 44 Auk die Welten weiß von meine Klück! Eben gratulire mir diese gute Freund zu meine Vermählunk! M A R K : Ah - o - auch ich statte meine Wünsche ab - D U D .: Vinse? - Znáte moje vinse? Když vás vemu - sa ruky - když - von die Vermählunk - o svatbách mluvit; 45 ahnet nichts das Herz von Sie? (Tyl 1929: 48) Dudécs/ Dudeks Rede ist von so zahlreichen Sprachwechseln geprägt, dass die Matrixsprache nicht eindeutig erkennbar ist. Gemessen an der Anzahl der mono‐ lingualen Sätze in den drei hier abgedruckten Repliken von Dudéc/ Dudek könnte „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 331 <?page no="332"?> 46 Man beachte, dass akkurat als ambilinguistisch eingestuft wurde, da zwar die Graphematik als deutsch, die Verwendung hingegen eher als tschechisch klassifiziert werden könnte. 47 Diese Interpretation setzt Tschechisch als Matrixsprache voraus bzw. schließt Franzö‐ sisch als Matrixsprache aus. Deutsch am ehesten dieser Status zukommen, da von sechs monolingualen Sätzen vier deutsch sind und je einer tschechisch und italienisch. Bei Letzteren handelt es sich überdies um satzwertig eingesetzte Anreden/ Interjektionen ohne Verbal‐ phrase. Für Deutsch als Matrixsprache spricht überdies, dass sich Dudéc/ Dudek an dieser Stelle auf Ebene der sekundären Kommunikation an eine einsprachig deutsche Figur richtet. Gemessen an der Anzahl der Token in den drei Repliken könnte hingegen Tschechisch als Matrixsprache identifiziert werden, da sowohl insgesamt 39 von 79 Token dem Tschechischen, aber nur 30 dem Deutschen zugeordnet werden können, 46 als auch Tschechisch in allen multilingualen Sätzen vorkommt und in diesen immer mehr Token dem Tschechischen (insgesamt 36 Token) als anderen Sprachen (insgesamt 14) zuzuordnen sind. Neben den sechs monolingualen Sätzen werden zwei mit tschechischen und französischen, zwei mit tschechischen und deutschen sowie einer mit tschechischen, deutschen und französischen Elementen realisiert. Vier Typen des Code-Mixings können dabei identifiziert werden: 1. Alternation an der Teilsatzgrenze und bei Einschüben: „[ Je suis - toujour] F - [jak se říká] Č - [tak rád, še vás nacházet] Č “; „[Ich swöre sie] D - [comment to říkat? ] F+Č - [na krásu vašich líčených tváří,…] Č “ 2. Insertion innerhalb einer Verbalphrase als inhaltliche Wiederholung/ Über‐ setzung einer Phrase: „[Srdce - [le coeur] F moje po vás volalo! ] Č “; „[když - [von die Vermählunk] D - o svatbách mluvit] Č “ 3. Insertion innerhalb einer Verbalphrase: 47 „[[comment] F to říkat? ] Č “ 4. Alternation/ Insertion innerhalb einer Nominalphrase: „[[le coeur] F „[moje] Č ]“; „[[moje] Č [vinse] D ]“ Abgesehen von Code-Mixing werden auch Elemente aus Lerner: innenvarie‐ täten in der Gestaltung des mehrsprachigen Modus in der Figurenrede von Dudéc/ Dudek eingesetzt, die einen unvollständigen Erwerb von Tschechisch und Deutsch andeuten und damit seine inszenierte sprachliche Fremdheit mar‐ kieren sollen. Diese finden sich auf fast allen sprachlichen Ebenen, wenngleich verschieden über die Zielsprachen verteilt. Auf manchen Ebenen überlagern sich die lerner: innensprachlichen Merkmale mit umgangsprachlich-bairischen (vgl. auch Kim 2025). Tabelle 1 schlägt eine Klassifikation dieser Spezifika vor. 332 Agnes Kim <?page no="333"?> 48 Die Qualität der Phoneme / r/ ([r], [ʀ] oder [ʁ]) sowie / ə/ (etwa [ə] oder [ɛ]) kann nicht näher bestimmt werden. Deutsch Graphematik Wiedergabe nach fremder Graphematik • <Klück> statt <Glück> • <Vermählunk> statt <Vermählung> • <v> in <vinse> statt <Wünsche> Phonetik Imitation eines fremden Akzents • <swöre>: / svœːrə/ 48 statt / ʃvœːrə/ • <auk>: / a͡ɔk/ statt / a͡ɔχ/ • <s> in <vinse>: / vɪnsə/ statt / vɪnʃə/ bairische Merkmale <i> in <vinse>: bair. / vɪnʃə/ statt / vʏnʃə/ Morphologie Kongruenz in der (Pro-)Nominalphrase • „von meine ( N O M . F ) Glück“ statt „von meinem ( D A T . N ) Glück“ • „diese ( N O M . F ) gute Freund“ statt „dieser ( N O M . M ) gute Freund“ • „zu meine ( N O M . F ) Vermählung“ statt „zu meiner ( D A T . F ) Vermählung“ • „von die ( N O M . F ) Vermählung“ statt „von der ( D A T . F ) Vermählung“ • „Herz von Sie“ ( N O M ) statt „Herz von Ihnen“ ( D A T ) (fehlende) Konjugation des Verbs „eben gratulire (1 P . P R Ä S ) mir“ statt „eben gratulierte (3 P . P R ÄT ) mir“ Syntax Rektion „ich swöre sie“ ( A K K ) statt „ich schwöre Ihnen“ ( D A T ) Kongruenz von Verb und Subjekt „die Welten ( P L ) weiß“ statt „die Welt ( S G ) weiß“ umgangssprachliche Konstruktion „Herz von Sie“ statt „Ihr Herz“ Tschechisch Phonetik Imitation eines fremden Akzents • <še>: / ʃɛ/ statt / ʒɛ/ ‚dass‘ • <sa>: / sa/ statt / za/ hier: ‚an‘ Morphologie (fehlende) Konjugation des Verbs • „še vás nacházet“ ( I N F ) statt „že vás nacházím“ (1 P . S G ) (dass ich Sie finde) • „když […] o svatbách mluvit“ ( I N F ) statt „když […] o svatbách mluvím“ (1 P . S G ) (wenn ich über die Hochzeit spreche) Tabelle 1: Lerner: innensprachliche und non-standardsprachliche Merkmale im Deutsch und Tschechisch der Figurenrede von Dudéc/ Dudek in der zitierten Stelle (Tyl 1929: 48) „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 333 <?page no="334"?> 49 Ausführlich dazu Kim (2020; 2025). Deutlich wird, dass das Deutsche in der Figurenrede von Dudéc/ Dudek deutlich stärker und auf mehr sprachlichen Ebenen variiert als das Tschechische. In letzterem finden sich nur zwei Abweichungstypen, nämlich die Imitation eines fremden Akzents, der primär die Phonetik betrifft, im Text jedoch auf der graphematischen Ebene angezeigt wird, sowie die fehlende Konjugation des Verbs und damit der Ersatz des verbum finitums durch den Infinitiv. Im Deutschen von Dudéc/ Dudek stellt die fehlende Kongruenz in der (definiten und/ oder in eine Präpositionalphrase eingebetteten) (Pro-)Nominalphrase die häufigste Abweichung von der zielsprachlichen Norm dar, die nicht durch bairische Prägung erklärt werden kann. In allen fünf Fällen handelt es sich um Formen des Nominativs (Femininum), die anstatt von Dativformen eingesetzt werden. Außerdem fällt auf, dass insbesondere zur Wiedergabe der Auslautver‐ härtung tschechische Graphematik eingesetzt wird, um deutsche Lexeme zu verschriftlichen. Dies erhöht die Fremdheitswirkung der Textversion und zeigt an, dass die Rolle mit nicht-deutschem Akzent gespielt werden soll. Abschließend kann festgehalten werden, dass in Tyls Fidlovačka - insbeson‐ dere, wenn auch die in Kim (2020; 2025) besprochenen Passagen mitberücksich‐ tigt werden - im Vergleich zu den früheren Stücken bei weitem das breiteste Repertoire an Strategien eingesetzt wird, um Mehrsprachigkeit auf Ebene der Figurenrede darzustellen. Es finden sich emulativ sowie simulativ imitierende Passagen; in letzteren finden sich sowohl Fälle von alternierendem als auch isoliert- oder integriert-inserierendem Code-Mixing. In den Funktionen der mehrsprachigen Figurenrede gibt es hingegen deutliche Überschneidungen mit den bei Hans Klachl beschriebenen: Sowohl auf Ebene der sekundären wie auch der primären Kommunikation stehen indexikalische Funktionen im Vordergrund; auf ersterer treten auch kommunikationsorientierte, auf zweiterer ästhetische hinzu. 4. Zusammenfassung In die folgende abschließende Zusammenschau (vgl. Tabelle 2) werden neben den hier in extenso besprochenen Werken auch Informationen zu Nestroys Lumpacivagabundus (cit. Nestroy 1993a,b) einfließen, 49 um einerseits ein zweites Stück mit Matrixsprache Deutsch sowie andererseits ein zweites aus den 1830er-Jahren miteinbeziehen zu können. 334 Agnes Kim <?page no="335"?> 50 Wie Mehrsprachigkeit der Figurenrede auf Ebene des Textes abgebildet wird, ist teils von der Version abhängig: Die Manuskriptfassung (Nestroy 1993a: 105) legt in Bezug auf den „böhmischen Accent“ einer Figur eine fakultative Realisierung in einer Form nahe, die mit Mareš (1993) als Signalisierung bezeichnet werden könnte, während die Druckfassung derselben ihre Mehrsprachigkeit als obligatorisch einschreibt. Hans Klachl Čech a Němec Fidlovačka Lumpacivagabundus Jahr 1795/ 97 1816 1834 1834 Schauplatz Prag/ ländl. Böhmen ländl. Böhmen Prag teilw. Prag Matrix‐ sprache Deutsch Tschechisch Tschechisch Deutsch Formen mehrsprachige Figurenrede Typ der Imitation simulativ simulativ emulativ und si‐ mulativ emulativ und si‐ mulativ Obligatorik fakultativ obligatorisch obligatorisch fakultativ und/ oder obligato‐ risch 50 Code- Mixing- Typen alternierend, selten isoliertinserierend alternierend, isoliert-inserie‐ rend alternierend, isoliert und in‐ tegriert-inserie‐ rend alternierend, isoliert-inserie‐ rend Funktionen mehrsprachiger Figurenrede sekundäre Kommuni‐ kation 1. indexikalisch 2. kommunika‐ tionsorientiert 1. kommunika‐ tionsorientiert 2. indexikalisch 1. indexikalisch 2. kommunika‐ tionsorientiert 1. indexikalisch primäre Kommuni‐ kation 1. indexikalisch 2. ästhetisch 1. kommunika‐ tionsorientiert 2. ästhetisch 1. indexikalisch 2. ästhetisch 1. ästhetisch 2. indexikalisch Tabelle 2: Zusammenfassende Gegenüberstellung der Stücke Prinzipiell lassen sich folgende Tendenzen feststellen: Zunächst zeigt sich, dass das (in den Text eingeschriebene) Repertoire an Strategien zur Imitation mehrsprachiger Figurenrede zunimmt: Während um 1800 bzw. im frühen 19. Jahrhundert nur simulative Imitationen identifizierbar sind, finden sich in den beiden Possen aus den 1830er-Jahren auch emulative. Im Gegensatz dazu überwiegen generell zwei Typen des Code-Mixings auf der individuellen „Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ 335 <?page no="336"?> Äußerungsebene, nämlich jener der Alternation und jener der isolierenden Insertion. Nur in Tyls Fidlovačka lassen sich auch Stellen mit integrierender Insertion identifizierten (vgl. Kim 2025). Der Grad der Obligatorik in der Darstellung der Mehrsprachigkeit von Figuren unterscheidet sich nach der Matrixsprache (Deutsch: fakultativ, Tsche‐ chisch: obligatorisch), wobei dies als Hinweis auf den Grad der Zweisprachigkeit des potentiellen Publikums interpretiert werden kann. Bei Rezipient: innen der Stücke mit tschechischer Matrixsprache (also aus der tschechischen Literatur) wurde generell ein hoher funktioneller Grad der tschechisch-deutschen Zwei‐ sprachigkeit vorausgesetzt, wie sich auch an der teils handlungstragenden Funktion von auf Deutsch gehaltenen Szenen zeigt. Selbiges galt für das Publikum der deutschen Stücke nicht, wobei sich hier ein qualitativer wie quantitativer Unterschied dahingehend zeigt, ob primär für ein Prager (Hans Klachl) oder ein Wiener Publikum (Lumpacivagabundus) geschrieben wurde. Je nach Herkunft des Zielpublikums scheint auch die Funktion zu variieren, die Mehrsprachigkeit auf Ebene der sekundären, textinternen Kommunikation übernimmt: Ausschließlich bei jenem Werk, das eine Außenperspektive auf die (soziolinguistische) Situation in Böhmen einnimmt, Nestroys Lumpaciva‐ gabundus, kann sie keine kommunikationsorientierte, sondern ausschließlich indexikalische Funktion übernehmen. Die kommunikationsorientierten Funk‐ tionen von mehrsprachiger Figurenrede in sowohl der sekundären als auch pri‐ mären Kommunikation wiederum sind in dem einzigen Werk, das ausschließlich im ländlichen Böhmen spielt, am ausgeprägtesten. Dies lässt Rückschlüsse auf (gesellschaftlich wahrgenommene und/ oder stereotype) Differenzen zwischen dem städtischen und ländlichen Raum innerhalb Böhmens zu. Literaturverzeichnis Primärliteratur N E S T R O Y , Johann Nepomuk (1993a). Der böse Geist Lumpazivagabundus oder: Das lieder‐ liche Kleeblatt. Zauberposse mit Gesang in drei Akten [Manuskript]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg.: Friedrich Walla. Stücke 5. Wien: Jugend und Volk, 69-132. N E S T R O Y , Johann Nepomuk (1993b). Der böse Geist Lumpazivagabundus oder: Das lieder‐ liche Kleeblat[t]. Zauberposse mit Gesang in drei Akten [Druckfassung]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg.: Friedrich Walla. Stücke 5. 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Auf die Nähe (in diesem Fall von Norwids Figuren zu mo‐ „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ Cyprian Norwids Fragment über Wort und Buchstabe und die Vielsprachigkeit in der polnischen Romantik Anja Burghardt Abstract: The paper at hand investigates varieties of polylingualism in Polish romanticism. Taking selected texts by Cyprian Norwid as a corner stone, it considers how the poet takes up the vivid (though scattered) de‐ bates on language in that period. Following intertextual hints and parallels, the article also addresses the Polish reception of German romanticism, which proves fruitful for a broader understanding for polylingualism since we can observe some parallels between the debates from the 19 th century to current phenomena in the field of polylingual literature. The observations about the polylinguality of Polish romantic literature do not only add particular perspectives to the (so far dominant) reflecion on contemporary literature, but also show discussions in a field, in which mono-lingualism has not yet become the paradigm for an understanding of languages, literatures and thought. Keywords: Cyprian Norwid, Polish Romanticism, Language in the epoche of Romanticism, intertextuality as latent polylingualism Der polnische Dichter Cyprian Norwid (1821-1883), der der Spätromantik zugerechnet wird und dessen poetisches Werk erst ab dem fin de siècle eine Würdigung erfuhr, übte wesentlich Einfluss auf die literarische Ästhetik in Polen aus und gilt schon lange als einer der herausragenden Dichter der Epoche. 1 <?page no="342"?> dernen Konzepten des Menschen) verweist beispielsweise auch Fieguth (2022: 302 f.). In seinem Vorwort zu Norwids Vade-mecum, einer umfassenden Sammlung von Norwids Lyrik, skizziert Fieguth die literaturgeschichtliche Einordnung (Fieguth 1981: 27-32), die Uffelman (1997) aufgrund der Norwid häufig zugeschriebenen „Vorwegnahme“ der Moderne mit einer Diskussion des Antizipationstopos in der Literaturgeschichts‐ schreibung allgemein verbindet. Die Beiträge in dem von Kącka, Warren und Zehnder (2022) herausgegebenen Cluster zu Norwid sind dessen historischer Situierung im europäischen Kontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihrem sozialen und anthropologischen Wandel gewidmet (vgl. 240). Das bedeute auch eine Berücksichti‐ gung von Norwids umfangreichen Lektüren, neben den polnischen Romantikern und europäischen Klassikern also des französischen Journalismus, von Unterhaltungs- und pseudowissenschaftlicher Literatur, theologischen Schriften aus dem 19. Jahrhundert und Ethnographie. 2 Piechota (2016) zitiert einen Brief Norwids, in dem er von zwölf (alten und neuen) Sprachen schreibt, die er (unterschiedlich gut) kann (24), allerdings ohne zu erwähnen, um welche es sich handelt; gewiss beherrschte er Französisch und Englisch. 3 Soweit nicht anders angegeben folgen Zitate von Norwid der auf Gomulickis kritischer Werkausgabe (1971-1976) basierenden fünfbändigen Werkauswahl von 2022, heraus‐ gegeben von Samsel. Wie andere auch, konnte er eine ganze Reihe von Sprachen (Piechota 2016: 25 2 ). Das titelgebende Zitat des vorliegenden Beitrags verweist auf seine Haltung gegenüber Schrift und Sprache, die - wie im Folgenden ausgeführt wird - deutliche Züge der Romantik zeigt, wobei Norwid sich sowohl in Sprachdis‐ kussionen der Zeit einschreibt, als auch frühere in die eigene Sprachreflexion einbezieht. Bereits im Titel des (undatierten) Prosa-Fragments „Słowo i litera“ („Wort und Buchstabe“), das als „quasi-linguistischer“ Text zu Norwids kultur‐ philosophischen Schriften zählt (Samsel 2022b: 770 f.), wird die Wichtigkeit des Buchstabens deutlich. Auch in seinem Poem Rzecz o wolności słowa (1869, Über die Freiheit des Wortes) betont Norwid dessen herausragende Stellung: Litera u nas słusznie nie była pojęta: […] I ani jeden głos się nie podniósł z otwartą Myślą, że ona częścią słowa równie-wartą! (Rzecz o wolności słowa X I I , w. 113-118) 3 Der Buchstabe ist bei uns folglich nie begriffen worden: […] Und keine Stimme hat sich erhoben zu dem offenen Gedanken, dass er gleichwertiger Teil des Wortes ist! (Über die Freiheit des Wortes X I I , V. 113-118) 342 Anja Burghardt <?page no="343"?> 4 Mittlerweile gibt es eine umfangreiche Forschung zu Norwids Sprachauffassung (vgl. z. B. Felisiak 2019, insbesondere 308-316; Płóciennik 2017; Zehnder 2022: insbesondere die Abschnitte 3.5, 7.2.). Siewierski (2021) analysiert Norwids Sprachkonzeption und legt ihre Wurzeln in der Aufklärung ebenso wie in der Sprachforschung des 19. Jahr‐ hunderts dar, wobei die (möglichen) Einflussquellen notgedrungen vage bleiben. 5 Felisiak 2019 bezeichnet es als ein „humanistisches und religiös-theologisches Poem mit wissenschaftlichen Elementen“ (290). 6 Das Ineinandergreifen von Norwids literarischem Schaffen und dessen Reflexion in Briefen, Essays, Vorträgen und Aufsätzen durchzieht die Forschung und wird beispiels‐ weise von Felisiak (2019) in der Analyse von Norwids Denken umfassend reflektiert. Der Wert des Buchstabens wurde also nie begriffen, obgleich er in seiner Bedeutsamkeit dem Wort in nichts nachsteht; daraus ergäben sich viele Schwie‐ rigkeiten der Diskussionen um die polnische Sprache seiner Zeit. Inwiefern das mit einer Vielsprachigkeit in Verbindung steht, soll im Weiteren diskutiert werden. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Verhältnis von Teil und Ganzem bzw. dem Fragment. Mit Blick auf Fragen der Vielsprachigkeit ist eine Untersuchung der polni‐ schen Romantik insofern aufschlussreich, als hier auch heute selbstverständ‐ liche Phänomene wie die Zwei- und Mehrsprachigkeit verschiedener Akteure neben besondere Sprachkonzeptionen der Epoche treten, die eher ideenge‐ schichtlich von Bedeutung sind. Zwar gründen manche von ihnen in einem an‐ deren Verständnis von Sprache (und dem Verhältnis des Menschen zur Sprache und damit auch der Aufgabe der Kunst) als derzeit geläufige Auffassungen, dennoch weisen sie einige Parallelen zu heutigen Diskussionen um Mehr- und Vielsprachigkeit auf, insbesondere bezüglich der Sprachlatenz. Im Weiteren verwende ich ,Mehrsprachigkeit‘ für das Nebeneinander unter‐ schiedlicher (als eigenständig geltender, sogenannter National-)Sprachen; ,Viel‐ sprachigkeit‘ ist weiter gefasst und schließt die ganze Bandbreite unterschied‐ licher Varietäten ebenso ein wie die „Sprachen“ der Natur oder auch die Musik. In der Romantik ist beides nicht immer klar von einander zu trennen, was ich an den betreffenden Stellen anmerke. Im Folgenden wende ich mich zunächst Norwids Fragment über Wort und Buchstabe zu (Abschnitt 1), wobei ich vereinzelt auf sein Poem Über die Freiheit des Wortes (im Weiteren: Freiheit) zurückgreife. 4 Das seinem Spätwerk zugeordnete Poem gilt u. a. als eine autopoetische Reflexion, 5 was hier allerdings nur am Rande berührt wird. 6 Die beiden hier gewählten Texte des Dichters nutze ich gewissermaßen als einen Leitfaden, anhand dessen sich verschiedene in der Romantik gegebene Spielarten von Vielsprachigkeit aufzeigen lassen. Damit soll nicht Norwids Sonderstellung in der polnischen Romantik oder seine häufige „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 343 <?page no="344"?> 7 Toruń (2003) weist auf die wichtige Rolle der Form als einer übergeordneten Kategorie hin, die der Buchstabe für Norwid gespielt habe (117-119); in seiner Diskussion von Norwids Fragment streicht er die verbindende Rolle des Buchstabens zwischen innerer und äußerer Sphäre hervor (ibid., 120-138). Dabei diskutiert er die pragmatische sowie andere Dimensionen der „Architektur des Wortes“ (vgl. dazu auch Siewierski 2021) und verweist immer wieder auf die christlichen Implikationen; in der Forschung sind diese ausführlich analysiert, vgl. beispielsweise Dunajski (2019), der darlegt, dass Inspirationen aus dem Christentum in Norwids Werk immer wieder theologische Züge aufweisen; vgl. auch die Beiträge bei Fert (2002) sowie Kadyjewska (2000). 8 In Norwids Fragment wird „Geist“ („duch“) verschiedentlich im Sinne von „Gott“ verwendet. Im Übrigen zeigt sich für die Romantik aber m. E., dass ,Denken‘ (oder gar ,Denkweise‘) einem heutigen Sprachgebrauch näherkommen. Dabei gilt es aller‐ dings zu betonen, dass dies universal aufgefasst wird, und auf die eine oder andere Weise mit dem Göttlichen verbunden ist. Vielleicht ließe es sich als eine nicht sinnlich wahrnehmbare Wirkungskraft umschreiben, zu der das menschliche Denken gleichsam ein mikro-strukturelles Analogon darstellt. Kritik an den Vorgängern, insbesondere Mickiewicz, in Frage gestellt werden. In seinen (wie gesagt, oft kritischen) Selbst-Positionierungen greift er aber einschlägige Topoi in den Diskursen seiner Zeit auf, die sich hier gewissermaßen gebündelt finden. Nach einigen Anmerkungen zur romantischen Auffassung von Sprache allgemein (Abschnitt 2) beleuchtet der dritte Abschnitt Fragen der Vielsprachigkeit in einzelnen dieser Kontexte näher, und zwar die Rolle von Intertextualität (3.1), Diskussionen im Kontext der Sammlung von Volkskunst (3.2), die auch in diesem Bereich bestehenden Diskussionen zum Übersetzen (3.3) und die sprachhistorische Dimension des Polnischen (3.4). Wie ich aufzeigen möchte, sind sie geprägt von Paradigmen der Vielsprachigkeit. Die folgende Diskussion stellt also auch heraus, dass für die polnische Literatur der Romantik (mit einigen Seitenblicken auf deutsche Diskussionen der Romantik) nicht von einem mono-lingualen Paradigma (vgl. Yildiz 2012, das Taylor-Batti/ Dembeck 2023 aufgreifen) gesprochen werden kann. 1. Vielsprachigkeit in Norwids unvollendetem Text „Wort und Buchstabe“ Norwids Fragment „Wort und Buchstabe“ („Słowa i litera“) charakterisiert Sprache nicht durch ihre Referenzialität oder Zeichenhaftigkeit, sondern durch ihre Ausdruckskraft. Der Dichter, einer der „herausragendsten Virtuosen der [polnischen] Sprache“ (Stefanowska 1993, 57), entwirft in dem Fragment ver‐ schiedene Dimensionen einer Vielsprachigkeit. 7 Zum einen schildert er die dichterische Sprache als dasjenige Medium, in dem der Geist bzw. das Denken 8 erfassbar wird. Norwid schreibt in seinem historischen Blick auf verschiedene 344 Anja Burghardt <?page no="345"?> 9 „Słowo wchodzi w historię“ (so viel wie „Das Wort tritt in die Geschichte ein“, 316) bildet nach ersten allgemeineren Überlegungen zur Natur des Wortes den Auftakt zu den historischen Etappen, den jeweiligen Ausprägungen des Wortes und dann auch des Buchstaben. 10 Mayenowa (1991) analysiert das Fragment in Hinblick auf die Aussagen zum Stil und ordnet Norwids Position historisch auch in die damit verbundenen Sprachkonzeptionen ein (s.-u.). Völker und ihre Sprachen 9 ausführlicher zunächst von der griechischen Dich‐ tung, diese betrachtet er als Schriftsprache einer Kultur, die von der Gemein‐ schaft bestimmt ist: W sztucznym rytmie poetów oddźwiękują Językiem narodowym wszech-narzecza ras w pełnej swej harmonii i wszech-stany serca człowieczego; i tak pieśń się rozpływa po wnętrznościach narodu, urabiając jakby całość ducha. („Słowo i litera“, 317 f.) Im künstlerischen Rhythmus der Dichter erklingen als Volkssprache Alle-Mundarten der Rassen in ihrer vollen Harmonie und Alle-Zustände des menschlichen Herzens; und so zerfließt das Lied im Inneren des Volkes, und formt gleichsam die Ganzheit des Geistes. (Norwid s.a.: 317 f.) Im Mittelpunkt von Norwids Überlegungen stehen also die literarischen Texte, und zwar insbesondere die Dichtung mit ihren Rhythmen. Diese Texte sind voller Harmonie und umfassen die Vielseitigkeit der Ausdrucksformen ebenso wie sie alle menschlichen Stimmungen („wszech-stany serca“) erfassen. Dich‐ tung hat demnach eine synthetisierende Funktion. Das impliziert insofern eine Vielsprachigkeit, als sie Dialekte mit einschließt - sofern man nicht gar die Idiolekte hinzuzählen möchte. Zudem ist sie einer gewissen Gesellschaftsord‐ nung verbunden, wie Norwid in der weiteren Reflexion über das Griechische hinzufügt (vgl. 318). Das Wort des Volkes, wie es in der Dichtung zum Ausdruck kommt, so konstatiert er hier, ist die Allseitigkeit des Denkens eben dieses Volkes. Das dichterische Wort, das das Volks-Wort in eine Harmonie fügt, hat die Eigenheit, dass Form und Gehalt einander wechselseitig erfüllen. Nicht nur der Dichter, sondern alle Angehörigen dieses Volkes erschaffen in ihrem jeweiligen Sprachgebrauch den greifbaren Ausdruck des Volkswortes (słowo-narodu), was Norwid als seinen ,Stil‘ bezeichnet. 10 Zwar ist es so das „Innere“ eines bestimmten Volkes, das in der Dichtung nach außen tritt; Norwid schreibt den Eigenarten eines Volkes gegenüber anderen Völkern aber offenbar eher marginale Unterschiede zu, die mit der jeweiligen historischen Entwicklung zu tun haben. Angesichts der menschlich-sprachli‐ chen Gesamtentwicklung, die er hier andeutet - vom Firmament als erstes Alphabet bis hin zur gegenwärtigen polnischen Sprache, die er in verschiedenen „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 345 <?page no="346"?> 11 Für ein Verständnis von diesem Aspekt des Fragments ist das Poem hilfreich: laut dem Poem ist die Ausdruckskraft explizit bereits im Buchstaben angelegt; Norwid dürfte also bereits dem Buchstaben einen Ausdrucks-Charakter beilegen. Da das Wort den psychischen Akt mit dem Sehen verbindet, ist es die Verbindung zwischen Innenwelt und der gegenständlichen, sinnlich wahrnehmbaren Welt (vgl. 325), und die ist - so darf man wohl schließen - von Volk zu Volk (ein Stück weit) verschieden. Zur Verdeutlichung: Universal sind die Grundstrukturen von Sprachen und letztlich des Denkens, was variiert sind die - lexikalisch gebenen - Wortverbindungen und Wirklichkeitsausschnitte. erläuternden Beispielen anführt - unterscheidet der Grad an Ausdifferenzierung verschiedene Sprachen voneinander. Beispielsweise tritt in der römischen Dichtung - analog der gewichtigeren Rolle von Individualität in der Gesellschaft - der Buchstabe (Norwid betont: plastisch) hervor. Die Elemente sind aber den früheren Sprachen analog, und ähnlich wie in dem Zitat, läuft die Betrachtung einer Sprache dann immer auch auf ein Erfassen des Geistes hinaus. Das wird in der Art und Weise deutlich, in der Norwid den Ausdruck des Wortes fasst, der in verschiedenen Künsten greifbar wird. Dafür ist wesentlich, dass er (wie bereits erwähnt) das gesprochene Wort zum Ausgangspunkt seiner Reflexion nimmt: Das Wort ist ein Akt, in dem Gehalt und Form nahezu gemeinsam gegeben sind (311). 11 Ehe das Wort ausgesprochen ist, kommt nur der eine Aspekt zum Tragen, dass es gewissermaßen ein ,mentaler Akt‘ ist. Der andere Aspekt des natürlichen Wortes ist das menschliche Empfinden im Moment des Aussprechens, man könnte das als sensorisch-taktilen „Bestandteil“ des Wortes fassen. Schließlich gibt es das „akustische Überwölben“ des Wortes („akustyczn[e] … osklepieni[e słowa]“, ibid.), womit Norwid offensichtlich an alle Aspekte denkt, die in der Sprechakttheorie mit den verschiedenen Wirkungen von Aussagen auf die Adressaten (die Perlokution, vgl. Austin 1975: 101-108) bzw. im Fall performativer Akte als die wirklichkeitskonstitu‐ ierende Wirkung von Sprechakten erfasst werden. So finden beispielsweise Worte des Befehls und der Verordnung in den Baudenkmälern („pomniki“, 313) ihren Ausdruck. Norwid wechselt dabei zwischen Fragen der Gegebenheit der Sprache (Art des Alphabets oder auch ihre Grundelemente) einerseits und ihren Funktionen andererseits: die drei Spielarten der musikalischen Natur im „temperamentvollen Wort“, als das er das Rasse-Wort bestimmt, nämlich Akzent, Ausruf und musikalisches Motiv (316), die dann im Volks-Wort einen spezifischen Ausdruck erhalten (vgl. 320). Diese Wechsel unterstreichen, dass seine Reflexion dem Gebrauch der Sprache in einem sehr umfassenden Sinn gilt. Das zeigt sich beispielsweise auch in seiner Begründung, dass bei den Phöniziern Schiffsbau und Seefahrt zur Entdeckung der Astronomie führten (man benötigte eine Orientierung auf See), die den Sternenhimmel gleichsam „entzifferte“ - in 346 Anja Burghardt <?page no="347"?> 12 Siewierski (2003) legt Norwids Semantisierung von Buchstabe und Wort dar; vgl. auch Zehnder (2022: 252), der sich allerdings insgesamt auf die praxeologischen Aspekte von Norwids Sprachkonzeptionen konzentriert. 13 Hier zeigt sich eine der Parallelen zu Schlegels Traktat über das Indische (1808), für das der deutsche Philosoph konstatiert, hier fänden sich die Annalen einer „ursprünglichen Naturbedeutung der Buchstaben“ (42). diesem Sinne bildete der Sternenhimmel das Alphabet der Seefahrt. Hier wurde also das Alphabet entdeckt (wohlgemerkt: nicht erfunden), das dann später in ein geschriebenes Alphabet überging. Die mit der Betrachtung der Gebäude als Konsequenz von Äußerungen und so mit der Sprache verbundene Nähe zwischen Sprache und Architektur begründet Norwid zudem über die elementaren Formen und Laute (oder auch: „Erstformen und Erstlaute“: „pierwokszałty i pierwogłosy“, 313). Derer gebe es genau fünf: den geometrischen Formen Dreieck, Ellipse, Vertikale, Kreis und Quadrat ordnet er entsprechende dreidimensionale Körper zu: Pyramide, Obelisk, Zirkus bzw. Pantheon und Quadrat, denen wiederum die Vokale (A, E, I, O & U) entsprächen, was sich mit den arabischen Ziffern verbinden lässt (1-5 führt er an). Später fügt er die römischen Zahlen in die verschiedenen Disziplinen bzw. Künste ein (323) - man könnte das zusammenfassend als ,geistige Ausdruckformen‘ bezeichnen. Dabei verweist Norwid auf das notwendig Gegebene: die Entsprechungen zwischen den verschiedenen Zeichenarten und den mit ihnen verbundenen Künsten und Wissensbereichen sind v. a. von Formähnlichkeiten getragen (besonders deutlich bei den geometrischen Beispielen und Vokalen, z. B. die Zuordnung des Kreises zum O, des Obelisken zum I). Er geht hier offenbar davon aus, dass diese elementaren Zeichen gleichermaßen in Natur und Kultur angelegt sind. 12 Indem er der Natur diese elementaren Zeichen beilegt, aus denen sich letztlich die verschiedenen Sprachen der Menschen entwickelt haben, für Norwid also in diesem Sinn die Sprache aus der Natur hervorgeht, erscheint der Verweis auf die verschiedenen Sinneswahrnehmungen zugleich als ein Verweis auf verschiedene „Sprachen“. 13 Norwid führt den Buchstaben als Verbindung zwischen der Außenwelt und der gedanklichen Welt ein, wobei er (als Schrift, Rhythmus, Plastik, Sprache und Würdigung der irdischen Güter) alle Sinnes‐ wahrnehmungen umfasst (322 f.); bereits zuvor erwähnt er das Riechen (oder Wittern: „zaczucie“, 316) als eine angeborene Eigenschaft aller Geschlechter („plemiona“), die sie voneinander unterscheidet. Letztlich ist so die ganze Welt vielsprachig. Wie erwähnt, betrachtet Norwid in „Wort und Buchstabe“ die historische Entwicklung der Sprachen, 14 die bei jedem Volk um einzelne Aspekte reicher ist als bei dem vorangegangenen. In der Passage über die Sprache im antiken „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 347 <?page no="348"?> 14 Grundsätzlich betont Felisiak 2019 die Bedeutsamkeit historischer Entwicklungen für Norwid, vgl. insbesondere 293-308; ausführlich zur „radikale[n] Geschichtlichkeit“ von Norwids Poesie Fieguth (1981: 25). 15 Häufig wird Norwids Œuvre in die Tadition der romantischen Ironie eingeordnet, Ronge (2019) schlägt eine entsprechende Lesart seines lyrischen Hauptwerks Vade-mecum vor; vgl. auch Kołaczkowski (2021), der ,Ironie‘ als Haltung des Dichters der Welt gegenüber versteht. Auf die romantische Ironie (auch mit einem verglei‐ chenden Blick auf die deutsche und polnische Spielart) gehe ich ausführlicher in einem Aufsatz zu Słowacki ein (Burghardt 2022). Rom, also über das „Zivilisationswort“ („słowo-cywilizacji“, eingeführt 321 f.) betont Norwid eigens, dass man sich erinnert fühlen mag an seine Ausführungen über die Grundformen, merkt aber an, dass es in der ersten Passage um das gesellschaftliche Wort ging, hier hingegen geht es um den Buchstaben und seine Bedeutung für den Menschen. So holt er die in seinen Augen so wesentliche historische Entwicklung ein: denn jede Gesellschaftsform erhält damit ihre jeweils spezifischen Ausdifferenzierungen der Künste oder menschlichen Aus‐ drucksformen und die diesen entsprechenden Träger. Diese - und hier kommen die Vielsprachigkeit und deren Nähe zum Denken ins Spiel - sind unterschied‐ liche, im Prinzip aber einander analoge Ausdrucksformen des Geistes bzw. im Denken. Zwischen den einzelnen Sprachen und Völkern divergiert, was jeweils in einem Ganzen umfasst wird, wie weit das Ganze „aufgesplittert“ wird (erst mit Rom kommt der Buchstabe als plastische Ausdrucksform ins Spiel, für das Griechische spielt er offenbar keine Rolle). Im Prinzip aber geht es stets um das Verhältnis zwischen Sprache und Idee, also den Ausdrucksgehalt der einzelnen Elemente. Diese Verbindung von Sprache und Idee lässt sich weiterführen zum Geist: dass hier der Geist (durchaus im Sinne des Göttlichen) die letzte Erklärung darstellt wird einerseits über die Erläuterung der fünf Urformen oder Grundele‐ mente deutlich, andererseits klingt es in dem Zitat im Titel des vorliegenden Beitrags mit der Rückbindung von Sprache an das Firmament an, das für die Menschen das erste Alphabet darstellte und dem alle späteren nachempfunden sind. Als graphische Äquivalenz der Laute durchdringen diese Grundformen das gesamte Kulturschaffen der Menschheit. Jedes Volk mag andere Akzente setzen - insgesamt betrachtet, erweisen sich die unterschiedlichen Äußerungen als eine Vielsprachigkeit des Geistes. Norwid entwirft so ein Verhältnis von Buchstabe und Wort, das - wie manche Spielarten der romantischen Sprachreflexion - ein unmittelbares Zusammen‐ spiel von Teil und Ganzem bedeutet. Bekannt ist das v. a. von Schlegels Poesie- und Ironie-Begriff: 15 Grundlage sind vielfältige Wechselbeziehungen, die letzt‐ lich darauf hinauslaufen, dass sich das Ganze der menschlichen Erkenntnis nie 348 Anja Burghardt <?page no="349"?> 16 Dabei geht es nicht um eine strikte Trennung, Ziel sei es, auf „das jeweilige entschei‐ dende geistige Zentrum“ hinzuweisen (Fiesel 1927: 131). erschließen lässt, denn diese einstige Ganzheit ist unwiederbringlich verloren. Was den Menschen zugänglich ist, sind immer nur Ausschnitte, Bruchstücke, Momente - das Ganze ist also immer nur fragmentarisch gegeben. Das Fragment aber ist für Norwid immer ein in-sich-Ganzes, und (auch über Norwid hinaus, einer Reihe von Dichtern zufolge) das Fragment kann mit seinem eigenen kunstvollen Reiz in stets neuer Betrachtung zu einer Annäherung an ein Erfassen des Ganzen herangezogen werden. Dabei zeigt sich, dass die Sprachen sowohl Teil der Menschheitssprache sind als auch jede für sich in verschiedenen Hinsichten vielsprachig. 2. Zur Reflexion über Sprache in der Romantik Obgleich im Mittelpunkt des Aufsatzes die Vielsprachigkeit der polnischen Romantik steht, werde ich in meinen weiteren Ausführungen immer wieder auch auf die deutsche Romantik eingehen, denn diese wurde in Polen nicht nur rezipiert, sondern war auch sehr einflussreich. Eine systematische Unter‐ suchung der Rezeption der polnischen Romantik ist allerdings ein Forschungs‐ desiderat, so dass im Weiteren auf Ähnlichkeiten oder Parallelen verwiesen wird. Dieser Abschnitt soll skizzieren, dass in der Epoche der Romantik sowohl das Interesse an Sprache vielfältig war, als auch (mehr oder minder eng damit verbunden, wie bereits im ersten Abschnitt zu Norwids „Wort und Buchstabe“ anklang) dass verschiedene Vorstellungen von Nation bzw. Volk nebeneinander existierten. Dementsprechend problematisch sind allzu klare Kausalbezüge bzw. als stringente Entwicklungen dargestellte Ausbildungen einer bestimmten romantischen Sprachauffassung. Die zeitliche Differenz zwischen der deutschen und der polnischen Romantik ist für die vorliegenden Ausführungen insbesondere in Bezug auf Sprachkon‐ zeptionen relevant, denen zufolge die Sprache eng mit Denken und Geist, und darüber hinaus mit der Geschichte verbunden wird. Wie sowohl Eva Fiesel (1927) als auch Jochen A. Bär (1999) betonen, durchzieht die Sprachreflexion in der Romantik diejenige über den ,Geist‘ und ist entsprechend weitgreifend. Dabei sind in der polnischen Rezeption die Unterschiede im Erkenntnisinteresse und der Weltsicht zwischen den einzelnen Phasen der Romantik, die Fiesel in ihrer nach wie vor maßgeblichen Studie zur Sprach-Auffassung der deutschen Romantik herausarbeitetet, nicht klar zu trennen. 16 Fiesel differenziert zwischen der transzendentalen (oder frühen) Romantik, die Novalis, Hölderlin und die „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 349 <?page no="350"?> 17 Humboldt und A.W. Schlegel gingen von prinzipiellen Gesichtspunkten aus und sollten „in den Arten der sprachlichen Formenbildung die jeweilige Bildungsstufe und national individuelle Ausdrucksform des menschlichen Geistes erkennen“ (Fiesel 1927: 221). Brüder Schlegel prägten; während Bernhardi für die Sprachphilosophie wichtig war, sei allgemein Fichte ein wesentlicher philosophischer Bezugspunkt dieser Phase gewesen. Die „diesseitige Romantik“, die sich nach Novalis’ Tod 1801 herausbildet und für die unter den Dichtern Brentano und Eichendorff promi‐ nent seien und nun Schellings Naturphilosophie zum zentralen Referenzpunkt werde, hebt Fiesel von der „Nachromantik“ als der Zeit der ,historischen Schule‘ ab (Fiesel 1927: 131). Erst für diese Phase der Romantik werde mit dem Interesse an geschichtlicher Entwicklung Herder wieder ein wesentlicher Bezugspunkt (ibid., 21); Wilhelm von Humboldt setzt sie gewissermaßen als verspäteten Vertreter in Herders Nachfolge: dieser hatte noch am „Ziel der Erkenntnis des Geistes durch das Medium der Sprache“ (215) festgehalten, diese Auffassung wich dann einer anderen, zunehmend der Naturwissenschaft angenäherten Auf‐ fassung von „Linguistik“ (216). 17 Während sich die transzendentale Romantik durch eine „Sehnsucht […], die endlichen Erscheinungen mit Unendlichkeit zu durchdringen und sie als Offenbarungen des Unendlichen anzusehen“ (129) auszeichnet, werden für die diesseitige Romantik „das Leben und die Geschichte“ (130) zum zentralen Forschungsgegenstand - oder, wie Fiesel an anderer Stelle pointiert: an die Stelle der „Sprache als Schöpfung“ tritt „die Sprache als in sich ablaufende Entwicklung“ (217). Geeint werden die Sprach‐ konzeptionen durch ihre Verankerung in der Religion (vgl. 188 f.) sowie durch eine „Philosophie des Schöpferischen“ (190). In der Nachromantik zeige sich dann eine „völlige Rationalisierung der Sprache“ (195) mit einer Ausrichtung auf die historische Entwicklung der Sprache. Für diese Zeit (ab den 1810er-Jahren) treten nationale Ideen, verankert in der Vergangenheit, in den Vordergrund (198), wobei die Auffassungen der früheren Romantik umgedeutet werden und eine Hierarchisierung der Sprachen einsetzt (205), besonders deutlich z. B. bei Fichte (vgl. 205-207) oder auch Savigny (209). Die Muttersprache wird zu einem auch in der Dichtung wichtigen Topos (205). Neben der Herausbildung einer zunehmend an der systematischen Erforschung der Einzelsprachen orientierten vergleichenden Sprachwissenschaft legt Fiesel die (auch von einer Kritik dieses neuen Rationalismus getragenen) Veränderungen in der Sprachkonzeption dar: Mit der Verschiebung von der Nation zum Staat, mit dem die Idee der Freiheit verbunden wird (vgl. 226 f.), tritt dann auch die Idee einer einheitlichen Volkssprache in den Vordergrund (vgl. 232-240). Sie unterstreicht dabei die Ausrichtung auf die Wirklichkeit; die Dichtung werde damit „Zeitpoesie“ (230). 350 Anja Burghardt <?page no="351"?> 18 Zu Kamińskis sprachphilosophischen Überlegungen vgl. auch Eberharter 2018: 316- 320. 19 Vgl. dazu beispielsweise im Zweiten Teil von Herders Ideen zur Philosophie der Ge‐ schichte der Menschheit das siebte Buch. Renata Mayenowa (1991) setzt für das Sprachverständnis in Polen mit dem Jahr 1830 folgenden Einschnitt an: Beginnend mit Jan Nepomucen Kamińskis Traktat über die Natur der Sprache, „Czy nasz język jest filozoficzny? “ (1830, Ist unsere Sprache philosophisch? ), 18 habe sich die Auffassung etabliert, Sprache nicht als konventionellen Code, sondern als Organismus aufzufassen (Maye‐ nowa 1991: 898). Das gehe mit einer Verschiebung in der Sprachbetrachtung einher, nämlich die von Goethe für den Stil formulierte Einheit von Inhalt und Form nicht mehr im Rahmen der Rhetorik, sondern als Frage der Sprachphiloso‐ phie zu betrachten (ibid.: 899). Norwids so selbstverständlicher Wechsel von der Sprache zum Stil erklärt sich daraus (318). Auch für die deutschen Reflexionen über die Sprache konstatiert Fiesel eine Verschiebung, beginnend mit dem Jungen Deutschland (zeitlich etwa Mitte der 1830er-Jahre), die sich als „Sprach‐ utilitarismus“ (232) fassen lasse. Mit der literarischen Prosa als bevorzugter Kunstform gehen Fragen nach dem Stil einher, insbesondere die Entsprechung von Form und Gegenstand (233 f.), weder im Sinne eines Akademismus, noch als schöpferischer Ausdruck, sondern gedacht vom Gegenstand her, der jeweils adäquat zum Ausdruck gebracht werden soll (vgl. 235), was eine Umsetzung in den literarischen Werken des Naturalismus finde (vgl. 239). Der von Fiesel ausgeführte Wandel des Verhältnisses von Sprache und Denken im Lauf der deutschen Romantik ebenso wie das wenig eindeutige Verständnis über das Verhältnis von Sprache und Volk bzw. Nation in der Epoche der Romantik (vgl. z. B. bei Fiesel 1927: 46 f.) dürften eine gewisse Vielfalt von Auffassungen in der Rezeption mit sich gebracht haben. Das derzeitige bedenkliche populistische Aufleben nationaler und nationalistischer Ideen verleiht den Reflexionen über Volk und Nation im 19. Jahrhundert eine erneute Brisanz (wobei in den aktuellen Debatten die Sprache eher mittelbar in den Blick rückt, und zwar im Zusammenhang mit Migration, Asyl und Einbürgerung). Meines Erachtens ist es nötig, sich bei der Lektüre romantischer Texte zur Sprache vor Augen zu führen, dass eine gewisse Unbestimmtheit dieser Kategorien und ihrer wechselseitigen Verhältnisse bestand und dement‐ sprechend nicht voreilig auf ihre Implikationen zu schließen. Domdey (1995) beispielsweise weist Herders Kulturbegriff (entwickelt in Abgrenzung gegen Voltaire, Diderot und Montesquieu) als einen Komplex aus Klima, Lebensweise und Sprache aus; an die Stelle von Universalien sei die Volksseele getreten (82). 19 Insbesondere nach der Französischen Revolution gelte Herders Interesse der den „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 351 <?page no="352"?> 20 Hagen Schulze (1994) stellt die Ursprünge des Nationsbegriffs in der europäischen Geschichte mit Bezug auf den französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan dar, der in einer Rede 1882 alle damaligen Bestimmungen von Nation widerlegt, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie „eine große Solidargemeinschaft“ ist. Diese setze eine Vergangenheit voraus und fasse sich in der Gegenwart in der „Übereinkunft […], das gemeinsame Leben fortzusetzen“ (Schulze 1994, 110 f.). Wie weitgehend die Kriterien für den Nationsbegriff im Lauf der Jahrhunderte variierten, legt Schulze im zweiten Kapitel dar (für die Herkunft des Begriffs und seinen anfänglichen Gebrauch vgl. 112 f.), wo er die Herausbildung von „zwei Nationalideen, die subjektiv-politische der Französischen Revolution und die objektiv-kulturelle der deutschen Romantik“ (171) nachzeichnet, die sich in der Herausbildung der Volksnation wechselseitig überlagert hätten. Zur „Erfindung der Volksnationen“ vgl. 172-208; einen wesentlichen Einschnitt habe in Deutschland die Rheinkrise 1840 mit sich gebracht, weil hier erstmals der Nationalismus als eigene politische Kraft in Erscheinung getreten sei (207 f.). 21 Schulze kontrastiert für die Zeit bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die „Staatsnation[en]“ Westeuropas (England, Frankreich und auch Spanien diskutiert er hier, vgl. 136-139) mit den „Kulturnationen“, die sich nicht an staatliche Institutionen anlehnen konnten; die deutsche Nation sei „vorerst ganz sprachlich-kultureller Natur“ (147; vgl. auch 170: die „Idee von der Nation als Kultur- und Sprachgemeinschaft“) gewesen. Im 19. Jahrhundert dann habe die Idee der Nation dem „Staat der industriellen Massenkultur“ (168) als Legitimation gedient, mittels derer verschiedene politische einzelnen Nationen übergeordneten Entwicklung hin zu den Universalien der Menschenrechte (vgl. 84 f.). Die von Herder in seinen - auch in Ostmitteleuropa extrem einflussreichen - Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) notierten Betrachtungen können also nicht mit dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich durchsetzenden Nationenbegriff gleichgesetzt werden (so einflussreich sie dafür gewesen sein mögen). Bär betont für die deutsche Romantik, dass insbesondere in der Frühromantik die Sprache nicht mit der Nation verbunden ist (Bär 1999, insbesondere 239 f.), man also nicht die Annahme eines (weitgehend homogenen) deutschen Volkes in Bemerkungen über die Nation, über das Deutsche bzw. über die deutsche Sprache hineinlesen kann. 20 Jana-Katharina Mende (2022a) unterstreicht die Mehrsprachigkeit vieler Menschen im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert (118). Die da‐ malige Sprachkritik verdeckte allerdings deren gegebene Spielarten. Erst durch die Gründung des Deutschen Reiches 1871 erhielt die „nationalistische Sprach- und Kulturkonzeption, die über die gemeinsame deutsche Sprache funktioniert“ eine staatliche Einheit (122). Für Ostmitteleuropa verweist sie summarisch darauf, dass sich die Nationalsprachen im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts herausbildeten (Mende 2022b: 143 f.; zu Polen: 144). Für Polen ist die Frage nach der Verbindung von Nation und Sprache insofern wesentlich, als die Bevölkerung in den Teilungsgebieten poly-ethnisch war, das Streben nach einem polnischen Staat wurde geographisch gefasst. 21 352 Anja Burghardt <?page no="353"?> Strömungen bzw. Ideologien eingebunden wurden, vgl. zur „Erfindung der Volksnati‐ onen“ im Lauf des 19. Jh. 172-189. Er unterstreicht, dass in Europa die „Mehrheit der Nationalsprachen […] erst im Lauf des 19. Jahrhunderts normiert, aus den vagen Regionen der volkstümlichen Umgangssprachen geschöpft“ wurde (176) und dass die Nationalsprachen in diesem Sinne erst von Philologen, Sammlern von Märchen und Dichtern erfunden wurden (175-177). Auch Stagl (2016) weist darauf hin, dass zwischen Völkern und Nationen nicht systematisch unterschieden wurde (1234). Fiesel (1927) schreibt die „Konstituierung der einheitlich hochdeutschen Sprache“ (237) dem jungen Deutschland zu (237 f.), zeitlich also Mitte der 1830er-Jahre. 22 Für die Darwin-Rezeption in Polen vgl. auch Schümann 2015. Wie Strzyżewski (2015) darlegt, erweist sich das Konzept der Volkskultur in der frühen polnischen Romantik, das aus Goethes Begriff der Weltliteratur hervorgegangen sei, als das einer offenen Kultur (456). Als Teil einer lebhaften Debatte um die Modernisierung der polnischen Kultur bildete sich eine pol‐ nische Identität anhand politischer, nicht ethnischer, Kategorien (453), wie er unter Verweis auf Andrzej Walicki betont (456). Tragend sei dabei das Verständnis des Nationalcharakters, das neben Montesquieu und Hume v. a. auf Herder zurückgeht, in Polen zudem von Hegel beeinflusst wurde (458) und über Schellings Philosophie gewisse mystische Züge erhielt (459). Diese be‐ griffliche Unbestimmtheit zeigt auch Kamionka-Straszakowa (1974) auf, indem sie die verschiedenen Spielarten von Auffassungen des Nationalcharakters (charakter narodowy) von den 1820erbis in die 1860er-Jahre nachzeichnet. Die Zusammenführung des Nationalcharakters mit Auffassungen über Brauch und Sitte (obyczaj), deren Rolle in Fragen von Geschichte und Nationalität (narodowość) und dem Geist des Volkes (duch narodu) brachte bereits eine vieldeutige Ausgangsbasis mit sich (vgl. 266-274 für eine erste Skizze dieser Begriffe). Ein wesentliches Moment in der Adaption der Auffassungen ist die Abkehr von der Naturphilosophie der Aufklärung hin zu einer Historiographie in der Romantik, was Konsequenzen für die Literatur hat, etwa bezüglich der Rolle des Dichters im Rahmen der romantischen Genie-Ästhetik oder bezüglich der Auffassungen über die Volkskunst. Wie in der Analyse von „Wort und Buchstabe“ verdeutlicht, nimm auch Norwid in diesem Fragment keine Gleich‐ setzung von Sprache und Nation vor, d. h. die polnische Nation wird nicht auf die Polnisch-Sprechenden beschränkt. Felisiak (2019) beispielsweise unterstreicht Norwids anti-nationalistische Haltung in Bezug auf das Volk (298; vgl. auch 293 f.). Warren (2021) verankert das wachsende Interesse an einer Rückbindung der Nation an ethnische Zugehörigkeit, das erst nach der Veröffentlichung von Darwins Schriften eine Verbreitung fand, im späteren 19. Jahrhundert (293 f.). 22 Wie er ausführt, lehnte Norwid solch eine Verankerung des Volkes in der „Rasse“ ab (295-298 diskutiert er Norwids Auffassung des Begriffs). „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 353 <?page no="354"?> 23 Vgl. zu Mehrsprachigkeit im 19. Jahrhundert vorrangig linguistisch auch die Beiträge in dem von Foeldes und Roelcke (2022) herausgegebenen Handbuch, literarisch die Fallstudien in dem von Mende (2023) herausgegeben Band. 24 Auf Schleiermacher gehe ich im Abschnitt zum Übersetzen ein (3.3); vgl. auch den Abschnitt 3.4 zur historisch und regional bedingten Mehrsprachigkeit. Haas (2015) betont eine Ablehnung des Sprachpurismus für Jacob Grimm (1053 f., insbes. Anm. 67). Er betrachtet dessen Grammatik bzw. seine Sprachgeschichte als eine Material‐ sammlung (vgl. z. B. 1040) und legt dar, dass Grimm damit „zu einem der führenden Köpfe des Paradigmenwechsel von der normativen zur historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft“ wurde (1041; zur histor. Sprachwissenschaft und zum Umfang von Grimms Arbeit, die sich über 20 Jahre erstreckte, vgl. 1040-1042). Mit dem Gedanken, dass flektierende Sprachen, also „Sprachen mit synthetischer Flexion“ (1052), welche die Romantiker als „komplexe Symbolisierung“ (ibid.) auffassten, der „vollkommenste Ausdruck des Denkens“ seien (ibid.), sei dann eine Hierarchie zwischen den Sprachen ins Spiel gekommen. Fiesel betont allerdings die Veränderungen, die die Sprachbetrachtung mit der „diesseitigen Romantik“ erfuhr, wo - und in diese Phase der Romantik fällt Grimms Grammatikarbeit - die Sprachgeschichte nicht mehr das Sprachganze ins Zentrum stellte (so unerreichbar es war), sondern das Besondere der Sprache darin sah, dass sie - wie im Übrigen alle kulturellen Erzeugnisse - Spuren ihrer Geschichte in sich trägt. Für die Vielbzw. Mehrsprachigkeitsforschung ist eine Auseinandersetzung mit der Romantik hinsichtlich des „monolingualistischen Paradigmas“ von Interesse, denn Yildiz (2012) legt nahe, dass es in den Sprachkonzeptionen der Romantik (7-9) angelegt war; Taylor-Batty und Dembeck (2023) unterstreichen die institutionellen Grundlagen, die letztlich auf einem monolonguistischen Paradigma beruhen (12-14). Till Dembeck (2017) weist allerdings auf „durchgän‐ gige Phänomene von Sprachwechsel und -mischung“ (135) hin, Schmitz-Emans (2004) beispielsweise führt die Studie von Wilhelm Friedrich Genthes zur macaronischen Poesie von 1836 als Beleg für ein intensiviertes Interesse der Literaturwissenschaft an vielsprachiger Dichtung ab den 1830er-Jahren an (11). Genthes habe sich zwar auch auf Humboldts Konzeption der Muttersprache be‐ zogen, allerdings ohne das damit verbundene Wertungssystem zu übernehmen und in Verbindung mit einer Würdigung „gemischt-sprachige[r] ästhetische[r] Phänomene“ (20). 23 Mit Blick auf die Sprachen wird in verschiedenen romantischen Texten deutlich, dass für deren Entwicklungen von einer Teleologie ausgegangen wird. Das geht aber nicht notwendig zusammen mit einer Vorstellung von sprachlicher Reinheit. 24 Veränderungen einer Sprache entstehen wesentlich aus den Einflüssen von anderen Sprachen und so dürften für die Romantiker auch künftige Weiterentwicklung der Sprache u. a. auf Übernahmen aus anderen Sprachen beruhen, sei es in Form von Sprachmischung, sei es als Lehnüberset‐ 354 Anja Burghardt <?page no="355"?> 25 Die drei Übersetzer, deren Schaffen Eberharter (2018) analysiert, mussten sich das Polnische umfassend aneigenen, um es für ihre literarischen Übersetzungen nutzen zu können (vgl. z. B. 369). 26 Knauth (2004) fasst diese Form von „Mischsprachen“ sehr weit: mit ihren Nachah‐ mungen sei Literatur grundsätzlich einer impliziten Fremd- und Mehrsprachigkeit ausgesetzt, wobei der anders-sprachige Intertext als Palimpsest lesbar bleibe (85). zungen. Wie sehr in der Romantik Sprach-Reflexionen von Vielsprachigkeit geprägt sind, soll im folgenden Abschnitt deutlich werden. 3. Aspekte der Vielsprachigkeit in der polnischen Romantik In der polnischen Kultur der Romantik ist Vielsprachigkeit allein durch die Tei‐ lungen gegeben sowie die sogenannte Große Emigration nach der Niederschla‐ gung des Novemberaufstands 1830-1831 mit Paris als kulturellem Zentrum. Neben Französisch waren also Russisch und Deutsch Sprachen, mit denen die Polinnen und Polen unmittelbar zu tun hatten und die v. a. auch Bildungssprache waren. 25 Piechota (2016) weist, wie bereits erwähnt, darauf hin, wie viele Spra‐ chen die wichtigsten polnischen Dichter kannten; es ist davon auszugehen, dass Ähnliches für andere Angehörige der gebildeten Schichten galt. Im Kontext der Intertextualität spielen solche anderen Sprachen (insbesondere das Deutsche) eine Rolle. Abgesehen davon steht im Weiteren aber die Frage im Mittelpunkt, inwiefern das Polnische (verstanden als eine Sprache, die natürlich ein Spektrum an Varietäten aufweist) als in sich vielsprachig betrachtet werden kann. 26 3.1 Intertextualität In Bezug auf Intertextualität beschreibt die zweisprachige Autorin Terézia Mora (2016) in ihrer Poetikvorlesung Zitate aus der ungarischen Literatur als eine Form der Mehrsprachigkeit. Das Besondere dieser Zitate liegt darin begründet, dass ein Gutteil der Leserschaft sie nicht bemerken wird. Indem die Zitate Wörter, Wendungen, oder auch Ideen aus der - in ihrem Fall - „versteckten“ ungarischen Literatur in die deutsche einführen, entsteht eine mehrsprachige Literatursprache. Diese intertextuellen Anspielungen unterscheiden sich inso‐ fern von einsprachigen, als sie ganz anders Brüche im Text verursachen: beispielsweise gehen sie mit überraschenden Themenzusammenstellungen oder Motivwechseln einher, die im Kontext des Originals gründen. Sie bringen so eine gewisse Rätselhaftigkeit mit sich oder zumindest Verbindungen, die sich bei einem einsprachigen Lesen nicht leicht erschließen. Der Typologie Blum-Barths „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 355 <?page no="356"?> 27 In polnischen Grammatiken aus dem 19. Jahrhundert, findet sich eine Unterscheidung von Laut und Buchstabe erstmals 1863, wie Toruń (2003: 111-113) als Hintergrund für seine Diskussion von Norwids Modellierung des Verhältnisses zwischen beidem darlegt. Für Norwids Frühwerk weist er auf eine Parallele zu Herders Auffassung des „gezähmten“ Buchstabens in dessen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit hin. 28 Ich beziehe mich hier auf Tomalins (2009) Monographie über William Hazlitt (1778- 1830). Die 1808 erstmals publizierte Grammatik wurde mit zwei Veröffentlichungen 1867 und 1868 wieder in Erinnerung gerufen (14), von den 1880er-Jahren an blieb sie bis ins 20. Jahrhundert hinein prominent (vgl. 15; für die Rezeption vgl. 14-22). Tomalin zu‐ folge entstand das philosophische Interesse an natürlichen Sprachen im 18. Jahrhundert im Zuge der Trennung zwischen philosophischen und Unterrichts-Grammatiken (30- 38). In Polen wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche Fragen über Sprache (bzw. Vorformen der Linguistik) im Rahmen der Grammatiken diskutiert (Urbańczyk 1991: 396). Auch in Polen gab es bis 1830 Orthographie-Diskussionen (Walczak 1999: 229; Mizerski (red.) 2000: 225). 29 Am Ende einer von Norwids Reflexionen über das Übersetzen steht ein Zitat von Abraham Cowley, der neben Poemen und Gedichten einen Traktat über Bildung schrieb. Ich nehme das als Hinweis darauf, dass er sich mit diesem Thema während seiner Exilzeit befasste. 30 Zum Übergang von Form zu Charakter vgl. im Kapitel zur Frühromantik Fiesel 1927: z. B. 65 f., für Schlegels Überlegungen zum Symbolchrakter der Schrift 83, 84 zu Novalis. Einen (auflistenden) Überblick über die Novalis-Rezeption in Polen gibt Jaroszewski 2000. 31 Wie Felisiak (2019) anmerkt, enthält die noch nicht fertiggestellte neue Werkausgabe viele bisher unveröffentlichte Texte (270), die z. T. weiter Aufschluss geben dürften über mögliche Prätexte. Vieles dürfte aber verloren sein. In seiner Kritik verschiedener Aspekte der deutschen Romantik beispielsweise schreibt Norwid unspezifisch von „der deutschen Philosophie“ („filozofia niemecka“). (2021) zufolge sind unmarkierte Zitate eine Form der latenten Mehrsprachigkeit (78 f.). In dem Eingangszitat aus Norwids Poem Freiheit lässt sich diese Form der Mehrsprachigkeit an dem Verhältnis von Buchstabe und Wort festmachen, von dem Norwid explizit sagt, es sei für das Polnische nicht konsequent genug verfolgt worden. 27 Damit markiert er die Anregung aus anderen Quellen. Wenn er in dem Poem an einer Stelle vom Buchstaben zur Orthographie wechselt (vgl. den Beginn des XIII . Abschnitts), mag sich hier ein Einfluss von englischen Diskussionen um den Lateinunterricht, Grammatik und Orthographie 28 zeigen (1852-1854 lebte Norwid in London und New York). 29 Verschiedene Termini und thematischen Übergänge in Norwids Poem legen in ihrer Parallelität einige Schriften der deutschen Frühromantik als Prätexte nahe, 30 wenn sich auch nicht mit Gewissheit sagen lässt, ob Norwid sie aus eigenen Lektüren kannte. 31 In Norwids Fragment „Wort und Buchstabe“ ist das z. B. der überraschende Übergang vom Buchstaben zur Architektur, verbunden 356 Anja Burghardt <?page no="357"?> 32 Kasperski (2003) betrachtet in seiner Parallellektüre von Schlegel mit Norwids Meta-/ Lyrik in erster Linie Schlegels Schriften zur Universalpoesie; er markiert Vico als den wichtigeren Einfluss auf die damaligen Poetikkonzeptionen in Polen (97). 33 Zehnder diskutiert neben verschiedenen Schriften von Schlegel über den Buchstaben aus den Philosophischen Fragmenten Fichtes Abhandlung „Über Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen. 1794“ (253-258). mit einem Verweis auf die Phönizier und ihre Wanderung. Nichts in dem Fragment erklärt diese Zusammenstellung näher. Sie findet sich allerdings in Friedrich von Schlegels Abhandlung über das Indische (Schlegel 1808). 32 Im Indischen zeige sich eine „ursprüngliche Naturbedeutung der Buchstaben“ (42). Das dritte Buch, „Historische Ideen“, beginnend mit einem Kapitel „Vom Ursprung der Poesie“, verweist auf die Zuverlässigkeit der Sprachen als Denkmal aufgrund ihrer (vergleichsweise großen) Stabilität: Die alten Sprachen, deren Stammbaum wir von der Wurzel bis zu den Hauptstämmen im ersten Buche zu verfolgen suchten, sind eine Urkunde der Menschengeschichte, lehrreicher und zuverlässiger, als alle Denkmale in Stein, deren halbverfallne Rie‐ sengröße die späte Nachwelt […] mit Erstaunen betrachtet. (Schlegel 1808, 157; Unterstreichung: A . B .) Im Weiteren konstatiert Schlegel eine Kontintuität von Sprache, Denken und Architektur, die er zudem mit den Wanderungsbewegungen (und damit der Geschichte der verschiedenen Völker, ihrer wechselseitigen Einflüsse und eventuellen Assimilationen) verbindet (vgl. 174 f.). Möglich, dass Norwid darauf zurückgreift. Möglich allerdings auch, dass hier ein gemeinsamer biblischer Prätext zum Tragen kommt und weitere Ebenen dieser latenten Mehrsprachigkeit eröffnet. Denn Christian Zehnder (2022) diskutiert für Norwids Buchstabenkonzeption die „paulinische Opposition zwischen Geist und Buchstabe“, die dann im deutschen Idealismus und in der Frühromantik „von einem theologischen Topos in ein allgemeines hermeneutisches Problem umgedeutet“ wurde (249). Indem er Norwids Dichtung auf Ähnlichkeiten und Kritik zu den entsprechenden Texten befragt, 33 arbeitet er den Charakter des Buchstabens in Norwids Poetik heraus (249-262): „Norwid liest den Buchstaben neu als Bedingung der Gabe überhaupt, die von reiner Geistigkeit und Inspiration stets verfehlt werde.“ (262) Inhaltlich zeigen sich in Norwids Fragment sowie in seinem Poem einige Par‐ allelen zu weiteren Themen in Sprachbetrachtungen der deutschen Romantik. So versteht er in den beiden hier untersuchten Texten das Wort als einen Akt, etwas, das Fiesel als Charakteristikum frühromantischer Sprachauffassungen anführt (z. B. 12-14). Des Weiteren fallen für die Romantiker Wort, Silbe und „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 357 <?page no="358"?> 34 Für diese Engührung von Graphem und Phonem vgl. Fiesel 1927: 91; das Schriftbild der Worte verstanden die Romantiker als Ausgangspunkt für den Laut. 35 Fiesel (1927) setzt davon die Suche nach der ursprünglichen Sprache bei der ,dies‐ seitigen Romantik‘ ab, wie sie u. a. in Wilhelm von Humboldts Schriften gegeben ist. Die Hinwendung zu den historischen Sprachstufen geschieht mit dem Ziel, aus einem historischen Rückgang auf die erste und damit den Ursprung aller Sprache zurückzukommen (134; 153-155). Laut nahezu zusammen; insbesondere den Vokalen kommt mit ihrer Nähe zum Hauch (und der Luft als dem Medium des Geistes) ein Symbolwert zu (Fiesel 1927: 84-88, 91-102). Ebenfalls in diese Nähe rückt Norwirds Verweis auf die Phönizier, in deren Schriftzeichen letztlich die Spuren des Firmaments eingeschrieben seien, wobei er den Vokalen in dieser frühen Sprachstufe eine mystische Verkörperung des Hauchs zuschreibt (Norwid s.a.: 315 f.). Ein Cha‐ rakteristikum, das Fiesel für das Sprachverständnis der deutschen Frühromantik herausstreicht, klingt hier an, nämlich dass den Lauten (bzw. Buchstaben 34 ) der‐ selbe Status zugeschrieben wurde wie den Worten. Das Wort galt als „Schöpfung des Geistes“ (Fiesel 1927: 102), es bezeichnete also nicht bestimmte Gegenstände, sondern brachte etwas zum Ausdruck. Die Frühromantiker betrachten das „schöpferisch ausgesprochene Wort“ (106) als Möglichkeit, die Formvorgaben der sprachlichen Ordnung und den hier verlorenen Bedeutungsreichtum der ursprünglichen Sprache zu überwinden. Wie oben dargelegt, verweist auch Norwid in seinem unvollendeten Text über das Wort und den Buchstaben auf alle Sinne, neben Sehen und Hören, auch auf das Tasten, den Geschmack und den Geruch. Wenn er den Buchstaben als Vermittlung zwischen Außenwelt und Denken versteht und sozusagen die gesamte Außenwelt mit dem geistig Erfassbaren verbindet, findet sich bei ihm eine der deutschen Romantik insgesamt vergleichbare „Idee von der ursprüng‐ lichen Einheit der Sprache. Die Vielheit der Sprachen wird zum Sinnbild für die Mannigfaltigkeit der Formen, in denen sich der Geist offenbart.“ (Fiesel 1927: 180) Eine Parallele dazu stellt die Grundvorstellung einer Natursprache dar, die sich in der deutschen Romantik am ausgeprägtesten wohl bei Novalis (Frühromantik) findet und für die zweite Phase der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Eichendorff. 35 Jede Suche nach einer Annäherung an die (gottgegebene) Ursprungssprache wird zu einer Annäherung an den Geist, ist nicht wirklich erreichbar, führt aber als steter Prozess immer wieder momenthaft zu weiterer Erkenntnis. Demnach wäre alle Sprache bereits viel‐ sprachig, weil sie - immer nur Fragment der ursprünglich größere Einheiten umfassenden Worte (und wohl auch Strukturen) - Teil hat an dieser universalen 358 Anja Burghardt <?page no="359"?> 36 Korpysz (2019) verbindet eine Untersuchung der Motive Komma und Jota in Norwids Œuvre mit der Wichtigkeit von Interpunktion allgemein für Norwids Dichtung. 37 Andrzejewski (2011) führt in seinem Aufsatz zum ,Dialog‘ zwischen Mensch und Natur in der Frühromantik aus, dass es „die Sprache als Immanenz der Natur, als Fähigkeit aller ihrer Teile zum Sprechen“ (19) zu erfassen gilt; für die Poesie ergebe sich daraus letztlich das Ziel einer Erneuerung der Natursprache (vgl. 22 f.). Sprache, die in die menschlichen Einzelsprachen gleichsam zersplittert ist. Die klanglichen Aspekte der Sprache sind (mit ihrer Nähe zur Musik) vor allem dasjenige Element, das Residuen der Universalsprache in die Einzelsprachen hineinträgt (Fiesel 1927: 24-31). In den lyrischen Texten zeigt sich diese Idee der Natursprache neben der phonologischen Ebene v. a. in der Bildlichkeit, da hier die Sprache derart gestaltet wird, dass sich Gedanken eröffnen, die sich dem Begrifflichen bzw. der klaren Zuordnung des Wortes zu einer Sache entziehen (Fiesel 1927: 35 f.). In Norwids Lyrik finden sich sowohl lautlich experimentelle Aspekte als auch eine eigenwillige und vielfältig ausdeutbare Bildlichkeit. Beispielsweise durchzieht den Zyklus Fortepian Szopena (1863-1864, Chopins Klavier) das Bild einer reifen Ähre, die zerstiebt: die Vollendetheit, die sie „zerfegt“ wird in dem Zyklus als etwas ausgesprochen Schönes beschrieben. Das fügt sich in Fieguths Charakterisierung von Norwids Poetik als einer Abkehr vom Ideal des geschlossenen, ,vollendeten‘, über alle Zeiten hin fortbestehenden Kunstwerks, und einer Hinwendung zu einem Kunstkonzept als „Ausdruck des Transitorischen aller Poesie“ (Fieguth 1981: 25). Abgesehen von der vieldeutigen Bildlichkeit ist in diesem Zyklus die Interpunktion auffällig, die sich mit vielen Gedankenstrichen, Auslassungspunkten als Aufzeichnen von Intonation und Sprechen lesen lassen. 36 Für die deutsche Frühromantik tritt das bereits erwähnte allumfassende Moment der Natursprache in der Musik, die unter den menschlichen Ausdrucksformen deren ,Universalität‘ am nächsten kommt, klarer hervor als bei dieser bildlich-imaginativen Seite. Eine verwandte musi‐ kalische Seite der Sprache ist also auch bei Norwid gegeben. Der in der Romantik ausgeprägten Vorstellung von verschiedenen Ausdrucksformen komplementär, findet sich eine Parallele in Norwids Poem Freiheit, wenn es an einer Stelle im Anschluss an die Aufzählung verschiedener Sprachen und Dialekte heißt: „Jede Sprache erweist sich irgendwo als arm.“ ( XII , vgl. 156: Każdy język okaże się w czymś niebogaty! , w. 102.) 37 Die Nähe von Sprache und Geist, die die deutsche Romantik durchzieht, tritt zudem in einer intertextuellen Ebene innerhalb der polnischen Literatur hervor, nämlich zu Juliusz Słowackis unvollendetem Poem Król-Duch (König-Geist), das in der Gesamtanlage des Poems Freiheit anklingt. 38 Folgt man also intertextu‐ „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 359 <?page no="360"?> 38 Norwid hielt 1860 eine öffentliche Vortragsreihe über Słowacki: „O Juliuszu Słowackim w sześciu publicznych posiedzeniach“, 1861 in Paris veröffentlicht; auf den großen Einfluss Słowackis auf Norwid (insbeseondere dessen Poeme) weist Samsel (2022a: 400) hin. 39 Vgl. zur europäichsen Märchenforschung Stagl (2016). 40 Im Vergleich zu der im vorangegangenen Abschnitt für die Sprachvorstellung der deutschen Romantik betrachteten Einheit der Sprache aufgrund ihrer Verbindung mit dem Geist bzw. Denken ist das Sprachverständnis, das dieser Tätigkeit zugrunde liegt, zeitlich später anzusetzen. Vgl. zu Übersetzungen in der deutschen Frühromantik auch Bär 1999, 257-275. ellen Dimensionen, die auf Texte in verschiedenen Sprachen verweisen, tritt die extreme Mehrsprachigkeit der Literaturen hervor. 3.2 Die Sammlung von Volkskunst Ein Bereich, in den philosophische Diskussionen um das Verhältnis von Sprache und Denken hineinreichen und in dem die Mehr- und Vielsprachigkeit der Sprache zum Tragen kommt, ist die Sammlung von Märchen und Liedgut sowie deren Übersetzungen (s.-u. dazu: 3.3). Knauth (2004) weist auf diesen „im Keim sprachinternen Multilingualismus“ (87) hin, der v. a. dann gegeben sei, „wenn dessen Ursprünge von noch gegenwärtigen indigenen oder heterogenen Ele‐ menten geprägt sind“ (ibid.). Diskussionsgegenstand sind in der Zeit einerseits die Frage, ob es Universalia in den Märchen aller Völker gibt, 39 andererseits inwiefern der Charakter eines jeden Volkes in seiner mündlichen Dichtung hervortritt (was wiederum auf die enge Verbindung von Geist und Sprache bzw. Geist und Volk verweist). 40 Auch in Polen verbindet sich damit der Wunsch, zu einer ursprünglichen Poesie zurückzufinden, die Suche nach den Ursprüngen der eigenen Dichtung, Sprache und Kultur, aus denen man sich Aufschlüsse über die eigenen kulturellen Ursprünge erhofft. Bei Norwids Überlegungen zum Volkswort mag man sich daran erinnert fühlen. Die Sammeltätigkeit beschränkte sich nicht auf polnische Volkskunst, son‐ dern umfasste auch tschechische, belarusische und ukrainische Texte, was darauf hindeutet, dass die Sprachgrenzen nicht sonderlich eng gefasst wurden, und immer wieder findet sich der Bezug auf die slavischen Sprachen als eine größere Einheit. Górski (1991) führt das u. a. darauf zurück, dass sich die Sammelnden in die ihnen vertrauten Regionen begaben und dort das Vorhandene aufzeichneten (297 f.), ohne darauf beschränkt zu bleiben, wie er anhand eines Beispiels aus Galizien unterstreicht (299). Auch in diesem Sinne, wo slavische Sprachen als Gruppe erscheinen - eine Sicht übrigens, die Norwid ablehnte (Felisiak 2019: 294) -, innerhalb derer die Einzelsprachen mehr oder 360 Anja Burghardt <?page no="361"?> 41 Kuhiwczak (1997) verweist in seiner Diskussion der Rezeption der englischen Romantik in der Slavia (namentlich in der polnischen, russischen und tschechischen Literatur) auf das von heutigen Auffassungen literarischer Übersetzung abweichende Verständnis, nämlich eher eine Anpassung („assimilation“) oder Imitation (84). Balcerzan und Rajewska (2007) geben einleitend zu ihrer Anthologie eine Übersicht über verschiedene Auffassungen des Übersetzens in der polnischen Literatur. 42 Einerseits geht es dabei um die Sprache selbst (also wie wörtlich eine Übersetzung zu verfassen ist im Gegensatz zur Übertragung der Gedanken in einen gut lesbaren Text der Zielsprache). Andererseits wird die Sprache (zumindest immer wieder) als ein unmittelbarer Ausdruck des Geistes gesehen. Blümer (2015) zeichnet ein Verständnis der Märchen als Urformen, die allen (europäischen) Völkern gemein sind, nach; Messerli (2004) unterstreicht die Grundidee geteilter Erzählmuster. minder deutlich abgrenzbar sind, ist in der polnischen Romantik eine Vielbzw. Mehrsprachigkeit der Sprache gegeben. Die Nähe von Einzelsprachen aufgrund von Sprachfamilien zu betrachten tritt z. B. auch in Libelts „Manifest an das europäische Volk“ beim Slavistikkon‐ gress in Prag 1848 hervor, wo er das „freie Slaventhum“ dem „absolute[n] Panslavismus“ (Libelt 1958: 363) gegenüberstellt. Unter Abgrenzung vom Rus‐ sischen wendet er sich an das Publikum mit einem Aufruf um Unterstützung zur Verwirklichung der „grossartigen Idee des föderativen Slaventhums“ (ibid.). 3.3 Übersetzungen und Übersetzungsdiskussionen Die Sammlung von Volksdichtung wird von einer weitergehenden Diskussion um Übersetzungen, die im umfassenderen Kontext von Übersetzungsreflex‐ ionen stehen, und das Übersetzen von Märchen und Liedern begleitet. 41 Deut‐ sche wie polnische Diskussionen eröffnen in Hinblick auf die Folklore-Überset‐ zung ein Spannungsfeld zwischen einem Fokus auf der sprachlichen Gestaltung und einem auf Handlung und Motiven. 42 So konstatiert Jakóbiec-Semkowowa (1991) nach einer Übersicht über die umfangreiche Übersetzungstätigkeit von Volksdichtung aus verschiedenen Sprachen ins Polnische (zusammenfassend 273 f.) drei Typen von Haltungen der Übersetzer, und zwar eine ,folkloristische‘, bei der es den Übersetzern vor allem um ein Gesamtbild der jeweiligen Volks‐ lieder gehe, gegenüber einer ,literarischen‘ die das Liedgut analog literarischer Texte behandeln. Die ,emotionalen Übersetzungen‘ zeichneten sich dadurch aus, dass in der Übertragung (in der Regel nur weniger Texte) eine Faszination für diese spürbar werde (280 f.). Die Hausmärchen der Gebrüder Grimm waren in den slavischen Literaturen einflussreich; Möglichkeiten ihrer Übertragungen wurden diskutiert. Auch die Äußerungen der Grimms zur Übertragung von Volksdichtung könnte in „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 361 <?page no="362"?> 43 In der Volkspoesie habe Grimm etwas Göttliches gesehen aufgrund ihrer kollektiven Herkunft, was er als Begründung für die Unübersetzbarkeit anführte (Blümer 2015: 1130). Sofern Übersetzungen keinen Ersatz des Originals anstellen, könnten sie aber zum Studium anregen (1131). Mit dem parallelen Abdruck wird eine Zweisprachigkeit praktiziert. Auch in Polen wurden manche Volksliedübersetzungen zweisprachig ge‐ druckt, Jakóbiec-Samkowowa 1991: 276. 44 Vgl. auch Messerli (2004), dem zufolge die Brüder Grimm die „Treue und Wahrheit“ beim Übersetzen von Volksdichtung v.a in der Bewahrung des Stoffes, insbesondere der Handlungsführung sahen, kaum auf Ebene der Erzählweise oder gar dem Wortlaut (vgl. 345), was er für zwei verschiedene Übersetzungsstrategien in Übertragungen von Giambattista Basiles Il Pentamerone analysiert, die jeweils eine der beiden Varianten umsetzen, die sich in Jacob Grimms Editionspraxis finden: Die ,literarische‘ Übertra‐ gung bearbeitet den Text und dichtet ihn weiter; die andere, die ,literatur-wissenschaft‐ liche‘ fasst den Ausgangstext des neapolitanischen Originals in seiner narrativen Grundstruktur als kollektives Eigentum auf, von der Basiles Text nur eine der möglichen Erzählvarianten darstelle (vgl. 348). 45 Yildiz (2012) zieht diesen Text als Grundlage für Diskussionen um Einsprachigkeit heran (vgl. 8-9), ehe sie den hier verwendeten Terminus der Muttersprache („›mother tongue‹“) kritisiert (vgl. 10-14). 46 Ich beschränke mich hier auf diesen Aufsatz Schleiermachers. Weidner (2007) diskutiert ihn im Kontext von Schleiermachers Hermeneutik (vgl. insbesondere 233-236). Er schreibt Schleiermacher „eine Schlüsselrolle in der Entdeckung und in der Verdrängung von Anderssprachigkeit“ zu (229, kursiv im Original); „Sprachmischung“ (247), so schließt er sein Plädoyer für Relektüren von Schleiermacher, bringe die Hermeneutik an ihre Grenzen und treibe sie zugleich an. Polen rezipiert worden sein. Agnes Blümer (2015) zeichnet den Wandel in der Übersetzungspoetik, v. a. von Jacob Grimm, nach: von einer Orientierung am Ausgangstext hin zu einer Orientierung an der Zielsprache (vgl. 1132, 1135). 43 Grimm erklärt die Ähnlichkeiten der Erzählmuster nicht über Austausch, sondern durch die Urformen, die jede Kultur auspräge (ibid. 1133), wobei sich wenigstens in den europäischen Ländern ein gemeinsamer „Grundlaut“ der Märchen finde, der nun in der Übersetzung zur Geltung kommen müsse. 44 Hier zeigt sich abermals, dass die verschiedenen Sprachen und Völker nicht als strikt von einander getrennt betrachtet wurden: Denn wenn die Poesie den Geist (oder das Denken) des einfachen Volkes spiegeln soll, die vorliegende Volkskunst aber immer wieder Parallelen aufweist zu der anderer, sind strikte Trennungen schlicht unmöglich, sprachlich verstärkt durch Dialektdifferenzen, die in der Mündlichkeit deutlich hervortreten. Die wohl systematischste Diskussion von Übersetzung in der Romantik stellt Schleiermachers 1813 vorgetragene Abhandlung über den Übersetzer (2002) dar. 45 Eingangs eröffnet Schleiermacher gleich mehrere Dimensionen von Übersetzung und damit von einer Vielsprachigkeit der Sprache. 46 Zunächst ist da der jeweils individuelle Sprachgebrauch, der von einem Menschen zum anderen 362 Anja Burghardt <?page no="363"?> 47 Eine Passage, die von den erwähnten Kritiker: innen angeführt wird, betrifft das Schreiben in mehreren Sprachen. Die Bemerkung steht im Kontext von Schleiermachers Überlegung, welche Art der zwei von ihm einander gegenübergestellten Arten von Übersetzung man wählen sollte (vgl. dazu 74). Schleiermacher geht hier der Frage nach, ob es überhaupt möglich sei, so zu übersetzen, als sei der Text ursprünglich in der Zielsprache geschrieben. Das verneint er mit dem Argument, dass der Versuch zu erwägen, wie denn ein Autor aus einer ganz anderen (zeitlich weit zurückliegenden oder / und kulturell weit entfernten) Kultur auf Deutsch (zu Beginn des 19. Jahrhun‐ derts) geschrieben hätte (84 f.; 91), unsinnig sei. Zudem gibt es deutlich früher in dem Aufsatz eine Reflexion über Menschen, die entweder eine andere Sprache als Muttersprache annehmen oder gar mehrere Sprachen auf muttersprachlichem Niveau beherrschen (77 f.; vgl. auch 80). Für die gilt, dass sie in unterschiedlichen Sprachen denken, die Inkommensurabilität verschiedener Sprachen fällt ihnen von daher nicht auf bzw. das Problem der Übersetzung stellt sich für sie gar nicht erst, so dass er sie im Weiteren nicht berücksichtigt. Allerdings greift er das Schreiben in verschiedenen Sprachen noch einmal auf, und hier wird deutlich, dass er solch einen Sprachwechsel nicht gutheißt. Explizit lehnt er eine eingehendere Auseinandersetzung damit aber aufgrund dessen ab, dass solche Autoren die Ausnahme seien, so dass es nicht genügend empirisches Material gebe, um vom Schreiben in fremder Sprache Rückschlüsse auf das Übersetzen zu ziehen (88). 48 Schleiermacher (2002) betont, wie sehr der „Geist der Sprache mit dem in ihr nieder‐ gelegten System der Anschauungen“ und mit der jeweils spezifischen „Abschattung der Gemüthsstimmungen …“ verbunden sei (69), was besonders in solchen Texten hervortritt, in denen der Gegenstand „von dem Gedanken und Gemüth beherrscht wird, ja oft erst durch die Rede geworden und nur mit ihr zugleich da ist“ (ibid.). 49 Manche Passagen in seinen Übersetzungen der Platondialoge illustrieren seinen Kom‐ mentar, dass der Text nur mit dem Original zusammen wirklich verständlich werde. divergiert. Zudem verändere sich auch der eigene Sprachgebrauch und dem entsprechend müsse man ggf. eigene ältere Texte sich selbst übersetzen (67 f.). Dann gibt es verschiedene sprachliche Kontexte, die mit ihren divergierenden Verwendungsweisen von Sprache unterschiedliche Anforderungen an den Übersetzer stellen. Diplomaten z. B. können problemlos zwischen den Sprachen wechseln (68-74). 47 Das Grundproblem des Übersetzens sieht Schleiermacher darin, dass Wörter in verschiedenen Sprachen inkommensurabel sind, 48 was besonders auf begrifflicher Ebene gilt (79 f.; 89 f.), ganz zu schweigen von lautlichen Differenzen im Fall poetischer Texte (91). Eine Vielsprachigkeit der einen Sprache kommt nun insofern ins Spiel, als Schleiermacher betont, wie wichtig es sei, die Fremdheit spürbar zu halten (80 f.), denn der übersetzte Text entstammt einem anderen kulturellen Kontext. Nur wenn die Momente des Fremden erhalten bleiben, kann der Text einen Zugang zu dieser anderen Kultur gewähren (vgl. 78 f.). 49 Dabei werden Verfremdungen des Deutschen nicht ausbleiben (79-81), die Schleiermacher letztlich als Bereicherung der eigenen Sprache, des Denkens und der Kultur auffasst (92). „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 363 <?page no="364"?> 50 Władysław Syrokomla notiert in einem Brief ein Zitat von Humboldt (Balcerzan/ Ra‐ jewska 2007: 101), gelesen wurde er also jedenfalls von Autoren der polnischen Romantik. Wie gesagt, blieben auch in Polen Diskussionen um das Übersetzen nicht auf die Volkskunst beschränkt. Norwid macht in seinen Briefen verschiedentlich Bemerkungen zum Übersetzen. Beispielsweise schreibt er im Kontext seiner Reflexion von Byron-Übersetzungen ein Plädoyer dafür, auch epische Texte in Prosa zu übertragen (Norwid 1865: 101-102). Das spiegelt Debatten zu gebun‐ dener Sprache und Rhythmisierung, die es bereits Anfang der 1840er-Jahre gab ( Jakóbice-Semkokowa 1991: 276). In einer Notiz zu Shakespeare betont Norwid, dass v. a. die Ganzheit oder der Gesamteindruck eines Werkes in der Übersetzung erhalten bleiben müsse (o. J.: 103 f.). Des Weiteren heißt es in seinem Fragment zu Wort und Buchstabe, dass es gegenständliche bzw. sichtbare Welt und Innenwelt miteinander verbinde (323, 325). Das erinnert einerseits an die deutsche Frühromantik, in der die Idee verbreitet war, dass bereits alle sprachliche Formung ein Übersetzungsakt ist, also auch das In-Worte-Fassen sinnlicher Wahrnehmungen (Fiesel 1927: 37). Andererseits mag man an Wilhelm von Humboldt denken, der die Sprache genau in solcher Dopplung sieht, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen (ibid., 220). 50 Letztlich strebe er danach, „die philosophisch ideelle Betrachtungsweise mit der Erkenntnis der realen geschichtlichen Entwicklung zu verbinden (ibid.), was nicht so sehr einen Widerspruch darstelle als vielmehr die für ihn charakteristsiche „Totalität der Anschauung“ (221). Markus Eberharter (2018) weist auf die verschiedenen Diskurse und ent‐ sprechenden Veröffentlichungskontexte, in denen insbesondere in Galizien lebhafte Diskussionen um das Übersetzen geführt wurden, hin. Anders als im preußischen und russischen Teilungsteil, gab es hier polnische Theaterauffüh‐ rungen. Im Mittelpunkt seiner Monographie steht das übersetzerische Werk des oben bereits erwähnten Jan Nepomucen Kamiński (1777-1855), der 1809- 1842 Leiter des polnischen Theaters in Lemberg war und nicht nur etliche Übersetzungen (teils auch Adaptionen) von Theaterstücken anfertigte, sondern seine übersetzerische Tätigkeit auch reflektierte. Wie Eberharter ausführt, war in Galizien die polnische Leserschaft mindestens zweisprachig, so dass es für die Übersetzungen aus dem Deutschen, beispielsweise von Schiller, nicht galt, den Text überhaupt erst zugänglich zu machen. Vielmehr hätten Kamiński (und dann auch sein Schüler Baworowski) zeigen wollen, dass literarische und 364 Anja Burghardt <?page no="365"?> 51 Kamiński übersetzte allein von Schiller sieben Dramen ins Polnische. Abgesehen von dessen Beliebtheit - Dobijanka-Witczakowa (1991) zufolge war Schiller im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts „beinahe polnischer Nationaldichter“ (123) - konnte Kamiński seine Werke direkt aus dem Deutschen übersetzen und musste nicht auf französische Übersetzungen wie bei Calderón oder Shakespeare zurückgreifen, was ein Grund dafür gewesen sein dürfte, dass er sich hier eng an den Originaltext hielt (vgl. Eberharter 2018: 215 f.). 52 Schleiermacher (2002) verdeutlicht die Komplexität der übersetzerischen Tätigkeit: „Denn der Zweck ist ja offenbar damit nicht erreicht, daß ein überhaupt fremder Geist den Leser anweht […]“ (226). Als Aufgabe des Übersetzers betrachtet er ein weitreichendes Verständnis auch des Stellenwerts des gegeben literarischen Textes innerhalb der Literatur und Sprache der anderen Kultur (229). Das Unterfangen solcher Übersetzung kommt also einem „Verpflanzen ganzer Literaturen in eine Sprache“ (230) gleich. Dieses letzte Anliegen teilen weder Kamiński noch die beiden anderen von Eberharter porträtierten Übersetzer. Natürlich kommen hier ganz unterschiedliche Um‐ stände zum Tragen: Übersetzungen aus dem Altgriechischen im Fall Schleiermachers, aus der Sprache der Teilungsmacht im Fall der drei galizischen Übersetzer, für die das Übersetzen eine Weiterbildung ihrer eigenen Polnischkenntnisse beinhaltete (vgl. Eberharter 2018: 30). philosophisch anspruchsvolle Texte auch auf Polnisch verfasst werden können (vgl. 219, ausführlich das Kapitel 6.1). 51 Baworowski schreibt in einer Kritik, dass Kamiński mit seiner Übersetzung der Glocke bewiesen habe, dass es nicht ausreichend sei, die fremde Sprache zu kennen und zu verstehen, sondern man müsse sich zudem im Geiste denselben Gedanken zuwenden, erraten können, alle Elemente des poetischen Werkes bis zum Grunde ausnutzen, das große Genie, dessen Schöpfungen übertragen werden, erforschen und schließlich selbst Dichter genug sein, damit dank flüssigem Stil und guter und klassischer Kenntnis der Muttersprache die Übersetzung dem Original um nichts nachstehe. (227) Eine ideale Übersetzung beruhe darauf, das Original „übersetzend nachzu‐ ahmen“ (228). Eine andere Rezension lobt Kamiński dafür, dass es ihm gelungen sei, „das Gefühl für Schiller, für den Geist seiner Lyrik auf Polnisch zu bewahren und zum Ausdruck zu bringen“ (236). Ähnlich wird in den 1850er-Jahren für Baworowskis Übersetzungen u. a. von Byron die „Natürlichkeit und Leichtig‐ keit, dabei aber auch die Genauigkeit im Ausdruck“ (301) gelobt. Gegenüber Schleiermachers Ideal des Übersetzers wird aus diesen Einschätzungen deutlich, dass es kein Streben nach einer Spürbarkeit des Fremden gibt. Sehr wohl aber findet sich die Vorstellung eines umfassenden Verständnisses des Originaltextes und der Poetik des Autors, für die eine gelungene Übersetzung künstlerische Ausdrucksformen in der Zielsprache findet. 52 Mit der Durchsetzung der ro‐ „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 365 <?page no="366"?> 53 Schmitz-Emans (2004) verweist auf den Sprachwissenschaftler Mario Wandruszek, der in zwei Monographien von 1971 und 1981 die Kernthese ausgeführt hat, dass jede Sprache viele Sprachen ist. Während er also Mehrsprachigkeit unter dem Aspekt ihrer regionalen, soziologischen, kulturellen und stilistischen Ausdifferenzierungen synchron betrachtet, wendet sich Georg Steiner (1981) deren diachroner Ausprägung zu (Schmitz-Emans 2004: 33). mantischen Poetik spätestens um 1830 seien Kamińskis Schillerübersetzungen fraglos gelobt worden (ibid., 237). Aus Eberharters Darlegung wird deutlich, dass sich ähnlich wie bei der Volkskunst auch im Fall literarischer Texte keine homogene Übersetzungspraxis etabliert hatte. So legt er für Chłędowski dar, dass dieser insofern eher eine Vermittlerrolle als die eines Übersetzers einnahm, als seine Adaptionen den Akzent auf den Transfer von Ideen legen. Mit Blick auf Funktionen der Viel‐ sprachigkeit sind Eberharters Überlegungen zu Kamiński Übersetzungen in einer weiteren Hinsicht interessant: Wie er herausarbeitet, nutzte Kamiński die Übertragungen, insbesondere der Räuber, auch für einen Paradigmenwechsel am Lemberger Theater in den 1820er-Jahren. Schillers Dramen boten ihm frühzeitig einen Zugang zu der zunächst neuen romantischen Poetik, und - wie Henryk Rzewuski bemerkte (vgl. Eberharter 2018, 240) - schon die Abkehr von den im Klassizismus so zentralen französischen Originaltexten, setzte ein entsprechendes Zeichen. Das Spektrum an Übersetzungen bildet den deutlichsten Rückverweis auf die oben angeführte intertextuelle Ebene, mit der eine Mehrbzw. Vielsprachigkeit innerhalb der Sprache erzeugt werden kann. Die Schilleradaptionen in Polen sind zugleich ein Beispiel dafür, wie literatur‐ geschichtliche Entwicklungen das monolinguistische Paradigma durchbrechen und die nach wie vor von der Vorstellung einer Nationalliteratur geprägte Literaturgeschichtsschreibung aufbrechen. 3.4 Zur Vielsprachigkeit der polnischen Literatursprache Im Lauf des 19. Jahrhunderts hat sich die moderne polnische Literatursprache herausgebildet (Skubalanka 1991), 53 wobei in der ersten Hälfte - und also in der Epoche der Romantik - zunächst eine Diversifizierung zu beobachten ist, ehe mit dem Realismus/ Positivismus in der zweiten Hälfte wieder eine stärkere Vereinheitlichung einsetzt (386). Für die Literatursprache führt die Abkehr von der bis dahin gegebenen rhetorischen Gestaltung v. a. zu neuen syntaktischen Gestaltungsweisen, die tragend wurden für die ganze weitere Entwicklung des Polnischen (ibid., 391). Vielsprachigkeit betrifft also zunächst die Auflösung der Grenze zwischen gesprochener und geschriebener Sprache. Denn die damit 366 Anja Burghardt <?page no="367"?> 54 Wie oben angesprochen, erweist sich auch bei Norwid die Grenze zwischen Volkskunst und Dichtung als fließend. 55 Für die methodische Reflexion, in der Górski eigens hervorhebt, dass es gelte die stilisierenden und poetisierenden Verwendungsweisen älterer Sprachschichten von den regional geläufigen Sprechweisen zu differenzieren, vgl. 155 f. Górski führt eine Typologie von drei verschiedenen Arten von Archaismen ein (183), die er in Mickiewicz’ Œuvre festmachen konnte und im Weiteren diskutiert; zur Materialauswahl vgl. 157. 56 Vgl. zur gawęda z. B. Gall 2007. 57 Walczak (1999) verweist auf den gewachsenen Einfluss des Französischen mit der Emigration in Paris nach 1830, er skizziert russische und deutsche Einflüsse während der Teilungszeit, wobei letztere v. a. in Lehnübersetzungen, in Galizien in stilistischen Übernahmen bestanden (247-253). einhergehende Vereinfachung insbesondere der Syntax, geht teilweise auf die Umgangssprache (z. B. bei Lelewel oder Mochnacki) zurück, teilweise auf die poetische, von regelmäßigen Rhythmen und Liedhaftigkeit getragene Prosa (ibid.). 54 Darüber hinaus lässt sich die Literatursprache der Romantik als in sich vielsprachig betrachten, und zwar aufgrund regionaler durch verschiedene Sprachkontakte bedingte Unterschiede und einer insbesondere bei dem polni‐ schen Nationaldichter Adam Mickiewicz gegebenen Verwendung von Archa‐ ismen. Wie Górski (1955) mit zahlreichen Beispielen aufzeigt, lässt sich das auf die Sprachgeschichte im Großfürstentum Litauen zurückführen (im 16.- 17. Jahrhundert), so dass ältere Sprachschichten aktualisiert wurden (freilich teilweise mit Bedeutungsverschiebungen). Er betont zudem, dass Mickiewicz zugleich ein wesentlicher Neuerer der Sprache war; Skubalanka führt dafür z. B. Lehnwörter in den Krimsonetten an, die Realia der tatarischen Kultur bezeichnen (Skubalanka 1991, 394). In diesem Sinne erweist sich Mickiewicz’ Dichtung über die unterschiedlichen Sprachschichten (sei es diachron, sei es geographisch) als vielsprachig (Górski 1955). 55 Wesentlich für das Einfließen der Umgangssprache war zudem die Gattung der gawęda (häufig als „Plaudereien“ übersetzt), die sich durch eine stilisierte Mündlichkeit auszeichnet, sich dabei allerdings an der Umgangssprache des ausgehenden 18. Jahrhunderts orientierte, so dass auch hier Innovation und Archaismen nebeneinandertreten. 56 Unter den fremdsprachigen Einflüssen spielt die sentimentale Prosa insofern eine nicht unwichtige Rolle, als sie zu einer Beschränkung rhetorischer Figuren für dezidiert expressive Funktionen der Sprache genutzt wurde (Skubalanka 1991, 391). Andere fremdsprachige Einflüsse - neben französischen: russische, ukrainische und deutsche, - zeigen sich besonders auf lexikalischer Ebene, berühren aber auch die Syntax (ibid., 394). 57 Das Ukrainische spielte - wie auch das Belarusische und vereinzelt das Litauische - zudem insofern eine „Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“ 367 <?page no="368"?> 58 Explizit schließt das Poem mit einem Verweis auf das erreichte Verständnis von „Ganzheits-Wort und Buchstabe“ („Odtąd już […] / Zrozumiewałem Całość-słowa i Literę“, XIV: Vers 69 f.). 59 Ausführlich zur Ruine in diesem Poem vgl. Bajko 2008. 60 Puzynina (2019) liest die von Efeu bewachsene Ruine am Ende des Poems als Symbol für Gott (501; vgl. auch 508 f.). Aufgrund ihrer umfassenden Untersuchung von Norwids Konzept des ,Ganzen‘ (um die Worte „cały“ [ganz] und „całość“ [Ganzheit]) kommt sie so zu dem Schluss, dass Norwid in solchen Passagen das Ganze mit Transzendenz und dem Heiligen verknüpft. Rolle für die Gestalt der Literatursprache in der Epoche der Romantik, als diese Sprachen in den jeweiligen Regionen die polnische Alltagssprache mit prägten, so dass sich diese regionalen Varietäten von den maßgeblichen in Warschau oder Krakau abhoben. Da einige der wichtigsten Dichter aus solchen Regionen stammten, für die Romantik betrifft das u. a. Mickiewicz, Słowacki, Kraszewski und Syrokomla (Skubalanka 1991, 392), wurde die Literatursprache der Zeit in diesem Sinne vielsprachig. Mayenowa (1991) verweist darüber hinaus auf die in der Romantik geführten ästhethischen Diskussionen und geht ausführlicher dem Wandel der Auffassungen in der Rheatorik nach (auch unter französischem und deutschem Einfluss), in deren Zuge die Literatursprache im 19. Jahrhundert Veränderungen erfuhr. 4. Schlussbemerkung Abschließend möchte ich noch einmal auf das in Norwids „Wort und Buch‐ stabe“ augenfällige Zusammenspiel von Vollständigkeit und Fragmenten oder Bruchstücken zurückkommen. Das Ende von Norwids Poems Freiheit ist dafür erhellend; 58 mit ihm lassen sich historische Dimensionen des Polnischen, die Diskussion um Sprachgrenzen im Kontext der Folklore-Sammlung, aber auch verborgene intertextuelle Aspekte von Mehr- und Vielsprachigkeit abschlie‐ ßend zusammenführen. In Norwids Poem schildert der Sprecher, wie er bei einer Ruine einen Stein aufheben wollte. 59 Er schreckt davor zurück, als ihm bewusst wird, dass er mit dem Wegnehmen dieses Steins die Ruine beschädigen würde, weil der Stein zum Ganzen („rzecz pełny“) gehöre (vgl. den letzten Abschnitt des Poems, insbesondere V. 47-62). 60 Das Werk des Zerstörens und das des Schaffens dieses Ganzen / dieser Einheit (całoś[ć]), so heißt es in den Versen, fügen sich harmonisierend zusammen. Würde er einen Stein wegnehmen, so rüttelte er an diesen Grundsätzen. Der Sprecher konstatiert, dass diese Erfahrung, die für ihn übertragbar ist in alle Sphären, zu einem Verständnis des Wort-Ganzen und des Buchstaben geführt hat. In dem Poem kann man dieses Verständnis so skizzieren: Verstanden hat er in dem Moment, wie sehr 368 Anja Burghardt <?page no="369"?> das menschliche Denken davon getragen ist, immer wieder ein Ganzes zu schaffen, bei dessen Zerfall, das entstandene Ensemble der Bruchstücke als ein neues Ganzes anzusehen. Die Vielsprachigkeit liegt hier in den einander ablösenden Einheiten. Denn Gestalt und Funktion des Teils verändern sich in einem Ganzen ebenso wie jedes neue Ganze etwas anderes ist. Mit der Betonung auf einer Entwicklung, die Norwid in „Wort und Buchstabe“ ebenso wie in Freiheit anlegt, gerät dieser Wandel-Charakter von Fragment und Ganzem in den Blick. Aufgrund der oben ausgeführten Rückbindung der Zeichen an die Natur, lässt sich das in die Sprache übertragen: Die einander ablösenden Einheiten bedingen unumgänglich eine Vielsprachigkeit, die zumindest in der Diachronie der Sprachentwicklung greifbar wird. In den Assoziationsräumen, die Norwirds Texte bieten und angesichts der verschiedenen Künste, auf die Norwid anspielt (s.o.: die Zeichen und die ihnen verbundenen Formen, Zahlen und Ziffern), lässt sich die Vielsprachigkeit der Sprachen auch als eine Heterogenität der Sprach‐ elemente lesen, aufgrund derer eine umfassende Vielsprachigkeit gegeben ist. Um noch einmal auf Norwids Interpunktion und Wortschöpfungen zurück‐ zukommen: Die Bindestriche, die ich lediglich graphisch in die deutsche Über‐ setzung des Zitats übernommen habe, sind charakteristisch nicht nur für dieses Fragment, sondern (wie erwähnt) auch für etliche seiner Gedichte. Ähnlich der klanglichen Sprachebene zugeordnet, sind die Rhythmen, oft unregelmäßig, abbrechend, in etlichen Gedichten finden sich längere Reihen von Auslassungs‐ punkten, graphische Hervorhebungen von Wörtern und Phrasen, also ein Spektrum an Markierungen von Zusammenfügen und Trennen. Bedenkt man die Emphase, mit der Norwid in dem Fragment den Buchstaben einführt und zum plastischen Träger des Wortes gestaltet im Lichte seiner Kommentare über die Teil-Haftigkeit des Fragments im und am Gesamten, dann trägt er diese Dimension der Vielsprachigkeit in seine eigene Dichtung hinein. Wie Sprachen - so ließe sich verallgemeinernd schließen - mit ihrer unaufhörlichen Integration neuer Elemente und dem Vergessen anderer, die wieder aufleben können, immer vielsprachig sind, ist jede Literatur spätestens dann vielsprachig, wenn ihr „geheime Texte“ eingeschrieben sind, die nicht in den Schranken der einen Sprache zu verbleiben. Literaturverzeichnis A N D R Z E J E W S K I , Bolesław (2011) [1990]: Homo Universus. Mensch und Sprache in der deutschen und polnischen Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann. A U S T I N , J.L. (1975): How to do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955. 2 nd ed. 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In: ders.: Handlungs‐ spielraum: Neuschreibungen des romantischen Aktivismus in der polnischen Literatur, Wien: Böhlau, 105-311. 374 Anja Burghardt <?page no="375"?> Autorinnen und Autoren Natalia Blum-Barth, PD Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, Institut für Germanistik: Literatur - Sprache - Medien am KIT Karlsruhe; Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, komparatistische Literaturwissenschaft, literarische Mehrsprachigkeit, Interkulturalität, postmi‐ grantische Literatur; Kontakt: natalia.blum-barth@kit.edu- - Anja Burghardt, Dr. habil., Akademische Rätin für Slavische Literaturwissen‐ schaft am Institut für Slavische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; Forschungsschwerpunkte: Slavische Literaturen und Kulturen (ins‐ besondere Russisch und Polnisch), Lyrik, Narratologie, Alterität, Fotografie und Fotoreportage, Reiseliteratur, Dokumentarische Kunst; Kontakt: anja.burghard t@lmu.de Bisera Dakova, Dr., Dozentin für bulgarische Literatur am Institut für Literatur der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften; Gastlektorin für bulgarische Literatur am Institut für Slawistik der Universität Wien; Forschungsschwer‐ punkte: Bulgarische Literatur der Jahrhundertwende, Symbolismus, Postsym‐ bolismus, Archäologie des Autors; Kontakt: bisserka.dakova@univie.ac.at Mariya Donska, Dr., Universitätsassistentin (Postdoc) am Institut für Slawistik der Universität Graz; Forschungsschwerpunkte: Ukrainische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts im Vergleich mit der polnischen, belarusischen und russischen Lyrik, Postcolonial Studies in der Slavia, literarische Praxeologie, Fiktionalität; Kontakt: -mariya.donska@uni-graz.at Miriam Finkelstein, Prof. Dr., Professorin für Slavische Literaturen und Allge‐ meine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz; Forschungsschwer‐ punkte: Russophone Literaturen, Transkulturalität und Translingualität in den slavischen Gegenwartsliteraturen, jüdische Kulturen in und aus dem östlichen Europa; Kontakt: miriam.finkelstein@uni-konstanz.de <?page no="376"?> Anna Förster, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin für slawistische Literaturwis‐ senschaft an der Universität Erfurt; Forschungsschwerpunkte: westslawische Literaturen und Kulturen Tschechiens, Polens und der Slowakei, ost- und mitteleuropäische Literaturtheorie und deren Geschichte; übersetzungswissen‐ schaftliche Themen; sie übersetzt aus dem Tschechischen und Englischen; Kontakt: anna.foerster@uni-erfurt.de Eva Hausbacher, Prof. Dr., Professorin für Slawistische Literatur- und Kultur‐ wissenschaft am Fachbereich Slawistik der Universität Salzburg; Forschungs‐ schwerpunkte: Russische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts im europäischen Kontext, Literatur im Kontext von Migration, literarische Mehrsprachigkeit, Gender und Fashion Studies; Kontakt: eva.hausbacher@plus.ac.at Agnes Kim, Dr., Universitätsassistentin (Postdoc) am Institut für Slawistik der Universität Wien und Academy Scientist in der Forschungsabteilung Sprachwis‐ senschaft des Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Forschungsschwerpunkte: (Geschichte der) slawisch-deutschen Mehrsprachigkeit und des aus ihr resul‐ tierenden Sprachkontakts in Österreich, kontrastive slawische und deutsche Sprachwissenschaften, Korpuslinguistik und digitale (Meta-)Lexikographie; Kontakt: agnes.kim@univie.ac.at Ilja Kukuj, Dr., Lektor für russische Sprache, Literatur und Landeskunde am Institut für Slavische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts, historische Avantgarde, inoffizielle Literatur der Sowjetzeit, (post)sowjetischer Film; Kontakt: ilja.kukuj@lmu.de Andreas Leben, Univ.-Prof. Dr., Professor für Slowenische Literatur- und Kultur‐ wissenschaft am Institut für Slawistik der Universität Graz; Forschungsschwer‐ punkte: Slowenische Literatur im 20. und 21. Jahrhundert, autobiographischer Diskurs, literarische Mehrsprachigkeit, Minderheitenforschung, Übersetzungs‐ transfer; Kontakt: andreas.leben@uni-graz.at Ivana Pajić, Dr., Dozentin für deutsche Kultur, Literatur und deutschen Film an der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität Novi Sad (Serbien); Forschungsschwerpunkte: Inter- und Transkulturalität im deutschen Film, deutschsprachige interkulturelle Literatur, deutsche Geschichte und Kultur im interkulturellen Kontext, literarisches Übersetzen; Kontakt: ivan a.pajic@ff.uns.ac.rs 376 Autorinnen und Autoren <?page no="377"?> Christian Prunitsch, Prof. Dr., Professor für Westslavische Literatur- und Kultur‐ wissenschaft am Institut für Slavistik der Technischen Universität Dresden; Forschungsschwerpunkte: Westslavische, insbesondere polnische und sorbische Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert; Semiotik kleiner Kulturen; Kontakt: christian.prunitsch@tu-dresden.de Weertje Willms, Prof. Dr., außerplanmäßige Professorin für Germanistik und Komparatistik am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur der Gegenwart, deutsch-russi‐ sche Kulturbeziehungen, Interkulturalität, Kulturtransfer, Postkolonialismus und Mehrsprachigkeit, Gender Studies, Kinder- und Jugendliteratur, kreatives/ litera‐ risches Schreiben; Kontakt: weertje.willms@germanistik.uni-freiburg.de Autorinnen und Autoren 377 <?page no="378"?> Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg), Rolf Parr (Duisburg-Essen) Bisher sind erschienen: Band 1 Marion Acker / Anne Fleig / Matthias Lüthjohann (Hrsg.) Affektivität und Mehrsprachigkeit Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2019, 286 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8657-1 Band 2 Andreas Leben / Alenka Koron (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext 2019, 317 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8676-2 Band 3 Marko Pajević (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und das Politische Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur 2020, 320 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8712-7 Band 4 Marion Acker Schreiben im Widerspruch Nicht-/ Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa 2022, 337 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8776-9 Band 5 Áine McMurtry / Barbara Siller / Sandra Vlasta (Hrsg.) Mehrsprachigkeit in der Literatur Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 2023, 278 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8783-7 Band 6 Nazli Hodaie / Heidi Rösch / Lisa Theresa Treiber (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik 2024, 283 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8780-6 In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist das Interesse an Fragen der Mehrsprachigkeit in jüngerer Zeit international gestiegen. Das schließt an einen Trend an, der in der sprachwissenschaftlichen Forschung schon länger zu beobachten ist. Die Grenzen der ehemaligen Nationalphilologien werden unter Stichworten wie Hybridität, Inter- und Transkulturalität zunehmend geöffnet. Zu konstatieren ist dabei auch eine gesteigerte methodische und theoretische Eigenständigkeit philologischer oder kulturphilologischer Ansätze, die sich durch eine besondere Aufmerksamkeit für das Zusammenwirken von unterschiedlichen Formen sprachlicher Varianz in konkreten Texten auszeichnen. Dem damit sich konstituierenden Feld einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung bietet die Reihe einen Publikationsort. Dies geschieht auch mit dem Ziel, die vielfältige Forschung auf diesem Gebiet an einem Ort sichtbar zu machen und so den weiteren wissenschaftlichen Austausch zu fördern. - Ihrem Gegenstand entsprechend umfasst die Reihe die Einzelphilologien, das gesamte Spektrum der Kulturwissenschaften und punktuell auch die Sprachwissenschaften. <?page no="379"?> Band 7 Anja Burghardt / Eva Hausbacher (Hrsg.) Vielsprachigkeit der Sprache Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen 2025, 377 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8793-6 Band 8 Dirk Weissmann Wortöffnungen Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans 2024, 511 Seiten, €[D] 88,- ISBN 978-3-381-11981-3 Band 9 Beatrice Occhini Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2025, 256 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8775-2 <?page no="380"?> ISBN 978-3-7720-8793-6 L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M www.narr.de Das Forschungsfeld „Literatur und Mehrsprachigkeit“ hat in den letzten Jahren auch in der Slavistik einen beachtlichen Aufschwung erfahren, wobei der Fokus der Forschung weg von sprachbiographischen und soziolinguistischen Fragen hin zu den Dynamiken (mehr-)sprachlicher textueller Verfahren gelenkt wurde. Der Band untersucht historische und gegenwärtige Phänomene von Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen. Er spannt einen breiten Bogen durch die slavischen Sprachen und Literaturen über Jahrhunderte hinweg, um damit die Vielfalt der Formen und Funktionen von Vielsprachigkeit zur Darstellung zu bringen. Dabei werden sowohl theoretische Fragen verhandelt, wie etwa die Verbindung von Mehrsprachigkeit mit Konzepten der Übersetzung, als auch konkrete Textphänomene wie Code-Switching oder Sprachecho analysiert und deren Funktionen und Wirkungseffekte bestimmt. Burghardt Hausbacher (Hrsg.) Vielsprachigkeit der Sprache Vielsprachigkeit der Sprache Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen Anja Burghardt • Eva Hausbacher (Hrsg.)
