Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts
0923
2024
978-3-7720-5794-6
978-3-7720-8794-3
A. Francke Verlag
Hermann Gätje
Sikander Singh
10.24053/9783772057946
In der vergangenen Dekade war die Idee der europäischen Integration zunehmender Kritik ausgesetzt. Nationalistische Bestrebungen haben in den meisten Ländern der Europäischen Union an Akzeptanz gewonnen, was sich schließlich im Austritt eines der großen Staaten, dem Vereinigten Königreich (2016/20), manifestierte. Der Band erkundet Möglichkeiten und Bedingungen des Diskurses über Europa in der Literatur der letzten Jahre. Ein Augenmerk liegt dabei auf divergenten Perspektiven: Literarische Texte spiegeln unterschiedliche Europa-Erfahrungen. Es finden sich Verarbeitungen unmittelbarer Erlebnisse von Menschen, die aus Regionen an Grenzen stammen und deren tägliches Leben dadurch von der europäischen Politik bestimmt ist. Auf einer anderen Ebene thematisieren Texte zunehmend Migrationserfahrungen von Menschen, die innerhalb Europas ihre Lebensorte wechseln oder nach Europa flüchten.
<?page no="0"?> HERMANN GÄTJE SIKANDER SINGH (HRSG.) Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts 09 <?page no="1"?> Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts <?page no="2"?> Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 9 <?page no="3"?> Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057946 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-7720-8794-3 (Print) ISBN 978-3-7720-5794-6 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0249-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 9 23 39 57 73 81 89 107 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Corina Erk, Bamberg Von literarischen Europa-Ideen des 20. Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? Die Beispiele Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig Caren Bea Henze, Freiburg im Breisgau Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche in Kontroversen um das erinnerungskulturelle Erbe Europas. Christiane Hoffmanns Alles, was wir nicht erinnern (2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annabelle Jänchen, Ústí nad Labem Europa und Familienromane. Interkulturelles Erzählen bei Nino Haratischwili und Sabrina Janesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paola Quadrelli, Mailand Von Brandenburg nach Brüssel. Gedanken über die Europäische Union anhand von Juli Zehs Roman Unterleuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje, Saarbrücken „Die Hölle hat in Europa eine Pause gemacht“. Perspektiven auf die Friedensjahre im Europa der Nachkriegszeit in Emine Sevgi Özdamars Roman Ein von Schatten begrenzter Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sikander Singh, Saarbrücken Gegenwart und Zukunft Europas in Christoph Ransmayrs Roman Der Fallmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anne-Rose Meyer, Wuppertal ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ewout van der Knaap, Utrecht Mnemotopisches Schreiben. Zu Robert Menasses Roman Die Erweiterung . <?page no="6"?> 127 141 Marco Maffeis, Wuppertal Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jasmina Đonlagić Smailbegović, Tuzla Einheit in Vielfalt. Zur Europa-Utopie in Saša Stanišićs Roman Herkunft . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort In der vergangenen Dekade war die Idee der europäischen Integration zuneh‐ mender Kritik ausgesetzt. Nationalistische Bestrebungen haben in den meisten Ländern der Europäischen Union an Akzeptanz gewonnen, was sich schließlich im Austritt eines der großen Staaten, dem Vereinigten Königreich (2016/ 20), manifestierte. Innerhalb der Staaten der Gemeinschaft differieren die Ansichten, ob es sich bei der Europäischen Union um eine Zweckgemeinschaft zur Stärkung der eigenen nationalbzw. wirtschaftspolitischen Interessen oder um einen die po‐ litische Einigung anstrebenden Staatenbund handelt. Auch sind Kompetenzen und Funktion europäischer Einrichtungen wie des Parlaments in Straßburg oder des europäischen Gerichtshofes in Luxemburg zwischen nord- und süd-, west- und osteuropäischen Staaten umstritten. Die Covid 19-Pandemie hat die Probleme sichtbar vor Augen geführt. Auch wenn die Grenzschließungen lediglich pragmatisch im Hinblick auf eine Be‐ grenzung des Infektionsgeschehens gedacht waren, haben sie dennoch gezeigt, wie fragil jahrelange Selbstverständlichkeiten (wie die Personenfreizügigkeit) sein können. Der Umgang mit der Infektionskrankheit hat eindringlich vor Augen geführt, wie schwierig Organisation und gemeinsames Handeln im konkreten Fall angesichts divergenter politischer Grundeinstellungen sind. Demgegenüber lässt der Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine die Bedeutung jener Werte, auf denen die Europäische Union gründet, wie ihre geostrategische Funktion zwar wieder in den Vordergrund treten; trotzdem werden auch bei dieser, für die Zukunft Europas entscheidenden Frage differente Einschätzungen außen- und verteidigungspolitischer Fragen sichtbar. Dass die prekäre Lage des europäischen Gedankens im Diskurs der Gegen‐ wartsliteratur exponiert Eingang findet, hat sich bereits 2017 markant gezeigt, als mit Robert Menasses Brüssel-Roman Die Hauptstadt ein Text mit expliziter politischer Europa-Thematik den Deutschen Buchpreis gewann. Im von der Pandemie gezeichneten Jahr 2021 hat mit Antje Rávik Strubels Blaue Frau wiederum ein Erzählwerk diesen Preis erhalten, der Europa, seine Mentalitäten, Grenzen und Probleme, in den Fokus rückt. Schon diese beiden durch ihre Publizität hervorstechenden Texte zeigen, auf welch unterschiedliche Weise der Europadiskurs literarisch behandelt werden kann. <?page no="8"?> Der vorliegende Band, der die Ergebnisse einer internationalen Tagung im November 2022 im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zusammenfasst, erkundet Möglichkeiten und Bedingungen dieses Diskurses in der Gegenwartsliteratur der letzten Jahre. Ein Augenmerk liegt dabei auf den divergenten Perspektiven: Literarische Texte spiegeln unterschiedliche Europa-Erfahrungen. Es finden sich Verarbei‐ tungen von unmittelbaren Erlebnissen von Menschen, die aus Regionen an Grenzen stammen und deren tägliches Leben dadurch von der europäischen Politik maßgeblich bestimmt ist. Auf einer anderen Ebene thematisieren Texte zunehmend Migrationserfahrungen von Menschen, die innerhalb Europas ihre Lebensorte wechseln oder aus anderen Regionen der Welt nach Europa flüchten. Nicht zuletzt werden Perspektiven Europas im Spannungsfeld nationalistischer Diskurse und Debatten über Möglichkeiten einer weitergehenden europäischen Integration literarisch reflektiert und bis in das Feld der Dystopie fortgedacht. Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung sowie die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Die Herausgeber sagen hierfür Dank. Ebenso danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussi‐ onsbeiträge und - nicht zuletzt - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz. Saarbrücken, im Frühjahr 2024 Hermann Gätje und Sikander Singh 8 Vorwort <?page no="9"?> 1 Henrik Müller: Was passiert, wenn Europa scheitert (24.01.2016). URL: https: / / ww w.spiegel.de/ wirtschaft/ soziales/ eu-am-ende-das-droht-wenn-europa-auseinanderbric ht-a-1073604.html (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2024). 2 Hendrik Kafsack: „Europas Zerreißprobe“ (16.01.2016). URL: https: / / www.faz.net/ akt uell/ wirtschaft/ wirtschaftspolitik/ nie-war-das-ende-der-eu-so-realistisch-wie-heute-1 4016293.html (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2024). 3 Vgl. Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. In: Die Zeit, Nr. 29, 11. Juli 1986. Vgl. zudem ders.: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main 1992, S.-632-660. Von literarischen Europa-Ideen des 20.-Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? Die Beispiele Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig Corina Erk, Bamberg I. Zur Einführung Schon vor einiger Zeit sprach der Spiegel von Europa als einem „Kontinent der Krisen“ 1 und die FAZ schrieb: „Nie war das Ende der EU so realistisch wie heute“. 2 Zwar ist die Rede von der Krise Europas respektive der EU so alt wie der (Sub-)Kontinent bzw. das politische Konstrukt selbst, doch wirkt es so, als habe sich gerade die EU der Gegenwart in besonderem Maße erschöpft, ja beinahe überlebt. Während sich auf der einen Seite in vielen Ländern Europas nationalistische Tendenzen zeigen, scheint der Krieg in der Ukraine den viel beschworenen Schulterschluss zumindest der EU zu befördern. Zu fragen ist daher, welche kulturellen, explizit literarischen Antworten auf das europäische Krisennarrativ gefunden wurden und werden, zumal die Rede von Europa allenthalben mit der Frage nach einer europäischen Identität verbunden ist. Während Jürgen Habermas für Identitätsstiftung via Verfassungspatriotismus als Zukunftsmodell für die EU plädiert, 3 konstatiert Yōko Tawada: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es <?page no="10"?> 4 Vgl. Yōko Tawada: Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht. In: dies.: Talisman. Tübingen 1996, S.-45-51. 5 Vgl. Robert Menasse: Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss. Wien 2012. 6 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas. 10. Aufl. Berlin 2012. 7 Vgl. Konstantin Küspert: Europa verteidigen. Berlin 2016. 8 Gottfried Wilhelm Leibniz: Elemente des Naturrechts. In: ders.: Frühe Schriften zum Naturrecht. Hamburg 2003, S.-159. 9 Vgl. hierzu grundsätzlich, neben den im Folgenden genannten Beiträgen, die einander in der Auslegung Hofmannsthals mitunter widersprechenden Ausführungen in Inna nicht“. 4 Während Robert Menasse seinen Essay mit „europäischer Landbote“ 5 überschreibt, spricht Hans Magnus Enzensberger von Brüssel als einem „sanften Monster“ 6 und Konstantin Küspert bringt sein Stück „Europa verteidigen“ 7 auf die Bühne. Dabei hat schon Leibniz in diversen Schriften eine aus heutiger Sicht als modern zu bezeichnende Idee von Europa als einem „System föderierter Staaten“ 8 vorgelegt. Im 18. Jahrhundert folgten mit Kant, Herder oder Schiller weitere Autoren mit eigenen Europa-Figurationen, vom 19. und 20. Jahrhundert mit den jeweiligen literarischen Gegenreaktionen auf den sich etablierenden, erstarkenden, bis hin zu grausamen Nationalstaat ganz zu schweigen. Waren Philosophie und Literatur, bei aller Skepsis, also schon immer ‚schlauer‘ und wussten einem kriselnden Europa oder gegenwärtig einer erschöpften EU ein konstruktives, mitunter utopisches Zukunftsmodell entge‐ genzusetzen? Im Folgenden sollen diesbezüglich exemplarisch Autoren aus dem 20. Jahrhundert und Publizistik in den Blick genommen werden, und zwar die Europa-Gedanken in Schriften von Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig. Gefragt werden soll dabei, ob von den im Prozess der essayistischen Auslotung entstandenen Texten - insbesondere dem Redemanuskript Über die europäische Idee (1917) und dem Aufsatz Blick auf den geistigen Zustand Europas (1922) von Hofmannsthal sowie, neben Zweigs Europa-Rede Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung (1932), dessen posthum erschienene Autobiographie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (Erstausgabe 1942) - etwas für die Gegenwart und/ oder die Zukunft Europas zu lernen ist, was sich auch in realpolitische Zusammenhänge einbetten ließe. II. Hugo von Hofmannsthals Reflexionen über die europäische Idee Hofmannsthals Idee von Europa 9 entwickelt sich aus seinen Überlegungen zu einer österreichischen Identität, geprägt vom Vielvölkerstaat. Nach einer 10 Corina Erk <?page no="11"?> Bernstein: Die Europa-Konzeption Hugo von Hofmannsthals. In: Joseph Strelka (Hrsg.): Wir sind aus solchem Zeug wie das zu träumen… Kritische Beiträge zu Hofmannsthals Werk. Bern 1992, S. 363-376; Tillmann Heise: „Schöpferische Restauration“ und Habsburg reloaded. Hugo von Hofmannsthals Europaideen der 1920er Jahre, Rohans Kulturbund und die Europäische Revue. In: Barbara Beßlich [u. a.] (Hrsg.): Kulturkritik der Wiener Moderne (1890-1938). Heidelberg 2019, S. 87-104; Joachim Jacob: Der Erste Weltkrieg und der Untergang der „Geistigen Einheit“ Europas. Simmel und Hofmannsthal. In: Paul Michael Lützeler [u. a.] (Hrsg.): Einheit in der Vielfalt? Der Europadiskurs der SchriftstellerInnen seit der Klassik. Berlin 2021, S. 97-102; Gert Mattenklott: Hofmannsthals Votum für Europa. In: Austriaca 37 (1993), S. 183-192; Wolfram Mauser: „Die geistige Grundfarbe des Planeten“. Hugo von Hofmannsthals „Idee Europa“. In: Hofmannsthal Jahrbuch 2 (1994), S. 201-222; Thorben Päthe: Deutsch-österreichische Europavisionen bei Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. In: Bernd Neumann und Gernot Wimmer (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld. Wien 2017, S. 165-177; Thomas Pekar: Hofmannsthals „Umweg über Asien“. Zur Konstellation von Europa und Asien im europäischen „Krisen-Diskurs“ am Anfang des 20.-Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83.2 (2009), S.-246-261; Elena Raponi: Hofmannsthals Europaverständnis in der publizistischen Tätig‐ keit der zwanziger Jahre. In: Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses. Paris 2005. „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Band 12: Europadiskurse in der deutschen Literatur und Literaturwissenschaft. Bern 2007, S. 43-50; Franz Schüppen: Zur Entwicklung und Bedeutung des Begriffs „Europa“ bei Hugo von Hofmannsthal. In: Neohelicon 38.1 (2011), S. 19-40; Gregor Streim: Deutscher Geist und europäische Kultur. Die „europäische Idee“ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 46 (1996), S.-174-197; Wolf Wucherpfennig: Hofmannsthal und Europa - heute. In: ders. (Hrsg.): Österreichische Identität. Geschichte - Gesellschaft - Literatur. Kopenhagen 2006, S.-75-89. 10 Vgl. Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1992, S.-249. 11 Vgl. Rudolf Borchardt: Gedanken über Schicksal und Aussicht des europäischen Begriffs am Ende des Weltkrieges. Schema. In: ders.: Prosa V. Hrsg. v. Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott. Stuttgart 1979, S.-325-334. anfänglich konservativ-patriotisch gesinnten Phase 10 in seinen politischen Äußerungen im Zuge der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. erweitert der Autor, auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Kriegserfahrung - Hofmanns‐ thal stand seit 1914 im Dienst der Armee Österreich-Ungarns, konkret im Fürsorgeamt des Kriegsministeriums - diesen Horizont, dargelegt etwa im Redemanuskript Über die europäische Idee aus dem Jahr 1917. In diesem in Bern gehaltenen Vortrag, der zu großen Teilen auf Ausführungen Rudolf Borchardts in dessen Skizze Gedanken über Schicksal und Aussicht des europäischen Begriffs am Ende des Weltkrieges 11 fußt, diagnostiziert Hofmannsthal zunächst die Krise des Europas seiner Zeit: „Der Begriff Europa: Wir sind mit ihm groß Von literarischen Europa-Ideen des 20.-Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? 11 <?page no="12"?> 12 Hugo von Hofmannsthal: Über die europäische Idee. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band 34. Reden und Aufsätze 3. 1910-1919. Hrsg. v. Klaus E. Bohnenkamp [u. a.]. Frankfurt am Main 2011, S.-324-335, hier S.-330. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. ebd., S.-331. 15 Vgl. Corina Erk: Die Manns, Europa und die Demokratie. Positionen in Essays, Reden und im Zauberberg. In: Thomas Mann Jahrbuch 2023, S.-45-65. 16 Hofmannsthal: Über die europäische Idee, S.-332. 17 Vgl. Cristina Fossaluzza: Phönix Europa? Krieg und Kultur in Rudolf Pannwitz’ und Hugo von Hofmannsthals europäischer Idee“. In: Sascha Bru [u. a.] (Hrsg.): Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism, and the Fate of a Continent. Berlin 2009, S.-113-125, hier S.-120f. 18 Hofmannsthal: Über die europäische Idee, S.-329. 19 Vgl. ebd., S.-335. 20 Ebd. geworden. Sein Zusammenbruch für uns ein erschütterndes Erlebnis.“ 12 Europa gilt ihm in dieser Rede, die zu seinen zwischen 1916 und 1936 entstehenden Europa-Essays und Vorträgen zählt, nicht als geographische oder ethnische Einheit, 13 sondern basiert, so Hofmannsthal, vor allem auf der Civitas dei und der Res publica litteraria. 14 Die Einheit Europas stellt der Autor folglich über das Geistige her - auch Heinrich Mann und Klaus Mann etwa ziehen diese Verbindungslinie. 15 In seiner auf das Kulturelle abzielenden Ideenbildung Europa betreffend, kommt Hofmannsthal nicht umhin, seinem Stil gemäß, idealistisch zu argumentieren, bis hin zur Aufladung mit religiösem Pathos, etwa wenn er bezüglich der Humanität als Signum Europas formuliert: „Postuliert ist nicht Europa sondern namens Europa die Menschheit (namens der Menschheit göttliche Allgegenwart: Gott selber.)“ 16 Auch aufgrund derlei religiöser Töne lässt sich sein Europa-Ansatz als ein gleichsam neoromantischer bezeichnen, der eine Analogie-Bildung zu Novalis und Friedrich Schlegel erlaubt. 17 Bestandteil von Hofmannsthals Europa-Idee ist zudem die Existenz einer europäischen Identität, eines „neue[n] europäische[n] Ich[s]“. 18 Dabei gelte es, den Nationalstaat der europäischen Idee unterzuordnen. 19 Diese trägt bei Hofmannsthal durchaus Züge einer Utopie und ist auch nicht vor eurozentri‐ schen Momenten gefeit, wenn es heißt: „[F]ür uns wahrhaft ist Europa die Grundfarbe des Planeten, für uns ist Europa die Farbe der Sterne wenn aus entwölktem Himmel wieder Sterne über uns funkeln“. 20 Für seine Europa- Idee knüpft Hofmannsthal zudem, analog zum Reichsgedanken, an die Donau‐ monarchie an - Vergleiche zur Vorstellung vom Europa der Regionen ließen sich ziehen -, die als Vorbild für ein Europa des Geistes gelten könne. Aus dessen Einzigartigkeit und der damit verbundenen Überlegenheit ergebe sich ein gewisser Führungsanspruch. 12 Corina Erk <?page no="13"?> 21 Hugo von Hofmannsthal: Blick auf den geistigen Zustand Europas. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band 35. Reden und Aufsätze 4. 1920-1929. Hrsg. v. Jutta Rissmann [u. a.]. Frankfurt am Main 2022, S.-74-77, hier S.-74. 22 Ebd., S.-76. 23 Ebd., S.-77. Die Wandlung weg vom Nationalismus hin zum Europa-Plädoyer vollzieht sich bei Hofmannsthal mithin erst allmählich. Auch in seinem Europa-Essay Blick auf den geistigen Zustand Europas aus dem Jahr 1922, erschienen posthum, konstatiert er die Krise Europas nach dem Ersten Weltkrieg: Die Beschädigung aller Staaten und aller Einzelnen durch den Krieg war so groß, die materiellen Folgen davon sind so schwer und verwickelt und bilden eine solche Bemühung und Belastung auch der Phantasie und des Gemütslebens der Einzelnen, daß darüber ein Gefühl nicht recht zum Ausdruck kommt, wenigstens nicht zu einem klaren und widerhallenden, sondern nur zu einem gleichsam betäubten Ausdruck, welches doch alle geistig Existierenden erfüllt: daß wir uns in einer der schwersten geistigen Krisen befinden, welche Europa vielleicht seit dem sechzehnten Jahrhundert, wo nicht seit dem dreizehnten, erschüttert haben, und die den Gedanken nahelegt, ob „Europa“, das Wort als geistiger Begriff genommen, zu existieren aufgehört habe. 21 Der Aufsatz ist geprägt von einem eher resignativen Ton und erneuert die Hypo‐ these von Antike und Christentum als Basis Europas, „das alte, auf der Synthese von abendländischem Christentum und einer ins Blut aufgenommenen Antike ruhende Europa“. 22 Der Glaube an eine mögliche europäische Einheit geht im Text mit der Furcht vor dem Untergang Europas Hand in Hand: „Goethes letztes Wort aber von seinen heute noch festgeschlossenen Lippen abzulesen, wird erst einer späteren Generation, von uns abstammenden, uns unanalysierbaren Menschen gegeben sein: diese werden sich vielleicht ‚die letzten Europäer‘ nennen. Für uns wäre der Name verfrüht.“ 23 Lässt sich aus all dem die Schlussfolgerung ableiten, Hofmannsthal fungiere als einer der Vordenker des gegenwärtigen respektive gar eines zukünftigen Europas? Mit dem Ansatz, Europa nicht über ethnische Aspekte oder lediglich das Geographische zu bestimmen und das Bestreben, das Nationale zu über‐ winden, mag dies zunächst so erscheinen. Gleichwohl scheint Hofmannsthals Ansatz, Europa nicht mit politischen Mitteln verändern zu wollen, nicht ohne Weiteres unhinterfragt anwendbar zu sein. Dass der Autor das Augenmerk auf Europa als Kulturraum legt, mag hingegen angesichts der fortgesetzten und im Grunde nie abgeschlossenen Suche nach einer europäischen Identität von erneuter Relevanz sein. Als Vertreter eines europäischen Bundesstaats wird man Hofmannsthal gleichwohl nicht werten können. Sein Glaube an das Von literarischen Europa-Ideen des 20.-Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? 13 <?page no="14"?> 24 Vgl. hierzu grundsätzlich, neben den im Folgenden genannten Beiträgen, auch Antje Büssgen: Umwege zu einem geeinten Europa. Zum Verhältnis von Kultur und Politik bei Friedrich Schiller, Stefan Zweig und Julien Benda. In: Martina Wörgötter (Hrsg.): Stefan Zweig. Positionen der Moderne. Würzburg 2017, S. 91-130; Mark H. Gelber und Erneuerungspotential Europas, an eine über das Nationale hinausgehende Ver‐ bindung sowie die an Herder und Heine erinnernde Wertschätzung der Einheit in Vielfalt, das sich bei Hofmannsthal aus der Wertschätzung des sogenannten Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn ableitet, machen seine Idee von Europa zwar anschlussfähig für die Gegenwart. Insgesamt aber sind Hofmannsthals Gedanken Europa betreffend im historischen Kontext seiner Zeit zu sehen, etwa der restaurative Bezug auf den Reichsgedanken. So ist seine Idee von Europa weder liberal noch gar demokratisch, sondern basiert vielmehr auf einem durchaus als elitär zu bezeichnenden Geistesbegriff, darin paradigmatisch für den Europa-Diskurs der Zwischenkriegszeit, an dem Hofmannsthal Anteil hatte. In der Europa-Essayistik ist er als konservative Stimme zu werten. Dies macht Hofmannsthals Europa-Überlegungen nicht ohne Weiteres anschlussfähig für die Gegenwart, was sich allerdings weniger auf einen grundsätzlich konservativ ausgerichteten Tenor seiner Äußerungen bezieht als auf Überlegungen wie die von einer Vormachtstellung Österreichs und/ oder Deutschlands innerhalb Europas. Darüber hinaus ist bei Hofmannsthal von einer politischen Einheit Europas oder einer staatsrechtlichen Weiterentwicklung keine Rede. Seine Re‐ flexionen zur Idee Europa bleiben auf einer weitgehend abstrakten Ebene ohne konkreten Bezug zu realpolitischen Zusammenhängen, sie beziehen sich vor allem auf die Kultur. Dabei erweist sich die Bestimmung des Europäischen über das Geistige, mithin ein Elitenprojekt, als nicht unproblematisch hinsichtlich des Potentials der Identifikation mit einer europäischen Identität für alle, von etwaigen eurozentrischen Untertönen ganz zu schweigen. Wenngleich die Frage nach der Herstellung europäischer Einheit über Kultur erneut an Relevanz gewonnen hat, lassen deren unspezifischer Gehalt sowie der mitunter transzen‐ dental-überhöhte Ton seiner Aussagen keinen Spielraum, sie als vorbildhaft für staatsrechtliche Überlegungen oder gar für den Ansatz zu einer europäischen Verfassung heranzuziehen. Hofmannsthals Überlegungen zu Europa, dies lässt sich nicht anders bezeichnen, sind stark verankert im Umfeld der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, sie davon losgelöst zu betrachten wäre ahistorisch. III. Gedanken des ‚Parade-Europäers‘ Stefan Zweig Dies gilt grundsätzlich auch für die Europa-Vision Stefan Zweigs, 24 der sich mit Hofmannsthal darin einig ist, dass das griechisch-römische Erbe die Basis 14 Corina Erk <?page no="15"?> Anna-Dorothea Ludewig (Hrsg.): Stefan Zweig und Europa. Hildesheim 2011; Mark H. Gelber: Stefan Zweigs Traum von Europa. In: Felicitas Heimann-Jelinek (Hrsg.): Die ersten Europäer. Wien 2014, S. 56-62; Arturo Larcati: Stefan Zweigs Aufsätze und Reden für Europa. Eine kurze Bestandsaufnahme. In: Literatur und Kritik 541-542 (2020), S. 19-25; Jacques Le Rider: Europa-Konzeptionen. In: Arturo Larcati [u. a.] (Hrsg.): Stefan-Zweig-Handbuch. Berlin 2018, S. 748-754; Elmar Locher: Mit Stefan Zweig Europa denken. In: Arturo Larcati und Klemens Renoldner (Hrsg.): „Am liebsten wäre mir Rom! “ Stefan Zweig und Italien. Würzburg 2019, S. 153-168; Paul Michael Lützeler: Neuer Humanismus. Das Europa-Thema in Exilromanen von Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Stefan Zweig. In: William Collins Donahue und Scott D. Denham (Hrsg.): History and Literature. Tübingen 1997, S. 303-317; Lut Missinne: Denken über Europa in der Zeit zwischen den Weltkriegen. In: Benjamin Biebuyck [u. a.] (Hrsg.): Der verirrte Kosmopolit. Joseph Roth in den Niederlanden und in Belgien. Bielefeld 2020, S. 21-35; Stephan Resch: Stefan Zweig und der Europa-Gedanke. Würzburg 2017; Anna Wilk: „Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht“. Stefan Zweig - Europäer und Pazifist. In: Marcin Gołaszewski [u. a.] (Hrsg.): Schriftsteller in Exil und Innerer Emigration. Literarische Widerstandspotentiale und Wirkungschancen ihrer Werke. Berlin 2019, S.-43-56. 25 Antje Büssgen: Zur Aktualität von Stefan Zweigs Europareflexionen. In: Barbara Ma‐ riacher [u. a.] (Hrsg.): Eurovisionen. Europa zwischen Globalisierung und Polarisation. Innen- und Außenansichten von Europa in Literatur, Geschichte und Philosophie. Würzburg 2019, S.-86-96, hier S.-86. 26 Ulrich Weinzierl: Autobiografie als Epochendarstellung. In: Arturo Larcati [u. a.] (Hrsg.): Stefan-Zweig-Handbuch. Berlin 2018, S.-340-355, hier S.-346. 27 Ebd., S.-353. 28 Ebd. Auch andernorts wird Zweig das „Selbstverständnis des Autors als Anwalt der europäischen Idee“ attestiert. Bart Philipsen und Michiel Rys: „Mag dies ein Illusionismus sein …“. Eine rhetorische Detaillektüre von Stefan Zweigs Florenzer Europa-Rede (1932). In: Orbis Litterarum 71.1 (2016), S. 53-75, hier S. 54. Insgesamt finden sich derlei pathetische Formulierungen zu Zweigs Status zuhauf. So habe der Autor „die Rolle eines geistigen Führers im Chaos von Dummheit, Arroganz, Hass und Zerstörungswut [übernommen, Anm. CE], eines Anwalts für das kulturelle Erbe inmitten seiner blinden Zerstörung, sei es im Ersten Weltkrieg oder angesichts des aufziehenden Faschismus.“ Hinrich C. Seeba: „Das moralische Gewissen Europas“. Stefan Zweig und Robert Menasse. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9.1 (2018), S.-119-136, hier S.-120. für Europa sei. Nichtsdestotrotz firmiert Zweig, der „schon zu Lebzeiten als großer Europäer“ 25 galt, auch heute noch als Parade-Europäer, der „die Ideale des Pazifismus, der Humanität und des Europäertums, die für ihn gern gebrauchte tönende Worthülsen“, 26 vertreten habe, wie es Ulrich Weinzierl formuliert. Zweig habe, so Weinzierl weiter, mit seiner Autobiographie „das literarische Gründungsdokument der Idee Europa in deutscher Sprache“ 27 verfasst, bei Die Welt von Gestern handele es sich um „die Memoiren des ersten Europäers“. 28 Von literarischen Europa-Ideen des 20.-Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? 15 <?page no="16"?> 29 Vgl. Stephan Resch: Europa-Reden. In: Arturo Larcati [u. a.] (Hrsg.): Stefan-Zweig- Handbuch. Berlin 2018, S.-520-525, hier S.-520. 30 Vgl. Bettina Hey’l: Stefan Zweig im Ersten Weltkrieg. Der Pazifismus eines Europäers mit Widersprüchen (21.11.2016). URL: https: / / literaturkritik.de/ public/ rezension.php? r ez_id=21621 (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2024). 31 Stefan Zweig: Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung. In: Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzens‐ berger. Frankfurt am Main 1994. S.-294-314, hier S.-295. Zweigs Idee von Europa, die eine vor allem kulturgeschichtliche ist, beginnt sich in den 1920er Jahren zu formieren. 29 Sie mündet in der durchaus als fortschrittsoptimistisch zu bezeichnenden Überzeugung, dass es gelte, die Na‐ tionalismen zu überwinden, um dauerhaften Frieden in einem vereinten Europa zu garantieren. Zweigs Idealvorstellung für Europa besteht in dessen Einheit - so war er etwa der Pan-Europa-Bewegung Richard Coudenhove-Kalergis gegenüber deutlich aufgeschlossen. Gleichwohl gilt es, den Autor für seine europäische Haltung nicht zu idealisieren, denn auch Zweig kennt die Begeiste‐ rung zu Beginn des Ersten Weltkriegs und eine nationale Gesinnung bei zugleich kritisch-pazifistischen Äußerungen, wodurch seine Haltung in dieser Zeit als eine zumindest ambivalente zu charakterisieren ist. 30 Zu den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs kommt bei Zweig noch die Zeitgenossenschaft zum Zweiten Weltkrieg hinzu, die ihn von den nationalen Tönen der Jahrhundertwende abrücken lässt und zu einer Hinwendung zu Pazifismus und der Idee Europa als Einheit führen. Dies äußert sich beispielsweise in der 1932 in Florenz gehaltenen Rede Zweigs mit dem Titel Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung. Angesichts der Krise Europas fokussiert sich Zweig, darin Hofmannsthal nicht unähnlich, auf europäischen Geist und Kultur: „Ich will in dieser Stunde versu‐ chen, in einem Blick auf die geistige Entwicklung Europas eine kurze Geschichte jener ewigen Sehnsucht nach Einheit des Gefühls, Wollens, Denkens und Lebens zu geben, die in zweitausend Jahren jenes wunderbare Gemeinschaftsgebilde geschaffen hat, das wir stolz europäische Kultur nennen.“ 31 Den Ursprung des Europäischen macht Zweig in der Antike aus, wertet das Imperium Romanum als Vorbild und betont die ordnungsstiftende Funktion Roms sowie das römische Reich als Ansatz zu einer geistigen Einheit Europas: Die wahre politische und geistige Einheit Europas, die Universalgeschichte beginnt erst mit Rom, mit dem römischen Imperium. Hier geht zum erstenmal von einer Stadt, einer Sprache einem Gesetz der entschlossene Wille aus, alle Völker, alle Nationen der damaligen Welt nach einem einzigen, genial durchsonnenen Schema zu beherrschen und zu verwalten - Herrschaft nicht nur wie bisher einzig durch militärische Macht, 16 Corina Erk <?page no="17"?> 32 Ebd., S.-297f. 33 Vgl. ebd., S.-298. sondern auf Grund eines geistigen Prinzips, Herrschaft nicht als bloßer Selbstzweck, sondern als sinnvolle Gliederung der Welt. Mit Rom hat zum erstenmal Europa ein ganz einheitliches Format, und fast möchte man sagen, zum letztenmal, denn nie war die Welt einheitlicher geordnet als in jenen Tagen. Ein einziger geistiger Plan überspann wie ein kunstvolles Netzwerk vom Nebelreich Britanniens bis zu den glühenden Sandwüsten der Parther, von den Säulen des Herkules bis zum euxinischen Meer und den skythischen Steppen die noch ungeformten und geistig dumpfen Nationen Europas. Eine einzige Art der Verwaltung, des Geldwesens, der Kriegskunst, der Rechtspflege, der Sitte, der Wissenschaft beherrscht damals die Welt, eine einzige Sprache, die lateinische, beherrscht alle Sprachen. Über die nach römischer Technik gebauten Straßen marschiert hinter den römischen Legionen die römische Kultur, der ordnende Geist folgt aufbauend der zerstörenden Gewalt. Wo das Schwert die Lichtung geschlagen, sät die Sprache, das Gesetz und die Sitte neuen Samen. Zum erstenmal wird das Chaos Europas zur einheitlichen Ordnung, ein neuer Begriff ist erstanden, die Idee der Zivilisation, der gesitteten, nach moralischem Maß verwalteten Menschheit. Hätte dieses Gebäude noch zweihundert, noch dreihundert Jahre länger gedauert, so wären die Wurzeln der Völker schon damals ineinander verwachsen, die Einheit Europas, die heute noch Traum ist, sie wäre längst schon dauernde Wirklichkeit geworden, und auch alle später entdeckten Kontinente wären untertan der zentralen Idee. 32 Zielführend wirkt dabei vor allem Zweigs Ansatz, Europa nicht allein als Finanz-, Politik- oder Wirtschaftsraum zu bestimmen, ein Umstand, der der heutigen EU mitunter zum Verhängnis wird, sondern die Idee Europa selbst als das verbindende Element zu bestimmen. Wie bei Hofmannsthal, so spielt auch bei Zweig die Kultur die entscheidende Rolle bei der Stiftung einer europäischen Einheit. Konkret legt Zweig hierbei den Fokus auf Sprache. 33 Auch Zweigs Europa-Gedanken sind noch 1932 vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Angst vor einer amerikanischen oder sowjetischen Übermacht nicht gänzlich frei von Elementen geistig-ideeller europäischer Überlegenheit und damit von Eurozentrismus: Mit einem Ruck sinkt die europäische Kultur tief unter den Wasserspiegel der orientalischen und chinesischen. Erinnern wir uns an diesen Augenblick europäischer Schmach: die Werke der Literatur verbrennen oder vermodern in Bibliotheken. Von den Arabern müssen sich Italien und Spanien die Ärzte, die Gelehrten borgen, bei den Byzantinern noch einmal mühsam und ungelenk von Anfang an Kunst und Gewerbe Von literarischen Europa-Ideen des 20.-Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? 17 <?page no="18"?> 34 Ebd., S.-298f. 35 „Immer ist über dem geographischen Europa, seit seine Völker zur Kultur erwacht sind, ein geistiges sichtbar, immer erhebt eine andere Art der Kunst, der Wissenschaft das vielfarbige Banner der Einheit.“ Ebd., S.-304f. 36 Ebd., S.-299. 37 Ebd., S. 300. Und weiter heißt es bei Zweig: „Und mit einemmal ist das Wunder erfüllt, die geistigen Menschen ganz Europas, die durch ihre nicht ausgeformten Sprachen gesondert waren, können dank dieser neugeformten wieder miteinander sprechen, sie können sich Briefe schreiben und einander brüderlich verstehen. Die Grenzen zwischen den Ländern sind durch die Sprache wie mit einem Flügelschlag überwunden, es ist im Zeitalter des Humanismus gleichgültig, ob ein Student in Bologna, in Prag, in Oxford oder in Paris studiert, seine Bücher sind lateinisch, seine Lehrer sprechen lateinisch - eine Art des Redens, des Denkens und des Umgangs ist allen Geistigen Europas gemeinsam.“ Ebd., S.-301. 38 Ebd., S.-302. 39 Ebd., S.-306. erlernen; unser großes Europa, Lehrmeister in der Zivilisation, muß bei seinen eigenen Schülern in die Schule gehen! 34 Über allem steht für Zweig, der Europa nicht rein mittels geographischer Überlegungen definiert, 35 das Einheitsplädoyer: „Aber vergessen wir nicht: selbst in diesem äußersten Augenblick der Anarchie hat Europa nicht völlig den Gedanken der Einheit verloren. Denn die Idee unserer menschlichen Einheit ist unzerstörbar.“ 36 Das Lateinisch, so Zweigs Überlegung zur Einheitsstiftung via Sprache, wäre das geeignete Mittel zur Realisierung derselben: „Das Latein, die Einheitssprache, die Muttersprache aller europäischen Kulturen, ist uns auch in dieser apokalyptischen Stunde erhalten geblieben.“ 37 Die im 20. Jahrhundert vielfach thematisierte Formierung der europäischen Identität über das Geistige kommt auch bei Zweig zum Tragen: Diese erste Form geistigen Europäertums - rühmen wir sie neidvoll, denn sie bedeutet nach einer langen Epoche der Kriege, also der Brutalität und Entfremdung, endlich wieder einen der Höhepunkte europäischer Humanität. Obwohl räumlich durch Tausende Meilen, durch Wochen und Monate getrennt, leben die Dichter, die Denker, die Künstler Europas damals inniger verbunden als heute in der Zeit der Flugzeuge, Eisenbahnen und Automobile. 38 Zur Stiftung eben jener Einheit, gelte es, die Nation zu überwinden, damit „etwas wie eine gemeinsame europäische Psyche im Werden ist und über der nationalen Literatur und dem nationalen Denken eine Weltliteratur, ein europäisches Denken, ein Menschheitsdenken beginnt.“ 39 Gleichwohl versteht Zweig die Herstellung der europäischen Einheit als Zukunftsprojekt, wenn er schreibt: „[D]ie Vernunft wird siegen und baldigst die Oberhand behalten, 18 Corina Erk <?page no="19"?> 40 Ebd., S.-313. 41 Hey’l spricht hierbei von einem „Lektüreereignis ersten Ranges nach 1945“. Hey’l: Stefan Zweig im Ersten Weltkrieg, o. S. 42 Philipsen / Rys: „Mag dies ein Illusionismus sein …“, S.-54. 43 Dem widerspricht beispielsweise Walter Jens, der darauf verweist, dass Zweig 1914 durchaus mit Euphorie auf Krieg und Nationalismus reagiert habe, worin er im Übrigen, so ließe sich ergänzen, Zeitgenossen wie Hofmannsthal oder Thomas Mann nicht unähnlich war. Vgl. Walter Jens: Nachdenken über einen Europäer. Augsburger Rede auf Stefan Zweig. In: Literatur in Bayern 63 (2001), S.-2-9, hier S.-2f. 44 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Hrsg. und kom‐ mentiert von Oliver Matuschek. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2021, S.-9. 45 Ebd., S.-12. 46 Vgl. ebd., S.-145f. 47 Ebd., S.-214f. morgen, übermorgen werden wir ein vereintes Europa sehen, in dem es keinen Krieg mehr gibt, keine Binnenpolitik und keinen zerstörenden Völkerhaß“. 40 1942, posthum, erscheint Zweigs Autobiographie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. 41 Bei Zweigs Memoiren handelt es sich um einen literarisch geformten Text, nicht um eine faktuale Schrift, der Autor konstruiert darin „für sich selbst das Ethos des brückenbauenden Europäers“. 42 So ist die Schrift Die Welt von Gestern auch die Selbststilisierung Zweigs als Europäer und Pazifist, der er von Anfang an gewesen sei. 43 Auch dieser Text hebt mit dem Topos von der Krise Europas an: „Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde“. 44 Seiner Haltung der Ablehnung von Nationalismen aller Art und der Betonung des Kulturbegriffs bleibt Zweig weiterhin treu: „[I]ch habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Rußland und vor allem jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat.“ 45 Dies gilt auch für das Plädoyer Vielfalt und Einheit gleichermaßen. 46 Bei aller Wertschätzung für „ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein euro‐ päisches Nationalbewußtsein“, 47 denen Zweig einen hohen Stellenwert zuweist, artikuliert sich in Die Welt von Gestern zugleich eine gewisse Distanzierung von einer eurozentrischen Haltung, zu deren Revision Zweig infolge vielfältiger Reisen gekommen ist, unter anderem nach Indien: „Veränderte Distanz von der Heimat verändert das innere Maß. Manches Kleinliche, das mich früher über Gebühr beschäftigt hatte, begann ich nach meiner Rückkehr als kleinlich anzusehen und unser Europa längst nicht mehr als die ewige Achse unseres Von literarischen Europa-Ideen des 20.-Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? 19 <?page no="20"?> 48 Ebd., S.-203. 49 Ebd., S.-217. 50 Ebd., S.-258. 51 Ebd., S.-302. 52 Ebd., S.-339. 53 Ebd., S.-344. 54 Ebd., S.-349. 55 Ebd., S.-425f. 56 Ebd., S.-442. 57 Norbert Wolf: Europa-Konzeptionen in der österreichischen Literatur der Zwischen‐ kriegszeit. Hofmannsthal - Musil - Zweig. In: Pandaemonium 24.44 (2021), S. 106-123, hier S.-112. Weltalls zu betrachten.“ 48 Zweigs Glaube an die europäische Identität, an ein „kommende[s] Europäertu[m]“ 49 bleibt weiterhin bestehen, ebenso der Antrieb zum „Aufbau einer europäischen Kultur“. 50 Zeitlebens, so Zweig, habe er den Traum von einem „gemeinsame[n] Europa“, 51 einem „geeinte[n] Europa“ 52 gehegt, und zwar bei gleichzeitiger Absage an das Nationale, „für mich, dessen Gedanken von Anbeginn einzig auf das Europäische, auf das Übernationale gerichtet gewesen“. 53 Immer wieder betont Zweig in seinen Memoiren die Fokussierung auf die eine Idee, „die seit Jahren die eigentliche meines Lebens geworden: für die geistige Einigung Europas“. 54 Dieses permanente Bekenntnis zu Europa mit Formulierungen wie „Wie weit ich mich auch entfernte von Europa, sein Schicksal ging mit mir.“ 55 in der Autobiographie ist mitverantwort‐ lich für Zweigs Ruf als Parade-Europäer. Als Pazifist gilt sein fortwährendes Plädoyer dem „Frieden Europas“. 56 Auch wenn sich in Zweigs Europa-Reden sowie in seiner Autobiographie etliche Momente der politischen Auseinandersetzung mit Europa finden, so dominiert doch auch bei ihm die Bestimmung des Europäischen über das Kulturelle. Die kulturelle Vielfalt in Einheit trage insgesamt zur europäischen bei. Dies schließt bei Zweig allerdings ein Engagement „in den frühen und mittleren dreißiger Jahren im eigentlichen Wortsinn für die politische Einigung Europas“ nicht aus, „[w]ährend Hofmannsthal in den zwanziger Jahren für ein geistesaristokratisches Europa der Nationalstaaten eintrat“. 57 Gerade die antina‐ tionalistischen Europa-Reden der 1930er Jahre zählen zu den eher seltenen di‐ rekten politischen Äußerungen des Schriftstellers. Konkrete Vorschläge Zweigs betreffen dabei beispielsweise die Erziehung der Jugend zu Europäer: innen, etwa über den akademischen Austausch oder das Unterrichten europäischer Kulturgeschichte in den Schulen, wie der Autor dies in der in Rom gehaltenen 20 Corina Erk <?page no="21"?> 58 Vgl. Stefan Zweig: Die moralische Entgiftung Europas. In: ders.: Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902-1942. Hrsg. v. Knut Beck. Frankfurt am Main 1990, S.-40-56. 59 Vgl. ebd., S.-43. 60 Vgl. hierzu exemplarisch zum Beispiel die Untersuchung Bastian Spangenberg: Euro- Ethnozentrismus und (post-)imperialistische Motive in Stefan Zweigs Die Reise in die Vergangenheit (1929). In: Trajectoires 14 (2021). DOI: 10.4000/ trajectoires.6795. 61 In seiner Zeit ist Zweig beileibe nicht der einzige Pazifist unter den Schriftstellern. Wiederzuentdecken gelte es in diesem Kontext insbesondere auch im essayistischen und literarischen Europa-Diskurs unterrepräsentierte Autorinnen wie Annette Kolb. Vgl. einführend Charlotte Marlo Werner: Annette Kolb. Eine literarische Stimme Europas. Königstein 2000; Armin Strohmeyr: Annette Kolb. Dichterin zwischen den Völkern. München 2002. Kolb, die wie Zweig für die Einheit Europas eintrat, gilt immer noch als Außenseiterin. Vgl. Anne-Marie Saint-Gille: „Mehr als die Völker bedarf der Völkerbund des Schutzes! “ Annette Kolb als europagesinnte Außenseiterin. In: Paul Michael Lützeler [u. a.] (Hrsg.): Einheit in der Vielfalt? Der Europadiskurs der SchriftstellerInnen seit der Klassik. Berlin 2021, S. 111-114, hier S. 111. Kolbs „Bekenntnis zu Europa“ (Stefan Lindinger: Der Europagedanke in der Essayistik Annette Kolbs. In: Tomislav Zelić [u. a.] (Hrsg.): Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee. Würzburg 2015, S. 195-205, hier S. 195) ist das einer Pazifistin, die den Ansatz der Vielfalt in Einheit vertritt. Die enge Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich gilt ihr als Voraussetzung für den Frieden in Europa. Ihren europäischen Standpunkt vertritt sie, die Anteil an der Pan-Europa-Bewegung hatte, neben den 1917 in Berlin erschienenen Briefen einer Deutsch-Französin, zum Beispiel im Roman Die Schaukel. Vgl. Rede Die moralische Entgiftung Europas aus dem Jahr 1932 formuliert. 58 Im Gegensatz zu Hofmannsthal sind Zweigs Ideen für Europa konkreterer Natur, etwa was die Rolle von Bildung, Erziehung, Kunst und Sprache bei der Her‐ stellung der europäischen Einheit angeht. Und auch wenn Zweigs Ton nach Hitlers Machtübernahme insgesamt resignativer wird, was die Idee eines in Frieden geeinten Europas betrifft, hält er doch nichtsdestotrotz an diesem als Zukunftsprojekt fest, wenngleich die geistige Führungsposition des alten Europas nunmehr in Zweifel gezogen wird, was die mitunter eurozentrische Haltung in seinen Äußerungen abmildert. Gerade indem Zweig betont, dass die Einheit Europas nicht nur über Po‐ litik und/ oder Wirtschaft herzustellen sei, 59 verweist er, gleichsam prospektiv, auf einen Aspekt, an dem der Krisenzustand der gegenwärtigen EU immer wieder festgemacht wird. Zwar mag man ihm ein insgesamt teleologisches Geschichtsbild und eine stark idealistische Haltung attestieren, was seine Europavision angeht. Auch vor einem gewissen Eurozentrismus 60 und einem elitären Ansatz, bedingt durch die Fokussierung auf das geistige Europa, das sich als Elitenprojekt interpretieren ließe, ist Zweig, wie bereits Hofmannsthal und andere mit ihm, nicht gefeit. Zudem wirkt es, als würde Zweig mit seinem Hang zum ‚extremen‘ Pazifismus 61 die wehrhafte Demokratie geradezu negieren. Von literarischen Europa-Ideen des 20.-Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? 21 <?page no="22"?> hierzu Benjamin Biebuyck: Interkulturalität und Krise. Erlebtes Europa bei Thomas Mann und Annette Kolb. In: Florian Kläger und Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Europa gibt es doch … Krisendiskurse im Blick der Literatur. Paderborn 2016, S. 159-184. 62 Vgl. Peter Hanenberg: „Europa als literarische Erfahrung in der deutschsprachigen Literatur seit dem 17. Jahrhundert“. In: Christoph Parry und Liisa Voßschmidt (Hrsg.): Europäische Literatur auf Deutsch? München 2008 [Perspektiven 2], S. 15-29, hier S. 24. Wo sein Europa-Ansatz weitgehend unpolitisch sein will, wird man festhalten müssen, dass Europa so ganz ohne Politik nicht zu haben sein wird. Und zuletzt wird man fragen müssen, ob die Bindung an die sogenannten europäischen Werte für die Einheit Europas sinnvoller ist als ein vor allem auf das Rationale ausgerichteter Ansatz. Gleichwohl erweisen sich einige von Zweigs Ideen als durchaus anschlussfähig für gegenwärtige wie zukünftige Überlegungen für das Konstrukt Europa, verbindet sich bei ihm doch der dialogisch-kulturelle mit dem politischen Europa-Begriff. 62 Zweigs Pazifismus, sein Humanismus sowie sein Europäertum bleiben zeitlose Ansätze. Gleiches gilt für seine Betonung der innereuropäischen Verständigung wie seine Ablehnung aggressiver, geopo‐ litisch agierender Nationalismen. Zweigs Glaube an die Zukunft eines geeinten Europas besitzt nach wie vor Gültigkeit, ebenso seine Prämisse des gesamtge‐ sellschaftlichen Engagements für eben dieses Europa sowie dessen Ringen um die Frage einer europäischen Identität. All dies hat gegenwärtig nichts von seiner Relevanz eingebüßt und wird Europa und die EU gleichermaßen auch in der Zukunft beschäftigen. 22 Corina Erk <?page no="23"?> 1 Der Begriff „Geschichtskrieg“ soll hier nicht polemisch verstanden werden, sondern auf die Instrumentalisierung der Vergangenheit zu machtpolitischen Zwecken als eine Strategie hybrider Kriegsführung verweisen. Vgl. dazu Michael Thumann, Geschichte als Waffe. In: Die Zeit 42 (2020), S.-20. 2 Vgl. Aleida Assmann: Transnational Memories. In: European Review 22 (4) (2014), S.-546-556, hier S.-552. Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche in Kontroversen um das erinnerungskulturelle Erbe Europas Christiane Hoffmanns Alles, was wir nicht erinnern (2022) Caren Bea Henze, Freiburg im Breisgau I. Literatur im Spannungsfeld östlicher und westlicher Erinnerungstraditionen Im Rahmen des gegenwärtig proklamierten Geschichtskriegs zwischen Ost und West lassen sich literarische Auseinandersetzungen mit dem erinnerungskultu‐ rellen Erbe Europas als gezielte Interventionen in aktuelle Gedenkkontroversen lesen. 1 Angesichts des hohen Konfliktpotenzials, welches konkurrierende er‐ innerungspolitische Ansprüche auch innerhalb der EU noch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bergen, kommt der neueren transnationalen Erinnerungsliteratur als metakulturellem Reflexionsmedium besondere Ver‐ antwortung im Vermittlungsprozess zwischen den historisch unterschiedlich gewachsenen Erinnerungskulturen zu. Die beiden prominenten Vertreterinnen der literaturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung im deutschsprachigen Raum, Aleida Assmann und Astrid Erll, konstatieren, dass das europäische Ge‐ dächtnis bis heute durch die Gewalterfahrungen des Holocausts und des Gulags geteilt sei bzw. Europa sich grob skizziert in zwei Erinnerungsregionen einteilen lasse: Westeuropa mit dem Holocaust als negativem Gründungsmythos und Ost‐ europa mit dem Fokus auf die Erinnerung an stalinistische Verbrechen. 2 Beide <?page no="24"?> Vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2017, hier S.-131. 3 Vgl. Lena Dorn / Marek Nekula / Václav Smyčka (Hrsg.): Zwischen nationalen und transnationalen Erinnerungsnarrativen in Zentraleuropa. Berlin, Boston 2021, hier S. 3 und S. 10. In Anlehnung an Dorn, Nekula und Smyčka wird hier für die u. a. Polen, Tschechien und Ungarn umfassende Region der Begriff „Zentraleuropa“ verwendet, der sich teils im Rahmen der Diskussionen von Milan Kunderas Essay Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas, teils in Abgrenzung zum ideologisch belasteten Konzept „Mitteleuropa“ bzw. „Ostmitteleuropa“ etabliert hat. 4 Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. München 2022, hier S.-96f. und S.-99f. Erinnerungsräume sind nicht als homogen und abgeschlossen zu denken, son‐ dern beziehen sich auf unterschiedlich geprägte Erinnerungstraditionen, wobei der ungleiche Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit innerhalb des östlichen Europas eine weitere Aufsplitterung dieses Raumes in disparate Erinnerungsareale bedinge. 3 Insbesondere Zentraleuropa, dessen Geschichte von den Verbrechen beider totalitärer Regime, des Nationalsozialismus und des Stalinismus, geprägt ist, erscheint als Schauplatz konfligierender, jedoch auch produktiv interagierender Erinnerungsnarrative und -praktiken, welche die in der Forschung wiederholt diagnostizierte, reduktionistische Ost-West- Dichotomie in der europäischen Erinnerungslandschaft unterlaufen. Da sie zugleich als Komplement und Korrektiv zu hegemonialen, national gerahmten Erinnerungsnarrativen fungieren können, wirken transnationale Erinnerungsliteraturen im besten Fall revanchistischen und geschichtsrevisio‐ nistischen Tendenzen entgegen und bieten somit eine Grundlage für grenzüber‐ schreitende erinnerungskulturelle Aushandlungsprozesse. Indem Autor: innen die in erinnerungspolitischen Debatten wirksamen diskursiven Strategien, wie die der Dekulpabilisierung, Heroisierung und Viktimisierung, sichtbar machen, setzen sie sich kritisch mit den ideologischen Unvereinbarkeiten verschiedener nationaler Narrative auseinander und hinterfragen die politischen Motivationen problematischer Geschichtsdeutungen. So erscheint Anfang des Jahres 2022, kurz vor Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, mit Christiane Hoffmanns Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters ein literarisches Zeitzeugnis, das sich als unmittelbare Reaktion auf die sich anbahnende kriegerische Eskalation und zugleich als Reflexion des gravierenden vorangegangenen erinnerungspolitischen Konflikts lesen lässt: Im Osten Europas tobt ein Geschichtskrieg, ein Krieg des Gedenkens, Russen, Polen und Ukrainer beschuldigen sich gegenseitig, ihn entfesselt zu haben. […] Wir Deut‐ schen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, […] dass wir mit der Vergangenheit fertig sind, weil wir alles benannt und bereut haben. 4 24 Caren Bea Henze <?page no="25"?> 5 Abgesehen von vereinzelten Rezensionen im Feuilleton ist bisher lediglich Aleida Ass‐ manns (tendenziell essayistische) Textbesprechung erschienen, die den Schwerpunkt auf das Familiengedächtnis und die damit verbundene Trauer- und Erinnerungsarbeit legt. Vgl. Aleida Assmann: Der Krieg in den Knochen. Christiane Hoffmanns Familien‐ geschichte „Alles, was wir nicht erinnern“. In: Merkur 877 (2022), S.-56-63. 6 Vgl. Anja Tippner: Erinnerung und Transnationalität. In: Doerte Bischoff (Hrsg.): Handbuch Literatur und Transnationalität. Berlin/ Boston 2019, S. 156-170, hier S. 156. Anders als der Buchtitel suggeriert, reagiert die deutsche Journalistin und stellvertretende Regierungssprecherin Hoffmann nicht nur auf anhaltende Defizite in der Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung der Schlesiendeut‐ schen im Jahr 1945. Vielmehr begreift sie die mit der Eröffnung des Berliner Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung vermeintlich abge‐ schlossene Erinnerungsarbeit als Symptom einer zunächst vorbildlich, jedoch zusehends selbstgerecht erscheinenden deutschen Erinnerungspolitik und setzt diese durch differenzierte Aktualitätsbezüge und eine genaue, journalistisch geschulte Beobachtung des politischen Zeitgeschehens mit dem aktuellen Ge‐ schichtskrieg in Beziehung. Das spezifische Potenzial des Textes, der bisher kaum literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat, 5 liegt, so meine These, insbesondere in der vergleichenden Reflexion offizieller und inoffizieller Erinnerungspraktiken in Polen, Tschechien und Deutschland sowie in stichpro‐ benartigen Einblicken in aktuelle, kontrovers geführte Diskussionen über eine gemeinsame Wertebasis der EU. II. Erkundungen eines transnationalen Erinnerns an Zwangsmigration Die vermeintliche oder tatsächliche Unvereinbarkeit disparater Erinnerungs‐ narrative wirft stets die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer gemeinsamen Gedächtnisbildung von miteinander in Konflikt stehenden Erin‐ nerungsgemeinschaften auf. Bei der Bewegung über Grenzen hinweg und dem Transfer von einer nationalen Erinnerungskultur in eine andere entstehen Anja Tippner zufolge „neue, transnationale Erinnerungskulturen, in denen divergente Deutungen aufeinandertreffen, Ereignisse neu bewertet und tra‐ dierte Narrative befragt und transformiert werden“. 6 Zu den gegenwärtigen erinnerungskulturellen Herausforderungen im Umgang mit der geteilten euro‐ päischen Gewaltgeschichte gehört deshalb insbesondere ein transnationales Gedenken, das die Erinnerung an Nationalsozialismus und Stalinismus gleicher‐ maßen zulässt, ohne dass dabei ersteres relativiert oder letzteres trivialisiert wird. Um eine Denationalisierung und Reeuropäisierung beider Erinnerungen Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche 25 <?page no="26"?> 7 Vgl. Assmann: Transnational Memories, S.-553. 8 Vgl. Ebd., S.-552. 9 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Alles, was wir nicht erinnern für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 in der Kategorie „Sachbuch“ nominiert wurde. Die Genrebezeichnung „Erzählreportage“ wurde im Rahmen dieser literaturwissenschaft‐ lichen Untersuchung gewählt, um dem literarisch überformten und zugleich reflexiven Charakter der dokumentarisch angelegten Darstellung Rechnung zu tragen. 10 Assmann: Der Krieg in den Knochen, S.-63. zu ermöglichen, plädiert Assmann für ein auf Verantwortungsübernahme und wechselseitiger Anerkennung von Opfern basierendes, dialogisches Erinnern als Grundlage für eine Gedächtnispolitik jenseits nationaler Identifikationen und Interessen. 7 Zugleich sensibilisiert sie jedoch auch für wesentliche Hürden, indem sie den etablierten, transnationalen Charakter des Holocaustgedenkens der deutlich umstritteneren Geschichte der Erinnerung an den Stalinistischen Terror gegenüberstellt. 8 In Alles, was wir nicht erinnern erkundet Hoffmann die Möglichkeiten eines gemeinsamen transnationalen Gedenkens der millionenfachen Erfahrungen von Zwangsmigration unter Nationalsozialismus und Stalinismus, ohne die historischen Unterschiede nivellieren zu wollen. Obwohl der Schwerpunkt auf dem Nachvollzug der Erfahrungen ihres als Kriegskind aus Schlesien vertrie‐ benen Vaters liegt, beschränkt sich Hoffmanns autobiographisch motivierte Erzählreportage nicht auf die Rekonstruktion der familialen Fluchtgeschichte aus der Perspektive der Nachfolgegeneration. 9 Vielmehr unterzieht Hoffmann, die im Zuge ihrer Recherchen den Fluchtweg ihres Vaters zu Fuß erkundet und mit Nachkommen polnischer, ukrainischer und tschechischer Vertriebenen ins Gespräch kommt, die familieneigenen und die ihr begegnenden Erinnerungs‐ narrative einer kritischen Revision. In diesem dialogischen Erinnern erkennt Assmann das Potenzial eines „neuen Heimat- und Verlust-Diskurses“, der unterschiedliche Geschichten anerkenne und dabei immer auch das Gemein‐ same im Blick behalte: „die Verletzlichkeit aller Menschen und den Wunsch nach Sicherheit als universales Grundbedürfnis“. 10 In der tagebuchähnlichen Nacherzählung ihrer Eindrücke entlang der durch das heutige Polen, Tschechien und Deutschland führenden Fluchtroute verbinden sich Überlegungen zu den transgenerationalen und transnationalen Folgen von Zwangsmigration mit der Analyse konfligierender erinnerungskultureller Bedürfnisse. Bei dem Versuch, die Geschichte Schlesiens aus gleichberechtigter transna‐ tionaler Perspektive zu recherchieren, stellt Hoffmann nicht nur die bis heute anhaltende Koexistenz unvereinbarer historischer Monologe, sondern auch das überwiegende Ausbleiben von Vermittlungsversuchen fest. Die Konzentration auf die eigene Verlusterfahrung habe in Deutschland den Blick auf die Tatsache 26 Caren Bea Henze <?page no="27"?> 11 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-114. 12 Vgl. ebd., S.-114. 13 Ebd., S.-29 und S.-182. 14 Vgl. ebd., S.-114. 15 Vgl. ebd., S.-260 und S.-190. verstellt, dass Schlesien lediglich eine Kompensation für die von der Sowjet‐ union einverleibten ostpolnischen Gebiete darstelle. 11 Um eine Annäherung der ostpolnischen und schlesischen Erinnerungsgemeinschaften zu fördern, verweist sie vor allem auf die gemeinsame Erfahrung, „Verfügungsmasse“ im Rahmen geostrategischer Pläne der Sowjetunion gewesen und infolgedessen Opfer der polnischen Westverschiebung geworden zu sein. 12 Dass eine isolie‐ rende nationale Aufarbeitung der Zwangsumsiedlungen angesichts der diversen machtpolitischen Interessen nicht zielführend ist, zeigt sich in Hoffmanns Ausführungen zu den weitreichenden Auswirkungen imperialistischer Kriegs‐ führung, darunter auch zum geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, das die ostpolnischen Gebiete der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen hatte. Um einer Reduktion der Vertreibungsdebatte auf Diskussionen über Schuld, Unrecht und Strafe entgegenzuwirken, zeigt Hoffmann auf, dass die Vertrei‐ bungen im Jahr 1945, im Text konzeptualisiert als das Umfüllen von Menschen wie Flüssigkeiten, von den Siegermächten ursprünglich geplant waren als „ethnische Säuberungen für einen guten Zweck“, verbunden mit der Hoffnung, künftige Kriege zu verhindern: „tabula rasa, de[r] Traum, alle Geschichten zu tilgen, um noch einmal bei Null anzufangen, ohne Gedächtnis, ohne Wunden, ohne den Wunsch nach Rache und Vergeltung“. 13 Sie erklärt, dass die zugrun‐ deliegende Idee ethnisch reiner Nationalstaaten durch ‚Entmischung‘ zwar nach Rassenhygiene klinge, jedoch nicht ideologisch, sondern pragmatisch gemeint sei und daher im Rahmen der Pläne zur Stabilisierung der europäischen Nach‐ kriegsordnung „Bevölkerungstransfers“ als ein Beitrag zum Frieden empfohlen worden seien. 14 Mit ihren eindrücklichen Schilderungen der leidvollen Erfah‐ rungen nicht nur des Heimatverlusts, sondern vor allem auch der gewaltsamen Vertreibungs- und lebensbedrohlichen Fluchterfahrungen, wirkt sie jedoch solch verharmlosenden Rationalisierungen von Zwangsumsiedlungen gezielt entgegen. Während die Vertreibung der Deutschen im Text ausschließlich im Kontext der NS-Schuld diskutiert wird, liegt der Schwerpunkt bei den osteuropäischen Vertriebenen auf deren doppelten Leiden unter nationalsozialistischen und stali‐ nistischen Verbrechen wie Zwangsarbeit, Kriegsgefangenschaft, Zwangsrekru‐ tierungen, Vertreibungen und Ermordungen. 15 Die anhaltenden Schwierigkeiten Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche 27 <?page no="28"?> 16 Vgl. ebd., S.-70. 17 Der Begriff des Postmemorialen geht auf die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch zurück, die, basierend auf dem Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Traumata, postmemory als die von den traumatischen Erfahrungen der Erlebnis‐ generation geprägten, vermittelten Erinnerungen der Folgegeneration definiert. Im Gegensatz zum direkten Erinnern erfolgen postmemoriale Zugänge zur Vergangenheit Hirsch zufolge nur mittelbar und sind notwendigerweise mit einer imaginativen Nachschöpfung der ererbten Erinnerungen verbunden. Vgl. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. In: Poetics Today 29 (2008), S.-103-128, hier S.-107. Polens, Schlesien als Preis der Deutschen für den Überfall auf Polen 1939 und die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg einerseits und als Kompensation für die verlorenen ostpolnischen Gebiete andererseits zu akzeptieren, macht Hoffmann durch Einblicke in die immanenten Widersprüchlichkeiten des offiziellen Dis‐ kurses für ein deutsches Lesepublikum nachvollziehbar. Diese sieht sie nicht nur in der Verschleierung der Zwangsumsiedlungen durch Bezeichnungen wie „Repatriierte“, sondern auch in der anscheinenden Notwendigkeit, die Polonisierung Schlesiens für eine erfolgreiche Aneignung der sogenannten wiedergewonnenen Gebiete mit einem konstruierten historischen Anrecht zu begründen. 16 Wiederholt kontrastiert sie diese Darstellung mit den Erzählungen der Betroffenen und verdeutlicht somit die Diskrepanz zwischen offiziellem und inoffiziellem Narrativ. Um der Perspektive der deutschen Vertriebenen Raum zu geben, ohne revanchistische Absichten zu unterstützen, dokumentiert Hoffmann verschie‐ dene Positionen zur Vertreibungsdebatte und unterzieht deren Narrative einer kritischen Relektüre. Im Zuge ihrer postmemorialen Aufarbeitung kombiniert sie die differenzierte Bestandsaufnahme der in ihrer eigenen Familie geführten und selbst bezeugten Diskussionen mit dem durchaus gewagten Unterfangen, sich stellvertretend für ihren verstorbenen Vater der verdrängten Kriegskin‐ derfahrungen zu erinnern. 17 Um nicht der Versuchung zu unterliegen, die Familienvergangenheit im nationalsozialistischen Deutschland aufgrund der Vertreibungserfahrung zu einem Opfernarrativ zu verklären, unterbricht Hoff‐ mann ihre Darstellungen wiederholt mit unbequemen Fragen zu möglicher Täter- und Mitwisserschaft. Die Kriegskindperspektive ihres zum Zeitpunkt der Flucht neunjährigen Vaters kontrastiert sie mit der Perspektive von dessen Bruder, der seine Jugend unter der nationalsozialistischen Propaganda ver‐ brachte und als junger Mann in der Wehrmacht diente. Während ihr Vater von der Vertreibung „noch nicht einmal als Unrecht“ spreche und die Ostpolitik nicht für einen „Verrat an den Vertriebenen, sondern eine überfällige Aussöh‐ nung“ halte, sehe sich ihr Onkel im Nachhinein von den Nationalsozialisten „verführt und missbraucht“, sodass er, anstatt sich persönlich schuldig zu fühlen, 28 Caren Bea Henze <?page no="29"?> 18 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-260 und S.-262f. 19 Ebd. S.-260. 20 Ebd. S.-117. 21 Ebd. S.-260. 22 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S. 69. Zum Vorwurf der fehlenden Aufarbei‐ tung der Vergangenheit, wenn nicht des Geschichtsrevisionismus, gegen den deutschen „Bund der Vertriebenen“ u. a. wegen des opferbetonten, den Zweiten Weltkrieg aus‐ sparenden Vertreibungsnarrativs im Rahmen der Wanderausstellungen des „Zentrums gegen Vertreibungen“ vgl. Dorn / Nekula / Smyčka: Zentraleuropa, S.-11f. aufrechne: „Schuld gegen Schuld, die Verbrechen der Deutschen gegen Stalins Verbrechen und die Verbrechen der Alliierten“. 18 Zu den Strategien der eigenen Dekulpabilisierung gehören hier neben der Selbstviktimisierung die Abwehr der persönlichen Verantwortung durch deren Verlagerung auf die kollektive Ebene und die Relativierung der deutschen Schuld durch teils polemische Vergleiche. In der Feststellung, dass die Schuldfrage von Vertriebenen, die in NS-Verbre‐ chen zumindest als Mitwisser oder Mitläufer involviert waren, fast ausschließ‐ lich im Rahmen nahezu grotesker Aufrechnungen verhandelt wird, liegt eine der zentralsten Erkenntnisse des Textes: „Schuld wird immer verrechnet. Die Vertriebenen zahlen den Preis, aber dann ist die Schuld auch gesühnt. […] Sie schließen mit sich selbst einen Pakt des Schweigens.“ 19 Die vermeintliche Kompensation der deutschen Schuld durch die erlittene Vertreibung durchzieht leitmotivisch die in ihrem Nachleben heute noch wirkmächtigen Diskussionen: „das ganze Rechten über Unrecht und Rückkehrrecht, darüber, wem dieses Land rechtmäßig gehört“. 20 Mit bitter-ironischen Wortspielen unterstreicht Hoffmann die Illegitimität dieser im Rückblick fast schon zynisch wirkenden Debatten, macht jedoch durch ihre Einblicke in das Zusammenspiel von widersprüchli‐ chen Gefühlen der Schuld, Reue, Scham und Trauer die inneren Konflikte von deutschen Vertriebenen bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Grenzwertig wird Hoffmanns erzählerische Annäherung an die Vertriebenen‐ perspektive erst, als sie selbst die kritische Distanz zu verlieren droht und in diskursive Schemata der deutschen Selbstviktimisierung verfällt: „Die Vertrie‐ benen werden bestraft für das, was die Deutschen getan haben, sie nehmen die kollektive Schuld der Deutschen auf sich, sie sind mehr als alle anderen die Leidtragenden des Krieges.“ 21 Dies verwundert umso mehr, da sie explizit die Gefahren geschichtsrevisionistischer Tendenzen in der Vertreibungsdebatte reflektiert und sogar eine Spur von Scham empfindet und die Angst, missver‐ standen zu werden: „Können diese Sätze, geschrieben von einer Deutschen, eine einfache Feststellung sein? “ 22 Um dem Revisionismusverdacht entgegen‐ zuwirken, kritisiert sie wiederholt die erinnerungskulturelle Selbstbezogenheit der Deutschen als eine Art von Narzissmus und akzentuiert die überwiegende Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche 29 <?page no="30"?> 23 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-117. 24 Vgl. Assmann: Der Krieg in den Knochen, S.-62. 25 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-113. Ignoranz gegenüber dem polnischen Leiden unter den „Verbrechen der Deut‐ schen, die nicht einmal den Warschauer Aufstand vom Aufstand im Warschauer Ghetto unterscheiden können“. 23 Indem sie, wie Assmann feststellt, gerade nicht den Anschluss an ein bestehendes Erinnerungskollektiv wie das der deutschen Vertriebenen sucht, schreibt sie somit ihre eigene Geschichtsversion in das historische Archiv ein. 24 III. Divergierende Ansprüche institutionalisierter Erinnerungsarbeit Auf der Suche nach Erklärungen für die anhaltenden Unvereinbarkeiten der na‐ tionalen Erinnerungsnarrative untersucht Hoffmann nicht nur das Fortwirken inoffizieller Diskurse, sondern unterzieht vor allem auch institutionalisierte Formen des Gedenkens einer kritischen Reflexion. Exemplarische Einblicke in östliche Aushandlungen des erinnerungskulturellen Erbes des 20. Jahrhunderts geben im Text nacherzählte und kommentierte Besuche dreier Museen in Polen, Sachsen und Tschechien. Während die Erzählung diese Ausstellungen im wahrsten Sinne des Wortes en passant behandelt, sollen die musealen Aufar‐ beitungsversuche entlang der nachgewanderten Fluchtroute hier einander ver‐ gleichend gegenübergestellt werden. Das 2011 eröffnete polnische Museum im ehemaligen Reichenbach erzählt Hoffmann zufolge die deutsche Geschichte des Ortes zwar unvollständig, trage jedoch wesentlich zu einer Enttabuisierung der Vertreibungen bei. Indem von den Deutschen zurückgelassene Alltagsgegen‐ stände mit nachholender Hingabe ausgestellt würden, entstehe ein „Museum der verbotenen Dinge“. 25 Diese materiellen deutschen Spuren, die nach dem Krieg getilgt werden sollten, sind im Polnischen mit einem eigenen Begriff versehen: poniemieckie - „ehemals deutsch“. Die Konzentration auf Lokalgeschichte und das wertungsfreie, quasi-archäologische Vorgehen erlaubt es Hoffmann zufolge, Fragen nach nationaler Schuld auszuklammern und das Museum stattdessen als Bekenntnis zu Schlesien und damit als Ort der Aneignung zu begreifen. In der gleichzeitigen Verdrängung der Erinnerung an die jüdische Geschichte des Ortes sowie an antisemitische Pogrome nach 1945 manifestiert sich jedoch die einer derart selektiven Aufarbeitung inhärente Gefahr erinnerungskultu‐ reller Exklusionen. Dies führt Hoffmann zurück auf die verbreitete Überzeu‐ gung, dass der Holocaust nicht polnische Geschichte sei, wodurch jegliche Involviertheit in die NS-Verbrechen auf apodiktische Weise abgestritten und 30 Caren Bea Henze <?page no="31"?> 26 Vgl. ebd. S.-117 und S.-130. 27 Vgl. Chiara De Cesari / Ann Rigney: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Transnational Memory: Circulation, Articulation, Scales. Berlin, New York 2014, S.-1-26, hier S.-11. 28 Vgl. Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009, hier S.-3. 29 Vgl. Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-183. 30 Ebd., S.-56. die Frage nach Antisemitismus unter den Generalverdacht gestellt werde, die polnische Schuld zu benutzen, um die deutsche Schuld zu relativieren. 26 Entgegen der verbreiteten Annahme, dass transnationale Erinnerungen eine neue, auf Menschenrechten basierende internationale Moral begründen und fördern würden, argumentieren Chiara De Cesari und Ann Rigney, dass da‐ durch zwar Wege zur Anerkennung erinnerungskultureller Anliegen bisher marginalisierter Gruppen geschaffen würden, Erinnerung jedoch auch in trans‐ nationalen Kontexten weiterhin als Instrument der Diskriminierung und Aus‐ grenzung eingesetzt werde. 27 Somit gibt die Sichtbarmachung von bewussten erinnerungskulturellen Exklusionen, wie auch Hoffmanns Beispiel zeigt, Auf‐ schluss über die Machtstrukturen und -kämpfe im Zuge der Aushandlung und Etablierung kollektiv geteilter Erinnerungen. In dem von Michael Rothberg entwickelten Konzept der multidirectional memory tritt an die Stelle eines kompetitiven Verständnisses von Erinnerungs‐ kulturen die Idee produktiver Aushandlungsprozesse zwischen vermeintlich konkurrierenden Gedächtnisdiskursen. 28 Entgegen der verbreiteten Vorstel‐ lung, dass durch die Dominanz einer Gedenkkultur die Erinnerungen anderer Gemeinschaften notwendigerweise aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt würden, nimmt Rothberg die Möglichkeit eines dynamischen, auf wechselsei‐ tiger Hervorbringung beruhenden Ko-Erinnerns an. Einen solchen Ansatz ver‐ folgt die in transnationaler Kooperation deutscher, polnischer und tschechischer Historiker entstandene Zittauer Ausstellung entKommen. Das Dreiländereck zwischen Vertreibungen, Flucht und Ankunft, deren explizites Ausstellungsziel, das Jahr 1945 zu entdramatisieren, durch die Darstellung von Flucht in drei Epochen umgesetzt wird. 29 Das museale Konzept erinnerungskultureller Ver‐ ständigung basierend auf der strukturellen Erfahrungsähnlichkeit von nicht un‐ mittelbar kausal zusammenhängenden Fluchterfahrungen korrespondiert dabei mit Hoffmanns Entwurf eines multidirektionalen Erinnerns. Denn basierend auf der Grundannahme, „Flucht war immer Menschenschicksal, Kriegsschicksal“, 30 nimmt die Autorin die eigene Familiengeschichte zum Anlass, verschiedene Erfahrungen von Zwangsmigration im 20. und 21. Jahrhundert miteinander in Beziehung zu setzen, ohne diese hierarchisieren oder nivellieren zu wollen. Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche 31 <?page no="32"?> 31 Vgl. Assmann: Transnational Memories, S.-552. 32 Vgl. Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-195. 33 Vgl. ebd., 210. 34 Zu den sog. Abschiebungs- und Vertreibungsnarrativen vgl. Dorn / Nekula / Smyčka: Zentraleuropa, S.-12f. Angesichts anhaltender nationaler Unversöhnlichkeiten plädiert Assmann dafür, den Blick nicht nur auf multidirektionale Erinnerungsdynamiken, son‐ dern auch auf entsprechende Gegenbewegungen zu richten, die die Überfüh‐ rung unterdrückter nationaler Erinnerung in eine gemeinsame transnationale Erinnerung behindern. 31 Diese gegenläufigen Tendenzen werden in Alles, was wir nicht erinnern anhand zweier tschechischer Museen sichtbar gemacht. So zeigt sich die Erzählerin besonders überrascht von der Dauerausstellung Unsere Deutschen in Ústí nad Labem, die sich um einen unbelasteten Blick auf die Vergangenheit bemühe, indem sie gegen jahrzehntelang eingeübte Stereotype von den Deutschen als Aggressoren arbeite und sie jenseits der Nazis zurück in die tschechische Geschichte hole. 32 Gleichzeitig werde im sogenannten Raum der Scham anhand kommentarlos gezeigter tschechischer Amateurfilme, die die Vertreibungen dokumentieren, die eigene historische Verantwortung kritisch beleuchtet. Mit diesem Ansatz steht die Ausstellung im starken Kontrast zum tschechischen Museum im ehemaligen Falkenau, wo sich der Erzählerin der Eindruck aufdrängt, dass die erinnerungspolitisch kontroverse Aufarbeitung der Vertreibungen, die hier als Aussiedlungen bezeichnet werden, unter diversen Vorwänden verschleppt werden soll. 33 In der harmlos wirkenden terminolo‐ gischen Uneinigkeit in Bezug auf die Zwangsaussiedlungen deutet sich die langwährende tschechisch-deutsche Auseinandersetzung an, in dessen Rahmen sich durch divergente Perspektivierung der Ereignisse und unterschiedliche Verteilung von Täter-Opfer-Rollen zwei konfligierende Erinnerungsnarrative herausgebildet haben. 34 Hoffmanns besonderes Verdienst besteht meines Erachtens darin, die Ver‐ treibungserinnerungen im Osten Europas zu rekontextualisieren und mit Einblicken in regionale Memorialpraktiken zu einer Dezentralisierung des Gedenkens beizutragen. Im Epilog stellt sie einen entscheidenden Rückbezug zur deutschen Erinnerungskultur her, indem sie abschließend ihren Besuch im eingangs erwähnten Berliner Dokumentationszentrum reflektiert, das 2021 eröffnet wurde, nach über 15 Jahren Streit darüber, ob und wie man des Schicksals von 14 Millionen deutschen Flüchtlingen, d. h. fast einem Fünftel der damaligen Bevölkerung, gedenken soll. Wurde der Blick des deutschen Lese‐ publikums bisher ostwärts gelenkt und auf diese Weise eine Entnationalisierung des Gedenkens angestrebt, bietet das Buch durch die abschließende Reaktua‐ 32 Caren Bea Henze <?page no="33"?> 35 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-271. 36 Ebd., S.-114. In diesem Zusammenhang erscheint auch Hoffmanns Verweis auf den (in Deutschland zur selben Zeit undenkbaren) Tabubruch in der polnischen Filmkomödie Sami swoi bedeutsam, die, Mitte der 1960er Jahre im kommunistischen Polen unter der Zensur gedreht, als einer der beliebtesten Filme als erste die Umsiedlung nach dem Krieg thematisierte. Vgl. ebd., S.-156f. lisierung der Vertreibungsdebatte im deutschen Kontext die Möglichkeit, die Eindrücke zu einer metakulturellen Reflexion gegenwärtiger Gedenkpraktiken zusammenzuführen. Lässt man die besprochenen Ausstellungen - Verbotene Dinge, entKommen, Unsere Deutschen - Revue passieren, wird die stark affektive Dimension des Vergangenheitsbezugs im östlichen Raum deutlich. Dies steht in auffälligem Kontrast zu Hoffmanns Wahrnehmung der deutschen Aufarbeitung im Dokumentationszentrum als „eine Flucht in die Rationalität“: „Die Ausstel‐ lung bewegt sich durch das historische Minenfeld von Flucht und Vertreibung so souverän wie vorsichtig, […] eine Ausstellung mit Berührungsangst.“ 35 Dem Anspruch dieser ihrer Einschätzung nach klug choreographierten, historisch wasserdichten und museumspädagogisch perfekten Darstellung stellt die Erzählerin ihren persönlichen Wunsch nach Trost entgegen. Auch diese Ausstellung, die Flucht als Menschheitsschicksal von Armenien bis Myanmar zeigt, ist multidirektional ausgerichtet und erfüllt, indem sie ihr zentrales Thema in einen größeren historischen Zusammenhang stellt, aktuelle erinne‐ rungskulturelle Anforderungen. Hoffmanns Kritik am Dokumentationszentrum richtet sich nicht gegen den berechtigten Anspruch auf historiographische Akkuratheit, vielmehr macht die Autorin auf die wissenschaftlichen Herange‐ hensweisen inhärente Gefahr aufmerksam, die emotionalen Bedürfnisse der Betroffenen zu vernachlässigen. So betont sie insbesondere die im Vergleich zu anderen Kulturen stark didaktische Ausrichtung deutscher Aufarbeitung: „Wir Deutschen sind es gewohnt, Geschichte als Lehrstück zu erzählen, immer mit Moral. Wer war schuld? “ 36 Mit dem abschließenden Kommentar, dass zum Trost letztlich nichts bleibe, als die eigene Geschichte zu erzählen, hebt Hoffmann das spezifische Potenzial künstlerisch-literarischer Auseinandersetzungen in ihrer Differenz zu wissenschaftlich-musealen Formen der Aufarbeitung hervor. IV. Europäisches Zukunftsgedächtnis trotz erinnerungskultureller Konflikte? Basierend auf ihren Gesprächen mit Interessierten entlang der ehemaligen Fluchtroute zeichnet die Osteuropakennerin Hoffmann ein Stimmungsbild, das das gegenwärtige Verhältnis zur geteilten europäischen Geschichte reprä‐ Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche 33 <?page no="34"?> 37 Vgl. ebd., S.-116, 118, 148 und 190. 38 Ebd., S.-192. 39 Claus Leggewie / Anne Lang: Der Kampf um die europäische Erinnerung: Ein Schlacht‐ feld wird besichtigt. München 2011, hier S.-7. 40 Vgl. ebd., S.-12-15. sentativ abzubilden scheint. Neben vereinzelten Verschwörungstheoretikern begegnet sie in Polen und Tschechien Vertretern der zweiten Generation, darunter einigen Hobbyhistorikern, deren jeweilige Vergangenheitsversionen unmittelbare Rückschlüsse auf pro- oder antieuropäische Einstellungen er‐ möglichen. Die mächtige Gegenwärtigkeit der Geschichte insbesondere im Rahmen rechtspopulistischer Instrumentalisierungen beklagen vor allem jün‐ gere Erwachsene, d. h. Repräsentanten der dritten oder vierten Generation, die zumeist den Standpunkt vertreten, dass man gedenken müsse, die Geschichte jedoch den Historikern überlassen solle, damit sie keinen Einfluss auf heutige Beziehungen habe. 37 Die Dynamik vieler Gespräche ändert sich oft erst, wenn sie EU-politische Fragen berühren. So stellt Hoffmann fest, dass selbst bei proeuropäisch eingestellten Menschen die Befürwortung der EU fast immer aus Nützlichkeitserwägungen statt aus Idealismus resultiere: „Die EU ist keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe, nur dass die EU vielleicht nicht ohne Leidenschaft auskommt, ohne die Bereitschaft auch das Schwere mitzutragen.“ 38 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Vulnerabilität dieses Bündnisses und damit die zentrale Hürde für Bemühungen um eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur in der Reduktion der EU auf eine wirtschaftliche Zweckge‐ meinschaft besteht. Dies korrespondiert mit der von Claus Leggewie und Anne Lang vertretenen Auffassung, dass ein supranationales Europa nur dann eine tragfähige politische Identität erlangen könne, „wenn die öffentliche Erörterung und wechselsei‐ tige Anerkennung strittiger Erinnerungen ebenso hoch bewertet wird wie Vertragswerke, Binnenmarkt und offene Grenzen.“ 39 In ihrer 2011 erschienenen Monographie Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt definieren sie sieben konzentrische Kreise als Anker- und Flucht‐ punkte einer supra- und transnationalen Erinnerung in Europa, in deren Zen‐ trum der Holocaust als den „Kern des europäischen Geschichtsbewusstseins“ bildende Erinnerung steht, um den sich Gulag, Genozide, Vertreibungen und ethnische Säuberungen, Kriege und Krisen, europäische Kolonialverbrechen, Migrationsgeschichte und schließlich die europäische Integration gruppieren. 40 Angesichts lokaler, nationaler und arealer „Differenzen, die der Existenz einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur widersprechen“, äußern Lena Dorn, Marek Nekula und Václav Smyčka berechtigte Zweifel an der Annahme, 34 Caren Bea Henze <?page no="35"?> 41 Dorn / Nekula / Smyčka: Zwischen nationalen und transnationalen Erinnerungsnarra‐ tiven, S.-10f. 42 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-99. 43 Dorn / Nekula / Smyčka: Zentraleuropa, S.-10. 44 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-96-99. dass die von Leggewie und Lang diskutierten historischen Ereignisse mit transnationaler Reichweite erzählt werden könnten, und fragen, ob diese durch die nationalen Erinnerungstraditionen in ihrer Repräsentation, Kontextualisie‐ rung und Adressierung letztlich nicht doch national seien. 41 So wird auch in Alles, was wir nicht erinnern deutlich, dass die bloß postulierte Qualifizierung von Zwangsmigrationen als identitätsstiftende europäische Erinnerung nicht ausreicht, um ein transnational verbindliches Erinnerungsnarrativ zu stiften. Im Zuge ihrer Bemühungen um eine narrative Annäherung der ost- und westeuropäischen Erinnerungskulturen zugunsten eines inklusiveren, trans‐ nationalen Gedenkens, macht Hoffmann wiederholt auf die Hürden für die Etablierung eines europäischen Gedächtnisses aufmerksam: Die Geschichte ist zum Schlachtfeld der Politik geworden […]. Alle wollen Opfer sein, Helden oder Opfer, nur nicht Täter. Wie soll sich die historische Wahrheit gegen die simplen Erzählungen behaupten, die historische Wahrheit, die uneindeutig ist und ambivalent. 42 In ihrer Auseinandersetzung mit transnationalen Gedenkinitiativen kommen Dorn, Nekula und Smyčka zu dem Schluss, dass weder die Einführung des „Euro‐ päischen Gedenktags an die Opfer von Stalinismus und Nazismus“ (2008/ 9) noch die ursprünglich osteuropäische Initiative „Reconciliation of European Histo‐ ries“ (2010) eine wirkliche Annäherung herbeigeführt hätten. 43 So zeugen un‐ überwindbar scheinende Diskrepanzen zwischen nationalen Erinnerungsnarra‐ tiven und daraus resultierende Ressentiments in Hoffmanns Erzählreportage von der anhaltenden Brisanz erinnerungspolitischer Kontroversen. Anhand der von ihr ausführlich dokumentierten und kritisch kommentierten Talkshow Bolschaja Igra im russischen Staatsfernsehen, in der die Gäste „außer sich vor Empörung über die historischen Lügen der Ukrainer, die Geschichtsverdrehung, und die Undankbarkeit der Polen“ diskutieren, 44 verdeutlicht Hoffmann, wie in Russland kommende Generationen indoktriniert und gegen den Westen aufgehetzt werden. Dass mit der gezielten Emotionalisierung erinnerungspolitischer Debatten auch intraeuropäische Erinnerungskonflikte weiter geschürt werden, zeigen insbesondere die erfolgreichen Strategien der Rechtspopulisten, für die es sich Hoffmanns Einschätzung nach lohne, die historischen Wunden offenzuhalten, Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche 35 <?page no="36"?> 45 Vgl. ebd., S.-143. 46 Vgl. ebd., S.-142 und S.-101. 47 Dorn / Nekula / Smyčka: Zentraleuropa, S.-17f. 48 Vgl. Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-143f. 49 Ebd., 100. 50 Ebd., 212f. da man mit heute nicht mehr begründeten Ängsten immer noch Wahlen ge‐ winnen könne. 45 Am Beispiel Polens demonstriert die Autorin, wie Bemühungen um eine differenzierte historische Aufarbeitung gegenwärtig von dem Neben‐ einander von Heroisierungs- und Viktimisierungsdiskursen unterlaufen werden - sei es inoffiziell in Darstellungen Polens als Retter Europas oder offiziell in dem umstrittenen polnischen „Holocaust-Gesetz“ aus dem Jahr 2018, demzufolge Polen keine Beteiligung oder Mitverantwortung an deutschen NS-Verbrechen zugeschrieben werden darf. 46 Insofern kann das transnationale Zirkulieren von Geschichtsbildern, wie Dorn, Nekula und Smyčka feststellen, keineswegs nur als affirmativer Prozess der Transnationalisierung von Erinnerungskulturen verstanden werden, da die Medialisierung, Inszenierung und Dramatisierung der Erinnerungsnarrative sowohl zur Öffnung und Entgrenzung als auch zur Isolierung und Abschottung der Erinnerungskulturen führen können. 47 Die Forderungen der polnischen Regierung nach Reparationszahlungen und einem eigenen Mahnmal in Berlin begreift Hoffmann somit nicht nur als Ausdruck eines unerfüllten Anerkennungsbedürfnisses, sondern auch als Reaktion auf die mangelnde deutsche Demut. 48 Der Text suggeriert, dass vor allem das Beharren der Deutschen auf der vermeintlichen Vorbildlichkeit ihrer erinnerungskulturellen Praxis in Polen auf Widerstand stößt. Auch Hoffmann selbst übt Kritik an der deutschen Erinnerungspolitik, indem sie die praktische Folgenlosigkeit historischer Einsichten problematisiert, und lässt ihre Überle‐ gungen schließlich in eine kritische Selbstbefragung münden: Wie weit sind wir eigentlich? Nicht einmal jeder fünfte Deutsche glaubt, dass unter seinen Vorfahren in der NS-Zeit auch Täter waren. Und zugleich meint jede Zweite, dass ihre Vorfahren unter den Opfern waren. […] Was würde ich antworten? 49 Angesichts des nachlassenden Lerneffekts aus den Lektionen des zwanzigsten Jahrhunderts interessiert die Erzählerin vor allem die Frage nach einer nach‐ haltigen, demokratiefördernden Vermittlung des erinnerungskulturellen Erbes: „Nie wieder, […] das war die Hoffnung von 1945 […]. Aber die Hoffnung trügt, wir lernen nicht […]. Der Schrecken hält höchstens für zwei Generationen.“ 50 Ausgehend von der selbstgestellten Aufgabe, das schwierige Erbe in Form rekonstruierter Erinnerungen für zukünftige Generationen zu bewahren, dekla‐ 36 Caren Bea Henze <?page no="37"?> 51 Zum Konzept des Zukunftsgedächtnisses vgl. Harald Welzer: Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2010). https: / / www.bpb.de/ sh op/ zeitschriften/ apuz/ 32667/ erinnerungskultur-und-zukunftsgedaechtnis/ bpb (zuletzt abgerufen am 21. März 2023). 52 Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern, S.-99f. riert Hoffmann das Buch zum Testament ihres verstorbenen Vaters. Indem sie den Blick wiederholt auf den Geschichtsumgang jüngerer, mit weniger politi‐ schen Feindbildern belasteten Generationen lenkt, macht Hoffmann auf zukünf‐ tige erinnerungskulturelle Anforderungen angesichts der sich abzeichnenden Interessensverschiebung aufmerksam. Mit dem entworfenen Spektrum diver‐ gierender erinnerungskultureller Bedürfnisse lässt sich das Buch schließlich als literarisch-dokumentarischer Beitrag zum sogenannten Zukunftsgedächtnis lesen. 51 V. Fazit: Notwendige Gedächtnisrevisionen statt unzulässigen Geschichtsrevisionismus Insbesondere die zahlreichen Aktualitätsbezüge und hellsichtigen Kommentare zum politischen Zeitgeschehen, die fast schon als Vorausschau des kurz nach der Veröffentlichung ausgebrochenen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine lesbar sind, unterstreichen die nicht zu unterschätzende erinnerungskulturelle Relevanz und Brisanz des Buches: Deutsche Politiker gedenken, sie fahren nach Auschwitz, sie halten Reden […]. Aber das hilft alles nichts gegen den Geschichtskrieg, der jenseits der Oder tobt. Dort geht es nicht um die Deutschen, die an allem schuld waren. Dort ist man damit beschäftigt, die Restschuld zu verteilen. […] Was, wenn wir uns irren, was, wenn wir nicht merken, dass […] sie gerade dabei sind, den nächsten Krieg vorzubereiten? 52 Alles, was wir nicht erinnern profitiert vor allem von Hoffmanns journalistisch geschultem Blick, der eine differenzierte Bestandsaufnahme aktueller Konflikt‐ linien zwischen Ost und West ermöglicht. Im Rahmen ihrer Erkundung der Be‐ dingungen der Möglichkeit eines gemeinsamen europäischen Gedenkdiskurses versucht Hoffmann, zwischen konkurrierenden erinnerungskulturellen An‐ sprüchen zu vermitteln, ohne dass dabei Deutungshoheit beansprucht oder eine eindeutige ideologische Positionierung vorgenommen würde. Mit großer Ent‐ schlossenheit entlarvt sie jedoch geschichtsrevisionistische Argumentationen und propagandistische Absichten und macht sichtbar, in welchem Ausmaß die Geschichte gegenwärtig als machtpolitisches Instrument missbraucht wird. Indem sie notwendige Gedächtnisrevisionen von unzulässigen geschichtsrevi‐ Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche 37 <?page no="38"?> sionistischen Darstellungen abgrenzt und die Berechtigung von Ansprüchen konfligierender Erinnerungsnarrative diskutiert, leistet Hoffmann einen litera‐ rischen Beitrag zur Förderung von Ambiguitätstoleranz und kritischer Selbstbe‐ fragung im Aushandlungsprozess um das erinnerungskulturelle Erbe Europas. 38 Caren Bea Henze <?page no="39"?> 1 Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen des durch GA ČR (Projektagentur der Tschechischen Republik) geförderten Forschungsprojekts 22-07846S „An (un)united Europe? Crossing borders in German and Austrian literature and its Czech reception after 2000“ entstanden. Europa und Familienromane Interkulturelles Erzählen bei Nino Haratischwili und Sabrina Janesch 1 Annabelle Jänchen, Ústí nad Labem Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche um 1989 haben zweifelsohne ihre Spuren in den Literaturen Europas hinterlassen. Dies zeigt sich in der deutschsprachigen Literatur etwa mit Blick auf ein Genre, das im 20. Jahrhun‐ dert schon fast in Vergessenheit geriet, in den letzten Jahrzehnten aber einen erstaunlichen Boom auf dem deutschen Buchmarkt erlebt - den Familienroman. Der folgende Beitrag zeigt, inwiefern Europa, europäische Geschichte und Interkulturalitätsaspekte im vergangenen Jahrzehnt zu den Leitthemen des Er‐ zählens dieser Romane avancierten. Hierfür ist zunächst ein kurzer historischer Abriss richtungsweisend, in dem Thomas Manns Roman Buddenbrooks (1901) als Vertreter des Genres betrachtet wird. Anschließend werden mit Sabrina Janeschs Katzenberge (2010) und Nino Haratischwilis Das achte Leben (Für Brilka) (2014) zwei neuere Familienromane hinzugezogen, um Rückschlüsse auf Veränderungen des Genres und insbesondere auf die wachsende Bedeutung Europas und europäischer Geschichte ziehen zu können. Der Familienroman um 1900: Thomas Mann und die Buddenbrooks Seine erste Blütezeit erlebte der Familienroman im späten 19. Jahrhundert. Auf Werke aus dieser Zeit geht häufig auch der Begriff des Generationenromans zurück, der nicht als Synonym zu dem des Familienromans zu verstehen ist. <?page no="40"?> 2 Vgl. Helmut Grugger: Zum Begriff des Generationenromans. In: Helmut Grugger / Jo‐ hann Holzner (Hrsg.): Der Generationenroman. Band 1. Berlin / Boston 2021, S. 3-17, hier S.-7. 3 Ebd., S.-6. 4 Matteo Galli / Simone Costagli: Chronotopoi. In: dies. (Hrsg.): Deutsche Familienro‐ mane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München 2010, S. 7-20, hier S.-19. 5 Michail Bachtin: Der Chronotopos. Frankfurt am Main 2008, S.-168-169. 6 Sigrid Löffler: Hermeneutik des Zerfalls. Familienromane zwischen Kohäsion und den Fliehkräften der Politik. In: Hajnalka Nagy / Werner Wintersteiner (Hrsg.): Immer wieder Familie. Familien- und Generationenromane in der neueren Literatur. Innsbruck 2012, S.-131-144, hier S.-133. 7 Viviana Chilese: Die Macht der Familie. Ökonomische Diskurse in Familienromanen. In: Simone Costagli / Matteo Galli (Hrsg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München 2010, S.-121-130, hier S.-124. Der Familienroman definiert sich eher am thematischen Bezug, während vom Generationenroman erst dann gesprochen wird, „wenn zumindest drei Genera‐ tionen aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet werden und die gewählte Chronologie über einen einzelnen Zeitpunkt hinausgeht“. 2 Helmut Grugger sieht in manchen Familienromanen eine bloße „Verlängerung der literarischen Suche nach dem Ich“ 3 und orientiert sich in seinem zusammen mit Johann Holzner veröffentlichten Handbuch Der Generationenroman (2021) daher an der Generationen-Definition, die wiederum in der Untersuchung Deutsche Famili‐ enromane (2010) von Simone Costagli und Matteo Galli als zu starr empfunden wird und vor allem im „vergangenheitsbelasteten deutschen Familienroman“ zu finden ist, der sich in der Gegenwart jedoch mehr und mehr vom „Komplex von Schuld/ Opfer der Elternbzw. Großelterngeneration“ 4 entfernt. Daher orientiert sich dieser Beitrag vor allem mit Blick auf die gegenwärtigen Romane am offener gestalteten Begriff des Familienromans. Michail Bachtins Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten deutet außerdem an, dass der Familienroman oftmals einen Helden oder Einzelgänger präsentiert, der „am Anfang von den familiären Bindungen losgelöst ist, und dann endlich die idyllische Einheitswelt rekonstru‐ ieren kann“, während der Generationenroman eher „die Zerstörung der Idylle und der idyllisch-familiaren und patriarchalischen Beziehungen“ 5 (Aufstieg und Fall) darstellt und verweist damit auf einen weiteren Unterschied neben dem Generationenschema. Als einer der bekanntesten Generationenromane gilt Thomas Manns Bud‐ denbrooks. Die hier geschilderte „Epochen-Endgeschichte“ 6 hat ein Erbe hinter‐ lassen, das noch immer in Literatur und Film zu finden ist. Viviana Chilese spricht von einer „Serie der klassischen Form von Familiensagas ‚à la Budden‐ brooks“ 7 , in denen am Anfang eine anerkannte, wohlhabende Familie steht. Das 40 Annabelle Jänchen <?page no="41"?> 8 Ebd., S.-126. 9 Ebd., S.-127. 10 Vgl. Löffler: Hermeneutik des Zerfalls, S.-133. 11 Zu Beginn, als die Familie Buddenbrook sehr wohlhabend und intakt ist, wirkt das Haus geräumig und voller Leben. Später, als die meisten Kinder ausgezogen sind, verliert das Haus seine Funktion und einzelne Zimmer werden untervermietet. Am Ende wirkt das Haus einsam und verlassen und die übriggebliebenen Familienmitglieder leben in anderen, kleineren Behausungen. 12 Thomas Brand: Königs Erläuterungen zu Thomas Mann Buddenbrooks. Hollfeld 2009, S.-36. 13 Johann ( Jean) ist eigentlich der zweitgeborene Sohn seines Vaters, da jedoch der aus einer früheren Ehe stammende erstgeborene Sohn Gotthold aus der Familie verstoßen wurde, ist Johann ( Jean) Alleinerbe. männliche Familienoberhaupt, der tatkräftige Patriarch, hat den Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg des Familienunternehmens gelegt, die Aufgabe der kommenden Generationen ist es, das Familienvermögen zu vermehren. Die Geschichten erzählen, wie die Nachkommen dieser Aufgabe nicht gerecht werden und am Ende der Verfall der Familie steht. Die Darstellung von „Blüte, Reife und Verfall eines Familienimperiums“ 8 ist, kurzgefasst, der zentrale Aspekt dieser Familiengeschichten ‚à la Buddenbrooks‘. Entscheidend für den Verfall ist, dass das Hineingeborenwerden in ein „Familienunternehmen keinen eigenen Lebensentwurf zu[lässt], da das eigene Leben nicht mehr einem selbst gehört, sondern dem gemeinsamen Unternehmen“. 9 Dies ist häufig der Grund für Konflikte zwischen den Generationen. Auch wenn der Roman zeitgeschichtlich verankert ist und ein Abbild europäischer Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg liefert, die kurz davor ist, sich aufzulösen, 10 spielen Bezüge zu zeitgeschichtli‐ chen Ereignissen in Buddenbrooks dennoch keine große Rolle. Die Erzählung fokussiert sich stattdessen stärker auf die Geschehnisse innerhalb der Familie und die Interaktionen der Familienmitglieder miteinander. Als weitere Charak‐ teristika, die auch für andere Generationenromane des bürgerlichen Realismus gelten, lassen sich der meist zurückhaltende und gelegentlich ironisch kom‐ mentierende auktoriale Erzähler nennen, der charakteristische Handlungsort des großen, zentralen Hauses der Familie, das den wirtschaftlichen und gesell‐ schaftlichen Zustand der Familie widerspiegelt 11 sowie der damit verbundene Aufbau der Erzählung als „abwärts führende Spiralbewegung“ 12 , da die Figuren zu Beginn und zum Ende des Romans jeweils in den ihrer persönlichen und familiären Lebenssituation entsprechenden Wohnungen leben. Zudem steht eine männliche Familienkette des jeweils erstgeborenen 13 Sohnes im Fokus, womit der Roman von den üblichen patriarchalen Strukturen der dargestellten Zeit des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Weiterhin ist der thematische Schwerpunkt der familiären Fremdwerdung charakteristisch, die sich hier an der Figur Hanno, Europa und Familienromane 41 <?page no="42"?> 14 Vgl. Richard Hamann / Jost Hermand: Impressionismus. München 1974, S.-147-162. 15 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt am Main 2004 [1901], S.-523. 16 Ebd. 17 Ebd., S.-524. 18 Brand: Erläuterungen, S.-82. 19 Mann: Buddenbrooks, S.-755. 20 Stefan Neuhaus: Thomas Manns Buddenbrooks (1901) als paradigmatischer Generati‐ onenroman. In Grugger / Holzner: Der Generationenroman, S.-61-75, hier S.-73. 21 Ebd. der 4. Generation, zeigt. Er entspricht dem Typus des um die Jahrhundertwende in der Dekadenzdichtung häufig dargestellten leidenden Ästheten und Einzel‐ gängers. 14 Sein mangelndes Interesse an den kaufmännischen Aspekten seiner Familie führt zur Entfremdung zwischen ihm und seinem Vater und letztlich dazu, dass Hanno in der Familienchronik, dem „ganze[n] genealogische[n] Gewimmel“ 15 , kurzerhand einen „schönen, sauberen Doppelstrich“ 16 zieht, ganz in der ungeahnten Vorausdeutung: „es käme nichts mehr …“ 17 Wie die meisten Figuren in Buddenbrooks scheitert Hanno an familiären Zwängen, Erwartungen und Anforderungen. Die Familie ist ein Paradox: Ei‐ nerseits sorgt sie für Stolz und Zugehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder, andererseits bedeutet die Familienzugehörigkeit für nahezu alle Figuren am Ende den Ruin. Zusammenfassend könnte man sagen, „zeigt sich an der Geschichte der Buddenbrooks die innere Aushöhlung des Familienideals des 19.-Jahrhunderts“. 18 Am Ende des Romans steht - wie zu Beginn - eine „kleine Familienzusammenkunft“ 19 , bei der nur noch Frauen übrig sind, die jedoch ohne einen (zukünftigen) Patriarch, um den sich die Familie dreht - zuletzt Hanno - kein gemeinsames Netz, keine Familie mehr ergeben und fortan getrennte Wege gehen. Die „Merkmalszuweisungen von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘“ 20 , die im patriarchalen Bürgertum fest verankert waren, werden auf diese Art als problematisch dargestellt, denn wäre die Tochter Tony als Mann geboren, so hätte sie die Familiendynastie retten können. Als Frau hätte dies jedoch „einen Modernisierungsschub bedeutet, der in der hier gezeigten Gesellschaft außerhalb des Denkbaren liegt.“ 21 Familienromane im 20. und 21.-Jahrhundert Im Laufe des 20. Jahrhunderts traten die Familiengeschichten mehr und mehr in den Hintergrund, erst mit der sogenannten Väterliteratur zwischen den 1970ern 42 Annabelle Jänchen <?page no="43"?> 22 Sigrid Weigel: Genea-Logik: Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, S.-87. 23 Vgl. Simone Costagli: Family Plots. Literarische Strategien dokumentarischen Erzäh‐ lens. In Costagli / Galli: Deutsche Familienromane, S.-157-168, hier S.-157. 24 Löffler: Hermeneutik des Zerfalls, S.-134. 25 Ebd. 26 Vgl. Franziska Stürmer: „Wir nennen ihn Sohn“ - zum Nexus von Identität, Familien‐ geschichte und Migration in Feridun Zaimoğlus Leyla. In: Istanbul Üniversitesi Alman Dili ve Edebiyai Dergisi / Studien zur Deutschen Sprache und Literatur 1(31) (2014), S.-23-40, hier S.-25. 27 Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S.-73. 28 Ebd., S.-73-74. und 1990ern kam es zu einer „neue[n] Ära des Generationsdiskurses“ 22 , in der Autor/ innen die Kriegserlebnisse ihrer Eltern und Großeltern aufzuarbeiten begannen. Die Kernthemen sind Fragen und Verunsicherungen hinsichtlich Identität und Zugehörigkeit. Seitdem erlebt das Genre eine Konjunktur, die bis heute nicht abreißt. ‚Familie‘ und ‚Generation‘ sind die bedeutenden Chrono‐ topen der deutschsprachigen Literatur um 2000. 23 Das Genre habe in den letzten Jahren aber so starke Veränderungen erlebt, dass „die herkömmlichen Dynastie- Geschichten und Geschlechter-Chroniken über mehrere Generationen hinweg, die in epischer Breite, mit langem Atem und detailverliebter Ausführlichkeit die eigene familiäre Weitverzweigtheit in aller Opulenz auszubreiten pflegten“ 24 , gar nicht mehr möglich seien. Stattdessen sind die Erzählungen heute „fragmen‐ tierte Zeugnisse“ und „unvollständige Rekonstruktionsversuche“. 25 Sie sind als Experimentierfeld zu verstehen, in denen Ich-Entwürfe gestaltet und mit fami‐ liärer Vergangenheit verknüpft werden. 26 Interessant ist, dass die Zeitgeschichte in der heutigen Blütezeit des Familienromans stark an Bedeutung gewinnt. So sind im zeitgenössischen Familienroman oftmals zwei Handlungsstränge zu finden: die Spurensuche der Hauptfigur in der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit und die von ihr recherchierte Familiengeschichte über mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Zunächst ist es die deutsche bzw. deutschdeutsche Vergangenheit, die im Fokus steht. Die Hauptfigur vergewissert sich der eigenen Identität sowohl gegenüber der Familie als auch der deutschen Geschichte. 27 Denn, so zeigen diese Romane, auch die nicht selbst erlebte Geschichte, die sich im familiären und im kulturellen Gedächtnis wiederfindet, beeinflusst die Identitätsentwürfe stark. Daher findet man in den Erzählungen heute oft eine „auf rückblickende Anamnese, Analyse und Verstehenwollen ausgerichtete Handlung“. 28 Als wichtigstes Merkmal des zeitgenössischen Fa‐ Europa und Familienromane 43 <?page no="44"?> 29 Ebd., S.-74. 30 Die Veränderung auf dem deutschen Buchmarkt findet sich bisher kaum in der germanistischen Forschung wieder, in der Interkulturalitätsaspekte mit Blick auf Fami‐ lienromane bisher lediglich von Michaela Holdenried und Weertje Willms umfassend untersucht wurden, vgl. Michaela Holdenried / Weertje Willms: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2012; Michaela Holdenried: Zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Familienkonstellationen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Caroline Roeder / Michael Ritter (Hrsg.): Familienaufstellung in Kinder- und Jugendliteratur und Medien. München 2017, S. 37- 53; Michaela Holdenried: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Stutt‐ gart 2022. milienromans beschreibt Aleida Assmann daher die „Verschränkung von Indi‐ viduum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte“. 29 Spätestens seit 2000 ist bzgl. dieses Fokus auf Nationalkulturen und Na‐ tionalgeschichte wiederum eine Veränderung auf dem deutschen Buchmarkt zu beobachten. 30 Zu den auf deutsche Vergangenheit ausgerichteten Familien‐ romanen kommen mehr und mehr solche dazu, bei denen Europa im Mittelpunkt steht. Insbesondere historisch wird Europa in den Blick genommen, wenn nicht nur die Geschichte eines Nationalstaats, sondern ganz Europas oder verschie‐ dener europäischer Staaten rekapituliert wird. Auch räumlich rückt Europa ins Zentrum, denn die Romane spielen an unterschiedlichsten europäischen Handlungsorten. Zwischen diesen Orten werden permanente Bewegungen und Austauschprozesse dargestellt. Nicht zuletzt wird Europa zum Identifikationsas‐ pekt inter- und transkultureller Figuren, die sich selten mit einer einzelnen oder überhaupt mit nationalen Identitäten identifizieren wollen. Diese Verschiebung des Fokus von deutscher auf europäische Geschichte bleibt nicht ohne Auswir‐ kungen auf den Familienroman. Die Romane, bei denen europäische Kultur(en), Geschichte und Identität(en) in den Fokus rücken, vermischen Elemente der interkulturellen und der Familienliteratur. In diesen Erzählungen sind es oftmals Nachfolgegenerationen von Migrierten, Geflüchteten und Vertriebenen, die das Thema der Identität und Selbstverortung aufgreifen, es in ein Spannungsfeld aus Adoleszenzerfahrung und Familien- und Zeitgeschichte versetzen und damit eine besondere Form der Familienliteratur erschaffen, den interkulturellen Familienroman. Aspekte des interkulturellen Erzählens bestimmen diese Fami‐ liengeschichten der Gegenwart, die von mehr als nur einem Kulturraum geprägt sind. Dazu gehören beispielsweise die Verortung einer Figur zwischen mehreren Nationen und Sprachen, das Kreieren eines „kulturellen Spannungsfeld[s] zwischen heterogenen kultur-ethnischen Minderheiten und monokultureller 44 Annabelle Jänchen <?page no="45"?> 31 Carmine Gino Chiellino: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2000, S.-59. 32 Ebd., S.-61. 33 Vgl. Holdenried: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S.-39-55. Mehrheit“, 31 die „Vielfalt und Gleichzeitigkeit von Ichs“ 32 sowie Differenz- und Fremdheitsdiskurse und Hybriditätskonzepte. 33 Diese Motive tragen zum Konflikt der Hauptfigur bei, welcher in der Regel eine identitäre Krise ist. Die identitäre Verortung der Hauptfigur bezieht sich also nicht nur auf die Frage nach ihrer Rolle in einem familiären System und auf die Frage nach dem Einfluss von Zeitgeschichte und politischem Geschehen auf Vorfahr/ innen und inwiefern deren Rolle in der Geschichte noch heute Auswirkungen auf Identität und Selbstverständnis der Nachkommen hat. Die Selbstverortung der Hauptfigur wird darüber hinaus hinsichtlich eines kulturellen Zusammenstoßes hinterfragt, der für Familien und Individuen in der Regel starke Auswirkungen hat. Nicht selten handelt es sich dabei um einen Zusammenstoß zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘, zwischen einer Familiengeschichte im Sozialismus und einer Neuverortung im ‚Westen‘. Die Brucherfahrung zwischen den beiden Lebens‐ realitäten spielt eine sehr wichtige Rolle in der gemeinsamen Erinnerung und der Identität von Familien und findet sich häufig auch auf narrativer und stilistischer Ebene der Romane wieder. Das Aufrollen und Nachverfolgen der Familiengeschichte im Gefüge der übergeordneten europäischen Geschichte wird zum Lösungsansatz der mangelnden Selbstverortung der Hauptfigur. Wie dies in den Romanen umgesetzt wird, soll die folgende Analyse zweier Werkbeispiele vor Augen führen. „Im Osten, sagen sie, zerfällt die Welt zu Staub und Asche“: Bewegungen in Raum und Zeit Sabrina Janesch und Nino Haratischwili sind beide sehr präsente Autorinnen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie haben bereits mehrere Werke veröffentlicht und zahlreiche Förderpreise für ihre Arbeit erhalten. Beide sind in den 1980er Jahren geboren und unter dem Einfluss mehrerer Kulturen, Nationen und Sprachen aufgewachsen. Katzenberge (2010) ist Sabrina Janeschs Debütroman, er erzählt von Nele, einer jungen Frau, die in Deutschland mit deutschem Vater und polnischer Mutter aufgewachsen ist und anlässlich der Beerdigung des Großvaters nach Polen reist. Dort beschließt sie spontan, auf den Spuren des Großvaters weiter ostwärts nach Ostpolen und Galizien (heutige Ukraine) zu reisen und das Rätsel um einen vermeintlichen Brudermord, in den der Großvater involviert gewesen sein soll, zu lösen. Das achte Leben (Für Brilka) Europa und Familienromane 45 <?page no="46"?> 34 Sabrina Janesch: Katzenberge. Berlin 2010, S.-158. 35 Ebd., S.-112. 36 Ebd., S.-236. (2014) ist der dritte Roman der georgisch-deutschen Autorin und Dramatikerin Nino Haratischwili. Er erzählt die 107 Jahre und insgesamt fünf Generationen umfassende Geschichte der georgischen Familie Jaschi. Das Schicksal der Familie ist eng mit dem Verlauf des 20. Jahrhunderts verwoben, die historischen und politischen Geschehnisse haben starke Auswirkungen auf die Lebenswege der Figuren. Von den zahlreichen Familienmitgliedern sind am Ende noch Niza - die Erzählerin - und ihre Nichte Brilka - die Adressatin - übrig. Auch sie versuchen, wie Janeschs Protagonistin, Geheimnisse zu lüften, die Familiengeschichte nachzuvollziehen und so auch ihren eigenen Platz in der Geschichte zu finden. In beiden Romanen ist die Bewegung durch den europäischen Raum der Aus‐ löser für das Erzählen und damit einer der wichtigsten Aspekte. In Katzenberge werden zwei exakt gleich verlaufende Bewegungslinien einander gegenüberge‐ stellt und parallel erzählt: Zum einen ist das die Bewegungslinie des polnischen Großvaters der Protagonistin, der 1944 westwärts von Galizien über Ostpolen bis Schlesien geflüchtet ist. Dieser Handlungsstrang wird stets mit den Worten „Großvater sagte“ eingeleitet, was unterstreicht, dass sich diese Nacherzählung einzig auf die Geschichten des Großvaters stützt. Zum anderen ist es die Bewegungslinie der Enkelin in der Gegenwart (um 2007), die von Schlesien aus an den gleichen Stationen entlang ostwärts nach Ostpolen und Galizien zurückreist. Während die Bewegungsrichtung des Großvaters von Ost nach West als charakteristische europäische Fluchtbewegung um 1945 beschrieben wird - „Man flieht immer westwärts! […] Im Osten, sagen sie, zerfällt die Welt zu Staub und Asche“ 34 - wird die Bewegung von West nach Ost der Enkelin als ein Novum charakterisiert: „Niemand sei jemals dorthin zurückgereist“. 35 Die Besonderheit ist, dass die Erzählung sich an der West-Ost-Bewegung orientiert, nicht an der chronologischen Abfolge der Geschehnisse. Die Vergangenheit wird also nicht chronologisch erzählt. Die Bewegung gen Osten wird damit selbst zum Leitthema des Erzählens. Die Ankunft an bestimmten Orten wie am Bahnhof in Wrocław, am Haus der Familie im kleinen schlesischen Dorf oder bei der Familie in Ostpolen wird stets parallel erzählt, so stehen die Erzählstränge um 1944 und um 2007 immer ortsgebunden nebeneinander. Höhepunkt ist die parallel erzählte Überschreitung des Grenzflusses Bug zwischen Polen und Ukraine. Für den Großvater entscheidet die Überquerung des Flusses über Leben und Tod, denn „[ö]stlich von seinen Ufern sei alles, was Polnisch sprach, Freiwild gewesen“. 36 Dieser Schrecken und das Unbehagen vor dem Osten, hat sich in den 46 Annabelle Jänchen <?page no="47"?> 37 Ebd., S.-95. 38 Ebd., S.-247. 39 Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Frankfurt am Main 2014, S.-1107. 40 Ebd., S.-1274. 41 Ebd., S.-1258. Geschichten der Familie manifestiert und wurde wie ein transgenerationelles Trauma auch an die Enkelin Nele weitergegeben: „Hier ist die bekannte Welt zu Ende, niemand weiß, was sich hinter dieser Grenze verbirgt“. 37 Auch in der Gegenwart wird die Grenze nach Ukraine als schwer überwindbar dargestellt. Das stundenlange Warten an der Grenze, die korrupten Grenzbeamten, die ein Schmiergeld erwarten und das Zusammentreffen mit einer alten Frau in einem Dorf gleich hinter der Grenze, die, obwohl Polen nur wenige Kilometer entfernt ist, seit 30 Jahren kein Polnisch gehört habe, verhärten die Vorstellung, dass hier zwei bipolare Welten beschrieben werden - der bekannte Westen und der unbekannte, unheimliche Osten. Und doch verhilft die Reise nach Galizien der Protagonistin dabei, sich selbst im Geflecht von Familie und europäischer Geschichte zu verorten. Sie erkennt: „Das hier ist definitiv nicht das Ende der Welt. Das hier ist ihr Anfang.“ 38 In Das achte Leben (Für Brilka) sind die zahlreichen Bewegungen durch Europa eher als Pendelbewegungen zu beschreiben, etwa zwischen Georgien und Moskau oder Georgien und London. Georgien ist dabei nicht nur das räumliche Zentrum, von dem die Bewegungen ausgehen und an das sie immer wieder zurückführen, sondern wird auch als das „Epizentrum der Geschichte“ 39 beschrieben. Die Erzählerin Niza hat diesem Epizentrum den Rücken gekehrt und ist nach Berlin geflohen, um den zahlreichen familiären Traumata, der „Gespensterwelt“, 40 zu entkommen. Sie wird jedoch zur Rückkehr gezwungen, da sie ihre zwölfjährige Nichte Brilka, die sich bei einem Schulausflug nach Amsterdam davongestohlen hat, zurück nach Georgien bringen muss. Als Niza in Tbilissi ankommt, heißt es noch: „Alles, was mir die Stadt zu sagen hatte, wollte ich nicht mehr hören, und alles, was ich ihr beichten wollte, behielt ich für mich.“ 41 Doch das Zurückkommen und die vehemente Forderung ihrer Nichte Brilka nach einer Rekonstruktion der Familiengeschichte sorgen dafür, dass Niza nicht weiter verdrängen kann und sich auf eine einjährige Reise quer durch Europa begibt, um auf den Spuren ihrer Vorfahr/ innen zu reisen und Recherchen zu betreiben. Mit dieser Reise an all die europäischen Handlungsorte und dem daraus entstehenden Text für Brilka schließt Niza erstmals einen Kreis (anstelle der Pendelbewegungen) und rundet die Geschichte damit ab. Im Gegensatz zu Janeschs Roman wird Das achte Leben (Für Brilka) zum Großteil chronologisch erzählt, wenngleich auch dieser Roman in zwei Handlungssträngen geschildert Europa und Familienromane 47 <?page no="48"?> 42 Janesch: Katzenberge, S.-47. 43 Magdalena Baran-Szołtys: (Re-)Visionen von Galizien: Transgenerationale Reisenarra‐ tive zwischen Wiederentdeckung, Rekonstruktion und Imagination. In: Studia Litte‐ raria Universitatis Iagellonicae Cracoviensis 10 (2015), S.-1-14, hier S.-9. 44 Ebd., S.-10. 45 Haratischwili: Das achte Leben, S.-871. wird. Der Handlungsstrang der Gegenwart umrahmt den der Vergangenheit jedoch eher, als dass sie parallel verlaufen. Nur an wenigen Stellen wird die chronologische Schilderung der Familiengeschichte durch Einschübe aus der Gegenwartshandlung unterbrochen. Auffällig ist, dass familiäre Geschichten nach wie vor, wie auch schon in Buddenbrooks, stark an familiäre Orte gebunden sind, insbesondere an die Wohnhäuser mit ihrem Inventar, das einem familiären Archiv gleicht. In Kat‐ zenberge ist es zum einen das Haus in Schlesien, das jedoch nur die halbe Geschichte über den Großvater erzählt. Daher rät die Mutter der Protagonistin: „Fahr nach Galizien. Dort wird mehr von ihm zu finden sein als hier.“ 42 Neles Ziel in Galizien ist wiederum der Hof der Vorfahren, der jedoch nicht mehr da ist. Nur eine Kellerluke zeugt noch von seiner ehemaligen Existenz. Und doch findet sie in zwei anderen Objekten in Galizien unverhofft die räumliche Verbindung von Galizien und Schlesien wieder: im galizischen Ofen, den sie aus der schlesischen Küche des Großvaters kennt, und in den traditionell verzierten Bienenhäuschen des Großvaters. Beide Objekte, so folgert Magdalena Baran- Szołtys, „stehen für das vom galizischen Erbe materiell Übriggebliebene und sind das schlesische Verbindungsglied zu Galizien und zur Vergangenheit. In dem Sinne sind sie Spuren einer zurückgelassenen, für die Betroffenen nicht mehr real existierenden Welt.“ 43 Das Aufsuchen der Orte und das Wiederfinden der Gegenstände wird zur „Strategie der Beglaubigung“ 44 für die Nachfahrin. In Das achte Leben (Für Brilka) werden die zentralen, familiär markierten Orte nicht nur eng mit der Familiengeschichte und der familiären Identität verknüpft, sondern auch mit der Zeitgeschichte. Dort gibt es zum einen das Ge‐ burtshaus von Nizas Urgroßmutter Stasia, das Haus mit dem „allgegenwärtigen Schokoladenduft“ 45 von der Schokoladenfabrik des Vaters. Wie in klassischen Generationenromanen steht hier mit dem Schokoladenfabrikanten am Anfang ein Patriarch, der ein erfolgreiches Familienunternehmen leitet. Das Determi‐ nans ‚Familien-‘ erübrigt sich aber schon bald, da die Schokoladenfabrik im Rahmen der Enteignung in der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik Anfang der 1920er Jahre in Staatshände übergeht. Damit verlieren das Haus und die Fabrik stark an Bedeutung im Roman und ein zweites Haus rückt in den Vordergrund: Die imposante Villa von Stasias Schwester Christine in 48 Annabelle Jänchen <?page no="49"?> 46 Ebd., S.-140. 47 Ebd., S.-525-526. 48 Julia Kubin: Ruderale Texturen. Verfall und Überwucherung in (post-)sozialistischen Erzählungen. Bielefeld 2020, S.-25. 49 Ebd., S.-26. 50 Haratischwili: Das achte Leben, S.-527. Tbilissi. Sie spiegelt das hohe Ansehen und den Stand von Christine und ihrem Mann, dem wohlhabenden kommunistischen Parteifunktionär Ramas wider. In diesem Haus finden zahlreiche prunkvolle Feste statt, zu denen stets „die Reichen und Schönen der Tbilisser Oberschicht“ 46 kommen. Doch nachdem Ramas Suizid begeht und Christine mit Stasia und deren Kindern allein in der Villa zurückbleibt, verändert sich das Haus stark. Dies hängt auch mit den politischen Geschehnissen zusammen, besonders mit dem Jahr 1953, als mit Stalins Tod und dem Beginn der Ära Chruschtschow eine neue Zeit für die Sowjetunion anbricht. Der politische Tauwetterzustand sowie der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung der Familie spiegeln sich im Zustand des Hauses wider: Die Verwilderung begann mit dem Einzug der Freiheit in das Tbilisser Familienhaus. Mit der Geburt Elenes. Mit ihren ersten Lauten. Die Pflanzen spürten das und sprossen wie verrückt im Garten. Nach und nach drangen sie auch in das Haus ein. […] Das Haus atmete auf. Es platzte aus allen Nähten, das strenge Korsett ablegend, das es jahrelang umfangen hatte, es fing an zu leben. Geräuschvoll, ausladend, spürbar und sichtbar. 47 Die Verwilderung findet sich sowohl im Garten, wo plötzlich alles lebt und sprießt, als auch im Inneren wieder, wo der Putz von den Wänden bröckelt, der Staub sich sammelt und Möbelstücke nicht nur ihren Glanz verlieren, sondern nach und nach zu Bruch gehen. Das wuchernde Unkraut, das, so Julia Kubin, in Texten über den Realsozialismus eine wichtige Rolle spielt, lässt sich „als Reaktion auf die strikten Programmatiken sozialistischer Kulturpolitiken ver‐ stehen“ 48 , als „Artikulationsform […] die es dem schreibenden Subjekt gestattet, eine konkrete Haltung gegenüber der historischen Situation einzunehmen und Positionen zwischen politischer Partizipation und eigener Subjektivität auszuloten“. 49 Dies gilt insbesondere für die Ich-Erzählerin Niza, die ihre eigene Zwischenposition zwischen den streng recherchierten historischen Fakten und den mit Fantasie gefüllten Leerstellen immer wieder selbst thematisiert. Das gute Jahrzehnt der Tauwetter-Periode leben die vier Frauen in diesem verwilderten „Zauberland“ 50 , doch dann erhält Stasias Sohn Kostja vom Staat ein Grundstück außerhalb der Stadt und zieht mit seiner Familie dorthin Europa und Familienromane 49 <?page no="50"?> 51 Ebd., S.-715. 52 Vgl. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture after the Holocaust. New York 2012. 53 Janesch: Katzenberge, S.-47. um. Allein Christine bleibt in der Villa zurück, was ihr vom Wohnungs- und Baukommissariat als „kapitalistischer Eigennutz“ 51 vorgeworfen wird. Anders als beispielsweise Thomas und Gerda in Buddenbrooks bleibt sie also nicht allein in dem viel zu großen und prunkvollen Haus, dessen Zeit der prächtigen Feste längst vorbei ist, sondern muss in eine kleine Wohnung umziehen, die in einem starken Kontrast zu der einst herrschaftlichen Villa steht und so auch für den gesellschaftlichen Abstieg Christines und wiederum für die Veränderungen in der Sowjetunion, in der mit der Entmachtung Chruschtschows die Zeit der Liberalisierung endete. „Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind? “ Postmemory und Traumata Die sich bereits herauskristallisierende enge Verknüpfung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den Familiengeschichten macht deutlich, dass die Texte besonders fruchtbar für kulturwissenschaftliche Gedächtnisfor‐ schung sind. An dieser Stelle soll einer dieser zahlreichen Forschungsansätze mit Blick auf die Texte von Janesch und Haratischwili aufgegriffen werden: Marianne Hirschs Konzept der Postmemory. Hirsch bezieht den Begriff der Postmemory zunächst auf die Nacherinnerung der Nachfahr/ innen von Holo‐ caustüberlebenden, beschreibt es aber zugleich als ein Beschreibungsmodell, das auch bei Nachfahr/ innen anderer Zeitzeug/ innen traumatischer historischer Er‐ fahrungen wie Repression, Flucht und Vertreibung zu finden ist. 52 Postmemory ist das Gedächtnis der Nachfahr/ innen, das sich auf Erfahrungen vorheriger Ge‐ nerationen gründet, auf Erinnerungen also, die sie nicht selbst erlebt haben. Von den Erinnerungen der Erlebnisgeneration unterscheiden sich die Erinnerungen im Postgedächtnis durch die generationelle Distanz zum Teil wesentlich. Die Distanz führt dazu, dass Imagination und Kreation in diesem Gedächtnis eine größere Rolle spielen - mit Blick auf Haratischwilis Roman wurde weiter oben bereits angedeutet, dass Leerstellen immer wieder mit Fantasie gefüllt werden müssen. Und so heißt es auch bei Janesch: „[D]ie blinden Flecken könne man ja durch etwas Neues ersetzen“. 53 Mit der Weitergabe von Erinnerungen von einer Erlebnisgeneration an eine Folgegeneration greift Hirsch auf den Begriff der transgenerationalen Weitergabe zurück, den Sigmund Freud als „Kontinuität 50 Annabelle Jänchen <?page no="51"?> 54 Sigmund Freud: Totem und Tabu. Gesammelte Werke, Band 9. Frankfurt am Main 1940 [1912/ 13], S.-190. 55 Ebd., S.-191. 56 Vgl. dazu Jürgen Straub: Transgenerationelle Tradierung. In: Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, S.-592-594. 57 Susanne Greiter: Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ. München 2014, S.-57. 58 Baran-Szołtys: (Re-)Visionen von Galizien, S.-6. 59 Ebd. im Seelenleben der einander ablösenden Generationen“ 54 beschreibt. Dies bein‐ haltet, „daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen“. 55 Es handelt sich um eine unbewusste, oft auch ungewollte Übertragung von Erfahrungen, Erinnerungen und Traumata und deren pathogene Folgen. Neben der wichtigsten Form, der verbalen Kommuni‐ kation (‚oral history‘) gibt es zahlreiche weitere Praktiken der Weitergabe. 56 Sowohl die mündlich tradierten Geschichten der Vorfahr/ innen als auch die konflikthaften, oft verdrängten und unausgesprochenen Erfahrungen und Ge‐ heimnisse manifestieren sich als Aspekte der Postmemory auch „als Subtexte in den Narrativen“ 57 . In interkulturellen Familienromanen stehen Erzählungen von Flucht, Vertreibung, Missbrauch und Gewalt in Zusammenhang mit un‐ terdrückerischen Regimen häufig im Vordergrund. Heute werden sie zumeist schon von der dritten Generation erzählt, selten kommt die Erlebnisgeneration noch selbst zu Wort. Galizien bedeutet für die Zurückkehrenden der dritten Generation Baran-Szołtys zufolge dreierlei: Zum einen ist es ein mythischer Ort, was die Neugierde der Nachfahr/ innen weckt, die mit zeitlichem Abstand auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts schauen. Zweitens ist es „paradoxerweise sowohl durch Trauma als auch Nostalgie geprägt“. 58 Drittens bestimmt es „bewusst oder unbewusst ihre Gegenwart“. 59 Denn das Trauma der Vertreibung und der Unmöglichkeit einer nachgalizischen Identität lebt als Postmemory auch in der dritten Generation weiter. Demzufolge kann die eigene Geschichte und Identität nur im Rahmen der Familiengeschichte gedacht, verstanden und erzählt werden. Auch das Beispiel des Schlosses im Wohnort der Familie in Schlesien im Roman Katzenberge verdeutlicht, dass es für Enkelgenerationen oft große Bedeutung hat, das wieder auszugraben, was die Großeltern sorgfältig versteckt hatten. Als der Großvater nach dem Zweiten Weltkrieg in Schlesien ankommt, bekommt er im Rahmen einer Säuberungsaktion den Auftrag, Spuren deutscher Vorbesitzer des Schlosses zu verstecken. Zwei Generationen später versucht man, die Spuren der Deutschen wieder zu restaurieren, sie als Teil des kulturellen Gedächtnisses der Region zu verstehen. Die Ich-Erzählerin Europa und Familienromane 51 <?page no="52"?> 60 Janesch: Katzenberge, S.-179. 61 Ebd., S.-112. 62 Ebd., S.-80. 63 Ebd., S.-181. 64 Ebd., S.-71. 65 Kubin: Ruderale Texturen, S.-229. 66 Janesch: Katzenberge, S.-153. 67 Ebd., S.-156. 68 Ebd., S.-95. 69 Vgl. Baran-Szołtys: (Re-)Visionen von Galizien, S.-3-4. hilft einem Restaurator dabei, die in Frakturschrift geschriebenen Worte an den Wänden zu entziffern, die der Großvater Jahre zuvor geholfen hatte, zu überdecken. Der familiäre „Back-to-the-roots-Trip“ 60 , den Nele in Katzenberge plant, wird von der restlichen Verwandtschaft aber größtenteils abgelehnt. Zum einen sei das Land (Galizien) noch „getränkt mit unserem Blut“ 61 und eine solche „Reise […] zurück in die Vergangenheit“ 62 birgt die Gefahr, dass ein altes Familienge‐ heimnis wieder ans Licht kommt. Nele scheint mit ihrer Reise selbst bewusst zu werden, dass das Geheimnis ihres Großvaters nicht nur eine spannende Geschichte ist, sondern, dass sich diese Leerstelle auch unbewusst wie ein Trauma auf sie selbst übertragen hat: „In meinem Kopf hörte ich den Tonfall, mit dem Djadjo sagen würde: Mädchen, kämpf mit deinen eigenen Dämonen. Mir fiel erst jetzt, nach seinem Tod, die Antwort ein: Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind? “ 63 Der zweite ausschlaggebende Punkt dafür, dass eine Rückkehr nach Galizien von der Familie abgelehnt wird, ist der Aberglaube, der in ihrer Vorstellung vom Osten eine bedeutende Rolle spielt. Sie sehen Galizien als Ort, „wo Geister, Dämonen, Teufel, Hexen und Waldfeen ihr Unwesen trieben“, wo es „nicht selten [war], dass man einem Wesen aus der anderen Welt begegnete“. 64 Mit dieser Darstellung Galiziens als magischem Raum partizipiert der Roman „an einem bestimmten Diskurszusammenhang, in dem der Osten als wundersamer und zugleich archaischer Raum gefasst wird“. 65 Damit einher gehen auch stereotype Vorstellungen von den Galiziern, die sich etwa „bis heute vor Elektrizität fürchteten“ 66 und „Wilde seien […], kaum einer artikulierten Sprache mächtig“. 67 Die Exotisierung, Stereotypisierung und Mystifizierung des Ostens färben auch auf Nele ab, die den Verlauf ihrer Reise aufmalt und hinter den Grenzfluss nach Ukraine, das „Ende der Europäischen Union“, „einige Drachen mit verkrüppelten Flügeln“ malt und davon spricht, dass die bekannte Welt hier zu Ende ist. 68 Die Vorstellung von Galizien als peripher und rückständig geht auf eine alte Tradition, einen Mythos Galizien zurück. 69 Sie wird auch durch die erneute Re-Vision des Raumes Galizien durch 52 Annabelle Jänchen <?page no="53"?> 70 Ebd., S.-12. 71 Thomas Andre: Der verführerische Geschmack heißer Schokolade. In: Spiegel 2. Oktober 2014. URL: https: / / www.spiegel.de/ kultur/ literatur/ nino-haratischwili-das-ac hte-leben-fuer-brilka-a-994979.html (zuletzt abgerufen am 6. März 2023). 72 Vgl. Dominik Zink: „…was wohl wäre, wenn das kollektive Gedächtnis der Welt andere Dinge erhalten und wiederum andere verloren hätte.“ Ein Essay zu Nino Haratischwilis „Das achte Leben (für Brilka)“. In: literaturkritik.de 10 (2018). URL: https: / / literaturkri tik.de/ haratischwili-das-achte-leben-fuer-brilka-nino-haratischwilis-das-achte-leben-f uer-brilka,25011.html (zuletzt abgerufen am 6. März 2023). die Enkelin Nele nicht gänzlich überwunden, sondern zum Teil fortgeführt, „je‐ doch in einer romantisierenden und gleichzeitig spielerisch-ironischen Weise“. 70 Am Ende ist es schließlich auch der Glaube an einen Familienfluch, an ein Wesen aus einer anderen Welt, der Nele dazu veranlasst, Erde aus Galizien mitzubringen und damit eine Bannung des Fluches durchzuführen. Auch in Haratischwilis Roman Das achte Leben (Für Brilka) findet sich Übersinnliches, Magisches und ein alter Familienfluch. Tragik und Katastro‐ phen spielen eine leitmotivische Rolle, man kann gar von einer „Ästhetik des Unglücks“ 71 sprechen. Verwoben wird das Unglück mit einem Familienrezept für eine heiße Schokolade, das der Schokoladenfabrikant Ende des 19. Jahrhunderts von Reisen nach Wien und Budapest in seine Heimat in der georgischen Provinz mitgebracht hat. Fast wie eine Droge vermag der Genuss der Schokolade ein berauschendes Glücksgefühl auszulösen. In dem Wunsch nach einem männli‐ chen Erben für sein Unternehmen besticht der Fabrikant mithilfe der köstlichen heißen Schokolade seine Frau, die eigentlich kein weiteres Kind bekommen möchte. Sie lässt sich schließlich darauf ein, noch einmal schwanger zu werden. Doch als das Kind, Stasia, zur Welt kommt, ereignen sich zwei Tragödien in rascher Abfolge: Stasias eineiige Zwillingsschwester kommt bei der Geburt ums Leben und kurze Zeit später stirbt auch die Mutter im Wochenbett. Der Schokoladenfabrikant vermutet, dass die Schokolade das Unheil gebracht hat und hält sie fortan unter Verschluss. Doch als Stasia heiratet, weiht er sie in das geheime Rezept ein und schon bald lernt Stasia die Macht der Schokolade selbst kennen, als sich eine Verwandte ihres Mannes mit Hilfe der Schokolade das Leben nimmt. Es folgen zahlreiche weitere tragische Ereignisse, Gewalt- und Leiderfahrungen, Todesfälle, Geistererscheinungen und Morde, die sich in den Familienfolgen sogar wiederholen und die Schokolade wird zum Symbol des Unheils und des Untergangs, die leitmotivisch Unglück und Verderben ankündigt. Das von Generation zu Generation weitergegebene Geheimrezept steht für die weibliche Familientradition. 72 Es symbolisiert aber auch die trans‐ generationelle Weitergabe eines weiblichen Traumas bzw. Schicksals in dieser Familie, nämlich, immer wieder an männlicher Gewalt und Dominanz sowie Europa und Familienromane 53 <?page no="54"?> 73 Kubin: Ruderale Texturen, S.-27. 74 Ebd., S.-197. 75 Haratischwili: Das achte Leben, S.-25. 76 Ebd., S.-1208. 77 Ebd., S.-1270. 78 Ebd., S.-542. an den mangelnden Selbstbestimmungsmöglichkeiten im totalitären Staat zu scheitern. Oftmals führt dies zu einem tragischen Ende der Figuren, zu Zwangs‐ abtreibung, Flucht oder Suizid. Beide Romane nutzen solche Elemente magischrealistischen Erzählens als „poetisches Schreibverfahren […], das geokulturelle, literarische und historische Grenzen überschreitet“ und das das Erzählen „von Grenzregionen, Gebieten der Zerstörung oder traumatischen Ereignissen“ sowie von „Wandlungsprozesse[n], Umbrüche[n] und gewaltsame[n] Zäsuren“ erst möglich macht. 73 Die Verknüpfung der Darstellung des europäischen Ostens mit magisch-realistischen Erzählmitteln begründet sich in der „grundsätzlichen Unsicherheit, die mit dieser (Neu-)Aneignung des Vergangenen verbunden ist“ und hebt „zugleich deren imaginäre Gehalte hervor“. 74 Der Fluch, dem etwas Magisches anhaftet, steht in der Regel für ein weiter‐ gegebenes Trauma. Der Umgang mit diesem Fluch, ist in den verschiedenen Generationen sehr unterschiedlich. Vergleicht man die jeweils am Ende der Familienfolge stehenden Figuren in Buddenbrooks und in Das achte Leben (Für Brilka), muss man feststellen, dass beide sich so stark gegen das ihnen von der Familie auferlegte ‚Schicksal‘ wehren, dass sie es mit diesem Akt zugleich umkehren. Hanno, der unbedingt in die Familie und das Unternehmen einge‐ bunden werden soll, kapselt sich ab und verdeutlicht seine Nicht-Partizipation mit dem symbolischen Strich unter seinem Namen im Stammbaum. Brilka hingegen wächst in einem Umfeld auf, das sie gar nicht erst am Familienge‐ dächtnis teilhaben lässt. Die Beziehungen sind von Desinteresse geprägt, der Großvater bezeichnet sie als „die fleischgewordene Verkörperung allen Übels“ 75 , die Großmutter nennt sie nur „das Kind“ 76 und auch ihre Tante Niza hat mit der Flucht nach Berlin den Kontakt so gut wie eingestellt. Nichtsdestotrotz versteht sich Brilka selbst als unbedingten Teil dieser Familie, als direkt be‐ troffen vom Schicksal der Vorfahr/ innen, reist eigenständig auf den Spuren ihrer Vorfahrin Kitty und fordert Niza auf, die Geschichte der Familie für sie aufzuschreiben. Dies führt dazu, dass Niza „gegen den Fluch“ 77 anschreibt und die Familiengeschichte enttraumatisiert, in der Hoffnung, dass Brilka als achte Frau in dieser fast rein weiblichen Linie die erste sein kann, die ihr Leben frei von den „Gespenster[n]“ 78 und weitergegebenen Traumata leben kann. Die hier erzählte gynozentrische Geschichte von Frauen, die von Männern 54 Annabelle Jänchen <?page no="55"?> 79 Janesch: Katzenberge, S.-95. immer wieder tyrannisiert und gewaltsam unterdrückt werden und so ein vor allem weibliches Gedächtnis des europäischen 20. Jahrhunderts exemplifizieren, in dem Gewalterfahrung transgenerationell weitergegeben wird, steht dem klassischen Modell der Generationenromane, in denen androzentrische und hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen dominieren, diametral gegenüber und schafft auch auf diese Weise neue Perspektiven generationellen und interkultu‐ rellen Erzählens. Conclusio Im Gegensatz zu klassischen Familienromanen des 19. und frühen 20. Jahrhun‐ derts können interkulturelle Familienromane als Rekapitulationen europäischer Geschichte und deren Auswirkungen auf private, familiäre Schicksale gelesen werden. Sie scheinen gar einen therapeutischen Zugang zum europäischen 20. Jahrhundert zu transportieren, das so viele und vielfältige Risse und Trau‐ mata in familiären Biographien hinterlassen hat. Wenn Magdalena Baran- Szołtys, wie oben ausgeführt, über drei Bedeutungen Galiziens spricht, gilt dies genauso auch für andere europäische Grenzzonen, insbesondere im Osten Europas. Daher möchte ich dies mit Blick auf beide Texte um eine vierte Ebene erweitern: Galizien ist - wie andere periphere Regionen - nicht nur ein historischer Ort. Es ist auch ein tatsächlich existierender Raum am „Ende der Europäischen Union“, 79 der sich selbst aber - wie etwa die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen zwischen Ukraine und Russland zeigen - gar nicht so einfach als ‚außerhalb Europas‘ versteht. Vielmehr handelt es sich um einen Raum, der trotz oder gerade wegen seiner peripheren Lage, in den kommenden Jahren noch viel stärker in den Fokus rücken muss, wenn wir über Europa sprechen. Werke wie Katzenberge und Das achte Leben (Für Brilka), die kulturelle Grenzen überschreiten und dekonstruieren und periphere Räume weiter zugänglich und erfahrbar machen und gewissermaßen auch entmythologisieren, sind dabei unabdingbar. Interkulturelles Erzählen bildet daher eine unerlässliche Grundlage für eine Literatur über Europa. Europa und Familienromane 55 <?page no="57"?> Von Brandenburg nach Brüssel Gedanken über die Europäische Union anhand von Juli Zehs Roman Unterleuten Paola Quadrelli, Mailand Unterleuten, Schauplatz des 2016 erschienenen Erfolgsromans von Juli Zeh, und Brüssel: Was haben ein fiktives, von der Außenwelt abgeschottetes, im nordwestlichen Brandenburg liegendes Dorf mit 200 Einwohnern und die als Regierungszentrale der Europäischen Union geltende Stadt miteinander zu tun? Welche Auswirkung haben die von Brüssel erlassenen bürokratischen Maßnahmen auf das Leben der Einwohner eines abgelegenen Nestes, die daran gewöhnt sind, alles selbst zu regeln, ohne sich an die staatlichen Behörden zu wenden? Wie wird die von Wirtschaftsliberalismus inspirierte europäische Politik von Menschen wahrgenommen, die in der DDR sozialisiert wurden? Inwieweit ist der Neoliberalismus an der Ausformung postdemokratischer Ge‐ sellschaften - denn als solche lässt sich Unterleuten bezeichnen - schuld? Wie lassen sich in einer individualistischen Gemeinde allgemeine, von oben nach unten aufgezwungene Bestimmungen mit den Einzelinteressen versöhnen? Um diese Fragen kreist der vorliegende Aufsatz, dessen Ziel es ist, die im Roman dargestellte Wirklichkeit mit unserer europäischen Gegenwart in Verbindung zu setzen. Juli Zeh (geb. 1974 in Bonn) ist übrigens eine Autorin, zu deren literarischem Selbstverständnis stets eine engagierte Haltung und ein ausgeprägtes Interesse für gesellschaftliche Phänomene und soziale Veränderungen gehört haben. Ihr Eingreifen in aktuelle Fragen steht in wechselseitiger Beziehung mit ihrer literarischen Praxis: „Literatur handelt vom Mensch-Sein und das Menschliche <?page no="58"?> 1 Juli Zeh: Wir tragen alle Mitschuld. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Heinrich- Böll-Preises. URL: https: / / www.zeit.de/ kultur/ literatur/ 2019-11/ politikverdruss-juli-ze h-heinrich-boell-demokratie-intellektuelle (zuletzt abgerufen am 30. Dezember 2022). 2 Juli Zeh: „Can Europe survive the crisis? “. Interview by Oliver Laughland. In The Guardian, 11.Mai 2021. 3 Juli Zeh: Das Diktat der Krise (2012). In Zeh: Nachts sind das Tiere. Essays. München 2016 [Taschenausgabe. Original: Frankfurt am Main 2014], S. 210. Zeh hatte wenige Zeilen zuvor eingeräumt, dass die europäische Integration von Anfang an „unter Missachtung demokratischer Grundsätze“ vollzogen wurde und zwar als Folge des nach dem Zweiten Weltkrieg herrschenden und durchaus verständlichen Missvertrauens gegenüber „der europäischen Gesinnung des Volkes“: trotz alledem sei die Europäische Union durchaus als „eine Erfolgsgeschichte“ zu betrachten. 4 Martin Scholz: „Die NSDAP wurde auch mal gewählt“. Interview mit Juli Zeh und Wolf‐ gang Niedecken. In: Welt.de, 26. Juni 2016. URL: https: / / www.welt.de/ print/ wams/ kultu r/ article156568597/ Die-NSDAP-wurde-auch-mal-gewaehlt.html (zuletzt abgerufen am 30. Dezember 2022). 5 Juli Zeh: Leere Herzen. München 2017, S. 17. In einem Rückblick auf die Neunziger Jahre beschwört die Protagonistin, Britta, sehnsuchtsvoll eine Epoche, in der das Wort Europa, und die mit ihm zusammenhängenden Werte, wie Weltfrieden und ist stets kulturell, also auch historisch, sozial und politisch bedingt“ hat sie 2019 in der Rede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Literaturpreises erklärt. 1 Das Erscheinen des erfolgreichen Gesellschaftsromans Unterleuten fiel chro‐ nologisch mit einem Ereignis zusammen, dessen Bedeutung für die jüngere Geschichte Europas kaum überschätzt werden darf, und zwar dem sogenannten Brexit-Referendum (23. Juni 2016), das den Austrittsprozess Großbritanniens aus der Europäischen Union anstieß. Der Brexit, der die Einheit und den Sinn des europäischen Projekts tief erschütterte, ist auf eine in ganz Europa herrschende politische Konstellation zurückzuführen, in der sich der Erfolg von rechtspopulistischen Parteien und das Erstarken von nationalistischen und EUskeptischen Gefühlen verzeichnen lassen. Dieses EU-feindliche Abdriften beobachtete Juli Zeh seit langem besorgt; als „ein großes Geschenk“ („a great gift“) bezeichnete sie die EU in einem um die Griechenland-Krise kreisenden Interview 2 und trotz aller Vorbehalte in Sachen demokratischer Grundsätze behauptete sie im selben Jahr, d. h. 2012, dass die Europäische Union „eine Erfolgsgeschichte“ sei. 3 In einem drei Tage nach dem Brexit-Referendum gehaltenen Interview schrieb Zeh den Künstlern die Aufgabe zu, „die Vision von Europa lebendig“ zu halten. 4 In dem 2017 erschienenen dystopischen Roman Leere Herzen, dessen Hand‐ lung in naher Zukunft (2025) spielt, stellt sich die Autorin sogar die Auflösung der EU vor: Verursacht durch zentrifugale, nationalistische Bewegungen, wie „Frexit, Free Flandern und Katalonien First! “ 5 stellt der Zusammenbruch der EU die dramatische (obgleich für Zeh keinesfalls unausweichliche) Folge eines 58 Paola Quadrelli <?page no="59"?> Demokratie, noch einen Zauber ausstrahlten: „Damals gab es ein Leuchtfeuer, das sämtliche Horizonte erhellte. Europa, Weltfrieden, Demokratie“, S.-323. 6 Juli Zeh: „Verachtung für Politik ist der wahre Grund der AfD-Erfolge“. Juli Zeh im Gespräch mit Stephan Karkowsky. In: deutschlandfunkkultur.de, 13.11.2017. URL: https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ schriftstellerin-juli-zeh-verachtung-fuer-p olitik-ist-der-100.html (zuletzt abgerufen am 30. Dezember 2022). 7 Zeh: Das Diktat der Krise, S.-210. 8 Der Wirtschaftsliberalismus - so Zeh - ebnet die Konflikte ein und geht sie aus dem Weg, indem er betroffene Maßnahmen als „Sachzwang“ darstellt und sie auf diese Weise als unausweichlich präsentiert. Siehe Juli Zeh: Das Flaggschiff der politischen Resignation (2006). In: Zeh: Nachts, S.-39. 9 Zeh: Das Flaggschiff, S.-41. 10 Juli Zeh: Vater Staat und Mutter Demokratie (2008). In: Zeh: Nachts, S.-82. Prozesses von Desillusionierung und politischer Verdrossenheit seitens der Bürger westlicher Länder dar, die die Hoffnung auf eine Teilhabe an politischen Veränderungen aufgegeben haben. Politik-Verachtung und einem demokratie‐ feindlichen Zeitgeist seien ebenfalls, nach der Meinung Zehs, die Wahlerfolge von rechtspopulistischen Parteien zuzuschreiben, wie es der Fall beim Ergebnis der AfD bei den Bundestagswahlen von 2017 war. 6 Zugrunde gegangen sei ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Bürgern und Politikern, das für das Funk‐ tionieren demokratischer Gesellschaften unabdingbar ist. Haben die Menschen das Vertrauen in die politische Klasse verloren, so haben auch die Politiker - nach der Meinung Zehs - das Vertrauen in den Bürger verloren, indem sie „in größtmöglicher Bürgerferne“ regieren, 7 für wichtige Entscheidungen eher Experten als Bürger einbeziehen, und der Bevölkerung die getroffenen Entscheidungen als „alternativlos“ vorstellen und als nicht mehr zur Debatte stehende „Sachzwänge“ abtun. 8 Die Zerbrechlichkeit von heutigen Demokratien lässt sich übrigens im Werk von Zeh als Teil einer allgemeineren kulturellen und sozialen Krise begreifen, in der „kollektiv gestützte Gewissheiten weitgehend einem - auch politischen - Individualismus gewichen sind“, wie die Autorin in einem 2006 verfassten Zeitungsartikel formulierte. 9 Institutionen wie Kirche, Familie und Vaterland haben „an Bedeutung verloren“ - fährt Zeh fort - Ideologien, ideelle Überzeu‐ gungen und Zukunftsvisionen sind zurückgedrängt oder sogar verschwunden. Auf diesem Trümmerhaufen sitzt der bedürfnisgesteuerte Einzelne, der seinen eigenen Interessen nachgeht und als Wähler selbstverständlich keine Partei finden kann, deren Programm „auch nur die Hälfte seiner persönlichen Wün‐ sche und Auffassungen widerspiegelt“. 10 Aus dem mit diesem geistigen Zusam‐ menbruch einhergehenden Identitätsverlust entspringt jene identitäre Suche nach reaktionären Werten, die rechtspopulistische Bewegungen in ganz Europa kennzeichnet; die Unsicherheit der heutigen Zeit führt die Leute dazu - so Zeh Von Brandenburg nach Brüssel 59 <?page no="60"?> 11 Elena Tebano: „La crisi dei padri? Uno dei problemi causati dall’uguaglianza“. Intervista con Juli Zeh. In: Sette. Il Corriere della Sera, 9. Juli 2019. URL: https: / / www.corrier e.it/ sette/ cultura-societa/ 19_luglio_09/ juli-zeh-la-crisi-padri-dei-problemi-causati-dall -uguaglianza-a85e98f6-a1a0-11e9-acbd-9b1ee12e8baf.shtml (zuletzt abgerufen am 30. Dezember 2022). 12 Juli Zeh: Selbst, selbst, selbst (2012). In: Zeh: Nachts, S.-207. 13 Heinz Peter Preußer: Juli Zeh. In: Heinz L. Arnold (Hrsg.): Kritisches Lexicon zur deutschsprachigen Literatur. KLG, München, online, zitiert in Lars Richter: Juli Zeh. Literatur und Engagement unter Leuten. In: Hans Adler / Sonja Klocke (Hrsg.): Protest und Verweigerung / Protest and Refusal. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur seit 1989 / New Trends in German Literature since 1989. Paderborn 2019, S. 129-155, hier S. 145. Richter stellt zu Recht fest: „Dass die erkannte Spiegelung von Mikro-und Makrokosmos ein Charakteristikum von Zehs literarischer Arbeit ist, ist aber bis dahin nie so deutlich geworden wie in Unterleuten“. 2019 in einem Interview - sich „neue, reaktionäre Identitäten auszusuchen: Nation, Machismo, Ethnie, Religion […] Aber ein Rückfall auf die alten Natio‐ nalidentitäten würde eine Menge Sachen zerstören […]“. 11 Trotz der trostlosen Zeitdiagnose gibt sich Zeh nicht einer apokalyptischen Weltanschauung hin, sondern versucht in ihrem erzählerischen und essayisti‐ schen Werk, die Spielräume eines solidarischen Zusammenlebens innerhalb einer postideologischen und postreligiösen Gesellschaft auszuprobieren, und reflektiert, inwieweit man persönliche Freiheit und Solidarität - als Fundamente einer demokratischen Gesellschaft 12 - versöhnen kann. In diesem Sinne behauptet sie in einem auf Unterleuten fokussierten Inter‐ view, die durch einen verhängnisvollen „Drang zum eigenen Vorteil“ gekenn‐ zeichneten Figuren des Romans seien stellvertretend „für die Gesellschaft im Ganzen“ und sogar für den „Makrokosmos der EU“, wie der Interviewer suggeriert. Nach wie vor gilt übrigens für die Romane Zehs das Urteil, das Heinz- Peter Preußer über Zehs Erstling Adler und Engel fällte, als er feststellte, dass in diesem Text „Mikrokosmos und Makrokosmos einander reflektieren“. 13 Der Europa-Diskurs kommt in Unterleuten also nicht direkt und explizit zum Vorschein: Ansätze dafür lassen sich eher anhand einer Analyse der Konflikte finden, die die kleine Gemeinschaft bewegen. Zugespitzt und wie unter einem Brennglas werden dem Leser nämlich Beziehungen von Menschen und gesellschaftliche Dynamiken vorgezeigt, die, zwar auf anderem Format, auch in den westeuropäischen Gesellschaften zum Vorschein kommen. Im groß angelegten, in sechs Teilen und insgesamt 62 Kapiteln unterglie‐ derten Roman führt die Autorin dem Leser ein breites, von inneren Spannungen durchzogenes Gesellschaftsszenario vor Augen, zu dem sozial und generationell ganz unterschiedliche Schauspieler gehören: Den Einheimischen stehen die Zugezogenen gegenüber, d. h. Berliner, die in der ländlichen Idylle eine Zuflucht 60 Paola Quadrelli <?page no="61"?> 14 Zu all den Kontrasten, die in Unterleuten ans Licht kommen, siehe den detaillierten Aufsatz von Aneta Jurzysta: Die Mauer steht noch, oder: Begegnungen an der Grenze. Menschen, Geschichten und Konflikte in Unterleuten (2016) von Juli Zeh. In: Tematy/ Konteksty, 7, (12)/ 2017, S.-386-401, insbesondere S.-387. 15 Juli Zeh: Unterleuten. München 2017 [Taschenbuchausgabe. Original: 2016], S.-115. aus dem Chaos und dem Lärm der Großstadt gefunden haben; älteren, noch zu DDR-Zeiten sozialisierten Bewohnern stehen junge Leute gegenüber, die von der Vergangenheit nichts wissen wollen. Die Kollision zwischen traditio‐ nellen und modernen Lebensstilen wird u. a. anhand der Figur des jungen Spieleprogrammierers aus Berlin, Frederik Wachs, verdeutlicht, der sich aus dem Agrardorf ein Videospiel ausdenkt, während alte Landwirte auf Unterleuten immer noch ihre, von den ewigen Regeln der Natur abhängenden Geschäfte führen. Geschickt und vielleicht etwas forciert hat Juli Zeh wie in einem Prisma in diesem an der damaligen deutsch-deutschen Grenze angesiedelten Nest alle Widersprüche und Spannungen gesammelt, welche die deutsche Gesellschaft zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung erschüttern. Das gottvergessene Dorf erweist sich als ein an Kontrasten überladener Schauplatz, wo unter‐ schiedliche Werte, Meinungen und Lebensentwürfe nebeneinander bestehen und aufeinanderprallen: Kapitalismus gegen Kommunismus, Tradition gegen Fortschritt, Vergangenheit gegen Gegenwart, Stadt gegen Land, Wendeverlierer gegen Wendegewinner. 14 Die alten und neuen Konflikte, die die Gemeinschaft hin- und herwerfen, entflammen, als im Juli 2010 ein westdeutscher Energieversorger, Vento Direct Gmbh, einen Windpark auf dem Gebiet von Unterleuten errichten will. Das Vor‐ haben, das übrigens unter der Ägide der EU steht, die - wie der Bürgermeister von Unterleuten erinnert - „ihre Mitgliedsstaaten zur Förderung erneuerbarer Energien“ 15 verpflichtet, löst einen Wirbel von Einzelinteressen, Irritationen und Affekten aus, denen die Autorin durch ein multiperspektivisches erzählerisches Verfahren gerecht zu werden versucht. Jedes Kapitel trägt nämlich den Namen der jeweiligen Figur als Titel, aus deren Perspektive die Handlung präsentiert wird. Es entsteht ein verwirrendes Wechselspiel, das das Erzählte in Frage stellt und die Bestimmung einer eindeutigen Wahrheit verhindert. Die im Epilog des Romans auftauchende Journalistin Lucy Finkbeiner, die von ihrer Berliner Zeitschrift beauftragt wurde, über eine vermeintliche Leichengiftintoxikation in Unterleuten zu recherchieren und die auf der Suche nach Informationen mit allen Bewohnern des Dorfs gesprochen hat, vergleicht die gesammelten Geschichten mit ihrem Lieblingsspielzeug aus der Kindheit, einem roten Ka‐ leidoskop - „Man drehte ein wenig und alles sah anders aus“ - und stellt Von Brandenburg nach Brüssel 61 <?page no="62"?> 16 Zeh: Unterleuten, S. 629. Lars Richter bezeichnet diese Worte als „poetologischen Metakommentar“ von Seiten einer Journalistin, die „sich am Ende des Textes als übergeordnete Erzählerin entpuppt“ (Richter: Literatur und Engagement, S.-148). 17 Zeh: Unterleuten, S.-630. 18 Christine Mogendorf: „Da. So seid ihr.“ Von demokratischer Literatur im Zeitalter der Indifferenz. In: Klaus Schenk / Christina Rossi (Hrsg.): Juli Zeh. Divergenzen des Schreibens. München 2021, S.-187-205, hier S.-203. 19 Torsten Erdbrügger: Politische Prosa? Juli Zehs literarisches Werk zwischen Thesen‐ roman und Bühne des Politischen. In: Schenk / Rossi: Juli Zeh. Divergenzen, S. 206-223, hier S.-215. 20 Zeh: Unterleuten, S.-108. resümierend fest, dass „[e]ine Geschichte nicht klarer dadurch [wird], dass viele Leute sie erzählen.“ 16 Ja, sie fasst die Erkenntnisse zusammen, die sie in Unterleuten gewonnen hat, indem sie behauptet, „dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat.“ 17 Die erzählerische Polyphonie und die Gleichwertigkeit, die unterschiedlichen Lebens- und Sichtweisen im Roman beigemessen wird, entsprechen gerade dem Pluralitätsprinzip, auf dem Demokratien beruhen, ja, das Demokratische „verkörpert“ und benötigt das Vielfältige und Multiperspektivische, wie Chris‐ tina Mogendorf in Bezug auf Juli Zehs Romane kommentiert hat, 18 wobei die Herausforderung, vor der sich demokratische Systeme befinden, gerade darin besteht, verschiedene Lebensstile zusammenzudenken und auszuhalten, ohne das Allgemeinwohl aus den Augen zu verlieren. In Zehs Roman wird also von vornherein auf eine einheitliche Interpretation des Geschehens verzichtet, genauso wie auf eine Erörterung der politischen Frage, ob erneuerbare Energien im Prinzip gut oder schlecht sind: Demzufolge fehlt auch ein eindeutiger Hinweis auf Lösungsmöglichkeiten, die dem Wohl der Gemeinschaft dienen könnten. Die Diskussionen über den Windpark - hat Torsten Erdbrügger zu Recht festgestellt - sind „kein politischer Grabenkampf, sondern lediglich Auslöser der Artikulation von Eigeninteressen“, 19 wobei es selbstverständlich ist, dass übersteigerter Individualismus der Gemeinschafts‐ bildung schadet. Anlässlich der Bürgerversammlung im Gasthaus „Märkischer Landmann“, auf der der Bau des Windparks angekündigt wird, wird von der Erzählerin bitter festgestellt, wie eine von allgemeinen Idealen und Interessen geleitete Gemeinschaft einer Zusammenrottung von Einzelnen gewichen war, die privaten Egoismen nachgingen: „Was sich heute im Landmann versammelt hatte, war kein Dorf mehr, sondern eine Zweckgemeinschaft von Einzelkämp‐ fern.“ 20 Geographische und historische Gründe haben dafür gesorgt, dass es Demo‐ kratie im wahrsten Sinne des Wortes in Unterleuten nie gab: Die isolierte Lage 62 Paola Quadrelli <?page no="63"?> 21 Der Titel des Romans weist darauf hin, dass die Gemeinschaft die wahre Protagonistin des Romans ist. Zugleich erinnert Necia Chronister daran, dass der Titel auch auf den Ausdruck „unter uns“ andeutet, und dabei auf die Gewohnheit der Unterleutner, im Dunklen zu handeln und Probleme im Geheimen zu lösen (Necia Chronister: Home in the East as Corporate Overlord: Juli Zeh’s Unterleuten. In: dies.: Domestic Disputes. Examining Discourses of Home and Property in the Former East Germany. Berlin 2021, S.-181-199, hier S.-184). 22 Zeh: Unterleuten, S.-371. 23 Ebd., S.-217. 24 Ebd. Dass Unterleuten ein „gesellschaftspraktisches Paralleluniversum“ ist, erfährt der Leser bereits in den ersten Seiten des Romans: „Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht ge‐ nauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarchische, fast komplett an sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei. Ein gesellschaftstheoretisches, nein, gesellschaftspraktisches Paralleluniversum.“ (Zeh: Unterleuten, S.-29) des Dorfs, das, mit Ausnahme des Gasthauses, über keinen Gemeinschaftsort verfügt, sowie die diktatorische DDR-Regierung, unter deren Verwaltung das Dorf bis vor zwanzig Jahren stand, führte bei den Bürgern zum völligen Misstrauen gegenüber den staatlichen Behörden. Der Roman bietet mehrere Beispiele dafür, dass Unterleutner im Falle von Streitigkeiten und Verbrechen ständig versuchen, alles selbst untereinander zu regeln, ohne die Polizei zu rufen. 21 Geld spielt in Unterleuten keine große Rolle; es hat sich eher eine Tauschgesellschaft entwickelt, in der die Bürger durch ein kompliziertes und für die Zugezogenen wenig überschaubares System von gegenseitigen Gefäl‐ ligkeiten miteinander verbunden sind. Als „anarchische Achselhöhle eines überregulierten Gesellschaftskörpers“ 22 wird Unterleuten von der Figur des Berliner Soziologen Gerhard Fließ bezeichnet, der übrigens als Umweltaktivist die im dortigen Naturschutzreservat lebenden seltenen Vogelarten von den Windkraftanlagen bedroht sieht. Die Bürger leben in einer von der Welt ausgeschlossenen Nische: Sie „lasen keine Zeitung, sahen wenig fern und benutzen das Internet nicht“. 23 Es ist kein Wunder, dass diesem Fehlen an Kontakten mit der Außenwelt ein absolutes Des‐ interesse für die Politik entspricht: „Die Politik interessierte sich nicht die Bohne für Unterleuten - warum sollte sich Unterleuten für Politik interessieren? “ 24 Die ausgesprochen provinzielle Gemeinde bietet also dem Leser das für die heutigen europäischen Gesellschaften mahnende Beispiel einer atomisierten Gemeinschaft, in der Gefühle von Resignation, Politik-Verdrossenheit und Von Brandenburg nach Brüssel 63 <?page no="64"?> 25 Zeh: Unterleuten, S.-155. 26 Siehe Sunhild Galter: Juli Zehs Roman Unterleuten als Spiegel bundesdeutscher Wirk‐ lichkeit. In: Kronstädter Beiträge zur germanistischen Forschung, 20/ 2020, S. 157-169, hier S. 166. Der erste, der sich einen Gewinn durch das Errichten des Windparks erhofft, ist der Bürgermeister, Arne Seidel, der, ohne übrigens eine persönliche Meinung zu regenerativen Energien zu vertreten (S. 54), die leeren Kassen der Gemeinde durch Zusatzeinnahmen wieder anzufüllen hofft. 27 Zeh: Unterleuten, S.-160. 28 Bereits im Feuilleton wurde dieser Tatbestand anerkannt: „Die politische Autorin Juli Zeh hat den postpolitischen Roman unserer Zeit geschrieben“ behauptete Volker Zynismus die Oberhand gewinnen: „Man schimpfte auf die Bonzen aus Berlin und hielt im richtigen Moment den Mund.“ 25 Der Dorfversammlung, auf der das Windparkprojekt enthüllt wird, widmet die Erzählerin fast hundert Seiten, in denen sie ausführlich und unter ver‐ schiedenen Gesichtspunkten die Reaktionen der Versammelten beschreibt: Sie variieren von der Zustimmung mehrerer Alteingesessener, die sich einen wirtschaftlichen Nutzen und einen „Anschluß an die moderne Welt“ 26 erhoffen, bis zur Ablehnung Zugezogener, wie des genannten Gerhard Fließ, der als Umweltschützer die Windenergie zwar gutheißen sollte, der aber die unberührte Landschaft, für die er Berlin verlassen hat, durch das Errichten von Windrädern gefährdet sieht. Die unpolitische Gesinnung der Unterleutner ist auch auf dieser Versamm‐ lung in aller Deutlichkeit zu erkennen: Die Menschen, die „daran gewöhnt waren zu hören, dass sie nichts zu entscheiden hatten“ schweigen und trauen sich nicht, einzugreifen: „Das Wesentliche wird nicht in Unterleuten entschieden. Nicht einmal in Plausitz. Sondern in Neuruppin.“ Der Saal schwieg. […] Seltsamerweise löste diese Aussage keine Wut, sondern schlechtes Gewissen aus. […] Vielleicht fanden sie es peinlich, dass sie überhaupt für eine Sekunde auf die Idee verfallen waren, eine Stimme zu besitzen. Oder sie schämten sich, weil sie nichts gegen die Entmachtung unternahmen. Am wahrscheinlichsten aber war, dass sich das schlechte Gewissen auf ihre heimliche Erleichterung bezog. In Wahrheit war jeder froh, wenn er nichts entscheiden und folglich auch nichts verstehen musste. Auf diese Weise ersparte man sich das anstrengende Nachdenken über komplizierte Sachverhalte und behielt trotzdem das Recht, sich nach Herzenslust zu beschweren. 27 Es ist von verschiedenen Seiten zu Recht festgestellt worden, dass die Weisen in denen sich der öffentliche und politische Diskurs in Unterleuten entwickelt, dem von Colin Crouch festgesetzten Modell der „Postdemokratie“ entspricht. 28 64 Paola Quadrelli <?page no="65"?> Weidermann in Der Spiegel (Weidermann: Deutschland ist ein Dorf. In: Der Spiegel, 29/ 2016, S. 122-124, hier S. 123). Auf das Thema ist Tilman Venzl am ausführlichsten eingegangen: Postdemokratie in Unterleuten? Was in Juli Zehs Gesellschaftsroman auf dem Spiel steht. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, n. 4, 50 (2020), S. 711-733. Venzl kommt zum folgenden Schluss: „Obgleich die meisten Figuren von postdemokratischer Skepsis erfüllt sind, handelt es sich keineswegs um einen Thesen‐ roman über den Niedergang der Demokratie“: Gerade die Vielfalt von Sichtweisen, die im Roman gezeigt werden, ermöglicht „Meinungsaustausch und Konfliktaustrag im Sinne einer gemeinsamen Zukunft“ (Venzl: Postdemokratie, S. 732). Zum Thema der Postdemokratie siehe darüber hinaus auch Erdbrügger: Politische Prosa? , S.-215-216. 29 Zeh: Unterleuten, S.-115. 30 Das ist die bittere Feststellung des Leiters der Naturschutzbehörde in Plausitz, Uwe Kaczynski, an den sich Gerhard Fließ um Rat wendet: „Zwar seien die Gemeinden über das Bauplanungsrecht an der Projektierung beteiligt. Nur gehe es dabei nicht mehr um die Frage, ob die Propeller gebaut würden. Sondern nur noch darum, ob sie einen Kilometer weiter links oder rechts zu stehen kämen. […] Natürlich rege sich Widerstand. Schließlich wolle jeder Windkraft, nicht wahr, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.“ (Zeh: Unterleuten, S.-206) 31 Zeh: Unterleuten, S.-153. 32 Erdbrügger: Politische Prosa? , S.-216. Dazu gehört eine zum Spektakel verkommene Politik, in der, wie eine Figur des Romans, Kron, beobachtet, Politiker, die sich in „Politikdarsteller“ verwandelt haben, da sie selbst „nichts mehr zu entscheiden“ haben, ihre Aufgabe darin sehen, „Emotionstheater, Überzeugungsinszenierung und Entscheidungssimu‐ lation“ zur Schau zu stellen. 29 In diesem postpolitischen Szenario verfügen weder die Bürger noch die Politiker über die im Prinzip ihnen zustehenden Entscheidungsrechte und -pflichten. Das kommt deutlich im Falle des Windparkprojektes zum Vorschein, das in der Tat bereits beschlossen worden ist und nicht zur Abstimmung steht; die Frage, über die sich auf der Versammlung die Geister scheiden, dreht sich nämlich nicht darum, ob, sondern nur wo die Windräder errichtet werden. 30 Pilz, der Angestellte der Windkraftfirma Vento Direct, wettet auf die Resigna‐ tion der Unterleutner und seine zynische Strategie sieht eben vor, sie von der Unvermeidbarkeit des Vorhabens zu überzeugen: „Es galt, die Ablehnung bis zum kritischen Punkt zu steigern, dann die Wut verrauchen zu lassen und anschließend Argumente nachzulegen, die das ganze Projekt alternativlos er‐ scheinen ließen“. 31 Zur „Rhetorik des Postpolitischen“ 32 gehört eben die von Pilz verkündete „Alternativlosigkeit“, die sich in der Sprache der neoliberalen Politik seit den 80er Jahren großer Beliebtheit erfreut. Auf höherer Ebene bedeutet es, dass unter Konsensdruck stehende Parteien jegliche Debatte vermeiden, indem sie bereits getroffene Entscheidungen als „Sachzwang“ darstellen: Lob‐ bygruppen und internationale Institutionen haben meistens im Vorfeld bereits Von Brandenburg nach Brüssel 65 <?page no="66"?> 33 Zeh: Unterleuten, S. 114. In ihre Romane lässt Zeh häufig Reflexionen einfließen, die sie in ihrem essayistischen Werk behandelt hat; es besteht - so Erdbrügger - „eine deutliche thematische Koinzidenz von essayistischem Werk und literarischem Text“ (Erdbrügger: Politische Prosa? , S. 209). So erweist sich Kron an dieser Stelle des Romans als Sprachrohr einer Abneigung gegenüber dem Adjektiv „alternativlos“, die Zeh in mehreren Essays zum Ausdruck gebracht hat. Siehe exemplarisch dazu die Aussage, die sie 2013 in einem öffentlichen Gespräch äußerte: „Politische Entscheidungen werden heutzutage so betitelt: als alternativlos. Das soll Diskussionen abschneiden, das soll sagen, es gibt ohnehin nur den einen Weg, es gibt eigentlich keine echten Alternativen, zwischen denen wir wählen könnten“. Siehe: Hamed Abdel-Samad / Juli Zeh / Herfried Münkler (im Gespräch mit Volker Panzer): Was steht zur Wahl? Über die Zukunft der Politik. Freiburg / Basel / Wien 2013, S.-14. 34 Zeh: Unterleuten, S.-114. 35 Ebd., S.-107. dafür gesorgt, dass unbeliebte Optionen verworfen wurden, so dass nationale Parlamente getroffene Entscheidungen einfach ratifizieren und dabei ihrer Ent‐ scheidungskraft beraubt werden. Die auf diese Weise entstehende Aushöhlung der Demokratie trägt selbstverständlich zu der überall festgestellten Politik- Verdrossenheit von heutigen Bürgern bei. Der im Roman schärfste Kritiker des Neoliberalismus, der mit keinem Vor‐ namen versehene Kron, ordnet eben Pilz jener Kategorie von Verkäufern und Verwaltern zu, die wissen „wann man ‚alternativlos‘ und ‚Sachzwang‘ sagen musste(n), nämlich in jedem zweiten Satz“. 33 Diese Argumentationstrategie setzt voraus, dass die Verantwortung leicht‐ fertig von einer Behörde auf die obenstehende abgeschoben wird, wobei eben an der obersten Stelle die EU steht: „Er [Kron] kannte die Argumentationsfiguren, mit denen Verantwortung von den Kommunen auf die Länder, von der Landes‐ ebene auf die Bundesregierung und von der Bundesregierung nach Brüssel abgeschoben wurde.“ 34 Der 66-jährige Kron, alter Kommunist und ehemaliger LPG-Brigadenführer, wohnt hoffnungslos und ermüdet dem Ritt des „Räuberkapitalismus“ bei und erstellt eine äußerst pessimistische Diagnose der heutigen, sich auf die „Freiheit“ berufenden Gesellschaft: Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie ge‐ rierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt. 35 66 Paola Quadrelli <?page no="67"?> 36 Ebd. 37 Die Kritiken von Kron und Fließ an dem Bologna-Prozess und an den Veränderungen im Schulsystem entsprechen den Urteilen, die Juli Zeh diesbezüglich in Essays und Reden formulierte. „Wir stehen im Begriff, unsere Schulen und Universitäten von Per‐ sönlichkeitsbildungsanstalten in praxisorientierte Ausbildungszentren zu verwandeln“ warnte Zeh 2009 in der Rede zur Verleihung des Jean-Améry-Preises (Zeh: Nachts, S. 105); noch strenger äußerte sie sich im selben Jahr in Bezug auf den Bologna-Prozess: „Ausgerechnet das deutsche Dichter-und Denker-Land kämpfte an erster Front für eine Reform, die nicht aus Not stattfand, sondern in der Überzeugung, die Umdeutung von Bildungsanstalten in Ausbildungscamps sei eine ‚zeitgemäße‘ und damit gute Idee. Die Hauptziele der Reform heißen nicht Wissensvermittlung, Persönlichkeitsbildung und Forschungsfreiheit. Sie heißen Mobilität, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitstaug‐ lichkeit“ ( Juli Zeh: Schweinebedingungen. In: Zeh: Nachts, S.-127-128). In seiner Zeitdiagnose stellt Kron auch die Europäische Union in Frage, die in seinen Augen den Inbegriff von Kapitalismus, Leistungsgesellschaft und Technokratie verkörpert. In Krons Visier kommen, u. a., das europäische Ausbildungssystem und dessen Schulen, in denen „nicht mehr unterrichtet wird“, sondern lediglich Lern‐ prozesse evaluiert, Projekte entwickelt und Kompetenzen bewertet werden. 36 Es ist kein Zufall, dass die Kritiken an den Veränderungen im europäischen Schul- und Universitätssystem 37 sowie, im Allgemeinen, an der neoliberalen Ideologie der EU vom alten Kommunisten Kron sowie vom Aussteiger Gerhard Fließ stammen. Widerspruch zu den neuen Tendenzen kommt eben von systemkriti‐ schen Stimmen, die sich einem aufgezwungenen, zum Selbstzweck gewordenen Reformismus und einem ins Leere laufenden Veränderungswillen widersetzen. Gerade am Anfang des Romans wird Gerhards Entscheidung, die Stelle an der Uni zu verlassen und sich aufs Land zurückzuziehen, durch seine Enttäuschung gegenüber dem universitären Umfeld erklärt: Der Bologna-Prozess hatte aus der Universität ein Trainingscamp für Menschen gemacht, die sich bereits seit dem Kindergarten um das Design ihrer Lebensläufe sorgten. […] Sein berühmtes Mephisto-Zitat, pflegte Gerhard zu rufen, habe Goethe schlichtweg falsch herum formuliert. Das Teuflische des Menschen liege zweifellos in jener Kraft, die stets das Gute will und dann das Böse schafft. […] Ein Universi‐ tätssystem, auf das die ganze Welt neidisch gewesen war? Abgeschafft für ein paar Credits und Exellenzinitiativen! Das große Projekt der europäischen Versöhnung? Eingetauscht gegen eine Zentralmacht mit Demokratiedefizit, die den kleinen Bauern das Saatgut verbot und den Finanzmärkten das Spekulieren erlaubte. Flughäfen mussten zusammengelegt, Bahnhöfe saniert, Städte untertunnelt und freie Flächen in Von Brandenburg nach Brüssel 67 <?page no="68"?> 38 Zeh: Unterleuten, S.-19. 39 Fließ wird allerdings seinen Widerstand zu den Windkraftanlagen aufgeben, wenn der eskalierende Konflikt (Krons Enkelin verschwindet und es ist sogar von einer Kindesentführung die Rede) die psychologische Gesundheit seiner Frau zu beeinträch‐ tigen droht: Die plötzliche Kehrtwendung Fließ’ ist ein weiterer Beweis davon, dass politische Stellungnahmen weniger von abstrakten Idealen als von zeitbedingten Gemütszuständen und persönlichen Verhältnissen abhängen. 40 Zeh: Was steht zur Wahl, S.-60. 41 Ebd., S.-29. Einkaufscenter verwandelt werden. Alles sollte immerzu wachsen und streben, auch wenn niemand mehr wusste, in welche Richtung es eigentlich ging. 38 Der Leser mag nicht staunen, dass Kron und Fließ, als Fortschrittsskeptiker, sich dem Windparkprojekt widersetzen; wie so oft, überwiegen allerdings Privatin‐ teressen idealistische Überzeugungen und Weltanschauungen. So erfolgt Krons Widerstand gegen die Windkraftanlagen nicht aus Antikapitalismus, sondern eher aus seiner uralten Feindschaft gegen den Unterleutner Unternehmer Gombrowski, der bereit ist, dem Investor sein Land als Gebiet zur Errichtung der Windräder in Pacht zu geben, und sich auf diese Weise deutlich bereichern würde. Fließ, der sich als Umweltschützer über die Einführung der Windenergie freuen sollte, gibt als Grund seines Protestes den Schutz seltener Vogelarten an, aber er ist in der Tat ein Opfer des wohlbekannten Nimby-Syndroms, indem er sich vehement gegen ein Projekt sträubt, das die Aussicht, die er von zu Hause genießt und um derentwillen er die Stadt verließ, zerstören würde. 39 Die Verhinderungsgründe, die die Menschen bei Nimby-Aktionen zum po‐ litischen Engagement führen, seien allerdings laut Zeh nicht so streng zu beurteilen: „Die Menschen sind doch schon immer aus Verhinderungsgründen in die Politik gegangen, daran ist doch nichts Schlimmes. Ganze Parteien wie die Grünen haben sich als Verhinderungsprojekte verstanden“, 40 erwiderte sie auf einer Podiumsdiskussion einem Gesprächspartner, der sich auf die gestalterische Dimension der Politik berief und dabei die Bedeutung von Aufbaugegenüber Verhinderungsprojekten betonte. In Bezug auf örtliche Politik und auf das Eingreifen der Bürger in Angelegenheiten, die ihre Region betreffen, behält Zeh einen pragmatischen Blick: Einzelinteressen sowie damit einhergehende Verhinderungsgründe haben immer eine Rolle gespielt und von utopischen Idealen und Abstraktionen sei auf jeden Fall besser abzusehen: „Wir wissen aber aus der Geschichte“ - so Zeh in der genannten Podiumsdiskussion - „dass eine abstrakte Definition von Mehrheit oder Gemeinwohl rein fiktiv und meistens auch nur ein Deckmantel für private Interessen ist.“ 41 68 Paola Quadrelli <?page no="69"?> 42 Ebd., S.-43. 43 Ebd., S.-45. 44 Ebd. 45 Zeh: Unterleuten, S.-545. 46 Ebd. 47 Vgl. ebd., S.-527. Unzufriedenheit mit der Politik kommt auch von allzu hohen Erwartungen und von der Illusion - so Zeh -, dass Demokratie „ein Verfahren zur Ermittlung der besten Lösung“ ist, 42 wobei es bei der Demokratie immer „um Aushandlungs‐ ergebnisse“ 43 geht: „Wenn dabei etwas herauskommt, bei dem alle das Gefühl haben, nicht bekommen zu haben, was sie wollten, ist es wahrscheinlich ein demokratisches Ergebnis“ 44 - so lautet Zehs Schlussfolgerung. Die Autorin zeigt also im Roman auf realistische Weise, wie eine Gemein‐ schaft durch Konflikte zerrissen wird, die infolge von auf höherer Ebene getroffenen politischen Entscheidungen ausgebrochen sind, und wie dabei persönliche Interessen, Gefühle, Affekte und Lebensentwürfe eine Rolle spielen. Die komplexe Natur der Sache und der multiperspektivische Ansatz Zehs evozieren nicht, wer Recht hat und wer nicht; um so weniger eröffnen sie einen konstruktiven Ansatz, wie die Streitigkeit am besten zu lösen sei. Wie schillernd und widersprüchlich die Realität ist, zeigt selbst die Rolle, die der EU innerhalb des kleinen Dorfs zugemessen wird. Krons Tiraden gegen die Europäische Union und die Tyrannei deren Lebensmodells steht nämlich die Tatsache entgegen, dass das materielle Überleben des Dorfs gerade den Subven‐ tionen der EU zu verdanken ist: Der alte Gombrowski, der fast allen Bewohnern des Dorfs einen Arbeitsplatz sichert, ist der Geschäftsführer des aus den Ruinen der LPG Gute Hoffnung auferstandenen landwirtschaftlichen Betriebs Ökologica GmbH, der tatsächlich von EU-Zuschüssen lebt. Beim Zuschauen seiner jungen Assistentin, Betty Kessler, die an dem „unter dem endlosen Papierkram der Europäischen Union“ 45 begrabenen Schreibtisch arbeitet, denkt Gombrowski an die Zukunft seines Betriebs und an die unvermeidbaren Veränderungen, die dem Geschäft vorliegen: „Eine junge Frau, mit der ich nicht einmal verwandt bin, führt einen EU-subventionierten Betrieb.“ 46 Selbst das Vogelschutzreservat bezieht EU-Subventionen, 47 ja sein richtiger Name lautet „Europäisches Vogel‐ schutzreservat Unterleuten“. Die erwähnten Hinweise auf die EU bezeugen, wie die von Brüssel gesteuerte Politik das Leben der Bürger in jedem Winkel Europas beeinflusst und wie deren flächendeckende Aktion, die sich im Roman von den Zuschüssen an die Landwirtschaft bis zum Umweltschutz, von der Förderung erneuerbarer Von Brandenburg nach Brüssel 69 <?page no="70"?> 48 Von Anfang an kamen zwei Gebiete für die Errichtung des Windparks in Betracht; eines gehörte Kron, der sich allerdings sofort gegen das Windprojekt äußerte, das andere gehörte drei unterschiedlichen Besitzern: Gombrowski, Meiler (ein Unternehmer aus Ingolstadt) und Linda Franzen, einer jungen Frau aus Oldenburg, die davon besessen ist, einen Pferdehof für ihren Hengst, Bergamotte, zu bauen. 49 Zeh: Unterleuten, S.-598. Energien bis zum Bildungssystem erstreckt, unterschiedlich zu bewerten ist und sich einer wohl berechtigten Kritik nicht entziehen kann. Deutlich tritt allerdings im Roman hervor, wie selbst (oder gerade) in einem so kleinen Dorf wie Unterleuten der europäische Horizont unumgänglich ist. Europa steht im Roman letzten Endes für eine Zukunft, die so oder so über althergebrachte Lebensformen gewinnt. Am Ende des Romans, dessen erzählte Zeit zirka zwei Monate dauert, erlebt der Leser den Zusammenbruch der alten patriarchalischen Gesellschaft: Der Bürgermeister Arne Seidel, der lebenslang eine Marionette Gombrowskis war, geht zu diesem auf Distanz und bestimmt das Gebiet Krons als das angemessene Areal für die Errichtung des Windparks. 48 Danach tritt er zurück und schlägt Kathrin Kron, der 35-jährigen Tochter Krons, vor, für das Amt zu kandidieren. Als er Kathrin, die als Pathologin in Neu Ruppin arbeitet und aus einem ganz anderen Holz als der Vater geschnitzt ist, seinen Vorschlag unterbreitet, fügt er hinzu: „Unterleuten wurde lang genug von alten Männern regiert. Die Zeit der alten Männer ist vorbei.“ 49 Tatsächlich sterben die Prominenten des Dorfs, Gombrowski und Kron, deren gegenseitige Feindschaft auf die Jahre der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR zurückging, einer nach dem anderen; Gombrowski begeht Selbstmord und Kron stirbt kurz danach an einer Krankheit. Auch die Zugezogenen verschwinden aus dem Dorf: Fließ, der im Windmühlenstreit sein psychisches Gleichgewicht verloren hatte, wird infolge der Verletzung eines Nachbarn verhaftet, während seine Frau Jule sich von ihm trennt und nach Berlin zurückkehrt; die aus Oldenburg stammende Linda Franzen fährt ihrerseits heim und ihr Freund, Frederik Wachs, wird bei einem Autounfall schwer verletzt. Wenn Kron, selbst am Ende seines ungestümen Lebens, Bilanz zieht, sieht er vor sich die fünfjährige Enkelin, Krönchen, der er das Erreichen einer völligen Emanzipation aus dem von Feindschaften zerrissenen Dorf wünscht. Dafür werden sich die gewinnbringenden Windkraftanlagen als dienlich erweisen: Krönchen war der Beginn einer neuen Ära. Sie würde den Knoten durchschlagen, der die Familie an Unterleuten band. Es galt, eine ganze Ahnenreihe von Bauern, Landarbeitern und Leibeigenen zu beerdigen. […] Sie würde in Hamburg, oder München leben, vielleicht sogar in New York oder Singapur, und schon ihre Kinder 70 Paola Quadrelli <?page no="71"?> 50 Ebd., S.-612. 51 Ebd., S.-614. würden nichts mehr davon ahnen, dass sich ihre Vorfahren eine kümmerliche Existenz aus dem Märkischen Sand gekratzt hatten. Vielleicht würden Krons Urenkel in den Sommerferien nach Unterleuten kommen […]. Vielleicht würden am Waldrand noch die Ruinen von zehn großen Rotoren stehen, die einst den nötigen Rückenwind erzeugt hatten, um Krönchen aus dem Dorf zu wehen. 50 Auch der Kommunist Kron akzeptiert also die individualistische Gegenwart und nimmt endgültig von den Ideologien der Vergangenheit Abschied: „Endlich war auch in Kron das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen, diese Epoche des kollektiven Wahnsinns. Mit einem kleinen Schritt war er in der Gegenwart angekommen, im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter bedingungsloser Egozentrik.“ 51 Realistisch und überzeugend zeigt die Autorin in Unterleuten die Stöße, die Rückschläge sowie die Beschleunigungen, die eine Gesellschaft in Bewegung setzen und zu Veränderungen führen. Aus der modernen Gegenwart, auf die das Dorfleben letztlich zusteuert, ist die Europäische Union nicht wegzudenken: Trotz der Fragwürdigkeit derer Lebensmodelle und der problematischen Seiten, die die gemeinsame europäische Politik kennzeichnen, ist der EU die Kraft nicht abzusprechen, den Unterleutnern (sowie den europäischen Bürgern) wirtschaftliche Prosperität und damit Frieden zuzusichern. Von Brandenburg nach Brüssel 71 <?page no="73"?> 1 Die biographischen Angaben im Folgenden stützen sich auf: Irmgard Acker‐ mann / Nazli Hodaie: Emine Sevgi Özdamar. In: Kritisches Lexikon zur deutschspra‐ chigen Gegenwartsliteratur. Online-Ausgabe. http: / / www.nachschlage.net/ search/ do cument? index=mol-16&id=16000000429&type=text/ html&query.key=al8jeqAN&temp late=/ publikationen/ klg/ document.jsp&preview= (zuletzt abgerufen am 7. August 2023). „Die Hölle hat in Europa eine Pause gemacht“ Perspektiven auf die Friedensjahre im Europa der Nachkriegszeit in Emine Sevgi Özdamars Roman Ein von Schatten begrenzter Raum Hermann Gätje, Saarbrücken Im Herbst 2021 erschien nach längerer Pause mit Ein von Schatten begrenzter Raum wieder ein Roman der aus der Türkei stammenden, in Deutschland lebenden und auf Deutsch schreibenden Autorin Emine Sevgi Özdamar. Mit rund 760 Seiten ist es ein voluminöses Werk, das von der Kritik sehr positiv aufgenommen wurde. Es stand auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buch‐ messe 2022 und die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an die Autorin im selben Jahr ist gewiss auf diesen Roman, der Autobiographie und Summe des Lebens und Werkes der Autorin gleichermaßen ist, und sein Momentum zurückzuführen. Der äußere Handlungsablauf des Textes entspricht dem Leben der Autorin. Özdamars Biographie kann in mehrfacher Hinsicht als exemplarischer Lebens‐ lauf gedeutet werden, in dem sich interkulturelle Spannungspunkte paradigma‐ tisch spiegeln. Insofern bildet die konkrete Realität eine ideale Basis für eine romanhaft stilisierte Darstellung. Özdamar wurde 1946 in Ostanatolien geboren, wuchs in Istanbul und in Bursa auf. 1 In den Orten ihrer Herkunft und der Erziehung spiegelt sich die Gespaltenheit der Türkei auch im Hinblick auf ihre Verankerung in der europäischen Kultur. Schon als Kind und Jugendliche spielte Özdamar in Bursa Theater auf offizieller Bühne. 1965 kam sie zum ersten Mal <?page no="74"?> nach Deutschland, damals sprach sie noch kein Deutsch. Sie arbeitete in einer Elektrofabrik in West-Berlin. Von 1967 bis 1970 besuchte sie die Schauspielschule in Istanbul und hatte bis 1976 erste professionelle Theaterrollen in der Türkei. Der Militärputsch von 1971 bedeutete für sie als Mitglied einer linken türkischen Partei Repressionen und massive berufliche Einschränkungen. Sie ging 1976 für eine Regieassistenz an die Volksbühne nach Ost-Berlin. Dort arbeitete sie mit Benno Besson und Matthias Langhoff zusammen. Sie pendelte dabei zwischen dem Westen und Osten der damals geteilten Stadt. 1978 folgte sie Benno Besson als Mitwirkende bei seiner Inszenierung von Brechts Der kaukasische Kreidekreis nach Paris und Avignon. Diese Episode ihres Lebens nimmt in dem Roman eine exponierte Rolle ein, wobei ein besonderer motivischer Akzent auf den von ihr für diese Inszenierung entwor‐ fenen Figurinen liegt. Sie nahm während dieser Zeit in Paris ein Studium der Theaterwissenschaft auf, welches sie mit dem Diplom „Maîtrise de Théâtre“ abschloss. Von 1979 bis 1984 hatte sie ein Engagement als Schauspielerin und Regieas‐ sistentin am Schauspielhaus Bochum unter der Leitung von Claus Peymann. Auf dessen Initiative schrieb sie 1982 ihr erstes Theaterstück Karagöz in Alamania (Schwarzauge in Deutschland), das 1986 am Schauspiel Frankfurt unter ihrer Regie uraufgeführt wurde. Seitdem arbeitet sie als freie Schriftstellerin, hat jedoch immer wieder auch Theaterrollen übernommen. Sie trat auch als Film‐ schauspielerin in Erscheinung, besonders bekannt sind darunter der als Bester Spielfilm mit dem Deutschen Filmpreis 1992 ausgezeichnete Doris-Dörrie-Film Happy Birthday, Türke! und Hark Bohms Yasemin von 1988. Özdamars Opus magnum wird gattungstypologisch formell als ein Roman bezeichnet, lässt sich jedoch als eine Mischung aus dichtender Erzählung, Auto‐ biographie und Memoiren klassifizieren. Die Ich-Erzählerin wird nicht speziell vorgestellt, es wird explizit keine direkte Identität zur Autorin hergestellt, aber sie wird auch nicht abgestritten. Sie evoziert sich aus der Erzählung, die eindeutige Referenzen zur realen Person, zu ihren Texten, ihrem Werdegang als Künstlerin und Autorin aufweist. Es werden viele Figuren der Zeitgeschichte beobachtet und beschrieben, der Text wirft einen Blick auf einige bekannte Regisseurinnen und Regisseure und die Theaterszene jener Jahre und spiegelt so literarisch die Stimmung einer Epoche. In dieser Hinsicht wird die auto‐ biographische Erzählung stark memoirenhaft, wenn man die idealtypische Gattungsabgrenzung heranzieht, dass sich Memoiren im Gegensatz zur Auto‐ biographie nicht auf die eigene Person, sondern das Umfeld fokussieren. Der Text nimmt Motive der vorherigen Romane der Autorin auf, geht explizit auf 74 Hermann Gätje <?page no="75"?> 2 Dies kann hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. Zu Özdamars autobiographisch geprägter Erzählweise und ihren Themen vgl. die umfassende Darstellung ihrer Werke im Artikel des KLG: Ackermann / Hodaje: Özdamar. Aus diesen Ausführungen wird ersichtlich, dass Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum zahlreiche in vorherge‐ henden Erzählungen und Romanen erscheinende Motive und Ereignisse ihres Lebens wieder aufgreift und neu formt. 3 Vgl. Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 9: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ (Kursivierung im Original) diese ein, greift einzelne Geschichten aus den Romanen auf, erzählt sie neu und vertieft sie. 2 Der autobiographische Gestus ist im Text nicht dominant, vielmehr entwickelt er eine Erzählung des Lebens und gestaltet dabei poetische Bilder, die Lebensphasen und -situationen verdichten. Die Europafrage wird in die Erzählung der Biographie der Protagonistin eingebettet. Der Text hat zwei zentrale Akzente, die im Kontext dieses Europa‐ diskurses stehen. Zum einen fasst die Autorin ihr Leben zwischen den Kulturen, schildert und poetisiert ihren Blick von der Türkei auf Europa. Zum anderen ist es die Erinnerung an eine Zeit, in der der Glaube verbreitet war, dass man mit Kunst etwas bewirken kann, einfach ausgedrückt, die Welt verbessern kann. Eine wesentliche Rolle spielt die Evokation von Europa als einer Art Insel des Friedens im Gegensatz zum Großteil der restlichen Welt, zu der auch Özdamars Heimat Türkei zu rechnen ist. Die inneren Verhältnisse in der Türkei als solches lassen sich als eine Form von Unfrieden respektive Krieg interpretieren. Was Özdamar beschreibt, lässt sich mit dem Begriff der „strukturellen Gewalt“ fassen. Diese besonders von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung geprägte Kategorie, 3 die in der Friedensforschung der 1970er Jahre großen Anklang gefunden hat, differenziert den Begriff von Krieg und Gewalt und grenzt die unmittelbare, „personale“ Gewalt und den eigentlichen Krieg von einer staatlichen bzw. sozialen, immer als Drohung wirkenden Gewalt ab. Die Verhältnisse, die Özdamar umreißt und für die Türkei beschreibt, entspre‐ chen diesem. Ständig liegt Bürgerkrieg in der Luft, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft, die demokratischen Werte und die Rechte der Frau werden nur bedingt akzeptiert. Immer wieder putscht das Militär. Eindrucksvolles Bild einer emphatischen Darstellung solch einer strukturellen Gewalt sind die über der Stadt Istanbul kreisenden Hubschrauber. Deren Geräusch, das die in Deutschland lebende Erzählerin im Hintergrund hören kann, wenn sie von Europa mit ihren Eltern telefoniert, symbolisiert zugleich den Antagonismus zwischen den beiden Welten: „Die Hölle hat in Europa eine Pause gemacht“ 75 <?page no="76"?> 4 Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Berlin 2021 (E-Book), S.-58. 5 Ebd., S.-41. 6 Ebd., S.-44-46. [Meine Mutter] sagte mir []: „Bleib da, hier fliegen die Hubschrauber ständig über uns.“ Im Berliner Himmel flogen die Hubschrauber nicht so nah zu den unten gehenden Menschen wie in Chile oder der Türkei, aber durch die Konzentrationslagerfilme im Fernsehen murmelte der Himmel hindurch, als ob dauernd Hubschrauber fliegen würden. […] Dann schwieg meine Mutter und ließ mich die Hubschrauber über den Istanbuler Häusern hören. […] Als sie [die Eltern] in Istanbul miteinander sprachen, hörte ich aus dem Hörer wieder die Hubschrauberstimmen, die über den Häusern flogen. 4 Özdamar schildert Krieg als eine Stimmung, nicht nur der explizite Krieg ist gemeint, auch ein Kontinuum aus Gewalt und Terror. Krieg und Frieden werden in der Erzählung Özdamars zu subjektiven Empfindungen. Die Zeit des Friedens in Europa ist in diesem Sinne als subjektive Wahrnehmung zu interpretieren, die nicht unreflektiert dargestellt wird. Immer wieder stellt die Autorin die Ambiguität heraus. Sie bringt ihre eigenen Konflikte und ein schlechtes Gewissen, die Heimat zu verlassen, zum Ausdruck, in dem sie „Wände, Mosquito und Krähen“ 5 für ihr zweites Selbst sprechen lässt: Die Krähen sagten: „Ja, die Gegangenen werden sich schämen bis ins Grab. Sogar die Hiergebliebenen schämen sich für die, die nach Europa gegangen sind. Die Leute hier sagen, diese Menschen, die von hier fort sind, geben in Europa ein schlechtes Bild von uns, wir sind modern hier, wir haben unsere Geschichte, unsere Reichtümer, unsere Kultur. Die, die weggegangen sind, sind die Armen, die Kulturlosen, die Sklaven. Durch sie wird in Europa unsere wahre Identität, unsere reiche Geschichte klein gemacht. Plötzlich schreibt Europa unsere reduzierte Geschichte.“ Ich sagte: „Ich mach die Geschichte wieder groß, ich werde dort Schauspielerin.“ […] Warum sollte es mir in Europa anders gehen als hier? Ich spiele hier Rollen, dort auch Rollen. Charlotte Corday hier, Charlotte Corday dort. Ophelia hier, Ophelia dort.“ Die Krähen verloren keine Zeit, mir zu antworten. Sie sagten: „Wenn du gehst, gehst du als Charlotte Corday oder als Ophelia von hier fort und kommst dort in Berlin als Putzfrau an.“ „Du kannst in Europa vielleicht auch berühmt werden, vielleicht Schauspielerin oder Schriftstellerin, aber du wirst keine Ruhe finden.“ 6 Das titelgebende Bild des vom Schatten begrenzten Raumes wird im Text mehrfach variiert und dargelegt, manchmal sehr subtil: 76 Hermann Gätje <?page no="77"?> 7 Ebd., S.-38. 8 Ebd., S. 423. Der Satz wird im Buch leitmotivisch variiert und erscheint in unterschied‐ lichen Wortstellungen. 9 Der Stern, Nr. 41, 6. Oktober.2022: „Wie unsere heile Welt zerbricht. Inflation, Rezession, Atomgefahr - die deutschen Urängste kehren zurück.“ Vgl. https: / / www.stern.de/ polit ik/ deutschland/ gregor-peter-schmitz-ueber-den-aktuellen-stern--wie-unsere-heile-we lt-zerbricht-32782848.html (zuletzt abgerufen am 7. August 2023). Gerade war auf der Insel der Strom ausgefallen, […] Hier am Hafen war es dunkel, und auf der Insel Lesbos waren viele Lichter an. Ali Kaptan sagte lachend: „Da fällt der Strom nie aus. Da ist Europa.“ 7 Die Allegorie drückt vor allem den Kontrast aus, in dem man die sogenannten Friedensjahre in Europa sehen kann. Der Schatten symbolisiert dabei die Gewalt, die rings um Europa herrscht. Dieser Raum ist sowohl örtlich als auch zeitlich zu sehen. Die Autorin reflektiert ihren subjektiven Blick. Für sie, die die politische Gewalt in der Türkei erfahren hat, wird das damalige Europa zu einer Insel des Friedens. In Frankreich und Deutschland hatte sich, auch in Folge der 1968er Bewegung, eine kulturelle Szene entwickelt, in der Kreativität und Kollegialität ein freiheitliches tolerantes Menschenbild und ein aktives Mitwirken bei der Gestaltung der politischen Entwicklung durchsetzen wollten. Die Autorin glorifiziert jedoch das Kulturmilieu nicht widerspruchsfrei. Nicht ohne Ironie verweist sie darauf, dass man ihr auch in einer bildungsbürgerlichen Institution wie dem Theater zunächst die Rolle der türkischen Putzfrau angeboten habe, sie sich also auch dort gegen Stereotypen durchsetzen musste. Der Topos „[D]ie Hölle hat in Europa eine Pause gemacht, […]“ 8 ist be‐ sonders bemerkenswert. Im Hinblick auf deutsche Teilung, Grenze, Kalter Krieg, Ungarn-Aufstand, Prager Frühling scheint es, dass man diese Sentenz relativieren muss. Wer die 1970er und 1980er Jahre miterlebt hat, dem fällt es leichter, die Äußerung nachzuvollziehen. In der jetzigen Zeit, wenn der russische Diktator Putin unverhohlen mit Atomwaffen droht, kommt anscheinend erst der Gedanke auf, dass unsere heile Welt zu Ende ist - bezeichnend hat das im Oktober 2022 ein Titelthema des Stern zum Ausdruck gebracht. 9 Das Ende des Kalten Krieges wurde aus eurozentrischer Perspektive zum Ende der Geschichte erklärt. Subjektiv ist für viele das Ende dieser Pause mit dem Ukraine-Krieg erst in Sicht. Den jugoslawischen Bürgerkrieg hat man aus der Distanz beobachtet, es stand keine atomare Bedrohung im Raum. Diese Diskrepanz zwischen subjektivem und objektivem Bild ist bemerkenswert. Man spricht zwar von Friedensjahren in Europa, aber muss dabei einräumen, dass die Verhältnisse im Rest der Welt nicht in das unmittelbare existenzielle Bewusstsein eingedrungen „Die Hölle hat in Europa eine Pause gemacht“ 77 <?page no="78"?> 10 Özdamar: Schatten, S.-135-499. 11 Ebd., S.-134. 12 Ebd., S.-136. sind. Özdamar bringt in dem Roman diese Spanne sehr plastisch und erhellend zum Ausdruck. Der Mittel- und Hauptteil des Buches, der zwei Drittel des Texts umfasst, trägt den Titel „In der Pause der Hölle“. 10 Am Schluss des vorangehenden Teils leitet Özdamar mit einer Kontrastierung von Erzählzeit und erzählter Zeit zu dem Motiv über, indem sie auf die islamistischen Terroranschläge in Paris und die aktuellen Verhältnisse in der Türkei eingeht: „In diesen Tagen wird ein türkischer Journalist, der in Istanbul selbst in Angst vor Islamisten lebt, schreiben: „IST DIE WELT EINE HÖLLE? “ / Aber jetzt, siebenunddreißig Jahre früher, sah das Leben in Paris so aus, als ob die Hölle hier eine Pause gemacht hätte.“ 11 Der Roman schildert diese Jahre aus der Perspektive von 2020 und schon das erste Kapitel dieses Teils ist überschrieben mit „Die große Illusion“, in Anspielung auf den Film von Jean Renoir, und wiederholt das Motiv von „der Pause der Hölle“: Die Metro fuhr in der Pause der Hölle ruhig und ohne Angst durch die Stationen. In der Pause der Hölle stieg ich in der Metro Glacière mit anderen Menschen aus, lief mit ihnen die Treppen hinunter. […] Ihre Rücken hatten noch keine Angst in der Pause der Hölle. Ich lief in der Pause der Hölle in Richtung Efterpis Haus. Efterpi zog ihre schwere Tür in der Pause der Hölle zur Seite, […] Sie wollte gerade zur Nachmittagsvorstellung in ein Kino, einen Film von Jean Renoir anschauen: […] 12 Efterpi will zwar einen anderen Film des Regisseurs anschauen, doch die Kapitelüberschrift spielt auf Renoirs Verdun-Film Die große Illusion an. Eine mögliche Interpretation dieses Titels akzentuiert den 1937 entstandenen Film als Warnung, dass der verbreitete Gedanke, nach dem Ersten Weltkrieg und seinen bislang unbekannten Schrecken würde es keinen weiteren Krieg geben, sich als Illusion herausstellen könnte. Ähnliches evoziert Özdamars Roman für unsere Zeit und die Aktualität nach Erscheinen unterstreicht das Plausible dieses Gedankens. Die Pause in der Hölle symbolisiert aber auch eine Zeit, in der man glaubte, durch Kunst und deren Ideale die Welt verbessern zu können. Kunst wurde in dem Glauben geschaffen, Werte wie den Frieden zu vermitteln. Die eigene Möglichkeit, in diesem Teil der Welt Kunst zu machen in einem Klima der Freiheit, hebt Özdamar hervor: 78 Hermann Gätje <?page no="79"?> 13 Ebd., S.-417. 14 Ebd., S.-42. 15 Ebd., S.-279. 16 Es handelt sich um eine die Symbolik akzentuierende Stilisierung des Ortes als Insel: „Eigentlich ist es eine Halbinsel. Der Hauptort heißt Ayvalik, am anderen Ende liegt das Dorf Cunda.“ (Sieglinde Geisel: Mit geteilter Zunge. Georg-Büchner- Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar. Deutschlandfunk 4. November 2022. https: / / ww w.deutschlandfunkkultur.de/ georg-buechner-preistraegerin-emine-sevgi-oezdamar-lit erarisches-werk-100.html [zuletzt abgerufen am 7. August 2023]). Mir hat keiner in Europa was angetan. Ich denke wie der jüdische Regisseur Peter Zadek. Er sagte, die Deutschen sind nicht eifersüchtig, wenn sie merken, das einer ein guter Künstler ist, unterstützen sie ihn, bieten ihm Chancen. 13 Die lebendige Kunstszene Berlins wird kontrastiert mit den bedrückenden Zeugnissen des Krieges, die dort zum täglichen Anblick gehören, und die Dimension der Pause in der Hölle in ihrer zeitlichen Dimension beleuchten. Die Spuren des Krieges sind als Mahnmal besonders in Berlin sichtbar: Berlin war damals müde, das Jahr 1966. Es sah manchmal wie ein zahnloser Mund aus. Es hatte Gedächtnislücken. Die Hände konnten noch die Einschusslöcher aus dem Krieg an den Hauswänden tasten. 14 Die Autorin entwickelt ein Spiel, in dem sie beim Durchstreifen der Straßen registriert, welches Haus im Krieg zerstört war und welches nicht: Ich lief durch große, breite Straßen, zählte wieder die im Krieg zerbombten, wieder aufgebauten und die nicht zerbombten Häuser. Boom-Häuser, Nicht-Boom-Häuser, boom, boom, boom, nicht-boom, nicht-boom, nicht-boom, boom, boom, boom, nichtboom, boom […] 15 Es folgen zwei Buchseiten mit der litaneiartigen Darlegung von „boom“ und „nicht-boom“. Sehr subtil ausgearbeitet ist im Roman das Spiel mit dem Motiv der Insel. Europa erscheint bildhaft als Insel des Friedens. Längere Passagen spielen auf einer eigentlichen, namentlich nicht genannten türkischen Insel in Sichtweite der griechischen Insel Lesbos. 16 Die türkische Insel wird zu einem symbolischen Ort stilisiert, in dem die Motive des Buches zusammenlaufen. Sie liegt an der Grenze zu Europa, das geographisch ganz nah und doch so fern ist, für viele unerreichbar. Hier spielen wesentliche Szenen und dieser Ort symbolisiert Nähe und Ferne, in ihm fokussiert sich die hybride Identität der Autorin zwischen der türkischen Heimat und ihrem Denken, das von europäischen Werten wie der Aufklärung geprägt ist. Die Insel wird zum Ausgangspunkt ihrer Emigration, „Die Hölle hat in Europa eine Pause gemacht“ 79 <?page no="80"?> 17 Özdamar: Schatten, S.-423. 18 Gustav Regler: Werke 6: Sohn aus Niemandsland / Tagebuch 1940-43. Basel / Frankfurt am Main 1994, S.-224. doch kehrt sie immer wieder zurück und reflektiert ihr Leben. Hier sprechen auch die Krähen mit ihr, welche die Skepsis gegenüber Europa versinnbildlichen und gewisse Schuldgefühle, ihre Heimat zu verlassen. Doch beschwören sie später auch die vergangene Zeit, die Phase der Utopie: Plötzlich duzte mich die Stimme: „Nochmal. Du Mensch. Hier, dieser Ort ist deiner Zeit voraus. Du musst zurück in deine Zeit, deine Zeit ist noch IN DER PAUSE DER HÖLLE, du hast selber gesagt, die Hölle hat in Europa eine Pause gemacht, du musst zurück in diese Zeit IN DER PAUSE DER HÖLLE. Hier ist die Höllenpause zu Ende.“ 17 Einerseits räumt der Text leicht resignativ das Ende und die Illusion dieser „Pause“ ein, andererseits beschwört er das Denken dieser Zeit und ruft den Geist jener Jahre herbei, um Hoffnung und Handlungsmöglichkeiten für die Gegenwart zu eröffnen. In der Perspektive der Erzählung überlagern sich die Zeitebenen zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Die Erzählerin findet sich immersiv in der damaligen Zeit wieder, erlebt sie noch einmal. Es ist die Zeit, in der trotz der vergangenen und gegenwärtigen Schrecken die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bestand. Der aus dem Saarland stammende Autor Gustav Regler formulierte in einer politisch wie persönlich schwierigen Lage im mexikanischen Exil den Satz „Kunst ist immer ein Asyl“. 18 Regler hatte gerade die Kommunistische Partei verlassen und setzte sich vehement gegen eine Kunst im Dienst einer Partei oder Ideologie ein. Gleichzeitig sollte für ihn die Kunst den Anspruch nicht verlieren, politisch und moralisch zu wirken. In diesem Sinne bietet Özdamars Text interessante Denkanstöße. Der Roman schildert exemplarisch einen Lebensweg zwischen zwei Kulturen und entwirft vor diesem Hintergrund das Gemälde einer Zeit. Ihre persönliche Erfahrung ermöglicht der Autorin einen doppelten Blick, sie kann Europa gleichermaßen aus der Außenwie der Innenperspektive betrachten. 80 Hermann Gätje <?page no="81"?> 1 Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Roman. Frankfurt am Main 2021, S.-24. Gegenwart und Zukunft Europas in Christoph Ransmayrs Roman Der Fallmeister Sikander Singh, Saarbrücken I. Indem Christoph Ransmayr seinem Roman Der Fallmeister den Untertitel Eine kurze Geschichte vom Töten beigelegt hat, verweist er auf eine Arbeit des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski. Dessen Kurzer Film über das Töten ist Teil eines insgesamt zehn Teile umfassenden Filmprojekts, das den Dekalog zum Gegenstand hat. Ransmayr rekurriert, wie Kieślowskis Film aus dem Jahr 1988, auf das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten“. Durch den Untertitel wird somit das Thema benannt, das mit den Mitteln und Möglichkeiten des Erzählens in dem Roman des österreichischen Schriftstellers bedacht, erforscht, eingeordnet wird. Der Fallmeister ist die Geschichte eines Mannes, dessen Vater den Tod von fünf Menschen zu verantworten hat, weshalb jener sich auf den Weg macht, die „Verwandlung“ dieses Vaters, „eines von der Vergangenheit geradezu besessenen Mannes“ zu verstehen, „in einen von seinen Nächsten und Liebsten und allen guten Geistern verlassenen Menschen, der am Ende bereit war, zu töten“. 1 Während aber der Sohn die Voraussetzungen und Umstände dieses fünffachen Todes, (es bleibt unbestimmt, ob es Mord oder ein Unfall war) untersucht, wird er seinerseits zu einem Mörder. Der Akt des Tötens initiiert nicht nur die Queste (denn als eine solche ist der Roman angelegt), auch ist er nicht nur das die Handlung auslösende Moment; seine Grausamkeit und Lust, seine Ursachen und Folgen sind wiederkehrende, bestimmende Motive des Romans: So skizziert das erste Kapitel einleitend jene Folge von Ereignissen, die zum Tod von fünf Menschen in einem Langboot geführt hat, den der Vater des namenlos bleibenden Erzählers verschuldet hat. Im zweiten Kapitel wird von einem Kater berichtet, der, nachdem er eine <?page no="82"?> 2 Ebd., S.-28. 3 Ebd., S.-32. 4 Ebd., S.-32f. 5 Ebd., S.-82. Wasseramsel erjagt und getötet hat, über eine menschliche Reaktion derart erschreckt, dass er in das „tosende Weißwasser“, das „brodelnde Weiß“ eines Gebirgsflusses zu Tode stürzt. 2 Die verstörende Brutalität der Szene ist für den Sohn eine Epiphanie. Er beginnt seinerseits zu töten, indem er „Hornissen mit einer Schere im Flug zu zerschneiden“ sucht. 3 Das Entsetzliche und zugleich Numinose seines kind‐ lichen Spiels kommentiert das erzählende Ich lakonisch: „Als Kind und noch als Student der Hydrotechnik tötete ich oft. Unter den vielen Tieren, die mir als Jagdbeute oder bloße Figuren in tödlichen Spielen zum Opfer fielen, wurden Hornissen zu meinen gefährlichsten Feinden.“ 4 Das vierte Kapitel berichtet von der Begegnung mit dem Bootsmann Nhean, der am Mekong lebt: Während er gefoltert wurde, verbrannten seine Frau und seine beiden Töchter in Folge des Überfalls einer grausam marodierenden Rebellenarmee. In den Gesprächen mit diesem Bootsmann gelangt der Erzähler zu einer Überlegung, die nicht nur in Bezug auf die mordenden Krieger in Kambodscha relevant ist, sondern auch im Hinblick auf die fünf Toten, die sein Vater zu verantworten hat: „Wie dünn, möglicherweise hauchzart, war die Membran, die das Innerste eines friedlichen, Musik und Malerei und dazu Süßigkeiten, seine Kinder oder wenigstens sein Vieh liebenden Menschen von einer tief in ihm kauernden Bestie trennte? “ 5 Auf diese Weise beschreibt der Roman nicht nur die Suche des Sohnes nach dem Motiv für die Mordtat seines Vaters. Die Bilder des Todes wie des Tötens, die Geschichten von Menschen, deren Leben durch Mord und alle Formen von Gewalt gezeichnet, entstellt, deformiert ist, fügen sich als Aspekte zu einer Betrachtung über die menschliche Natur. Ransmayrs Kurze Geschichte vom Töten ist in diesem Sinne die erzählerische Annäherung an eine für die philosophische Anthropologie zentrale Fragestel‐ lung. Wesentlich damit verbunden erlangt der Roman eine politische Dimen‐ sion: Weil die Geschichten vom Töten nicht nur Notwendigkeit, Möglichkeit oder Lust veranschaulichen, von denen der einzelne Mensch in dem Augen‐ blick bestimmt wird, da er ein anderes Leben gewaltsam beendet, nimmt Der Fallmeister jenen staatstheoretischen Diskurs auf, der seit Thomas Hobbes anthropologische wie rechtsphilosophische Debatten bestimmt hat. Ransmayr gestaltet die These vom kriegerischen Naturzustand des Menschen jedoch mit erzählerischen Mitteln aus. 82 Sikander Singh <?page no="83"?> 6 Ebd., S.-85. 7 Zum „Interesse an Europa als literarischem Gegenstand“ in Ransmayrs Frühwerk vgl. Monica Fröhlich: Europadiskurse im Werk Christoph Ransmayrs. In: Michael Braun/ Birgit Lermen (Hrsg.): Begegnungen mit dem Nachbarn. Aspekte österreichischer Gegenwartsliteratur. Sankt Augustin 2003, S.-115-132, hier S.-120. 8 Ransmayr: Der Fallmeister, S.-9. 9 Ebd. 10 Ebd., S.-40. So schreibt sein Roman die Tradition der politischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts einerseits fort, indem er die Themen, Entwicklungen und Tendenzen der Gegenwart im Hinblick auf die ihnen immanenten Implikationen für die Zukunft befragt, andererseits indem er die Frage verhandelt, wie Ge‐ meinschaften, die der Mensch als soziales Wesen bildet, durch Akte der Gewalt und des Tötens geformt, bestimmt oder zerstört werden: Die Membran zwischen einem menschlichen Dasein und der Bestialität zerriß wohl tatsächlich in dem Augenblick, in dem sich ein von der Vergangenheit oder einem anderen erloschenen Glanz Besessener von der Gegenwart ab- und einer Umkehr der Zeit und einer seit Jahrhunderten verfinsterten Glorie zuwandte […]. 6 II. Christoph Ransmayrs sechster Roman, der zur Frühjahrsmesse 2021 erstveröf‐ fentlicht wurde, ist allerdings nicht nur als erzählerische Betrachtung über das Wesen des Menschen ein politischer Roman. Indem Der Fallmeister ein pessimistisches, ein ebenso dunkles wie erschreckendes Bild der Zukunft des europäischen Kontinents, seiner Menschen und Staaten zeichnet, rekurriert das Werk wesentlich auf Entwicklungen der gegenwärtigen Zeit. In dem Europa 7 , von dem die Kurze Geschichte vom Töten erzählt, sind die „meisten Allianzen und staatlichen Verbindungen“ zerbrochen; der Kontinent ist „zu einem Hagel aus Zwergstaaten, Kleinfürstentümern, Grafschaften“ zer‐ fallen. 8 Der Glaube an die Überlegenheit der jeweils eigenen Kultur, der aus der Geschichte hergeleitet und durch diese legitimiert wird, hat in ein „Zeitalter der Trennungen und Grenzen“ geführt: 9 „Kommissariate, Republiken, Grafschaften, Alpenbezirke, Matriarchate, Patriarchate, Herzogtümer und welche Namen sich die Zwerge auch immer gaben - jede Scherbe wollte ihre eigene Hymne, ihre eigene, grotesk kommentierte und bis zum Staatsbankrott hochgerüstete Armee, ihre eigene Heraldik und wollte vor allem: eine eigene triumphale Geschichte […].“ 10 Gegenwart und Zukunft Europas in Christoph Ransmayrs Roman Der Fallmeister 83 <?page no="84"?> 11 Ebd. 12 Ebd., S.-49. 13 Ebd. 14 Ebd., S.-42. Ransmayr nutzt das Potential der Fiktion, um jene nationalistischen, völki‐ schen, sich auf eine (vermeintlich) historisch gewachsene Identität berufenden Strömungen, welche die Debatten über die europäische Idee seit einigen Jahren mit wachsendem Einfluss unterlaufen, bis in die letzte, katastrophale Konse‐ quenz zu bedenken. Wenn die Werke des österreichischen Schriftstellers als „Spielformen des Erzählens“ den Versuch unternehmen, die Verwandlung zu beschreiben und zu verstehen, die sich vollzieht, wenn Wirklichkeiten zu Geschichten werden, so erweitert Der Fallmeister diese programmatischen, autopoetischen Betrachtungen um den Aspekt der Dystopie. So unterschiedlich alle diese Kleinstaaten, alle diese Stämme, Clans und bösartigen Zwergenreiche auch waren, die entlang von Abertausenden Uferkilometern ihre ver‐ meintliche Einzigartigkeit feierten - an einem Glauben hielt doch jede dieser Scherben einer nahezu vergessenen kontinentalen Größe mit fanatischer Beharrlichkeit fest: Der jeweils andere stand in der Ordnung der Welt unter dem eigenen Rang. Nur der eigene Rang glänzte, und seine Strahlkraft mußte mit allen Mitteln gegen den minderwertigen Rest der Welt verteidigt werden. 11 Der Roman erwägt jedoch nicht nur die Folgen dieser chauvinistischen Deutung von Herkunft, Kultur und Tradition; er beschreibt auch die Auswirkungen von Umweltverschmutzung und globaler Erwärmung. Durch „Schmelzung der Gletscher und des polaren Eises“ ist der Meeresspiegel gestiegen, so dass in dieser zukünftigen Welt „ganze Inselgruppen und Abertausende Kilometer Küstenlinien“ versunken sind. 12 In Verbindung mit einer „durch industrielle und zivilisatorische Sickergifte verursachte[n] Verseuchung“ ist es zu einer „dramatischen Verknappung“ des Trinkwassers gekommen, 13 weshalb einem Netzwerk von nicht näher beschriebenen, supranational organisierten Wasser‐ syndikaten eine ungeheure, geradezu unbegrenzte Macht erwachsen ist. „Denn in kontinentalen, ja globalen Dimensionen operierten längst nur noch Konzerne, die alle Wasser- und Energiegeschäfte unbeeindruckt von den Gesetzen und Verfassungen selbst einer Hundertschaft regionaler Parlamente im Interesse unsichtbarer Aktionärsversammlungen regelten und sich bei Bedarf über hin‐ derliche Vorschriften hinwegsetzten, ohne auch nur das Tempo ihrer profitablen Maßnahmen zu verringern.“ 14 Weil zwischenstaatliche Strukturen nicht mehr existieren, die sowohl die Zusammenarbeit von als auch den Interessenausgleich zwischen Nationen 84 Sikander Singh <?page no="85"?> ermöglichen, weil Länder und Kontinente in immer kleinere politische Ein‐ heiten zerfallen, die ihre Eigenständigkeit um jeden Preis behaupten, weil die solchermaßen machtlosen Partikularstaaten den ökonomischen Möglichkeiten international agierender Konzerne kein Regulativ entgegensetzen können, weil die globale Erwärmung zur Überflutung weiter Regionen geführt hat, weil Lebensräume durch die Folgen industrieller Produktion unbewohnbar geworden sind, wird das menschliche Leben von Limitierungen bestimmt, weshalb auch die Idee einer offenen Gesellschaft, die individuelle Freiheitsrechte nur im (begründeten) Ausnahmefall begrenzt, in der Welt des Romans nur noch als Erinnerung an jene ferne Vergangenheit aufscheint, die, eine dystopische Denkfigur beschreibend, unsere Gegenwart bezeichnet. III. Als Sinnbild dieser bedrohlichen Tendenzen und potentiell katastrophischen Entwicklungen unserer heutigen Epoche, die der Roman in dem Panorama einer kommenden Zeit problematisiert, wird in seinem Zentrum, im sechsten, dem mittleren seiner elf Kapitel, die Geschichte eines Inzests erzählt. Als Hydrotechniker arbeitet der Erzähler an wechselnden Orten in Südame‐ rika und Südostasien. Als die fünf Menschen in jenem Gebirgsfluss zu Tode kommen, für dessen Schleusen und Wasserwege sein Vater als Fallmeister die Verantwortung trägt, ist er nicht zuhause. Ebenso wenig ist er in der Heimat, als der Vater in den Fluten desselben Flusses den Freitod sucht. Seine Schwester Mira, die an der Glasknochenkrankheit leidet, hat in der Folge dieser Ereignisse die Heimat verlassen und geheiratet. Der Erzähler reist nun zu ihr (sie lebt an der Küste der Nordsee), um Aufklärung sowohl über die Umstände des väterlichen Suizids als auch über den fünffachen Mord zu erhalten. Aber auch die Gespräche der Geschwister können die quälende Ungewissheit über die Zusammenhänge der vergangenen Ereignisse nicht beenden. Indem er jedoch einige Tage mit seiner Schwester verbringt, erwacht in ihm erneut das inzestuöse Begehren, das die Beziehung der Geschwister bereits in Jugend bestimmt hat. Eben dieses Verlangen, sowie das Gefühl von Eifersucht und das Erleben von Zurückweisung, führen schließlich dazu, dass er Mira tötet. In der Welt des Romans ist der Inzest nicht mit gesellschaftlichen Verboten belegt; vielmehr erscheint er in der Deutung, die der Erzähler ihm beilegt, als ein Sinnbild für die Verfasstheit einer Welt, die Wert und Bedeutung der eigenen Kultur und ihrer Geschichte als wesentliches (wenn nicht als einziges) Gegenwart und Zukunft Europas in Christoph Ransmayrs Roman Der Fallmeister 85 <?page no="86"?> 15 Ebd., S.-102f. 16 Ebd., S.-107. 17 Ebd., S.-103. Distinktionsmerkmal gegenüber dem Anderen und Fremden herauszustellen sucht: Ich war schon mit den Vorbereitungen zum Studium der Hydrotechnik in Rotterdam beschäftigt, als ich begriff, daß die Zwergstaaten des europäischen Kontinents, die jeder für sich auf Einzigartigkeit und Überlegenheit beharrten und weder Fremde noch Zuwanderer, Flüchtlinge oder andere Bedrohungen der eigenen Unvergleich‐ lichkeit und Großartigkeit duldeten, sich folgerichtig aus dem eigenen Erbgut in die Zukunft verlängern mußten. Überkommene Inzestverbote waren dieser Form von Bevölkerungswachstum im Weg gewesen und deshalb in den meisten Zwergstaaten als den abendländischen Traditionen nicht mehr gemäß schon lange vor Miras und meiner Geburt abgeschafft worden. 15 Das Selbstreferentielle der Sexualität ist die Chiffre für eine Gesellschaft, die Kooperation und Austausch mit dem Fremden nicht als Voraussetzung von Entwicklung begreift, sondern jede Form von interkulturellem Transfer ablehnt. Der „Fortbestand, die Zukunft einer Gesellschaft, eines Stammes, allein aus sich selbst“ 16 führt zwar „mit von Generation zu Generation steigender Wahrschein‐ lichkeit zu Mißbildungen und den unterschiedlichsten Schönheitsfehlern“. 17 In der Welt des Romans wird Europa jedoch von dem wahnhaften Glauben an die Notwendigkeit bestimmt, das eigene Erbe von dem ‚zersetzenden‘ Einfluss des kulturell Fremden, das auf anderen historischen Bedingungen gründet, rein zu halten. Im Hinblick auf Entwicklungen der heutigen Zeit, die Ransmayrs Dystopie in der Brechung dieser dunklen Zukunft befragt, bedenkt der Roman die weltan‐ schaulich outrierte Idee kollektiver Identität, die sich in Sprache, Abstammung, Gleichheit des Charakters und Kultur als Nationalstaat manifestiert, bis zur äußersten Konsequenz. In diesem Sinne reklamiert der Erzähler: Die viertausend vom Mekong umrauschten Inseln erschienen so zugleich als Modell für die Zukunft des von Starkstromleitungen, Flüssen, Schienensträngen und Grenz‐ zäunen eingeschnürten europäischen Kontinents. Kleiner, immer kleiner wurden da wie dort die von Taubheit und Blindheit gegenüber allem Unbekannten, Fremden und der Flut umrauschten Inseln und Reservate, bis am Ende wohl nur noch Boots‐ leute ohne Landsteg, unnachgiebige Vaterlandsanbeter und Übriggebliebene allein in der Wildnis standen, Fischer, Schleusenwärter, Fahnenschwenker, die unter dem 86 Sikander Singh <?page no="87"?> 18 Ebd., S.-115. 19 Ebd., S.-12. 20 Ebd. 21 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Wien 1807-1808, Bd. II, Sp. 35. 22 Ransmayr: Der Fallmeister, S.-10. 23 Ebd., S.-13. Vorwand, die eigenen Landplätze und Fangplätze, Trachten, Bräuche und Sprachen zu verteidigen, übereinander herfielen und sich am Ende erschlugen. 18 Die Welt, die der Roman beschreibt, ist deshalb so erschreckend, weil ihre Vorstellungen und Paradigmen Möglichkeiten oder Varianten von Ideen und Werten sind, welche die gesellschaftlichen Debatten wie die politischen Dis‐ kurse der heutigen Zeit in den Ländern des europäischen Kontinents bestimmen. Gerade das Grausame und Verstörende der Bilder einer zukünftigen Welt akzentuiert die politische Relevanz des Romans für die Gegenwart. IV. Ein weiterer Aspekt der politischen Reflexion, die im Roman angelegt ist, scheint in der Bezeichnung Fallmeister auf, mit der die Tätigkeit des Vaters als „Schleu‐ senwärter“ am „Weißen Fluß im Bereich des Großen Falls“ beschrieben wird. 19 Der Begriff, den Ransmayr für denjenigen verwendet, der für die „Öffnung und Schließung von Schleusentoren“ verantwortlich ist, 20 ist - wie Johann Christoph Adelung belegt - ursprünglich „eine anständige Benennung des Abdeckers, weil er nur mit gefallenen Thieren umgehet“. 21 Diese erste Bedeutung des Wortes klingt, trotz der anders akzentuierenden Verwendung im Roman, noch an und korrespondiert mit dem Tod von fünf „Passagieren eines Langbootes“, für die der Vater verantwortlich gemacht wird. 22 Während seiner Suche nach den Gründen für die grausame Tat zeigt sich, dass der Ich-Erzähler sich getäuscht hat: Die Frau und Mutter seiner Kinder hat der Vater geliebt, hinter dem Abweisenden und Schroffen seines Auftretens scheint ein freundlicher und empfindsamer Charakter auf und sogar sein Selbstmord erweist sich als Täuschung. Denn nur weil das Wassersyndikat, in dessen Dienst er seine Aufgaben an den Schleusen des Gebirgsflusses ausübt, ihn tot wähnt, vermag er auf jene Insel im adriatischen Meer zu flüchten, von der seine Frau ursprünglich stammt und auf die sie, „unter dem Zwang neuester ethnischer Gesetze“ hatte zurückkehren müssen. 23 Gegenwart und Zukunft Europas in Christoph Ransmayrs Roman Der Fallmeister 87 <?page no="88"?> 24 Ebd., S.-217. 25 Ebd., S.-94. 26 Töten ist unser Leben. Ein Gespräch mit Christoph Ransmayr über seinen neuen Roman „Der Fallmeister“ und über den Trost des Todes. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. April 2021, S.-16. Indem der Sohn am Ende seiner Suche ebenfalls auf diese ferne Insel gelangt, indem er - wie zuvor sein Vater - sich der Kontrolle durch das Syndikat entzieht, gewinnt er die innere Freiheit und geistige Unabhängigkeit, welche die Ordnungsprinzipien, Normen und Ideologeme, die das Leben der Menschen in der Welt des Romans begrenzen, in Frage stellen, unterlaufen und schließlich hinter sich lassen. In diesem Sinne erzählt die Kurze Geschichte vom Töten von einer leisen, aber mit großer Konsequenz vollzogenen Revolte gegen eine Welt, die einerseits von der Logik ökonomischen Denkens bestimmt wird und andererseits von nationalistischen Engführungen. Hatte mein Vater seinen Wassertod vorgetäuscht, um seiner Frau in ihre Heimat zu folgen? Hatte er dabei der fernen Vergangenheit den Rücken gekehrt und sich nicht mehr nach dem verblaßten Glanz und der Macht der Fallmeister zurückgesehnt, sondern nur noch nach seinen Jahren mit Jana? 24 Dass dieser Schritt in die Freiheit den Tod von fünf Menschen sowie den eigenen (vorgetäuschten) Selbstmord zur Voraussetzung hat, ist die Ironie, mit welcher der Roman schließt. Weil Der Fallmeister solchermaßen vom Töten erzählt, verweist er auf die menschlichen Abgründe, über die Krzysztof Kieślowski in seinem Film nach‐ denkt. Zugleich aber macht er im Bild einer entgrenzten, „zerrissenen Welt“, in der niemand „je etwas gelassen oder getan“ hat, „ohne dafür einen Gegenwert zu erwarten“ 25 das Unabdingbare, die Bedeutung jener über die Immanenz hinausweisenden moralischen Normen sichtbar, wie sie in der abendländischen Tradition vom Dekalog überliefert worden sind. Auch in diesem Sinne enthält der „schmale Roman“, wie Christoph Ransmayr im Gespräch mit Andreas Platthaus konstatiert, „neben wenigen, eher unauffälligen Elementen einer Zukunftserzählung in Wahrheit ausschließlich Bilder der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit“. 26 88 Sikander Singh <?page no="89"?> 1 Stand 2022, vgl. URL: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 1723/ umfrage/ welt bevoelkerung-nach-kontinenten/ (zuletzt abgerufen am 27. März 2023). 2 Jacques Aldebert / Johan Bender / M. Jan Krzysztof Bielecki [u. a.]: Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Hrsg. Frédéric Delouche. Bonn 2014, S.-16. 3 Vgl. exemplarisch hierzu Götz Großklaus: Das Janusgesicht Europas. Zur Kritik des kolonialen Diskurses. Bielefeld 2017. ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas Anne-Rose Meyer, Wuppertal Europa ist ein Begriff, dessen Kategorisierung schwierig ist. Zu vieles ist damit verbunden: Geologie, Politik, Mythologie und nicht zuletzt die Kulturen von 742 Millionen Menschen, 1 die heutzutage auf dem europäischen Kontinent leben. Es ist ein geschichtsträchtiger Raum: Zwischen Atlantik und Ural, zwischen dem Nordkap und Kreta wird seit Jahrtausenden gesiedelt und gestritten, gehandelt und geforscht. Während der Kontinent im Westen, Süden und Norden verhältnismäßig klar definiert ist, verläuft die östliche Grenze fließend, „denn jenseits des Urals verliert sich Europa in den unendlichen Weiten der sibirischen Steppen und Wälder, die sich über viele tausend Kilometer bis zur Mongolei, nach China und zum Pazifik erstrecken.“ 2 Zudem trug ein ausbeuterisch-aggressiver Kolonialismus vom 15. Jahrhun‐ dert an dazu bei, dass ‚Europa‘ seine skizzierten geographischen und politischen Grenzen immer wieder überschritt und über einige Jahrhunderte nahezu den ganzen Erdball einnahm. Monarchien wie Portugal, die Niederlande, Frankreich, Spanien und England betrieben einen reichen und in den Zielregionen keines‐ wegs immer willkommenen Export ihrer Verwaltungsstrukturen, ihres Rechts‐ systems, ihrer Bildungsinstitutionen, Religion und Sprache. Im 19. Jahrhundert nahmen auch Italien, das Deutsche Reich und Belgien auswärtige Territorien gewaltsam in Besitz. Die Folgen sind bis heute spürbar. 3 Bleiben wir allein auf den Kontinent Europa konzentriert, so sorgen dort drei Schriftsysteme und 43 Sprachen einerseits seit Jahrtausenden für Vielfalt <?page no="90"?> 4 Aldebert / Bender / Bielecki [u. a.]: Das europäische Geschichtsbuch, S. 24: „Diese Vielfalt besteht in Europa spätestens seit der Bronzezeit, wenn nicht schon früher.“ 5 Vgl. Felix Tacke: Sprache und Raum in der Romania: Fallstudien zu Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien. Berlin 2015, S.-257-284. 6 Vgl. Philipp Krämer: Der innere Konflikt in Belgien: Sprache und Politik. Geschichte und Gegenwart der mehrsprachigen Gesellschaft. Saarbrücken 2010. 7 Jürgen Trabant: Frankreich ist eine Sprache. In: Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https: / / www.bpb.de/ themen/ europa/ frankreich/ 153272/ frankreich-ist-eine-sprac he/ (zuletzt abgerufen am 27. März 2023). 8 Colin H. Williams: The Lightening Veil: Language Revitalization in Wales. In: Review of Research in Education 38 (2014), S.-242-272. 9 Die Vorstellung eines vereinten Europas ist bereits Jahrhunderte alt, was Paul Michael Lützeler in mehreren grundlegenden Veröffentlichtungen zeigen konnte. Vgl. hierzu bereits Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Hrsg. u. eingel. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1982, Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt am Main 1994 sowie beispiels‐ weise ders.: Europäische Identität und Multikultur. Fallstudien zur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik. Tübingen 1997. 10 Als politische Größe existiert Europa seit mehr als tausend Jahren. Vgl. hierzu Ferdinand Seibt: Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre. Bonn 2002, S.-17-49. 11 Vgl. Christine Ivanovic: Europa als literaturwissenschaftliche Kategorie. In: Peter Hanenberg / Isabel Capeloa Gil (Hrsg.): Der literarische Europa-Diskurs. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 70. Geburtstag. Würzburg 2013, S.-22-49. und literarisch-kulturellen Reichtum, 4 andererseits auch für babylonisch anmu‐ tende Verwirrung, Missverständnisse und Umständlichkeiten im alltäglichen Miteinander. Während in der Schweiz unterschiedliche Sprachgruppen zumeist friedlich zusammenleben, 5 unterscheiden beispielsweise Flamen und Wallonen, 6 Franzosen 7 , Engländer und Waliser 8 ihre sprachlichen und nationalen Eigen‐ arten, kulturellen Identitäten und Interessen und verteidigen diese bisweilen mit einiger Schärfe. Die Liste konfliktträchtiger Konstellationen ließe sich verlängern. Die Auseinandersetzung um die vereinigten Staaten von Europa, 9 um die Erweiterung der Europäischen Union, um Grenzziehungen nach außen hin 10 und Freizügigkeiten im Schengen-Raum sorgen für anhaltende Geschäftigkeit im Europäischen Parlament, im Europarat und last, but not least, in den nationalen Regierungen. Diese erweisen sich - was die Abtretung nationaler Rechte an die europäische Gemeinschaft und die Übernahme von Pflichten dieser gegenüber betrifft - bisweilen als wenig kompromissbereit, wie es der Brexit unmissverständlich zeigte. Die Frage danach, was der politisch und geographisch umstrittene Begriff Europa heuristisch im Rahmen der Literaturwissenschaften erbringen kann, ist häufig diskutiert worden, zuletzt umfassend von Christine Ivanovic, 11 aber 90 Anne-Rose Meyer <?page no="91"?> 12 Vgl. an weiteren neueren Veröffentlichungen zum Thema Maria Lütkemeier: Europa erfahren: Bewegte Räume in Literatur und Kultur der Gegenwart. Würzburg 2022; Monica Biasiolo / Chloé Lamaire (Hrsg.): Utopie Europa: Studien zu literarischen Kon‐ struktionen, Perspektiven und Herausforderungen. Berlin / Bern / Wien 2022; Ulrich Merkel: Das europäische Ich: Von der Illusion einer Identität und den multiplen Ichs der Literatur. Geschichte und Geschichten. Darmstadt 2020. 13 So etwa in dem Gedichte und kurze Prosatexte umfassenden Band Wo Europa anfängt (1991). 14 Vgl. zum Mythos und dessen produktiver Verbreitung in Kunst und Literatur Günter Dietz: Europa und der Stier. Ein antiker Mythos für Europa? Annweiler am Trifels 2003 [Kulturgeschichtliche Reihe Sonnenberg 4] sowie Almut-Barbara Renger (Hrsg.): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Stuttgart 2003. immer noch nicht endgültig geklärt. Vielfältig ist Europa, Heterogenität in jeder Hinsicht bietet es auf verhältnismäßig kleinem Raum. 12 Wie lässt sich davon erzählen? Ist Europa überhaupt ein Thema, das sich als Entität erfassen lässt? Und wenn ja, in welcher Hinsicht? An Yoko Tawadas drei jüngsten Romanen lässt sich zeigen, dass und wie sowohl Einheit als auch Vielfalt Europas dargestellt werden können und welche Akzente die deutsch-japanische Schriftstellerin (*1960) dabei setzt. Sie ist in Zusammenhang mit literarischen Europa-Diskursen deswegen eine wichtige Größe, da sie sich schon früh in ihrem deutschsprachigen Werk damit beschäftigt und Europa immer wieder durch die Perspektive aus Asien kommender Erzählinstanzen gestaltet hat. 13 I. Europa - literarische Konturen Die bekannteste Verkörperung Europas ist die namenspendende, phönizische Königstochter. Von Zeus, der sich in einen Stier verwandelt hatte, nach Kreta entführt, gebar sie Minos, den späteren König der Insel. Zum erstenmal wird Europa von Hesiod im 8. Jahrhundert v. Chr. erwähnt. Unzählige literarische und künstlerische Verarbeitungen des Mythos folgten, 14 obwohl er weder dazu beitrug bzw. beiträgt, die immer noch ungeklärte Herkunft des Wortes „Europa“ zu klären, noch Europa als kulturellen Raum fassbarer zu machen. Dort, wo dies versucht wurde, etwa besonders wirkungsvoll nach dem Zweiten Weltkrieg, sind die Ergebnisse im Licht einer kritischen, interkulturell orien‐ tierten Forschung ideologisch zweifelhaft. Schließlich handelt es sich um höchst einflussreiche Schriften, in denen die christlich-abendländische Tradition lite‐ rarischen Schreibens und philosophisch-historischen Denkens gepriesen, aber von griechischen und vor allem von slawischen Kulturen in Europa weitgehend ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 91 <?page no="92"?> 15 Vgl. z. B. Ernst Robert Curtius‘ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von 1948, Herbert Alexander Stützers Nation - Abendland - Welt von 1946 und Erich Auerbachs Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur aus demselben Jahr. In allen drei Werken bilden die angenommenen gemeinsamen und als verhältnismäßig homogen gedachten Wurzeln die Grundlage für eine relativ problemlose Auseinandersetzung mit ‚dem‘ Europäischen in Literaturen und Kulturen. 16 Vgl. Peter Hanenberg: Herkunft Europa. Die Erfahrung Europas in der Gegenwartsli‐ teratur. In: Michael Braun (Hrsg.): Deutsche Literatur und europäische Zeitgeschichte: Paul Michael Lützeler zum 75. Geburtstag. Tübingen 2018, S. 257-264; Paul Michael Lützeler: Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld 2007; ders.: Schriftsteller und die Europäische Union : Reinhold Schneider, Hans Magnus Enzens‐ berger, Adolf Muschg. Stuttgart 2007; ders.: Die Schriftsteller und Europa: Von der Romantik bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Baden-Baden 1998. 17 Helena Gonçalves da Silva: Europäische Literatur: gemeinsame Bezugspunkte, Inter- und Transkulturalität. Das Zentrum als Abweichung. In: Hanenberg / Capeoa Gil (Hrsg.): Der literarische Europa-Diskurs, S.-63-74, hier S.-73. abgesehen wird. 15 Deren Publikation nach 1945 ist allerdings gut begründet, galt es doch damals, dem aggressiven Nationalismus abzuschwören und Europa als Raum zu evozieren, der mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes aufweist und für rund eintausend Jahre, von 500 bis ca. 1500, als politisch und kulturell einheitlich gedacht wurde. Die Sehnsucht nach Frieden ist auch für spätere Europadiskurse kennzeichnend. 16 Über diese inhaltliche Konstante hinaus sind ‚Europa‘ bzw. ‚das‘ ‚Europäische‘ schwer zu bestimmen, wie Helena Gonçalves da Silva zutreffend resümiert: Aus einem ständigen Hinterfragen und In-Frage-Stellen der Identität entsteht im europäischen, literarischen Diskurs eine fortwährende Sinnsuche aus verschiedenen Perspektiven und Erwartungshorizonten. Hinzu kommen neue Formen von Misch‐ kulturen sowie neue Zusammenhänge und Kombination dieser Mischformen. Dies alles bedeutet, dass die europäische Literatur weiterhin auf die Herausforderungen der unterschiedlichen europäischen Kulturen sowie die kulturellen Einflüsse der gesamten Welt angewiesen ist, die wiederum durch die Koexistenz vieler Sprachen, durch Hybridität und Dialogizität charakterisiert ist. In dieser inter- und transkul‐ turellen Perspektive verbirgt sich die Kraft und Kreativität und somit das größte emanzipatorische Potential der europäischen Literatur. 17 Werke Tawadas sind folglich innerhalb einer langen und reichen Tradition zu verorten, die gebildet wird von allegorischen Europa-Darstellungen, von Lite‐ ratur aus Europa und von Literatur, die Aspekte ‚des‘ Europäischen thematisiert und problematisiert. Das, was ‚Europa‘ in der Literatur ist, kann nicht deduktiv aus bestimmten geographischen, politischen oder kulturellen Gegebenheiten 92 Anne-Rose Meyer <?page no="93"?> 18 Christine Ivanovic: Europa als literaturwissenschaftliche Kategorie. In: ebd., S. 22-49, hier S.-24. 19 Erschienen in: REISEN. Konkursbuch 21. Tübingen 1989, S.-9-23. 20 Vgl. Christine Ivanovic / Albrecht Kloepfer / Miho Matsunaga / Yumiko Saito: Yoko Tawada. In: Munzinger Online/ KLG - Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. http: / / www.munzinger.de/ document/ 16000000559 (zuletzt abge‐ rufen am 27. März 2023). 21 Vgl. Anne-Rose Meyer: Buchstäblich fremd. Historische, politische und ästhetische Dimensionen arabischer, japanischer und lateinischer Schrift in interkultureller Lite‐ ratur. Frischmuth - Şenocak - Özdamar - Schami. In: Eva Wiegmann (Hrsg.): ZiG- Themenheft Zeiten des Anderen. Bielefeld 2022, S.-131-143, bes. S.-142-145. hergeleitet, sondern nur sinnvoll induktiv bestimmt werden, nämlich im Sinne Christine Ivanovics: Der Begriff ‚Europa‘ bezeichnet […] einen vom Kontinent ausgehenden und darauf bezogenen, gleichwohl weit darüber hinaus reichenden, staats- und völkerrechtlich relevanten Wirkungszusammenhang: eine transkontinental wirksame politische Idee und eine kulturelle Praxis von nachhaltiger Bedeutung. 18 Nachteilig ist die Vagheit dieser Bestimmung, die zu weiteren Überlegungen herausfordert. II. Ja, wo fängt Europa denn nun an? Europadiskurse im Werk Yoko Tawadas Wo Europa anfängt lautet der Titel eines ihrer am häufigsten kommentierten, analysierten und interpretierten Texte aus dem Jahr 1989. 19 In einer Nachbemer‐ kung konstatiert Tawada: „Obwohl ich, indem ich sie schrieb, die ganze Zeit auf der Suche nach Europa war, ist es mir bis heute noch nicht gelungen, Europa zu ‚entdecken‘.“ 20 Diese Selbsteinschätzung der Autorin ist nicht zutreffend, hat sie doch in Wo Europa anfängt gezeigt, dass unsere Gemeinsamkeiten 21 größer sind, als wir Europäerinnen und Europäer im Alltag zu sehen gewohnt sind. Für die Autorin werden unterschiedliche kulturelle Räume nämlich durch einen Wechsel des Schriftsystems markiert. So heißt es in Wo Europa anfängt aus der Sicht der aus Japan nach Russland reisenden Erzählinstanz: Der Zug kam in Moskau an […]. Dort stand ein hoher Turm […]. Auf der Spitze des Turms saß der Feuervogel und spie flammende Buchstaben, M, O, S, K, A, U, und diese Buchstaben verwandelten sich: M wurde zu Mutter […]. O wurde zu Omul und schwamm mit S-Seepferdchen. K wurde zu einer Kugel, einer Wasserkugel. U hatte sich schon längst in ein Ungeheuer verwandelt, das mir vertraut vorkam. ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 93 <?page no="94"?> 22 Yoko Tawada: Wo Europa anfängt. Erzählung. In: dies.: Wo Europa anfängt. Tübingen 1991, S.-65-87, S.-86f. 23 Heinrich Hussmann: Über die Schrift. Aufzeichnungen aus meinen Vorlesungen. Wiesbaden 1977, S.-11, 28. 24 Vgl. ebd., S.-27. 25 Vgl. Ivanovic / Kloepfer / Matsunaga / Saito: Yoko Tawada. Aber was war mit A? A wurde zu einer fremden Frucht, die ich noch nie gegessen hatte - einem Apfel. […] Warum darf ich nicht die fremde Frucht essen? Also biß ich in den Apfel hinein und schluckte sein saftiges Fleisch hinunter. In diesem Moment verschwanden die Mutter, der Omul, das Seepferdchen, die Kugel und das Ungeheuer vor meinen Augen. Es wurde still und kalt. […] Ich bemerkte, daß ich mitten in Europa stand. 22 Mit der Feststellung, „mitten in Europa“ zu stehen, hat Tawada eine für die deutschsprachige Literatur und Kulturtheorie wichtige Blickumkehr vorge‐ nommen: Europa, um dessen Grenzen - geographische, politische - gerade heutzutage wieder vermehrt und erbittert gestritten wird, und als dessen Außenposten nicht jeder Politiker die russische Hauptstadt Moskau akzeptieren würde, erweist sich aus außereuropäischer Perspektive als Gebilde mit anderen Konturen als aus innereuropäischer. Indirekt erinnert Tawada an gemeinsame Wurzeln, nämlich an die Entstehung der kyrillischen Schrift aus dem griechi‐ schen Alphabet, aus dessen westlicher Variante sich dann bekanntlich das altitalische und später das lateinische Alphabet bildeten. 23 Davon unterscheiden sich Entstehung und Geschichte anderer Systeme - das der japanischen Schrift als Ausdrucksmedium einer nicht-indoeuropäischen Sprache etwa - funda‐ mental. 24 Aus der Perspektive der Erzählinstanz beginnt Europa nicht nur in Moskau, sondern hat geschichtliche (Sprach-)Wurzeln, die tiefer reichen, als wir gemeinhin vielleicht glauben wollen. In derlei höchst kulturreflexiven Texten, zu denen auch der Essayband Talisman (1996) zählt, werden Fragen die eigene Identität(sfindung) betreffend „mit der überlieferten Konzeptualisierung von Europa verschränkt, so in dem Essay Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“. 25 „Europa“ erscheint darin als umfassendes Konzept, das sprachlich und geogra‐ phisch verstanden wird und auch hinsichtlich seines Einflusses auf der Ebene individuellen Ausdrucks und Denkens Thema ist: Als ich nach Europa kam, hatte ich nichts über Europa zu erzählen, weil ich keine Sprache kannte, die von meinen neuen Mitmenschen verstanden werden konnte. Ich habe nach und nach Xanders Sprache gelernt, indem ich alles, was er sagte, wieder‐ holte. Diese Sprache, mit der ich jetzt über Europa rede, ist auch eine europäische 94 Anne-Rose Meyer <?page no="95"?> 26 Yoko Tawada: Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht. In: dies.: Talisman. Tübingen 1996, S.-51. 27 Yoko Tawada: Pulverschrift Berlin. In: dies.: Mein kleiner Zeh war ein Wort. Theater‐ stücke. Tübingen 2013, S.-171-185. 28 Ebd., S.-171. 29 Neben Kleist sind dies Homer, Dante, Shakespeare, Corneille, Racine, Goethe, Schiller, Ibsen, Maeterlinck, vgl. Tawada: Pulverschrift Berlin, S.-184. 30 Vgl. Anne-Rose Meyer: ‚Europa‘ und ‚Asien‘ in Theaterstücken E. S. Özdamars und Y. Tawadas. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch / A German Studies Yearbook 17 (2018), S.-235-259, bes. S.-247-252. Sprache. Nicht nur die Sprache, sondern vielleicht auch die Argumentationsfiguren und der Tonfall gehören zu Europa und nicht zu mir. Ich wiederhole Europa in Europa. Kaum fange ich an, über Europa zu sprechen, wiederhole ich sie. Deshalb höre ich auf zu sprechen. Ich muss mir eine andere Methode überlegen, um mit ihr umgehen zu können. 26 Bereits in Opium für Ovid (2000) hat Tawada „eine andere Methode“ des Um‐ gangs mit Europa erprobt, wenn sie systematisch die Namen vieler weiblicher Gründungsgestalten aus der antiken mythologischen Überlieferung von Ariane bis Thisbe anführt, nicht aber Europa. Es ist buchstäblich ein Schreiben um Europa herum, das dadurch gleichsam ex negativo Konturen gewinnt. Europa als heterogener, aber eng verbundener Kulturraum ist gleichfalls in Tawadas Theaterstück Pulverschrift Berlin (2004) präsent. 27 Das Stück spielt in der Jetztzeit vor dem Königin-Luise-Denkmal im Berliner Tiergarten, und es treten sowohl historische Gestalten wie Napoleon, Heinrich von Kleist und der japanische Autor Mori Ogai (1862 bis 1922) auf als auch namenlos bleibende Großstadtbewohnerinnen wie eine „Ex-Arbeiterin aus einer Waschpulverfabrik in Berlin“, eine „Journalistin des ‚Berliner Blablatt‘“, eine „Punk-Frau aus Kreuz‐ berg“ 28 , Germanistikstudentinnen aus Südkorea und Japan, ein japanischer Diplomat und einer seiner deutschen Kommilitonen. Tawada amalgamiert Stimmen aus Gegenwart und Vergangenheit, die unter‐ schiedlichen geographischen Räumen angehören. Dadurch entfaltet sie einen Polyperspektivismus, mittels dessen sie auf sehr verkürzte, aber komplexe Weise europäische und japanische Geschichte in den Blick nimmt. Dieser Effekt wird gleichfalls durch die Hereinnahme literarischer Texte anderer kanonisierter Schriftsteller, die das kulturelle Selbstverständnis Europas prägen, 29 verstärkt. Der Einsatz von Literaturzitaten in Verbindung mit Umgangssprache in der Figurenrede führt zu einer Heterogenität des Stils und der Ausdrucksniveaus, verdeutlicht unterschiedliche historische Ebenen, Sprachräume, kulturelle und soziale Kontexte. 30 Zwar bleibt Europa als Herkunftsland, Zielland von Migration, ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 95 <?page no="96"?> 31 Etüden im Schnee. Roman. 2. Aufl. Tübingen 2014, S.-92. Schauplatz von Kriegen und Sphäre kulturellen Transfers unterbestimmt, doch ist dies intendiert: Tawada entwickelt eingeschränkte Perspektiven auf Europa, indem sie durch beispielgebendes Zeigen, Argumentieren und Fragen in der Figurenrede, aber auch durch fantastisch anmutende, provokativ-anregende Figurenkonstellationen kulturelle Horizonte partiell auffächert und in einigen Teilen miteinander verschmilzt. Sie macht zudem auf Brüche, Verwerfungen und Neuordnungen des europäischen Raumes aufmerksam, etwa in der Gestalt Napo‐ leons, und wirft die Frage danach auf, inwiefern eine Identifikation mit diesem Kontinent überhaupt möglich ist. Ihre stark intertextuell geprägte Schreibweise legt nahe, dass Vorstellungen von ‚Europa‘ nicht ohne literarische Modelle, nicht ohne Rückgriff auf dessen vielfältiges kulturelles Erbe zu denken sind und zum Ausdruck gebracht werden können. Wie sieht es nun in Tawadas neueren Texten aus? Lässt sich über Europa in Romanform erzählen? Und wenn ja, wie? III. Darstellungen Europas in Etüden im Schnee, Ein Balkonplatz für flüchtige Abende und Celan und der chinesische Engel von Yoko Tawada Tawadas bislang auflagenstärkster Roman heißt Etüden im Schnee, erschien 2014 und erzählt aus der Perspektive dreier Eisbären - Großmutter, Mutter und Sohn Knut, ja, dem Berliner Knut - Geschichten und europäische Geschichte. Durch die fantastisch anmutende Figurenkonstellation macht die Autorin auf Brüche, Verwerfungen und Neuordnungen des europäischen Raumes aufmerksam und wirft die Frage danach auf, inwiefern eine Identifikation damit überhaupt möglich ist. Kennzeichnend hierfür ist die heute wieder sehr aktuelle Gegen‐ überstellung von Ost und West: Im ersten Teil erzählt Großmutter Bär vom Prager Frühling, reist in verschiedene Teile der Sowjetunion, etwa nach Kiew, lebt zeitweise in Moskau und wandert mit ihrem Mann nach Kanada aus. Von dort geht es nach der Geburt einer Tochter vor der Wende nach Ostdeutschland, da hier das Kind eine gute, kostenlose Ausbildung erhalten könnte, etwa als „Eiskunstläuferin oder Balletttänzerin“. 31 Im zweiten Teil erzählt die Bärin Toska, die im DDR-Staatszirkus auftritt und nicht zufällig den Namen einer der bekanntesten Operngestalten des 19. Jahrhunderts trägt. Durch Tawadas Toska erscheint der Eisbär als Allegorie des Einwanderers, des Fremden. So heißt es im Roman: Die nationale Identität ist den Eisbären schon immer fremd gewesen. Es war bei ihnen üblich, in Grönland schwanger zu werden, die Kinder in Kanada zu gebären und 96 Anne-Rose Meyer <?page no="97"?> 32 Ebd., S.-109. 33 Ebd., S.-21. 34 Ebd., S.-42. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd., S.-37. 37 Ebd., S.-9. sie in der Sowjetunion großzuziehen. Sie besaßen keine Staatsangehörigkeit, keinen Reisepass. Sie gingen nie ins Exil, überquerten die Grenzen, ohne sich irgendeine Genehmigung zu holen. 32 Diese Idee wird im dritten Romanteil fortgesetzt, der aus der Perspektive des Eisbärenjungen Knut, also gleichsam einer historischen Gestalt, erzählt wird. Alle drei Erzählbären laden als fantastische Figuren nicht zur Identifikation ein. Vielmehr erscheinen bedeutende Ereignisse der Weltgeschichte - v. a. Kalter Krieg und Wiedervereinigung - satirisch-fabelhaft verfremdet, wenn etwa im ersten Teil Konferenzen über „Arbeitsbedingungen der Künstler“ 33 und das Thema „Der Stolz der Arbeiterklasse“ 34 stattfinden, Großmutter Eisbär als Autorin einer international erfolgreichen, auch ins Deutsche übersetzten Autobiographie offensichtlich durch Parteigenossen zwecks Devisenbeschaf‐ fung ausgenutzt wird und sich politischer Äußerungen enthalten soll. 35 Die Eisbärin wird nur mit einigen Tafeln West-Schokolade „entlohnt“. 36 So weit, so lustig. Gleichzeitig entstehen aus den Perspektiven der drei erzählenden Eisbären, Großmutter, Mutter und Sohn, und aus den Perspektiven von deren menschlichen Freunden und Helfern Zeitporträts, eine Migrantengeschichte über drei Generationen hinweg und damit die Vision einer transspeziestischen, weltumspannenden Familie. Der kulturelle Reichtum Europas prägt den Roman nicht nur durch die lange Tradition erzählender Tiere in der Literatur, deren Spektrum mit Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr (1819), Heines Atta Troll (1843), Grimms Märchen und Kafkas Bericht für eine Akademie (1917) nur unvollkommen angedeutet ist, sondern auch in Form intertextueller Anspielungen, etwa wenn ein Bärenmann mit Namen „Christian“ auftritt und der Bärin das Märchen vom hässlichen Entlein Hans Christian Andersens erzählt: „Christian war stolz auf seine Geburtsstadt Odense, aus der auch der Autor dieses Märchens stammte“, 37 heißt es gleich zu Anfang des Romans. Wir können als vorläufiges Lektürefazit festhalten, dass Tawada in Etüden im Schnee mit unterschiedlichen, stark eingeschränkten Perspektiven auf ‚Europa‘ und Teile ‚Asiens‘ arbeitet, indem sie - ihrem Theaterstück Pulverschrift Berlin vergleichbar - durch intertextuelle Verweise wie durch fantastische, anregende ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 97 <?page no="98"?> 38 Yoko Tawada: Ein Balkonplatz für flüchtige Abende. Tübingen 2016, S.-5. Figurenkonstellationen kulturelle Horizonte skizziert und stellenweise durch Handlung und Figurengestaltung eng miteinander verbindet. Einer anderen Erzähltechnik bedient sie sich in ihrem Roman Ein Balkonplatz für flüchtige Abende von 2016. Darin evoziert sie Europa durch eine lyrischassoziative Schreibweise, mittels derer sie geographische Begriffe kontrastiv zueinander in Verbindung setzt. So heißt es eingangs unter „1 Vorspiel“: Die Nordsee hat Sehnsucht nach Tschechien, streckt ihren blauen Arm ins Innere Europas. Die Werft hämmert Null-Komma-drei Sekunden hinter meinem Herzschlag. Der nächste Krieg wird ständig repariert, aber nicht vermieden. Wir befinden uns laut Erzähler „zwischen Altona und Blankenese“. 38 Das sprechende Ich bewegt sich gedanklich nach Planten un Blomen und angeregt durch Wortklänge von dort auch gleich wieder weg. Dieses komplexe Darstel‐ lungsverfahren verdeutlicht eine etwas längere Textstelle: Ich bin gern hier. Die Blumen spucken keine Ratschläge. Zu Hause will jeder jeden umerziehen. Auch meine Tochter korrigiert alles an mir, zum Beispiel mein Butterbrot: Zu weiß das Brot, zu dick die Butter, zu trivial belegt. Trivial ist ein schönes Wort. Ja, ziemlich musikalisch: Traviata, Tristan, Triste, Trieste, nichts ist trivial, auch nicht mein Gouda. Ein Wind betritt unangekündigt den Garten kämmt durch den Dialog der zwei Männer. Jupiters Haare sind zerstreut, der Wind ist seine beste Friseurin, Wermut kämmt die Strähne 98 Anne-Rose Meyer <?page no="99"?> 39 Ebd., S.-17-19. hoch von der Stirn und fragt: Wie läuft es mit ihr? Mit wem? Mit deiner jetzigen. Sie ist eine Pantoffelblume: reizend in der Stube, geht aber nie aus mit mir. Auch ein Gastspiel lässt sie kalt, sei es in Paris oder in Paderborn. […] Wie geht es deinem Sohn? […] Er studiert Linguistik in Helsinki. […] Spielt er Finnougrisch? Er forscht über Plattdeutsch, warum auch immer. Und ich habe auch schon viel von ihm gelernt. Fenchel heißt Finnkohl auf Platt. Wusstest du das? […] Meine Worte sind kantig und klassisch. Ich sage Montaigne und schon prügeln sie mich. […] Nichts anderes als Möchte-gern-Künstler, diese Unwissenschaftler! Und welche, die als Künstler auftreten, glauben, den gleichen Beruf zu haben wie Rembrandt. […] Jupiter bastelt gelassen an seinem Gegengesang: Vergiss nicht, wo du herkommst! Nicht nur wie Montaigne, sondern wie Roland Barthes hast du geschrieben, als deine Feinde noch mit linker Hand steife Sätze gekritzelt haben. 39 Tawada macht punktuell auf die komplexen wechselseitigen kulturellen und historischen Bezüge innerhalb europäischer Länder aufmerksam. Die Auswahl der aufgerufenen Phänomene, Namen, Sprachen und Orte mutet zufällig an und ist doch nicht nur geographisch, politisch und historisch, sondern auch klanglich ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 99 <?page no="100"?> 40 Ebd., S.-125. 41 Vgl. Hans Joachim Störig: Abenteuer Sprache. Ein Streifzug durch die Sprachen der Erde. 5. Aufl. Berlin / München 1991, S.-261-268. 42 Vgl. Martin Haase: Baskisch - eine ‚exotische‘ Sprache in romanischer Umgebung. In: Eva Gugenberger / Mechthild Blumberg (Hrsg.): Vielsprachiges Europa: Zur Situation der regionalen Sprachen von der Iberischen Halbinsel bis zum Kaukasus. Frankfurt am Main / Berlin / Bern [u.-a.] 2003, S.-71-81. begründet: auf „Paderborn“ folgt „Paris“, es alliterieren „Traviata, Tristan, Triste, Trieste“ und ganz am Schluss des Romans, auf der allerletzten Seite „tanzt“ eine gewisse Johanna „Salsa auf saarländisch! “ 40 Sprache ist auch begrifflich präsent, so etwa wenn Finnougrisch 41 erwähnt wird, dem - ähnlich wie dem Baskischen 42 - eine Sonderstellung in Europa zukommt. Tawada thematisiert so beiläufig und exemplarisch interkulturelle Verstehensvoraussetzungen und hält die Vielgestaltigkeit Europas spielerisch präsent, was von heute aus betrachtet diesen Roman wie auch Etüden im Schnee politisch bedeutsam erscheinen lässt. Eine weitere Erzähltechnik, der sich Tawada bedient, um Europa zu thema‐ tisieren, ist die der humoristischen Allegorisierung, eine Verfremdungstechnik. Über die Passagiere einer liegengebliebenen Straßenbahn, zu denen auch die Ich-Erzählerin zählt, heißt es: Als es zu gießen beginnt, rennen wir unter ein griechisches Dach. Willkommen in Europa! , ruft der Wirt. Wir haben den Namen geändert, unsere Taverne heißt nicht mehr Akropolis, sondern Europa. Es gab einen Eisenbahnunfall, erklärt eine von uns. Kein Problem, wir nehmen Sie alle auf, antwortet der Wirt. Ich habe nicht einmal genug Geld für Tzatziki dabei, sagt ein T-Shirt. Geld ist kein Problem, sagt der Wirt und stellt eine Flasche Ouzo auf den Tisch. Das ist vom Haus. […] Willkommen 100 Anne-Rose Meyer <?page no="101"?> 43 Tawada: Ein Balkonplatz für flüchtige Abende, S.-22f. 44 Ebd., S.-24. 45 Vgl. Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006, S.-693-709. 46 Tawada: Ein Balkonplatz für flüchtige Abende, S.-58f. 47 Vgl. ebd. S.-62. 48 Vgl. ebd., S.-72 u. 90. 49 Vgl. ebd., S.-77. 50 S. ebd., S.-97. im Herzen Europas! 43 Das antike Griechenland als Wiege Europas und der Demokratie wird in einer Alltagsszene „beim Griechen“ aufgerufen und von einem großzügigen Wirt verkörpert. Zugleich scheint die Utopie von Europa als Schutzraum auf, in dem spontan und selbstverständlich denen geholfen wird, die in Not sind. Der titelspendende Balkon wird zum Ausgangspunkt für ein Erzählen aus der räumlichen Distanz, das keine Details ausmacht, sich nicht im kulturellen Kleinklein verheddert, sondern große geographische Linien verdeutlicht: Wir malen die Wörter in die Luft […]. Der Balkon ist der Balkon der Welt, Sofia, Istanbul, Athen: Sie blicken auf die Elbe hinunter. 44 Und auch dieser Erzählperspektive ‚von oben‘ liegt eine jahrhundertelange europäische Tradition zugrunde, ausgehend von Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux 1336. 45 Im Verlauf des Romans verdichten sich die intertexuellen und intermedialen Anspielungen, häufig inspiriert durch Etymologie. So kommt die Erzählerin von dem Wort „Familie“ auf dessen Ursprung „vermehren“ und von dort auf den niederländischen Maler „Vermeer“, Vater von 15 Kindern. 46 Genannt werden auch die im Vergleich mit Vermeer in der öffentlichen Wahrnehmung unbekanntere französische Malerin Suzanne Valadon (1865 bis 1938), 47 Mutter des Malers Maurice Utrillo, die deutsche Malerin Jeanne Mammen, 48 sie lebte von 1890 bis 1976, und der niederländische Maler Godefriedus Schalcken (1643 bis 1706). 49 Dazu Claude Monet, Paul Cézanne, Franz Marc, Hieronymus Bosch. 50 Die Heterogenität ist Programm. Erinnert wird der Jahrhunderte alte Reichtum europäischer Kunst und Literatur, wozu auch das Rijksmuseum, ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 101 <?page no="102"?> 51 Vgl. ebd., S.-90 u. 97. 52 Ebd., S.-77. 53 Ebd., S.-78. 54 Ebd., S.-97. 55 Ebd., S.-97. 56 Ebd., S.-99. 57 Vgl. Meyer: ‚Europa‘ und ‚Asien‘ in Theaterstücken E. S. Özdamars und Y. Tawadas, v.-a. S.-247f. Thomas Manns Buddenbrooks und „Pippi Langstrumpf “ zählen, 51 Volks- und Alltagskultur, repräsentiert etwa durch die Erwähnung von „Dirndl“ und „Nu‐ tella“, 52 „Lufthansa“ und „Alitalia“, 53 „Siemens“ und „Miele“. 54 Mit Europa kontrastiert wird im elften, „Hinter-Europa“ genannten Abschnitt ein „Niemandsland“ „[z]wischen den verrosteten Schienen“. 55 Doch kann die Erzählinstanz Europa nicht entgehen, das sich in verschiedenen Artefakten als allgegenwärtig im Bewusstsein verankert zeigt: Der Eisenbahnwaggon steht vor mir, verlassen, vergessen, nicht abgeschlossen. Das ist meine Unterkunft […]. Doch das Haus hat schon einen Mieter: Einen Schläfer. Rhinoceros, aufgewacht aus dem Jahr 1515. 56 Ähnlich wie in ihrem Theaterstück Pulverschrift Berlin amalgamiert Tawada Gestalten und Kunstwerke aus Gegenwart und Vergangenheit, die unterschied‐ licher Herkunft sind und sich doch dem einen geographischen Raum Europa zuweisen lassen. 57 Stark verkürzt und manchmal in ironisierter Form wird so eine ganze Reihe kanonisierter Künstler und Werke aufgerufen, die das kulturelle Selbstverständnis Europas prägen. Auf sehr verkürzte, aber komplexe Weise gerät folglich europäische Kulturgeschichte in den Blick. Diese stark intertextuell bzw. intermedial geprägte Schreibweise legt auch bei der Lektüre dieses Werkes nahe, dass Vorstellungen von ‚Europa‘ nicht ohne literarisch-künstlerische Modelle, nicht ohne Rückgriff auf dessen vielfältiges kulturelles Erbe zu denken sind und zum Ausdruck gebracht werden können. In dem Umstand, dass der Roman Ein Balkonplatz für flüchtige Abende mehrfach punktuell auf die komplexen wechselseitigen kulturellen und historischen Bezüge innerhalb Europas aufmerksam macht und zum Nachlesen und Nach‐ schauen animiert, liegt dessen Bedeutung für die Gegenwartskultur begründet. Einer wieder anderen Technik, Europa im Roman zu evozieren, bedient sich Tawada in ihrem jüngsten Roman, Paul Celan und der chinesische Engel, erschienen 2020. Darin arbeitet die Autorin mit der Verschränkung unterschied‐ 102 Anne-Rose Meyer <?page no="103"?> 58 Vgl. Yoko Tawada: Paul Celan und der chinesische Engel. Roman. Tübingen 2020, S. 30. 59 Ebd., S.-44f. licher Räume, mit Heterotopien, im Bewusstsein der Erzählinstanz. Dabei handelt es sich um einen jungen Celan-Forscher, der in einer Lebenskrise einen rätselhaften Chinesen in einem Berliner Café kennenlernt. Der Romantitel lässt diese Gestalt zwischen Phantastik und Realität oszillierend erscheinen, als eine Art Wiedergänger, als Einbildung des Nachwuchswissenschaftlers oder im übertragenen Sinn auch als Retter des Celan-Forschers. Und gleich eingangs entwickelt die Autorin in der Gedankenwelt ihres im Café sitzenden Protagonisten eine Szene aus La Traviata, 58 die dessen kulturell reiches Innen‐ leben verdeutlicht. Die Konstruktion und Thematisierung von Räumen wird ausgehend von dieser Szene als Leitidee des Romans erkennbar, die auch Paul Celan als titelspendende Gestalt einbezieht. Von dessen Meridian ist mehrfach die Rede, so etwa in einem Gespräch zwischen dem Celan-Forscher und dem Chinesen. Dieser spricht zunächst von den Leitbahnen, den Meridianen, welche die chinesische Medizin im menschlichen Körper lokalisiert. Patrik erwidert: „Celan kann aber nicht solche Meridiane gemeint haben. Für ihn gab es nur einen Meridian.“ „Den Meridian, der durch London läuft? Das glaube ich nicht. Zum Beispiel gibt es einen sehr wichtigen Meridian für Celan. Er verbindet Paris mit Stockholm.“ Patrik erinnert sich blitzartig, dass im Briefwechsel zwischen Celan und Nelly Sachs von einem Meridian die Rede war. „Zwischen Stockholm und Paris verläuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes“, zitiert Patrik aus dem Gedächtnis und führt aus: „Es gibt mehrere Meridiane - metaphorisch gesehen. Aber ich halte nichts von Metaphern, sie sind mir zu schwammig. Ich orientiere mich lieber an Zahlen und Buchstaben.“ Leo-Eric erwidert sanft: „Ich meine nicht metaphorisch, sondern geographisch. Waren Sie schon mal im historischen Observatorium in Paris? “ „Nein.“ „Dort ist der sogenannte Pariser Meridian aus bunten Steinen in den Boden einge‐ lassen.“ „Ich dachte, Meridiane sind die Leitlinien im Körper.“ „Was ist schon der Unterschied zwischen der Erdkugel und dem Körper? Die Orts‐ namen und die Namen der Organe waren gleichermaßen wichtige Anhaltspunkte für den Dichter. Wir müssen nach den Linien suchen, die sie miteinander verbinden.“ 59 ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 103 <?page no="104"?> 60 Ebd., S. 60: „Ich wollte keine Figur anhand ihrer Hautfarbe identifizieren, vor allem wollte ich nicht dazu gezwungen werden. Es ist klar, dass Othellos Wut und Verletz‐ lichkeit mit der Diskriminierung zu tun hat. Aber hier ist nicht von einem Gefühl die Rede, das in einer besseren Gesellschaft verschwinden würde. Krankhafte Eifersucht wird weiter existieren und auch ich könnte ein Othello sein. Wenn man jede Figur mit einer eindeutigen Farbe anmalen würde, würden sich die Seh- und Denkfähigkeiten des Publikums zurückentwickeln. Ich wüsste zum Beispiel nicht, in welcher Farbe ich mich anmalen sollte, damit ich über Celans Leiden reden darf. Vor meinem Vortrag würde ich mein Gesicht mit frischem Wasser waschen, würde ich mich jedoch niemals weiß schminken. Niemand ist weiß außer einer Papierpuppe. Jeder Mensch darf seine Hautfarbe behalten, die gemischt, mehrdeutig und wie das Glück wandelbar ist.“ Zudem wird Czernowitz, als Geburtsort des Protagonisten wie Celans, wird die Bukowina, damals Teil der k. u. k.-Monarchie, thematisiert, indem immer wieder von Österreich, dessen Kultur und wechselvoller Geschichte, die Rede ist. Auch dadurch werden Fragen nach Identität und Zugehörigkeit behandelt. Waren es in Etüden im Schnee europaprägende, ideologische Ideen, die über Tiere kommuniziert wurden, in Ein Balkonplatz für flüchtige Abende vor allem künstlerisch-literarische Aspekte, mit denen die Autorin Europa stellenweise durch eine Art name dropping evoziert, sind es in Paul Celan und der chinesische Engel hauptsächlich Ortsnamen und Raumkonzepte wie der Meridian, durch die Tawada gleichsam beiläufig den kulturellen Reichtum andeutet, der sich in Europa findet. Zudem arbeitet sie aktuelle Diskussionen von Fragen Aneignung und Zugehörigkeit betreffend in den Roman ein, etwa dann, wenn der Prot‐ agonist in seiner Gedankenrede mit Blick auf gängige Othello-Inszenierungen blackfacing verwirft 60 oder wenn der Protagonist vehement die Besetzung von Bühnenrollen durch Sänger und Sängerinnen unterschiedlicher Herkunft verteidigt. Die Fähigkeit, verschiedene Sprachen zu sprechen bzw. zu singen, sich mit Werken aus einem anderen Kulturkreis als aus dem, in dem man geboren ist, zu beschäftigen, Rollen anzunehmen bzw. zu wechseln wird von Tawada durch ihren Protagonisten als hoher Wert präsentiert, und zwar am Beispiel der Oper Eugen Onegin von Peter Tschaikowski. Die Rolle der Tatjana wird von einer Amerikanerin gesungen, über die es heißt: Dank ihr werden ab jetzt weniger Menschen behaupten, dass nur die Russen Puschkin wirklich verstehen und Tschaikowsky singen können. Außerdem wird niemand aus dem Publikum, das heute diese Aufführung erlebt hat, in Zukunft denken, dass die Amerikaner nur eine Sprache sprechen. Der Patient weiß, dass die Sängerin, obwohl sie in Pennsylvania geboren wurde, mindestens mit vier Sprachen vertraut ist. Es wäre in Prag, wo ihre Vorfahren herkamen, nicht außergewöhnlich gewesen, mehrere Zungen zu haben. Aber in ihrer Geburtsstadt können nicht so viele Menschen auf 104 Anne-Rose Meyer <?page no="105"?> 61 Ebd., S.-70f. 62 Ebd. Italienisch einkaufen gehen, auf Deutsch anspruchsvolle Interviewfragen charmant beantworten und in der französischen Sprache zu Hause sein. 61 Mehrkulturenkompetenz erweist sich im Roman als hohes, erstrebenswertes Gut. Zudem wird am Beispiel des Protagonisten deutlich, wie schwer bzw. unhaltbar eindeutige kulturelle Herkunftsbeschreibungen sind: Patriks Eltern, die aus der Ukraine stammen, blicken kaum in den Osten zurück. Patrik kennt keine ukrainische Musik, kein ukrainisches Wort. Wenn Patrik seinen Eltern Fragen über die Ukraine stellte, antworteten sie ausweichend: Was hat dieses Land mit dir zu tun, du kommst aus Frankfurt. Seine Eltern fanden es befremdlich, dass in Patriks Schule so viel über Migration diskutiert wurde. Die Haltung der Eltern färbte auf den Sohn ab. Er hielt Distanz zum Thema und ärgerte sich, wenn jemand nachfragte, ob er aus Frankfurt an der Oder stamme. Er wollte nicht als östlicher Mensch gesehen werden. Östlich kann vieles bedeuten. Auch Ostberlin liegt schon ziemlich östlich. Patrik hingegen stammt aus dem metallenen Herzen Deutschlands, wo es den bedeutendsten Flughafen des Landes gibt und Hochhäuser den Himmel verkleinern. Er ist stolz auf Frankfurt am Main, weil seine amerikanische Sängerin dort studiert hat, weshalb sie heute noch spritzig und geschmeidig Deutsch spricht. Je öfter er wiederholt, dass er Deutscher sei, desto unsicherer wird er. […] Plötzlich fällt ihm ein, dass auch Czernowitz, Celans Geburtsstadt, heute zur Ukraine gehört. Er ist Celans Landsmann! Endlich eine erfreuliche Neuigkeit! 62 Der Verweis auf Celan verdeutlicht einmal mehr die große Ausbreitung der deutschen Sprache und deren Geschichte. Grenzen und Nationalitäten erweisen sich am Beispiel des Dichters wie am Beispiel des Protagonisten gerade mit Blick auf Europa als verschieb- und wandelbar, als Konstrukte, die von außen zugeschrieben werden. Die Beschäftigung mit dem weltberühmten Autor wird für den Protagonisten Patrik insofern ein Anlass zur Selbsterkundung, nämlich sich selbst qua Familie und Herkunft als multikulturell geprägten Menschen zu begreifen, der durch seine Beschäftigung mit Literatur die Grenzen des eigenen nationalen und identitätspolitischen Denkens erweitert. IV. Ein vorläufiges Fazit In der Zusammenschau lässt sich festhalten, dass Tawada in den drei hier vorgestellten Romanen mit unterschiedlichen Techniken arbeitet, ‚Europa‘ literarisch zu gestalten. Allen drei Romanen ist ein didaktisches Moment eigen, ‚Europa‘ in Romanen Yoko Tawadas 105 <?page no="106"?> da intertextuelle bzw. intermediale Schreibweisen und das name dropping, das am stärksten Ein Balkonplatz für flüchtige Abende prägt, dazu anregt, sich mit Werken und Namen, Orten und Sprachen vertraut zu machen bzw. an diese erinnert. Alle drei Romane sind durch distanzerzeugende Verfahren charakterisiert: Etüden im Schnee durch eine fabelhafte Verfremdung, die der Wahl der drei Er‐ zählinstanzen geschuldet ist. Wie der Titel Ein Balkonplatz für flüchtige Abende bereits indiziert, wird hier passagenweise der Blick von oben, aus räumlicher Distanz, wichtig. Zudem versetzt Tawada die Erinnerung an Griechenland als Wiege europäischer Kultur und an europäische Werte mit Blick auf Migration in eine Hamburger Alltagsszene, die mit der liegengebliebenen Straßenbahn, was als Form der allegorischen Verfremdung gewertet werden kann. In Paul Celan und der chinesische Engel ist die gesamte Erzählsituation verfremdet dadurch, dass man nicht weiß, ob es sich um eine fantastische Erzählung handelt, wie es schon der Titel suggeriert, oder um einen visionär veranlagten Protagonisten, in dessen Bewusstsein sich verschiedene Ebenen, eingebildete wie reale, überlagern. Wie dem auch sei, konzipiert als literatur‐ wissenschaftlich versierte, multikulturell geprägte Erzählinstanz, vermischen sich Einflüsse verschiedener Regionen bei der Darstellung von deren Weltsicht und Innenleben. Europa wird in allen drei Romanen mittels Kontrast- und Korrespondenzre‐ lationen strukturiert, bleibt aber in seinen sozialen, kulturellen, historischen und geographischen Dimensionen unterbestimmt, so dass eine Identifikation schwierig ist. Zumal sich die Autorin nicht auf bestimmte Regionen konzen‐ triert, sondern Europa von Finnland bis Sizilien, von der Ukraine bis Portugal punktuell aufscheinen lässt. Eine Auseinandersetzung mit dem, was war, und dem, was ist, ist notwendig, um wenigstens in Ansätzen erahnen zu können, was Europa als kulturellen Raum ausmacht. Die stark intertextuell bzw. intermedial geprägte Schreibweise legt folglich nahe, dass Vorstellungen von ‚Europa‘ nicht ohne Literatur als kulturelles Archiv entstehen können, und auch die bildenden Künste ein Reservoir an Namen, Themen, Motiven bereithalten, das mit Europa identifiziert werden kann bzw. dessen Umrisse konturiert. Gerade hierin wie in der dadurch inspirierten Auseinandersetzung mit Literatur, Kunst und Kultur - so könnte ein vorläufiges Fazit lauten - liegen die politische Bedeutung und das utopische Potential nicht nur dieser Europa-Texte Tawadas begründet. 106 Anne-Rose Meyer <?page no="107"?> 1 Robert Menasse: Die Erweiterung. Berlin 2022. Nachweise nach dieser Ausgabe im Text. 2 Julia Kristeva: Homo europaeus: existiert eine europäische Kultur? In: Cathérine Hug in Zusammenarbeit mit Robert Menasse: Europa ‒ Die Zukunft der Geschichte. Zürich 2015, S.-89-93, hier S.-91. 3 Ewout van der Knaap: Eine eurosophische Fiktion. Zu Robert Menasses ‘Die Haupt‐ stadt‘. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 234 (2022), S.-61-72. Mnemotopisches Schreiben Zu Robert Menasses Roman Die Erweiterung Ewout van der Knaap, Utrecht I. Einleitung Das erste Gipfeltreffen zwischen den Staats- und Regierungschefs der EU und des Westbalkans, das in der Westbalkanregion stattgefunden hat, war am 6. Dezember 2022. Bereits davor, am 10. Oktober, war Robert Menasses tragikomischer Roman Die Erweiterung erschienen, 1 in dem ein solches Gipfel‐ treffen am symbolträchtigen Schluss steht. Die Erweiterung thematisiert die Widersprüchlichkeiten in der EU-Politik und den umstrittenen EU-Beitritt Albaniens kaleidoskopisch. Hob Julia Kristeva hervor, dass EU-Staaten die wirtschaftlichen, existenziellen, kulturellen und religiösen Probleme und Un‐ terschiede anderer europäischer Länder, und auch „das anhaltende Unbehagen auf dem Balkan“ ernst nehmen sollten, 2 bietet Die Erweiterung Ansätze zu einer solchen Auseinandersetzung. Zeigte Menasses Roman Die Hauptstadt, wie sehr Auschwitz Zentrifugalpunkt der europäischen Erfahrung ist, 3 ist im zweiten Roman der geplanten EU-Trilogie des Buchpreisträgers das Beitrittsbegehren Albaniens an die EU Dreh- und Angelpunkt. In beiden Romanen werden geo‐ politische Interessen, Machenschaften, Fremdzuschreibungen bloßgelegt und Erinnerungsorte aufgepolt. Und auch hier unterhält Menasse seine Leserschaft mit allen Kunstgriffen; seine Poetologie beruht auf dem Horazschen Prinzip des prodesse et delactare („nützen und erfreuen“). Gehört Die Hauptstadt bereits aufgrund der supranationalen Wirkung und der vielfachen Verbreitung in mehr <?page no="108"?> 4 David Damrosch: What is World Literature? Princeton 2003, S.-4. 5 Vgl. „Geschichte ist nichts anderes als eine Pendelbewegung zwischen Pathos und Banalität.“, in Robert Menasse: Die Hauptstadt. Berlin 2017, S.-197. 6 U.a. Wolfgang Paterno: Menasse: Männer, die auf Ziegen starren. In: Profil, 8. Oktober 2022; Björn Hayer: Die Erweiterung: Robert Menasse setzt seine Europa-Trilogie fort. In: Der Freitag, 12. Oktober 2022; Carsten Otte: Jagd nach dem goldenen Helm. Neuer EU-Roman von Robert Menasse. In: taz am Wochenende, 23. Oktober 2022; Katharina Teutsch: Ihm ist ganz albanisch wohl. Neuer Roman von Robert Menasse. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Oktober 2022; Denis Scheck. In: Druckfrisch, 20. November 2022; Juli Zeh. In: Das Literarische Quartett, 2. Dezember 2022. 7 Vgl. Karl-Markus Gauß: Balkan. In: Das Europäische Alphabet. Wien 1997, S.-17-30. 8 Karl Schlögel: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. München 2022, S.-14. 9 Ebd., S.-35. als zwanzig Sprachen zur Weltliteratur, 4 dürfte Die Erweiterung, inzwischen mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2022 ausgezeichnet, diesen Rang auch erreichen. Menasse spielt mit Genres und enzyklopädischem Wissen, lässt seine Figuren auf wirkliche Figuren - und somit Fiktionalität auf Faktualität - prallen, bietet humoristische Einlagen (Ironie, Situationskomik, Slapstick), legt Melancholie und Schwermut frei, und nutzt die Wirkungskraft von Volten und Pointen („Entweder kommt Albanien in die EU, oder es kommen die Albaner.“, S. 61; „Geschichte ist der größte historische Irrtum.“, S. 551 5 ). In unterschiedlichen Medien ist Die Erweiterung sehr positiv rezipiert worden. 6 Gelobt wurden die epische Breite, die psychologische Nähe, die historische Fülle, die Welthaltigkeit, die Überspitzung, die scheinbare Leichtigkeit der Erzählstränge, die filmische Qualität, die Unterhaltsamkeit, die feine Ironie, die Symbolkraft und die sprach‐ liche Pointierung. Menasse widmet sich einem aktuellen Thema, zumal im Veröffentlichungs‐ jahr auch die Ukraine zu den Ländern gekommen ist, die sich bereits im Prozess der Integration der EU-Rechtsvorschriften in nationales Recht befinden. Albaniens Weg von der Befreiung vom kommunistischen Totalitarismus bis zur Beitrittskandidatschaft (2014) ist lang und wird, wie bei vielen Balkan- Ländern, von Grausamkeiten, Einigungswünschen und Verachtung geprägt. 7 Zwar gibt es, wie Karl Schlögel bemerkte, eine geteilte Europäizität, eine inte‐ grale europäische Kultur, 8 gesetzliche und wirtschaftliche Differenzen müssen geglättet werden, bevor es zur Verwirklichung der Einheit kommen kann. Auch aber gehe es darum, „in einen Prozess der ursprünglichen Akkumulation von Erfahrung einzutreten, Bilder zu sammeln […], sich die Geschichten [zu] erzählen“. 9 Dies entspricht Menasses Anspruch: „Auseinandersetzung mit seiner 108 Ewout van der Knaap <?page no="109"?> 10 Ewout van der Knaap: „Es geht mir nur noch um meine Romane“. Robert Menasse im Gespräch. In: Die Horen 288 (2022), S.-275-286, hier S.-281. 11 Alexandra Föderl-Schmid: Unsere Baustelle. Robert Menasse über „Die Erweiterung“. In: Süddeutsche Zeitung, 14. Oktober 2022. 12 van der Knaap: „Es geht mir nur noch um meine Romane“, S.-286. Zeitgenossenschaft bedingt Erzählen.“ 10 Menasse betont die Fiktionalität des Romans: „Das ist keine wissenschaftlich-historische Abhandlung, es geht um eine europäische Erzählung". 11 Dadurch, dass Menasse erzählerisch allwissend verfährt, den Figuren sehr nahe ist und oft in epischer Breite erzählt, entsteht eine differenzierte Textur und Selbstwahrnehmungen werden entfaltet. II. Kristallisationspunkte Der Prolog von Menasses Roman endet mit einem vom Museumsbesuch inspi‐ rierten albanischen Künstler, der eine Gouache anfertigt „mit dem Titel ‚Europa: Wir schließen in fünf Minuten‘.“ (S. 14) Dieses Motiv unterstreicht die Thematik des Buches, es geht um einen Staat, der zum europäischen Ensemble nicht zugelassen zu werden scheint. Die Countdown-Technik erinnert an Menasses Roman Die Hauptstadt, in dem am Schluss mehrere Protagonisten bei einem Attentat umkommen, nachdem abgezählt worden ist. Diese Technik hallt nach im apokalyptischen Schlusskapitel. Gefragt nach dem neuen Roman antwortete Menasse in einem 2021 geführten Interview: „Es geht, ganz abstrakt zusammengefasst, anhand von einigen Schicksalen und Biographien um den eigentümlichen Widerspruch zwischen EU-Mitgliedstaaten, die antieuropäische Politik machen, und Nicht-Mitgliedstaaten, die total proeuropäisch sind. Arbeitstitel ist ‚Die Erweiterung‘. Dann schreibe ich den dritten Band, Arbeits‐ titel ‚Der Untergang‘. Das ist dann das Ende der Epoche. Wenn die Nationalisten noch einmal … ach was, genug.“ 12 Der Roman agiert zwischen den Extremen, dass einerseits Länder wie Polen und Ungarn seit 2004 EU-Mitglied sind, der Währungsunion aber nicht beigetreten sind, und antieuropäisch handeln, und andererseits Länder wie Albanien EUaffin sind, aber im Wartesaal sitzen. Schauplätze sind Brüssel, Wien, Warschau, Tirana und andere Orte in Albanien. Diese Orte und Landschaften werden von Menasse als Gedächtnisräume codiert. Erinnerungsmomente werden im Text heraufbeschworen, durch Erinnerungsorte und Mnemotope. Erinnerungsorte spielen im kulturellen Gedächtnis einer Gruppe oder Gesell‐ schaft eine konvergierende symbolische Funktion, sie sind „räumlich konkrete Mnemotopisches Schreiben 109 <?page no="110"?> 13 Nicolas Pethes: Mnemotop. In: Jörg Dünne / Andreas Mahler (Hrsg.): Handbuch Lite‐ ratur & Raum. Berlin 2015, S.-196-204, hier S.-197. 14 Ebd. Bezugspunkte historischer Ereignisse und topische Bezugspunkte wie Personen, Kunstwerke oder Institutionen“. 13 Von Mnemotop ist die Rede, wenn das kultu‐ relle Gedächtnis sich „nicht nur an einzelnen Schauplätzen oder historischen Ereignissen orientiert, sondern geographische Komplexe unabhängig von kon‐ kreten Überresten oder Institutionen codiert“. 14 In Die Erweiterung haben zwei Antagonisten eine gemeinsame Vergangen‐ heit; sie gelten als Blutsbrüder (S. 23). Der eine wird schlicht Mateusz genannt und ist Ministerpräsident Polens ‒ die vielen Ähnlichkeiten mit Mateusz Morawiecki sind nicht zu übersehen. Er und Adam Prawdower waren im Priesterseminar, Adam hat ‒ wie Menasse ‒ einen jüdischen Vater und Mateusz hat sich zum Antisemiten entwickelt. Ihre Familien „waren seit Generationen eng miteinander verbunden.“ (S. 26) Am Schluss streut Adam Flugblätter aus, in der Hoffnung, dadurch Mateusz politisch beschädigen zu können. Nachdem ein Weggefährte durch Selbstverbrennung gestorben war, was sich engrammatisch bei Adam eingeritzt hat, hat Adam dessen Flugblatt vervielfältigen lassen: Getreue Faksimiles des Flugblatts von Piotr Szczęsny, auf der Rückseite zehn Punkte Adams, in denen er auflistet, wie sich die Kritik Piotrs eindeutig bestätigt hatte. Von der Zerstörung der unabhängigen Justiz, der freien Medien, bis hin zum staatlichen Antisemitismus. (S.-548) Die vermeintliche Authentizität der Flugblattkopie würdigt den Urheber und ist ein Zeichen des Willens zum Gedächtnis: Des politischen Weggefährten und Märtyrers soll gedacht werden und sein politisches Programm in Erinnerung bleiben. Die Ausstreuung der Flugblattfaksimiles ist eine Tat, die das Handeln des toten Freundes von einem urbanen Platz auf ein Kreuzfahrtschiff mit Politikern verlegt und durch die Performanz der Verbreitung von oben eine Erinnerungsspur legen will. Dass die Streuung misslingt, zeigt tragikomisch, wie komplex es ist, gegen den Strich das Gedächtnis aktivistisch zu unterstützen. Zugleich erinnert es daran, dass Zerstreuung üblicherweise eine Tat ist, die das Vergessen fördert - was zerstreut wird, wird verteilt und gerät aus dem Blick. Dieser Kampf über die Position Polens in der EU ist ein wichtiger Erzähl‐ strang; die anderen Erzählstränge beschäftigen sich mit der Position Albaniens in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Freilich setzt Menasse Lokalkolorit ein, und tut das manchmal huldigend, bei‐ spielsweise im Falle der regelmäßig erwähnten Wiener Gaststätte Pistauer, um die Lebenswelt von Figuren auszuschmücken. Um Identitätsfragen auszustaf‐ 110 Ewout van der Knaap <?page no="111"?> fieren, bringt Menasse einige Topoi ins Spiel, die als relevante Erinnerungsorte bezeichnet werden können. Es sind Kristallisationspunkte, die relevante identi‐ tätsstiftende Bezugspunkte für eine Gemeinschaft und deren Erinnerungskultur sind. Es tauchen für Albanien typische Erinnerungsorte auf: Mutter Teresa, der Staatssicherheitsdienst Sigurimi und die zahlreichen Bunker, die während des Regime des Diktators Enver Hoxha gebaut wurden. Auch die albanische Küche findet in einigen Szenen Erwähnung; der international gerühmte Chefkoch Bledar Kola (S. 81, S. 287) kocht auf dem Kreuzfahrtschiff das Galamenü (S. 608) und bereitet eine berühmte Süßspeise vor (S. 618f). Erinnerungsorte anderer Kategorie sind beispielsweise popkultureller Art. Das Lied „It’s my Life“ (S. 71), das im Radio gespielt wird und zeitgleich von Autofahrern in einem Stau gehört und mitgesungen wird, signalisiert Gemeinsamkeit, der in der postkommunis‐ tischen Ära eine besondere Bedeutung zukommt. Da die Szene am 21. Juni 1999 spielt, könnte es sich um den Song von Dr. Alban aus 1992 oder von Talk Talk aus 1984 handeln. Und auch Film und Fotografie öffnen Erinnerungsräume. Wenn der albanische Ministerpräsident mit dem Ball rumhantiert (S. 158), wird an eine berühmte Filmszene in Chaplins Anti-Kriegsfilm und Hitlerparodie The Great Dictator (1940) erinnert und das Komische mit der Drohung von Herrschaft konfrontiert. Erich Lessings berühmtes Foto der „Großen Vier“ (Dwight D. Eisenhower, Anthony Eden, Nikolai A. Bulganin, Edgar Fauré) im Hof des Völkerbundpalastes in Genf findet Verwendung als Erinnerungsort für die internationale Kooperation im Kalten Krieg und für die Inkubationszeit der EU: „Vier Männer auf vier Stühlen.“ (S. 389) So wie dieses Foto die Funktion hat, daran zu erinnern, wie die EU durch Einheit entstanden ist, findet auch der Mauerfall als Erinnerungsort Erwähnung und verweist auf das Einheits- und Freiheitsbegehren von Ländern. In einer Reflexion des Protagonisten Karl Auer, Beamter „in der neu geordneten Kommission in der Generaldirektion NEAR […], Nachbarschaft und Erweiterung“ (S. 45), der ‒ wie Menasse ‒ als Kind an der österreichisch-tschechischen Grenze bei der Großmutter Rad fuhr, heißt es, dass die Wende „die Öffnung der Welt“ (S. 256) sei. Von den vielen Beispielen soll auch der Kosovokrieg nicht unerwähnt bleiben, dessen verheerende Folgen auch dadurch, dass ein Film darüber gedreht wird und die Protagonisten erschreckt (S. 492ff), in Erinnerung gerufen werden. Der albanische Popsong „Bomba“ (2015) von Sinan Hoxha wird im Autoradio gespielt und verbindet den Übergang zu dieser Szene, wenn sie „in den Krieg“ (S. 491) gelangen und der Songtitel eine andere Bedeutungsdimension bekommt. Auch die Schlacht von Košare in den nordalbanischen Alpen wird in Erinnerung gerufen, als „Albaner aus aller Welt“ (S. 501) die Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) unterstützen und mehrere dort auf dem „Märtyrerfriedhof “ (S.-501) liegen. Mnemotopisches Schreiben 111 <?page no="112"?> III. Einzelanalysen Grundlegende Erinnerungsorte, die in Die Erweiterung ein Muster bilden, sollen im Folgenden näher betrachtet werden. III.1 Skanderbeg Als tragendes Bild für den Prozess albanischen Selbstbewussteins benutzt Menasse Skanderbeg als Erinnerungsort. Skanderbeg ist der Name für Gjergj Kastrioti (1405 bis 1468). Er gilt als albanischer Nationalheld, weil er albanische Stämme vereinte und in einem Aufstand im 15. Jahrhundert gegen das Osmani‐ sche Reich anführte und eine kurze Zeit der Unabhängigkeit brachte. Die Idee, den albanischen Ministerpräsidenten symbolisch mit dem Helm Skanderbegs zu krönen, soll unterstreichen, dass es viele Albaner in der Diaspora gibt und es einen virtuellen, ideologischen albanischen Staat gibt, der, würde er in eine wirk‐ liche Staatsform umgesetzt werden, eine bedrohliche Macht wäre. „Du musst dir Skanderbegs Helm aufsetzen! “ (S. 63), so wird dem Ministerpräsidenten geraten: „Du erinnerst sie daran, dass Skanderbeg der Beschützer des europäischen Christen‐ tums gegen die Osmanen war. Du gibst den Albanern in der Skanderbeg-Tradition mehr Gewicht, mehr Bedeutung für Europa, als du es jemals könntest, wenn du in Brüssel bloß um mehr Wohlstand bettelst. Dafür steht der Helm. Vergiss nicht: Die Europäer interessieren sich für Märkte oder für Symbole, für Symbole interessieren sie sich ganz verzweifelt, weil sie keine mehr haben, sie nennen es Narrative.“ (S.-64) Dieser Rat zeigt, wie sehr Symbolpolitik die Realpolitik überherrscht; durch den leitmotivischen Einsatz des Helmes unterstreicht Menasse die Dominanz und die Absurdität symbolpolitischen Handelns, das dazu führt, dass die Geschichte Europas für andere Zwecke missbraucht werden kann. Skanderbeg ist den Albanern auch als Motiv ein Begriff, dessen Helm wird im Wappen über dem Doppeladler abgebildet (S. 56). Eine Plakatausstellung mit Fotocollagen von albanischen Kopfbedeckungen verbindet modische Mützen mit Diktaturen, Kriegen und letzten Endes dem Helm (S.-380f). Hatte Menasse in Die Hauptstadt erörtert, dass die EU längst ein gemeinsames Narrativ habe, fragt sich der Protagonist Adam in Die Erweiterung zunächst, ob er ein Schwein ist, meint dann, dass es „ein intelligentes Tier“ ist und bezeichnet es „irgendwie als Wappentier der Kommission“ der EU (S. 112), womit Menasse auf das Leitmotiv des herumirrenden Schweines in Die Hauptstadt anspielt. Die historische Figur Skanderbeg hat in Die Erweiterung eine materielle, funk‐ tionale und symbolische Funktion, wodurch sie nicht nur als Leitmotiv, sondern auch als Erinnerungsort gilt. Als „lieu de mémoire“ wird sie gelegentlich als 112 Ewout van der Knaap <?page no="113"?> 15 Robert Menasse: Überbau und Underground. Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist. Frankfurt am Main 1997, S.-164f. „jeu“ de mémoire eingesetzt, wenn Menasse spielerisch mit dem Erinnerungsort umgeht. Komplex wird es, wenn der Skanderbeg-Helm sogar in einer Kirche bei einem Heiligen Kreuz auftaucht: „Da steht neben dem Kreuz ein römischer Soldat - und er trägt den Helm des Skanderbeg! “ (S.-533) Wie Skanderbeg symbolisch benutzt wird, wird im Folgenden an einigen Beispielen (Helm, Denkmalkultur, Schiff, SS-Division, Oper) aufgezeigt. Der Helm als Museumsobjekt und Kopie Im Prolog wird Skanderbegs Prunkhelm von vier Besuchern als Museumsobjekt bewundert. Die Besucher kommen aus unterschiedlichen Ländern und assozi‐ ieren Skanderbeg mit bekannten Denkmälern oder mit Vivaldis Skanderbeg- Oper. Der vierte Besucher ist Fatos Velaj, ein bildender Künstler, der „den Helm des Skanderbeg sehen [wollte], aus purem Nationalstolz, für ihn war dieser Helm ein Symbol für die Bedeutung der Skipetaren für Europa“ (S.-13). Dass die Welt aus Kopien besteht, ist eine Idee, die sich seit Menasses Prägung von „Original-Kopien“ („Kopien, ohne Bewußtsein vom Original, also Original- Kopien, Farcen, die die Tragödien vergessen haben, die sie perpetuieren.“ 15 ) auch in seinem Werk findet. In Die Erweiterung erzählt Menasse, dass der Helm im Wiener Museum kein Original ist, wodurch die Kopie, die der albanische Ministerpräsident anfertigen ließ, bereits einer Kopie zugrunde liegt („Das Original war also selbst schon eine Kopie, zumindest einem Vorbild deutlich nachempfunden.“, S. 267) und dass diese Kopie bereits für den Präsidenten Ahmet Zogu, der sich 1928 mit dem Helm zum König Zogu I. ausrief, angefertigt worden war (S. 224) und zwar nach dem Vorbild einer „mazedonische[n] Königskrone“ (S. 267). Dass nicht nur das Museumsobjekt, sondern auch diese Kopie, nach dem Maß des Kopfes des Ministerpräsidenten, gestohlen wird und zu vielen Verwicklungen führt, sind motorische Momente. Durch den Kunstraub und den Skandal um die Kopie werden Skanderbeg und die Frage nach der albanischen Identität noch stärker in den Mittelpunkt des gesellschaftspolitischen Diskurses gerückt. Später wird eine Kopie des Helmes in „einer Vitrine aus Panzerglas“ im Zentrum des SS Skanderbeg getauften Schiffes beim Stapellauf als Politsymbol zur Schau gestellt (S. 361), wodurch Zeit und Raum im Sinne eines utopischen Chronotopos verschmelzen: Über den Namen Skanderbegs werden das Museumsobjekt und das Schiff verbunden und Zeit wird zukunftsträchtig materialisiert. Dass es eine Helmkopie des Helden in einem nach ihm benannten Schiff gibt, kommt dem Matroschka-Effekt nahe, Mnemotopisches Schreiben 113 <?page no="114"?> 16 Robert Musil: Gesammelte Werke, Band 2. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S.-506-509. zumal das gestohlene Exemplar auf dem Schiff auftaucht und der albanische Ministerpräsident der designierte Träger ist und sich karnevalistisch zum König aller Albaner krönen will. Großstädtische Denkmäler Die Omnipräsenz von Skanderbeg zeigt sich in der Denkmalkultur. Hatte Robert Musil in der Glosse „Denkmale“ im Nachlaß zu Lebzeiten von der Unsichtbarkeit von Denkmälern geschrieben, 16 ist in Die Erweiterung festzustellen, wie sehr die Sichtbarkeit von Denkmälern dem Nationalmythos dient. Denkmalstürze in den letzten Jahren ereigneten sich zum einen, weil Diktaturen gestürzt waren und die damit verbundene Symbolik entfernt werden musste, zum anderen, weil im postkolonialen Diskurs die Symbolik alter Herrschaftsstrukturen störte. Skanderbeg wurde nicht gestürzt, weil er nicht als Herrscher, sondern vielmehr als Befreier betrachtet wird. Beachtenswert ist, dass es nicht nur in Albanien Denkmäler von Skanderbeg gibt. Einer der Besucher aus dem Prolog „wohnte in London in Inverness Terrace, wo er täglich an der Ecke mit Porchester Gardens am Skanderbeg- Denkmal vorbeikam“ (S. 11). Die Londoner Statue, die seit dem 28. November 2012 dort steht, ist eine Büste auf einem Sockel mit der Inschrift „Georg Kastrioti Skanderbeg / 1408-1486 / invincible Albanian national hero / defender of wes‐ tern civilisation“. Eine Museumsbesucherin „wohnte in Rom bei ihren Eltern auf der Piazza Albania, und dort gab es ein Denkmal ‚Athleta Christi Skanderbeg‘“ (S.-13). Der Roman erörtert die Symbolpolitik, wenn Albanien ein identitätsstiftendes Symbol für den Nationalismus sucht und man sich fragt, was das Narrativ der EU für die Einheit ist. Als der Pressesprecher des albanischen Ministerpräsidenten behauptet, „Albanien habe da ja eine eigene Geschichte, eine gewisse Tradition“ (S.-18), entgegnet der Ministerpräsident „erregt“: „Ich scheiße auch auf die Tradition. Die albanische Geschichte ist doch nur ein langer Albtraum von Fremdbestimmung und Unterdrückung, Besatzung durch Türken, Griechen, Italiener, Deutsche! Und kommunistische Diktatur. Ein Diktator, der chine‐ sischer als Mao Zedong sein wollte, ist doch auch keine Tradition. Und dann die Mafia - “ 114 Ewout van der Knaap <?page no="115"?> 17 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band-2, S.-168. […] „Nein, wir haben keine Tradition“, setzte er fort, „wir sind aus einem langen Albtraum aufgewacht, nur um von Europa so vor den Kopf gestoßen zu werden, dass wir benommen gleich in den nächsten sinken. […]“ (S.-18f.) Der Ministerpräsident zeigt auf das Denkmal von Skanderbeg draußen und sagt: „Er ist doch nur ein Denkmal draußen auf dem Platz, an dem die Menschen vorbeirennen. Siehst du einen Passanten, der zu ihm aufschaut? “ (S.-19) Im Ratgeberkreis des Ministerpräsidenten wird jedoch die Symbolkraft Skan‐ derbegs erkannt, zunächst von Fate Vasa: „[…] Skanderbegs Helm und Schwert, wofür steht das? Für die Idee eines geeinten Albaniens. Darum ist er ja unser Nationalheld: weil er der erste war, der die albani‐ schen Stämme geeint hat. Und jetzt geht es doch nur um dieses Signal, ich betone Signal: Wenn den Europäern Albanien heute zu klein ist, um es ernst zu nehmen, dann musst du sozusagen Skanderbegs Schwert zücken, symbolisch, verstehst du, als Gestus: Großalbanien! Die Deutschen durften sich vereinigen, und wir sollen es nicht dürfen? Mit den Albanern im Kosovo und den Albanern in Mazedonien … Wir stellen diesen Anspruch - und was wird passieren? Kann die EU das wollen? Eine neue Lunte am Pulverfass Balkan? Sie wird blitzschnell doch bereit sein, Zugeständnisse zu machen und Beitrittsgespräche mit uns aufzunehmen.“ (S.-20) Als der Schmied, der die Kopie des Helms gemacht hatte, nicht zum Ministerprä‐ sidenten gelassen wird, geht er enttäuscht raus, setzt sich an den Denkmalsockel und setzt den Helm auf - was sofort touristische Aufmerksamkeit erregt (S. 154). Das Schiff Auf einem Kreuzfahrtschiff, das nicht zufällig SS Skanderbeg heißt, findet aus politischem Kalkül zwei Wochen vor einer Balkankonferenz in Poznan ein informelles EU-Treffen statt: Das Staatsschiff soll vereinen und seine Identität als Staat bekräftigen, im Sinne des antiken Bildes vom Schiff als Staat. Hier zeigt sich, wie sehr das Schiff eine mnemotopische Funktion in Menasses Roman hat: Es geht um die Semiotisierung und imaginäre Prägung des Wasserfahrzeuges, das zugleich Handlungsfläche für die Ereignisse ist. In Friedrich Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft heißt es: „Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken - und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philo‐ sophen! “ 17 Menasse schickt keine Philosophen auf das Kreuzfahrtschiff, und Ziel ist nicht Entdeckung sondern Union. Die Jungfernfahrt des Kreuzfahrtschiffes SS Skanderbeg findet symbolträchtig am 28. November statt, dem albanischen Nationalfeiertag, mit Verweis auf die Unabhängigkeit im Jahre 1912; darüber Mnemotopisches Schreiben 115 <?page no="116"?> 18 Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck / Peter Gente / Heidi Paris (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992, S.-34-46, hier S.-46. hinaus ist der 28. November ein wichtiges Datum für die Figur Ylbere, denn es ist der Todestag ihres Großonkels, der 1944 in Bergen-Belsen starb (S.-444). Entdeckertum wird gemeinhin mit Schifffahrt verbunden. Für Michel Fou‐ cault verkörpert das Schiff „das größte Imaginationsarsenal“, es sei „die Hete‐ rotopie schlechthin“, „in den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume“. 18 In Menasses Roman ist es wie angedeutet kein Abenteuerschiff zur Entdeckung von neuen Räumen, sondern vielmehr ein Verwöhnungsschiff. Das Schiff wird mehr als nur Inbegriff politischer Utopie, das Staatsschiff bekommt allegorische Kraft. Der Balkan-Gipfel auf dem Skanderbeg-Schiff scheitert letzten Endes durch eine Pandemie, das Schiff treibt zwar nicht buchstäblich steuerlos dahin, aber es wird von den Häfen verweigert, wodurch sich die Analogie des rumtreibenden Staatsschiffs als Narrenschiff auftut. Die Sündigkeit der politischen Kaste tut sich auf, sie leidet offensichtlich an den sieben Todsünden (Hochmut, Habsucht, Wollust, Rachsucht, Maßlosigkeit, Neid und Faulheit), was im Roman durch hedonistisches Benehmen und Politintrigen vorgeführt wird. Dass das Schiff nirgendwo Landeerlaubnis bekommt, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Gelingen der politischen Projekte und auf die Frage, ob die EU das Ziel erreichen kann. Nimmt bei Sebastian Brant das Narrenschiff Kurs auf das imaginäre Narrenland „Narragonien“, hat das Kreuzfahrtschiff anscheinend ein utopisches Ziel am politischen Horizont. Vordergründig geht es in Die Erweiterung nicht um Fragen christlicher Lebensführung, sondern vielmehr um politische Führung und europäische Gemeinsamkeit. Das herumirrende Schiff befördert eine irrende politische Elite. Brants Moralsatire aus dem Jahr 1494 inspirierte auch den Roman Ship of Fools (1962) von Katherine Anne Porter der 1965 unter demselben Titel mit einer Starbesetzung unter Regie von Stanley Kramer anlief und den Mikrokosmos auf einem deutschen Passagierdampfer zeigte, der von Veracruz nach Bremerhaven und damit auf das unheilschwangere Nazi-Deutschland zu fuhr. Im Film und in Menasses Roman werden antisemitische Einstellungen unter den Passagieren des Schiffes kritisch gespiegelt. In Menasses Roman gibt es parallele Figuren zum Film. Ähnlich wie Ylbere hat die Figur Karl Glocken, gespielt von Michael Dunn, eine beobachtende Rolle; Glocken ist durch sein hofnärrisches Äußeres und den Spott von den anderen abgehoben, Ylbere steht als auffällige „Schwurjungfrau“ und Journalistin am Rande. Dr. Wilhelm Schumann ist der desillusionierte, österreichische Schiffsarzt, der bereits in Ship of Fools auftaucht, gespielt von Oskar Werner; im Gegensatz zur Vorlage stirbt der Arzt in Menasses Roman 116 Ewout van der Knaap <?page no="117"?> 19 Der medizinische Beruf ist auch an anderen Stellen in Menasses Werk von popular‐ kulturellen Verweisen geprägt. Auch die Namensgebung des Arztes im Europa-Spital (! ) in Brüssel, ist typisch, denn der Name „Doktor Rensenbrink“ (S. 40) würdigt den niederländischen Fußballer, der in den 1970er Jahren berühmt wurde; in Die Hauptstadt ist der Arzt des Europa-Spitals übrigens namenlos. 20 Franziska Anna Zaugg: Rekrutierungen für die Waffen-SS in Südosteuropa: Ideen, Ideale und Realitäten einer Vielvölkerarmee. Berlin/ Boston 2022. nicht und rettet am Schluss ein Baby aus einem gekenterten Flüchtlingsboot. Dass der Arzt bei Menasse ebenfalls Schumann heißt, ist ein Denkmal für den Vorgängerarzt und zugleich ähnlich wie der fliegende Holländer ein Sinnbild für den ewig treuen Schiffsarzt. 19 Im Hinblick auf Parallelen zu weiteren berühmten Schiffserzählungen liegt eine Referenz zu Federico Fellinis E la nave va (1984) nahe. Dieser Film, der unter dem deutschen Titel Fellinis Schiff der Träume bekannt ist, spielt ebenfalls in einer Vorkriegszeit und symbolisiert den Untergang der österreichisch-ungari‐ schen Macht 1914. Während bei Fellini Serben in Flüchtlingsbooten nach Italien fliehen und vom Ozeandampfer aufgenommen werden, werden bei Menasse Schiffbrüchige vom Kreuzfahrtschiff gerettet. Die angespannte Situation vor dem Ersten Weltkrieg wird gespiegelt mit der aktuellen Flüchtlingskrise, die durch Krieg, Unterdrückung und Wirtschaftselend ausgelöst ist. SS-Division Dass es unter Hitler eine SS-Division gab, die den Namen Skanderbeg trug, und auch stark muslimisch besetzt war, ist angesichts des Ruhms von Skanderbeg als Kämpfer gegen die osmanische Herrschaft ein Schicksal historischer Ironie. Die Episode im Roman über diese SS-Division (siehe unten zum Ehrenkodex Kanun) beruht auf historischen Tatsachen. Die 21. Waffen-Gebirgs-Division der SS Skanderbeg war aus Albanern und Volksdeutschen zusammengestellt. Diese Erzählschicht öffnet einen immensen Hohlraum, denn über Albanien und Albaner im 2. Weltkrieg und über die SS-Division ließe sich viel erzählen. Dass Albanien 1939 von Italien und 1943 von Deutschland besetzt worden war, dass durch die 1944 gegründete SS-Division Skanderbeg Juden ins KZ kamen, dass die Division Albaner nach Kosovo umgesiedelt hat und etliche Kommunisten und Anti-Faschisten verhaftet und orthodoxe Christen sowie Saboteure getötet hat, dass die Division auch am Kampf gegen jugoslawische Partisanen beteiligt war, das alles gehört zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus. 20 Die Division Skanderbeg war nur zwischen Mai und November 1944 aktiv, dabei maßgeb‐ lich an einer Schreckensherrschaft beteiligt; am Ende desertierten zahlreiche Mitglieder. Dass der Großmufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini, an der Mnemotopisches Schreiben 117 <?page no="118"?> Beteiligung von muslimischen Soldaten interessiert war und die Rekrutierung aktiv unterstützt hat, zeigt auch, wie SS-Divisionen auf dem Balkan in einen Glaubenskrieg verwickelt worden sind; für die Skanderbeg-Division ist das nicht belegt. Die Soldaten dieser Division trugen eine Qeleshe (plis, qylaf, kësul) als Kopfbedeckung, hatten ein Emblem mit einem Doppeladler auf dem Arm oder der Qeleshe, trugen später auch den SS-Totenkopf auf der Kopfbedeckung und ein Skanderbeg-Abzeichen am Revers. Der Doppeladler schmückt die albanische Flagge und ist von einem Siegel von Skanderbeg hergeleitet. Die Romanfigur des Kommissars Starek lässt nach der „Standarte der Skan‐ derbeg-Division“ (S. 269) suchen, weil er hinter dem Diebstahl des Skanderbeg- Helmes Neofaschisten vermutet. Dass es eine SS-Division Skanderbeg gegeben hat, wird im Schiffsnamen SS Skanderbeg ironisch gebrochen. Und dass es eine SS-Division gegeben hat, die den Namen Skanderbegs trug, gehört zum selektiven Vergessen derjenigen, die den Helm als Instrument betrachten, um Gemeinschaften zu stiften. Die Oper Adam überlegt sich, in welchem Moment er am besten den Protestakt mit den Flugblättern vollziehen kann. Zunächst will er die Aufführung von Arien aus Vivaldis Oper Scanderbeg nutzen, da soll „der albanische Startenor Saimir Pirgu“ (S. 582) singen, aber da der polnische Ministerpräsident kulturfern ist, sieht er davon ab. Am Ende ist das Skanderbeg-Schiff in Not, durch die Epidemie treibt es herum und darf - wie ein Flüchtlingsschiff - nirgendwo an Land. Der Schlusssatz des Romans lautet: „Die Sonne ging blutrot unter. Und aus allen Lautsprechern an Deck erklang die Arie S‘a voi penso, o Luci belle aus Vivaldis Scanderbeg-Oper.“ (S. 653). Die Bedeutung der Oper wirkt wie eine stille Verneigung vor der Rolle der Welt der Oper in Fellinis E la nave va. Filmhistorisch ist das groteske Bild des kranken Nashorns in Fellinis Film einprägsam. Rätselhaft wirkt die Ziege, die auf dem albanischen Schiff aufkreuzt und zunächst sowohl als Motiv mit Skanderbeg, darüber hinaus mit den Albanern und mit der Zoonose-These als Erklärung für die spätere Pandemie verbunden ist. III.2 Flüchtlingsschiff Vlora Das 1991 gekaperte albanische Handelsschiff Vlora, auf dem Albaner nach Italien entkamen (S. 212), ist Inbegriff für das Begehren der Albaner, die Schreckensherrschaft hinter sich zu lassen und Prosperität kennenzulernen. Es 118 Ewout van der Knaap <?page no="119"?> ist als Pendant der SS Skanderbeg zu interpretieren und ein Mahnbild dafür, dass ohne Erweiterung die Albaner illegal in die EU kommen werden. III.3 Widerstand Der polnische Widerstand ist ein wichtiges Mnemotop, das bereits in der Blutsbruderschaft zwischen Adam und Mateusz angelegt ist. Auch die Rolle der katholischen Kirche im Rekrutierungsverfahren neuer Zöglinge für den Widerstand ist bedeutsam. Adam und Mateusz werden zu den „Schulbrüdern in Poznań“ (S. 26) gebracht, weil sie dort geschützt vor der Geheimpolizei sind. Die Kirche bildet im kommunistischen Regime einen Schutzraum. Der Widerstandsgedanke resoniert im Widerstandslied „Kocham wolność“ (Ich liebe die Freiheit) von Chłopcy z Placu Broni aus dem Frühjahr 1989. Das Lied, das selbst ein Erinnerungsort ist, bildet an mehreren Stellen im Roman eine Gliedstelle und läuft auf einer Tonbandkassette als Begleitmusik während der Selbstverbrennung eines ehemaligen Mitstreiters von Adam und Mateusz. Die Figur des Piotr Szczęsny (S. 37), der vor der Kulisse des Kultur- und Wissenschaftspalastes in Warschau demonstriert, beruht auf der gleichnamigen historischen Figur, die sich am 19. Oktober 2017 in Warschau selbst verbrannt hat - auch das Datum wird im Roman erwähnt (S. 34). Ideale der freien Gewerk‐ schaft Solidarność, die maßgeblich an den Protesten gegen die kommunistische Herrschaft beteiligt war, wirken in Menasses Roman weiter, indem aufgezeigt wird, dass in Polen nach wie vor eine zentralistische Regierung herrscht und EU-Ideale dort nicht vertreten werden. III.4 Ehrenkodex Kanun Ein weiteres Mnemotop in Die Erweiterung ist die Opferbereitschaft, die mit dem albanischen Ehrenkodex des Gastrechts verbunden ist. Zunächst erzählt Konrad, der anonyme Vertreter des polnischen Untergrunds, den beiden Zög‐ lingen Adam und Mateusz über den Bauern Erasmus (sic! ), der der Gestapo nicht verrät, wo die Partisanen sind, auch nicht, als sein Sohn, seine Tochter und seine Frau nacheinander umgebracht werden (S. 30). Diese Geschichte findet in der Lebensgeschichte eines der Protagonisten die albanische Fortsetzung. Der Bauer Adnit Baxhaku verrät der SS-Division Skanderbeg nicht, wo der jüdische Flüchtling versteckt ist und liefert stattdessen seinen Sohn aus, damit seine Ehre und das Gesetz der Gastfreundschaft gerettet sind (S. 278). Die Geschichte des überlebenden jüdischen Jungen, der den Platz des Sohnes in der Familie einnimmt, bildet einen separaten Erzählstrang im Roman; es ist die Geschichte Mnemotopisches Schreiben 119 <?page no="120"?> von Egon/ Edon Lenz, der die Tochter Donika heiraten wird und dessen Sohn Siegfried ein Sprachinstitut aufmachen wird (S.-284). III.5 Gender Auf dem Kreuzfahrtschiff zeigt die Albanerin Ylbere journalistische Stärke mit Fragen, die sie schriftlich einreichen muss. Eine Frage an alle Delegationen lautet: „Der Helm des Skanderbeg ist das Symbol für ein geeintes Albanien. Was ist das Symbol für ein geeintes Europa? “ (S. 627) Nachdem die deutsche Delegation gewichtig und verhüllend „Die europäischen Werte.“ (S. 640) geant‐ wortet hat, ist sie die letzte Romanfigur, die beobachtet und erwähnt wird. Mit der Romanfigur Ylbere verbunden ist die Rolle der Frau im Patriarchat, die Genderdebatte und Genderfluidität. Ylbere ist eine sogenannte „Schwur‐ jungfrau“ („burrnesha“), was ein wichtiges albanisches Mnemotop ist: „Eine Jungfrau, die sich zum Mann erklärte, weil es in ihrer Familie kein männliches Oberhaupt gab oder weil sie einer arrangierten Ehe entgehen wollte.“ (S. 329) Ylbere zeigt autarken Mannesmut, aber auch Zärtlichkeit in der Beziehung zu Ismael Lani, dem (ehemaligen) Pressesprecher des Ministerpräsidenten. Als Tochter des Witwers Siegfried Lenz entschied sie sich bereits früh, sich jungen- und mannhaft zu entwickeln (S. 434): Der Vater „hatte mit ihr eine Tochter und einen Sohn“ (S.-437). Und zu Ismael passt dieses Gender: Erst mit Ylbere kam er auf den Gedanken, dass es tatsächlich etwas anderes geben konnte als die klare Zuordnung Mann oder Frau, die klare Sehnsucht nach einem Mann oder einer Frau, das klare Glück, das eine zu sein und im anderen Erfüllung zu finden, bis man sich scheiden ließ. (S.-473) III.6 Auschwitz Im Traum von Adam werden Auschwitz und der zeitgenössische Antisemi‐ tismus zusammengeführt: „[D]a war die Vitrine mit der originalgetreuen Kopie von Auschwitz, nachgebaut aus Lego-Steinen, und Mateusz erklärte unter Beifall, dass das Original ihm gestohlen bleiben könne, das können sich die Juden behalten, Applaus.“ (S. 635). Zuvor hatte Adam erwogen, statt Flugblätter Lego-Steine in die Menge zu werfen: Zum Beispiel einen Sack mit Lego-Steinen in die Lobby hinunterzukippen, zur Erinne‐ rung an den seltsamerweise unbeachteten Skandal, dass die polnische Regierung das mit Lego-Steinen nachgebaute Vernichtungslager Auschwitz als Kunstwerk angekauft und dann einen Satz Auschwitz-Lego an das deutsche Kanzleramt geschickt hatte. 120 Ewout van der Knaap <?page no="121"?> Adam wollte Lego-Steine hinunterwerfen und rufen: Ist es das, worauf der polnische Antisemitismus hinauswill? Auschwitz nachbauen? (S.-581) Wurde in Die Hauptstadt vorgeschlagen, an der Gedächtnisstätte Auschwitz eine neue Hauptstadt der EU zu bauen, damit die EU den Erinnerungsort damit direkt verkörpern und das Gründungsnarrativ betonen würde, ist der Diskurs um Auschwitz in Die Erweiterung der Populärkultur und dem Antisemitismus anheimgefallen. In Die Erweiterung wird vorgeführt, dass die Holocaust-Erin‐ nerung und die Erinnerung an die Diktatur des Kommunismus vereinbar sind. III.7 Stadtentwurf von Tirana Ließ Menasse in Die Hauptstadt mit der Idee spielen, eine neue Hauptstadt der EU in Auschwitz zu bauen, geht es in Die Erweiterung um den Stadtentwurf Tiranas: „Mussolini hatte die Idee, dass Neu-Tirana von oben die Form eines Liktorenbündels haben sollte. Die Form des Symbols faschistischer Macht. Ein Rutenbündel, in dem ein Beil steckt.“ (S. 488). Die Spuren der faschistischen Imprägnierung im urbanen Alltag sind nicht leicht zu beseitigen; der memoriale und transformatorische Charakter des Chronotopos fließen ineinander über. III.8 Winnetou Der EU-Beamte Auer erinnert sich, wie er mit seinem Cousin Franz Starek in der Pubertät Karl May gelesen hat: Karl Auer konnte sich nun erinnern, wie Franz den Band In den Schluchten des Balkan zugeschlagen und gesagt hatte: Fad! Was ist Balkan? Winnetou war besser. Was der Balkan war, wusste Karl damals auch nicht. Aber im Wilden Westen kannten sie sich aus. (S.-165) Der europäisierende Blick auf das Fremde hat die Cousins genauso geprägt wie der fremde Blick auf Europa. In dieser Phase las Auer auch Mays Durch das Land der Skipetaren (S. 166). Als Auer Starek, der Polizeikommissar in Wien ist, einen Brief schreibt, bezeichnet er Adam Prawdower, Balkan-Experte, augenzwinkernd als „Experte für die Schluchten des Balkans“ (S. 167). Damit klingt das Motiv der Schlucht an. Die Figur Ismail begegnet vielen Schluchten auf der Reise, stirbt letzten Endes in einer Schlucht, wenn er sich zu weit vornüber biegt (S.-547). Seine Gefährtin Ylbere wartet vergeblich auf ihn. Mnemotopisches Schreiben 121 <?page no="122"?> 21 Ismail Kadare: Essays on world literature Aeschylus, Dante, Shakespeare. Übersetzung von Ani Kokobobo. Brooklyn 2018. IV. Poetologisches Fazit Menasse rekurriert in Die Erweiterung auf einige traditionsgesättigte Bilder, indem er beispielsweise durch eine Kopie das geschmiedete mittelalterliche Museumsrüstungsstück zu einem politischen Symbol und zeremoniell bedeut‐ samen Kopfschutz aufpoliert, zugleich aber auch die Widersprüchlichkeiten aufdeckt; und indem er das frühneuzeitliche Narrenschiff in ein zeitgenössisches Katastrophenschiff konvertiert. Die erwähnten Erinnerungsorte und Mnemo‐ tope (Skanderbeg, das Flüchtlingsschiff Vlora, der Ehrenkodex Kanun, der Widerstand, Gender, Auschwitz, der Stadtgrundriss von Tirana, Winnetou) konstituieren ein Erzählmuster, das vom europäischen Geist durchtränkt ist. In vieler Hinsicht führt Menasse in Die Erweiterung europäische Kultur zusammen. Es gibt über bereits erwähnte literarische Anspielungen hinaus noch mehr Bezüge auf den europäischen Kanon, beispielsweise auf Fellinis Film La dolce vita (Das süße Leben, 1960) und Conrad Ferdinand Meyers Gedicht Der römische Brunnen (S. 47f), auf den siebenbändigen Romanzyklus Das Büro von J.J. Voskuil (S. 102) und auf Ismail Kadare, dessen Werk ohnehin schon stillschweigend mitschwingt, wenn es um die Darstellung der Diktatur geht. Eine poetologische Reflexion, die den Fotografen Gino Trashi beschäftigt, ist an den Anfang des vierten Kapitels gestellt: Er hatte einmal einen Artikel von Ismail Kadare gelesen, seinem Lieblingsautor, dem größten albanischen Schriftsteller, es ging um den Unterschied zwischen Beschreiben und Erzählen. Beschreiben, so Kadare, erhebe den größten Anspruch an Objektivität, Authentizität und Erkenntnis und leiste doch nichts davon.“ (S.-387f) Während die Beschreibung nur bestätige, vermag das Erzählen etwas in Bewe‐ gung zu bringen: Der Erzähler aber zeige nicht die Oberfläche, sondern setze das Wesen ins Bild, halte nicht nur den Moment fest, sondern lasse ihn fließen, vom Grund zur Wirkung. Erst der Anspruch des Beschreibens habe das Unbeschreibliche zur Welt gebracht, während wir alles erzählen können, letztlich auch das Unbeschreibliche.“ (S.-388) Der Romancier streut hier Krümel. Es handelt sich nicht um Kadare-Para‐ phrasen. Menasse verwendet Kadare, der sich poetologisch auf Schriftsteller wie Aischylos, Dante und Shakespeare bezogen hat, 21 als Sprachrohr von 122 Ewout van der Knaap <?page no="123"?> 22 Menasse äußerte sich dazu in einer E-Mail (13. März 2023) an den Verfasser: „Ich weiß nicht, ob Kadare je etwas in dieser Richtung geschrieben hat, die Stelle geht zurück auf ein Gespräch, das ich mit Kadare in Tirana hatte. Wir kamen auch auf das Romanschreiben zu sprechen, und auf meinen Anspruch, Europa zu erzählen. Ich sagte, beschrieben wird Europa von Journalisten, Politologen und Historikern, und das bleibt immer abstrakt, sinnlich erfahrbar wird es nur durch Erzählen ‒ und ich verwies auf Lukacs, der in seiner Ästhetik diesen Unterschied zu Gunsten der Literatur herausgearbeitet hat. Und Kadare sagte, dass er zustimme, aber es überhaupt nicht notwendig sei, auf Lukacs zu verweisen, das könne und müsse jeder Romancier aus eigenem Anspruch und eigener Erfahrung argumentieren. (Und ich hatte das Gefühl, dass er auch meinte: ohne bei diesem Stalinisten anzustreifen bzw. an ihn zu erinnern… Eine Allergie, die sich wiederum aus seiner Biographie erklärt). Das habe ich notiert, das ging mir durch den Kopf, das wollte ich dann verwenden, und ich habe an dieser Stelle, die eine Lukacs-Paraphrase ist, ganz einfach Kadare zuwinken wollen. Wobei ich dadurch, dass ich das Ganze in den Kopf des Fotografen verlegte, sehr unkompliziert und erhellend naiv von Lessing auf den Fotografen Lessing und seine ikonographischen erzählenden Fotos kommen konnte. Diese Stelle ist mir sehr wichtig, sie verwurzelt im Roman auf sinnliche Weise den Roman in meinem theoretischen Anspruch.“ 23 Georg Lukács: Erzählen oder beschreiben? In: ders.: Werke. Band 4, Probleme des Realismus I. Neuwied / Berlin 1971, S.-197-242, hier S.-219. 24 Lukács: Erzählen oder beschreiben, S.-229. 25 Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit. In: ders.: Werke. Band 4, Probleme des Realismus I. Neuwied / Berlin, 1971, S.-607-650, hier S.-616. Georg Lukács. Durch eine gewitzte Verquickung und Finte lässt er Kadare eine Hommage zuteil werden. 22 Lukács hatte 1936 im Essay Erzählen oder beschreiben? an mehreren Beispielen aufzuzeigen versucht, dass „jeder epische Zusammenhang“ aus dem beschrei‐ benden Stil verschwinde. 23 Zudem erfordere Literatur eine „Weltanschauung“: Man könne „ohne Weltanschauung nicht richtig erzählen, keine richtige, gegliederte, abwechslungsreiche und vollständige epische Komposition auf‐ bauen.“ 24 Die von Lukács besprochene Polarität von Erzählen und Beschreiben verschränkt ästhetische Theorie, kritische Zeitdiagnose und geschichtsphiloso‐ phische Interpretation, woraus hervorgeht, dass es Lukács um epische Ganzheit ging. Den Anspruch, das Ästhetische und Soziale miteinander zu verbinden, die Totalitätsanforderung an die Literatur, findet sich in der Formulierung in einem 1954 erschienen Lukács-Text wieder: Dieses Ziel ist in jeder großen Kunst: ein Bild der Wirklichkeit zu geben, in welchem der Gegensatz von Erscheinung und Wesen, von Einzelfall und Gesetz, von Unmittel‐ barkeit und Begriff usw. so aufgelöst wird, daß beide im unmittelbaren Eindruck des Kunstwerks zur spontanen Einheit zusammenfallen, daß sie für den Rezeptiven eine untrennbare Einheit bilden. 25 Mnemotopisches Schreiben 123 <?page no="124"?> 26 Verena Holler: Zwischen Avantgarde und Realismus. Anmerkungen zur ‚Trilogie der Entgeisterung‘. In: Kurt Bartsch / Verena Holler (Hrsg.): Robert Menasse. Graz 2004; Sławomir Piontek: Die Erziehung der Lust als ein Psychogramm einer Generation. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 234 (2022). Robert Menasse, S.-29-40. 27 Hans Haider: Engel der Geschichte. In: Die Presse, 30./ 31. Juli 1988. 28 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München 2000, S.-51. 29 „Die Menschen suchen ihr Lebensglück, und so sagen sie es auch: Lebensglück - aber wer es findet, spricht plötzlich nicht mehr von Glück, sondern von Leistung.“ (S. 79); „Sehr viele dieser Albaner, die damals in Bari gelandet waren, wanderten weiter, in die Industriezentren Norditaliens, oder noch weiter, nach Deutschland, um ihr Glück zu suchen.“ (S. 214) Die Figur des Suchens fiel Piontek bezüglich Don Juan de la Mancha auf: Die Erziehung der Lust als ein Psychogramm einer Generation, S.-35. Der ästhetisch-realistische Blick im Roman Menasses ist zwar freilich durch Lukács‘ Ansätze geprägt, wird aber nicht ideologisch durch ihn bestimmt und ist auch durch Filter romantheoretischer Entwicklungen gereinigt. Dass Lukács poetologisch bedeutsam ist in Menasses Werk, hat sich durch Analysen von den Romanen, die als Trilogie der Entgeisterung bekannt wurden, und dem Roman Don Juan de la Mancha erwiesen. 26 Bereits in einem frühen Interview sprach Menasse von seinem „Anspruch beim Schreiben [des Romans Sinnliche Gewiß‐ heit], ein Zeitbild zu schaffen, in dem der Zustand der Gegenwart reflektiert, widergespiegelt wird im Lukács’schen Sinn und […] zugleich dargestellt und aufgehoben wird.“ 27 Im Zusammenhang mit Lukács gibt es eine Grundfigur, die Die Erweiterung prägt. Es ist die Kategorie des Suchens. In der erstmals 1916 erschienenen Theorie des Romans schrieb Lukács dazu: Alle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt, müssen in die Gestaltung einbezogen und können und sollen nicht mit Mitteln der Komposition verdeckt werden. So objektiviert sich die formbestimmende Grundgesinnung des Romans als Psychologie der Romanhelden: sie sind Suchende. 28 In Die Erweiterung gibt es mehrere Figuren, die ihre Lebenswege privater oder politischer Natur suchen: Partnersuche, Suche nach Symbolen, Suche nach der Verwirklichung politischer Ideale. 29 In mehreren Fällen gehört das Scheitern dazu. Darüber hinaus ist Albanien eine Entität, die von mehreren Figuren vertreten wird. Das Erweiterungsgesuch Albaniens und die Suche nach diplomatischer und symbolischer Überzeugungsarbeit zum einen und die Irrfahrt des Schiffes zum anderen thematisieren die Suche einer Nation und der Union. In einer symbolischen, nahezu Mise en abyme-haften Szene greift Menasse das Thema auf, dass der Mensch sinnsuchend zu Fehlschlüssen kommt, in der 124 Ewout van der Knaap <?page no="125"?> 30 Lukács: Erzählen oder beschreiben, S.-223f. 31 Ebd., S.-223. 32 Ebd. Hybris von der Richtigkeit der eigenen Grundthese ausgehend lauter falsche Schlüsse zieht und dadurch zu einer scheinbar korrekten Interpretation von Sachverhalten kommt, womit nur die innere Wahrheit des eigenen Modells ge‐ rettet ist. In dieser anschaulichen Szene am Stammtisch des Gasthauses Pistauer zeigt Oberstudienrat Prochaska dem Generalmajor Starek ein falsch gelöstes Kreuzworträtsel, das nach dem ersten Fehler konsistent anmutet, aber nur mehr Fehler produziert und heiteres Erstaunen auslöst. Die epistemologische Lehrszene führt vor, dass nach einer falschen Prämisse die Polizeirecherche, aber auch politische Schlüsse zu weiterführenden Falschannahmen führen können: „Alles, was falsch war, schien logisch, alles.“ (S. 359) Dass die anschauliche Szene im 3. Teil steht, der „Fügungen“ genannt wird, unterstreicht die Erkenntnisprob‐ lematik und den konstruktiven Charakter von Sprache gleichermaßen. Bevor Starek ins Gasthaus ging, hat er sich mit dem jüngeren Kollegen Huber über die Idee gestritten, dass Faschisten „die Sturmfahne der SS-Division Skanderbeg und Skanderbegs Helm“ in Wien versteckt haben könnten. Huber wirft Starek unsinnige Argumentation vor („Jetzt wer´ma philosophisch? “, S. 356), nachdem Starek „logisches Denken“ als „Indiz“ bezeichnet hat: „Alles, Huber, absolut alles, hat eine innere Logik. Das ist mehr als ein Indiz, das ist Evidenz! Und alles kann sich mit allem nur verbinden und Zusammenhänge herstellen, wenn es einer Logik gehorcht […]“ (S. 356). Prochaskas hermeneutische Erschließung des Kreuzworträtsels dementiert Stareks Überzeugung und polizeiliche Wahrheits‐ findung („Starek sah erstaunt auf “, S. 359). Die Anschaulichkeit soll das Thema der epistemologischen Ungewissheit lebhaft machen im Sinne Lukács‘. Der Romanfigur des Fotografen Trashi zufolge „berief [Kadare] sich in seinem kleinen Essay auf einen gewissen Gotthold Ephraim Lessing“ (S. 388f) und googelnd findet er den Fotografen Erich Lessing. Lukács geht im Essay tatsächlich auf Lessing ein, allerdings ohne Vornamenerwähnung. In seinem berühmten Text Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie hatte Lessing mit Verweis auf Homer dafür plädiert, dass in der Literatur durch die Handlung das beschreibende Element lebhaft wird. 30 In Die Erweiterung ereignet sich das, was Lukács in den Spuren Lessings an Homer auffällt und am Beispiel von Scott, Balzac und Tolstoi als „Grundwahrheit der Poesie“ aufführt: „Die Dinge leben dichterisch nur durch ihre Beziehungen zum Menschenschicksal. Darum beschreibt sie der echte Epiker nicht. Er erzählt von der Aufgabe der Dinge in der Verkettung der Menschenschicksale“. 31 Bei Homer ist es der Szepter „von Agamemnon beziehungsweise von Achilles“, 32 Mnemotopisches Schreiben 125 <?page no="126"?> bei Menasse ist es der Helm von Skanderbeg beziehungsweise des albanischen Ministerpräsidenten. 126 Ewout van der Knaap <?page no="127"?> 1 Die drei bisher veröffentlichten Romane der Autorin sind: Nina Yargekov: Tuer Cathe‐ rine. Paris 2009; dies.: Vous serez mes témoins. Paris 2011; dies.: Double nationalité. Paris 2016 (Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden unter bloßer Seitenangabe im Text zitiert). Letzterer wurde ins Serbische und ins Spanische übersetzt, vgl.: Dvojno državljanstvo. Belgrad 2017 und Doble nacionalidad. Mexico-Stadt 2021. 2 Mangels einer deutschen Ausgabe des Romans werden einzelne Wörter und Passagen vom Verf. ins Deutsche übersetzt, darunter „yazigisch“ und „Yazigien“ für die erfun‐ denen Toponymen „yazige“ und „Yazigie“. Ähnliche fiktive Ortsnamen wie „Lutringie“ bzw. „lutringeois“ werden ebenfalls als „Lutringien“ und „lutringisch“ verdeutscht; „Iassag“ und „Èclute“ werden wie im Original beibehalten. 3 Zur ‚Schlüsselliteratur‘ zählen „[l]iterarische Werke fiktionalen Charakters, in denen ,wirkliche‘ Personen und Begebenheiten mittels spezifischer Kodierungsver‐ fahren verborgen und zugleich erkennbar gemacht sind.”, s. Georg Braungart, Harald Fricke u. a.: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2007, S. 380. Hier funktionieren die Kodierungen durch Anagramme (wie Rkvaa Nnoyeig - Nina Yargekov und Èclute Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité Marco Maffeis, Wuppertal Einleitung Nina Yargekovs dritter und bis dato letzter Roman Double nationalité 1 , handelt von einer Frau, die nach einem Gedächtnisverlust in einem Flughafen aufwacht und versucht, ihre Identität zu rekonstruieren. Sie stellt anhand ihrer Papiere fest, dass sie zwei Staatsbürgerschaften hat: die französische und die yazigische 2 . Yazigien ist laut ihrer Angaben „un minuscule État enclavé entre la Pologne et l’Ukraine avec beaucoup de pommes de terre et aucun littoral“ (S. 29). Im weiteren Verlauf des Romans wird die Benennung der Ortsnamen umgekehrt, so dass klar wird, auf welches reale Land sich die Erzählerin bezieht: Statt „Frankreich“ und „Paris“ werden die erfundenen Bezeichnungen „Lutringie“ und „Èclute“ verwendet, „Yazigie“ und seine Hauptstadt „Iassag“ heißen dann „Ungarn“ und „Budapest“. Tatsächlich handelt es sich bei Double nationalité um einen Schlüsselroman: 3 Die Verweise auf Ungarn und die Biographie der Protagonistin sind nicht <?page no="128"?> - Lutèce für Paris) und Verweise auf historische Regionen; So ist z. B. ‚Lutringie’ der kodierte Name für Lotharingien im heutigen Lothringen (fr. Lorraine), zu ‚Yazigien‘ s. Fußnote 25. 4 Double nationalité gewann 2016 den Literaturpreis Prix de Flore. Zur Sekundärliteratur über den Roman zählen eine Rezension, vgl.: Khadija Khalifé: „Double nationalité par Nina Yargekov“. In: The French Review 2 (2017), S. 269-270, und diverse Zeitungsartikel, vgl.: Nelly Kaprièlian: Avec „Double nationalité“, Nina Yargekov manie l’humour pour questionner les identités. In: Les Inrockuptibles, 20. September 2016; Bruno Frappat: Feuilleton „Sur l’océan des mot“: Double nationalité de Nina Yargekov. In: La Croix, 22.September 2016; Olivia de Lamberterie: Je est une autre. In: Elle, 30. September 2016; Eric Loret: La partition endiablée de Nina Yargekov. In: Le Monde, 6.Oktober 2016; Frédéric Beigbeder: Dans quel état j’erre? In: Figaro Magazine, 18. November 2016; Geneviève Simon: „Double nationalité“, de Nina Yargekov : burlesque et ébouriffant. In: La Libre Belgique, 12. Dezember 2016; Christine Marcandier: Nina Yargekov : comment peut-on être Français? (Double nationalité). In: Diacritik, 15. November 2016; Claire Devarrieux: Carte d’identités : l’autoperquisition de l’héroïne amnésique de Nina Yargekov. In: Libération, 1. November 2016 5 Vgl. insb. Gérard Genette: Die Erzählung. 3., durchges. und korr. Aufl. München 2010. zufällig, sondern sie verschleiern eine Anspielung auf die Autorin, die, wie die Hauptfigur, in Frankreich von ungarischen Eltern geboren ist. Die Amnesie wird als Anlass genutzt, um über ihre gespaltene bzw. hybride Identität und über die Differenzen ihrer beiden Bezugsheimatländer zu erzählen. Der Vergleich zwischen Frankreich und Yazigien bringt eine Serie von Gegensätzen zum Vorschein: West vs. Ost, reich vs. arm, zivilisiert vs. ländlich, international relevant vs. irrelevant, Einwanderungsvs. Auswanderungsland usw. Hin- und hergerissen zwischen Frankreich und Ungarn hinterfragt die Protagonistin die Gründe dieses Ost-West-Gefälles und die Folgen dessen auf ihre Identitätsbil‐ dung. In der Beziehung zwischen den Ländern manifestiert sich das Konzept - das meist in der EU-Politik üblich ist und im Roman nie explizit erwähnt wird - vom ‚Europa der zwei Geschwindigkeiten‘. Der Roman Double nationalité hat trotz eines wichtigen Literaturpreises wenig Resonanz in der Kritik erlangt 4 und bleibt außerhalb des frankophonen Raumes wenig bekannt. Dieser Beitrag versteht sich als eine erste literaturwis‐ senschaftliche Annäherung an den Text. Dazu wird im folgenden Abschnitt die Handlung dieses so umfangreichen Textes resümiert; darauf aufbauend erfolgt eine narratologische Analyse des Romans, die sich an Gérard Genettes Erzähltheorie 5 orientiert und sich auf die Merkmale ‚Stimme‘, ‚Modus‘ und ‚Zeit‘ fokussiert. Zusätzlich wird die Kategorie ‚Raum‘ unter die Lupe genommen und ihre Verbindung zum politisch geprägten Konzept des ‚Europas der zwei Geschwindigkeiten‘ erläutert. 128 Marco Maffeis <?page no="129"?> 6 Devarrieux: „Carte d’identités“. I. Handlung Double nationalité beginnt in medias res im Duty-Free eines zunächst unbe‐ kannten Flughafens. Die Protagonistin weiß nicht, wer sie ist, wo sie sich befindet, wo sie herkommt und was ihr Ziel ist. Wie sie ihr Gedächtnis verloren hat, bleibt unklar. Die Frage, ob sie gerade angekommen ist oder ob sie noch einen Flug antreten muss, wird dadurch beantwortet, dass sie ein Reinigungstuch in ihrer Handtasche findet - von der Sorte, wie man sie während eines Fluges erhält: Der Flughafen ist also ihr Ziel. Aber ist sie im Ausland oder zu Hause angekommen? Sie flüchtet sich in den nächstliegenden Ort, der ihr ein Gefühl von Geborgenheit gibt - die Toiletten -, wo sie sich einer Art „autoperquisition“ 6 , einer Selbstdurchsuchung, unterzieht: Sie inspiziert ihr Aussehen und den Inhalt ihrer Tasche samt Papieren. Im Spiegel sieht sie eine Frau, die ein Diadem trägt und die etwas „zu stark geschminkt“ ist (S. 16), zumindest nicht so, wie eine dezente Französin es tun würde: Sie kann also keine Französin sein, folgert sie, sondern eher eine osteuropäische Prostituierte. Der yazigische Pass scheint diese Hypothese zu stützen. Ein Etikett an ihrem Gepäck offenbart die Stationen ihres Fluges: „IASSAG LFT - PARIS CDG“ (S. 20), womit endgültig bestätigt wird, dass sie aus Yazigien abgeflogen ist und sich nun in Paris befindet. Nach der anfänglichen Befürchtung, dass sie ohne ihr Wissen Drogen mit sich tragen könnte, passiert sie den Zoll problemlos und bemerkt enttäuscht am Ausgang, dass niemand auf sie zukommt, weder ein Ehemann noch ein Zuhälter noch ein Drogendealer. Sie beschließt, solange sie ihre eigene Adresse nicht herausfindet, mit dem Taxi in die Stadt zu fahren und in einem Hotel zu übernachten. Ein gesprächiger Taxifahrer gibt ihr zu verstehen, dass sie keine echte Französin ist; er selbst komme aus Algerien und gehöre deshalb, wie sie, der Gruppe der Immigrierten in Frankreich an. In ihrem Koffer entdeckt sie ein leeres Notizbuch, was beweist, dass sie zum ersten Mal einen Gedächtnisverlust erlebt und dass sie nicht unter chronischen Amnesien leidet. Ihre Ausweise klären sie über ihre Identität auf: Sie heißt Rkvaa Nnoyeig, ist 31 Jahre alt, in Lyon geboren. Die französische Staatsbürgerschaft bekam sie gemäß dem Geburtsortsprinzip, die yazigische durch ihre Eltern (beide verstorben, als sie 25 war) vererbt. Sie erfährt mit Stolz, dass sie am Boulevard Voltaire wohnt: „quelle adresse française, quelle adresse éclairée […] le choix de votre domicile est déjà un engagement pour la vérité et la justice“ (S. 63). In ihrer Wohnung stellt sie fest, dass sie allein wohnt und dass sie als Übersetzerin im juristischen Bereich tätig ist, mit Aufträgen sowohl Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité 129 <?page no="130"?> in Frankreich als auch in Yazigien - was erklärt, warum ihre Erinnerungen mit Prostitution und Drogenkurieren assoziiert sind und warum sie zuletzt im Ausland war. Sie besitzt etliche doppelte Gegenstände: zwei Haustürschlüssel, zwei Handys, zwei Portemonnaies mit Geld zweier Währungen. Sie führt ein doppeltes Leben: Wenn sie in Paris ist, gibt sie vor, in Frankreich zu leben, in Iassag, dass sie in Yazigien wohnt. Diese selbstverschuldete Lüge ist dermaßen auf die Spitze getrieben, dass sie selbst nicht erkennen kann, welches der beiden Leben das echte ist. Sie fühlt sich wie eine Hochstaplerin, wie eine Betrügerin, die selbst betrogen wird. Trotz ihrer Ängste, ihre alte Identität möglichst unauffällig zurückzuge‐ winnen, scheint niemand sie zu vermissen: ihr Gedächtnisschwund entpuppt sich daher als ein „non-événement“ (S. 80). Es wird ihr bewusst, dass sie in Frankreich niemanden hat, der ihr wirklich vertraut ist. Ihre Angehörigen wohnen alle im Ausland, in Frankreich hat sie keine Familie: Sie durchlebt eine „diaspora, mais seule“ (S. 87). Aus ihrer E-Mail-Korrespondenz schließt sie, dass sie sich selbst hauptsächlich als Yazigin bezeichnet, und Yazigien ist im Vergleich zu Frankreich das Land, das sie am meisten braucht, wohingegen ein Frankreich ohne sie einen kleinen Verlust darstellen würde (vgl. S.-257). Zunächst scheint die Frage, ob sie entweder Französin oder Yazigin ist, etwas Privates zu sein, das nur sie betrifft. Doch dann verkündet ein Radiosender einen neuen französischen Gesetzesentwurf, nach dem die doppelte Staatsbür‐ gerschaft abgeschafft werden soll (vgl. S. 308). Das überrascht sie, denn sie würde so zu einer Entscheidung gezwungen, die sie sonst nur für sich getroffen hätte, aber das sagt ebenfalls aus, dass der Status einer doppelten Staatsbürger‐ schaft bis dahin nichts Illegales an sich hat. Das erleichtert sie, denn sie war davon ausgegangen, dass eine Staatsbürgerschaft die andere notwendigerweise ausschließen würde. Es gibt aber keine Prädominanz zwischen den beiden: Ihre Identität besteht nicht aus einem exklusiven „Oder“ - yazigisch oder französisch - sondern aus einem „Und“: „une bouche deux langues, une fille deux identités. […] Il n’y a donc pas de problème, pas d’imposture […]. Qui a dit que vous étiez soumise à une obligation de cohérence, à un devoir d’homogéneité cérébrale? […] Vous êtes queer de la nationalité“ (S.-311, kursiv im Original). Auf der Suche nach sich selbst, beschließt sie, nach Yazigien - alias Ungarn - zu reisen. Während des Fluges lernt sie eine französischsprachige Kanadierin kennen, die vom komplizierten Verhältnis Québecs zum kanadischen Staat erzählt, worauf Rkvaa ihr mit Ungarns nationalen Trauma erwidert: „Trianon“ (S. 387). Der Vertrag von Trianon, der 1920 in einem Vorort von Paris unter‐ zeichnet worden war, hat bewirkt, dass die k. und k. Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg in viele - teilweise neue - Länder unterteilt worden ist. Er 130 Marco Maffeis <?page no="131"?> 7 Vgl. dazu außerdem S. 411: „Trianon. Voilà bien le triste ciment de votre peuple, ce qui lie les Hongrois par-delà de leurs différences“. 8 Vgl. S. 388: „les Sicules, c’est le nom des superbes Hongrois de Transilvanie“; und weiter: „Tous les Hongrois adorent les Sicules“. Die deutsche Übersetzung von ‚Sicules‘ lautet ‚Sekler‘ oder ‚Székler‘ (in Anlehnung an die ungarische Schreibweise ‚székelyek‘). ging als Demütigung in die Geschichte ein, weil die frühere ungarische Krone ungefähr drei Viertel ihres Territoriums an andere Staaten abgeben musste. Später erkennt die Protagonistin, dass der zu dieser Zeit entstandene Groll ein Grundelement der nationalen Identität Ungarns ist: „Est hongrois qui a mal a Trianon“ (S.-412). 7 Eine Konsequenz von Trianon, die Rkvaa in mehreren Situationen in Ungarn feststellt, ist der Nationalismus, der in der Gesellschaft weitverbreitet ist. Dieser mythisiert das glorreiche ‚Großungarn‘ der Vorkriegszeit und die im rumäni‐ schen Siebenbürgen lebenden Sekler: innen 8 : Sie stellen die größte ungarischsprachige Bevölkerungsgruppe außerhalb Ungarns dar und werden vom unga‐ rischen Nationalismus als „les plus hongrois des Hongrois“ (S.-388) angesehen. Tatsächlich lernt die Protagonistin zwei ungarischsprachige Menschen aus Siebenbürgen kennen, aber sie erlebt sie nicht als Opfer eines Besatzungslandes: Die erste ist Ilonka, die Haushaltshilfe ihrer Großmutter, die zwar aus Rumänien kommt, aber keine Seklerin ist. Der zweite ist ein Junge, den sie in einem Café trifft: Vajk aus Cluj-Napoca sagt ihr, er werde in seiner weltoffenen Heimatstadt keineswegs diskriminiert oder gar unterdrückt und halte nichts vom ungarischen Ultranationalismus (vgl. S. 589). Die Sekler: innen, die er kennt, findet er „un peu frappadingues“ und „hypersusceptibles“ (S. 591); dass sie in der rumänischen Gesellschaft nicht integriert sind, würde nur von ihrem eigenen Hochmut abhängen. Kurz: Er ist ein Ungar, dem Trianon nicht wehtut. Durch die Begegnung mit Vajk brechen Rkvaas felsenfeste Überzeugungen auf einmal zusammen: „et si vous arrêtiez de vous mêler des affaires des Hongrois de Transylvanie ? […] ne voyez-vous pas que vous les étouffez ? que vous les colonisez ? que vous n’avez aucune légitimité ? […] Votre attirance, votre fascination, ne sont rien d’autre qu’un trip narcissique, vous n’êtes ni ouverte ni curieuse, ce qui vous intéresse c’est de vous projeter, de les instrumentaliser, de vous servir d’eux comme d’un miroir“ (S. 596-597). Nach diesem Gespräch wird Rkvaa mit einem realen Ereignis konfrontiert: Der Budapester Ostbahnhof ist wegen eines massenhaften Ansturms von Mi‐ grant: innen, denen die Weiterfahrt nach Österreich und Deutschland verweigert wird, gesperrt. Rkvaa vergleicht die Situation der Migrant: innen mit ihrer eigenen und mit der ihrer Eltern: Sie selbst hat dank ihrer zwei Staatsbürger‐ Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité 131 <?page no="132"?> 9 Die spanische Übersetzung verwendet die zweite Person Singular ‚tú‘. 10 Obwohl diese Erzählweise ungewohnt ist, ist sie kein Einzelfall. Unter den bekanntesten Romanen, die in der zweiten Person erzählt werden, s. beispielsweise: Michel Butor: La modification. Paris 2012 (1957); Georges Perec: Un homme qui dort. Paris 2003 (1967); Italo Calvino: Se una notte d'inverno un viaggiatore. Torino 1992 (1979). In diesen Beispielen werden die Leser: innen angesprochen. schaften das Privileg, immer und überall hinreisen zu können, und die Sorgen um ihre Identität werden plötzlich bedeutungslos; ihre Eltern andererseits teilen mit diesen Migrant: innen denselben authentischen Wunsch, ein gutes Leben zu führen - ohne Krieg, ohne Terror, mit Demokratie. Rkvaa fühlt sich genesen (vgl. S. 655), sobald sie beschließt, dass sie nicht weiter versuchen sollte, die perfekte Französin oder die ideale Ungarin zu sein - sie will und muss niemanden nachahmen, ja nachäffen. Sie kann weder lutringisch noch yazigisch sein, sie will sie selbst sein: ein stetiges Hin- und Her zwischen Frankreich und Ungarn, in beiden Fällen eine Ausländerin. Da dem so ist, beschließt sie, zu emigrieren: Montreal wird ihr spontanes, intuitiv gewähltes Ziel: „Petit Québec complexe comme la Hongrie. Dans le Canada puissant comme la Lutringie“ (S. 669). Während des Flugs nach Montreal fällt sie in einen tiefen Schlaf. Eine Flugbegleiterin legt ein Reinigungstuch in Rkvaas Handtasche - womit das Ende Parallelen mit dem Anfang aufweist. II. Stimme, Modus, Zeit In narratologischer Hinsicht ist die Erzählweise von Double nationalité bemer‐ kenswert, da der Roman im Präsens und - was noch unüblicher ist - von einer ‚vous-Erzählerin‘ statt einer Ich-Erzählerin oder einer dritten Person erzählt wird: „Vous vous réveillez dans un aéroport“, heißt es im Umschlagtext. ‚Vous‘ - daran sei hier kurz erinnert - drückt im Französischen gleichzeitig zwei Formen aus, die im Deutschen getrennt grammatikalisiert werden: Es äußert die zweite Person Plural ‚ihr‘ aber auch die Höflichkeitsform ‚Sie‘. Ob das ‚vous‘ im Roman der einen oder der anderen Form entspricht, bleibt mangels einer Übersetzung ins Deutsche nicht eindeutig. 9 Man könnte spekulieren, dass ‚vous‘ ein Plural wie die plurale, doppelte Identität der Prot‐ agonistin ist, dass dadurch ihr schizophrener Zustand thematisiert wird, doch die wahrscheinlichere Hypothese ist, dass die Erzählerin die Leser: innen direkt ansprechen möchte. 10 Warum sich die Autorin gerade für die zweite Person entschieden hat, ist schwer zu sagen; man kann höchstens vermuten, wogegen sie sich entschieden hat: Einerseits gegen eine explizite Darstellung von sich selbst als ein ‚Ich‘, womit der Text einer Autobiographie zu ähnlich gewirkt 132 Marco Maffeis <?page no="133"?> 11 Die Wahl eines dritten Weges, einer Alternative, zeigt Analogien mit der Handlung: Die Protagonistin Rkvaa findet am Ende des Romans heraus, dass sie weder Ungarin noch Französin, sondern eine ganz individuelle Mischung aus diesen beiden Komponenten ist. 12 Vgl.: „demain vous êtes chez vous, Ulysse a bien qu’à se tenir, votre épopée à vous se termine bientôt“ (S. 40). Wenn sie überlegt, welcher ihr Hauptwohnsitz ist, vergleicht sie sich wieder mit Odysseus: „Ulysse pendant vingt ans a été loin d’Ithaque et jamais Ithaque n’a cessé d’être son domicile. Parce qu’il avait le souhait de rentrer“ (S. 168). Und später nochmal: „Vos idées de se remettre en place, il n’y a pas de nécessité […]. La preuve: Ulysse est rentré à Ithaque et pourtant rien ne l’obligeait […] à maintes reprises il a été soumis à la tentation d’une terre accueillante […] mais il a choisi le retour […] parce qu’il savait qu’en oubliant de rentrer il s’oublierait lui-même, il cesserait d’être Ulysse, il disparaitrait des mémoires. Eh bien vous c’est pareil, si vous abandonnez vous vous abandonnez“ (S.-212f.). 13 S. 561: „Sans le secours de la narration, le problème de l’identité personnelle est en effet voué à une antinomie sans solution“. Das Zitat stammt, wie von der Autorin selbst angegeben, aus Paul Ricœur: Temps et récit III. Le temps raconté. Paris 1985, S.-355. hätte, andererseits gegen eine dritte Person, die per definitionem abwesend, auf Distanz, das Andere ist. Die Lösung, die die Autorin vorschlägt, ist ein Mittelweg: 11 Weder ‚je‘ noch ‚elle‘, sondern ‚vous‘, womit sie es schafft, über sich selbst auf distanzierte und verdeckte Weise zu reden und gleichzeitig das Publikum miteinzubeziehen. Für die Leser: innen ergibt das eine Irritation, da sie, anstatt wie üblich von der Erzählerin angesprochen zu werden, diese selbst ansprechen. Mit anderen Worten ist es so, als ob Yargekov sagen würde: Ich bin Rkvaa, aber dieses Ich ist mir so fremd, dass ich mich sieze bzw. duze; gleichzeitig kann sich jede: r potenzielle Leser: in mit diesem Ich identifizieren. Die Identität, d. h. die Frage ‚Wer bin ich? ‘, ist eines der Hauptthemen des Romans. Yargekov knüpft in diesem Zusammenhang einerseits an den Mythos von Odysseus und andererseits an die Theorien von Paul Ricœur an. Rkvaa wird als moderne Reinkarnation von Odysseus dargestellt - nicht nur, weil sie in der Fremde ewig auf der Suche nach ihrer Heimat ist, 12 sondern auch, weil sie die Rettung findet, indem sie zu einem ‚Niemand‘ wird: „Ni l’une ni l’autre, vous n’êtes personne, vous êtes Personne. Vous êtes Ulysse resté bloqué au stade du Cyclope, Ulysse qui n’aurait pas révelé son identité“ (S.-667). Der Philosoph Paul Ricœur taucht mehrmals im Roman auf: als Motto am Anfang vom fünften Teil 13 , als Buch, welches die Sitznachbarin von Rkvaa im Flieger nach Montreal liest, und in einer Episode, als die Protagonistin einen Anwalt fragt, ob bei ihr ein Fall von (Selbst-)Betrug vorliegt, da sie ihre Familie und Bekannte bezüglich ihres Hauptwohnsitzes anlügt, worauf der Anwalt antwortet: „Paul Ricœur, le récit comme opération de mise en concordance […]. Raconter une histoire, c’est prendre des faits et les combiner, Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité 133 <?page no="134"?> 14 Insbesondere Paul Ricœur: Soi-même comme un autre. Paris 1990. Vgl. Double natio‐ nalité, S. 665: “Au commencement, vous avez cherché à déterminer laquelle des deux filles est la vraie. L’une OU l’autre. Soit deux possibilités. Ensuite est apparue une troisième possibilité, l’une ET l’autre. Mais vous avez oublié qu’il existait encore une autre option, une autre combinaison. À savoir que vous ne soyez NI l’une NI l’autre“. 15 Genette: Die Erzählung, S.-159. [Kursivierung im Original]. 16 An einer Stelle (S. 204) spielt die Erzählerin außerdem mit den Möglichkeiten der Metadiegese, indem sie eine mise en abyme schafft: Sie erzählt (Diegese), dass sie in ihrem Tagebuch liest, dass sie das Heft in die Hand nimmt (Metadiegese). Beim Wort ‚Heft‘ fügt sie anchließend „coucou le cahier oui c’est de toi que je parle“ hinzu und wiederholt es zweimal: „coucou le cahier oui c’est de toi que je parle quand j’écris « coucou le cahier oui c’est de toi que je parle quand j’écris “ coucou le cahier oui c’est de toi que je parle” »“. 17 Genette: Die Erzählung, S.-140 [Kursivierung im Original]. 18 Ebd. [Kursivierung im Original]. les agencer, les organiser, ce qui équivaut à imputer des intentions, à proposer une interprétation, à suggérer une chaîne causale“ (S. 166). Implizit bezieht sich Rkvaa auf die Theorien von Ricœur, 14 indem sie ihre Identität dekonstruiert und durch die Narration wieder konstruiert: „[V]ous n’êtes rien et vous construisez, vous vous fabriquez“ (S.-654). Blickt man auf den Roman mit der narratologischen Brille Genettes, so haben wir es bei Double nationalité mit einer „autodiegetischen“ 15 Erzählerin zu tun, denn die erzählende Stimme ist eine Figur, ja sogar die Hauptfigur der Geschichte. Dabei spielt es eine geringe Rolle, dass die erzählende Stimme durch ein ‚vous‘ spricht und nicht, wie in der klassischen autodiegetischen Erzählung, ‚ich‘ sagt. Was die Ebene der Narration angeht, ist die Erzählerin intradiegetisch, da sie selbst erzählt, was ihr widerfahren ist. 16 Das Präsens erzeugt eine „gleichzeitige Narration“: 17 Die Handlung begleitet die Erzählung simultan. Eine - in Romanen häufigere - „spätere Narration“ 18 ist in diesem Fall notgedrungen unmöglich, da das Gedächtnisvermögen der Protagonistin gestört ist: Sie kann nichts aus einer Vergangenheit berichten, an die sie sich nicht erinnert; ihr bleibt also nichts anderes übrig, als vom Hier und Jetzt zu erzählen. Im Gegensatz zur Stimme („Wer erzählt? “), beschreibt das narratologische Merkmal Modus, wie erzählt wird; Es handelt sich mit anderen Worten um die Perspektive der Darstellung. Bei Double nationalité präsentiert die vous- Erzählerin genauso viele Ereignisse und Gedanken, wie sie sie gerade erlebt: Sie weiß nicht mehr und nicht weniger als die Leser: innen. Der Beweis: Sie erfahren, nicht früher und nicht später als im Augenblick, in dem die Protagonistin selbst 134 Marco Maffeis <?page no="135"?> 19 Genette: Die Erzählung, S.-121 [Kursivierung im Original]. 20 Genette: Die Erzählung, S.-21. 21 Vgl. die Anfänge von verschiedenen Kapiteln wie S. 95: „Le landemain, soit le surlan‐ demain de votre arrivée à l’aéroport, soit encore et toujours aujourd’hui“, S. 249: „Le landemain soit l’après-demain de l’avant-veille soit une journée qui non non vous n’avez pas le temps il faut que vous alliez ouvrir on vient de sonner chez vous“ und S. 620: „Le landemain est un vendredi, ce qui est impossible puisque hier était un mercredi, vous avez dû commettre une erreur quelque part“. 22 Vgl. Erzsa Weil: „Nächste Abfahrt ungewiss“. In: Die Zeit, September 2015. ihren Ausweis liest, wie sie heißt. Da die Erzählung mit der Wahrnehmung von Rkvaa zusammenfällt, spricht man in diesem Fall von „interner Fokalisierung“. 19 Eine Ausnahme bildet das Ende, denn die Fokalisierung erweitert sich dort über die Grenzen von Rkvaas Wahrnehmung hinaus. Die Perspektive verlässt die Subjektivität der Protagonistin, die schläft, und wechselt auf Personen, die sie in diesem Moment nicht sieht (die Flugbegleiterin, die ihr ein Reinigungstuch in die Handtasche legt) oder die sie in den vergangenen Tagen getroffen hat (einen Pariser Clochard und ihren Neurologen, der befürchtet, dass sie einen Rückfall haben könnte). Die Fokalisierung auf diese Ereignisse kann nicht intern und muss folglich extern oder null sein. Die Kombination aus autodiegetischer, intradiegetischer Erzählerin, gleich‐ zeitiger Narration, interner Fokalisierung und nicht zuletzt der Ansprache durch ‚vous‘ tragen zusammen dazu bei, dass die Narration wie ein innerer Monolog erlebt wird und dass man sich leicht in Rkvaa hineinversetzen kann. Man kann buchstäblich ihre Gedanken lesen. Der mündlich anmutende Stil mancher Passagen steigert diesen Effekt noch mehr. Ab und zu antizipiert die Erzählerin die Reaktionen der Leser: innen, wie auf S. 126: „Vous êtes solide et bien charpentée de la santée mentale. Vous le savez. C’est une certitude. […] Ainsi, vous ne pouvez pas penser je suis une psychopathe. / non ne le pensez pas / trop tard vous l’avez pensé“. Die Kategorie ‚Zeit‘ wird bei Genette in zwei Unterkategorien aufgegliedert: ‚Ordnung‘ und ‚Dauer‘. Die erste beschreibt die Beziehung zwischen Story und Plot: Im Roman stimmen diese Ebenen überein, da die Erzählung im Allgemeinen chronologisch vonstattengeht. Rückblenden (mit Genette „Ana‐ lepsen“ 20 ) in Form von Erinnerungen kommen sehr selten vor. Gelegentlich bricht die Erzählerin das starre, monotone Schema der chronologischen Neben‐ einanderstellung, indem sie selbstironisch darüber witzelt. 21 Die Dauer der erzählten Zeit kann genau bestimmt werden, denn die Protagonistin gibt selbst darüber Auskunft: sie verbringt 23 Tage in Frankreich und 23 in Ungarn. Durch den Verweis auf die realen Ereignisse am Budapester Ostbahnhof im August und September 2015 22 kann die Geschichte außerdem ziemlich genau temporal Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité 135 <?page no="136"?> 23 Die Tatsache, dass die erzählte Zeit (2015) und das Erscheinungsdatum (2016) sehr nah beianander sind, verstärkt noch mehr den durch die gleichzeitige Narration erzeugten Effekt, dass der Erzähl- und Lektüremoment gleichzeitig geschehen. 24 Vgl. Marc Augé: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris 1992. 25 Es ist davon auszugehen, dass die erfundenen Toponyme „Yazigien“ und „Iassag“ aus der Bevölkerung der Jazygen oder Jazygier stammen. Diese gehörten zu einem Stamm der Sarmaten und siedelten sich im 5.-Jahrhundert v.-Chr. in der pannonischen Tiefebene an. Seit dem 13. Jahrhundert befindet sich eine andere, mit der letzteren nicht engverwandten Bevölkerungsgruppe, die Jassen (ung. ‚Jászok‘), in derselben Region, die auf Ungarisch ‚Jászság‘ genannt wird. 26 Vgl. S. 371: „Yaziges sont les banlieusards de l’Europe. Burundais et Centrafricains sont les banlieusards du monde“. Gegen diesen Eindruck spielt auch keine Rolle, dass das Land, geographisch gesehen, in der Mitte Europa liegt: „La Yazigie n’est pas un pays de l’Europe de l’Est. Regardez donc une carte. La Yazigie c’est l’Europe centrale, la Mitteleuropa. Géographiquement médiane, elle a été orientalisée seulement du fait de sa récente satellisation soviétique“ (S.-228). situiert werden. 23 Obwohl das Merkmal ‚Raum‘ nicht im Fokus der Analyse der Genetteschen Theorie steht, lohnt es sich, aufgrund der großen Rolle, die es in Double nationalité spielt, auch dieses zu betrachten. III. Der Faktor Raum und das ‚Europa der zwei Geschwindigkeiten‘ Bereits der Anfang ist charakteristisch für die Raumthematik: Der anonyme Flughafen, in dem Rkvaa aufwacht, ist das Paradebeispiel für einen ‚Nicht- Ort‘ 24 , welcher in diesem Fall für das Nicht-Gedächtnis der Protagonistin steht. Nach und nach bemüht sie sich, den Orten, die mit ihr in Verbindung stehen, eine Bedeutung zu verleihen. Die Verwendung von erfundenen, verschlüsselten Ortsnamen, etwa ‚Yazigien‘, 25 lässt die Leser: innen an diesem Prozess teilnehmen - jedenfalls in höherem Maße, als wenn die Erzählerin sofort den eigentlichen Namen ‚Ungarn‘ gesagt hätte, mit dem man unmittelbar etwas verbinden kann. Yazigien (sprich: Ungarn) wird aus französischer Sicht als unbekannt und fremd dargestellt oder höchstens, wenn überhaupt bekannt, als unwichtig. Es ist ein winziges ‚Kartoffelland‘, „toute pourrie, […] [qui] ne comptait pour rien à l’échelle internationale […], la Yazigie pourrait bien crever la gueule ouverte que personne en Europe ne lèverait le petit doigt […] tout le monde s’en fout là-bas c’est quoi c’est rien“ (S. 34). Yazigien ist marginal, peripherisch, 26 das Andere, während Frankreich die Norm, die Mitte, der Standard ist: „À cause de leur universalisme. Ils se confondent avec l’humanité toute entière. Du coup, ils 136 Marco Maffeis <?page no="137"?> 27 Bruno Zandonella (Hrsg.): Pocket-Europa. Bonn 2009, S.-24. 28 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1957): Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. croient qu’être français est la normalité“ (S. 185). Der Gegensatz ist außerdem politisch und sozioökonomisch: Vous interrogez vos connaissances mobilisables au sujet de la Yazigie communiste de la fin des années 1970. Vous voyez: un taux de suicide record, des écoutes téléphoniques, un alcoolisme généralisé, et des journaux dans les salles de bains. À cause de la pénurie de papier-toilette. […] Ensuite, vos parents partent, ils s’installent en France […]. C’est une vie meilleure. La démocratie et du papier hygienique à volonté. (S.-50) Obwohl diese asymmetrische Beziehung im Roman nie explizit so benannt wird, geht es hierbei um das Konzept vom ‚Europa der zwei bzw. der verschiedenen Geschwindigkeiten‘. Definiert wird dieses als eine „[e]uropapolitische Vorstel‐ lung, wonach eine Gruppe von Mitgliedstaaten untereinander eine weiterge‐ hende, vertiefte Integration vereinbart.“ 27 In vielen Bereichen ist diese Vorstel‐ lung bereits heute Realität: Beispielsweise sind nicht alle Staaten des Europarats in der EU und nicht alle EU-Mitglieder sind wiederum Teil der Eurozone oder des Schengen-Raums. Die Idee vom Europa der zwei Geschwindigkeiten entstand im Hinblick auf die EU-Osterweiterung von 2004 und war so konzipiert, dass einige EU-Mitgliedsstaaten mit einer weitreichenden Zusammenarbeit wichtige Impulse setzen, die für die neueren Mitglieder als Modell der Integration dienen sollten. Nach diesem Konzept gäbe es ein schnelleres Kerneuropa, das schon integriert ist, und ein langsameres Europa, das es noch zu integrieren gilt. Diese Idee basiert implizit auf dem Gedanken vom „immer engeren Zusam‐ menschluß“, 28 wie es in den Römischen Verträgen von 1957 hieß. Obwohl die Teleologie der EU die totale Integration aller europäischen Staaten vorsieht, sieht die Realität manchmal anders aus. So gibt es Länder Europas, die den ex‐ pliziten Wunsch gezeigt und bereits Schritte unternommen haben, um in die EU aufgenommen zu werden, die aber die demokratischen Voraussetzungen noch nicht erfüllen, wie Georgien und die Ukraine. Umgekehrt gibt es Länder, die diese Voraussetzungen erfüllen würden, die aber gar nicht in die EU wollen, etwa Island oder die Schweiz. Wiederum gibt es noch vollwertige EU-Mitgliedstaaten, die sich aber als solche nicht identifizieren, weil sie den Eindruck haben, von der Kerngruppe ausgegrenzt zu werden: „manche mittel- und osteuropäischen Staaten hegen die Befürchtung, bei einer weiteren Forcierung eines Europas Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité 137 <?page no="138"?> 29 Klaus Brummer: „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 37 (2017), S.-23-27, hier S.-27. 30 Die Disparität ist so offensichtlich, dass ein Vergleich zwischen den Staaten unfair erscheint: „vous avez la sensation d’envoyer la Yatigie à l’abattoir, un si grand pays contre un si petit, les comparer a-t-il vraiment sens? Si c’était France-Allemagne ou Yazigie-Montenegro à la limite pourquoi pas, mais là c’est franchement grotesque“ (S. 255). Die Verwendung erfundener Namen könnte daran liegen, dass hier das Augenmerk nicht nur auf Frankreich und auf Ungarn gerichtet werden sollte, sondern auf ein strukturelles Phänomen, das die Beziehungen zwischen Ländern betrifft. Darauf wird u.-a. auf S.-179, 228 und 419 in Bezug auf Rumänien und Polen hingewiesen. 31 „Les Yaziges sont un tout petit peuple avec des grandes frustrations, un tout petit peuple rongé d’être un tout petit peuple“ (S.-228). 32 „La Yazigie est un pays de perdants“ (S. 277). Auf S. 480 stellt Rkvaa stolz fest, dass Un‐ garn flächenmäßig größer ist als manche westeuropäischen Staaten, nichtsdestotrotz spricht man von „unserer kleinen Heimat“. 33 „[L]es Yaziges considèrent toutes les nations européennes comme des ennemis histori‐ ques qui, non contents de l’avoir combattue et charcutée avec un sadisme grandissant au cours des siècles, se préparent à l’éradiquer de la surface de la Terre. Par jalousie, parce qu’ils sont trop intelligents“ (S.-74). der verschiedenen Geschwindigkeiten zu Mitgliedsstaaten zweiter Klasse zu werden.“ 29 Diese Befürchtung manifestiert sich lautstark in Double nationalité. Tatsäch‐ lich zeichnet sich ein Ungleichgewicht, ein Ost-West-Gefälle ab: 30 Auf der einen Seite das Kerneuropa, „l’eldorado occidental“ (S. 235), „le noble pays de France, terre d’accueil, asile pour les opprimés, refuge pour vos parents qui fuirent la dictature“ (S. 212f.); auf der anderen Seite ein verarmtes, postsowjetisches Auswanderungsland: „[P]ersonne ne s’installe en Yazigie. Sauf les Yaziges de l’étranger. Qui reviennent. Qui retournent. Au point qu’il est syntatiquement impossible d’immigrer en Yazigie“ (S. 114), „devenir une terre d’immigration, quelle ascension géopolitique ce serait pour moyenne-patrie-chérie“ (S.-505). Der Roman beantwortet die Frage, was das Ungleichgewicht mit den Staaten ‚zweiter Klasse‘ macht: Die Symptome sind Frustrationen 31 und ein starker Min‐ derwertigkeitskomplex 32 . Diese werden wiederum mit paranoiden Verschwö‐ rungstheorien 33 und mit Größenwahn kompensiert - der nostalgische Traum von der Rückkehr zum ‚Großungarn‘ und das yazigische „Ministère de la fierté nationale“ (S. 276) sind zwei Beispiele. Diese Denkweisen haben auch Auswir‐ kungen auf die persönliche Identitätsfindung von Rkvaa: Sie geht zunächst davon aus, dass sie die Wahl zwischen „Française croyant accomplir une mission civilisatrice ou Yazige revancharde tapie dans l’ombre“ (S. 200) treffen soll, doch beide Nationalideale entpuppen sich als Illusionen. Der Umgang mit den Migrant: innen auf der Balkanroute bildet einen Wendepunkt: Die Protagonistin merkt, dass sie mit den Migrant: innen sympathisiert und dass sie grundsätzlich 138 Marco Maffeis <?page no="139"?> 34 Rkvaa zieht einen Vergleich zwischen dem Eisernen Vorhang und der Mauer, die Ungarn an der serbischen Grenze errichten lässt und kritisiert die Doppelmoral Ungarns: „Le Mur qui coupait en deux l’Europe c’était injuste. Le Mur à la frontière serbe en revanche c’est bien” (S.-623). 35 Die Reaktion Frankreichs zu den Ereignissen am Budapester Ostbahnhof ist nicht weniger von Doppelmoral geprägt: Prompt tadelt es Ungarn Xenophobie, doch es scheint dabei sein eigenes Flüchtlingslager am Ärmelkanal zu vergessen. Die Erzählerin nimmt die Absurdität der Diskussion aufs Korn, indem sie Frankreich argumentieren lässt, dass diese Flüchtlingslager doch am Meer liegen (etwas, was Ungarn nicht bieten kann), dass diese „joli petit camp“ beinahe eine „station balnéaire“ (S.-611) sei. gegen Ungarns Politik ist. Sie versteht endlich, dass sie sich nicht blind und vollkommen mit einer Nation identifizieren kann und dass diese politische Krise ihre eigene Identitätskrise nicht tangiert. Sie übt nicht nur Kritik an den Regelungen der EU 34 und der Heuchelei des ‚Kerneuropas‘ gegenüber dem ‚zweite-Klasse-Europa‘ 35 , sondern sie lässt den Worten Taten folgen: konsequent und radikal kehrt sie dem ‚Europa der zwei Geschwindigkeiten‘ den Rücken. Kein europäischer Staat scheint in dieser politischen Atmosphäre des aufstei‐ genden Nationalismus in der Lage, einen Platz für eine Person wie sie, „queer de nationalité“, zu bieten. Zwischen ihren beiden Heimatländern entscheidet sie sich also, sich nicht zu entscheiden. Die Wahl für ihren Neuanfang fällt auf Montréal - eine Stadt, die die Eigenschaften Frankreichs und Ungarns in sich vereint: die Großmacht Kanadas und die Sonderstellung Québecs als Minderheit. IV. Schluss Zusammenfassend stellt Double nationalité eine Identitätskrise in den Fokus, die aus einer Gedächtniskrise resultiert. Der Roman führt vor Augen, welche Konsequenzen das Europa der zwei Geschwindigkeiten hat: politisch die Aus‐ grenzung mancher Mitgliedstaaten und bezüglich des Selbstbewusstseins der Protagonistin eine Art Spaltung der Persönlichkeit. Diese kann sie erst über‐ winden, indem ihr klar wird, dass ihre Identität solider ist, wenn sie sie nicht als pure Einheit, sondern als facettenreiches Hybrid begreift. Das Buch ist ein Aufruf zum Perspektivwechsel, eine Einladung zur Empathie: Wie fühlt sich das sogenannte Kerneuropa im Gegensatz zu Osteuropa und umgekehrt? Es ist nicht zuletzt eine Warnung gegen die Obsession für die Identität: Wer kein Gedächtnis hat, läuft Gefahr, sich von identitär-patriotischen Parolen verführen zu lassen. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman Double nationalité 139 <?page no="141"?> Einheit in Vielfalt Zur Europa-Utopie in Saša Stanišićs Roman Herkunft Jasmina Đonlagić Smailbegović, Tuzla „Man gibt sich viel Mühe mit dem Studium dessen, was die Menschen, Völker und Zeiten voneinander trennt. Achten wir je und je auch wieder auf das, was alle Menschen verbindet! “ Hermann Hesse Erst die Finanzkrise, dann die Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise, Brexit, dann die Corona-Krise und nun die Energiekrise. Europa scheint sich seit längerem in einer multidimensionalen Krise zu befinden, die sich durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine mehr und mehr zuspitzt. Die aktuellen Schlagzeilen sprechen von der Fassungslosigkeit in Brüssel und dem Versuch Europas, zusammenzurücken, einen neuen Kurs einzunehmen und die multiplen Krisen zu bewältigen, denn Europa als Projekt und als Idee steht vor immensen Herausforderungen und einer in diesem Ausmaß noch nie da gewesenen Zerreißprobe. Die führenden Köpfe versuchen vehement, den Entwicklungen entgegenzusteuern und Europa im geopolitischen Wettbewerb zu positionieren, ohne die Ideale der Freiheit, Enheit, der Menschenrechte und des Wohlstands aufzugeben. Hinter der Kulisse der Katastrophenereignisse, die sich verflechten und verhängnisvoll ineinandergreifen, werden wir Zeugen des Erwachens eines erloschen geglaubten Nationalismus, welcher aufmerksam beobachtet werden sollte. Das aufkommende pathologische nationale Bewusstsein ist sicherlich der größte und gefährlichste Feind der europäischen Idee. Das rücksichtslose Machtstreben nationaler Alleingänger und ihrer angestrebten Kleinstaaterei auf europäischem Boden und andere Partikularismen bedrohen Einheit und Vielfalt Europas gleichermaßen, ihre Demokratie und den gesellschaftlichen <?page no="142"?> 1 Vgl. Dirk Dalberg: Hugo von Hofmannsthals „Idee Europa“. Eine ideengeschichtliche Analyse, In: Germanistische Studien (Nysa ATUT). Wroclaw 2006, S.-3-12. Zusammenhalt. Zu Recht zerbrechen sich die politischen Führungen ihre Köpfe um die Vision von Europa, ihren Erhalt und deren Zukunft. Es wird viel diskutiert darüber, wie ein Spagat gelingen kann zwischen dem aufbrausenden Nationalstolz und der Verbundenheit zu einer eher als imaginär gefühlten Gemeinschaft von Europa. Aus der jahrhundertelangen Geschichte lässt sich jedoch schließen, dass aus Krisen und Katastrophen immer wieder eine Rückbesinnung auf den Diskurs um Europa und sein friedenstiftendes Projekt hervorgegangen ist. Es waren allerdings nicht Politiker und auch nicht deren Beamtenapparat diejenigen, die die Vorstellungen und Ideen eines vereinten Europas wieder zum Leben erweckten. Es waren vorrangig Schriftsteller, die durch ihre literarische Vi‐ sonen die Politik transzendierten, auf gemeinsame kulturelle Werte pochten und Vorstellungen von einem zukünftigen Europa schufen, um weitere Schwä‐ chungen und Zersplitterungen zu verhindern. Mit ihren Rückblicken in die Vergangenheit, Analysen der Gegenwart und die Ausmalung eines von Werten des Friedens, der Menschenrechte, der Humanität, der Solidarität gezeichneten Kontinents beschworen sie immer wieder Alternativen einer besseren Zukunft. In diesen Krisen- und Umbruchszeiten soll es daher nicht anders sein, als aus den gegenwärtigen literarischen Visionen und der in ihnen dargestellten Her‐ ausforderungen, Ambivalenzen und Pluralismen der Perspektive von Europa noch einmal Gestalt zu geben, um Frieden, Freiheit, Humanität, Solidarität und die Einheit in der Vielfalt zu verteidigen. Die Beschwörung Europas setzt daher eine Notwendigkeit der Rekonstruktion des literarischen Europa- Diskurses voraus, denn es sind seit jeher Literaten, die sich in den Dienst der Europaidee stellen und handlungswirksame Bilder und Vorstellungen von Europa kreierten. Europa soll aus der Literatur von innen heraus verstanden und beschworen werden, weil Schriftsteller dank ihres Gespürs für die Em‐ pirie im Abstrakten, für das Konkrete im Utopischen, für das Zukünftige im Gegenwärtigen und für das Vergangene im Heutigen in ihren Darbietungen anschaulicher, unparteiischer auch mutiger sind. Im Nachhinein ist Europa, wie Heinrich Mann behauptet, die Erfindung der Dichter und ihre Verbindung ist eine jahrhunderte lange zwischen der europäischen Literatur und Europa als ihrem Thema. 1 Daher sollten wir unseren Blick auf die Zeit der 1990er Jahre auf dem Balkan richten und beim Interpretieren der literarischen Erfahrungen der Vergangenheit des ehemaligen Jugoslawiens jede Form von Hochmut und Ignoranz vermeiden, denn es hat sich als relevant erwiesen, aus dem, was 142 Jasmina Đonlagić Smailbegović <?page no="143"?> 2 Saša Stanišić: Herkunft. München 2019, S. 14. Künftige Nachweise dieser Ausgabe im Text. einmal war, für die Gegenwart und Zukunft zu lernen, um letztendlich die Idee Europas als einer Wertegemeinschaft des Friedens, der Freiheit und der Humanität fest zu behaupten. Inmitten dieser turbulenten Zeiten erzählt Saša Stanišić in seinem autofiktionalen Roman Herkunft die Geschichte von Zufällen in unsren Biographien, von Jugoslawien, Liebe, Geborgenheit, Nationalismus, Kriegszerstörung, Flucht, Deutschland, dem Außenseiterdasein; er erzählt seine eigene Geschichte und wird zum Sprachrohr für Frieden, Menschenliebe und Toleranz. „Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion“ 2 , reflektiert der Erzähler und setzt den Ton der romanhaften Mischung aus Bekenntnis und Erfindung, genauer gesagt von Autobiographie und Fiktion in seinem Roman an. Durch Rückbesinnungen und Selbsterkenntnisse im gegenwärtigen Moment schildert Stanišić die Familiengeschichte eines Jungen aus Višegrad und seiner von Krieg und Flucht zerrissenen, durch die ganze Welt verstreuten Familie. Im Prozess der Ordnung, der Auswahl, der hierarchischen und horizontalen Verknüpfung von Erinnerungen entstehen Räume und Erinnerungshorizonte, die, befreit von nationalen Abgrenzungsbewegungen und anderen Aufteilungs‐ versuchen, das transnationale Zusammenwirken und universelle menschliche Werte hüten. „[…] ich hatte: / Mutter und Vater. / Großmutter Kristina […] Nena Mejrema […] Ich hatte einen gut rasierten Großvater […] Jugoslawien. Das aber nicht mehr lang. Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach. Fahnen, jeder eine eigene, im Wind, und in den Köpfen die Frage: Was bist du? “ (S. 11) bekennt der Erzähler und offenbart die Geschichte eines multiethnischen Vielvölkerstaats, des Zerfalls der zerbrechlichen Gemeinschaft von Einigkeit und Brüderlichkeit durch den Nationalismus, von Hass und Separatismus getriebenen Blutvergießens, was als Gewinner nur Kriegsprofiteure kennt. Jugoslawien gibt es nicht mehr und es wird es nie wieder geben, jedoch andere multiethnische, multikulturelle Länder und staatenähnliche Organisationen gibt es und diese stehen heute vor ähnlichen Herausforderungen wie der einstige Vielvölkerstaat vor seinem Zerfall. Unweit von Višegrad hoch in den Bergen von Oskoruša entsteht durch die Erinnerungen an die Kindheit und die gegenwärtigen Reflexionen ein symbolischer Platz, ein Ort der Friedenspro‐ klamation und der universellen humanistischen Werte. Im Land, welches es nicht mehr gibt, an Višegrader Bergeshöhen wickelt sich der Ursprungsmythos ab und so wird mit der Schlange am Obstbaum der Friedhof von Oskoruša Einheit in Vielfalt 143 <?page no="144"?> zur Urszenerie für das Selbstbildnis des Dichters, welches zugleich darüber hinausgeht und zur Utopie der Menschlichkeit wird. „Eine Schlange kreuzte unseren Weg. […] Die Hornotter auf dem Friedhof von Oskoruša wand sich, grün und gelassen, in die Krone eines Obstbaums, um sich eine bessere Perspektive […] zu verschaffen.“ (S. 26f.) Die Geschichte des Romans beginnt am Grab seiner Urgroßeltern, motiviert durch den Gedächtnisverlust seiner Großmutter und den Wunsch, die entfliehenden Gedanken und verblassenden Erinnerungen der geliebten an Demenz erkrankten Oma aufzufangen und sie für immer leben zu lassen, entfaltet sich weiter zur Geschichte einer durch Krieg zerstörten und im Deutschland der 1990er Jahre gestrandeten Familie. Dabei erheben sich Bilder und Assoziationen der Familie Stanišić aus dem Individuellen heraus und erhalten eine allgemeine menschliche Gültigkeit: Darstellungen des Glücks und der Heiterkeit einer Familie, die keine nationalen Fahnen schwingt außer der des geliebten Fußballclubs der Crvena Zvezda aus Belgrad, Beschreibungen der Freude der Kinder, die den Pionierschwur leisten und aus dem Berauschen am abgelegten Eid heraus ihre gesamte Existenzen und die der Gemeinschaften richten. „Heute, da ich Pionier geworden bin, gebe ich mein Pionierehrenwort: […] Dass ich für die Idee der Brüderlichkeit und Einheit einstehen werde und […] Dass ich alle Menschen der Welt wertschätzen werde, die Freiheit und Frieden anstreben. / Wie schön ist das denn? “ reflektiert der Erzähler und denkt weiter „Alle Menschen der Welt wertschätzen! Wie einfach es klingt.“ (S. 90, Kursivierung im Original) Aus den Erfahrungen eines Kriegsflüchtlings, eines ausgegrenzten Fremdlings kommen die Ideale des Schwurs ununterbrochen in den Gedanken Stanišićs hoch und hallen immer lauter. Als Flüchtlingskind in Heidelberg erlebt er ein Außenseiterdasein mit An‐ passungsschwierigkeiten an die deutsche Gesellschaft: „Ich wollte noch besser Deutsch lernen, damit die Deutschen in meiner Gegenwart sich nicht so viel Mühe geben mussten, zu verbergen, dass sie mich für dumm hielten.“ (S. 151) Zusammen mit anderen Flüchtlingen, Migranten und allen, die das Fremdsein teilten, hat Stanišić im Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund eine gemeinsame, vereinte Kultur, ja vielmehr eine Art Subkultur errichtet: „In Emmertsgrund reichten einander die Hand: Bosnier und Türken, Griechen und Italiener, Russlanddeutsche, Polendeutsche, Deutschlands Deutsche.“ (S. 126) Das Gemeinschafts- und Einigkeitsgefühl des einstigen Jugoslawiens wird versetzt inmitten einer fremden Welt an die Emmertsgrunder Aral Tankstelle: „Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte […] Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch.“ (S. 127) Die von den Statistiken der Zeit als gefährlich und kriminell gedeutete und an die Stadtränder verdrängte 144 Jasmina Đonlagić Smailbegović <?page no="145"?> 3 Vgl. Paul Michael Lützeler: Europa-Diskurs und Transnationalität in der Literatur [Kap. IV.5]. In: Handbuch Literatur & Transnationalität. Hrsg. von Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein. Berlin 2019, S.-306-317. Randgruppengemeinschaft vereint sich und entfaltet ein Zusammengehörig‐ keitsgefühl ohne Differenzierungskriterien wie Religion, ethnische Herkunft oder Nation. Die Tankstelle wird zum Treffpunkt und Rettungsanker, es wird der alleinige Platz, an dem der gestrandete Flüchtling Mensch ist und zum Menschen wird. Unter seiner Crew vermittelt Stanišić die Wert- und Moralvorstellungen seiner Großmutter Kristina: „Sie teilte die Menschen in gut und schlecht […] je nachdem ob sie sich gut oder schlecht um die Familie kümmerten. Das Kümmern betraf auch das Leben nach dem Tod, die Pflege der Gräber und der Erinnerung.“ (S. 103) Die bunte Aral-Gesellschaft wird zur Verfechterin eines Gemeinschafts‐ gefühls, zur Sphäre, in welcher Unterschiede und Trennungslinien verblassen und auf Gemeinsamkeiten pochen. „Was haben wir Jugos mit Vietnamesen gemein? “ (S. 138) fragt sich der Erzähler und macht sich auf die Suche nach dem, was die menschliche Gemeinschaft im Innersten zusammenhält, nach unserem kleinsten gemeinsamen Nenner. Schon aus seinen Kindheitserfahrungen ist es ihm bewusst, dass der Mensch auf Internationalität und das Miteinander angewiesen sei und dass man jedem Aufteilungsversuch entgegentreten sollte mit dem einzigen gemeinsamen Ziel, Besseres für uns alle zu erreichen. Seine utopischen Ausmalungen der Welt- und Wertordnung setzen die Vorstellung von der Vielfalt und der Andersartigkeit jeder Vielvölkergemeinschaft so an, dass sie die Konturen der Idee Karl Markus Gauß‘ von der Einheit Europas annehmen, nach welcher die Einheit der Vielfalt nicht durch Teilung, Spaltung oder Trennbarkeit erreicht werde, sondern vielmehr durch Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit. Europa als Kontinent, wo die Vielfalt eine primäre Rolle spielt, aber wo gleichzeitig Gemeinsamkeit und Einheit notwendige Vorausset‐ zungen für eine gute Koexistenz und die Bewahrung dieser Vielfalt sind. Die Auseinandersetzungen am Balkan haben wieder einmal bewiesen, dass die regionalistische Aufspaltung und die Idee von der Bewahrung ausschließlich der eigenen Kultur die erste Etappe in einer Reihe von weiteren Konflikten und bewaffneten Eskalationen mit verheerenden Folgen sei. Herkunft ist ein Appell, besonders auf regionalistische Gruppen zu achten, denn diese seien Gruppen von Menschen, die fürchten, ihre Interessen werden von ihren Nach‐ barn gefährdet und sie schieben daher den ethnischen Aspekt nur vor, um ihre egoistischen Interessen zu verfechten. 3 Regionalismus als Begriff wird also dem des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit gleichgeschrieben und Stanišić zeigt, dass die Welt mit Sicherheit ein besserer Ort wäre, wenn man den Begriff der Nation weniger ernst nehmen würde, und verweist auf Einheit in Vielfalt 145 <?page no="146"?> 4 Vgl. Pieter Judson: Regionalismus-Nationalismus: Neue Zugänge. URL: https: / / works.s warthmore.edu/ cgi/ viewcontent.cgi? article=1083&context=fac-history,zuletzt (zuletzt abgerufen am 12. März 2023). die zerstörerische Zwecklosigkeit aller Projekte von nationaler und rassischer Kategorisierung. Denn sie alle, egal in welcher Gestalt, fesseln die Freiheit und das Selbstverständnis des Menschen. Die vorgegebene Weltanschauung und der Glaube, dass jeder Mensch einer Nation angehöre, nehmen leider in unserer Gesellschaft so den Status des Normalen an, dass eine Welt ohne Nationen außerhalb unseres Vorstellungsbereiches ist. Im Roman erzählt Stanišić von einer ‚nationlosen Welt‘, von Menschen, die jenseits des Nationalseins denken und handeln. 4 Der Nationalismus mit seiner doppelten Präsenz, die einerseits das Andere exkludiert und anderseits das Eigene inkludiert, sprengt jede Idee von Multikulturalität und Pluralismus. Er missachtet Menschenrechte und alle Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität, ist die Gefahr schlechthin für eine auf den Idealen der Toleranz und Menschenrechte aufgebaute Gesellschaft. Im Roman macht Stanišić immer wieder klar, dass der Regionalismus ein schleichender Prozess der Entfachung des nationalen Feuers und der Desinte‐ gration sei und dass solche Entwicklungen seitens der Öffentlichkeit mit großer Besorgnis und Aufmerksamkeit beobachtet werden sollten. Als Musterbeispiel solcher Entfaltungen dient der Balkan nicht nur in der Zeit ab 1990, sondern auch die rezenten Ereignisse in Bosnien und Herzegowina, Kosovo oder Maze‐ donien zeugen davon, dass jegliche Einteilung nach ethnischen und anderen separatistischen Kriterien weder ein politisches noch sozial stabiles System konstituieren können, sondern Pulverfässer generieren, welche immer wieder zu explodieren drohen wegen der Interessenkonflikte zwischen den dahinter stehenden Mächten. Die Stabilität, Sicherheit und Unbeschwertheit einer von Zwängen der Ethnie, der Nation, der Religiosität befreiten Welt findet Stanišić jedoch nicht im deutschen Alltag, sondern in der Welt der Fremdlinge an der Aral-Tankstelle, welche sich zum Melting Pot schlechthin erhebt, dem einstigen jugoslawischen Hort der Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Freiheit gleich: Jugoslawien, das waren die Guten. […] In der jugoslawischen Erzählung ziehen alle an einem Strang und sind gleichberechtigt, unabhängig vom Alter, Geschlecht, Beruf oder von der ethnischen Zugehörigkeit. Alle Probleme kamen mit dem Versprechen einher, man könne sie lösen, falls man gemeinsam anpackte.“ (S.-92) Die Fahne des humanen Internationalismus schwingend hallen die von der Großmutter oftmals gesummten Verse der Internationale als Hymne der Aral- 146 Jasmina Đonlagić Smailbegović <?page no="147"?> 5 Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. München 1960, S.-500. Crew Stanišićs, des Mosaiks andersartiger Individuen, Lebens-, Leidenswege und kultureller Hintergründe, welches zum Bild der Einheit in Vielfalt, der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit erwächst. Die durch Spaltung und Vorurteile an den gesellschaftlichen Rand geschobenen Fremden zeigen ihren Triumph von Ambivalenzen, Widersprüchen, Gegenteilen, Vielfalt und Andersartigkeiten. Sie überschreiten den Rahmen ihrer ethnischen Herkunft, des Nationalstaatli‐ chen und schreiten in eine transnationale Ebene, innerhalb welcher mittels Akzeptanz, Mitgefühl, Offenheit und Toleranz sich gerade aus den Gegensätzen das Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl entfaltet: „Mein Wider‐ streben gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören. Kleinsten gemeinsamen Nenner finden: genügte.“ (S. 222) Stanišićs Emmerts‐ grunder Crew ist ein Vielvölkerstaat im Kleinen, ein europäischer Mikrokosmos, welcher wegweisende Ausblicke bietet für eine multiklturelle Gesellschaft, für das Zusammenleben und Verschmelzen verschiedener Kulturen, was Mit‐ einander propagiert anstelle des Nebeneinanders: „Die ARAL Tankstelle war Heidelbergs innere Schweiz. Neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war. Multikultureller Faustdialog fand jedenfalls kaum statt.“ Wie Grillparzer einst in seinen Versen „Der Weg der neuen Bildung geht/ Von Humanität/ Durch Nationalität/ Zur Bestialität“ 5 den Appell an den gesunden Menschenverstand richtete und die ganze Tragödie des 19. Jahrhunderts um‐ riss, macht Stanišić zweifellos klar, dass durch die sich immer wiederholende Geschichte von Hass und Kriegen auf europäischem Boden immer wieder bezeugt wurde, dass die Idee vom ewigen Frieden brüchig sei und dass jede multikulturelle Gemeinschaft vor den Bestialitäten des entfachten und nicht gestillten Nationalismus gescheitert sei: „Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potenzial des Nationalismus nicht länger stand. […] Die neuen Stimmen volkstümelten verlogen und verroht. Ihre Manifeste lesen sich wie Anleitungen zum Völkerhass. […] Das eigene Volk als Opfer. […] Behauptung wahlweise rassischer, religiöser oder moralischer Überlegenheit zur Legitimie‐ rung territorialer Begehrlichkeiten.“ (S.-98f.) Gelöst aus dem zeitlichen Kontext ihrer Entstehung sollte man die Gedanken Grillparzers als Wegweiser auffassen und Appell, die Geschichte nicht zu ignorieren und gegenüber den nationalen Bestrebungen nicht indifferent zu bleiben. Der tschechische Historiker Frantisek Palacky knüpft an Grillparzers Gedanken an: Was dem XVI. und XVII. Jahrhundert die kirchliche und religiöse Idee war, das ist für unsere Zeit das Princip der Nationalität. […] Alle die Länder und Personen, besonders Einheit in Vielfalt 147 <?page no="148"?> 6 Über Centralisation und nationale Gleichberechtigung in Österreich, Národní Noviny vom 23. Dezember 1849. In: Frantisek Palacky: Österreichs Staatsidee. Prag 1866, S. 89f., zit. nach URL: http: / / www.celtoslavica.de/ bibliothek/ national19.html#fn0 (zuletzt ab‐ gerufen am 5. März 2024). 7 Vgl. Gert Theile: Verteufelte Humanität. In: Weltbürgertum und Globalisierung. Hrsg. von Norbert Bolz, Friedrich Kittler und Raimar Zons. München 2000, S.-29-41. in Österreich, die heute noch in nationaler Beziehung indifferent oder apathisch sind, werden es nach zehn oder nach zwanzig oder nach dreißig Jahren nicht mehr sein, und so erlangen Motive im Staatsleben, die sich auf Nationalitätsverhältnisse gründen und Vielen jetzt noch unbedeutend zu sein scheinen, eine immer durchgreifendere Wichtigkeit. Ein jeder Regierungsmann, der die Wahrheit dieses Satzes sich verhehlen oder gar in Abrede stellen möchte, würde sich einer verhängnisvollen Täuschung hingeben; thöricht wäre auch jedwedes Eindämmen dieser Strömung der Zeit, und alle menschlichen Erfindungen und Gegenmittel gegen denselben hätten wohl keine andere Wirkung, als das Blasen gegen den Wind, durch das seine Richtung weder abgewandt noch geändert werden kann.“ 6 Durch Überlegungen um Integration, Zusammenleben, Solidarität im europä‐ isch diversifizierten Raum stellt der Roman Herkunft einen profunden und konstruktiven Beitrag zum Europadiskurs dar und lässt sich in die deutsche Tradition der literarischen Auseinandersetzung mit der Idee von Europa seit der Klassik bis heute einreihen und deutet diese auf der Grundlage des Ge‐ meinsamen als eine übergeordnete geistige Einheit. Der Erzähler plädiert für ein Europa im Sinne einer gemeinsamen Bürgerschaft, das auf Toleranz und Menschlichkeit beruht, sich über jede Nation, Klasse und Konfession stellt. Die europäische Gemeinschaft sei demnach aufzufassen als eine universale Gemeinschaft von toleranten Menschen, von sich überall heimisch fühlenden und nach allen Richtungen offenen Weltbürgern. Wie für Goethe gilt für Stanišić „Jedes Zuhause ist ein zufälliges. Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft.“ (S. 123) Des Weiteren integriert Stanišić wie Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann ein auf Liebe und Mitgefühl beruhendes Europabild und definiert als bestimmend den menschlichen Verkehr untereinander, getragen von Liebe und Wohlwollen unter dem schützenden Dach des Humanen, denn dies sei eine heitere Schick‐ salsergebenheit des Europäertums. 7 Diesem Gedanken folgend markiert der autobiographische Erzähler des Romans die Liebe zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln, die Liebe zu Freundinnen und Freunden, Liebe zu Tieren, zu aller Natur, zu materiellen und ideellen Dingen, zum Leben und zur Welt überhaupt als tragende Säule der Gesellschaft. Eine vorurteilsfreie Liebe zum Menschen und allem, was ihn umgibt, bildet als praktische Umsetzung der 148 Jasmina Đonlagić Smailbegović <?page no="149"?> 8 Vgl. URL: https: / / www.zeit.de/ 1948/ 46/ der-deutsche-europa-gedanke (zuletzt abge‐ rufen am 26. Februar 2024). 9 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VI.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Darmstadt 1983, S.-191-251, hier S.-196. 10 Ebd., S.-197. 11 Vgl.Immanuel Kant: Der universelle Frieden [Zitate aus Zum ewigen Frieden]. In: Die Europaidee im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. von Rotraud von Kulessa und Catriona Seth. Cambridge 2017, S.-18-20. 12 Vgl. Martin Honecker: Liebe und Vernunft. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 1971, S.-227-228. Humanität der aufklärerische Freiheits- und Toleranzgedanke, den Stanišić ver‐ tritt. In seinen Reflexionen befeuert er die Liebe als Voraussetzung für Toleranz, weil sie Respekt, Akzeptanz und Anerkennung mit sich bringt und greift damit den humanitären Toleranzgedanken Lessings auf, nach welchem Toleranz und Liebe sich in Krisenzeiten als moralische Verpflichtung und soziale, rechtliche, politische Notwendigkeit gelten, denn nur durch Tugenden wie diese wird der Frieden gesichert und der Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens überwunden. Toleranz ist nicht gleichbedeutend Nachgeben, Herablassung oder Nachsicht. Vielmehr ist es eine aktive Einstellung, die sich auf Anerkennung, Menschenrechte und Grundfreiheiten anderer stützt. Sie muss von Gruppen und von Staaten praktiziert werden und ist der Schlussstein, der die Menschenrechte, den Pluralismus und die Demokratie sichert. Liebe allein reicht jedoch für den Erzähler nicht aus, sondern soll durch das Gebot des gesunden Menschenver‐ standes ergänzt werden, denn nur so komme man aus dem gesetzlosen Zustand des Krieges heraus. Davon träumte Immanuel Kant, als er bereits seinerzeit Themen ansprach, über welche heute mehr denn je diskutiert wird. 8 Stanišić folgt vollkommen dem Gedankenstrang Kants vom universellen Frieden, der sich auf die Gegenwart übertragen lässt. Demnach gilt: „Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem anderen Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können.“ 9 Denn ein Staat „ist eine Gesellschaft von Menschen, über die Niemand anders“ 10 stehe als er selbst und Vernunft sei die höchste moralisch gesetzgebende Gewalt, die den Friedenszustand zur unmittelbaren Pflicht mache. 11 Die durch Liebe erleuchtete Vernunft, die einen Weltzustand herstellt, heißt Frieden. 12 Die ‚Aral-Zeit‘ entfaltet sich zum Element der Stabilität und Sicherheit in Zeiten der Ankerlosigkeit. Sie wird in Reflexionen und Rückblendungen als Kontrast zu den nationalistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen in Politik und Gesellschaft Deutschlands von den 1990er Jahren bis heute skiz‐ ziert. Die Fluchterfahrungen und Kindheitserinnerungen bieten Denkanstöße Einheit in Vielfalt 149 <?page no="150"?> bezüglich Ausgrenzung und Integration von Flüchtlingen und Migranten in Deutschland; aus ihnen lassen sich Anregungen zum Diskurs um und über Europa im Kontext des Erhalts, der Bewahrung ihrer Leitideen ableiten, der Suche nach dem gemeinsamen Nenner und der Vertiefung des Zusammengehö‐ rigkeitsgefühls. Stanišićs Kleinjugoslawien inmitten des deutschen Heidelbergs ist geistig angehaucht von deutschsprachigen Schriftstellern wie Kafka, Hesse und Fallada, deren literarisches Oeuvre als Plädoyer gegen Antisemitismus und Nationalismus ausgelegt werden kann, als ethischer Widerstand und morali‐ scher Appell gegen Allmachtsphantasien, Blutvergießen und Unterdrückung, für Freiheit, Weltoffenheit, Kameradschaft und Selbstfindung. Durch seine literarischen Vorbilder lernt Stanišić die Welt der isolierten Außenseiter kennen, die die als fremd empfundene rätselhafte Existenz zu überwinden versuchen und auf diesem Wege sich der ungeheuren Bedeutung des Mitmenschentums bewusst werden. In seiner Wertschätzung des Gedankens der Mitmenschlichkeit und dem Glauben an das ursprünglich Gute der Welt, welcher in eine Vision von brüderlicher Gemeinschaft mündet, die keinen ausschließt und die Welt mit Freude erfüllt, das Leben in der höchsten menschlichen Freiheit und in seiner Verantwortung zur Humanität erhebt, wird Stanišić durch seine literarischen Vorbilder bekräftigt. Von ihnen übernimmt der Autor den Glauben an eine globale universale Wertegemeinschaft und den Melting Pot von Nationen, Kulturen, konfessionellen Zugehörigkeiten als ein Ganzes, welches mehr als nur die Summe seiner Teile sei. Stanišićs Erfahrungen von Flucht und Vertrei‐ bung apostrophieren die Notwendigkeit einer Überwindung aller lähmenden konfessionellen Differenzen, denn diese haben sich aus den Erfahrungen der Kriege im ehemaligen Jugoslawien als besonders hohes Konfliktpotenzial er‐ wiesen. Er erklärt die religiöse Toleranz und die Bedeutung des interreligiösen Dialogs in der Gestaltung der gemeinsamen Werte und der Überbrückung von gesellschaftlichen Spaltungen.: „Ich hatte keinen Religionsunterricht. Niemand, der mir nah war, praktizierte irgendeinen Glauben offen. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, wie sie der Geist der geistlosen Zustände ist.“ (S. 120) Die Welt der Familie Stanišić repräsentiert den reinsten Friedens‐ gedanken, der Ausdruck des gesunden Menschenverstandes ist als Pfeiler jedes friedlichen Vielvölkerbundes. Der Frieden und der Dialog zwischen Akteuren - das ist Stanišićs Europabild. Es ist kein politisches Programm und auch kein ausgearbeitetes Ideensystem, sondern es ist Ausdruck und Bilanz einer gelebten Erfahrung von Krieg, Flucht und Rettung. Was Hofmannsthal in seiner Europaidee darlegt, lässt sich auch aus Stanišićs Herkunft herauslesen: Europa als spiritueller und transzendentaler Ort, den Realitäten übergeschichteter geistiger Begriff. Es ist ein übergeordnetes gemeinsames Haus für ein heiliges 150 Jasmina Đonlagić Smailbegović <?page no="151"?> 13 Vgl. Dalberg: Hugo von Hofmannsthals „Idee Europa“. 14 Voltaire: Essay über die Sitten und den Geist der Nationen (1756). Zit. nach Abdruck von Auszügen in: Kulessa: Europaidee, S.-36f. Gut. 13 Die Welt der Araltankstelle ist ein idealisiertes Spiegelbild Europas und stellt eine klare Forderung an seine Völker: anstatt feindlich nebeneinander zu existieren zu einer höheren Einheit zusammenzufinden. Die Vision eines höheren Ganzen im ewigen Frieden ist bereits seit dem 18. Jahrhundert das tragende Element der europäischen Plädoyers, in deren Rahmen man sich auf die Möglichkeiten einer europäischen Einigung zur Sicherung des Friedens besann. Diese Ansätze werden bis heute immer weiter ergänzt und erdacht, behalten jedoch im Kern die Idee des universellen Friedens und einer klassischhumanistischen Toleranzkultur, denn „[i]n welch blühendem Zustand befände sich wohl Europa ohne die ständigen Kriege, die es um oberflächliche Interessen willen und häufig aus kleinen Launen heraus erschüttern! […] Es ist ein Übel, und in Wahrheit ein äußerst bedauerliches, […]“. 14 Einheit in Vielfalt 151 <?page no="152"?> Passagen herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje Die am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes herausgegebene Reihe eröffnet Perspektiven auf die deutsche Literatur im europäischen Kontext. Weil das literarische Kunstwerk im Dialog mit literarischen Texten anderer kultureller Überlieferungen entsteht, tragen intertextuelle, komparatistische sowie kulturvergleichende Studien wesentlich zu einem vertieften wissenschaftlichen Verständnis des Wechselspiels der Literaturen und literarischen Traditionen bei. In diesem Sinne befragen die Sammelbände und Monographien der Reihe die Literaturen Deutschlands auf ihren Bezug auf andere europäische Literaturen. Bisher sind erschienen: Band 1 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne 2017, 214 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-7720-8606-9 Band 2 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Grenze als Erfahrung und Diskurs Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen 2018, 227 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8638-0 Band 3 Hermann Gätje / Sikander Singh Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler 2018, 186 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8658-8 Band 4 Ralf Georg Bogner / Sikander Singh (Hrsg.) Theobald Hocks Schönes Blumenfeldt (1601) Texte und Kontexte 2019, 490 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8678-6 Band 5 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert 2020, 178 Seiten €[D] 69,90 ISBN 978-3-7720-8703-5 Band 6 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Identitätskonzepte in der Literatur 2021, 329 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8722-6 Band 7 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) 1870/ 71 - Literatur und Krieg 2022, 162 Seiten €[D] 59,90 ISBN 978-3-7720-8754-7 Band 8 Hermann Gätje Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel 2023, 308 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-381-10361-4 <?page no="153"?> Band 9 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts 2024, 151 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8794-3 <?page no="154"?> ISBN 978-3-7720-8794-3 In der vergangenen Dekade war die Idee der europäischen Integration zunehmender Kritik ausgesetzt. Nationalistische Bestrebungen haben in den meisten Ländern der Europäischen Union an Akzeptanz gewonnen, was sich schließlich im Austritt eines der großen Staaten, dem Vereinigten Königreich (2016/ 20), manifestierte. Der Band erkundet Möglichkeiten und Bedingungen des Diskurses über Europa in der Literatur der letzten Jahre. Ein Augenmerk liegt dabei auf divergenten Perspektiven: Literarische Texte spiegeln unterschiedliche Europa- Erfahrungen. Es finden sich Verarbeitungen unmittelbarer Erlebnisse von Menschen, die aus Regionen an Grenzen stammen und deren tägliches Leben dadurch von der europäischen Politik bestimmt ist. Auf einer anderen Ebene thematisieren Texte zunehmend Migrationserfahrungen von Menschen, die innerhalb Europas ihre Lebensorte wechseln oder nach Europa flüchten. PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT www.narr.de