Sprachliche Bildung
0313
2023
978-3-8233-9265-1
978-3-8233-8265-2
Gunter Narr Verlag
Elvira Topalovic
Julia Settinieri
10.24053/9783823392651
Spracherfahrungen, die Kinder vor der Schule machen, werden in den Bildungsstandards als Ausgangspunkt für die schulische Sprachbildung verstanden - und das gilt auch für die späteren schulbiographischen Übergänge. Zum Professionswissen von Lehrkräften gehört es daher auch, linguistisch, spracherwerbstheoretisch, didaktisch und methodisch fundiert mit folgenden Fragen umgehen zu können: Wie werden Sprachen erworben und wie entwickeln sich Sprachhandlungsfähigkeiten weiter? Wie können die Sprach(en)repertoires von Lernenden modelliert werden? Wie kann eine durchgängige Sprachbildung von der Primar- bis hin zur Oberstufe gestaltet werden? Und schließlich: Wie können die sprachlichen Entwicklungs- und Bildungsprozesse analysiert und beim sprachlichen und fachlichen Lernen in einem adaptiven Unterricht unterstützt werden? Dieser Band vermittelt (angehenden) Lehrkräften Hintergrundwissen und Handlungssicherheit für das Gestalten sprachlicher Bildungsprozesse in Schule und Unterricht.
ISBN 978-3-8233-8265-2 LinguS 8 www.narr.de Spracherfahrungen, die Kinder vor der Schule machen, werden in den Bildungsstandards als Ausgangspunkt für die schulische Sprachbildung verstanden - und das gilt auch für die späteren schulbiographischen Übergänge. Zum Professionswissen von Lehrkräften gehört es daher auch, linguistisch, spracherwerbstheoretisch, didaktisch und methodisch fundiert mit folgenden Fragen umgehen zu können: Wie werden Sprachen erworben und wie entwickeln sich Sprachhandlungsfähigkeiten weiter? Wie können die Sprach(en)repertoires von Lernenden modelliert werden? Wie kann eine durchgängige Sprachbildung von der Primarbis hin zur Oberstufe gestaltet werden? Und schließlich: Wie können die sprachlichen Entwicklungs- und Bildungsprozesse analysiert und beim sprachlichen und fachlichen Lernen in einem adaptiven Unterricht unterstützt werden? Dieser Band vermittelt (angehenden) Lehrkräften Hintergrundwissen und Handlungssicherheit für das Gestalten sprachlicher Bildungsprozesse in Schule und Unterricht. Sprachliche Bildung LinguS 8 Sprachliche Bildung LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis Sprachliche Bildung LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis Herausgegeben von Sandra Döring und Peter Gallmann LinguS 8 Elvira Topalović / Julia Settinieri Sprachliche Bildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823392651 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2566-8293 ISBN 978-3-8233-8265-2 (Print) ISBN 978-3-8233-9265-1 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0495-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Sprache(n) erwerben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Erwerbstypen: L1, L2 … - Erstsprache, Zweitsprache … . . . . . 16 2.2 Statt Semilingualismus: Emergenter Spracherwerb . . . . . . . . . . 19 2.3 Spracherwerb: Von Theorien und Lernersprachen . . . . . . . . . . 22 2.4 Erwerbssequenzen und Meilensteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.1 Innere und äußere Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.2 Konzeptionelle Mündlichkeit/ Konzeptionelle Schriftlichkeit . . 40 3.3 Orat und literat: Spracherwerb als Sprachausbau . . . . . . . . . . . . 43 3.4 BICS und CALP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.5 Alltagssprache - Bildungssprache - Fachsprache . . . . . . . . . . . 48 3.6 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.7 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4 Durchgängige Sprachbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.1 Vertikale und horizontale Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4.2 Gelingensbedingungen und Qualitätskriterien . . . . . . . . . . . . . 60 4.3 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5 Sprachliches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5.1 In der Zone der nächsten Entwicklung lernen . . . . . . . . . . . . . . 69 5.2 Sprach(en)bewusstheit entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5.3 Über Sprache(n) sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 5.4 Mehrsprachig (vor)lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6 Inhalt 6 Fachliches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6.1 Scaffolding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.1.2 Planungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 6.1.3 Unterrichtsphasierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 6.2 Unterrichtsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 6.3 Unterrichtsinteraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 6.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 7 Sprachentwicklung analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 7.1 Zielsetzungen und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 7.2 Sprachdiagnostische Grundverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 7.2.1 Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 7.2.2 Profilanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 7.2.3 Sprachdiagnostische Verfahren im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . 112 7.3 Lernersprachenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 7.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 7.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 7.6 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Lösungshinweise zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Kapitel 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Kapitel 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Kapitel 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1 Einleitung Die Frage, was genau sprachliche Bildung bedeutet, ist nicht leicht zu beantworten. In manchen Einführungen wird sprachliche Bildung von literarischer und medialer Bildung (im weiteren Sinne auch digitaler Bildung) unterschieden. Damit werden die Bereiche Sprache, Literatur und Medien - und die wissenschaftlichen Teildisziplinen Sprachdidaktik, Literaturdidaktik und Mediendidaktik - in ihrer Besonderheit gestärkt (vgl. Frederking/ Krommer/ Maiwald 2018). Ihre Schnittstellen treten zunächst in den Hintergrund. Zuweilen wird sprachliche Bildung auch mit dem Erwerb von Bildungssprache gleichgesetzt und beide - je nach wissenschaftlicher (Teil-)Disziplin oder Forschungsdiskurs - mit dem Erwerb konzeptioneller Schriftlichkeit, literater Sprachstrukturen, von Cognitive Academic Language Proficiency (= CALP) oder sprachlich-kulturellem Kapital (→ 3). Allen gemeinsam ist, dass sie jeweils sprachliche Ausbauprozesse bzw. Sprachhandlungsfähigkeiten in den Blick nehmen, die in der Schule in besonderem Maße initiiert, begleitet und unterstützt werden sollen. Unabhängig von der gewählten Definition sind zwei Schlagwörter grundlegend: einerseits Sprache und damit ein für die Gattung Mensch spezifisches Kommunikationssystem, das Kinder in kulturellen Rahmungen erwerben, und andererseits Bildung, die in literalen Gesellschaften nicht nur in Familien, sondern auch institutionell in Bildungseinrichtungen erworben wird - von der Kita bis hin zu Berufskolleg oder Universität, letztlich jedoch ein Leben lang. Eine sowohl kulturals auch - im aktuellen bildungspolitischen Diskurs - kompetenzorientierte Definition von Bildung bieten Kilian/ Brouër/ Lüttenberg (2016, XI) an: „Unter Bildung wird Konstruktion, Konstitution und Transfer kulturell geprägten Wissens und Könnens verstanden […]. Dabei umfasst die Begriffsbedeutung sowohl den Prozess als auch das Produkt dieser Wissensformung und -übergabe.“ Was sprachliche Bildung an sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten implizieren kann, wird über die sprachlichen Grundfertigkeiten deutlich: 1. (Zu)hören 2. Sprechen 3. Schreiben 4. Lesen 1 Einleitung 8 Erweitert um die Inklusionsperspektive könnten ergänzt werden: 5. Gebärden 6. Gebärden verstehen Unterteilen kann man die sechs Grundfertigkeiten auch in a) rezeptive (verstehende) Sprachfähigkeiten und b) produktive (handelnde) Sprachfähigkeiten. Sie gelten für jede Sprache und finden sich auch in den Bildungsstandards von der Primarstufe bis zur Allgemeinen Hochschulreife. Die Fähigkeit zu bestimmten Sprachhandlungen brauchen Lernende im Unterricht aller Fächer. Hier kommen Sprachhandlungen vor wie: ERZÄHLEN , BESCHREIBEN , ER- KLÄREN , ARGUMENTIEREN , ERÖRTERN . Sie erscheinen in Aufgabenstellungen häufig als Handlungsanweisungen (Operatoren). 1 Eine Fähigkeit, die sich auf den ersten Blick nicht aus den Grundfertigkeiten ableiten lässt, ist die Sprachbewusstheit bzw. Sprach(en)bewusstheit. Sie ist explizit das Ziel des Lernbereichs „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ und wird häufig mit Schlagwörtern verbunden wie Sprachreflexion, Sprachaufmerksamkeit oder Language Awareness. „Sprachbewusstheit zielt darauf ab, das menschliche Sprachvermögen besser zu verstehen, seine Rolle beim Denken, Lernen und im sozialen Leben zu begreifen, sich der Macht und Kontrolle durch Sprache bewusst zu werden und die verwickelten Beziehungen zwischen Sprache und Kultur zu erkennen. Es kommt darauf an, dass Schüler Sprache als einen lebendigen Teil ihres eigenen Menschseins erleben, verstehen und kritisch begleiten und so sich selbst und andere besser verstehen lernen.“ (Steinig/ Huneke 2011, 184) Streng genommen ist sie jedoch - zumal in einem integrativen Deutschunterricht - Ziel aller Lernbereiche des Deutschunterrichts. Sprachbewusstheit ist aber nicht nur im Fach Deutsch, sondern in allen schulischen Fächern von großer Bedeutung. Denn fachliches Lernen ist immer auch sprachliches Lernen. Mehr noch: Sprachfähigkeiten entscheiden mit über den Erwerb fachlicher Fähigkeiten, z.-B. im Fach Mathematik (vgl. Prediger et al. 2013). Zu beachten ist, dass auch das Fach Deutsch natürlich ein „Fach“ ist und hier also in besonderer Weise sprachliches und fachliches Lernen zusammenfallen (z.-B. bei grammatischer Terminologie oder literarischen Gattungen). 1 Isler/ Wiesner/ Künzli (2016, 4) zeigen anhand der Sprachhandlung BESCHREIBEN , dass „Formen eines ‚schulnahen‘ Sprachgebrauchs“ bereits im Kindergarten erworben werden können. 9 Der Erwerb von Sprache wird häufig mit dem Erwerb und dem Zusammenhang von zwei sprachlichen Bereichen verknüpft: Wortschatz und Grammatik (vgl. z.- B. Szagun 2013). Beiden wird nicht selten auch eine besondere Rolle im Deutschunterricht zugewiesen. Gesprochen wird dann von „Wortschatzarbeit“ und „Grammatikarbeit“. Gleichwohl wird ihre Vernetzung gefordert. Da sie „sprachfördernde Funktionen“ haben, sollten sie „nicht zum Selbstzweck unterrichtet werden“ (Oomen-Welke/ Kühn 2011, 140). Wir erwerben allerdings nicht nur Sprachsysteme, die rein linguistisch beschrieben werden können (z.- B. auf der Ebene der Morphologie, Syntax oder Semantik). Wir wachsen sprachlich auch in eine Welt hinein, ein soziales Umfeld, in dem bestimmte Werte und Normen gelten. Und diese beeinflussen unser Wahrnehmen und Fühlen, unser Denken und Handeln, unsere eigenen Werthaltungen und Einstellungen. Spracherwerb ist also immer auch der Erwerb einer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft, einer Gruppe und damit auch der Erwerb von Kultur und Identität. Oder anders gesagt: Kinder erwerben Sprache über verschiedene (interaktive) Formate, die immer „in eine kulturelle Matrix“ (Bruner 2002, 102) eingebunden sind. Sprache(n) zu erwerben, bedeutet also immer auch, Kultur(en) zu erwerben. In mehrsprachigen Gesellschaften sind die sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeiten selbstredend komplex. Zu Mehrsprachigkeit kommt es unter anderem durch das Miteinander von Dialekt, Umgangssprache und Standardsprache, aber auch von Fremd- und Migrationssprachen. In der Migrationspädagogik wird entsprechend vermehrt von „Transnationalem“, von „Mehrfachzugehörigkeiten“, von „Hybridität“ gesprochen (vgl. z.-B. Castro Varela/ Mecheril 2010, 51 ff.). Auch Identitäten sind dann hybrid bzw. fluid zu denken. Sprachliche Bildungsprozesse erfassen im Idealfall die Gesamtheit der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die einem Individuum zur Verfügung stehen, d.-h. sein gesamtes Sprach(en)repertoire. Wir werden die sprachliche Bildung begrifflich weit fassen und auch „ästhetische Zugänge zu sprachlicher Bildung“ (Steinbrenner 2018, 15) thematisieren. Die eingangs formulierte künstliche Trennung von Sprache, Literatur und Medien wird damit wieder aufgehoben. In den Blick genommen werden dann sowohl die Literalität, die Wissen über Schrift(kulturen) und damit über Lese- und Schreibkultur(en) meint, als auch die Literarität - im Sinne von Erfahrungen mit literarischen Stoffen und Motiven. Mit anderen Worten: Literacy. Wird Literacy weiter ausdifferenziert, dann können nach Kümmerling-Meibauer (2012) unterschieden werden: 1 Einleitung 1 Einleitung 10 1. Verbal Literacy (Sprache) 2. Visual Literacy (Bilder, Symbole) 3. Literary Literacy (Literatur) 4. Media Literacy (Printmedien/ AV-Medien) Erweitert um die Digitalkultur kann auch von 5. Digital Literacy gesprochen werden. Nun kann Literacy gleich in mehreren Sprachen (d.- h. multilingual) und mehreren Modi ausgebildet werden, d.- h. „with linguistic, visual, audio, gestural and spatials modes of meaning […] in everyday media and cultural practices“ (Cope/ Kalantzis 2009, 166) (vgl. Kasten). Entsprechend wird auch von Multiliteracies oder Multiliteralität und Multiliterarität gesprochen. Multilingual meint die Integration mehrerer Sprachen (lat. lingua ‚Zunge‘). Multimedial meint die Integration mehrerer Medien (analoger/ digitaler Speichermedien u.-a.), z.-B. Buch, Film und Hörbuch. Multicodal meint die Integration mehrerer Codes (Zeichen-/ Symbolsysteme), z.- B. Gesten und Lautsprache oder (Schrift-)Text und Bild. Multimodal meint die Integration mehrerer Modi (Sinne), z.-B. des visuellen (Sehen) und auditiven (Hören) Sinns. Multimodal wird häufig auch als Oberbegriff für multicodal und multimodal gebraucht und umfasst dann mehrere Codes und Modi (zur Abgrenzung u.-a. von Multimodalität und Multicodalität vgl. z.-B. Weidenmann 2002). Um die (sub)kulturelle, sozial-situative und diskursiv-interaktionale Geprägtheit sprachlicher Bildungsprozesse, aber auch ihre Mehrdimensionalität, Mehrsprachigkeit und Multimodalität zu verdeutlichen, wollen wir das IALT- Sprachmodell nutzen. 2 Es orientiert sich sprachtheoretisch an Martin/ Rose (2008) und steht für das sprachliche Konzept von EUCIM-TE (=-European Core Curriculum for Mainstreamed Second Language Teacher Education). Im Rahmen dieses multilateralen Comenius-Projekts wurde das European Core Curriculum for Inclusive Academic Language Teaching (=-ECC IALT) entwickelt, das sprachliches und fachliches Lernen in Zweitsprachen miteinander verbindet (vgl. 2 Das IALT-Sprachmodell wird auch in Fortbildungen für Lehrkräfte und Multiplikator: innen genutzt, u.-a. bei „BikUS“ (= Berater_in für interkulturelle Unterrichts- und Schulentwicklung NRW). 11 EUCIM-TE 2011). Wir haben das IALT-Sprachmodell weiter ausdifferenziert und adaptiert (= AA-IALT-Sprachmodell). Dabei haben wir auch das Fünf- Ebenen-Modell von Rose (2018) mit einbezogen. Die in Klammern gesetzten Pluralformen sollen sowohl die Dynamik als auch die Variabilität (z.-B. in der begrifflichen Weite) symbolisieren: So kann der Kulturkontext weiter gefasst werden (z.- B. regional, national, gesamtgesellschaftlich), aber auch enger; er bezieht sich dann z.-B. auf Schul-, Fach- und Unterrichtskultur(en). Das AA-IALT-Sprachmodell ist ausdifferenziert, weil es Ansätze verschiedener Wissenschaftsdisziplinen miteinander verbindet. Dazu gehören neben der systemisch-funktionalen Linguistik (SFL) die ethnomethodologische Konversationsanalyse, die Psycholinguistik, die Varietätenlinguistik, die Text- und Gesprächslinguistik, aber auch die Literacy-Forschung und die Mehrsprachigkeits- Abb. 1: Ausdifferenziertes und adaptiertes IALT-Sprachmodell (=-AA-IALT-Sprachmodell) 1 Einleitung 1 Einleitung 12 forschung und -didaktik. Darüber hinaus bezieht das Modell die Multimodalität von Kommunikation mit ein (z.-B. Text-Bild-Relationen verstehen; Gestik und Lautsprache gebrauchen). Und es berücksichtigt die Sprach(en)repertoires der Lernenden, die in der Schule weiterentwickelt werden. Das AA-IALT-Sprachmodell ist adaptiert, weil es in Anlehnung an Rose (2018) alle linguistischen bzw. (schrift)sprachlichen Ebenen aufnimmt, bis hin zur Graphematik und Gebärden. Es beschränkt sich also nicht wie das IALT-Modell vor allem auf die Bereiche Grammatik und Wortschatz (vgl. EUCIM-TE 2011, 14; Quehl/ Trapp 2015, 24). Und darüber hinaus: Wir sehen das Modell als grundlegend für jeden sprachlichen Erwerb (Erstspracherwerb, Zweitspracherwerb usw.) und für Sprachbildungsprozesse in allen Schulfächern an. Gemeint sind dann z.-B. sowohl naturwissenschaftliche Fächer als auch alle sprachlichen Fächer - ganz im Sinne eines Gesamtsprachencurriculums (vgl. Hufeisen/ Topalović 2018). Auf die jeweiligen Ebenen des AA-IALT-Sprachmodells werden wir in den jeweiligen Kapiteln zurückgreifen. Die verschiedenen Perspektiven auf Sprache schließen sich dabei nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Wenn es z.-B. um die Unterscheidung von Alltags-, Bildungs- und Fachsprache geht (→ 3.5), thematisieren wir bei den Varietäten den Register-Begriff von Halliday (1985), aber auch die „bildungssprachlichen Praktiken“ nach Morek/ Heller (2019). Die multimodalen Literacy-Erfahrungen, die Kinder vor der Schule in Familie und Kita machen, werden in den Bildungsstandards und Lehrplänen für das Fach Deutsch als „Ansatzpunkte für die weitere systematische Anbahnung bildungssprachlicher Kompetenzen im Sinne einer durchgängigen Sprachbildung“ (NRW-Lehrplan 2021, 11) verstanden. Zum Professionswissen von (angehenden) Lehrkräften gehört entsprechend auch linguistisches, spracherwerbstheoretisches, didaktisches und methodisches Wissen, das in den folgenden Kapiteln dargelegt wird: ▶ Kapitel 2 beschreibt, wie Sprachen erworben und weiterentwickelt werden. Der Schwerpunkt liegt auf theoretischen und empirischen Ergebnissen, die von schulischer Relevanz sind. ▶ Kapitel 3 zeigt, wie die Sprach(en)repertoires der Lernenden modelliert werden können. Es führt Modelle unterschiedlicher Forschungstraditionen zusammen, die die gesamte Bandbreite an mündlichen und schriftlichen Sprach(handlungs)fähigkeiten abzubilden versuchen. ▶ Kapitel 4 ist der durchgängigen Sprachbildung gewidmet. Der kontinuierliche Sprachausbau - insbesondere auch in schulischen Kontexten - wird 13 dabei als Selbstverständlichkeit verstanden, gültig für alle Menschen mit all ihren Sprachen und Sprachvarietäten. ▶ Kapitel 5 zeigt Möglichkeiten, wie Lernende in einem integrativ-inklusiven Deutschunterricht ihre Sprach(en)repertoires für sprachliches und literarisches Lernen nutzen können. Ein Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Sprach(en)bewusstheit. ▶ Kapitel 6 setzt den Fokus auf sprachliches und fachliches Lernen und stellt verschiedene Konzepte und Methoden für sprachbildenden Fachunterricht vor, z.-B. Planungsrahmen innerhalb von Scaffolding-Konzepten. ▶ Kapitel 7 beschreibt ausgewählte Verfahren, mit denen Sprachdaten von Lernenden analysiert und Sprachstände informell und standardisiert erhoben werden können. Wir wollen in allen Kapiteln - wann immer möglich - auf aktuelle empirische Studien zurückgreifen. Sie werden (angehenden) Lehrkräften die nötige Handlungssicherheit geben, wenn es um umfassende sprachliche Bildung in Schule und Unterricht geht - auch im Sinne von Wissen, Können und Einstellungen. 1 Einleitung 2 Sprache(n) erwerben Wenn wir sprachliche Bildung begrifflich weit fassen, dann beginnt sie bereits in der Familie, setzt sich im Kindergarten fort und wird ausgehend von den vorschulischen Literacy-Erfahrungen in der Grundschule und später in den weiterführenden Schulen weiter ausgebaut. In der Forschungsliteratur wird in diesem Zusammenhang nicht selten zwischen Erwerben und Lernen unterschieden: Erwerben bezieht sich dann prototypisch auf implizite, Lernen auf explizite, genauer: institutionell angeregte, vermittelte Sprachentwicklungsprozesse, oder anders gesagt: auf ungesteuerten Input (Erwerben) im Gegensatz zum gesteuerten Input (Lernen) (vgl. Hufeisen/ Topalović 2018, 18). Die Grenzen erweisen sich trotz einiger Unterschiede - z.- B. beim Lesen- und Schreibenlernen im Gegensatz zum Tempuserwerb (ebd.) - allerdings als fließend. Eindrucksvolle Beispiele kommen aus der Literacybzw. Schriftspracherwerbsforschung. Diese zeigen, dass Erwerbs- und Lernprozesse sowohl vor der Schule als auch in der Schule ablaufen bzw. initiiert und unterstützt werden können. Wenn Eltern z.- B. bewusst bilinguale Kindergärten wählen, um die Zweibzw. Mehrsprachigkeit ihrer Kinder institutionell zu fördern, unterliegt der Input - sicherlich auch mit Blick auf seine Qualität und Quantität - einer bewussten ‚Steuerung‘. Allerdings verfügen hier nicht alle Familien über dieselben Ressourcen. Bildungsangebote hängen vor allem von der Bildung der Eltern ab: „Dies führt zu den bekannten Leistungsunterschieden in den Schulvergleichsuntersuchungen in Abhängigkeit vom Berufsstatus und dem Ausbildungshintergrund der Eltern […].“ (Buhl/ Wiescholek 2016, 53) Oder mit Bourdieu (2012, 69) gesprochen, der mit der (Re)produktion „legitimer Sprachkompetenz“ durch Familie und Bildungssystem auch die Reproduktion der „unterschiedlichen Ausgangslagen“ und damit von Chancenungleichheit in Gesellschaft und Schule erklärt: „Da die Gesetze der Übertragung des sprachlichen Kapitals ein Sonderfall der Gesetze der legitimen Übertragung von kulturellem Kapital von einer Generation zur nächsten sind, kann man davon ausgehen, dass die Sprachkompetenz, die nach schulischen Kriterien bewertet wird, genau wie andere Formen des kulturellen Kapitals vom Bildungsniveau abhängt, das nach Bildungstiteln und sozialem Lebenslauf gemessen wird.“ 2 Sprache(n) erwerben 16 Und wenn bei Lernenden innere Regelbildungsprozesse erkennbar sind, weil sie sprachstrukturelles Wissen erwerben, ohne dass dies von Lehrkräften als explizites Lernziel formuliert worden wäre, dann verschwimmt auch hier der Unterschied zum Lernen. Letzteres hebt Primus (2010, 9) mit den folgenden Worten - hier bezogen auf den Schriftspracherwerb - hervor: „Der Erwerb des Schriftsystems beruht zu einem Großteil auf der impliziten, unbewussten Anwendung von Prinzipien und Problemlösungsstrategien. Er läuft in diesem Sinne eher als unbewusste Entdeckung schriftsprachlicher Prinzipien und Beschränkungen ab und weniger als bewusstes Erlernen orthographischer Regeln. Das bedeutet unter anderem, dass der Erwerbsprozess maßgeblich von den strukturellen Gegebenheiten des Lerngegenstandes geprägt ist.“ Wir wollen in den folgenden Ausführungen einen Schwerpunkt auf jene Aspekte sprachlicher Erwerbsprozesse legen, die mit Blick auf schulische Lehr-Lern- Prozesse, in denen die sprachliche Bildung im Fokus steht, von besonderer Bedeutung sind. Das umfasst unter anderem die kritische Diskussion von Begrifflichkeiten, die einen Einfluss auf Orientierungen, Ein-/ Vorstellungen bzw. Überzeugungen von Lehrkräften haben könnten (vgl. dazu auch die deutschdidaktischen Beiträge in Bräuer/ Wieser (2015) im Teil „Untersuchung von Vorstellungen und Orientierungen von Lehrenden“). Die von Lipowsky (2006) referierten Metaanalysen zeigen, dass neben dem fachlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Wissen die „epistemologischen“ Überzeugungen (sog. beliefs) zu den wirkungsmächtigsten Einflussfaktoren auf erfolgreiche Lernprozesse von Schüler: innen gehören. Sie nehmen „für die Planung, Gestaltung und Wahrnehmung von Unterricht eine wichtige Rolle“ ein (ebd. 54). Metaanalyse = statistisches Verfahren, bei dem Einzelstudien mit vergleichbaren Forschungsfragen zusammengeführt und ausgewertet werden; epistemologisch = auf Wissen bzw. Wissenserwerb bezogen 2.1 Erwerbstypen: L1, L2 … - Erstsprache, Zweitsprache … Je nach Wissenschaftsdisziplin und -tradition haben sich unterschiedliche Bezeichnungen für Erwerbstypen bzw. für Erwerbsreihenfolgen von Sprachen etabliert. Aus der internationalen englischsprachigen Forschung kommen z.-B. L1, L2, L3, 2L1. Sie stehen für language one, language two, language three usw. und 2.1 Erwerbstypen: L1, L2 … - Erstsprache, Zweitsprache … 17 damit für die erste, zweite und alle weiteren Sprachen, die erworben werden, bzw. für den doppelten oder bilingualen Erstspracherwerb (2L1) - in diesem Fall werden zwei oder mehr Sprachen simultan erworben. Gebraucht werden auch die sprachsoziologisch grundierten Bezeichnungen Majoritätssprache/ Minoritätssprache (engl. majority language/ minority language) bzw. Mehrheitssprache/ Minderheitssprache (vgl. Tracy/ Gawlitzek i.V.). Vergleichbar ‚neutral‘ sind auch die analogen deutschsprachigen Bezeichnungen Erstsprache, Zweitsprache und Drittsprache (auch Tertiärsprache, z.-B. DaFnE für Deutsch als Fremdsprache nach Englisch); die Erstsprache wird ab Geburt bzw. genauer: prä- und postnatal natürlich erworben; die Zweitsprache - in der Definition der deutschsprachigen Forschung - wird sukzessive ab dem 3./ 4. Lebensjahr oder später z.-B. im Erwachsenenalter erworben und hat eine hohe soziokulturelle bzw. kommunikative Relevanz (vgl. Ahrenholz 2017). Klein (2001) unterscheidet als prototypische Erwerbstypen a) den monolingualen Erstspracherwerb, b) den ungesteuerten Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter und c) den traditionellen Fremdspracherwerb in der Schule. „Nun sind, wie gesagt, diese drei Formen Extremfälle, zwischen denen es zahlreiche Zwischenstufen gibt - etwa den bilingualen Erstspracherwerb (weltweit gesehen vielleicht sogar der häufigere Fall als der monolinguale Erstspracherwerb), den Zweitspracherwerb im Kindesalter, den Fremdspracherwerb im kommunikativ orientierten, vielleicht gar monolingualen Unterricht, usw. usw. Ein weiterer Grenzfall ist der ‚Wiedererwerb‘ einer Sprache, die einmal gelernt worden war, dann aber mehr oder minder vergessen wurde.“ (Klein 2001, 606) Damit wird auch deutlich, warum einfache Zuschreibungen zu klar abgrenzbaren Erwerbstypen verzerrend sein können - auch mit Blick auf die Variabilität der Sprach(handlungs)fähigkeiten, die Qualität und Quantität des Inputs, die „natürlichen Antriebsfaktoren im Spracherwerb“ (Klein 2001). Und dennoch: Auch in der Deutschdidaktik wird nicht selten von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF) im Gegensatz zu Deutsch als Muttersprache (DaM) gesprochen. Für DaM hat sich mittlerweile auch die Bezeichnung Deutsch als Erstsprache (DaE) etabliert. Mit DaF ist prototypisch der institutionelle Fremdspracherwerb außerhalb eines deutschsprachigen Landes gemeint, z.-B. in Schulen oder Sprachinstituten. Im Gegensatz zu DaF sind die Bezeichnungen DaM und DaZ nicht unumstritten und werden in den letzten Jahren immer kontroverser diskutiert: Bei DaM wird moniert, dass 2 Sprache(n) erwerben 18 die „Mutter“ als sprachliches Vorbild betont wird, obwohl an der Sprachentwicklung viel mehr oder auch (nur) andere Menschen (z.-B. Väter, Geschwister, Großeltern, Erzieher: innen, Lehrkräfte) beteiligt sind (vgl. Ahrenholz 2017). Bei DaZ wird insbesondere in den letzten Jahren dafür sensibilisiert, dass die Bezeichnung aufgrund der statischen Zuordnung zu zwei distinkten Erwerbsgruppen (DaZ vs. DaE) als ausgrenzend oder gar stigmatisierend wahrgenommen werden kann. „Da der Begriff ‚Deutsch als Zweitsprache‘ als Bezeichnung für den persönlichen Sprachbesitz inferiorisierende Effekte für als DaZ-SprecherInnen geltende Personen nach sich ziehen kann, ist er mit Bedacht zu verwenden. Jenseits didaktischer und methodischer Notwendigkeiten der Verwendung des Begriffs ‚Deutsch als Zweitsprache‘ ist Deutsch, unabhängig davon, ob jemand diese Sprache als Erst- oder Zweitsprache verwendet und in jeglicher Perspektive gleichermaßen wertvoll.“ (Dirim 2015, 300) Mehr noch: Solch eine Unterscheidung kann eine polarisierende Sichtweise unter Umständen sogar erst virulent machen. Wenn DaZ vermehrt in Kollokation mit „Sprachförderung“ genutzt wird und „Sprachförderung“ mit „besonderem Sprachförderbedarf “ gleichgesetzt wird, dann wird der Erwerbstyp - der zudem eine hohe Varianz aufweist - generalisierend in erster Linie als defizitär konnotiert (vgl. z.-B. Becker-Mrotzek/ Roth 2017, 17). Er verhindert letztlich auch dynamische sprachlich-kulturelle Zugehörigkeiten und Identitätsbildungen, auch weil Lernende bzw. Jugendliche selbst von ihren Sprach(en)repertoires nicht in Kategorien wie L1, Zweitsprache, DaZ sprechen würden oder aber den wissenschaftlich definierten DaZ-Erwerbstyp sogar als ihre Muttersprache bezeichnen (vgl. z.-B. Hufeisen 2017, 507; Ahrenholz 2017, 4). Eine defizitorientierte und zudem auch eher „ausländerpädagogisch“ beeinflusste Sicht belegen Döll/ Hägi-Mead/ Settinieri (2016) in einer Pilotstudie zur formativen Evaluation des verpflichtenden DaZ-Moduls in allen Lehramtsstudiengängen in Nordrhein- Westfalen. Die Autorinnen warnen zurecht: „Die DaZ-Biografien zeigen, dass viele Studierende erst durch das DaZ-Modul auf die Themen Migration und DaZ aufmerksam werden. Problematisch wäre, wenn im Zuge dessen problem- und defizitorientierte Sichtweisen auf Migration und Mehrsprachigkeit überhaupt erst konstruiert würden.“ (ebd. 213) DaZ „mit Bedacht zu verwenden“, wie es Dirim (2015) fordert, hieße unter anderem, dichotomisierende sprachliche Zuschreibungen wie „DaZ-Kinder“, 2.2 Statt Semilingualismus: Emergenter Spracherwerb 19 „DaZ-Schüler/ innen“, „DaZ-Studierende“ (im Gegensatz zu „DaE-Kindern“ usw.) zu vermeiden - insbesondere dann, wenn sie als geradezu euphemistische Verhüllung für generell ‚ausländische‘ Kinder verstanden werden könnten. Alle Lernenden in ihrer Gesamtheit an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten wahrzunehmen, d.- h. in ihren je individuellen Sprach(en)repertoires, könnte ein möglicher Weg sein (→ 3). Einen Grund mehr, diese verschiedenen Erwerbstypen immer als vereinfachende Modellierungen, die sich aus mehreren eigentlich skalaren Definitionskriterien - wie z.B. „Alter des Erstkontaktes (age of onset)“ oder „Kontaktzeit (length of exposure) in Jahren oder Monaten“ (Dimroth 2019, 30) - zusammensetzen, zu verstehen, liefert die Spracherwerbsforschung auch mit Blick auf die Unterscheidung von DaZ und DaF: „Eine glasklare Trennung von Zweit- und Fremdsprache ist aber weder möglich noch sinnvoll. Letztlich zählt das Ergebnis, das heißt, das im Kopf repräsentierte System, mehr als der Erwerbsweg.“ (Tracy 2014, 24) Und dies kann auch für Erst- und Zweitsprachen gelten, nicht zuletzt, weil „sich Sprachen im Kopf der Lernenden nicht trennen lassen“ (Hufeisen 2017, 511), sie also keine „clearly definable languages […] in the mind of an individual“ (Franceschini 2016, 97) sind. Mit anderen Worten: Die allgemeinen Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten in den Sprach(en)repertoires der Lernenden zu einem bestimmten Erwerbszeitpunkt zählen als die wohl wichtigste Größe - aus Sicht des Deutschunterrichts, aber auch jedes anderen (Sprach-)Faches. 2.2 Statt Semilingualismus: Emergenter Spracherwerb Ein Terminus, der sich trotz heftiger, berechtigter Kritik geradezu hartnäckig in Forschungsdiskursen und Handreichungen zum bilingualen Spracherwerb bzw. Zweitspracherwerb hält, 3 ist „Semilingualismus“ bzw. „Halbsprachigkeit“ - und mit explizitem Bezug auf beide Sprachen „doppelte Halbsprachigkeit“. Dieser Hartnäckigkeit ist es geschuldet, dass wir drei überzeugende Stimmen zu Wort kommen lassen möchten, die eines verdeutlichen können: Es handelt sich bei Semilingualismus um ein weder empirisch noch linguistisch tragfähiges Konstrukt, das forschungshistorisch obsolet geworden ist. Wir beginnen mit dem vielleicht einflussreichsten ‚Multiplikator‘ des „semilingualism“ selbst, 3 Vgl. dazu z.-B. die Lemmata „Schwellenhypothese“ und „Bilingualismus“ im Digitalen Lexikon Fremdsprachendidaktik (DLF) (https: / / www.lexikon-mla.de/ , 10.4.2020). 2 Sprache(n) erwerben 20 dem kanadischen Erziehungspsychologen Jim Cummins, der den Ausdruck im Zusammenhang mit der Schwellenniveau- und Interdependenzhypothese (vgl. z.-B. 1982) vertreten hatte. Er berief sich dabei auf die finnische Studie von Skutnabb-Kangas/ Toukomaa (1976), die anhand von Schwellen („thresholds“) die „cognitive effects of different types of blingualism“ modellieren wollten; sie unterschieden dabei a) „additive bilingualism“, b) „dominant bilingualism“ und eben c) „semilingualism“ als eine Form von „Halbsprachigkeit“ in beiden Sprachen (hier: Finnisch/ Schwedisch) mit entsprechend a) positiven, b) weder positiven noch negativen und c) negativen Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung. Cummins (2000, 99 ff.) referiert die Genese der Kritik seit den späten 1970er Jahren und kommt zu dem Schluss: „At a sociopolitical level the term has assumed pejorative connotations and may be misinterpreted as suggesting that linguistic deficits are a primary cause of bilingual students’ academic difficulties, despite denials to the contrary. Furthermore, the futile debates to which use the term has given rise suggest that its continued use is contraproductive.“ (Cummins 2000, 104) Und noch klarer: „The fact that the term ‘semilingualism’ potentially stigmatizes the victims of inappropriate schooling and coercive power relations in the society is good enough reason to drop it from the lexicon.“ (Cummins 2000, 105) Die zweite Stimme ist eine 2011 öffentlich gemachte „sprachwissenschaftliche Stellungnahme“ namhafter Vertreter: innen aus der Linguistik, Mehrsprachigkeitsforschung und Anthropologie, die online verfügbar, aber auch als Anhang in Wiese (2012, 276 ff.) abgedruckt ist. Sie macht klar: „Die sogenannte doppelte Halbsprachigkeit ist ein populärer Mythos, der auf einer Fehlschätzung von Sprache und sprachlicher Vielfalt beruht.“ Mit Verweis darauf, dass Kinder „ein besonderes Sprachprofil [haben], bei dem die beiden Sprachen unterschiedliche Spezialisierungen haben können“, verdeutlichen sie unter anderem, a) dass die sprachlichen Varianten der „neuen urbanen Dialekte“ wie Kiezdeutsch, „die so reich und bunt sind wie andere deutsche Dialekte auch“, keine „Fehler“ darstellen, b) dass die „Kompetenz in der Standardsprache […] nach wie vor ein schulisches Ziel bleiben“ soll und c) dass die Kinder auf dem Weg zur Standardvarietät bzw. zur Erweiterung ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten vor allem schulische Unterstützung 2.2 Statt Semilingualismus: Emergenter Spracherwerb 21 brauchen. (Die Unterscheidung in einsprachige und mehrsprachige Lernende in der Stellungnahme erübrigt sich u. E., wenn aufgrund innerer Mehrsprachigkeit (→ 3.1) jeder Mensch mehrsprachig ist.) Aus schulischer Perspektive betrachtet, liegt die Quintessenz dieser Stellungnahme in ihrem impliziten Plädoyer für einen die jeweiligen Sprach(en)repertoires der Lernenden wertschätzenden und vor allem sprachbildenden Unterricht. Und damit wären wir bei der dritten, aktuellsten Stimme: Baker/ Wright (2017, 9 ff.) lehnen jegliche defizitär ausgerichteten, monolingualen Sichtweisen auf Bilingualismus im angloamerikanischen Forschungsdiskurs ab, weil die Sprachen der Lernenden dann nicht holistisch oder heteroglossisch als Repertoire - das wäre das Ziel -, sondern als gleichsam voneinander unabhängige, diskrete Systeme betrachtet werden. Stattdessen plädieren sie für neue Zugänge zum Bilingualismus, die problematische Kategorien wie semilinguals, aber auch geradezu erschreckende Bezeichnungen wie limited English proficient (LEP) oder gar non-nons (gekürzt von ‚non-English-speaking‘ und ‚non-Spanish-speaking‘ (vgl. MacSwan/ Rolstad/ Glass 2002)) für Lernende lateinamerikanischer Einwanderer in den USA, überflüssig machen. Zu den ressourcenorientierten „new directions“ zählen sie einen Ansatz von Ofelia García (2009), in dem zweisprachige Lernende als „emergent bilinguals“ (emergent = ‚sich (weiter) entwickelnd, sich verändernd‘) ihre Sprachen flexibel nutzen. „O. García (2009a) introduced the term dynamic bilingualism to focus on the ways bilinguals draw on the range of features associated with socially-constructed languages within their linguistic repertoire in complex and dynamic ways as they communicate with others and engage in collaborative tasks.“ (Baker/ Wright 2017, 11) Eng verbunden mit dem dynamischen Bilingualismus ist ihre handlungsorientierte Modellierung mehrsprachiger sozialer Praxis - auch in schulischen Lehr- Lern-Kontexten - als „Translanguaging“ (vgl. García/ Wei 2014). Verstanden wird darunter „a practice that involves dynamic and functionally integrated use of different languages and language varieties“ (ebd.). Und diese mehrsprachigen Praktiken sind verortet „in a variety of educational contexts where the school languages or the language-of-instruction is different from the languages of the learners“ (Wei/ Lin 2019, 211) (→ 5). Ein vergleichbares, ebenfalls breiter gefasstes sprachliches Konzept vertreten Hufeisen/ Topalović (2018) mit der mehrsprachigen emergenten Literacy im Rahmen einer Pluralen Mehrsprachigkeitsdidaktik; es involviert explizit verschiedene Sprachen (languages) 2 Sprache(n) erwerben 22 und Sprachvarietäten (language varieties), so dass nach diesem Konzept alle Lernende mehrsprachig sind: „Wir verstehen darunter durch Literalität und Literarität geprägte, sprachlich-ästhetische Erfahrungen, die Menschen in ihrer Familie und später in Institutionen des Lernens - von der Kita bis zur Universität und Beruf - und ihrem gesamten Leben mit all ihren Sprachen und Sprachvarietäten machen, diese im Sinne einer ‚Sprachigkeit‘ (Busch 2013) für vielfältige Transferprozesse nutzen und auf diese Weise ihr Sprach(en)repertoire quantitativ und qualitativ weiterentwickeln und verändern. Es handelt sich also um dynamische Erwerbs- und Lernprozesse, die kultur-, sprachen- und fächerübergreifend und letztlich auch ein Leben lang stattfinden können.“ (Hufeisen/ Topalović 2018, 22) Alle ressourcenorientierten Ansätze und Zugänge, die bewusst eine sprachliche Könnensperspektive einnehmen - idealerweise kombiniert mit einer positiven, wertschätzenden Feedbackkultur (→ 5) -, betonen also vor allem die Dynamik und Emergenz des Spracherwerbs. Im Gegensatz zu defizitären Konstrukten wie Semilingualismus können Lehrkräfte ausgehend von einem Konzept des emergenten Spracherwerbs alle Schüler: innen in der Entwicklung ihrer - nota bene: mehrsprachigen - sprachlichen Repertoires (→ 3) positiv beeinflussen. 2.3 Spracherwerb: Von Theorien und Lernersprachen Die seit Jahrzehnten virulente Frage, ob der Spracherwerb einem angeborenen Mechanismus folgt oder (interaktiv) erlernt wird, ist als sog. Nature-Nurture-Debatte bekannt geworden (engl. nature, dt. ‚Natur‘; engl. nurture, dt. ‚Nahrung, Pflege‘). Sie teilte die Theorien des Erstspracherwerbs gleichsam in zwei ‚Lager‘ und hatte mit der Auseinandersetzung zwischen Chomsky (1959), dem Begründer des Nativismus, und Skinner (1957), einem bekannten Vertreter des Behaviorismus, einen ihrer Höhepunkte (Chomskys überaus kritische Rezension zu Skinners Buch „Verbal Behaviour“ ist online einsehbar). Vereinfacht gesagt, stellt die Debatte unterschiedliche Perspektivierungen dar: Die Nature- oder „Von-innen-nach-außen“-Theorien fokussieren die menschliche genetische Ausstattung als (mit)entscheidenden Faktor des Spracherwerbs, die Nurture- oder „Von-außen-nach-innen“-Theorien die Umwelt, die Interaktion bzw. den Input (vgl. z.-B. Dittmann 2006). Rohlfing (2019, 19 ff.) unterscheidet in Anlehnung an Szagun (2013) nativistische und epigenetische Positionen und differenziert diese weiter aus. Bei der Beschreibung der jeweiligen „Positionen“, 2.3 Spracherwerb: Von Theorien und Lernersprachen 23 „Erklärungskonzepte“, „Erklärmodelle“ oder „Lerntheorien“ - so die verschiedenen Bezeichnungen - spielt vor allem die Frage der empirischen Evidenz für die jeweilige Theorie eine bedeutende Rolle und die Ausdifferenzierung der theoretischen Ansätze. Die folgende Tabelle verdeutlicht exemplarisch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Darstellungen der Psycholinguistin Klann-Delius (2016) und der DaFbzw. Sprachlehrforscherin Riemer (2002). L1-Erklärungskonzepte (Klann-Delius 2016) L1-Lerntheorien (Riemer 2002) Behavioristische Lerntheorie (= Lernen als Konditionierung) [Imitation / Verstärkung / Reiz-Reaktion-Mechanismus] L2: Kontrastivhypothese Nativistische Erklärungskonzepte 4 Nativistische Lerntheorie (= Lernen als Entfaltung angeborenen sprachlichen Wissens) [LAD / Spracherwerbsmechanismus / Universalgrammatik (UG)] L2: Identitätshypothese Kognitivistische Erklärungskonzepte Kognitivistische 5 Lerntheorie (= Lernen als Prozess der Informationsverarbeitung) [Kognitive Entwicklung / Sprachliche Entwicklung / Äquilibration, Assimilation, Akkommodation] L2: Identitätshypothese Interaktionistische Erklärungskonzepte 6 Konstruktivistische Lerntheorie (= Lernen als sozialer und konstruktiver Prozess der Angleichung neuen Wissens an Vorhandenes) [LASS / Interaktion / Konstruktion / Kultur(matrix)] L2: Interlanguagehypothese Tab. 1: In der rechten Spalte zu Riemer (2002) sind auch die sog. ‚großen‘ L2-Hypothesen, die den L1-Theorien z.T. zugeordnet werden können, angegeben (vgl. ebd. 61 ff. zu „Hypothesen zum L2-Erwerb“); in eckigen Klammern stehen zudem bekannte Schlagwörter, die exemplarisch ergänzt wurden. Laut Riemer (2002) besteht die Gemeinsamkeit aller von ihr beschriebenen L1-Lerntheorien darin, dass sie - mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung - 4 Statt „Konzeptionen“ (vgl. Klann-Delius 2016, 49). 5 Statt „kognitive“ (vgl. Riemer 2002, 59 und 61). 6 Z.T. deckungsgleich mit der konstruktivistischen LT bei Riemer (2002). 2 Sprache(n) erwerben 24 „Lernen a) auf der Basis einer Befähigung zum Sprachenlernen und b) innerhalb einer sozialen Umwelt“ beschreiben (ebd. 57 ff.). Während Szagun (2013), Klann-Delius (2016) und Ibbotson/ Tomasello (2017) mehr oder weniger deutliche Kritik am Nativismus üben, wird das nativistische Paradigma in verschiedenen Zusammenhängen weiterhin als theoretische Grundlage genutzt bzw. diskutiert (vgl. z.-B. Klein 2001, Riemer 2002, Müller et al. 2011, Dimroth 2019). Dass die Theorien nicht zwingend als unvereinbare Gegensätze, sondern auch als sich ergänzende theoretische Zugänge betrachtet werden können, zeigt Tracy (2011) anhand frühkindlicher Sprachdaten zur Satzstellung des Deutschen. Die theoretische Grundlage „bildet die Vorstellung von einer universalgrammatisch gestützten Selbstorganisation, in der sowohl Erkenntnisse der generativen Linguistik als auch der Theorie dynamischer Systeme eine wichtige Rolle spielen“ (ebd. 398); sie verbinde „[m]inimalistische und (trotzdem) konstruktivistische Überlegungen zum Spracherwerb“ (ebd. 397). Ein hybrides Modell, das beim Wortschatzerwerb „multiple factors, including cognitive constraints, socialpragmatic factors, and global attentional mechanisms“ (Hollich et al. 2000, v) und damit verschiedene theoretische Zugänge zusammenführt und jeweils „komplettiert“, stellt auch die Emergentist Coalition Theory dar (vgl. ebd.): „In dem Modell wirken […] Mechanismen unterschiedlicher Natur, zum einen die angeborene Priorisierung der wahrgenommenen Signale, aber auch die erworbene Sensibilität für soziale Hinweise (wie z.- B. die Blickrichtung) sowie die sich entfaltende Wirkung von statistischen Mustern, die durch Erfahrungen mit Sprache in sozialen Interaktionen entsteht.“ (Rohlfing 2019, 31) Da es in unserer Einführung einerseits um die komplexen Zusammenhänge von Lehr-Lern-Prozesse, in denen Lehrende und Lernende interagieren, geht und andererseits um die Frage, wie sich Sprach(en)repertoires von Lernenden in der Institution Schule (weiter)entwickeln, werden wir im Folgenden konstruktivistisch-interaktionistische Lerntheorien, die Interlanguagehypothese und die Mehrsprachigkeitshypothese näher beschreiben (zu Spracherwerbstheorien vgl. umfassender Tracy/ Gawlitzek i.V. und Rohlfing 2019). In ihrem Artikel „Lernen als konstruktiver Prozess“ nennen die Erziehungswissenschaftler Neubert/ Reich/ Voß (2001) in einer Art chronologischer Wissenschaftsgeschichte unter anderem Jean Piaget, Lew Vygotskij und Jerome Bruner als Verfechter konstruktivistischer Ansätze und damit gleich drei Vertreter, die auch in der Spracherwerbsforschung immer wieder genannt werden: 2.3 Spracherwerb: Von Theorien und Lernersprachen 25 1) Piaget hat mit seinen Arbeiten zu Kognition und Sprache (auch: Kognitivismus) die konstruktivistische Lerntheorie (mit)begründet - hier werden die Schnittstellen der oben gelisteten Lerntheorien deutlich: „Piaget hat erkannt, dass ein Lerner zunächst immer aus eigener Aktion heraus lernt, dass er dabei sich seine Wirklichkeit konstruiert, die er dann in Abgleich mit seiner Umwelt bringen muss. Das daraus entstehende Wechselspiel zwischen innerer Schematisierung und Abgleich mit der Umwelt - Assimilation und Akkommodation - ist für diesen Ansatz entscheidend, um den Aufbau der menschlichen Wirklichkeitsbildungen zu begreifen.“ (ebd. 254 f.) 2) Vygotskij, ein bekannter Vertreter interaktionistischer Theorien (auch: Interaktionismus), hat den kulturellen Aspekt und die Zone der nächsten Entwicklung beim konstruktivistischen Lernen betont (→ 5). „Dies bedeutet, dass aus der Lernumwelt den SchülerInnen Angebote unterbreitet werden müssen, die sie konstruktiv vorantreiben, aber nicht solche, die bloß einen bestehenden und zu reproduzierenden Wissensstand sichern.“ (ebd. 255) 3) Und Bruner, der auch für Vygotskijs Ansatz warb, „fügte zu Piagets Konstruktivismus insbesondere die Bedeutung von sozialen Interaktionen, aber auch historisch-kulturelle Dimensionen und ein verändertes Sprachverständnis hinzu […]“ (ebd. 255). Bruner (2002) steht sprachtheoretisch für alle Scaffolding- Methoden in Lehr-Lern-Prozessen (→ 6), die auf dem von ihm postulierten LASS (= Language Acquisition Support System) und der KGS (= an das Kind gerichtete Sprache) basieren. Bei LASS handelt es sich um eine Erweiterung zu Chomskys LAD (= Language Acquisition Device). Bruner steht wie Vygotskij auch für die kulturelle Geprägtheit sozialer Interaktionen bzw. „Formate“: Scaffolding (engl. scaffold ‚Baugerüst‘) = Unterstützungsangebote beim Lernen „Zusammenfassend meine ich, daß Formate beim Spracherwerb verschiedene sehr entscheidende Funktionen erfüllen. Erstens betten Formate die kommunikativen Absichten des Kindes in eine kulturelle Matrix ein. Sie dienen ebenso sehr zur Übermittlung der Kultur als zur Übermittlung der betreffenden Sprache. […] Weil sie endlich, geordnet und interaktiv sind, liefern sie auch einen Kontext für die Interpretation dessen, was hier und jetzt gesagt wird.“ (Bruner 2002, 116) 2 Sprache(n) erwerben 26 Kognition, Interaktion und Kultur sind Schlagwörter, die auch die neuere gebrauchsbasierte Spracherwerbstheorie der geteilten Intentionalität und des kulturellen Lernens von Tomasello (1999, 2003) in The Cultural Origins of Human Cognition und Constructing a Language: A Usage-Based Theory of Language Acquisition prägen - er steht in der Tradition der oben Genannten und könnte diese Chronologie weiterführen. Laut Ibbotson/ Tomasello (2017) stellt sie „mit einer Reihe von mentalen Mehrzweckmodulen für Kategorienbildung, Deutung kommunikativer Absichten und Erfassen von Analogien“ eine „Alternative zu Chomskys Bild der Sprache“ dar, welches die Linguistik des 20.- Jahrhunderts revolutionierte und wirkungsmächtig prägte. Die von Selinker (1972) entwickelte Interlanguagehypothese (auch: Lernersprachenhypothese) gilt laut Riemer (2002) als „bis heute einflussreichste Hypothese“ zum L2-Erwerb (ebd. 63). Charakteristisch für Lernersprachen (auch: Interimssprachen, Lernervarietäten) ist, dass es sich um temporäre, variable Zwischenstufen handelt, die durch Merkmale der L1 (native language), Merkmale der L2 (target language), aber auch durch eigenständige, weder der L1 noch der L2 zugehörige Merkmale gekennzeichnet sind. Und vor allem: Sie sind durch entsprechende Lernangebote im Rahmen von Erwerbssequenzen ( → 2.4) veränderbar (vgl. Edmondson/ House 2006, 228). Dass Lernersprachen in ihren temporären Strukturen systematisch sind, dass sie soziokulturell geprägt sind und - vor allem - dass sie als Beschreibungskategorie auch bei der inneren Mehrsprachigkeit mit ihren variablen Sprachvarietäten anwendbar sein könnten (→ 3), verdeutlicht Klein (2001, 615 f.): „Lernervarietäten sind nicht unvollkommene Nachahmungen einer ‚eigentlichen Sprache‘ - nämlich der Zielsprache -, sondern eigenständige, in sich fehlerfreie Systeme, die sich durch ein besonderes lexikalisches Repertoire und besondere morphosyntaktische Regularitäten auszeichnen. Voll entwickelte Sprachen wie Deutsch, Englisch, Latein sind einfach Grenzfälle von Lernervarietäten. Sie repräsentieren einen relativ stabilen Zustand des Spracherwerbs - jenen Zustand, zu dem der Lerner mit seinem Erwerbsprozess aufhört, weil es zwischen seine[n] Varietäten und der Sprache seiner jeweiligen sozialen Umgebung keinen wahrnehmbaren Unterschied mehr gibt. In dieser Betrachtungsweise sind alle Lernervarietäten, und darunter als Grenzfall auch die ‚eigentlichen‘ Sprachen, Manifestationen der menschlichen Sprachfähigkeit.“ Verschiedene Prozesse bzw. Konzepte werden im Zusammenhang mit Lernersprachen diskutiert, insbesondere gilt dies für Transfers und Übergeneralisierungen. Transfers sind z.-B. auch Bestandteil der Kontrastivhypothese, die zur 2.3 Spracherwerb: Von Theorien und Lernersprachen 27 Entwicklung der kontrastiven Linguistik bzw. Fehleranalyse (insbes. negative Transfers/ Interferenzen) geführt hat; und Übergeneralisierungen sind z.-B. im Nativismus (L1-Theorie) als Indikatoren innerer Regelbildungsprozesse vertreten. Beides spielt jedoch auch in anderen Theorien bzw. Hypothesen eine Rolle: Wie der Erstspracherwerb verläuft auch der L2-Erwerb nicht linear, sondern u-kurven-förmig. So kommen zielsprachlich korrekte Formen nicht selten in einem frühen Stadium vor, in dem sie allerdings durch Imitation gelingen bzw. als Chunks (d.-h. holistische, unanalysierte Wortgruppen) gebraucht werden. Wie geht’s (dir)? ist z.-B. eine grammatisch komplexe Äußerung, die L2-Lernende trotzdem bereits sehr früh in ihrem Repertoire zeigen. In einem späteren Stadium können beim Gebrauch von Pronomen, etwa des semantisch leeren „es“, Übergeneralisierungen als Indikatoren von Restrukturierungen auftreten, bis irgendwann im Erwerb nur noch zielsprachlich korrekte, eigenständig gebildete Formen gebraucht werden. Eine Mischung aus zielsprachlich korrekten und übergeneralisierten Formen kann daher ein Zeichen dafür sein, dass Lernende diesen sprachlichen Bereich gerade restrukturieren, wodurch es zu auffällig viel Variation kommt. Und genau diese Variation bietet gute Ansatzpunkte für adaptive Lernangebote, da sie eine gerade stattfindende Eigenaktivität der Lernenden gezielt aufgreift und unterstützt. Übergeneralisierungen treten sowohl im L2als auch im L1-Erwerb auf, z.-B. wenn Lernende Formen wie gehte statt ging nutzen und damit zeigen, dass sie das Bildungsmuster schwacher präteritaler Verbformen kognitiv durchdrungen haben, aber noch temporär übergeneralisieren. Andere Ansätze, die den Spracherwerb z.-B. als nicht gerichtet oder einer „Entwicklungslogik“ folgend betrachten, betonen nicht Übergeneralisierungen, sondern die Frequenz (Häufigkeit) und Salienz (Auffälligkeit) von Formen im Input, die von Lernenden imitiert werden (gebrauchsbasierte Ansätze). Oder sie modellieren - wie die Dynamic Systems Theory (Theorie dynamischer Systeme) - Erwerbsprozesse, in denen „Variation und Variabilität nicht etwa Randphänomene, sondern die zentrale Triebkraft der Entwicklung darstellen“ (Dimroth 2019, 28); sie sind dann nonlinear, multidimensional und vor allem emergent. Transfers erfassen den Einfluss von Erstsprache(n) - letztlich aber des gesamten Sprach(en)repertoires - auf eine neue Sprache, z.-B. bei Lernenden mit 2L1 Schwedisch/ Finnisch auf die Fremdsprache Englisch (vgl. Edmondson/ House 2006, 224). Gemeint ist damit „die partielle Übertragung verfügbaren Sprachwissens auf eine neue Sprache“ (Dimroth 2019, 32). 2 Sprache(n) erwerben 28 „Wie in allen Fällen, in denen vorhandenes Wissen den Aufbau neuen Wissens beeinflusst, in der Wissenschaft wie im Leben, kann dieser Einfluss positiv oder negativ sein; dementsprechend spricht man von positivem wie von negativem Transfer.“ (Klein 2001, 607) Vereinfacht gesprochen, können z.- B. ähnliche bzw. unterschiedliche lexikalische oder syntaktische Strukturen zu positiven bzw. negativen Effekten auf den L2-Erwerbsprozess führen (vgl. Beispiele bei Müller et al. 2011). Lernende sollen sogar die „Transferfähigkeit“ zwischen Sprachen einschätzen können, um diese dann als Lernstrategie zu nutzen (vgl. Edmondson/ House 2006, 224). Positive Transfers in Lernersprachen bzw. in den Sprach(en)repertoires generell stellen eine Schnittstelle zur Mehrsprachigkeitshypothese dar (vgl. Riemer 2002, 64 f.). Diese besagt, dass Lernende ihre Sprach(en)repertoires nutzen können, um weitere Sprachen zu lernen bzw. um sie - insbesondere falls zur gleichen Sprachfamilie (z.-B. zur germanischen, romanischen oder slavischen) gehörig - bei sprachlichen Teilfertigkeiten als Strategie einzusetzen, z.-B. beim Lesen eines fremdsprachigen Textes. Eindrucksvolle Beispiele kommen aus der Interkomprehensionsdidaktik, die den Transferbegriff von Selinker (1969) erweitert (vgl. Meißner 2004) und unter anderem die Lese-Methode „Die sieben Siebe“ entwickelt hat (vgl. Hufeisen/ Marx 2007). Leser: innen könnten z.-B. die Sprachen Deutsch und Englisch aus ihrem Sprach(en)repertoire nutzen, um die ebenfalls germanischen Sprachen Niederländisch, Schwedisch oder Norwegisch zu verstehen (vgl. Oleschko 2011). Möglichkeiten des positiven Transfers betreffen allerdings nicht nur sprachliche Ebenen wie Lexik und Syntax, transferiert werden können auch Literacy-Erfahrungen wie Sprachbewusstheit (z.-B. phonologische Bewusstheit, Wissen über Schrift) und Textsortenwissen (vgl. Topalović 2019). Die hier vorgestellten Erklärmodelle bzw. Lerntheorien und L2-Erwerbshypothesen können - ergänzt um Bourdieu (2012) - aufgrund ihrer interaktionalen, mehrsprachigen und soziokulturellen Ausrichtung auf allen Ebenen im AA-IALT-Modell (→ 1) verortet werden. 2.4 Erwerbssequenzen und Meilensteine Die empirischen Studienergebnisse aus der Spracherwerbsbzw. Fremdsprachenforschung legen nahe, dass der L1- und L2-Erwerb - wenn wir Erwerbsprozesse als lineare Entwicklungen modellieren - in verschiedenen grammatischen Bereichen im Wesentlichen ähnlich verläuft. Insbesondere gilt dies im 2.4 Erwerbssequenzen und Meilensteine 29 Abb. 2: Erwerbssequenzen zum Verbalbereich, zu Satzmodellen und zum Kasussystem aus Diehl et al. (2000, 364) 2 Sprache(n) erwerben 30 Bereich der Syntax (vgl. Settinieri/ Spaude 2014). Eine viel zitierte Tabelle mit Erwerbssequenzen - im Sinne fester Erwerbsverläufe - stammt aus der Genfer DiGS-Studie (Deutsch in Genfer Schulen) (vgl. Diehl et al. 2000) (vgl. Abb. 2). Die Grundlage bilden Sprachdaten von 220 Schüler: innen mit L1 Französisch und der schulischen Fremdsprache Deutsch in der 4.-13.- Jahrgangsstufe (vgl. Diehl et al. 2000). Sie verdeutlicht zum einen, dass adaptive Lernangebote im Sinne der Zone der nächsten Entwicklung nur im Rahmen dieser Erwerbssequenzen das Lernen unterstützen können (→ 5). Interlanguages bzw. Lernersprachen gelten - je nach Phase - als „resistent gegen eine Beeinflussung von außen, etwa durch unterrichtliche Maßnahmen oder ein explizit negatives Feedback“ (Haberzettl 2014, 9). Zum anderen wird ersichtlich, dass Lehrkräfte den Fehlerbegriff kritisch reflektieren sollten. Wenn sich L2-Lernende (z.-B. sog. „Seiteneinsteiger: innen“) noch in der Phase I des Ein-Kasus-Systems befinden und bei der Deklination ‚nur‘ Nominativformen gebrauchen, dann machen sie streng genommen keine Fehler, sondern können zunächst nur diese eine Form nutzen. Als „[e]lementares Rüstzeug für die pädagogische Praxis“ bezeichnet Tracy (2007, 18) fachliches Wissen über „Regularitäten der Wortstellung und der Subjekt-Verb-Kongruenz“, die Lehrkräfte recht einfach mit dem topologischen Modell erfassen können, u.-a. also mit der Satzklammer (vgl. dazu Gallmann (2019), Müller/ Schönfelder (2019) und Uhl (2019), die das topologischeModell aus linguistischer, spracherwerbstheoretischer und sprachdidaktischer Perspektive beschreiben). Tracy (2007) unterscheidet folgende „Meilensteine“ in den L1-Erwerbssequenzen (Alter von 18-48 Monaten): Abb. 3: Vier Meilensteine des Spracherwerbs (Tracy 2007, 21) 2.4 Erwerbssequenzen und Meilensteine 31 Im Gegensatz zu Diehl et al. (2000) setzt Tracy (2007) - ebenso wie Grießhaber (2010) und Schulz/ Tracy (2011) - die Inversion (d.- h. Subjekt nach linker Satzklammer in (f) Was legt Papa auch rein? ) in der Erwerbsreihenfolge vor die Verbendstellung (d.-h. (h) wenn Papa auch den Ball reinlegen kann) (vgl. Abb. 3). Dieser Unterschied ergibt sich aus der spezifischen Konstellation L1 Französisch / Fremdsprache Deutsch in der DiGS-Studie (vgl. umfassend Settinieri/ Spaude 2014). Auf die Möglichkeit, den Sprachstand von Lernenden syntaktisch zu analysieren und ausgehend davon adaptive Lernangebote anzubieten, werden wir in Kap. 7 näher eingehen. Die von Diehl et al. (2000) rekonstruierte Erwerbsreihenfolge im Verbalbereich wird in Studien zum Aspekt- und Tempuserwerb sowohl für Deutsch als Erst- und Zweitsprache als auch für Deutsch als Fremdsprache in der Sprachproduktion bestätigt: 1. Infinite Formen, 2. Präsens, 3. Perfekt, 4. Präteritum (vgl. Topalović/ Uhl 2014). Auf einen weiteren wichtigen Aspekt mit Blick auf das Professionswissen von Lehrkräften machen Peuschel/ Burkard (2019) und Haberzettl (2005) aufmerksam. Der Erwerb von Zweitsprachen unterliegt in besonderer Weise emotionalen, kognitiven und linguistischen Einflussfaktoren: „Der Erwerb der für schulische Teilhabe und Lernerfolg notwendigen Deutschkenntnisse mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher wird […] wesentlich von der Kontaktdauer mit dem Deutschen, von Maßnahmen der frühkindlichen Bildung (vgl. z.-B. Lengyel 2017), von Literalitätserfahrungen in verschiedenen Sprachen im Kindesalter und auch von der oder den bereits erworbenen Erstsprache(n) beeinflusst. Auch spielt die Möglichkeit, in zwei mündlich verfügbaren Sprachen lesen und schreiben zu lernen und zweisprachig schulisch alphabetisiert zu werden, eine große Rolle für den Ausbau sprachlicher Ressourcen - oder auch für deren Verlust. Der Prozess der schulischen Alphabetisierung ist zudem für alle Kinder mit dem Eintritt in die Grundschule eine neue Art des Umgangs mit Sprache, wobei das Erlernen von Lesen und Schreiben auch ohne den Faktor Deutsch eine Herausforderung darstellt.“ (Peuschel/ Burkard 2019, 21) Zu den linguistischen Faktoren zählen also auch die „bereits erworbenen Erstsprache(n)“ (ebd.), die einerseits positive Transfers ermöglichen, andererseits aber auch Einfluss nehmen auf die Erwerbsdauer. In ihrer Längsschnittstudie konnte Haberzettl (2005) belegen, dass der Erwerb der Verbstellungsregeln des Deutschen je nach der L1 der Lernenden (Russisch bzw. Türkisch) und der L1-Satzstrukturen schneller oder langsamer verläuft. Auch fachliches Wissen über verschiedene Sprach- und Schriftsysteme kann Lehrkräften helfen, die 2 Sprache(n) erwerben 32 jeweiligen Sprachfähigkeiten und Entwicklungsprozesse ihrer Schüler: innen besser zu analysieren (→ 7). Empirische Ergebnisse zum bilingualen Fremdspracherwerb im Sachfachunterricht (auch: CLIL = Content and Language Integrated Learning) legen nahe, dass die Einflussvariablen Kontaktdauer und Kontaktintensität die größten Effekte auf den schulischen Erwerb von (Fremd-)Sprachen (hier: Englisch) haben. Kersten (2019) demonstriert dies anhand des folgenden Vergleichs zweier „Studien aus immersiven Grundschulen zum Wortschatz- und Grammatikerwerb in Deutschland, die die gleichen Ergebnisse verdeutlichen, die auch aus der internationalen Forschung bekannt sind“ (ebd. 41): Aus schulischer Perspektive können wir daraus ableiten, dass die Lernenden in ihren Sprachbildungsprozessen vor allem von einem quantitativ wie qualitativ sprachlich anregungsreichen Unterricht in allen Fächern profitieren können, und zwar während ihrer gesamten Schulzeit. 2.5 Aufgaben A. Unter https: / / wals.info/ feature/ 30A#2/ 26.7/ 149.1 finden Sie eine Karte, die die Anzahl an Genera in den Sprachen der Welt erfasst. Bei welchen L2- Lernenden des Deutschen könnte der Erwerb des Genussystems aufgrund ihrer L1 länger dauern? B. In Lernaufgaben werden häufig Verberstsätze gebraucht, die aus einer linken Satzklammer (SK; Verbteil), einem Mittelfeld und einer rechten Satz- Abb. 4: Einflussvariablen und ihre Effektstärken aus den Studien Couve de Murville et al. (2016, 103) und Maier et al. (2016, 181), zitiert nach Kersten (2019, 41). Die Effektstärke gibt an, wie wirksam eine beobachtete Einflussvariable ist (z.-B. klein, mittel oder groß auf einer Skala 0 bis 1). 2.6 Weiterführende Literatur 33 klammer (Verbpartikel) bestehen. Bestimmen Sie bei den folgenden Sätzen die Satzklammern und füllen Sie das Mittelfeld aus. Was leiten Sie aus dem Ergebnis für die Gestaltung von Aufgabenstellungen ab? Schreibe die Verben ab. Schreibe aus dem Text die Verben ab. Schreibe aus dem Text die zusammengesetzten Verben ab. Schreibe aus dem Text die zusammengesetzten Verben mit dem Wortbaustein wegab. Linke SK Mittelfeld Rechte SK 2.6 Weiterführende Literatur Baker, Colin/ Wright, Wayne E. (2017): Foundations of Bilingual Education and Bilingualism. 6. Aufl. Bristol: Multilingual Matters. Tracy, Rosemarie/ Gawlitzek, Ira (i.V.): Mehrsprachigkeit, Spracherwerb. Tübingen: Narr Francke Attempto (= LinguS 10). Wei, Li/ Lin, Angel M.Y. (2019): Translanguaging classroom discourse: pushing limits, breaking boundaries. In: Wei, Li/ Lin, Angel M.Y. (Hrsg.): Translanguaging Classroom Discourse. Classroom Discourse 10. Nr.-3-4, 209 -215. Online-Ressource. 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein Sprachliche Bildungsprozesse in der Schule setzen voraus, dass die jeweiligen Sprachhandlungsfähigkeiten von Lernenden und ihre Entwicklung beschrieben werden können - zum einen als sprachliche Vorerfahrungen, zum anderen aber auch als Ziel des schulischen Unterrichts. Je nach Forschungsdisziplin werden unterschiedliche Modellierungen genutzt, die auch Eingang in länderspezifische Lehrpläne gefunden haben (z.- B. konzeptionelle Schriftlichkeit in bayrischen Lehrplänen). Die verschiedenen Zugriffe auf Sprachen und Sprachvarietäten schließen einander nicht zwingend aus, sie werden nicht selten sogar synonym gebraucht (z.-B. Bildungssprache und konzeptionelle Schriftlichkeit). Sie können aber auch dazu genutzt werden, verschiedene Perspektiven einzunehmen oder zu stärken. Wenn etwa die Erwerbsreihenfolge verschiedener Sprachsysteme im Vordergrund steht, wird häufig gezählt, z.-B. L1 (= Language 1) oder Erstsprache, L2 oder Zweitsprache, oder aber es wird ‚gemixt‘ und z.-B. von Erst-, Zweit-, Tertiär- und Fremdsprachen gesprochen, je nach Wissenschaftstradition (→ 2). Nicht selten werden dann in schulischen Zusammenhängen (vermeintlich) einsprachige Lernende von mehrsprachigen Lernenden unterschieden oder es wird von Lernenden „mit“ DaE/ DaM und Lernenden „mit“ DaZ gesprochen. Im ersten Fall wird die innere Mehrsprachigkeit ausgeblendet; Einsprachigkeit bezieht sich dann nur auf das Sprachsystem Deutsch, Zweibzw. Mehrsprachigkeit auf Deutsch neben einer weiteren nicht deutschen Erstsprache (z.- B. Deutsch/ Französisch, Deutsch/ Türkisch). Im zweiten Fall werden die Lernenden aus der Perspektive der Standardsprache Deutsch in den Blick genommen und einer möglichen Erwerbsreihenfolge (DaE, DaZ): Mehrsprachigkeit, ob innere oder äußere, wird nicht weiter oder nur am Rande betrachtet. Sie bleibt sogar sprachlich unsichtbar, weil „Zweitsprache“ bei DaZ nicht zwingend die zweite Sprache im Erwerb sein muss; nicht selten erwerben gerade ältere zugewanderte Schüler: innen Deutsch nach Englisch oder Französisch. Und diese Sprachfähigkeiten könnten z.-B. in mehrsprachigen Lehr-Lern- Kontexten fruchtbar gemacht werden (→ 5). Aus einer schulisch normativen Perspektive wiederum werden Modelle vor allem in ihrem jeweiligen standard- oder bildungssprachlichen Extrem-Pol fokussiert, z.-B. konzeptionelle Schriftlichkeit oder CALP. Wir wollen von „Sprach(en)repertoires“ als Oberbegriff ausgehen: Mit ihm lässt sich die „Gesamtheit der sprachlichen Möglichkeiten, die einem Sprecher in spezifischen Situationskontexten zur Verfügung stehen“ (Pütz 2004, 226), erfassen. 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 36 „Das Repertoire wird als Ganzes begriffen, das jene Sprachen, Dialekte, Stile, Register, Codes und Routinen einschließt, die die Interaktion im Alltag charakterisieren. Es umfasst also die Gesamtheit der sprachlichen Mittel, die Sprecher_innen einer Sprechgemeinschaft zur Verfügung stehen, um (soziale) Bedeutungen zu vermitteln.“ (Busch 2017, 21) Mit dieser holistischen (‚ganzheitlichen‘) oder heteroglossischen (‚vielstimmigen‘/ ‚vielsprachigen‘) Modellierung können Lehrkräfte ihren Blick dafür schärfen, dass sie selbst und auch alle ihre Schüler: innen mehrsprachig sind. Wir übernehmen hier die von Baker/ Wright (2017) formulierte „holistic or heteroglossic perspective of bilingulism“ (‚holistische oder heteroglossische Perspektive auf Zweisprachigkeit‘) und übertragen diese auf alle Sprachen und Sprachvarietäten. Diese Mehrsprachigkeit wird mit Eintritt in Bildungsinstitutionen (Kita, Schule, Universität), in den Beruf, letztlich jedoch ein Leben lang, weiter ausgebaut; sie verändert sich stetig und ist entsprechend dynamisch zu denken (→ 4). Gleichzeitig bietet sie die Chance, trotz des primären Bildungsziels der Schule, Lernende zur „Bildungssprache“ Deutsch zu führen, alle anderen Sprachen und Sprachvarietäten der Lernenden nicht abzuwerten oder gar zu stigmatisieren, dies umso mehr als sie Teil der Identität sind. Dengscherz (2019, 523) nutzt „Sprach(en)repertoire“ als Oberbegriff für „Sprachrepertoire“ im obigen Sinne (d.- h. einer translingualen Gesamtheit) und für „Sprachenrepertoire“, wenn die Sichtbarmachung von Einzelsprachen innerhalb des Repertoires doch benötigt wird. Diese Sprach(en)repertoires wollen wir im Folgenden durch bekannte Modellierungen, die in der Forschungsliteratur immer wieder herangezogen werden, dennoch aufbrechen und zeigen, woraus sich diese Gesamtheit an sprachlichen Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten zusammensetzen könnte und wie sie in verschiedenen Forschungsdiskursen je nach gewählter Perspektivierung modelliert wird. Sie bilden den Ausgangspunkt des sprachlichen Lernens (→ 5) und des fachlichen Lernens (→ 6) in der Schule und gehören entsprechend zum Professionswissen von Lehrkräften. 3.1 Innere und äußere Mehrsprachigkeit In der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung werden drei bzw. vier Dimensionen der Mehrsprachigkeit unterschieden: a. individuelle Mehrsprachigkeit, b. gesellschaftliche Mehrsprachigkeit, c. institutionelle Mehrsprachigkeit und - dafür plädiert Franceschini (2011, 346 f.) - d. diskursive Mehrsprachigkeit 3.1 Innere und äußere Mehrsprachigkeit 37 (vgl. Riehl 2013, 378). Sie wird häufig auf verschiedene Sprachsysteme bezogen (z.- B. Deutsch, Französisch und Letzeburgisch in Luxemburg als Beispiel gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit), sie kann jedoch auch die jeweilige Standardsprache und Dialekte meinen (z.-B. deutsche Standardsprache und Plattdeutsch oder Bairisch als Beispiel individueller Mehrsprachigkeit). Aus schulischer Perspektive ist die institutionelle Mehrsprachigkeit 7 interessant, weil sie unter anderem danach fragt, inwieweit Institutionen bzw. Bildungseinrichtungen, also auch Kindergärten, Schulen und Berufskollegs, die individuelle Mehrsprachigkeit ihrer Akteur: innen (Kinder/ Schülerschaft, Erzieher: innen/ Lehrkräfte, Kollegien) sichtbar machen, stärken und sogar in Lehr-Lern-Prozessen als diskursive Mehrsprachigkeit (vgl. Topalović 2019, 196 f.), die sich aus einer mehrsprachigen kommunikativen Praxis ergibt, zulassen: „With discursive multilingualism, the characteristics of bilingual and multilingual interactions in groups or dyads are in the foreground.“ (Franceschini 2011, 347) Zu möglichen Praktiken heißt es bei Riehl (2013, 378): „Darunter sind etwa die verschiedenen Praktiken des Code-Switchings […], Gespräche zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern, der Gebrauch einer Lingua Franca, von Ethnolekten u.Ä. zu zählen.“ In der deutschdidaktischen Forschung hat sich u.-a. in der Rezeption von Wandruszka (1979) die Unterscheidung einer inneren und äußeren Mehrsprachigkeit etabliert (vgl. z.-B. Pompe/ Spinner/ Ossner 2016). In jüngster Zeit wird sie sogar sowohl sprachtypologisch als auch forschungsmethodisch für relevant erklärt, auch weil sie neue, intrawie interdisziplinäre Perspektiven eröffnet (vgl. Dannerer/ Mauser 2018). Die innere Mehrsprachigkeit bezieht sich auf verschiedene Sprachvarietäten einer Sprache im Sinne klar abgrenzbarer sprachstruktureller Subsysteme („Sprachen in der Sprache“). „Varietäten als linguistische Subsysteme definieren wir als spezifische, systematisch vorkommende Sprachvarianten (Sprachgebrauchsformen), die sich durch signifikante und mehrfach auftretende Merkmale in Texten, Gesprächen oder multimedialen Einheiten auszeichnen (spezifische Kombination von Varianten in typologisierten 7 Früher war sie vor allem auf Institutionen in zweisprachigen Ländern bzw. Regionen bezogen, z.-B. Deutsch und Italienisch in Südtiroler Institutionen bzw. Ämtern. 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 38 Text- und Gesprächsexemplaren). Diese Merkmalbündel von Sprachvarianten erscheinen im Kontrast zu anderen systematisch auftretenden Variantenrealisierungen (z.- B. zum Standard) als markiert und rechtfertigen die Varietätenabgrenzung.“ (Felder 2016, 9) Standardvarietäten oder Standardlekte: geschriebene und gesprochene Standardsprachen in der deutschen Sprache in Unterscheidung zu Regiolekten (z.- B. Rheinisch), Dialekten (z.- B. Kölsch), Soziolekten (z.- B. Jugendsprachen), Funktiolekten (z.- B. Alltagssprache, Fachsprache, Pressesprache) und Ethnolekten (z.-B. Kiezdeutsch). 8 Kiezdeutsch wird von Wiese (2012) sogar als „neuer Dialekt“ vorgeschlagen. Diese Unterscheidung ist überaus relevant, weil sie die individuellen Sprachfähigkeiten von Lernenden abbilden kann: Je nachdem, mit welchen Alltagssprachen (z.-B. standardlektal, dialektal, ethnolektal) die Kinder in die Schule kommen, verfügen sie über unterschiedliche sprachliche Lernausgangslagen für den schulischen Schriftspracherwerb. Der Weg zur konzeptionellen Schriftlichkeit, oder besser gesagt: zu Varietäten mit großer kommunikativer Reichweite, ist dann für die Lernenden unterschiedlich lang. Der Dialektforscher König (2004, 137) verdeutlicht das wie folgt: „Was ein Sprecher ‚höherer‘ Sprachformen mit in die Wiege gelegt bekommt, nämlich einen Code mit großer kommunikativer Reichweite (geografisch und sozial mit seiner Anwendbarkeit in den verschiedenen sozialen Situationen), muss ein Mensch, der mit einer Sprachform mit geringer kommunikativer Reichweite, z.-B. auch einem Dialekt, ausgerüstet ist, erst erlernen.“ 9 Manche Lernenden werden Lehrkräfte also mehr in ihrer sprachlichen Bildung - insbesondere beim Erwerb des Lesens und Schreibens - unterstützen müssen als andere (vgl. dazu Röber 2009). Zur inneren Mehrsprachigkeit - letztlich aber quer zu den Varietäten liegend - können zum einen auch die unterschiedlichen Lernersprachen des Deutschen (→ 2) gezählt werden, die sich nicht nur danach unterscheiden, wie lange z.-B. ein Schüler bereits Deutsch lernt und mit welchem quantitativen und qualitativen Input, sondern auch welche Sprachvarietäten erworben werden. Zum anderen sind hier auch jene Spracherfahrun- 8 Vgl. dazu Felder (2016), Löffler (2016) und Dittmar (2010). 9 Am Ende des Erwerbsprozesses verfügt der Mensch dann über zwei Sprachsysteme (z.-B. Standardsprache und Bairisch). 3.1 Innere und äußere Mehrsprachigkeit 39 gen von Kindern zu verorten, die einer besonderen Förderung bedürfen, z.-B. bei Sprachentwicklungsverzögerungen; auch diese liegen jeweils quer zu den Sprachvarietäten des Deutschen. Die äußere Mehrsprachigkeit umfasst verschiedene Sprachsysteme, d.-h. neben Deutsch z.-B. schulische Fremdsprachen (z.- B. Englisch, Französisch), Heritage-/ Migrationssprachen (z.- B. Türkisch, Ukrainisch, Bosnisch), Kontaktsprachen (z.- B. Friesisch, Dänisch) und Gebärdensprachen (z.-B. Deutsche Gebärdensprache/ DGS). Gebärdensprachen gehören zur äußeren Mehrsprachigkeit, weil sie eigenständige Sprachsysteme sind und - wie andere Sprachen - über Dialekte verfügen. Zu beachten ist, dass all die gerade aufgeführten Sprachsysteme - wie die deutsche Sprache auch - jeweils über eine innere Mehrsprachigkeit verfügen. Manche Kinder wachsen z.- B. in der Familie mit einem italienischen Dialekt auf und nicht mit der italienischen Standardsprache. Die Letztere könnten sie erwerben, wenn sie in der Schule Italienisch als Fremdsprache wählen oder aber in den sog. „Herkunftssprachlichen Unterricht“ (HSU) gehen (vgl. dazu Brehmer/ Mehlhorn 2018, 69 ff.). Verfügen Sprachen allerdings über keine nationalsprachlichen Traditionen, dann sind Kindern diese Wege häufig versperrt (vgl. z.- B. Kurdisch und Romani und deren „Unsichtbarkeit“ aufgrund von Stigmatisierungen nach Brizic/ Lo Hufnagl 2016). Und aus inklusionsdidaktischer Perspektive ist ebenfalls relevant, dass hörgeschädigte Kinder häufig bimodal mehrsprachig sind, weil sie Laut- und Gebärdensprachen erwerben (vgl. Becker/ Jaeger 2019, 42 ff.). Nach dieser Unterscheidung in innere und äußere Mehrsprachigkeit sind also alle Menschen (Erzieher: innen, Lehrkräfte, Schulleitungen, Multiplikator: innen, Lernende usw.) mit ihren je eigenen Sprachbiographien schon immer mehrsprachig. Und diese Mehrsprachigkeit - wenn nicht bereits durch Zweisprachigkeit (im Sinne zweier verschiedener Systeme) begründet - wird insbesondere mit dem Eintritt in die Schule weiter ausgebaut; zum einen, weil die Kinder mit der schriftlichen Standardsprache Deutsch lesen und schreiben lernen - so manche vergleichen dies sogar mit dem Erwerb einer Fremdsprache -, zum anderen, weil Fremdsprachen als Fach und eventuell auch Herkunftssprachlicher Unterricht angeboten werden. 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 40 3.2 Konzeptionelle Mündlichkeit/ Konzeptionelle Schriftlichkeit Mit „Sprache der Nähe“ und „Sprache der Distanz“ haben die Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1985) eine Metapher geschaffen, die ein „Erfolgsmodell“ mit beispielloser „Karriere“ begründet hat; insbesondere gilt das für die germanistische Forschung (vgl. Feilke/ Hennig 2016). Es steht für jene beiden Pole auf einem Kontinuum, die auch „konzeptionelle Mündlichkeit“ und „konzeptionelle Schriftlichkeit“ genannt werden. Grundlegend für das Nähe- Distanz-Modell ist die Unterscheidung von Medium und Konzeption. Sie geht auf eine Kreuzklassifikation von Söll (1985) zurück, für die Oesterreicher/ Koch (2016, 20) die folgende Visualisierung nutzen: Während das Medium eine Dichotomie darstellt - entweder ist eine Äußerung, ein Text bzw. Diskurs graphisch oder phonisch -, ist die Konzeption ein Kontinuum, d.-h., eine Äußerung, ein Text bzw. Diskurs kann mehr oder weniger bzw. eher konzeptionell mündlich oder eher konzeptionell schriftlich sein. In Abb. 5 wird dieser Umstand durch die gestrichelte Linie dargestellt, in Abb. 6 durch das Kontinuum (samt Pfeilen in beiden Richtungen). Die auf dem Kontinuum aufgeführten Textbzw. Diskurssorten/ -gattungen I-IX werden als „graduelle Realisierungen“ (Oesterreicher/ Koch 2016, 20) verstanden. Sie sind durch „Aspekte der sprachlichen Variation“, „den Duktus“ bzw. „die verwendeten Varietäten“ (Koch/ Oesterreicher 1994, 587) gekennzeichnet: I) spontanes Gespräch unter Freunden, II) familiäres, spontanes Telefongespräch, III) Privatbrief unter Freunden, IV) Vorstellungsgespräch, V) Presse-Interview, VI) Predigt, VII) wissenschaftlicher Vortrag, VIII) Leitartikel, IX) Gesetzestext. Sie sind durch Abb. 5: Vierfelderschema mit den Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch 3.2 Konzeptionelle Mündlichkeit/ Konzeptionelle Schriftlichkeit 41 je eigene Kommunikationsbedingungen geprägt und unterliegen spezifischen Versprachlichungsstrategien. Feilke (2016, 130) nennt drei „grundlegende Ambivalenzen des Konzepts“, die dazu geführt haben, dass das Modell in der sprach- und literaturdidaktischen Forschung bzw. in schulischen Lehr-Lern-Kontexten oft rezipiert wird. In der linken Spalte stehen die von Koch/ Oesterreicher (eher) intendierten Dimensionen, in der rechten Spalte jene, die dem Modell dennoch innewohnten und entsprechend auch so interpretiert werden könnten (vgl. umfassend Feilke 2016, 131 ff.): Zeitneutralität (Anthropologische Universalität) Entwicklungsbezogenheit Wertneutralität Normativität Medienneutralität Schriftlichkeitsbezug Abb. 7: Intendierte Dimensionen (linke Spalte) und Dimensionen in schulischen Kontexten (rechte Spalte) Die für die schulische Perspektive interessanteren Termini der rechten Spalte seien kurz ausgeführt: Die Lernenden entwickeln ihre in die Schule mitgebrach- Abb. 6: Nähe-Distanz-Modell mit Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien (Oesterreicher/ Koch 2016, 26) 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 42 ten Sprachfähigkeiten weiter, und zwar von einer situationsgebundenen Nähesprachlichkeit zu einer situationsentbundenen Distanzsprachlichkeit (Entwicklungsbezogenheit). Ziel des Deutschunterrichts ist es, alle Lernenden (auch) zur konzeptionellen Schriftlichkeit zu befähigen, die sie phonisch z.-B. in Referaten oder graphisch z.-B. in Klausuren oder in der Rezeption anspruchsvoller pragmatischer und ästhetischer bzw. in der Produktion analytischer Texte anwenden können. Konzeptionelle Mündlichkeit - obwohl in Lehrplänen durchaus als Lerngegenstand genannt - dürfte keine prominente Rolle spielen. So attestiert Feilke (2016, 138) sogar „der Sprachdidaktik ein fast ausschließliches Interesse an der Zieldimension konzeptioneller Schriftlichkeit“ (Normativität). Dies dürfte in der schulischen Unterrichtspraxis ähnlich aussehen - mehr noch: Bei der konzeptionellen Schriftlichkeit könnten Lehrkräfte dem graphischen Medium einen höheren Stellenwert beimessen als dem phonischen. Oder zugespitzt formuliert: Graphisch (und orthographisch) realisierte konzeptionelle Schriftlichkeit (z.- B. in Klausuren) könnte stärker gewichtet werden als phonisch realisierte konzeptionelle Schriftlichkeit (z.-B. in Referaten), nicht zuletzt, weil der schriftliche Sprachgebrauch die prototypische Distanzsprachlichkeit darstellt (Schriftlichkeitsbezug). Kulturgeschichtlich betrachtet, sind sprachliche „Ausbauprozesse gerade an die Schriftlichkeit gebunden“ (Tophinke 2016, 314). Trotz der am Nähe-Distanz-Modell immer wieder geübten Kritik 10 wird das Modell im deutschdidaktischen Diskurs häufig genutzt: Mit dem Modell wird unter anderem beschrieben, wie durch (dialogisches) Vorlesen ästhetisch anspruchsvoller (Bilder-)Bücher Kinder vorschulisch bzw. Lernende schulisch „einen (emotionalen, motivationalen und kognitiven) Zugang zur konzeptionellen Schriftlichkeit im Medium der Mündlichkeit“ (Garbe 2010, 181) gewinnen könn(t)en (vgl. Abb. 8). Selbst ein erweiterter Lese- und Schreibbegriff (vgl. Günthner 2013) scheint mit dem Nähe-Distanz-Modell kompatibel, allerdings nur, wenn bei der dichotomen Unterscheidung graphisch/ phonisch „Zwischenstufen und Übergänge“ angesetzt werden, d.- h. hier ebenfalls ein Kontinuum zu denken wäre (vgl. Hennies/ Ritter 2014, 182). Auch die Studie von Merklinger (2011) zeigt eindrucksvoll, wie man durch ein interaktives, scaffoldingbasiertes Diktier-Schreib-Format „Lernräume für konzeptionelle Schriftlichkeit eröffnen“ (ebd. 192) kann. Auch andere Deutschdidaktiker: innen, wie z.-B. Kleinschmidt-Schinke (2018), haben Modifizierungen vorgenommen: Sie analysiert ausgehend von den Ver- 10 Vgl. dazu die weiteren Beiträge in Feilke/ Hennig (2016). 3.3 Orat und literat: Spracherwerb als Sprachausbau 43 sprachlichungsstrategien (vgl. Abb. 6) die an Schüler: innen gerichtete Sprache (SGS) von Lehrkräften im Deutsch- und Biologieunterricht und kommt zu dem Ergebnis, dass Lehrkräfte ihren konzeptionell schriftlichen Sprachgebrauch von der Grundschule bis hin zur gymnasialen Oberstufe in der mündlichen Unterrichtskommunikation adaptiv an die Sprachhandlungsfähigkeiten ihrer Schüler: innen anpassen (vgl. auch http: / / www.schuelergerichtete-sprache.de). 3.3 Orat und literat: Spracherwerb als Sprachausbau Eine alternative - aufgrund der unterschiedlichen Perspektivierung vielleicht auch eher parallele - Modellierung zum Nähe-Distanz-Modell stellt das bekannte Begriffspaar orat/ literat des Linguisten Utz Maas (2010, 2016) dar. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Modellierungen und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile wurden vielfach kritisch und kontrovers diskutiert; lesenswerte, persönliche Stellungnahmen finden sich in Maas (2016) und Oesterreicher/ Koch (2016). Ausgehend von der antiken Rhetorik plädiert Maas (2016) zum einen für eine Registerdifferenzierung, die sich „im Ausbau der Sprachfähigkeit in der Auseinandersetzung mit den sprachbiografisch sich ändernden Anforderungen der Umwelt geltend“ (Maas 2010, 97) macht, und zum anderen für die Unterscheidung orater und literater Strukturen bei der Abb. 8: Modifizierte Darstellung in Anlehnung an Hurrelmann (2003) und Garbe (2010, 181) aus Topalović/ Drepper (2019, 329); die Platzierung von a-e im phonischen Medium dient lediglich der Veranschaulichung. 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 44 theoretischen Modellierung des kindlichen Spracherwerbs als Sprachausbau. Mit den drei Registern a) formell, b) informell und c) intim werden verschiedene Domänen korreliert, um „die Heterogenität in der beobachtbaren Sprachpraxis“ (Maas 2016, 95) abzubilden: Da das intime Register an die Familie gebunden wird (Mündlichkeit) und das formelle Register an Institutionen und Schriftsprache (Schriftlichkeit), sind Schnittstellen zum Nähe-Distanz-Modell von Koch/ Oesterreicher (→ 3.2) unverkennbar, dies umso mehr, als Maas (2016) „orate gegenüber literaten Strukturen als Pole definiert“ (ebd. 100). In der grafischen Darstellung ist die Medialität - hier mit der Unterscheidung medial schriftlich/ mündlich - von den sprachlichen Strukturen - hier mit der Unterscheidung strukturell orat/ literat - getrennt. Der Sprachausbau findet letztlich in allen Registern statt und wird auch als „Gesamtinventar aller in einer Sprachgemeinschaft nutzbaren strukturellen Ressourcen“ (Maas 2016, 97) bezeichnet. Der Ausbau ist also dynamisch, funktional und mehrdimensional modelliert; der „erweiterte Sprachausbau“ ist allerdings an den „Erwerb der Abb. 9: „Register und Domänen der Sprachpraxis“ (Maas 2016, 96) Abb. 10: Mehrdimensionale Modellierung des Sprachausbaus (Maas 2010, 43) 3.4 BICS und CALP 45 Schrift“ gebunden, denn „ausgebaute Strukturen werden als literate Strukturen bezeichnet“ (Maas 2010, 26). Die sprachlichen Anforderungen in den verschiedenen Registern unterscheiden sich vor allem dadurch, ob die kulturellen Praktiken situativ gebunden (kontextgebunden), d.- h. kommunikativ, oder situativ ungebunden (kontextfrei), d.-h. darstellend, sind (vgl. Maas 2016, 96). Die Maas’sche Modellierung, die explizit eine Entwicklungsbzw. Erwerbsdimension thematisiert, bietet vor allem aufgrund ihrer Perspektivierung auf sprachstrukturelle Merkmale ein großes Potential für die Analyse schulischer Lehr-Lern-Prozesse. Sie könnte den Blick dafür schärfen, dass Lernen in der Institution Schule immer auch sprachliches Lernen, grammatisches Lernen, sprachstrukturelles Lernen - oder kurz: sprachbildendes Lernen - in allen Fächern ist. Haueis (2018) bescheinigt dem Konzept des literaten Sprachausbaus ein größeres Potential als der „Bildungssprache“ (→ 3.5), weil die vorschulisch erworbenen „sprachlichen und kulturellen Praktiken“ der Kinder „als Ressource für das Erlernen des literaten Gebrauchs der Schriftsprache genutzt werden“ (ebd. 79). Erkennbar wird damit auch die Anschlussfähigkeit des literaten Sprachausbaus an die kulturelle Geprägtheit des Spracherwerbs und die „Zone der nächsten Entwicklung“ von Vygotskij (1934/ 2002) (→ 5.1). 3.4 BICS und CALP Die Unterscheidung BICS für Basic Interpersonal Communicative Skills und CALP für Cognitive Academic Language Proficiency hat der kanadische Erziehungspsychologe Jim Cummins (1979), inspiriert von einer empirischen Studie von Skutnabb-Kangas/ Toukomaa (1976), geprägt, in späteren Veröffentlichungen im Hinblick auf die theoretischen Grundlagen präzisiert und kritische Stimmen sowie mögliche Missinterpretationen diskutiert (z.-B. 2000, 2008). Die Dichotomie sollte die Sprachentwicklung von Lernenden, die Englisch als Zweitsprache in schulischen Kontexten lernten, verdeutlichen. Sie wird sowohl in der (inter)nationalen Zweitspracherwerbsforschung als auch in (deutsch)didaktischen und pädagogischen Studien sowie (schulpraktischen) Handreichungen, insbesondere wenn es um fachliches Lernen bei L2 Deutsch geht, breit rezipiert. Im Gegensatz zu BICS, mit denen Sprachfähigkeiten in dialogischer, interaktionaler Kommunikation im Hier und Jetzt, d.-h. kontext- und situationsgebunden, gemeint sind („conversational language“), umfasst CALP Sprachfähigkeiten, die kontextungebunden, abstrakt und kognitiv hoch anspruchsvoll sind („academic language“). In BICS-Situationen können die 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 46 Sprecher: innen den gesamten Situationskontext, Gestik, Mimik bzw. non- und paraverbale Kommunikationsanteile für die Rezeption und Produktion von Sprache nutzen. Sprachhandlungs- und -verstehensfähigkeiten, die CALP erfordern, werden nicht durch Situationsmodalitäten unterstützt und verlangen hohe Abstraktionsfähigkeiten. Die wissenschaftliche Genese dieser überaus einflussreichen, aber auch vielfach kritisierten Unterscheidung - eine aktuelle Zusammenstellung der Kritik bieten Baker/ Wright (2017) - hat Cummins (2000, 2008) wiederholt dargelegt. Interessant ist dabei, dass er sich auf andere, ebenso einflussreiche theoretische Modellierungen beruft, unter anderem auf Vygotskijs „spontaneous and scientific concepts“, Bruners „communicative and analytic competence“, aber auch auf Gibbons’ „playground language and classroom language“ (vgl. 2000, 60 ff; 2008, 75). Im Gegensatz zu diesen seien bei der Unterscheidung von BICS/ CALP vor allem die beiden miteinander verschränkten „cognitive and contextual demands“ (= kognitive und kontextuelle Anforderungen) relevant, die grafisch im Überkreuzdesign dargestellt werden: Den vier Quadranten lassen sich laut Cummins (2000, 68) prototypische Sprachhandlungen zuordnen. Er nennt die folgenden: Alltagsgespräche führen (A), jemanden von seinem Standpunkt überzeugen (B), Notizen von der Tafel abschreiben (C) und einen Essay schreiben (D). Eine Nähe zum Koch/ Oesterreicher’schen Nähe-Distanz-Modell ergibt sich nicht nur aus Cummins’ Unterscheidung „conversational language“ vs. „academic language“, sondern auch aus dem auch hier angenommenen Kontinuum, an dessen einem Pol die phonisch realisierte konzeptionelle Mündlichkeit und an dem anderen Pol die graphisch realisierte konzeptionelle Schriftlichkeit steht: Abb. 11: „Range of contextual support and degree of cognitive involvement in language tasks and activities“ (Cummins 2000, 68) 3.4 BICS und CALP 47 „In general, as outlined in the previous section, context-embedded communication is more typical of the everyday world outside the classroom, whereas many of the linguistic demands of the classroom (e.g. manipulating text) reflect activities that are close to the context-reduced end of the continuum.“ (Cummins 2008, 68) Das mag mit ein Grund sein, warum CALP nicht selten mit konzeptioneller Schriftlichkeit (→ 3.2), aber auch mit Bildungssprache (→ 3.5) gleichgesetzt wird. Laut Leisen (2011, 13) zeichnet sich ein sprachsensibler oder besser noch: sprachbildender Fachunterricht durch ein „kognitiv anregendes CALP- Sprachbad“ aus, von ihm auch „bildungssprachliches Sprachbad“ genannt (→ 7). Ausgehend von Language-Transfer-Theorien (z.-B. in der Interlanguagehypothese) kann angenommen werden, dass CALP-Fähigkeiten von einer Sprache in eine andere Sprache positiv transferiert werden können (→ 2.3). Die Transfers betreffen vor allem allgemeine Abstraktionsfähigkeiten sowie das Wissen um situationsentbundene Sprache und Kommunikation. Neugebauer/ Nodari (1999, 163) verdeutlichen mit den folgenden Beispielen, dass alle Sprachen und Sprachvarietäten der Lernenden in Lehr-Lern-Prozessen genutzt bzw. aktiviert werden sollten, auch weil sie entlastend und sprachbildend wirken könnten: „Wer in einer Sprache gelernt hat, Briefe zu schreiben, wird die dazu nötigen Fähigkeiten (Strukturieren, Gedanken linear formulieren, Ausführlichkeit usw.) auch in einer anderen Sprache nutzen können. Das gleiche gilt auch für andere Bereiche (z.-B. einen längeren Zeitungsartikel verstehen, einen komplexen Handlungsablauf erklären, einen Vortrag verstehen, über Grammatik reflektieren, Wörter differenziert anwenden).“ Dazu gehören also auch textsortenspezifische Sprachhandlungsfähigkeiten. Weitere Transfermöglichkeiten bestehen bei (multimodalen) Literacy-Erfahrungen - verstanden als Literalitäts- und Literaritätserfahrungen - wie z.- B. Wissen um Schrift(kulturen) (Literalität) und z.-B. Wissen um literarische Stoffe und narrative Muster (Literarität). Wir werden darauf im 5. Kapitel zurückkommen, wenn es unter anderem um mehrsprachige Ansätze beim sprachlichen Lernen geht. 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 48 3.5 Alltagssprache - Bildungssprache - Fachsprache Die Unterscheidung von Alltagssprache, Bildungssprache und Fachsprache (zuweilen auch um Wissenschaftssprache ergänzt) wird in verschiedenen Wissenschafts(teil)disziplinen genutzt, insbesondere dann, wenn es um die Erforschung des sprachbildenden Fachunterrichts oder anders gesagt der Bedeutung von Sprache im Fach geht (→ 6). Im Gegensatz zur Bildungssprache sind Alltagsprache(n) und Fachsprache(n) Bestandteil von soziobzw. varietätenlinguistischen Modellen und werden dann als strukturell abgrenzbare funktionale Varietäten des Deutschen der inneren Mehrsprachigkeit zugeordnet (→ 3.1). Felder (2016, 9) unterscheidet bei der Abgrenzung von Varietäten innersprachliche und außersprachliche Differenzierungsmerkmale: Während die innersprachlichen Merkmale auf den Ebenen Phonetik/ Phonologie (auch Prosodie), Graphematik, Morphologie, Lexikologie, Syntax und Textlinguistik (auch Gesprächslinguistik) beschrieben werden können, beziehen sich die außersprachlichen Merkmale auf drei Bestimmungsfaktoren (ebd.): 1. das Areale („z.B. die räumlich begrenzte Verbreitung von heben im Sinne von >halten<“), 2. das Soziale („z.B. chillen als jugendsprachlicher Ausdruck“) und 3. das Fachlich-Funktionale („z.B. die Verwendung des Fachworts Angiographie“) Eine Abgrenzungsdimension von Varietäten ist also auch die jeweilige „Reichweite“: Kommunikative Reichweite wird in der Forschungsliteratur mit Diatopik („Areales“), soziale Reichweite mit Diastratik („Soziales“) und funktionale Reichweite mit Diaphasik („Fachlich-Funktionales“) gleichgesetzt (vgl. z.- B. Riebling 2013, 111). Die geschriebenen deutschen Standardsprachen (in Deutschland, Österreich, der Schweiz usw.), wie wir sie beispielsweise in pragmatischen und ästhetischen Texten, in Lehr- und Handbüchern, aber auch in analogen und digitalen Nachrichtenmedien finden, haben die größte kommunikative Reichweite. Standardsprachlichkeit ist und muss auch das Ziel des Deutschunterrichts sein (vgl. Ossner 2008, 54). Nur wenn Lernende in ihrem Sprach(en)repertoire auch Standardvarietäten produktiv und - besonders - rezeptiv (Hör- und Leseverstehen) nutzen können, ist eine berufliche, aber auch demokratische Teilhabe in allen gesellschaftlichen Domänen gepaart mit Chancengleichheit überhaupt erst möglich. 3.5 Alltagssprache - Bildungssprache - Fachsprache 49 Wir wollen die Bezeichnungen „Bildungssprache“ und „Alltagssprache“ im Folgenden näher betrachten: Der Terminus Bildungssprache ist kein genuin varietätenlinguistischer: So zählt Löffler (2016) zu den „Funktiolekten“ die Alltags-, Literatur-, Fach-, Wissenschafts-, Verwaltungs- und Pressesprache; die Bildungssprache bleibt unerwähnt. In der Forschungsliteratur wird Bildungssprache dennoch als funktionale Varietät bzw. als Register bezeichnet (vgl. z.-B. Feilke 2012). Der Register-Terminus geht auf Halliday (1978) zurück: „Register sind nach Halliday semantisch und grammatisch definierte Varietäten differenziert nach situativen Kontexten.“ (Dittmar 2004, 217) Laut Habermas (1977, 37 ff.) ist Bildungssprache „die Sprache, die überwiegend in den Massenmedien, in Fernsehen, Rundfunk, Tages- und Wochenzeitungen benutzt wird“, und eine Art Mittlerin zwischen Wissenschaftssprache und Umgangssprache. Von der Umgangssprache, die die Sprache des Alltags sei und „‚naturwüchsig‘ gelernt“ werde, unterscheide sie sich „durch die Disziplin des schriftlichen Ausdrucks und durch einen differenzierteren, Fachliches einbeziehenden Wortschatz“, von Fachsprachen „dadurch, daß sie grundsätzlich für alle offensteht, die sich mit den Mitteln der allgemeinen Schulbildung ein Orientierungswissen verschaffen können“. Zur Bedeutung der Bildungssprache aus schulischer Perspektive heißt es bei Gogolin (2009, 268): „Besonderes Gewicht aber besitzt dieses Register im Bildungskontext, weil es in Lernaufgaben, Lehrwerken und anderem Unterrichtsmaterial sowie in Prüfungen verwendet wird, und zwar umso intensiver und ausgiebiger, je weiter eine Bildungsbiographie fortgeschritten ist - also je weiter sich der Unterricht in Fächer bzw. Fächergruppen ausdifferenziert. Auf der normativen Ebene ist mit ‚Bildungssprache‘ dasjenige Register bezeichnet, dessen Beherrschung vom ‚erfolgreichen Schüler‘ erwartet wird.“ Im Modell von Martin/ Rose (2008) und Rose (2018) ist das Register im „context of situation“ verortet, im AA-IALT-Sprachmodell entsprechend unter „Situationskontext(e)“. Um die Varianz von Registern in verschiedenen Situationskontexten zu modellieren, werden in der Halliday’schen Theorie die drei Variablen Field, Tenor und Mode unterschieden, die nach Halliday (1985, 12) das jeweilige Register charakterisieren (hier zitiert nach Martin/ Rose 2008, 11): „Field refers to what is happening, to the nature of the social action that is taking place: what it is that the participants are engaged in, in which language figures as some essential component. 50 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein Tenor refers to who is taking part, to the nature of the participants, their statuses and roles: what kinds of role relationship obtain, including permanent and temporary relationships of one kind or another, both the types of speech roles they are taking on in the dialogue and the whole cluster of socially significant relationships in which they are involved. Mode refers to what part language is playing, what it is that the participants are expecting language to do for them in the situation: the symbolic organisation of the text, the status that it has, and its function in the context […].“ Morek/ Heller (2019) plädieren ausgehend von einer „ethnomethodologisch fundierten Gesprächs- und Textlinguistik“ dafür, statt von einem Register von „bildungssprachlichen Praktiken“ zu sprechen - in Bildungskontexten wären das „z.B. Argumentieren, Erklären, Beschreiben, Berichten“ (ebd. 1 ff.). Als Vorteil nennen sie die Möglichkeit, „die grundsätzliche Kontextualisierung des Gebrauchs von Bildungssprache stärker hervorzuheben“ (Morek/ Heller 2012, 89). Bildungssprachliche Praktiken seien zudem „i.d.R. auf diskursiver/ textueller Ebene verortet“ (Morek/ Heller 2019). Gerade die Tatsache, dass (funktionale) Varietäten wie auch Register je nach den Kommunikationsbedingungen variieren, legt es nahe, „Register“ und damit auch die „Bildungssprache“ im AA-IALT-Sprachmodell auf der Ebene „Situationskontext(e)“ zu sehen, Praktiken bzw. Sprachhandlungen hingegen auf der Ebene „Diskurse/ Texte in Kontext(en)“ (→ 1). Denn: Sprachhandlungen wie BESCHREIBEN , ERKLÄREN , BERICHTEN können sprachlich variabel realisiert werden. In schulischen Situationskontexten erwarten Lehrkräfte z.-B. in Unterrichtsgesprächen oder in Prüfungsformaten (eher) standardbzw. fachsprachliche oder eben auch „bildungssprachliche“ Praktiken - z.- B. beim ARGUMENTIEREN . Anders sieht es jedoch in Freundschafts- oder Schulhofgesprächen aus, in denen etwas beschrieben, erklärt oder begründet wird. Weil diese Unterschiede eine Art schriftkulturelle Konstante in Bildungsinstitutionen sind, können Lernende sprachenübergreifende Transfers nutzen; dabei ist wichtig, dass die Lehrkräfte die sprachlich-diskursiven Erwartungen in den jeweiligen Fächern (Fachkulturen) explizit thematisieren. Vollmer (2011, 2) nennt aus Sicht aller schulischen Fächer acht „zentrale Diskursfunktionen“ (Sprachhandlungen) auf Makroebene, die sich „als Überschneidungsmenge aus den verschiedenen theoretischen Ansätzen und Listen in der Fachliteratur ergeben“ (ebd.) haben: 11 11 https: / / www.home.uni-osnabrueck.de/ hvollmer/ VollmerDF-Kurzdefinitionen.pdf (11.5.2021). 3.5 Alltagssprache - Bildungssprache - Fachsprache 51 1. AUSHANDELN (engl. Negotiating) von Bedeutung wie von Prozessen 2. ERFASSEN / BENENNEN (engl. Naming) 3. BESCHREIBEN / DARSTELLEN (engl. Describing) 4. BERICHTEN / ERZÄHLEN (engl. Reporting/ Narrating) 5. ERKLÄREN / ERLÄUTERN (engl. Explaining) 6. ARGUMENTIEREN / STELLUNG NEHMEN (engl. Arguing/ Positioning) 7. BEURTEILEN / (BE)WERTEN (engl. Evaluating) 8. SIMULIEREN / MODELLIEREN (engl. Simulating / Modelling) Auch in der (spezifisch) deutschdidaktischen Forschung werden die meisten von ihnen thematisiert bzw. erforscht: So gehen Rezat/ Feilke (2018, 24) von sechs „relevanten Texthandlungstypen“ bei der Textproduktion aus, und zwar vom „Erzählen, Beschreiben, Berichten, Erklären, Instruieren, Argumentieren“ (ebd.). Und in der bekannten Längsschnittstudie von Augst et al. (2007), in der die Entwicklung von „Text-Sorten-Kompetenz“ in der Grundschule untersucht wurde, standen bei den Schreibaufträgen im Fokus: ERZÄHLEN , BERICHTEN , INSTRUIEREN , BESCHREIBEN und ARGUMENTIEREN . Das Sprachdaten- Korpus ist eins der wenigen, das online zugänglich ist. Noch nicht (richtig) im Blick der deutschsprachigen Schreibdidaktik ist die Frage, wie Lernende Translanguaging- und Transferprozesse auf dem Weg zu standardsprachlichen Handlungsfähigkeiten nutzen können. Selbst das materialgestützte Schreiben beim ARGUMENTIEREN in der Oberstufe wird nicht aus Sicht von Multilingualität gedacht. 12 Einen anderen wichtigen Aspekt macht Stegkemper (2018) stark: Damit auch Lernende mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung 12 Dengscherz (2019) untersucht Translanguaging in Schreibprozessen von Wissenschaftler: innen und Studierenden. Abb. 12: Multimodales Konzept „bildungssprachlicher Handlungen“ (ebd. 382) 3 Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein 52 „bildungssprachlich“ handeln können, plädiert er dafür, Sprachhandlungen in ihrer Multimodalität (inkl. Multicodalität) zu denken. Auch der Terminus Alltagssprache ist nicht eindeutig und wird begrifflich unterschiedlich gefasst: Nicht selten wird Alltagssprache der konzeptionellen (wie auch medialen) Mündlichkeit bzw. mündlichen, dialogischen Kommunikation und/ oder BICS zugeordnet und Bildungssprache eher der konzeptionellen (wie auch medialen) Schriftlichkeit bzw. schriftlichen, monologischen Kommunikation und/ oder CALP. Während die Bildungssprache (wie auch die Fachsprache) vor allem über spezifische bzw. charakteristische Merkmale beschrieben wird, gibt es „kaum ähnlich explizite Deskriptionen der Alltagssprache“ (Tajmel 2017, 254). Für die Bildungssprache nennt Stahns (2016, 45) in seiner Synopse Funktionsverbgefüge, fachbzw. inhaltsspezifischen Wortschatz und Fremdwörter auf lexikalischer Ebene sowie Nominalisierungen, komplexe Nominalund/ oder Präpositionalphrasen, Komposita und Ableitungen, unpersönliche Konstruktionen (Passivformen etc.), Präfixverben, Konjunktivformen und syntaktisch komplexe Satzkonstruktionen auf grammatischer Ebene. Insbesondere wird kaum kritisch reflektiert, dass sich die Alltagssprachen der Kinder und Jugendlichen in ihrer Nähe bzw. Ferne zu Standardvarietäten unterscheiden, je nachdem, welche Literacy-Erfahrungen sie vor der Schule bzw. im familiären Umfeld machen konnten bzw. können, auch mit Blick auf diskursive Praktiken. Der Weg der Lernenden zu den in Bildungsstandards beschriebenen Kompetenzen ist entsprechend unterschiedlich lang, die Bildungsziele klein- oder großschrittiger erreichbar. Ziel des inklusiven Deutschbzw. Schulunterrichts sollte es deshalb sein, ausgehend von den je individuellen multimodalen Sprach(en)repertoires - im Idealfall der inneren wie äußeren Mehrsprachigkeit - adaptive Lernangebote zu machen, die die Sprachbildungsprozesse aller Lernenden anregen und unterstützen. Entscheidend ist, dass alle Schüler: innen Fortschritte im Lernen machen und wir ihnen das auch zutrauen. 3.6 Aufgaben 53 3.6 Aufgaben A. Malen Sie Ihr ganz persönliches Sprachenportrait (vgl. Grafik im Anhang). Welche Bedeutung haben Zeiten, Orte, Menschen, Lebensabschnitte, Institutionen in Ihrem Sprach(en)repertoire? Tauschen Sie sich mit jemandem darüber aus. B. Sie haben verschiedene Modelle und Ansätze kennengelernt, mit denen die Sprach(en)repertoires von Lernenden beschrieben werden können. Häufig werden dabei verschiedene sprachliche „Pole“ unterschieden. Wählen Sie ein Paar (z.-B. BICS und CALP) aus und ordnen Sie den Polen vergleichbare Bezeichnungen zu. 3.7 Weiterführende Literatur Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 233, 4-13. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Günther, Hartmut/ Ludwig, Otto (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband. Berlin/ New York: De Gruyter, 587-604. Stegkemper, Jan Markus (2018): Schüler*innen mit geistiger Behinderung als Verlierer eines bildungssprachlich orientierten Unterrichts! ? Überlegungen zu einem erweiterten Verständnis bildungssprachlicher Handlungen. In: Caruso, Celestine/ Hofmann, Judith/ Rohde, Andreas/ Schick, Kim (Hrsg.): Sprache im Unterricht. Ansätze, Konzepte, Methoden. Trier: wvt, 373-386. 4 Durchgängige Sprachbildung Sprachkompetenzen werden in allen lebensweltlichen Kontexten eines Menschen sukzessive und ein Leben lang auf- und aus- (oder auch wieder ab-) gebaut. Somit stellen alle Umgebungen, d.-h. alle Kultur-, Situations- und Diskurskontexte, in denen sich Lernende regelmäßig bewegen, immer auch implizite und explizite Erwerbsgelegenheiten dar (vgl. AA-IALT-Modell). Unterschieden werden können diese Lehr-Lern-Kontexte zunächst nach schulischen und außerschulischen Lernorten, wobei sich durchgängige Sprachbildung primär auf den schulischen Kontext bezieht, außerschulische Lernkontexte aber durchaus in die Betrachtung mit einbezieht (vgl. Burwitz-Melzer/ Königs/ Riemer 2015). Grundsätzlich bemüht sich das Konzept der durchgängigen Sprachbildung entsprechend darum, sprachliche Bildungsprozesse möglichst breit in den Blick zu nehmen, wobei in Bezug auf funktionale Varietäten ein besonderer Fokus auf „bildungssprachlichen Fähigkeiten“ (Lange/ Gogolin 2010, 14) liegt. Während Sprachbildung also auf den zentralen Gegenstand, die „Bildungssprache“ ( → 3), verweist, bezieht sich das Attribut durchgängig auf die Umsetzung sprachbildender Maßnahmen bzw. Angebote. Dabei ist einerseits angesprochen, dass Sprachbildung wie auch die zu erwerbenden unterschiedlichen sprachlichen Register selbst (vgl. Spaude/ Settinieri 2018) als ein Kontinuum zu modellieren ist (Reich 2013, 60). Andererseits wird zum Ausdruck gebracht, dass Sprachbildung für alle Menschen relevant ist und dass sich sprachliche Bildungsprozesse zudem durch ganz unterschiedliche lebensweltliche Dimensionen hindurchziehen. Die Vision einer durchgängigen Sprachbildung für alle Schüler: innen 13 wurde im Rahmen des BLK-Modellprogramms FörMig (= Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, 2004-2009) entwickelt, ausdifferenziert und auf Basis „modellhaft erprobter Praxis“ (Reich 2013, 55) konkretisiert. Besondere Schwerpunkte lagen auf Sprachdiagnostik, sprachbildendem Fachunterricht, Kooperation, Mehrsprachigkeit als Ressource sowie der Gestaltung von Übergängen im Bildungssystem (vgl. auch https: / / www.foermig. uni-hamburg.de). Auch wenn der Projektname vermuten lassen könnte, dass 13 Vorläuferkonzepte, auf die sich die durchgängige Sprachbildung stützt, sind insbesondere „Language Across the Curriculum“ (LAC), „Content and Language Integrated Learning” (CLIL), „Sheltered Instruction Observation Protocol” (SIOP), „Language Awareness” sowie „Scaffolding” (Lange/ Gogolin 2010, 15; Brandt/ Gogolin 2016, 8 f.). 4 Durchgängige Sprachbildung 56 Überlegungen zur durchgängigen Sprachbildung nur auf Lernende mit „Migrationshintergrund“ beschränkt sein könnten, so wurde das Konzept doch von Anbeginn an inklusiv gedacht und adressierte zumindest auf der Umsetzungsebene grundsätzlich alle Lernenden (vgl. Gogolin 2018). 4.1 Vertikale und horizontale Dimensionen Bei der Modellierung der durchgängigen Sprachbildung werden systematisch eine vertikale (diachrone) Dimension sowie eine horizontale (synchrone) Dimension unterschieden. Die vertikale Dimension bezieht sich dabei zunächst auf den sprachbiographischen Verlauf in Bildungsinstitutionen. Hier lässt sich im Verlauf der Bildungsbiographie eine kontinuierlich ansteigende Komplexität sprachlicher Formen modellieren (Tab. 2). Erwerbskontext Erwerbsfokus Diskursbeispiel Kindertagesstätte (U3 14 ) Grundwortschatz • Was ist das? • Ente. • Ja, genau, und wie macht die Ente? • Quak, quak, quak… • Und was ist das ? Kindertagesstätte (Ü3) Sprachliche Grundstrukturen • Und wohin fährt dein Auto? Fährt es zum Supermarkt oder zur Schule? Oder willst du auf dem Parkplatz stehenbleiben? • Ich will zu die Schule. Grundschule Schriftspracherwerb, Ausbau literater Strukturen Magneten „kleben“ nicht aneinander, sie „werden voneinander angezogen“. Sekundarstufe I Ausbau fachsprachlicher Kompetenzen „Dominant-rezessiv“ bedeutet, dass es ein dominantes Allel, das sich im Phänotyp immer durchsetzt, und ein rezessives Allel, das phänotypisch nur sichtbar wird, wenn es von beiden Elternteilen vererbt wird, gibt. 14 Kindertagesstätten trennen in der Regel zwischen Gruppen für Kinder unter drei Jahren (U3) und Kinder über drei Jahren (Ü3). Manchmal werden zusätzlich Vorschulgruppen für Kinder im letzten Jahr vor der Einschulung gebildet. 4.1 Vertikale und horizontale Dimensionen 57 Sekundarstufe II Übergang zur Wissenschaftssprache Historische Quellen müssen vor ihrer Interpretation grundsätzlich kritisch in ihrem Erkenntniswert in Bezug auf die Forschungsfrage eingeschätzt werden. Berufsausbildung oder Studium Berufs- oder Wissenschaftssprache Die Valenz eines Verbs bezieht sich darauf, wie viele obligatorische und fakultative Ergänzungen es fordert. Beruf Berufssprache Eins drei kariös. Tab. 2: Durchgängige Sprachbildung in vertikaler (diachroner) Perspektive Während im vorschulischen Elementarbereich der Fokus klar auf dem Aufbau allgemeinsprachlicher Grundlagen sowie auf Vorläuferfertigkeiten liegt, markiert der Eintritt in die Grundschule den Beginn des Schriftspracherwerbs und damit den sicherlich größten Einschnitt in der Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Eroberung der schriftsprachlichen Welt, insbesondere durch den Erwerb von Lese- und Schreibkompetenz, stellt zumindest in Schriftkulturen die zentrale Vorbedingung des Erwerbs zunehmend komplexerer sprachlicher Muster dar. Der Übergang in die Sekundarstufe zeichnet sich dann durch eine Auffächerung der Bildungsdomänen aus. So geht beispielsweise der Sachunterricht in ein ganzes Fächerspektrum u.-a. aus Biologie, Chemie, Physik, Erdkunde, Geschichte, Politik über. In der Sekundarstufe II bahnt sich der Übergang von der Fachsprachlichkeit zur Wissenschaftssprache an (vgl. Lange/ Gogolin 2010, 16). Dieser domänenspezifische Sprachausbau setzt sich fort bis in Ausbildung und Beruf hinein, wobei er sich zunehmend individualisiert, was zu ganz unterschiedlichen Sprachkompetenzprofilen führen kann, die bei Erwachsenen nicht zuletzt stark durch ihr Arbeitsumfeld geprägt sein können. Gleichzeitig wandelt sich unsere Sprachkompetenz auch im Erwachsenenalter noch fortlaufend. Sprachen, aber auch sprachliche Teilkompetenzen, die wir nicht anwenden, vergessen wir durchaus auch wieder (language loss, language attrition). Wer (ohne Chemiestudium) wäre bspw. noch in der Lage, das Periodensystem der Elemente fachsprachlich angemessen zu erläutern? Oder wer spricht noch einigermaßen fließend Französisch, auch wenn die Fremdsprache mehrere Jahre in der Schule gelernt wurde? Sprachkompetenzverlust und der Verlust von Fachwissen sind hier eng miteinander verbunden. Gleichzeitig bauen wir unsere Sprachkompetenzen ganz selbstverständlich aber auch fortlaufend weiter aus, wenn wir z.-B. ein neues Hobby beginnen, ein Baby bekommen, den Arbeitsplatz, das Studienfach oder den Studienort wechseln oder 4 Durchgängige Sprachbildung 58 die Lebenspartnerschaft ändern und uns dadurch in ‚fremden‘ Kontexten mit neuen Interaktionspartner: innen in uns zuvor unbekannte Diskurse einarbeiten. Auch hier wird noch einmal deutlich, wie eng Sprache und lebensweltliche Domänen grundsätzlich verbunden sind. Eine besondere Herausforderung bei der Gestaltung sprachbildender Prozesse liegt in den Übergängen zwischen den Bildungsinstitutionen, um angestoßene Entwicklungen bestmöglich weiter zu unterstützen und nicht etwa abreißen zu lassen. FörMig hatte sich daher u.-a. zum Ziel gesetzt, diese Übergänge durch die Entwicklung unterschiedlicher sprachdiagnostischer Verfahren (→ 5) abzufedern. Im Gegensatz zur vertikalen, bildungsbiographischen Dimension nehmen die verschiedenen horizontalen Dimensionen durchgängiger Sprachbildung keine diachrone, sondern eine synchrone Perspektive ein. Sie erstrecken sich über einzelne Fächer bzw. Lernbereiche und schließen verschiedene Bildungsakteur: innen (Eltern, außerschulische Partner: innen) sowie den Herkunftssprachenunterricht mit ein. Die horizontalen Dimensionen sind dabei immer wieder unterschiedlich unterteilt worden, so z.- B. etwas differenzierter bei Gogolin/ Lange (2011, 119): „Horizontale Verbindungsstellen beschreiben (a) die Beziehungen zwischen den Sprachen unterschiedlicher Fächer und Lernbereiche in der Schule (Sprachbildung in allen Fächern) sowie (b) zwischen den Sprachen schulischer, schulbegleitender und außerschulischer Lehr-Lern-Situationen (z.-B. Einbezug der Eltern, Sprachbildung in Ganztagesangeboten) und (c) zwischen unterschiedlichen Sprachen (Erst-, Zweit- und Fremdsprachen).“ Im Unterschied dazu unterscheidet Lange (2012) lediglich drei Dimensionen, nämlich Bildungsbiographie (entspricht der vertikalen Dimension), Themenbereiche und Mehrsprachigkeit (auf horizontaler Ebene). Diese unterschiedlichen Klassifikationen zusammenführend könnte man sagen, dass Sprachbildung durchgängig über die Zeit (vertikale Dimension) (Tab. 1) sowie über alle Fächer, alle Sprachen und alle Bildungskontexte (horizontale Dimensionen) erfolgen sollte (Tab. 3). 4.1 Vertikale und horizontale Dimensionen 59 Kooperationsebene Beispiel Über alle Fächer Im Physikunterricht wird erarbeitet, welche sprachlichen Mittel bei einer Versuchsbeschreibung eingesetzt werden können. Die Ergebnisse werden auf einem Lernplakat festgehalten. Über alle Sprachen Im Französischunterricht wird gesammelt, wie verschiedene Obst- und Gemüsesorten auf Französisch, Englisch und in anderen Sprachen aus den Repertoires der Lernenden bezeichnet werden. Über alle Bildungskontexte (d.-h. -einrichtungen und -akteur: innen) Im Deutschunterricht wird „Effi Briest“ gelesen und mit einem Ausflug ins Museum verknüpft, das eine Ausstellung zum Thema „Kindheit im 19.-Jahrhundert“ museumspädagogisch mit einer Rallye für Lernende begleitet. Tab. 3: Durchgängige Sprachbildung in horizontaler (synchroner) Perspektive Durchgängige Sprachbildung über alle Fächer postuliert dabei zunächst das viel zitierte: „Jeder Unterricht ist (auch) Sprachunterricht.“ Neben fachlichen Lernzielen sollten folglich stets auch sprachliche Lernziele transparent gemacht und angestrebt werden (→ 6). Darüber hinaus sollte das vollständige Sprach(en)repertoire der Lernenden in den Blick genommen werden, was z.-B. Herkunftssprachenunterricht oder bilinguale Schulmodelle einschließt, aber auch schlicht den affektiven oder kognitiven Einbezug mehrerer Sprachen neben dem Deutschen als Verkehrssprache sowie unterschiedlicher funktionaler Varietäten in den Schulalltag anvisiert (vgl. z.-B. Reich/ Krumm 2013, Hufeisen/ Topalović 2018). Durchgängige Sprachbildung über alle Bildungskontexte, -institutionen und -akteur: innen (was die Eltern bzw. Familien selbstverständlich mit einschließt) kann bspw. Sprachbildungsprozesse in Ganztagsangeboten, im Museum, der Bibliothek, der Musikschule oder im Sportverein fokussieren. Dabei müssen die unterschiedlichen Fächer, Sprachen oder Kontexte nicht notwendigerweise miteinander vernetzt werden, wenngleich dies durchaus erwünscht ist und im Sinne vernetzten Lernens und positiven Transfers häufig auch angestrebt wird, insbesondere über die unterschiedlichen Sprachen von Lernenden hinweg (→ 5). Das aktuellste uns vorliegende Dimensionenmodell durchgängiger Sprachbildung hebt die Sprachenebene als „transversale Dimension“ entsprechend besonders hervor, stellt gleichzeitig aber weiterhin die Sprachbildung über alle Fächer ins Zentrum des Konzepts (Abb. 13). 4 Durchgängige Sprachbildung 60 4.2 Gelingensbedingungen und Qualitätskriterien Bereits aus der Darstellung der vertikalen sowie horizontalen (bzw. transversalen) Dimensionen durchgängiger Sprachbildung wird unmittelbar deutlich, wie zentral der eingangs bereits angesprochene Aspekt der Kooperation für das Gelingen dieses Ansatzes ist. Ohne einen regen Austausch zwischen allen involvierten Bildungsakteur: innen ließe sich keine stringente Durchgängigkeit erzielen. Im Rahmen von FörMig wurde daher auch das Konzept der Netzwerke für durchgängige Sprachbildung erarbeitet, das u.-a. mittels zweier Publikationen (Salem et al. 2013; Dobutowitsch et al. 2013) konkrete Hinweise zur Etablierung funktionaler Kooperationsstrukturen gibt. Eine weitere zentrale FörMig-Publikation befasst sich mit Qualitätskriterien von Unterricht im Sinne einer durchgängigen Sprachbildung. Diese sind von einer AG Durchgängige Sprachbildung im Rahmen des Projekts entwickelt worden, die im Mai 2006 ihre Arbeit aufnahm und deren spezifisches Ziel darin bestand, „Sprachbildung im Unterricht aller Fächer umzusetzen“ (Gogolin et al. 2011, 7), die also insbesondere auf die horizontale Dimension über alle Fächer fokussierte. Aus den Erfahrungen mit durchgängiger Sprachbildung von sieben Modellschulen in fünf Bundesländern sind die folgenden sechs Qualitätsmerkmale (Tab. 4) abgeleitet worden: Abb. 13: Konzept der „durchgängigen Sprachbildung“ nach FörMig (Gogolin 2018, 477) 4.2 Gelingensbedingungen und Qualitätskriterien 61 QM 1 Die Lehrkräfte planen und gestalten den Unterricht mit Blick auf das Register Bildungssprache und stellen die Verbindung von Allgemein- und Bildungssprache explizit her. QM 2 Die Lehrkräfte diagnostizieren die individuellen Voraussetzungen und Entwicklungsprozesse. QM 3 Die Lehrkräfte stellen allgemein- und bildungssprachliche Mittel bereit und modellieren diese. QM 4 Die Schülerinnen und Schüler erhalten viele Gelegenheiten, ihre allgemein- und bildungssprachlichen Fähigkeiten zu erwerben, aktiv einzusetzen und zu entwickeln. QM 5 Die Lehrkräfte unterstützen Schülerinnen und Schüler in ihren individuellen Sprachbildungsprozessen. QM 6 Die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler überprüfen und bewerten die Ergebnisse der sprachlichen Bildung. Tab. 4: Qualitätsmerkmale (QM) durchgängiger Sprachbildung (Gogolin et al. 2011, 5) Wie auch an den Qualitätsmerkmalen ersichtlich, wird das potenziell sehr weitreichende Konzept der durchgängigen Sprachbildung allerdings häufig auf die Dimension über alle Fächer verengt, d.-h. auf die Forderung, dass „die Vermittlung bildungssprachlicher Kompetenzen nicht nur im Rahmen des Deutschunterrichts, sondern in allen Fächern geschehen sollte“ (Brandt/ Gogolin 2016, 9), ggf. auch in Kombination mit der bildungsbiographischen Dimension. Diese Verengung erscheint jedoch wenig erstrebenswert, da die besondere Strahlkraft des Konzepts der durchgängigen Sprachbildung ja gerade darin begründet liegt, dass sie eben auf alle Menschen mit all ihren Sprachen und Sprachvarietäten, und zwar immer und überall zielt. Es verweist damit schlicht darauf, dass kontinuierlicher „Sprachausbau“ (→ 3) als Selbstverständlichkeit gelten kann, und nimmt somit im Unterschied bspw. zu älteren Begriffen wie Sprachförderung eine inklusive, wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung ein. Dies spiegelt sich auch in der Genese des Konzepts: „Die Einführung des Begriffs ‚Sprachbildung‘ (statt ‚Sprachförderung‘) in den Sprachgebrauch des Programms geht auf Rückmeldungen aus den Länderprojekten zurück: Viele Beteiligte wiesen auf die Verbindung des Terminus ‚Förderung‘ mit der Vorstellung von zusätzlichen Fördermaßnahmen speziell für sprachlich schwache Kinder und Jugendliche hin. Im Modellprogramm FörMig stand aber eine sprachliche Bildungsaufgabe im Mittelpunkt, die jeden Unterricht und die ganze Schullaufbahn einbezieht.“ (Lange/ Gogolin 2010, 14 - Hervorhebung im Original) 4 Durchgängige Sprachbildung 62 Dass dieser Ansatz seiner Natur nach zunächst visionär ist, sehen auch die Autor: innen: Es handele sich ganz klar „um einen normativen Begriff, den Ausdruck einer pädagogischen und bildungspolitischen Orientierung, also nicht eine Analyse von Bestehendem, sondern eine Idee davon, wohin sich das Bestehende entwickeln könnte und sollte“ (Reich 2013, 55). Entsprechend warnt Reich (2013, 55) gleichzeitig: „Die Bedeutungen dieses Leitbegriffs sind auch nicht definitorisch festgelegt, sondern folgen der Dynamik pädagogischer und didaktischer Neuerungen - mit der Gefahr, dass der Begriffsgebrauch auch schillernd und ungenau werden kann.“ Liest man den aktuellsten Beschluss der KMK (2019) zu Fragen der durchgängigen Sprachbildung, stößt man auf folgende Ausführungen: „Sprachliche Bildung bezeichnet alle durch das Bildungssystem systematisch angeregten Sprachentwicklungsprozesse und ist allgemeine Aufgabe im Elementarbereich und des Unterrichts in allen Fächern.“ (KMK 2019, 3) Sprachliche Bildung wird hier als Standardformulierung verwendet; das Adjektiv durchgängig kommt in besagtem Beschluss zwar mehrfach vor, jedoch nicht attributiv zu Sprachbildung. Auch wird von sprachlicher Bildung als Querschnittsaufgabe gesprochen, die systematisch erfolgen sollte (ebd.). Interessanterweise taucht an ganzen 17 Stellen im Text auch die Formulierung „sprachliche Bildung und Sprachförderung“ (ebd.) auf, die den u. E., gerade auch im Kontext der Inklusionsdebatte 15 , sehr progressiven Gedanken der Sprachbildung für alle anstelle einer stigmatisierenden Sprachförderung für die einer fiktiven Norm nicht entsprechenden Schüler: innen zu konterkarieren scheint. So erläutert das Papier: „Sprachförderung bezeichnet in Abgrenzung zur sprachlichen Bildung gezielte Fördermaßnahmen, die sich insbesondere an Kinder und Jugendliche mit besonderen Schwierigkeiten oder Entwicklungsverzögerungen richten, die diagnostisch ermittelt wurden. [Sie] hat kompensatorische Ziele.“ (KMK 2019, 4) Ob die von Vollmer/ Thürmann (2013, 42) konstatierte „Tendenzwende vom extracurricularen Reparaturbetrieb für sprachliche Risikogruppen in den Händen von Sprachspezialisten hin zu Sprachbildung als einer durchgängigen und fächerübergreifenden Aufgabe des Regelunterrichts“ bereits als vollzogen gelten kann, wird sich demnach noch zeigen müssen. Unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende durchgängige Sprachbildung stellen selbstverständlich entsprechend ausgebildete Lehrkräfte dar. Analog zur durchgängigen Sprachbildung erscheint daher auch die Etablierung einer durchgängigen Lehrkräftebil- 15 Zur Sicht auf Mehrsprachigkeit im Rahmen der Inklusionsdebatte vgl. z.- B. Riemer (2017) oder Settinieri (2017). 4.3 Aufgaben 63 dung im Sinne einer „Professionalisierung für sprachliche Bildung“ (Benholz/ Siems 2016, 36) dringend geboten (vgl. auch Jostes/ Darsow 2017, Settinieri 2018 für einen Überblick). Die einzelnen Bundesländer haben hier im Laufe insbesondere der letzten zehn Jahre ganz unterschiedliche Maßnahmen ergriffen. So sind in die erste Phase der Lehrkräftebildung vielerorts sog. DaZ-Module integriert worden; weniger Bundesländer haben sich für ein grundständig zu studierendes Unterrichtsfach (Drittfach) Deutsch als Zweitsprache entschieden (vgl. z.-B. Baumann/ Becker-Mrotzek 2014, Baumann 2017). Ihrer irreführenden Bezeichnung zum Trotz haben diese Lehrangebote in aller Regel durchgängige Sprachbildung zum Gegenstand und beschäftigen sich nicht ausschließlich mit dem Deutschen als Zweitsprache. Für die zweite und dritte Phase der Lehrkräftebildung liegen unseres Wissens keine systematischen Überblicksdarstellungen zur Bildungslandschaft vor, aber auch hier werden diverse Anstrengungen unternommen. So hat das Bundesland Nordrhein-Westfalen im Rahmen der landesweiten Weiterbildungsinitiative Deutsch als Zweitsprache 2016 bspw. Weiterbildungsstudiengänge an elf lehrkräftebildenden Hochschulen des Landes eingeführt. Und auch der aktuelle KMK-Beschluss (2019, 9) fordert: „Die Vermittlung von Konzepten der sprachlichen Bildung und Sprachförderung sollte möglichst Bestandteil aller Phasen der Lehrkräftebildung sein und ist im Rahmen der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern zu berücksichtigen.“ 4.3 Aufgaben A. Untenstehend finden Sie einen Auszug aus dem „Kernlehrplan für die Gesamtschule - Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Naturwissenschaften. Biologie, Chemie, Physik“ zum Inhaltsfeld „Sonnenenergie und Wärme“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [Hrsg.] 2013, 97-98). Welche sprachlichen Anforderungen werden in den Kompetenzerwartungen formuliert? Markieren Sie im Text. B. Welche konkreten Praxisbeispiele fallen Ihnen zu durchgängiger Sprachbildung über die drei horizontalen Ebenen ein? Sammeln Sie ggf. auch in der Gruppe. 4 Durchgängige Sprachbildung 64 4.4 Weiterführende Literatur 65 4.4 Weiterführende Literatur Gogolin, Ingrid (2016): Zum Schluss: Optimaler HSU-Unterricht als Teil einer neuen Kultur der Sprachbildung - eine Zukunftsvision. In: Schader, Basil (Hrsg.): Grundlagen und Hintergründe. Zürich: orell füssli Verlag, 176-182. Lange, Imke/ Gogolin, Ingrid (2010): Durchgängige Sprachbildung. Eine Handreichung. Unter Mitarbeit von Dorothea Grießbach. Münster: Waxmann. 5 Sprachliches Lernen Einen möglichen Denkrahmen für sprachliches Lernen eröffnet das folgende Zitat des Sprachdidaktikers Reinold Funke. Es stammt aus seinem Statement zur Ringvorlesung „Sprachliche und literarische Bildung“ im WiSe 2007/ 08 an der PH Heidelberg: „Wenn man von sprachlicher Bildung redet, so weist man damit auf eine Herausforderung hin - sich nämlich auf ein sprachliches Lernen einzulassen, das daraus entsteht, dass im eigenen Sprechen-Können angelegte Potentiale sich entfalten, unabhängig von Zielvorgaben, die von außen gemacht werden mögen. Darin kann ein Motiv für sprachliches Lernen liegen, das von einzigartiger Macht ist.“ (zitiert nach Härle/ Rank 2008, 8 f.) Zwei Gedanken sind hier entscheidend: 1) Ausgangspunkt des sprachlichen Lernens ist das sprachliche Wissen und Können der Lernenden. 2) Die Entfaltung sprachlicher Potentiale sollte auch implizit erfolgen. Daraus ergeben sich weiterführende Fragen zu Lehr-Lern-Prozessen: Welche Möglichkeiten haben Lehrkräfte, das sprachliche Lernen adaptiv zu unterstützen? Wo sind diese sprachbildenden Lernangebote in den Bildungsstandards verortet? Und welche Sprachhandlungsfähigkeiten sollen die Lernenden (weiter)entwickeln? Alle nationalen Bildungsstandards für das Fach Deutsch, d.- h. die Bildungsstandards a) für den Primarbereich, b) den Ersten Schulabschluss (ESA) und den Mittleren Schulabschluss (MSA) und c) die Allgemeine Hochschulreife, 16 unterscheiden die vier sprachlichen Grundfertigkeiten Sprechen, Zuhören, Lesen und Schreiben. Laut den Bildungsstandards gehören die sprachlichen Grundfertigkeiten zu den prozessbezogenen Kompetenzbereichen, die „fachbezogen wie überfachlich bedeutsam“ sind (vgl. z.-B. BS AHR 2012, 13 f., aber auch aktuell BS PB 2022, 8 f.). Baker/ Wright (2017, 15 f.) differenzieren diese „four basic domains“ weiter aus: „In terms of ability in two languages, the four basic domains are listening, speaking, reading and writing. With each of these proficiency dimensions, it is possible to fragment into more detailed dimensions (e.g. pronunciation, vocabulary, grammar, meaning and style). Those sub-dimensions can subsequently be further dissected and divided.“ 16 Alle Bildungsstandards befinden sich online auf den Seiten der Kultusministerkonferenz (KMK): https: / / www.kmk.org/ themen/ allgemeinbildende-schulen/ unterrichtsfaecher/ deutsch.html. 5 Sprachliches Lernen 68 Aussprache, Wortschatz, Grammatik, Semantik und Stil, die Baker/ Wright (2017) als mögliche Subdimensionen benennen, stellen mitsamt den vier sprachlichen Grundfertigkeiten für alle schulischen Sprachfächer wichtige Themenbereiche dar: vom Fach Deutsch, über die Fremdsprachen (in Deutschland in erster Linie Englisch und Französisch) 17 bis hin zum sog. Mutterbzw. Herkunftssprachlichen Unterricht (MSU/ HSU) (u.-a. Türkisch, Polnisch, Spanisch). Sprachlichkeit spielt aber auch in den sog. nicht-sprachlichen Fächern wie Geschichte, Erdkunde, Mathematik eine wichtige Rolle, insbesondere wenn es um bilingualen Sachfachunterricht geht. Hier werden fachliches und sprachliches Lernen integriert (→ 6). Neben den vier oben genannten sprachlichen Grundfertigkeiten spielen in den Bildungsstandards für das Fach Deutsch zwei weitere Aspekte eine wichtige Rolle: Zum einen wird die Entwicklung von Sprachbewusstheit hervorgehoben. Sie wird z.-B. in den Bildungsstandards für den Primarbereich im Lernbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ (BS PB 2022, 8) und in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife mit der ähnlichen Bezeichnung „Sprache und Sprachgebrauch reflektieren“ (BS AHR 2012, 20) thematisiert bzw. explizit genannt: „Die Schülerinnen und Schüler analysieren Sprache als System und als historisch gewordenes Kommunikationsmedium und erweitern so ihr Sprachwissen und ihre Sprachbewusstheit. Sie nutzen beides für die mündliche und schriftliche Kommunikation.“ Zum anderen wird aber auch die Bedeutung eines integrativen Deutschunterrichts betont, in dem verschiedene (sprachliche) Fächer miteinander verbunden werden können, vor allem aber die vier Lernbereiche des Faches Deutsch selbst; von diesen sind die beiden domänenspezifischen Kompetenzbereiche „Sich mit Texten und anderen Medien auseinandersetzen“ und „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ besonders für das Fach Deutsch prägend, d.- h. fachspezifisch ausgewiesen; hier werden die prozessbezogenen Kompetenzen, die „fachbezogen wie überfachlich“ erworben werden, „verbindlich konkretisiert“ (ebd. 8). Und gerade der Lernbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ kann als eigenständiger, vor allem aber auch quer zu den anderen Lernbereichen liegender Bereich modelliert werden (vgl. Topalović/ Michalak 17 Laut D-Statis (Stand: 23.10.2019) lernten im Schuljahr 2018/ 19 an allgemeinbildenden Schulen 7.025.004 Schüler: innen Englisch, 1.401.189 Französisch, 597.279 Latein, 463.968 Spanisch, 101.862 Russisch, 42.435 Türkisch etc. (Zugriff: 14.4.2020). 5.1 In der Zone der nächsten Entwicklung lernen 69 2012). Mit anderen Worten: Er ist bei der Entwicklung der „prozessbezogenen Kompetenzbereiche“ Sprechen und Zuhören, Schreiben und Lesen immer ‚dabei‘: „Die Sprache und der Sprachgebrauch sind zentrale Gegenstände des Deutschunterrichts. Die Untersuchung von sprachlichen Strukturen und sprachlicher Verständigung eröffnet hier Einblicke in die Leistungen von Sprache als Kommunikationsmedium und in die Bedingungen ihrer situations-, adressaten- und intentionsangemessenen Verwendung. Diese Einblicke bilden die Grundlage für einen bewussten Umgang mit Sprache beim Sprechen und Zuhören, beim Lesen und Schreiben, beim Umgang mit Texten und Medien und beim Nachdenken über digital vermittelte Formen des sprachlichen Handelns.“ (BS PS 2022, 19) In den „Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife“ stellt „Sprachbewusstheit“ sogar einen eigenständigen Lernbereich dar und „schließt eine Sensibilität für Stil und Register sowie für kulturell bestimmte Formen des Sprachgebrauchs, z.-B. Formen der Höflichkeit, ein“ (2012, 21). Nach Ausführungen zum adaptiven Lernen in der „Zone der nächsten Entwicklung“ (→ 5.1) und zur Entwicklung von Sprach(en)bewusstheit (→ 5.2) werden wir Ansätze für sprachliches Lernen vorstellen, die mehrere Gemeinsamkeiten haben: Sie sind für integrativ-inklusive Lernsettings geeignet, sie unterstützen auch implizites sprachliches Lernen, sie entwickeln die Sprach(en)repertoires und die Sprach(en)bewusstheit der Lernenden weiter und sie lassen sie in kulturell bedeutsamen Rahmungen miteinander kommunizieren und kooperieren. Die Lernenden können gemeinsam über Sprache(n) und Schriftsystem(e), aber auch über Sprache(n) und Literatur(en) nachdenken und sich als sprachlich handelnde Subjekte wahrnehmen. 5.1 In der Zone der nächsten Entwicklung lernen In den letzten Jahren haben sich zwei Termini disziplinenübergreifend zu einem überaus wichtigen Wortpaar entwickelt: Heterogenität und Adaptivität. Sowohl in der Deutschdidaktik als auch im Deutschunterricht dürfte Konsens sein: Wenn die sprachlichen Lernausgangslagen heterogen sind, dann brauchen Lernende adaptive, d.-h. an ihren individuellen sprachlichen Lernstand angepasste Lernangebote. Folgen wir Vygotskij (1934/ 2002), dann findet erfolgreiches Lernen immer in der Zone der nächsten Entwicklung statt: 5 Sprachliches Lernen 70 „Wir sagten, ein Kind könne in der Zusammenarbeit immer mehr leisten als allein. Aber wir müssen ergänzen: nicht unendlich mehr, sondern nur in gewissen Grenzen, die eben durch seinen Entwicklungsstand und seine intellektuellen Möglichkeiten gezogen werden. In der Zusammenarbeit ist das Kind stärker und klüger als in der selbstständigen Arbeit. […] Die größere oder geringere Möglichkeit des Kindes, von dem, was es selbständig kann, zu dem überzugehen, was es in Zusammenarbeit kann, erweist sich als das sensibelste Symptom, um die Entwicklungsdynamik und den Lernerfolg eines Kindes zu kennzeichnen. Diese Möglichkeit des Kindes ist mit seiner Zone der nächsten Entwicklung identisch.“ (Vygotskij 1934/ 2002, 328 f.) Mit Vygotskijs Ausführungen können wir nicht nur für eine Könnensperspektive plädieren, wenn es um die Lernbeobachtung geht. Auch eine inklusive Haltung bei der Unterstützung und Förderung sprachlicher Lernprozesse ist ihnen inhärent. Die folgende, in Anlehnung an Kuzminykh (2016) erstellte Grafik unterscheidet drei verschiedene „Zonen“: Im Zentrum steht das jeweilige (sprachlich-kommunikative) Wissen und Können der Lernenden. Der Strich zwischen „Wissen“ und „Können“ steht für eine Schnittstelle, d.-h. eine mögliche Verschränkung von Wissen und Können und damit nach Klieme (2004) für „Kompetenz“. Werden Lernende sprachlich unterfordert, stagniert die Entwicklung ihrer Sprachhandlungsfähigkeiten. Abb. 14: Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung 5.1 In der Zone der nächsten Entwicklung lernen 71 Werden zu hohe Anforderungen gesetzt, dann könnten sie überfordert werden (z.- B. beim Lesen eines komplexen Textes auf sog. „Frustrationsniveau“). Ihr sprachliches Selbstkonzept könnte leiden, sprachliches Lernen in Bildungsinstitutionen negativ konnotiert werden. Nach Naugk et al. (2016, 44), die bei Unter- und Überforderung von möglichen „Krisen im Lernprozess“ sprechen, gilt für den inklusiven Deutschunterricht die „Gemeinsamkeit als Passungsherausforderung“: „Gemeinsamkeit liegt dann vor, wenn eine Gruppe von Lernenden im Hinblick auf ein Unterrichtssetting Adaptivität zeigt, sprich: wenn alle Kinder im Hinblick auf ihre Lernvoraussetzungen ein für sie zur Verfügung gestelltes Lernarrangement in produktiver Art und Weise bearbeiten können. Sobald einzelne Kinder aufgrund individueller Lern- und Unterstützungsbedürfnisse von den Anforderungen des Settings über- oder unterfordert werden, entsteht ein Passungsproblem.“ (Naugk et al. 2016, 44) Und dieses „Passungsproblem“ könnte durch einen dynamisch gestalteten adaptiven Deutschunterricht überwunden werden. Verfügen Lehrkräfte über „adaptive Lehrkompetenz“, dann sind sie in der Lage, ihren Unterricht bei der Planung und bei der Durchführung an die individuellen Lernprozesse der Schüler: innen „laufend anzupassen“ (Brühwiler 2014, 74 f.). Hier zeigt sich eine wichtige Parallele zu Scaffolding-Konzepten (→ 6). Aus deutschdidaktischer Sicht impliziert Adaptivität, dass Lehrkräfte Wissen über die vorbzw. außerschulischen Spracherfahrungen (→ 3), über die jeweiligen Sprachentwicklungen (→ 2) und über die Bildungsstandards in den verschiedenen Lernbereichen haben. Vereinfacht gesprochen, haben sie dann Wissen über (implizite) Erwerbsprozesse und (explizite) Vermittlungsprozesse und ihre jeweilige Passung. Sie verfügen dann aber auch über einen kritisch-prüfenden Blick etwa bei analogen und digitalen Lernmedien (z.- B. auch im Hinblick auf adaptive Aufgabenstellungen) sowie über ein breites Repertoire an methodischen Zugängen samt der Kenntnis ihrer Möglichkeiten und Grenzen. Wie heterogen die Literacy-Erfahrungen von Kindern zu Schulbeginn sein können, zeigt eine aktuelle empirische Studie von Topalović/ Drepper (2019): Von 95 Kindern (4 Klassen) einer Schule im Bezirk Detmold (NRW) schreiben eine Woche nach Einschulung 18,95% buchstabenweise, 73,68% logographisch (= holistisch) und 6,31% alphabetisch (= phonographisch). Um die terminologische Nähe zum bekannten Entwicklungsmodell des Lesens und Schreibens von Frith (1985) 5 Sprachliches Lernen 72 zu vermeiden, 18 nutzen wir im Folgenden die Termini „holistisch“ und „phonographisch“. Denn die drei Schreibkategorien sind in erster Linie das Ergebnis einer linguistisch-graphematischen Analyse von Schreibdaten: Buchstabenweises Schreiben meint die Verschriftung einzelner Buchstaben, zuweilen gepaart mit Zahlen oder anderen Symbolen. Mit holistischem Schreiben ist das Schreiben von ganzheitlichen graphischen Einheiten - vergleichbar mit memorierten Bildern - gemeint; die Kinder imitieren orthographisch korrekte Schreibungen, z.-B. ihren Namen („Yvonne“) oder Verwandtschaftsbezeichnungen wie „Opa“, „Mama“. Beim phonographischen Schreiben greift das Kind auf explizites Wissen um Laut-Buchstaben-Zuordnungen bzw. Phonem-Graphem-Korrespondenzen auf Wortebene zurück, auch phonologische Bewusstheit im engeren Sinne genannt. Die Kinder können in diesem Fall eigenständig alles schreiben, was sie möchten (Wörter, Wortgruppen, Sätze, Texte), und zwar zu diesem Zeitpunkt überwiegend phonographisch. Ein Laut (Phon) wird dann einem Buchstaben (Graph) zugeordnet (z.-B. „Rola“ <Roller>, „Ivon“ <Yvonne>). Den heterogenen Literacy-Erfahrungen der Lernenden können Lehrkräfte entsprechend nur gerecht werden, wenn sie ihren Unterricht adaptiv gestalten und jedem Kind ein positives Feedback geben. „Das erfordert, dass Lehrpersonen mit bestimmten Konzeptionen über Fortschritt, Beziehungen und Lernende in die Klassenzimmer kommen. Es erfordert von ihnen, dass sie davon überzeugt sind, dass ihre Rolle die eines Veränderers (‚change agent‘) ist - dass alle Schülerinnen und Schüler lernen und Fortschritte erzielen können, dass Lernleistung für alle veränderbar und nicht von Natur aus festgelegt ist und dass, sofern eine Lehrperson allen zeigt, wie wichtig ihm ihr Lernen ist, dies wirkungsvoll und effektiv ist.“ (Hattie 2013, 151) Als besonders lernförderlich hat sich eine prozessorientierte Feedbackkultur erwiesen: Alle Lernenden brauchen eine regelmäßige Einschätzung ihrer individuellen Lernfortschritte. „Eine Rückmeldung ist dann wirkungsvoll, wenn die Lehrkraft (a) an ihre Schülerinnen und Schüler (realistische) hohe Erwartungen stellt und (b) ihnen zugleich vermittelt, dass sie ihnen zutraut, diese Erwartungen zu erfüllen (Yeager et al. 2014). Effektives Feedback ist außerdem konkret und differenziert. Es geht auf die Lernziele der Schülerinnen und Schüler ein, bewertet die aktuelle Leistung im Verhältnis zum 18 Zur Kritik am Frith’ schen Modell vgl. Bredel/ Fuhrhop/ Noack (2017). 5.1 In der Zone der nächsten Entwicklung lernen 73 angestrebten Ziel und zeigt Strategien auf, mit denen sie dieses Ziel erreichen können (Hattie/ Timperley 2007).“ (BIM-Studie 2017, 62) Wie eine prozessorientierte (auch: formative) Feedbackkultur gelingen kann, zeigt eindrucksvoll eine Mindener Modellschule, die bei der Leistungsbewertung auf Noten verzichtet. Stattdessen lässt sie die Kinder über ihr eigenes Lernen reflektieren (auch in Peers) und integriert in die Lehr-Lern-Prozesse schriftliche und mündliche Feedbacks der Lehrkraft. Feedbackkultur ist dann Teil einer allgemeinen Gesprächskultur unter Lernenden, unter Lehrenden und Lernenden sowie unter Lernenden und Eltern zu Hause. 19 In der Unterrichtspraxis könnten sich drei ressourcenorientierte Fragen bewähren, die für eine alltagsintegrierte Lernbeobachtung besonders geeignet erscheinen (vgl. Hüttis-Graff 2013, 156). Lehrkräfte könnten sich z.- B. bei einer Schülerin folgende Könnensfragen (auch: Kann-Fragen) stellen: 1. Was kann die Schülerin im Bereich X? 2. Was kann die Schülerin im Bereich X noch lernen? 3. Was kann die Schülerin im Bereich X als Nächstes lernen? Die erste Frage nimmt den individuellen Lernstand (1) in den Blick. Hier sollten Lehrkräfte über grundlegende Analysekategorien verfügen, z.- B. um Schreibprodukte schriftbzw. textstrukturell zu analysieren (→ 7) oder den erweiterten Lese- und Schreibbegriff in inklusiven Lernsettings zu nutzen (vgl. Günthner 2013). Die zweite Frage erfasst den Umfang eines Lernbereichs und seiner Schwerpunkte (2). Ausgehend von nationalen Bildungsstandards, länderspezifischen Lehrplänen und Schulbzw. Klassencurricula, die die Qualität des Unterrichts sichern sollen, können Lehrkräfte die einzelnen Schwerpunkte der vier Lernbereiche enger oder weiter fassen und so im Blick behalten, welches Wissen und Können die Lernenden erwerben sollten (z.- B. basale Lese- und Schreibfertigkeiten im 1. Schuljahr). Und die dritte Frage fokussiert den weiteren Lernprozess (3), d.- h. die Zone der nächsten Entwicklung in dem (Teil-)Bereich. Für eine Könnensperspektive plädierte auch Gudrun Spitta im Jahr 1999, und damit vor dem sog. PISA-Schock und der Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Sie forderte einen „Wechsel vom Defizitblick zur Könnensperspektive“ (ebd. 22): 19 https: / / www1.wdr.de/ mediathek/ video/ sendungen/ quarks-und-co/ video-schule-ohnenoten-100.html (16.04.2021). 5 Sprachliches Lernen 74 „Die Blickrichtung ist die Kompetenz eines Kindes, nicht seine Schwächen. Dabei ist es unerheblich, ob diese Kompetenzen einem intuitiven Sprachgebrauch, einem entwickelten Sprachgefühl also, entspringen oder auf bewusste Sprachverwendung zurückzuführen sind.“ (Spitta 1999, 23) Wir wollen uns diese ressourcenorientierte Sichtweise in den folgenden Kapiteln ebenfalls zu eigen machen. 5.2 Sprach(en)bewusstheit entwickeln Mit ihrer empirischen Studie zur „Mehrsprachigkeit als Ressource für Sprachbewusstheit“ könnten Akbulut/ Bien-Miller/ Wildemann (2017) eine deutschdidaktische Kontroverse beenden: Äußere Mehrsprachigkeit im Sinne der Beherrschung zweier Sprachen (hier: Deutsch/ Russisch, Deutsch/ Türkisch) korreliert am Ende der 4. Klasse mit höheren sprachreflexiven Fähigkeiten (n=400). „Damit bestätigt die Studie den in internationalen Studien vielfach nachgewiesenen signifikanten Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstheit mit einer großen Stichprobe und schließt damit eine für den deutschsprachigen Raum bestehende Forschungslücke.“ (ebd. 72) Die Ergebnisse sind überaus relevant, nicht nur, weil sie einen in der Spracherwerbsforschung schon lange bestehenden Konsens untermauern: Mehrsprachigkeit hat einen „(Mehr)Wert“ (vgl. Tracy/ Gawlitzek i.V.). Sie rücken auch den domänenspezifischen Kompetenzbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ (vgl. Abb. 15) in ein besonderes Licht. Denn sein genuines Ziel ist die Entwicklung von Sprachbewusstheit - von der Primarstufe bis zur Oberstufe (vgl. Oomen-Welke/ Kühn 2011, Feilke/ Jost 2015). Von einer vertieften Betrachtung von Sprachen, Sprachvarietäten und Schriftsystemen könnten demnach alle Lernenden profitieren. Mehr noch: Sie könnten zum Bestandteil nicht nur aller Schulfächer werden, sondern auch Schulkonzepte in einer globalisierten, mehrsprachigen Welt generell weiterentwickeln. Je nach Forschungsdiskurs werden neben Sprachbewusstheit auch andere Termini - zum Teil synonym oder als verwandte Begriffe - genutzt wie z.-B. Sprachbewusstsein, Sprachaufmerksamkeit, Sprachbetrachtung, Sprachthematisierung, Sprachreflexion oder Language Awareness. Language Awareness ist ein „sprachdidaktisches Konzept, mit dem ein höheres Interesse und eine größere Sensibilisierung für 5.2 Sprach(en)bewusstheit entwickeln 75 Sprache, Sprachen, sprachliche Phänomene und den Umgang mit Sprache und Sprachen geweckt bzw. die vorhandenen metalinguistischen Fähigkeiten und Interessen vertieft werden sollen“ (Luchtenberg 2017, 150). Auf Language-Awareness-Konzeptionen, die ursprünglich in Großbritannien für die L1 Englisch und Fremdsprachen entwickelt wurden, wird mittlerweile unabhängig vom Erwerbskontext (DaE, DaZ, DaF) oder schulischem Fach zurückgegriffen. Weil Sprachbewusstheit in allen schulischen Sprachfächern zum Bildungsziel gehört, stellt sie auch ein wichtiges Konstrukt (inter)nationaler Vergleichsstudien dar, z.- B. auch der DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Durchgeführt wurde sie 2003/ 04 in der 9.-Jahrgangsstufe aller Schulformen zu Beginn und am Ende des Schuljahrs (n=11.000). „Sprachbewusstheit wird als eine Fähigkeit verstanden, die sich in der Mutter-, Zweit- und Fremdsprache auf Grund der bewussten und aufmerksamen Auseinandersetzung mit Sprache entwickelt. […] In den Lehrplänen beider Fächer wird der Aspekt Sprachbewusstheit differenziert im Zusammenhang mit Grammatik sowie Aspekten des Sprachgebrauchs berücksichtigt.“ (Eichler/ Nold 2007, 63 f.) Klieme (2006) hebt hervor, dass die DESI-Studie erstmals empirisch abgesichert und vor allem repräsentativ belegt, dass Lernende, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, einen Leistungsvorsprung im Englischen haben. Er mache „unter sonst gleichen Lernbedingungen (sozialer Hintergrund, kognitive Grundfähig- Abb. 15: Bildungsstandards für das Fach Deutsch Primarbereich (BS PB 2022, 8) 5 Sprachliches Lernen 76 keiten, Geschlecht, Bildungsgang) […] den Gewinn mindestens eines halben Schuljahres“ (ebd. 5) aus. Schauen wir nun exemplarisch, wo genau Sprachbewusstheit in Lehrplänen für das Fach Deutsch verortet wird: Im bayrischen LehrplanPLUS (2014) 20 werden im Teilbereich „Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen entdecken“ für die Jahrgangsstufen 3/ 4 folgende „Kompetenzerwartungen und Inhalte“ formuliert (ebd. 168): „Die Schülerinnen und Schüler … ▶ beschreiben und vergleichen Aspekte konzeptioneller Mündlichkeit (z.-B. in Werbetexten, SMS, Chat, Mail) und konzeptioneller Schriftlichkeit (z.-B. in Zeitungsartikeln, Sachtexten). ▶ beschreiben anhand von Beispielen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen und Schriftsystemen im eigenen Umfeld (z.-B. von Standardsprache, Dialekten, Jugendsprache, unterschiedlichen Herkunftssprachen, Englisch, Blindenschrift, Gebärdensprache) und nutzen ihre Einsichten zur Erweiterung ihrer Sprachbewusstheit.“ Bemerkenswert sind hier drei Aspekte: 1) Mit „konzeptioneller Mündlichkeit“ und „konzeptioneller Schriftlichkeit“ wird das Nähe-Distanz-Modell von Koch/ Oesterreicher aufgegriffen, das zum linguistischen Professionswissen von Deutschlehrkräften zählt. 2) Die sprachlich-kommunikativen Beispiele umfassen auch multimodale bzw. digitale Ressourcen (z.-B. Chat) und damit auch die digitale Bildung. 3) Mit „Sprachen und Schriftsystemen im eigenen Umfeld“ wird auch die äußere Mehrsprachigkeit der Lernenden genannt - sogar mit Blick auf inklusive Lernsettings (z.-B. Gebärdensprache). Die individuellen Sprach(en)repertoires der Lernenden könnten entsprechend als Lerngegenstand und als Lernmittel dienen. Sie werden zum Lerngegenstand, wenn sie explizit im Unterricht behandelt werden, z.- B. auch in sprachbiographischen Zugängen. 21 Sie werden andererseits zum Lernmittel, wenn verschiedene Sprachen und Sprachvarietäten für fachliches Lernen (z.- B. im bilingualen oder sprachsensiblen Sachfachunterricht) oder für Transferprozesse im fächerübergreifenden Sprachunterricht genutzt werden. Steinig/ Huneke (2011, 184) weisen darauf hin, dass die Entwicklung von Sprachbewusstheit immer auch eine kulturelle, soziale, sprachkritische und vor allem anthropologische Dimension beinhalten sollte (→ 1 und dazu auch das 20 https: / / www.lehrplanplus.bayern.de/ schulart/ grundschule (10.2.2022). 21 Zur „Sprachbiografie aus linguistischer Sicht“ vgl. Tophinke (2002). 5.3 Über Sprache(n) sprechen 77 AA-IALT-Modell). Vor allem ist die metasprachliche, metakommunikative und metamediale Analyse 22 des eigenen und fremden Sprachgebrauchs immer auch identitätsbildend. Mit Peyer/ Uhl (2020, 11) können wir ausgehend von innerer und äußerer Mehrsprachigkeit sowie länderübergreifender Bildungsstandards von „Sprache(n) im Gebrauch und Sprache(n) als System“ sprechen, wenn es um Sprachreflexion und Sprachbewusstheit im Deutschunterricht geht. In Anlehnung an das Konzept der Sprach(en)repertoires (→ 3) könnte die Klammer in Sprach(en)bewusstheit den Blick dafür schärfen, dass sich diese aus und in allen einem Menschen zur Verfügung stehenden Sprachen und Sprachvarietäten entwickeln kann. Im Language-Awareness-Diskurs wird in vergleichbarer Weise für die Pluralform Languages Awareness plädiert, weil „sprachliche Vielfalt“ dann als „Normalität“ begriffen werden kann (vgl. Luchtenberg 2017, 151). 23 Entscheidend dafür, dass Lernende dies auch tun, sind die Lehrkräfte: Von ihrer Einstellung und ihrer Unterrichtsgestaltung hängt es ab, ob und wie sich die Sprach(en)bewusstheit ihrer Schüler: innen (weiter)entwickeln wird. 5.3 Über Sprache(n) sprechen Wir wollen in diesem Kapitel zwei Themen zusammenführen, die sich genuin aus dem Lernbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ ergeben: 1) den Vergleich von Sprachen und Sprachvarietäten und 2) die strukturelle Analyse der deutschen Sprache. Beide ermöglichen sowohl implizites als auch explizites sprachliches Lernen und können fächer- und lernbereichsübergreifend fruchtbar gemacht werden. Aber auch eine eigenständige Betrachtung ist möglich, weil die menschliche Sprache und ihr Erwerb in sozialen und kulturellen Rahmungen eine anthropologische Universalie ist. Sie lässt sprachtheoretische, sprachtypologische, aber auch sprachphilosophische Fragen zu, die sich Kinder tatsächlich stellen. Das folgende Assoziogramm aus Schader (2004, 272) illustriert dies recht treffend. Es stammt aus einer 3. Unterrichtsklasse: In der empirischen Forschung ist vielfach belegt, dass L2-Lernende bewusst Sprachen und Schriftsysteme miteinander vergleichen, um die jeweilige Zweit- oder Fremdsprache effektiver zu lernen oder Sprachhandlungsfähigkeiten und 22 Feilke/ Jost (2015) unterscheiden diese drei Analyseebenen für die Sekundarstufe II. 23 Tracy (2014) spricht vom „Glücksfall“ und Isaac/ Kleinbub (2018, 200) vom „Normalzustand“. 5 Sprachliches Lernen 78 Wissen von einer Sprache in die andere zu transferieren. 24 Sprachen miteinander zu vergleichen könnte also sprachliche Bildungsprozesse positiv beeinflussen. Gleichzeitig ist die Reflexion über Sprachen und Sprachvarietäten auch in den Bildungsstandards verankert. Mehr noch: Laut den Bildungsstandards im Fach Deutsch können die Lernenden das Nachdenken über Sprache und Sprachgebrauch nicht nur „zur Vertiefung ihrer Sprachbewusstheit“, sondern auch „zur eigenen Sprachentwicklung“ (vgl. BS ESA/ MSA 2022, 36) nutzen. Von Sprachvergleichen könnten mit Blick auf Sprachbildung und Sprachreflexion also alle Lernenden profitieren, d.-h. unabhängig von ihrem jeweiligen Erwerbskontext (L1, L2, L3). Aktuelle Studien kommen allerdings zu dem Ergebnis, dass die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit bei Lehrkräften zwar hoch ist, ihre großen Potenziale für einen gleichermaßen sprachbildenden wie sprachreflexiven Deutschunterricht aber noch nicht ausgeschöpft werden (vgl. Isaac/ Kleinbub 2018, 212). Sie legen jedoch auch nahe, dass Lehrkräfte in Aus-, Fort- und Weiterbildungen für Mehrsprachigkeit - ihre eigene und die ihrer Schüler: innen - sensibilisiert werden können (vgl. z.-B. Wildemann et al. 2020, Busch 2017, Gilham/ Fürstenau 2019). In den Kompetenzstufenmodellen 24 Vgl. z.-B. Dengscherz (2019), Wildenauer-Jósza (2005). Abb. 16: Welche Fragen stellen sich Kinder? (Schader 2004, 272) 5.3 Über Sprache(n) sprechen 79 und entsprechend auch in den nationalen Vergleichsarbeiten (z.- B. VERA 3) spielen Sprachen und Sprachvarietäten erstaunlicherweise keine besondere Rolle: Die „Konstruktion standardisierter Testaufgaben“ sei bei diesem Teilbereich „schwierig und teils unmöglich“ (KSM-P 2015, 8). Kompetenzstufenmodelle werden gebraucht, „um empirisch bestimmen zu können, inwieweit Schülerinnen und Schüler die Bildungsstandards erreicht haben“ (KSM-P 2015, 3). Wenn aber Sprachen und Sprachvarietäten gar nicht Teil der Testung sind, werden sie weder in Lehrwerken noch bei Lehrkräften, die ihren Unterricht mit ihnen planen, eine größere Relevanz haben. Marx (2014) spricht in ihrer Lehrwerksanalyse von einer „extrem niedrigen Quantität“ (ebd. 18) an sprachenübergreifenden Einheiten und damit von wenig Potenzial, „Sprach(en)wissen“, „Sprach(en)gebrauch“ und „Sprach(en)reflexion“ (ebd. 12) zu fördern. Die Lernenden können ihre Sprach(en)bewusstheit also nicht systematisch weiterentwickeln, ihre Sprach(en)repertoires nur punktuell aktivieren. Dabei wachsen die heutigen Generationen in einer digitalen Welt auf, die nicht nur durch Multimodalität, sondern auch Multilingualität gekennzeichnet ist (vgl. Topalović 2020). Nahezu jede offizielle Webseite - von der Politik und Wirtschaft über Verwaltung und Bildung bis hin zur Kultur - ist in verschiedenen Sprachen ‚anklickbar‘, manche sogar in Leichter Sprache und Gebärdensprache (also inklusiv). Bekannte Rechercheportale wie Wikipedia sind nicht nur in verschiedenen Sprachen und Schriftsystemen verfasst, sondern auch in Dialekten (z.-B. in „Boarischa Sproch“ oder „Plattdüütsch“). Und auf Übersetzungsportalen lassen sich mittlerweile ganze Texte in zahlreiche Sprachen übersetzen und anhören (vgl. z.-B. www.deepl.com). 25 Zu nennen sind vor allem aber auch Webseiten, die Sprachen systematisch beschreiben und/ oder vergleichbar machen wie z.-B. The World Atlas of Language Structures Online auf https: / / wals.info mit interaktiven Grafiken, die „Sprachbeschreibungen“ auf proDaZ der Universität Duisburg-Essen oder die „Sprachensteckbriefe“ auf www.schule-mehrsprachig. at. 26 Für viele Kinder und Jugendlichen dürfte Englisch längst zum Alltag gehören, z.-B. beim Musikhören, bei Online-Spielen oder auf Plattformen wie www. wattpad.com. Wattpad bezeichnet sich selbst als „beliebteste soziale Plattform der Welt zum Geschichtenerzählen“ / „The world's most-loved social storytelling platform“ / „La plateforme sociale d’histoires narratives la plus appréciée au monde“ / „Самая любимая в мире социальная платформа для историй“ 25 Trotz mancher Fehler erstaunt die Genauigkeit der Übersetzungen. 26 Vgl. aber auch „analoge“ Sammelbände wie Krifka et al. (2014). 5 Sprachliches Lernen 80 und wird in 28 Sprachen angeboten. Mit anderen Worten: Nie war es so einfach, Ideen für Sprachvergleiche zu finden, Sprachen und Sprachvarietäten in ihren Formen und Funktionen zu untersuchen und gemeinsam über den je eigenen „Sprach(en)gebrauch“ im Alltag zu sprechen: für Lernende und Lehrende - und zwar nicht nur anekdotisch. Aber Ideen, Konzepte und Materialien gibt es tatsächlich schon seit langem: In den Deutschdidaktiken (DaE, DaZ, DaF) und affinen Disziplinen wie der Fremdsprachendidaktik, der Fremdsprachen- und Sprachlehrforschung, der Mehrsprachigkeitsforschung, der (Germanistischen) Sprachwissenschaft und der (Interkulturellen) Pädagogik werden vor allem seit den 1990er Jahren Konzepte und Unterrichtsmodelle entwickelt, die Mehrsprachigkeit und damit auch Sprachvergleiche und Sprach(en)bewusstheit stark machen. Als wegweisend können unter anderem die vielzitierten Veröffentlichungen von Luchtenberg (1995, 2002 u.-a.), Schader (2004 u.-a.), Oomen-Welke (1999, 2017 u.-a.) und Belke (2012 u.-a.) genannt werden und darauf aufbauende Konzepte, die den Fokus auf den Vergleich von Sprachen und Sprachvarietäten legen (vgl. z.-B. Rothstein 2011) oder sprachliches, literarisches und fachliches Lernen aus DaZ-Perspektive zusammenführen (vgl. z.-B. Budde 2012). Schon immer waren sie auch für jede Klasse und alle Lernenden geeignet: „Die dort entwickelten Beispiele lassen sich aber auch losgelöst von der konkreten Lerngruppe im Deutschunterricht anwenden, wie Beispiele aus jüngeren Deutschlehrwerken zeigen, die Migrations- und schulische Fremdsprachen zur Sprachreflexion einbinden. Werden neben Sprachvergleichen auch sprachpolitische und sprachideologische Aspekte einbezogen, wird eine linguizismuskritische Perspektive gestärkt, und Sprach(en)bewusstheit (Rösch 2015) entwickelt sich zum Prinzip des Deutschunterrichts.“ (Rösch 2019, 72) Auch neuere Veröffentlichungen plädieren für mehrsprachige Curricula als durchgängigem Merkmal von Bildungsinstitutionen (→ 4), nutzen gezielt kontrastive Darstellungen verschiedener Sprachen und Schriftsysteme und führen sprachvergleichende Ansätze aus verschiedenen Forschungsperspektiven zusammen: Die einende Schnittstelle ist die Mehrsprachigkeit eines jeden Menschen. 27 Entsprechend greifen sie „die innere Mehrsprachigkeit des Deutschen, die europäische Sprachenvielfalt und die Sprachenvielfalt in Deutschland“ (Luchtenberg 2002, 35) auf, aber auch „Mehrsprachigkeit als Sprach- und Kulturkompetenz“ (Rastner 2005). Rastner (2005, 30) mahnt gar, „dass die Be- 27 Vgl. z.-B. Reich/ Krumm (2013), Topalović/ Uhl (2017). 5.3 Über Sprache(n) sprechen 81 rücksichtigung und Einbeziehung von innerer wie äußerer Mehrsprachigkeit in allen Schulfächern, besonders aber auch im Unterrichtsfach Deutsch, zu den wichtigsten Aufgaben Sprachlicher Bildung im 21.- Jahrhundert gehört“ (Rastner 2005, 30). Bei allen geht es - mehr oder weniger prominent -um die Entwicklung mehrsprachiger Lern- und Schulkulturen, auch weil die Lehrkräfte (insbesondere aller Sprachfächer und des HSU) aufgefordert werden, (enger) zusammenzuarbeiten. So hat die in Schulen erprobte Materialsammlung von Behr (2005) das Ziel, „sprachliches Schubkastenlehren und -lernen aufzubrechen, Synergien zwischen Mutter- und erlernten Fremdsprachen aufzubauen sowie entdeckendes Lernen und reflektives (! ) Handeln zu fördern“ (ebd. 3). Sie wurde aus der Perspektive der 2. Fremdsprache erstellt, sei jedoch in allen Sprachfächern einsetzbar und rege zur Kooperation unter den Lehrkräften an. Die Lernenden könnten mit der Sammlung lernen, wie Sprachen funktionieren, wie sie gezielt ihre sprachlichen Vorerfahrungen, aber auch Transferprozesse beim Lernen von Sprachen nutzen können. Ausgehend von Sprachvergleichen, die dem „Verfremdungsprinzip“ nach Köller (1997) folgen, könnten auch die Sprachstrukturen des Deutschen fokussiert werden. Bei „Sprache(n) im Gebrauch“ - der eigenen wie der fremden - geht es unter anderem um die Sensibilisierung von Lernenden für sprachliche Verständigungsprozesse, für die Multimodalität von Kommunikation, ihre soziokulturelle Situierung und identitätsbildende Kraft, aber auch für Sprachwirkung und diskriminierungskritischen Sprachgebrauch. In der digitalen Kommunikation dürften sprachliche Gewalt und Macht von noch größerer Bedeutung sein als in der analogen (vgl. z.-B. Hatespeech, Cybermobbing, Fake News, Sprachpopulismus; vgl. dazu z.-B. die Unterrichtsideen auf https: / / medienkompetenzrahmen.nrw). Daraus ergibt sich eine passgenaue Schnittstelle zur digitalen Bildung als Querschnittsaufgabe aller schulischen Fächer (Topalović/ Drepper/ Fröhlich 2018). Der von der KMK im Strategie-Papier „Bildung in der digitalen Welt“ benannte Teilbereich „Kommunizieren und Kooperieren“ könnte einen Schwerpunkt im Deutschunterricht bekommen, auch aus inklusiver Sicht (vgl. KMK 2017 sowie KMK 2021, wo auch die Pandemieerfahrungen eingeflossen sind). 28 Denn hier geht es zum einen um Verhaltensregeln, ethische Prinzipien und gesellschaftlich-kulturelle Vielfalt beim digitalen Kommunizieren und Kooperieren, zum anderen aber auch um technologische und multimodale Aspekte von Sprache 28 Vgl. dazu eine aktuelle Umfragestudie mit z.T. ernüchternden Ergebnissen in Rödel (2022). 5 Sprachliches Lernen 82 und Medien, die adaptiv „justiert“ werden können (vgl. Knopp 2020). Bei „Sprache(n) als System“ soll der Schwerpunkt laut Bildungsstandards auf grammatischen Betrachtungen liegen, d.- h. morphologischen, syntaktischen und textlinguistischen; und zwar einerseits auf der Wort-, Satz- und Textebene und andererseits auf der grammatischen Fachterminologie. Konsens in der grammatikdidaktischen Forschung dürfte mittlerweile sein, dass Formen und Funktionen eine wichtige Rolle spielen: 29 „Sprachliche Formen sind […] ausdrucksseitige Realisierungen spezifischer kommunikativer Funktionen. Ziel des Unterrichts ist die Entdeckung des Grammatischen und damit ist gemeint, daß die Schüler tiefere Einsichten gewinnen über das Zusammenspiel von Form und Inhalt und über den Aufbau und Funktionsweise der Grammatik. Menschliche Kommunikation ohne Grammatik ist schlechterdings undenkbar. Gesellschaftliche Verstehensprozesse, gleichgültig ob in mündlicher oder schriftlicher Form, sind ohne Grammatik kaum vorstellbar.“ (v. Hoff/ Köpcke 1997, 294) Welche grammatischen Termini laut Kultusministerkonferenz (KMK) in Frage kommen, können Lehrwerksverlage und Lehrkräfte im neuen Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke (VGGF 2019) nachlesen. Es ist auch auf der IDS-Seite online einsehbar (https: / / grammis.ids-mannheim. de/ vggf). Aufgenommen wurden ausgehend vom aktuellen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Forschungsstand auch neue Termini wie Valenz, Felderstruktur und Wortgruppe. Mit Valenz und Felderstruktur (Stellungsfeldermodell) werden grammatische Modelle in den Blick genommen, die in der DaF-Didaktik als überaus erfolgreich gelten und von denen alle Lernenden unabhängig vom Erwerbskontext profitieren könnten. Beim strukturellen Vergleich können Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen herausgestellt, aber auch die Besonderheiten der deutschen Sprache offengelegt und als Sprachlernstrategie genutzt werden. Auch in der Grammatikforschung sind grammatische Modelle ein prominenter Untersuchungsgegenstand (vgl. z.- B. Dürscheid 2012, Wöllstein 2014). Weil sie regelmäßig mit Visualisierungen einhergehen, ergibt sich auch eine Schnittstelle für den inklusiven Unterricht. Grammatische Strukturen zu visualisieren, ist z.-B. auch ein wichtiger Bestandteil bei der Förderung von Lernenden mit Sprachentwicklungsstörungen beim Grammatikerwerb (vgl. Berg 2018). Nicht zuletzt aus diesem Grund sollten 29 Vgl. z.-B. Köller (1997), Funke (2005), Topalović/ Michalak (2012), Feilke/ Jost (2015, 244). 5.3 Über Sprache(n) sprechen 83 grammatische Modelle und Theorien in der Lehramtsausbildung curricular verankert werden. Aktuelle empirische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich ein Unterricht, der sprachstrukturelle Musterhaftigkeiten offenlegt, positiv auf den Erwerb von Sprachfähigkeiten auswirkt. 30 Bereits ein Sprachvergleich auf morphologischer Ebene kann die strukturelle Besonderheit der deutschen Sprache verdeutlichen (auch bekannt als „Kompositionsfreudigkeit“) und Sprachlernstrategien aktivieren. Dem komplexen Wort „Zitronenkuchenstück“ stehen in anderen Sprachen Wortgruppen gegenüber, die auch die semantischen Beziehungen, Sprachverwandtschaften (germanisch, romanisch, slavisch) und mögliche Lehnwörter erkennen lassen. Zitronenkuchenstück piece of lemon cake pezzo di torta al limona komad kolača-od-limuna trozo de tarta de limón kos limoninega kolača kусок лимонного торта pièce de gâteau au citron stukje citroencake limonlu kek parçası 31 Nach diesem Muster können auch Schokokuchenstück, Blaubeerkuchenstück, Käsekuchenstück gebildet werden; immer geht es um ein „Stück von etwas“ (piece of, pezzo di, trozo de, pièce de), d.-h. das Grundwort, das im Deutschen durch ein Bestimmungswort näher spezifiziert wird: Zitronenkuchen, citroencake, lemon cake, torta al limona, tarta de limón usw. Man sieht auch, dass Limone, Limette und Zitrusfrucht Synonyme von Zitrone sind; wir hätten z.-B. auch Limonenkuchenstück sagen können, aber das wird seltener gebraucht. Natürlich hätten wir auch „ein Stück Zitronenkuchen“ sagen können, aber auf keinen Fall „Kuchen aus Zitronen“. Im Sinne der Interkomprehension lernen die Schüler: innen dabei auch, Wörter, Wortgruppen, Sätze oder ganze Texte in anderen 30 Zu Rechtschreibfähigkeiten vgl. z.-B. den Überblick in Bangel/ Rautenberg/ Wahl (2020). 31 Sprachen: Deutsch, Englisch, Italienisch, Bosnisch, Spanisch, Slowenisch, Russisch, Französisch, Arabisch, Niederländisch, Türkisch. 5 Sprachliches Lernen 84 Sprachen schneller zu verstehen; sie entwickeln ihre rezeptiven Fähigkeiten weiter, indem sie Wissen aus anderen Sprachen bzw. sog. „Brückensprachen“ als Transfer nutzen, wie z.-B. bei der Sieben-Siebe-Methode (hier für romanische Sprachen): 1. Internationaler Wortschatz (z.-B. Präsident, Politik, Boutique, manuell) 2. Panromanischer Wortschatz (z.-B. lat. aqua, lingua, sonare) 3. Lautentsprechungen (Schleife zu 1/ 2) (z.-B. forte, fuerte; humain, umano) 4. Graphien und Aussprachen (z.-B. ital. cita / conto, franz. centre / curieux) 5. Syntaktische Strukturen (z.-B. NP+V+NP, ital. Paola ama la vita) 6. Morphosyntaktische Elemente (z.-B. Artikel le, la; il, la) 7. Präfixe und Suffixe (z.-B. franz. dérivation, ital. derivazione) Eine grafische Darstellung, die Wortgruppe und Nominalklammer vereint, kann die mögliche Komplexität von Wortgruppen im Deutschen sichtbar machen (vgl. Abb. 17). Lernende könnten dieses Wissen als Lese- oder (Recht-)Schreibstrategie nutzen, z.- B. auch beim fachlichen Lernen (→ 6). Besonders erfolgreich könnte sprachliches Lernen dann sein, wenn es verschiedene grammatische Phänomene, wie z.-B. Verbalklammern (Verbstellung/ Satzklammern) und Wortgruppen, in einem Spiralcurriculum miteinander kombiniert. Abb. 17: Komplexität von Wortgruppen (Lang/ Topalović 2020, 21) 5.4 Mehrsprachig (vor)lesen 85 5.4 Mehrsprachig (vor)lesen In den letzten Jahren wurden verschiedene Ansätze diskutiert, wie sprachliches und literarisches Lernen miteinander verbunden werden könnten. Ein sprachästhetischer Zugriff ist bereits in den bekannten elf Aspekten des literarischen Lernens von Spinner (2006) angelegt. Zwei Aspekte nehmen die Sprachlichkeit des Literarischen explizit in den Blick: Aspekt 3 ist betitelt mit „Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen“ und Aspekt 7 mit „Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen“ (Spinner 2015, 190 f.). Für sprachlichästhetisches Lernen als grundlegendes Prinzip plädiert Steinbrenner (2017) in seinem neun Aspekte umfassenden „Konzept sprachlich-literarischer Bildung“, das „für alle Schulstufen und -formen“ gelten soll (ebd. 119). Zitiert sei der vierte Aspekt, weil er die verschiedenen Lernbereiche des Deutschunterrichts, aber auch Literarität (Literatur) und Literalität (konzeptionelle Schriftlichkeit; literate Sprachstrukturen) integriert: „Literatur und noch genauer gesagt das poetische Sprechen hat seinen Ursprung in der Mündlichkeit, der Körperlichkeit und der Sinnlichkeit. Dies ist auch das Fundament literarischen Lernens in allen Schulstufen, das nicht verloren und überlagert werden darf. In diesem Sinn spielt Literatur auch eine zentrale Rolle für den Erwerb von Literalität-- und dies nicht nur im Kindergarten- und Primarschulalter, sondern lebenslang (vgl. hierzu die Ausgabe der Online-Zeitschrift Leseforum 1/ 2016 mit dem Titel-Mündliche Literalität).“ (Steinbrenner 2017, 119) Obwohl neben der „Dialogizität“ von Sprache die Mehrsprachigkeit des Menschen als Potenzial postuliert wird, wird sie in den neun Aspekten des Konzepts nicht mehr explizit genannt; wir wollen sie mitdenken. Eine Methode, die dem Steinbrenner’schen Konzept sprachlich-literarischer Bildung sehr nahekommt und zusätzlich die Sprach(en)repertoires der Lernenden nutzt, ist das Mehrsprachige Lesetheater zur Förderung der Leseflüssigkeit und Lesemotivation (MELT). Leseflüssigkeit ist im Mehrebenenmodell von Rosebrock/ Nix (2014) auf der hierarchieniedrigen Prozessebene verortet, Lesemotivation auf der Subjektebene. MELT wurde im Rahmen eines Erasmus+-Projekts entwickelt, in vier Partnerschulen in Österreich, Luxemburg, Deutschland und der Schweiz erprobt und formativ evaluiert. Im Entwicklungsprozess wurde ein DBR-Ansatz (Design Based Research) genutzt, eine in der qualitativen Forschung vor allem in Fachdidaktiken etablierte Methode: 32 32 Vgl. dazu z.-B. Dube/ Prediger (2017). 5 Sprachliches Lernen 86 „Das Mehrsprachige Lesetheater setzt […] an den Schnittstellen der schul- und fremdsprachlichen Lese- und Vorlesedidaktik an und entwickelte ein sprach- und fachübergreifendes didaktisch-methodisches Konzept, um Synergien zwischen den Sprachfächern zu schaffen. […] Das Unterrichtsdesign stellt das Zusammenspiel zwischen allen erworbenen und erlernten Sprachen in den Vordergrund und nutzt dazu das mehrsprachige Repertoire von Schüler/ innen im Leseunterricht. Dadurch lernen die Schüler/ innen, mit Sprachen und Sprachlernerfahrungen so umzugehen, dass sie sie auf das Lernen neuer Sprachen transferieren können (vgl. Martinez 2015: 8).“ (Kutzelmann et al. 2017, 96) Grundlegend für MELT ist, dass literarische Werke - aktuelle Kinder- und Jugendliteratur und Klassiker - für mehrsprachige Vorlesesequenzen adaptiert werden (z.- B. Tom Sawyer und Huckleberry Finn von Mark Twain oder Heidi von Johanna Spyri). Angelehnt ist die Methode an das amerikanische Reader’s Theater, in dem Lernende in kleinen kooperativen Gruppen literarische Texte dialogisch und ausdrucksstark vortragen. Mit anderen Worten: Sie üben das poetische Sprechen und erfahren dabei die „Klangdimension literarischer Sprache“ (Steinbrenner 2017, 105). Acht Schritte haben sich im MELT-Projekt für einen erfolgreichen Lehr-Lern-Prozess mit Lesetheaterskripten als zentral erwiesen. Sie werden in der online zugänglichen Handreichung, die in deutscher, französischer und englischer Sprache vorliegt, umfassend beschrieben (Kutzelmann/ Massler/ Klaus 2016) (vgl. Abb. 18). Schauen wir uns einige Schritte mit empirisch evidenzbasiertem Blick etwas näher an: Der positive Effekt des „Vorlesens durch die Lehrperson“ auf die Leseflüssigkeit bzw. auf basale Lesefertigkeiten konnte in verschiedenen Studien Abb. 18: MELT in acht zentralen Schritten (vgl. Kutzelmann/ Massler/ Peter 2016, 4); Plenum (PL), Einzelarbeit (EA), Gruppenarbeit (GA) 5.4 Mehrsprachig (vor)lesen 87 nachgewiesen werden, unter anderem für Hauptschulklassen. Dazu gehört die Interventionsstudie „Leseförderung durch Vorlesen“ in der 8.- Jahrgangsstufe (vgl. Belgrad 2010). 33 Belgrad/ Schünemann (2011) nehmen an, dass diese Wirkung im Zusammenhang mit der konzeptionellen Schriftlichkeit literarischer Texte steht. Lernende erfahren implizit „komplexe Satzstrukturen (z.-B. durch die häufigeren Verbklammern), die ihnen dadurch vertrauter werden“ (ebd. 160) und erweitern ihren Wortschatz: „Insgesamt vermuten wir eine Verbesserung der Mustererkennung von Schriftlichkeit.“ (ebd. 161) Wie wichtig Feedback (6/ 7) für erfolgreiches schulisches Lernen ist, konnte nicht nur die oben erwähnte BIM-Studie belegen, sondern auch die Metametaanalyse von Hattie (2013): Das Feedback gehört mit einer Effektstärke von 0,73 zu den stärksten Einflussgrößen und steht noch vor der guten Lehrer-Schüler-Beziehung (0,72) und dem Wiederholenden Lesen (0,67). Metametaanalyse = statistisches Verfahren, bei dem Metaanalysen zusammengeführt und ausgewertet werden; Metaanalysen führen Einzelstudien mit vergleichbaren Forschungsfragen zusammen und werten diese statistisch aus. Die Effektstärke gibt an, wie wirksam eine beobachtete Einflussvariable ist (z.-B. klein, mittel oder groß auf einer Skala 0 bis 1). Und damit wären wir beim Verfahren selbst: Die Effektivität von Lautleseverfahren wie bei MELT ist sowohl in angloamerikanischen als auch in nationalen empirischen Studien vielfach belegt worden: Aufgrund dieser „insgesamt eindeutigen und positiven Befunde“ empfehlen Rosebrock/ Nix (2014, 55), Lautleseverfahren „fest in den schulischen Leseunterricht zu integrieren“. Bei MELT spielt auch die Kommunikation und Kooperation in Gruppen und im Klassenverband eine wichtige Rolle, gepaart mit Kreativität, einer wertschätzenden Lernatmosphäre und positiven Selbstkonzepten. Der Lehrfilm auf der Webseite https: / / melt-multilingual-readers-theatre.eu verdeutlicht, warum die Methode geeignet ist, auch sprachliches Lernen - implizit wie explizit - umfassend anzuregen. Neben „Sich mit Texten und anderen Medien auseinandersetzen“ und „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ ist auch der Lernbereich „Sprechen und Zuhören“ involviert. Alle Schwerpunkte des Lernbereichs „Sprechen und Zuhören“, in dem es auch um die Entwicklung einer demokratischen Gesprächskultur geht, werden anteilig abgedeckt. Exemplarisch sei dies an den 33 Siehe dazu auch das DBR-basierte Konzept „Mehrsprachiges Vorlesen durch die Lehrperson“ (MeVoL) in Hilbe/ Kutzelmann/ Massler/ Peter (2017). 5 Sprachliches Lernen 88 weiterentwickelten Bildungsstandards für das Fach Deutsch Erster Schulabschluss (ESA) illustriert (BS ESA/ MSA 2022, 15 ff.), in vergleichbarer Weise gilt das für alle Abschlüsse bzw. Schulformen: Schwerpunkt Beispiel Zu anderen sprechen „berücksichtigen typische Wirkungen der Redeweise situations- und adressatengerecht: Lautstärke, Betonung, Sprechtempo, Pausen, Körpersprache (Gestik/ Mimik/ Körperhaltung)“ Verstehend zuhören „zeigen Aufmerksamkeit für paraverbale (z.-B. Stimmführung, Körpersprache) und nonverbale Äußerungen (z.-B. Gestik, Körperhaltung)“ Mit anderen sprechen „beteiligen sich in vertrauten und unvertrauten Gesprächssituationen mit verständlichen, zuhörerbezogenen, themenbezogenen und konstruktiven Beiträgen“ Vor anderen sprechen „planen und gestalten Formen des szenischen Sprechens und Spielens, z.-B. szenische Lesung, Szene, Aufführung, Hörspiel, Videoclip, Standbild, Improvisation“ Tab. 5: Schwerpunkte bzw. Teilkompetenzen bei „Sprechen und Zuhören“ Für das literarische Lernen mit MELT ist im Medium der Mündlichkeit auch die Anschlusskommunikation mitentscheidend, wie sie unter anderem im Literarischen Unterrichtsgespräch (Heidelberger Modell) und bei begleitenden Vorlesegesprächen konstitutiv ist; beide sind auch in inklusiven Lernsettings erprobt worden. 34 Und quer zum literarischen und sprachlichen Lernen liegt bei MELT die Mehrsprachigkeit, die sowohl die äußere Mehrsprachigkeit (verschiedene Sprachen) als auch die innere Mehrsprachigkeit (verschiedene Sprachvarietäten) umfasst. Laut Ludescher/ Unterthiner (2016, 24) werden „mehrere Leitgedanken“ verschiedener mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze zusammengeführt, und zwar der folgenden: Interkomprehension, Language Awareness, Content and Language Integrated Learning (CLIL), Drittsprachenerwerb (angelehnt an das Faktorenmodell von Hufeisen 2005) und Translanguaging - verstanden als mehrsprachige diskursive Praktik. 34 Vgl. z.-B. Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert (2010), Merklinger (2015), Kruse (2016), Wieler (2018). 5.5 Aufgaben 89 5.5 Aufgaben A. Wolf Erlbruch erhielt 2017 den Astrid-Lindgren-Memorial-Award. Lesen Sie den folgenden Ausschnitt aus der italienischen Pressemitteilung und nutzen Sie Strategien der Sieben-Siebe-Methode. Aktivieren Sie dabei Ihr gesamtes sprachliches und nicht-sprachliches Wissen (Textmusterwissen in verschiedenen Sprachen, Weltwissen, Wissen über den Autor und seine Bücher usw.). Nutzen Sie zur Kontrolle www.deepl.com: „Wolf Erlbruch, nato nel 1948, è un illustratore e autore di libri illustrati tedesco. Fra i lettori di lingua italiana è conosciuto soprattutto per il libro Chi me l'ha fatta in testa? (1998), che ha riscosso grande successo in tutto il mondo. Wolf Erlbruch ha all’attivo una decina di pubblicazioni, oltre ad aver illustrato una cinquantina di libri di altri scrittori.“ B. Auf der MELT-Webseite finden Sie unter „Medien und Material“ zahlreiche Lesetheaterskripte: https: / / melt-multilingual-readers-theatre.eu. Wählen Sie ein Skript aus und tragen Sie einen Ausschnitt gemeinsam im Kollegium oder in Kleingruppen (auch spontan ohne größere Vorbereitung) vor. 5.6 Weiterführende Literatur Behr, Ursula (Hrsg.) (2005): Sprachen entdecken - Sprachen vergleichen. Berlin: Cornelsen. Kutzelmann, Sabine/ Massler, Ute/ Peter, Klaus (2016): -Die zentralen Lehr- Lern-Prozesse des mehrsprachigen Lesetheaters. Eine Anleitung für die Praxis.-Weingarten: Pädagogische Hochschule Weingarten. Online-Ressource. Topalović, Elvira/ Uhl, Benjamin (Hrsg.) (2017): Deutsch lernen: Hören - Sprechen - Lesen - Schreiben. Band-1: Basale Sprachfähigkeiten. DaM - DaZ - DaF. Paderborn: Schöningh bei Westermann. 6 Fachliches Lernen Nicht nur im Deutschunterricht, sondern in jedem Unterrichtsfach stellt Sprache einen zentralen Aspekt der Unterrichtsplanung und -durchführung dar. Da Sprach- und Fachlernen untrennbar miteinander verknüpft stattfinden, muss die Unterrichtsprogression immer sowohl fachliche als auch sprachliche Aspekte umfassen. Diese Verknüpfung zeigt sich bereits in den Bildungsstandards und Kernlehrplänen (→ 1) und wird auch in der Fachliteratur immer wieder betont (→ 4 zur durchgängigen Sprachbildung): „Sprache ist in der Schule ein zentrales Medium des Lehrens und Lernens. Dies gilt für den Mathematikunterricht ebenso wie für den Geschichts- oder den Physikunterricht. Inhalte werden in jedem Fach anhand von Sprache vermittelt und mittels Sprache erworben. Fachlichkeit und Sprachlichkeit sind daher nicht voneinander zu trennen, fachlicher Kompetenzerwerb ist stets sprachlich verankert.“ (Schmölzer-Eibinger et al. 2013, 11) Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Sprache entweder eine Brücke zu den Fachinhalten bildet oder aber auch eine Zugangshürde zu ihnen darstellen kann. Sind Lernende aus sprachlichen Gründen nicht in der Lage, Fachinhalte angemessen zu erschließen, werden sie daran gehindert, ihr volles fachliches Potenzial zu entfalten (vgl. Chlosta/ Schäfer 2017). Über das schulische Lernen weit hinaus ist Sprache zugleich auch eine zentrale Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe: „Sprache ist der hauptsächliche Träger des sozialen Handelns, mit ihr werden komplexe Handlungen gesteuert, sie ermöglicht Verständigung und Kooperation. Mit der Sprache wird Gruppenzugehörigkeit markiert; sprachlich handelnd nehmen wir teil an der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit, der Gesellschaft. Wer der Sprache nicht mächtig ist - auch in ihrer schriftlichen Ausprägung -, kann nicht aktiv an der Gestaltung seiner Welt teilnehmen.“ (Lüdi 2006, 11) Zusätzlich zu den sprachlichen Hürden wirken auch soziale Effekte benachteiligend. So geht die sprachliche Performanz von Lernenden beispielsweise auch in die fachlichen Bewertungen von Lehrkräften ein. Diese bewerten nicht nur, was Lernende schreiben, sondern auch, wie sie schreiben, wie Tajmel (2010b, 141 ff.) empirisch belegen kann. Dazu befragt sie insgesamt 32 Lehrkräfte, die mindestens ein mathematisch-naturwissenschaftliches Fach unterrichten, wie sie die Antwort einer Achtklässlerin mit Erstsprache Russisch auf eine physi- 6 Fachliches Lernen 92 kalische Fragestellung in ihrer Zweitsprache Deutsch bewerten würden. Der Klasse wurde das Foto eines Baumstammes vorgelegt mit der Aufgabenstellung: „Der Baum ist so schwer, dass nicht einmal fünf starke Menschen ihn heben können. Schwimmt dieser Baumstamm oder geht er unter? Bitte begründe deine Entscheidung.“ Das Mädchen entscheidet sich für die Antwortoption „Der Baumstamm schwimmt, weil…“ und ergänzt dann im offenen Antwortteil die Begründung „… das baum aus Holz entschteht [sic].“ Die Lehrkräfte werden gebeten, für die Antwort 0-5 Punkte zu vergeben und ihre Entscheidung zu begründen. Zudem werden sie darauf hingewiesen, dass der Begriff Dichte im Unterricht noch nicht behandelt wurde. Im Ergebnis werden von zwei bis fünf Punkten vergeben, wobei die Lehrkräfte ihre Abzüge häufig mit dem zu geringen Antwortumfang oder Mängeln im Ausdruck begründen. Tajmel (2010b, 144) schlussfolgert: „Die Lehrkräfte sind sich vermutlich der Höhe ihrer Erwartungen an die sprachliche Form nicht bewusst, beziehen aber sprachliche Aspekte in die Beurteilung naturwissenschaftlicher und mathematischer Kompetenzen implizit mit ein. […] Die bewusste Nutzung des Physikunterrichts als Lernumgebung für Sprachlernen würde einerseits den Lehrkräften ihre eigenen sprachlichen Erwartungen bewusst machen, andererseits würden den Schülern/ Schülerinnen die sprachlichen Anforderungen in einem fachlichen Kontext transparent gemacht, wodurch ihnen die Möglichkeit gegeben würde, den Erwartungen entsprechend zu antworten.“ Es stellt sich folglich die Frage, welche Formen von Unterrichtsplanung, aber auch von Unterrichtsinteraktion dazu geeignet sein könnten, neben dem Deutschauch den Fachunterricht sprachbildend zu gestalten. Wir sprechen in diesem Zusammenhang explizit von sprachbildendem Fachunterricht, da die Bezeichnung u. E. im Unterschied zu ebenfalls verwendeten Alternativen wie sprachsensibler oder sprachbewusster Fachunterricht über die Bewusstheit hinaus zu ergreifende Maßnahmen impliziert. Wichtig ist dabei zunächst festzuhalten, dass sprachbildender Unterricht immer anspruchsvoller, fordernder Unterricht ist und keinesfalls sprachliche Anforderungen senkt, sondern sie vielmehr hochhält (high challenge), gleichzeitig jedoch auch konkrete Wege zum Erreichen dieses Niveaus aufzeigt (high support) (vgl. dazu Gibbons 2015, 17). 6.1 Scaffolding 93 6.1 Scaffolding Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Scaffolding-Modell, das gleich mehrere sprachbildende Maßnahmen integriert (vgl. zu einer Gegenüberstellung mit ähnlichen Ansätzen auch Kniffka/ Roelcke 2016; Lengyel 2016). In der Regel wird das Konzept auf Arbeiten zur Erstspracherwerbsforschung von Wood, Bruner und Ross (1976) zurückgeführt. Gibbons (2002) hat es später für den Zweitspracherwerb adaptiert und insbesondere Kniffka (z.-B. 2010, 2015) hat es im deutschsprachigen Forschungsdiskurs bekannt gemacht. Interessanterweise hat somit die Rezeptionsgeschichte des Modells selbst einen gesamtsprachlichen Charakter. Die Grundidee des Scaffoldings besteht darin, Lernenden eine Art Stützkonstruktion (engl. scaffold ‚Baugerüst‘) bereitzustellen, die es ihnen ermöglicht, entlang gezielter Hilfen sprachlich zunehmend schwierigere Aufgaben zu bewältigen. Je sicherer sie selbst werden, desto stärker werden die Hilfen rückgebaut (fading out), bis die Lernenden schlussendlich vollkommen selbständig den schulischen Anforderungen gerecht werden können. Scaffolding stellt somit einen emanzipatorischen didaktischen Ansatz dar, der Lernende weder übernoch unterfordert, sondern sich im Idealfall permanent in der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotskij 2002) bewegt. Ein Beispiel für eine Unterrichtssequenz nach dem Scaffolding-Konzept findet sich bei Quehl/ Trapp (2013) in Form einer Video-Dokumentation (vgl. Abb. 17). Abb. 19: Sprachbildender Sachunterricht nach dem Scaffolding-Konzept (Standbild aus dem Lehrfilm von Quehl/ Trapp 2013) 6 Fachliches Lernen 94 6.1.1 Makro- und Mikro-Scaffolding In Anlehnung an Gibbons (2002) werden in der Forschungsliteratur Makro- und Mikro-Scaffolding unterschieden. Das Makro-Scaffolding umfasst in Vorbereitung des Unterrichts drei Elemente: 1. Bedarfsanalyse 2. Lernstandsanalyse 3. Unterrichtsplanung Die darauf folgende Unterrichtsinteraktion wird als Mikro-Scaffolding bezeichnet. Zentral für die Vorbereitung sprachbildenden Unterrichts ist folglich zunächst die Analyse potenzieller sprachlicher Stolpersteine und die Erarbeitung von Scaffolds, die sich genau auf diese im Vorfeld eruierten Stolpersteine beziehen. Die dazu erforderliche Lernzielanalyse, die auch eine sprachdiagnostische Einschätzung der Lernenden mit einbezieht (→ 7), ergänzt folglich fachliche Lernziele systematisch um sprachliche (vgl. Abb. 20) (vgl. genauer Tajmel 2011). Besteht ein fachliches Lernziel zum Beispiel darin, dass die Lernenden am Ende der Unterrichtseinheit in der Lage sein sollen, die Zelle als System zu be- Abb. 20: Ergänzung fachlicher Lernziele um sprachliche (nach Tajmel 2013, 209) 6.1.2 Planungsrahmen 95 schreiben 35 , analysiert die Lehrkraft im Vorfeld detailliert, welche sprachlichen Mittel erforderlich sind, um dieser fachlichen Aufgabe gerecht zu werden. Anschließend wählt sie Materialien und Arbeitsformen so aus, dass diese sprachlichen Mittel systematisch bereitgestellt werden und von den Lernenden genutzt werden können. 6.1.2 Planungsrahmen Eine praktische Strukturierungshilfe für Vorüberlegungen dieser Art stellt der Planungsrahmen (Quehl/ Trapp 2013, 34-41) dar, der durch Konkretisierungsraster und Schlüsselworttabellen weiter ausdifferenziert werden kann (Tajmel/ Hägi-Mead 2017, 73-123). Während der Planungsrahmen zu einem Unterrichts- 35 Zu prototypischen Sprachhandlungen, die in unterschiedlichen Fächern häufig vorkommen und entsprechend auch in Bildungsstandards und Lehrplänen explizit verankert sind, vgl. Kap. 3. Abb. 21: Beispiel eines Konkretisierungsrasters (Tajmel/ Hägi-Mead 2017, 80) 6 Fachliches Lernen 96 thema Aktivitäten und Sprachhandlungen auf Ebene der vier sprachlichen Grundfertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) und die dafür erforderlichen sprachlichen Mittel (Sprachstrukturen und Wortschatz) zusammenstellt, geht das Konkretisierungsraster (Abb. 21) von einer fachlichen Aufgabenstellung aus, deren sprachliche Anforderungen es auf Grundlage eines ausformulierten Erwartungshorizonts untersucht. Im Fokus stehen dabei insbesondere sprachliche Strukturen, „die für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs unerlässlich sind und immer wieder vorkommen“ (Kniffka 2015, 230). Im Bereich des Fachwortschatzes können ergänzend Wörter, die für das Durchdringen eines Themas zentral erscheinen, mittels Schlüsselworttabelle vertieft erschlossen werden. Zahlreiche Beispiele finden sich bei Tajmel/ Hägi-Mead (2017, 96). 6.1.3 Unterrichtsphasierung Die Aneignung von Formen konzeptioneller Schriftlichkeit (→ 3) nimmt im Scaffolding-Ansatz eine herausgehobene Rolle ein. Für die Unterrichtsplanung schlägt Gibbons (2015, 109 ff.), die sich dabei auf Derewianka (1990) bezieht, eine grundsätzlich vierstufige Vorgehensweise vor, den Teaching and Learning Cycle: Stage 1 - Building the field: In dieser Phase geht es darum, Vorwissen zum Unterrichtsthema zu aktivieren und auszubauen. Stage 2 - Modeling the genre: Im Anschluss werden Form und Funktion der im Fokus stehenden Textsorte (bspw. einer Versuchsbeschreibung, einer Gebrauchsanweisung, einer Argumentation) genauer untersucht. Stage 3 - Joint construction: Auf dieser Grundlage schreiben Lehrende und Lernende gemeinsam einen ersten Text, wobei sowohl der Schreibprozess als auch das letztlich entstehende Schreibprodukt im Fokus stehen. Stage 4 - Independent writing: Abschließend erstellen die Lernenden einzeln oder zu zweit eigene Texte. Kniffka/ Neuer (2008) haben die vorgeschlagene Vorgehensweise, die grundsätzlich vom Mündlichen zum Schriftlichen und vom Konkreten zum Abstrakten verläuft, anhand eines sehr bekannt gewordenen Beispiels, der Einführung in die Nutzung eines Kompasses, konkretisiert (Abb. 22). Der Einstieg in ein neues Thema über das Lesen eines Textes, der traditionell sicherlich einen häufig genutzten Weg darstellt, ist in diesem Konzept somit ausgeschlossen. Dies erklärt sich dadurch, dass speziell Sachtexte sprachlich in der Regel sehr 6.2 Unterrichtsmaterialien 97 dichte und komplexe sprachliche Formen darstellen, die aber von den Lernenden im Unterricht gerade erst erworben werden sollen. Folgerichtig steht das Lesen oder Schreiben eines Fachtextes im Scaffolding-Konzept am Ende der Unterrichtseinheit. 6.2 Unterrichtsmaterialien In allen Phasen des Scaffoldings können ganz verschiedene Formen von Scaffolds, d.- h. sprachbildende Unterrichtsmaterialien, eingesetzt werden, auch in Abhängigkeit davon, auf welche sprachlichen Grundfertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) sie abzielen. Die mündlichen Fertigkeiten werden dabei häufig durch die Hineingabe von Redemitteln (z.-B. über Vokabelkarten oder Mindmaps) gestützt, die schriftlichen dann ergänzend auch durch eher strukturierende Scaffolds (z.-B. Wortgeländer oder Schreibpläne) (vgl. Abb. 23). Sehr hilfreich können auch Lernplakate sein (vgl. Abb. 24), da auf diese Weise notwendige Redemittel und Strukturierungshilfen durchgängig in der Klasse sichtbar bleiben und von den Lernenden jederzeit genutzt werden können. Abb. 22: Beispiel einer Unterrichtssequenz nach dem Scaffolding-Modell (Kniffka 2015, 232) (von unten nach oben zu lesen) 6 Fachliches Lernen 98 Ein besonderes Augenmerk sollte auch auf der Gestaltung von Aufgabenstellungen und Arbeitsblättern liegen. Aufgabenstellungen könnten z.- B. bei Bedarf in ihrer sprachlichen Komplexität modifiziert werden (z.-B. Satzreihen statt Satzgefüge nutzen) oder ihre Operatoren farblich markiert werden (z.-B. bei Partikelverben: Schreibe … ab) - auch mit Blick auf inklusive Lernsettings (→ 5). Arbeitsblätter sollten grundsätzlich so angereichert werden, dass sie genügend Scaffolds enthalten, um allen Lernenden die Lösung der Fachaufgaben zu ermöglichen. Ein gelungenes Beispiel aus dem Physikunterricht zeigt Tajmel (2010a, 181-182) (Abb. 25). Das Arbeitsblatt zur Volumenbestimmung enthält eine Arbeitsschrittfolge mit unterschiedlichen Visualisierungen sowie Redemitteln. Sicherlich könnte man die Vorlage auch noch weiter ergänzen, z.-B. um weitere Pluralformen oder um mehrsprachige Elemente. Grundsätzlich sind aber mehrere einschlägige Hilfestellungen gegeben, die es allen Lernenden er- Abb. 23: Beispiel für einen Schreibplan zur Vorgangsbeschreibung (Günther et al. 2013, 57) 6.2 Unterrichtsmaterialien 99 möglichen sollten, den beschriebenen Versuch sowohl durchzuführen als auch zu versprachlichen. Übersichten über Scaffolding-Formen bzw. Methoden-Werkzeuge, wie Josef Leisen sie nennt, finden sich z.-B. in seinen Beiträgen aus den Jahren 2013 und 2015. Diese müssen selbstverständlich jeweils fachspezifisch angepasst und ausdifferenziert werden (vgl. z.-B. Abshagen 2015 für das Fach Mathematik). Daran wird deutlich, dass durchgängige Sprachbildung nur in sehr enger Anbindung an die unterschiedlichen Fachdidaktiken gelingen kann (vgl. auch Tajmel 2010b, Schmitz und Oleschko 2017). Abb. 24: Beispiel für ein Lernplakat als Scaffold (Wortschatzplakat zu Grundrechenarten in Textaufgaben [Bezirksregierung Münster], zit. nach Martin 2012, 23) 6 Fachliches Lernen 100 6.3 Unterrichtsinteraktion Beim Mikro-Scaffolding - also der konkreten Unterrichtsinteraktion - sollten Lehrkräfte ihr sprachliches Verhalten nach unterschiedlichen, flexibel einsetzbare Prinzipien gestalten. Kniffka (2010; 3 f.) nennt mit Rückgriff auf Gibbons (2002) die folgenden sechs Prinzipien: a. Verlangsamung der Lehrer-Schüler-Interaktion: Lehrende sollten versuchen, langsamer zu sprechen […]. b. Gewährung von mehr Planungszeit für Schülerinnen und Schüler: […]. Lehrerinnen und Lehrer sind gelegentlich etwas zu ungeduldig und gewähren Schülerinnen und Schülern nur ca. 2-3 Sekunden zum Antworten. c. Variation der Interaktionsmuster: Vor allem der gängige Ablauf "Lehrerfrage - Schülerantwort - Lehrerkommentar" sollte variiert werden. Optimal wäre die Schaffung authentischer Kommunikationssituationen, in denen eine Lehrkraft "echte" Fragen stellt, deren Beantwortung seitens der Schülerinnen und Schüler die Planung komplexerer Äußerungen (statt einer Ein-Wort-Antwort) erfordert. Abb. 25: Beispiel für ein Arbeitsblatt als Scaffold (Tajmel 2010a, 181 f.) 6.4 Ausblick 101 d. Aktives Zuhören durch die Lehrkraft: Lehrerinnen und Lehrer sollten den Schülerinnen und Schülern aktiv zuhören, den intendierten Inhalt nachvollziehen und entsprechend (authentisch) reagieren. Dies fördert u.-U. die Motivation der Schülerinnen und Schüler, sich im Unterricht zu äußern. e. Re-Kodierung von Schüleräußerungen durch die Lehrkraft: Re-Kodierung kann dazu beitragen, dass den Lernenden das angemessene Fachwort / eine angemessene Wendung im jeweiligen Kontext deutlich wird. f. Einbettung von Schüleräußerungen in größere konzeptuelle Zusammenhänge: So kann eine Beziehung zwischen der Schüleräußerung und dem fachlich-thematischen Gesamtkontext hergestellt werden. 6.4 Ausblick Auch wenn der Scaffolding-Ansatz unmittelbar einsichtig erscheint, ist er dennoch nicht ohne Kritik geblieben. Zum einen liegen bislang kaum wissenschaftliche Studien zu seiner Wirksamkeit vor. Darüber hinaus setzt sprachbildender Fachunterricht, wie in Kap. 4 bereits diskutiert, eine entsprechende Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte sowie eine explizite Einbindung in Schulprogramme voraus. Und nicht zuletzt sind Scaffolding-Maßnahmen (insbesondere bei der ersten Durchführung, für die Zusatzmaterialien erstellt werden müssen) zunächst mit einem erhöhten Zeitaufwand verbunden (vgl. auch Kniffka 2015, 234 f.). Angesichts des potenziellen Gewinns, möglichst alle Lernenden mitzunehmen und somit in späteren Unterrichtsphasen letztlich auch wieder Zeit einzusparen, erscheint dieser Aufwand dennoch gerechtfertigt zu sein. Ein weiteres Desiderat besteht in einer stärkeren Integration der mehrsprachigen Kompetenzen der Lernenden in die Unterrichtskonzepte. Gefordert wird der Einbezug von Mehrsprachigkeit bereits von Gibbons selbst (2002, 69 ff.). Diese könnte bspw. in Form von Gruppenarbeit in unterschiedlichen Familiensprachen, Language-Awareness-Aktivitäten oder auch der Bereitstellung zweisprachiger Wörterbücher sowie anderer Lehr-Lern-Materialien (sofern die Lernenden in den jeweiligen Sprachen auch alphabetisiert sind) erfolgen (→ 5; vgl. auch Lengyel 2016, 514). Zudem ist selbstverständlich eine schrittweise Erprobung unterschiedlicher Elemente sprachbildenden Fachunterrichts denkbar, so dass keine Ad-hoc-Umstellung des Unterrichts erfolgen muss. Einen guten Einstieg können in diesem Zusammenhang auch Selbsteinschätzungsinstrumente darstellen, wie sie bspw. Schmölzer-Eibinger et al. (2013, 107-119) oder Thürmann/ Vollmer (2013) veröffentlicht haben. Lehrkräfte können sich auf dieser Grund- 6 Fachliches Lernen 102 lage selbstkritisch fragen, welche Elemente sprachbildenden Unterrichts ihren eigenen Unterricht bereits auszeichnen und in welchen Bereichen sie bislang vielleicht aber auch blinde Flecken hatten bzw. auf welche Bereiche sie fortan gezielt ein besonderes Augenmerk legen möchten. 6.5 Aufgaben Nehmen Sie ein Lehrbuch zu einem Ihrer Unterrichtsfächer zur Hand und wählen Sie eine typische Aufgabenstellung aus, die eine Bearbeitung in Textform erfordert. A. Nehmen Sie einen „Seitenwechsel“ (vgl. Tajmel 2013, 201-202) vor und bearbeiten Sie diese Aufgabe in einer Fremdsprache Ihrer Wahl. Reflektieren Sie, auf welche sprachlichen Schwierigkeiten Sie dabei stoßen und welche sprachlichen Hilfen Ihnen wünschenswert erschienen. B. Formulieren Sie dann eine Musterlösung auf Deutsch und sammeln Sie sprachliche Mittel auf Wort-, Satz und Textebene, die Ihnen für eine erfolgreiche Bearbeitung der Aufgabe zentral erscheinen. C. Formulieren Sie fachliche und sprachliche Lernziele, die mit der Aufgabenstellung verfolgt werden können. D. Überlegen Sie, welche Formen von Scaffolds geeignet sein könnten, Ihre Schüler: innen beim Erreichen dieser Lernziele zu unterstützen. 6.6 Weiterführende Literatur Quehl, Thomas/ Trapp, Ulrike (2013): Sprachbildung im Sachunterricht der Grundschule. Mit dem Scaffolding-Konzept unterwegs zur Bildungssprache. Münster u.a.: Waxmann. Tajmel, Tanja (2013): Möglichkeiten der sprachlichen Sensibilisierung von Lehrkräften naturwissenschaftlicher Fächer. In: Röhner, Charlotte/ Hövelbrinks, Britta (Hrsg.): Fachbezogene Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache. Theoretische Konzepte und empirische Befunde zum Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa, 198-211. 7 Sprachentwicklung analysieren Um durchgängige Sprachbildung (→ 4) im Unterricht umsetzen zu können, ist neben Grundkenntnissen im Bereich des Spracherwerbs (→ 2), die der Einordnung von Beobachtungen dienen können, eine genauere Kenntnis der Sprach(en)repertoires (→ 3) der einzelnen Schüler: innen wichtig. Zu diesem Zweck wird die Gesamtheit der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eines Menschen „zählbar“ gemacht und der Fokus vor allem auf die Entwicklung der deutschen Sprache gelegt. Eine Analyse der Sprachentwicklung erfolgt einerseits integriert in den Schulalltag, z.-B. wenn Lehrkräfte Rückmeldungen auf Redebeiträge oder Hausaufgaben geben, Klassenarbeiten bewerten oder Schreibprodukte analysieren und entsprechend adaptive Lernangebote machen (→ 5). Sie kann andererseits auch ganz gezielt spezifische sprachdiagnostische Fragestellungen verfolgen und sich dabei unterschiedlicher Instrumente bedienen. In diesem Kapitel soll zunächst ein Blick auf unterschiedliche Zielsetzungen und Normen von Sprachdiagnostik geworfen werden, im Anschluss werden zwei zentrale Grundverfahren anhand eines jeweils für den Schulkontext besonders geeignet erscheinenden Verfahrens vorgestellt und mit einer Lernersprachenanalyse (LSA) abgeschlossen. Leitend ist dabei der Gedanke, bekannte Instrumente auszuwählen, die unabhängig vom Erwerbskontext der Lernenden (L1, L2, L3) eingesetzt werden können und möglichst alle Jahrgangsstufen abdecken. 7.1 Zielsetzungen und Normen Sprachdiagnostik kann grundsätzlich zwei ganz unterschiedliche Zielrichtungen verfolgen: Entweder kann es darum gehen, Zuweisungen von Lernenden zu unterschiedlichen Gruppen vorzunehmen und auf diesem Wege im Vorfeld einer Maßnahme extern zu differenzieren. Oder aber innerhalb einer gegebenen Gruppe sollen binnendifferenzierende Fördermaßnahmen für einzelne Lernende konzipiert werden. Während der Zuweisungsdiagnostik immer eine soziale Norm, also ein Gruppenvergleich, zugrunde liegt, bezieht sich die Förderdiagnostik auf den einzelnen Lernenden, d.-h. eine individuelle Norm. Darüber hinaus können (und sollten) sowohl der Zuweisungsals auch der Förderdiagnostik kriteriale Normen zugrunde liegen, die sich auf Kompetenzmodelle beziehen (vgl. z.- B. Lengyel 2012, 12 f.). Dies ist im Rahmen von Selektionsdiagnostik bspw. der Fall, wenn der Zugang zu einem deutschsprachigen Studiengang voraussetzt, dass Sprachkompetenzen auf dem Niveau B2/ 7 Sprachentwicklung analysieren 104 C1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) 36 nachgewiesen werden können. In der im Schulkontext primär einschlägigen Förderdiagnostik hingegen werden häufig Erwerbssequenzmodelle (→ 2) als kriteriale Normgrundlage herangezogen. Insbesondere die unterschiedlichen Satzmodelle des Deutschen stellen in diesem Zusammenhang einen zentralen Sprachstandsindikator dar (vgl. z.- B. das Stellungsfeldermodell in Müller/ Schönfelder 2019). Eine für die Schule relevante selektionsdiagnostische Fragestellung zielt auf die Unterscheidung von Lernenden, deren Sprachentwicklung sich in der Mitte der sozialen Normverteilung oder darüber bewegt, von Lernenden, deren Spracherwerbsverlauf (z.-B. aufgrund vergleichsweise geringeren Sprachkontakts) etwas langsamer verläuft und die daher von schulischen spracherwerbsfördernden Maßnahmen in besonderem Maße profitieren würden, sowie von Lernenden, die Zeichen einer Spracherwerbsstörung zeigen und sprachtherapeutische Maßnahmen benötigen. Diese Differenzierung gestaltet sich bei Zweisprachigkeit allerdings sehr komplex und individuell und ist nur in enger Kooperation zwischen Eltern, Lehrkräften, logopädischem und ärztlichem Personal vorzunehmen (vgl. ausführlich z.-B. Chilla 2019). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Förder- und Zuweisungsdiagnostik nicht nur ganz unterschiedliche Ziele verfolgen, sondern auch grundlegend verschieden voneinander vorgehen und in der Folge jeweils andere Anforderungen erfüllen müssen. Während den meisten Lehrenden beim Schlagwort Sprachdiagnostik wahrscheinlich zuallererst standardisierte diagnostische Verfahren wie Sprachtests in den Sinn kommen, die in aller Regel der Zuweisungsdiagnostik zuzurechnen sind, sind es im Berufsalltag von Lehrkräften gleichwohl vielmehr die förderdiagnostischen Ansätze, die im Vordergrund stehen. 7.2 Sprachdiagnostische Grundverfahren Im Bereich der sprachdiagnostischen Grundverfahren lassen sich zunächst vier bzw. fünf unterschiedliche Verfahrensgruppen (vgl. Gültekin-Karakoç 2019 für einen Überblick) voneinander unterscheiden, nämlich Schätzverfahren, 36 https: / / www.europaeischer-referenzrahmen.de/ (11.9.2019). 7.2 Sprachdiagnostische Grundverfahren 105 Beobachtungsverfahren, Profilanalysen und Tests. Manchmal von letzteren abgegrenzt, manchmal als Untergruppe davon behandelt werden außerdem Screenings. Sie ähneln Testverfahren stark in der Anlage, sind aber in der Regel weniger umfangreich und daher auch weniger messgenau als Tests. Angeordnet sind die Verfahrensgruppen untenstehend nach dem Grad ihrer Standardisierung, von eher schwach standardisierten Verfahren (Schätzverfahren) hin zu stark standardisierten und in der Regel auch normierten Verfahren (Tests). Allen sprachdiagnostischen Verfahren gemein ist, dass sie vor allem in frühen Erwerbsstadien, in denen noch relativ wenig Kontakt mit einer Sprache stattgefunden hat, eine hilfreiche Grundlage für die Planung sprachbildender Prozesse darstellen. Besonders relevant in unserem Zusammenhang sind sie beispielsweise im Umgang mit neu zugewanderten Lernenden. Bei Schätzverfahren handelt es sich um Befragungen von Bezugspersonen zu den sprachlichen Kompetenzen von Kindern. Da Schätzungen per se recht ungenau sein können, werden sie nur eingesetzt, wenn keine bessere diagnostische Alternative zur Verfügung steht. Denkbar wäre es, Eltern zu den L1-Kompetenzen von Kindern zu befragen, wenn Lehrpersonen selbst diese Sprache(n) nicht sprechen, um so Hinweisen auf das mögliche Vorliegen einer Spracherwerbsstörung nachzugehen, da ein wesentliches diagnostisches Merkmal einer solchen darin besteht, dass sie sich in allen Sprachen, die ein Kind spricht, zeigt (vgl. Chilla 2019, 84). Während die Prävalenzraten für Spracherwerbsstörungen bei bilingual aufwachsenden Kindern genauso hoch liegen wie bei monolingual aufwachsenden, gibt es bei bilingualen Kindern ein höheres Risiko, dass eine vorliegende Spracherwerbsstörung entweder nicht als solche erkannt wird (missed identity) oder dass ihnen fälschlicherweise eine Spracherwerbsstörung zugeschrieben wird (mistaken identity) (vgl. Chilla 2019, 81), insbesondere wenn die Gesamtsprachlichkeit der Kinder nicht ausreichend in den Blick genommen wird, sondern nur einzelne Sprachen wie die Schulsprache. Beobachtungsverfahren basieren häufig auf Fragebögen mit vorwiegend geschlossenen Skalenfragen, wobei deren Bearbeitung eine längere Beobachtungsphase durch die jeweils diagnostizierenden Pädagog: innen vorausgeht. Somit erfassen Beobachtungsverfahren longitudinal die Sprachkompetenzen von Lernenden in natürlichen schulischen Sprachverwendungen. Die Grenze zwischen Schätz- und Beobachtungsverfahren ist nicht immer eindeutig zu ziehen, da die Erinnerung an einen (ggf. auch länger) zurückliegenden Beobachtungszeitraum in die Nähe einer Schätzung rücken kann (Döll 2019). 7 Sprachentwicklung analysieren 106 Im Unterschied zu Schätz- und Beobachtungsverfahren arbeiten Profilanalysen, Tests und Screenings auf Grundlage konkreter Sprachdaten, was bedeutet, dass ihre Ergebnisse unmittelbar in empirischen Daten verankert sind. Profilanalysen erheben zu diesem Zwecke Spontandaten von Sprecher: innen in natürlichen oder zumindest quasi-natürlichen Situationen. Alternativ können auch bereits vorliegende (sog. anfallende) Äußerungen analysiert werden. Diese werden im Falle mündlicher Daten zunächst aufgezeichnet und transkribiert, und im Anschluss werden die mündlichen oder schriftlichen Daten hinsichtlich relevanter sprachlicher Aspekte ausgewertet (vgl. Grießhaber 2019 für einen Überblick). Tests hingegen konzentrieren sich auf ausgewählte sprachliche Bereiche, sog. Indikatoren, wie bspw. Satzmodelle, Kasus oder Verbflexion (→ 2), und elizitieren gezielt nur diese (vgl. Paetsch 2019 für einen Überblick). Die Indikatoren werden gewählt, weil aus Voruntersuchungen bekannt ist, dass sie - statistisch betrachtet - als repräsentativ für den gesamten Sprachstand einer bestimmten Gruppe (der Normgruppe) gelten können. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für Screenings, mit dem Unterschied, dass sie weniger genau messen und nur in etwa einen Hinweis darauf geben, ob die Sprachentwicklung im durchschnittlichen Bereich oder aber über- oder unterdurchschnittlich verläuft. Sprachdiagnostische Screenings sind häufig in Form von Ampelverfahren gestaltet, wobei ein Ergebnis im grünen Bereich (im Vergleich zu einer bestimmten Normgruppe) keinen hervorgehobenen Sprachförderbedarf, eins im roten einen besonderen Sprachförderbedarf und ein gelbes Ergebnis die Notwendigkeit einer genaueren Abklärung (in der Regel mittels Einzeltest) impliziert. Die beiden zentralen Grundverfahren „Tests“ und „Profilanalyse“ sollen im Folgenden exemplarisch anhand eines Verfahrens vorgestellt werden. 7.2.1 Tests Als prototypisches sprachdiagnostisches Verfahren kann wohl der Test gelten, was sicherlich auch an seiner besonderen Messgüte liegt. Bereits im Vorschulalter werden Testverfahren eingesetzt, um z.- B. bundeslandweit zu eruieren, welche Vierjährigen von additiver vorschulischer Sprachförderung in besonderem Maße profitieren könnten. Im Laufe der Schulzeit kommen dann immer wieder Teilfertigkeitstests, etwa zu orthographischen (z.- B. mittels der Hamburger Schreib-Probe [HSP]) oder Lese-Kompetenzen (z.- B. mittels Ein Leseverständnistest für Erstbis Sechstklässler [ELFE]) oder auch im Rahmen von Ländervergleichen oder Bildungsstudien eingesetzte (Sprach-)Tests (wie z.-B. 7.2.1 Tests 107 die Vergleichsarbeiten [VERA] 3 bzw. 8 oder den PISA-Studien [Programme for International Student Assessment]) zum Einsatz. Als Beispiel eines Testverfahrens soll hier im Folgenden der C-Test genauer vorgestellt werden, der insbesondere als erstes Screening zur Einschätzung einer neu übernommenen Lerngruppe geeignet ist. Darüber hinaus erfordert er nicht unbedingt linguistische Kenntnisse auf Seiten der Lehrenden und ist somit auch von Fachlehrkräften, die bspw. eine naturwissenschaftliche AG o.Ä. leiten, einsetzbar. Das Format setzt allerdings schriftsprachliche Kompetenzen bei den Lernenden voraus und erscheint daher frühestens ab Klasse 3, eher ab Klasse 4 geeignet, funktioniert aber davon abgesehen über alle möglichen Lerngruppen hinweg bis hin zu Erwachsenen unkompliziert und zuverlässig (vgl. einführend zum C-Test auch Grotjahn 2019). C-Tests bestehen aus vier bis fünf Kurztexten, von denen jeweils der erste und der letzte Satz vollständig erhalten bleiben, während im Rest des Textes die zweite Hälfte jedes zweiten oder dritten Wortes getilgt wird. Diese Lücken müssen im Testverlauf von den Schüler: innen rekonstruiert werden. So entstehen regulär entweder vier Texte mit jeweils 25 Lücken oder aber fünf Texte mit jeweils 20 Lücken, also insgesamt jeweils 100 Lücken, was bei der späteren Auswertung 100 Prozentpunkten des Tests entspricht. Die Kurztexte werden in aufsteigender Textschwierigkeit angeordnet und können von Lehrenden relativ unaufwändig auch selbst generiert werden, um sie im Schwierigkeitsniveau genau auf die jeweilige Zielgruppe abzustimmen, indem z.-B. Texte aus der jeweils vorhergegangenen Klassenstufe als Textgrundlage herangezogen werden (Baur/ Spettmann 2009, 116). Allerdings sollten selbst erstellte C-Tests grundsätzlich einer Pilotierung unterzogen werden, um sicherzustellen, dass erwachsene L1-Sprecher: innen in der Lage wären, den Test ohne Probleme zu lösen (Baur/ Goggin/ Wrede-Jackes 2013, 4). Sind diese Bedingungen erfüllt, stellen C-Tests sehr valide Sprachtests dar, die bereits bei ihrem ersten Einsatz in der Regel sehr gute statistische Testkennwerte aufweisen (Grotjahn 2002, 216). Alternativ kann selbstverständlich auch auf unterschiedliche publizierte C-Tests zurückgegriffen werden (z.- B. Raatz/ Klein-Braley 1992, Baur/ Chlosta/ Goggin 2012, Dürrstein/ Jeuk 2015). Um sich der Frage zu nähern, warum C-Tests, die auf den ersten Blick wenig umfangreich und damit möglicherweise auch nicht sehr aussagekräftig erscheinen, tatsächlich valide Messungen des allgemeinen Sprachstands darstellen, erscheint ein Blick auf einen Beispieltext hilfreich (Abb. 26). 7 Sprachentwicklung analysieren 108 Vom 16. bis zum 19. Jh. war Großbritannien die weltweit führende See- und Kolonialmacht. Daher ko______ es, da______ Englisch schli______ zur Welts______ wurde. D______ Industrielle Revol______, die z______ entscheidenden sozi______ und polit______ Umwälzungen füh______, begann u______ 1760 i______ Großbritannien u______ verschaffte d______ Lande au______ eine wirtsch______ Führungsposition. He______ haben vi______ alte Indus______ an Bede______ verloren, denn in der modernen Gesellschaft stehen Dienstleistungsbranchen wie Banken und Versicherungen im Vordergrund. Das in der Nordsee geförderte Öl sichert die Energieversorgung des Landes. Abb. 26: Ausschnitt aus einem deutschsprachigen C-Test (http: / / www.c-test.de/ deutsch/ index. php%3Flang%3Dde%26content%3Dbeispiele%26section%3Dctest) Um z.- B. die erste Lücke dieses deutschsprachigen C-Test-Textes mit kommt rekonstruieren zu können, muss auf lexikalischer Ebene zunächst das Verb kommen bekannt sein. Auf morphologischer Ebene muss man es (aufgrund der erforderlichen Kongruenz mit es, des weiteren Satzbaus sowie der Tempuskohärenz mit dem Rest des Textes) in die 3. Person Singular Präsens Indikativ Aktiv setzen, auf Ebene der Syntax davon ausgehend, dass an zweiter Stelle eines Aussagesatzes ein flektiertes Verb stehen muss und dass kommen im vorliegenden Satz in der Valenz etwas kommt von etwas verwendet ist. Auf orthographischer Ebene muss die Vokalkürze markierende Doppelkonsonanz in Zweisilbern auf die morphologische Form übertragen werden (kommen > kommt). Da sich einige dieser Rekonstruktionen daraus ergeben, dass grammatische Informationen im Deutschen aufgrund von Rektion und Kongruenz häufig an mehreren Stellen im Satz enkodiert sind (was eine Voraussetzung für die Rekonstruktion darstellt), spricht man in Bezug auf den C-Test auch von reduced redundancy testing. Ausgewertet werden C-Tests schlicht, indem geprüft wird, ob die Lücken jeweils korrekt rekonstruiert wurden. Dabei kann entweder einfach richtig vs. falsch unterschieden werden (sog. Richtig-falsch-Wert) oder aber es kann bei der Auswertung zusätzlich bedacht werden, ob zumindest das Wort richtig erkannt wurde, wenngleich es grammatisch und/ oder orthographisch fehlerhaft in den Text eingepasst wurde (Worterkennungswert; Baur/ Spettmann 2009, 119). Der Worterkennungswert bezieht also rein rezeptive Kompetenzen stärker in die Wertung mit ein. Darüber hinaus ist es natürlich auch möglich, in semantische, grammatische und/ oder orthographische Korrektheit zu unterscheiden (Baur/ Grotjahn/ Spettmann 2006, 393). Für die Auswertung am einfachsten und dadurch gleichzeitig auch am reliabelsten ist es jedoch, bei der Punktevergabe einfach in vollständig richtig vs. falsch zu unterscheiden, d.- h. den Richtig- 7.2.1 Tests 109 falsch-Wert zu berechnen (vgl. auch die Diskussion bei Grotjahn 2019, 596 ff.). Wichtig für die Validität des Tests ist es außerdem, dass gerade mit jüngeren Lernenden an einem Beispiel eingeübt wird, wie C-Tests zu lösen sind. Insbesondere sollte deutlich werden, dass zunächst der gesamte Text gelesen werden muss, bevor mit der Rekonstruktion der Lücken begonnen wird, da auch der Kontext in Verbindung mit Weltwissen zur Lösung des Tests beitragen kann. Zu vermeiden ist hingegen das reine Raten (auf Basis der Wortanfänge), zu dem insbesondere jüngere Lernende tendieren (vgl. die Lösungsbeispiele Eisenharter Staub, Planeten des Unyversums, Raumsonnen in Abb. 27). Von C-Tests gibt es zahlreiche Varianten, so dass es sich genau genommen auch weniger um einen Test als um eine Testfamilie handelt. Wichtig ist dabei in allen Varianten der Testsprache Deutsch, dass im Falle von Komposita nur das Grundwort beschädigt wird, um die Rekonstruktion nicht zu schwierig werden zu lassen. Ferner können Lücken anstatt automatisch auch ganz bewusst gesetzt werden, etwa um bestimmte grammatische Bereiche zu trainieren, wie hier am Beispiel einer im Deutschunterricht häufig behandelten Kurzgeschichte dargestellt (Abb. 28). Gerade die Verwendung von Artikelwörtern und Pronomen lässt sich sehr gut im Lückentextformat trainieren, da diese Wortarten kohäsionsstiftend wirken und eben jene Rekonstruktionsprozesse in Leser: innen auslösen, auf die auch der C-Test zielt. Sie ermöglichen in diesem didaktisierten Format im Unterschied zum kanonischen C-Test jedoch keine valide Messung des allgemeinen Sprachstands. Abb. 27: Beispiel für die Lösung eines selbst erstellten C-Test-Textes durch einen Viertklässler, der bilingual mit Deutsch und Französisch aufwächst (Textquelle: Daugs et al. 2018, 33) 7 Sprachentwicklung analysieren 110 Zusammenfassend stellt der C-Test „ein ökonomisches und reliables Verfahren zur globalen Feststellung der allgemeinen Kompetenz in Fremd-, Zweit- und Erstsprachen“ (Grotjahn 2002, 211) dar. Er ist für zahlreiche Sprachen anwendbar, und seine hohe Messgüte (Objektivität, Reliabilität und Validität) konnte in zahlreichen Studien immer wieder empirisch bestätigt werden. 37 Besonders als Screening-Verfahren wird er daher sehr gerne eingesetzt. Förderdiagnostisch hingegen ist der C-Test kaum aufschlussreich; dafür stellt das Format aber eine interessante Übungsform dar, die z.- B. das Leseverstehen und die Sprachbewusstheit fördern kann ( → 5). In Maßen eingesetzt, wirken C-Test-Übungen häufig auch motivierend, da sie Rätseln ähneln, an denen gemeinsam geknobelt werden kann. 7.2.2 Profilanalysen Profilanalyseverfahren können in unterschiedlichen Schulstufen genutzt werden: Während HAVAS 5-7 (Reich/ Roth 2007) für den Übergang zwischen Elementar- und Primarbereich konzipiert wurde, zielt der Der Sturz ins Tulpenbeet (Gantefort/ Roth 2008) auf den Übergang von der Primarin die Sekundarstufe und der Fast Catch Bumerang (Reich/ Roth/ Döll 2009) schließlich auf den Übergang von der Schule in den Beruf. Alle drei genannten Verfahren sind für die Sprachen Deutsch, Türkisch und Russisch verfügbar (HAVAS 5-7 auch für weitere) und wiederum für alle Lernenden geeignet, der Fast Catch Bumerang durchaus auch für Erwachsene. Obwohl die mündlichen bzw. schriftlichen Sprachdaten der Lernenden in allen drei Verfahren über einen 37 Vgl. www.c-test.de/ deutsch/ container.php? con=ctest/ pdf/ C Test Bibliography/ Grotjahn_Drackert_Electronic_Ctest_Bibliography_10_2020.pdf Abb. 28: Lückentext als Grammatiktest oder -übung (Textquelle: Bichsel 1964) 7.2.2 Profilanalysen 111 profilanalytischen Auswertungsbogen ausgewertet werden können, eignen sie sich ebenso gut zur freien lernersprachlichen Analyse (s.-u.). Die Auswertungsbögen unterscheiden sich dabei substanziell voneinander, da die drei Verfahren unterschiedliche Analyseschwerpunkte setzen. Während HAVAS 5-7 auf Wortschatz und Grammatik fokussiert, untersucht Der Sturz ins Tulpenbeet schwerpunktmäßig die Erzählkompetenz von Lernenden und der Fast Catch Bumerang ihre bildungssprachlichen Kompetenzen. Exemplarisch stellen wir an dieser Stelle das Verfahren Fast Catch Bumerang (Abb. 29) vor, das einen besonderen Schwerpunkt auf den Ausbau von Bildungs- und Fachsprache legt. Neben Wortschatz, Syntax und Textpragmatik erfassen die Indikatoren entsprechend auch bildungssprachliche Merkmale, und zwar Nominalisierungen, Komposita, Attributkonstruktionen, Partizipien, Passivkonstruktionen sowie unpersönliche Ausdrücke. Der gesamte Auswertungsbogen sowie Hinweise zur Auswertung finden sich bei Reich/ Roth/ Döll (2009) zur freien Nutzung. Geeignet ist das Verfahren für Lernende am Übergang von der Sekundarstufe in den Beruf. Für die (in Gruppen mögliche) Durchführung werden max. 45 Minuten, für die Auswertung jeweils 30 Minuten pro Schüler: in veranschlagt. Abb. 29: Aufgabenstellung des profilanalytischen Verfahrens Fast Catch Bumerang (Reich/ Roth/ Döll 2009, 232) 7 Sprachentwicklung analysieren 112 Das Verfahren liefert aufschlussreiche Einblicke in die Sprachkompetenz älterer Schüler: innen, ist allerdings wie alle profilanalytischen Verfahren stark von ihrer Motivation abhängig. Längere Texte beispielsweise schneiden in vielen Analysekategorien deutlich besser ab als kürzere. Bekannt geworden ist neben den FörMig-Verfahren auch die Profilanalyse nach Grießhaber (z.- B. 2013, 2019), die sich auf den Satzmodellindikator konzentriert und auf Grundlage beliebiger mündlicher oder schriftlicher Sprachdaten ebenfalls eine erste Einschätzung des Sprachstands ermöglicht. 7.2.3 Sprachdiagnostische Verfahren im Vergleich Außer nach dem Verfahrenstyp können sprachdiagnostische Verfahren auch nach weiteren Kriterien unterschieden werden (vgl. Settinieri/ Jeuk 2019, 12 ff.). Ein wichtiger Punkt ist die Zielgruppe (z.- B. die Altersspanne), für die ein Verfahren konzipiert wurde, aber auch welche sprachlichen (Teil-)Fertigkeiten es in den Blick nimmt. Eine Orientierung können hier die sprachlichen Basisqualifikationen nach Ehlich (2005) bieten, die in phonische, semantische, morpho-syntaktische, literale, diskursive und pragmatische unterteilt werden Abb. 30: Illustration zur Aufgabenstellung in Fast Catch Bumerang (Reich/ Roth/ Döll 2009, 232) 7.2.3 Sprachdiagnostische Verfahren im Vergleich 113 können. Des Weiteren sollte ein sprachdiagnostisches Verfahren grundsätzlich auf soliden spracherwerbstheoretischen Grundlagen beruhen und dies im Manual zum Verfahren auch nachvollziehbar darlegen. Ferner sollte es transparent machen, welche Rolle äußere Mehrsprachigkeit (verschiedene Sprachen) in dem jeweiligen Verfahren spielt, ob sie z.-B. in eine Normierung eingeflossen ist oder ob vielleicht sogar mehr als eine Sprache Gegenstand der Diagnostik ist. Schließlich ist von Belang, ob ein sprachdiagnostisches Verfahren auch in der Lage ist, sprachtherapeutischen Bedarf zu indizieren (z.-B. beim Förderschwerpunkt Sprache), und welche förderdiagnostischen Hinweise es liefern kann. Sind Verfahren standardisiert oder sogar normiert und werden sie als Grundlage sprachpolitischer Entscheidungen herangezogen, dann sollten sie darüber hinaus messtheoretischen Gütekriterien genügen, zu denen auch ökonomische Gesichtspunkte (Zeit- und Kostenfaktor) zählen können. Diesen Anspruch können jedoch primär Screening- und Testverfahren erfüllen (und auch das in sehr unterschiedlichem Maße). Je höher dabei der Impact eines Tests, desto höher sind auch die testtheoretischen Anforderungen, die an ihn gestellt werden sollten. Teilweise können Sprachtests massive Eingriffe in die Lebenswelt einzelner darstellen, wenn man bspw. an Ehegattennachzug, Einbürgerung oder die oben bereits angesprochene Zulassung zum Studium in Deutschland denkt. Im Idealfall sollten die Ergebnisse eines Tests vollkommen unabhängig von Testabnehmenden und -auswertenden sein, z.-B. von der Lehrkraft (Objektivität), bei einer vergleichbaren Gruppe oder bei einer Messwiederholung zu denselben Ergebnissen führen (Reliabilität) und vor allem tatsächlich etwas über das aussagen können, was sie zu messen vorgeben (Validität). Daher werden Tests häufig von umfangreichen Testmanualen begleitet, die genau vorschreiben, was der Testende tun oder lassen sollte. So erlauben es viele Tests bspw. nicht, Lernenden während der Testung Rückmeldung darauf zu geben, ob ihre Antworten richtig oder falsch sind, um mögliche Sequenzeffekte zu vermeiden. Auch geben die Tests sehr genau vor, was die getesteten Kinder tun oder lassen sollen. Sie wirken daher oft streng, künstlich und augenscheinlich sogar manchmal unfair, weil einige Kinder in der Testsituation z.-B. aufgrund von Aufregung offensichtlich nicht ihr Bestes zeigen können. Diese Künstlichkeit und der in Testsituationen entstehende Druck sind oft (v.-a. aus ethischen Gründen) zurecht kritisiert worden, und sie stellen gleichzeitig auch wichtige Einschränkungen der Messqualität dar. Bei einem Kind, das eingeschüchtert ist und deshalb kaum spricht, misst natürlich auch der Test nicht valide, das Ergebnis in diesem Moment mehr Ausdruck der Sprechangst eines Kindes 7 Sprachentwicklung analysieren 114 als seines Sprachstands ist (vgl. z.- B. Settinieri 2012). Gleichzeitig stellt aber auch die Normierung an sich ein Problem dar, da sie auf der Festlegung einer Bezugsgruppe fußt. Angesichts der sehr individuellen Spracherwerbsverläufe von Menschen erscheint es grundsätzlich schwierig, einschlägige und damit letztlich auch testtheoretisch faire Bezugsgruppen zu bilden. Als gruppenbildend werden dabei in der Regel das biologische Alter, Erstvs. Zweitsprache und in einigen Fällen ergänzend auch Geschlecht oder Kontaktdauer mit der Zielsprache herangezogen. Gerade letztere Größe sollte im Kontext von Migration grundlegend sein, wird allerdings nur von sehr wenigen Verfahren (z.-B. LiSe-DaZ; vgl. Wenzel/ Schulz/ Tracy 2009) systematisch einbezogen. Dass es einen großen Unterschied macht, ob ein Schüler z.-B. seit einem Monat oder seit einem Jahr in Deutschland lebt, ist dabei eigentlich selbstverständlich. Und selbst die zunächst vielleicht angemessen erscheinende normbezogene Differenzierung in „erstsprachig“ oder „zweitsprachig“ mit Deutsch aufwachsende Lernende (z.- B. in den Beobachtungsverfahren Seldak vs. Sismik) (vgl. Ulich/ Mayr 2003, 2006) erscheint auf den zweiten Blick fragwürdig. Zum einen bleiben 2L1-Lernende in der Aufteilung unberücksichtigt, zum anderen ist auch hier klar, dass Kinder sehr unterschiedlich ausgeprägten Kontakt mit ihren verschiedenen Sprachen haben können. Manche sprachdiagnostischen Verfahren machen daher erst gar keine unterschiedlichen Normgruppen auf, sondern messen alle Kinder an einer monolingualen Normgruppe (z.-B. Delfin 4) (vgl. Fried/ Briedigkeit 2007). „Normal“ Deutsch sprechen heißt dann „wie ein Muttersprachler“ Deutsch sprechen. Ein solcher „monolingualer Habitus“ (Gogolin 2008; vgl. zur Problematik auch Chilla 2019, 71 f., Paetsch 2019, 533 ff.) führt dazu, dass an Kinder, die unter ungleichen Bedingungen aufwachsen, dieselben Anforderungen gestellt werden, was nicht nur testtheoretisch, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht in hohem Maße problematisch ist. Dieses „meritokratische [d.-h. auf Leistungen, Qualifikationen bezogene] Prinzip der leistungsbezogenen Gleichbehandlung von Ungleichen“ (Ott 2017, 254 f.) stellt einen sehr wirkmächtigen Mechanismus dar, der zur Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, beiträgt und dessen Effekte auch in der Sprachdiagnostik sehr kritisch hinterfragt werden müssen. Während Standardisierung und Normierung also einerseits eine große Stärke von Testverfahren darstellen, führen die daraus resultierenden Prozeduren auf der anderen Seite häufig zu sehr unnatürlichem und damit kaum repräsentativem Sprachverhalten. Genau umgekehrt verhält es sich mit Beobachtungsver- 7.3 Lernersprachenanalyse 115 fahren, die in der Regel die Analyse relativ natürlicher Sprachdaten erlauben, durch ihre mangelnde Standardisierung bzw. Standardisierbarkeit jedoch die Vergleichbarkeit der Daten stark einschränken. Test- und Beobachtungsverfahren werden daher häufig einander gegenübergestellt, um die Stärken und Schwächen beider Verfahrensgruppen klarer herauszuarbeiten (vgl. Aufgabe 1 zu diesem Kapitel) bzw. in der Praxis einander ergänzend eingesetzt. Quasi einen Ausgleich zwischen den Stärken und Schwächen der genannten Verfahrensgruppen stellen die profilanalytischen Verfahren her, weshalb sie gerade für Schulen häufig eine gute Option darstellen. „Gegenüber Tests und testartigen Verfahren hat die Profilanalyse den Vorteil, der spontanen Sprache des Kindes näher zu kommen und an ein und demselben Text Analysen unterschiedlicher Tiefe und unterschiedlicher Blickrichtung zuzulassen. […] Gegenüber völlig offenen oder nur schwach strukturierten Beobachtungen der sprachlichen Kommunikation des Kindes hat die Profilanalyse den Vorteil einer deutlich erhöhten Objektivität, die vor allem durch die Vorgabe präziser Auswertungskategorien gewährleistet wird.“ (Reich/ Roth 2007, 82 f.) Letztlich hängt die Wahl eines sprachdiagnostischen Verfahrens jedoch immer von den damit verbundenen diagnostischen Zielsetzungen, der Lerngruppe sowie den weiteren Kontextbedingungen ab. Zudem entsteht erst durch die Kombination unterschiedlicher Verfahren im Rahmen eines längeren diagnostischen Prozesses ein genaueres Bild vom Sprachstand der Lernenden. 7.3 Lernersprachenanalyse Eng verwandt mit Profilanalysen sind Lernersprachenanalysen (LSA), die ebenfalls auf Grundlage lernersprachlicher Daten versuchen, ein Bild des aktuellen Sprachstands zu zeichnen (vgl. z.- B. Dimroth 2019). Dabei betrachten sie im Unterschied zur Profilanalyse jedoch nicht nur ausgewählte linguistische Bereiche, sondern führen eine vollständige Analyse aller sprachlichen Merkmale durch. In Abgrenzung zur klassischen Fehleranalyse andererseits geht die LSA zudem ressourcenorientiert vor und richtet ihren Blick nicht lediglich auf Abweichungen von der jeweiligen Zielsprache, sondern ebenso auf bereits vorhandene sprachliche Strukturen. Des Weiteren verharrt ihr Blick auch nicht auf der sprachlichen Oberfläche; vielmehr sucht die LSA nach den genauen Ursachen lernersprachlicher Abweichungen von der zielsprachlichen Norm, um daran anknüpfend besonders passgenau fördern zu können (vgl. auch Jeuk 2013: 81). 7 Sprachentwicklung analysieren 116 Lernersprachen sind dabei definiert als „Sprachvarietät[en], die Lernende in einem bestimmten Stadium ihres Sprechlernprozesses entwickeln“ (Boeckmann 2010: 192). Sie werden als kreative und dynamische, eigenen Regeln folgende Systeme aufgefasst, die es zu entschlüsseln und dann in ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen gilt. Grundsätzlich beeinflusst werden diese Interimsprachen Selinker (1972) zufolge durch Regularitäten der L1, der L2 und weiterer Sprachen sowie sprachenunabhängige Faktoren wie bspw. Lern- und Kommunikationsstrategien (→ 2 zur Interlanguagehypothese). Lernersprachenanalyse versucht entsprechend, sich dieser zugrundeliegenden Systematik anzunähern. Von ihrer Genese her ist die LSA somit im L2-Erwerb angesiedelt, kann aber im Sinne der durchgängigen Sprachbildung durchaus auf andere Erwerbskontexte angewandt werden. Lernersprachenanalysen sind für ausnahmslos jede Zielgruppe geeignet und können grundsätzlich auf Grundlage aller Arten von (sowohl mündlichen als auch schriftlichen) quasi-spontansprachlichen Sprachproben, d.-h. von Lernenden eigenständig gestalteten Äußerungen, durchgeführt werden. Die Erfahrung zeigt, dass ein Minimalumfang von 200 Wörtern für eine erste Einschätzung des aktuellen Sprachstands einer Person jedoch nicht unterschritten werden sollte. Dabei können anfallende Sprachproben, wie bspw. Hausaufgabentexte oder Aufsätze, aber auch eigens elizitierte Sprachproben, zugrunde gelegt werden. Müssen Sprachproben zunächst elizitiert werden, weil sie nicht bereits vorliegen, eignen sich die weiter oben vorgestellten profilanalytischen Verfahren in besonderem Maße. Auch Sprachenbiographien (→ 5) stellen für die Analyse potenziell geeignete Textformen dar, um ein weiteres Beispiel zu nennen. Lernersprachliche Texte werden, wie bereits angesprochen, ganz offen, d.- h. ohne spezifischen Fokus und auf allen linguistischen Teilebenen, analysiert. Abweichungen von der Zielsprache werden dabei in einem ersten Schritt gruppiert und auf Varianz hin untersucht. Fällt es einer Lernerin durchgängig schwer, die richtige Dativendung zu finden, oder tritt diese Schwierigkeit z.-B. vermehrt im Zusammenhang mit Präpositionen auf? Oder wie sind Sätze in der L1 eines Lerners aufgebaut, der das flektierte Verb in der ersten Position im Deutschen übergeneralisiert? - Fragen dieser Art können dabei helfen, die hinter lernersprachlichen Äußerungen steckende Systematik zu entdecken, und Lernende so gezielt dabei zu unterstützen, ihr lernersprachliches System in Richtung der zielsprachlichen Norm weiterzuentwickeln. Denn ausgehend von der individuellen Systematik benötigen Lernende auch jeweils ganz unterschiedliche Erläuterungen und Hilfestellungen zur Unterstützung ihrer lernersprachlichen Entwicklung. Exemplarisch betrachten wir den zum zweiten Teil 7.3 Lernersprachenanalyse 117 des Fast-Catch-Bumerang-Verfahrens verfassten Text eines erwachsenen, in Deutschland lebenden Franzosen, der neben seiner Erstsprache Französisch und seiner Zweitsprache Deutsch in der Schule auch Englisch und Italienisch als Fremdsprachen gelernt hat, in lernersprachenanalytischer Perspektive (vgl. Abb, 29). Artikel - Bau eines Bumerangs Triton IV 1 Wie können wir ein Bumerang Triton IV bauen? Sehr einfach! 2 Sie brauchen Werkzeugs, Holz und Papier. 3 Sie müssen auf der Papier der Bumerang zeichnen und Schneiden die Zeichnung 4 Unterstreichen Sie diese Zeichnung auf das Holz 5 Machen Sie fest das Holz auf eine Tische 6 Schneiden Sie diese Zeichnung 7 Feilen Sie mit einer Feile die Kante 8 Bohren Sie ein Lohr an der Endpunkt 9 Schleifen Sie der Bumerang 10 Streichen Sie der Bumerang 11 Fertig! Jetzt können Sie der Bumerang benutzen! 12 Viel Spaß. Abb. 31: Beispieltext zur Lernersprachenanalyse Variation lässt sich im vorliegenden Text zunächst vor allem bei der Artikelflexion in der Nominalphrase beobachten. Häufiger fehlt dabei die Akkusativmarkierung (Z. 1, 3, 8-11), in anderen Fällen stimmen das Genus (Z. 3) oder die Dativmarkierung (Z. 5) noch nicht. An zwei Substantiven zeigen sich Unsicherheiten im Numerus (Z. 2, 5). Etwa die Hälfte der Artikelformen gelingt dem Sprecher jedoch bereits zielsprachenadäquat, darunter auch viele Akkusativformen. Bei genauerer Betrachtung und auf Grundlage eines Vergleichs der richtigen und falschen Artikelformen scheint der Lerner Abweichungen von der Zielsprachennorm primär in der Artikelform maskuliner Substantive im Akkusativ Singular zu produzieren, die er mit Nominativmarkierung <-r> anstelle der Akkusativmarkierung <-n> bildet. Auf Ebene der Syntax ist der Lerner bereits in der Lage, Verbzweitstellung sowie Inversion korrekt umzusetzen. Eine 7 Sprachentwicklung analysieren 118 Erwerbsaufgabe, die der Lerner offenbar gerade bearbeitet, stellt die Satzklammer dar, deren linkes Element bereits in der richtigen Position steht, deren rechtes Element jedoch noch nicht in allen Fällen nach ganz rechts gesetzt wird. Während dies in Z. 1, 3 und 11 bereits gelingt, steht die rechte Satzklammer in Z. 3 und 5 noch zu weit links im Satz. Auffällig ist auch, dass der Lerner noch keine Nebensatzkonstruktionen bzw. keine Verbendstellung verwendet. Diese Beobachtungen im Bereich der Syntax stehen interessanterweise im Widerspruch zu den Ergebnissen der groß angelegten Schweizer DiGS-Studie (= Deutsch in Genfer Schulen) (Diehl et al. 2000; → 2). Sie konnte für frankophone Lernende des Deutschen als Fremdsprache den Erwerb der Verbalklammer vor dem Erwerb von Nebensatzstrukturen belegen, die wiederum vor der Inversion als letzter Erwerbsstufe nachgewiesen werden konnte (vgl. auch Settinieri/ Spaude 2014 für eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Sequenzierungen des Satzmodellindikators). Somit wird deutlich, dass Erwerbssequenzen zwar eine hilfreiche Orientierung bieten, jedoch durchaus auch individuelle Variation möglich ist. Dass der Lerner aktuell am Erwerb der Satzklammer arbeitet, findet seinen Reflex auch im Wortschatz des Lerners. Dieser beinhaltet einerseits bereits recht fortgeschrittenes Vokabular (z.-B. Werkzeug, Zeichnung, Feile), andererseits noch vergleichsweise wenige (bildungssprachlich jedoch frequente) Präfixverben. Lediglich ein Präfixverb (benutzen) wird angemessen eingesetzt. Daneben enthält der Text mehrere Simplizia anstelle von Partikelverben wie z.- B. zeichnen für aufzeichnen, zweimal schneiden für ausschneiden, des Weiteren unterstreichen für übertragen, festmachen für fixieren, einspannen o.Ä. und streichen für anmalen. Möglicherweise würden wir anstelle des brauchen in Z. 2 auch eher das Präfixverb benötigen erwarten, womit wir auf der pragmatischen Analyseebene angelangt wären. Stellt man sich die Frage, wie textsortenadäquat bzw. wie kommunikativ angemessen der Text formuliert ist, so lassen sich ebenfalls einige interessante Beobachtungen machen. Geschrieben werden soll der Aufgabenstellung zufolge ein Artikel in einem Jugendmagazin. Der vorliegende Text ähnelt allerdings grundsätzlich eher einer umgangssprachlich formulierten Gebrauchsanleitung. Auch hat der Lerner sich entschieden, die einzelnen Arbeitsschritte in eine Aufzählungsform zu bringen, und somit einen Fließtext umgangen. Letzterer hätte den Einsatz von deutlich mehr sprachlichen Kohäsionsmitteln erfordert, während der Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen im vorliegenden Text in kommunikationsstrategisch sehr ökonomischer Weise primär durch die Ziffern am Zeilenbeginn geschaffen wird. Diskutieren könnte man auch, inwiefern die 7.3 Lernersprachenanalyse 119 Leseradressierung unter Verwendung von wir und Sie textsortenangemessen erscheint. Da der kommunikative Kontext durch die diagnostische Aufgabenstellung jedoch fiktiv ist und darüber hinaus nur grob skizziert wurde, erscheint es wenig sinnvoll, hier weitergehende diagnostische Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Bereich der Orthographie zeigt der Lerner, dass er typische Herausforderungen der deutschen Orthographie bereits sehr sicher meistert, z.- B. komplexe Anfangsränder wie <str-> (streichen), die Doppelkonsonanzschreibung (können, müssen), die Stammkonstanzschreibung (Endpunkt), <h>- Schreibungen (Bohren) und die Großschreibung beim Siezen (Sie). Ein Verb in Zeile 3 wurde großgeschrieben und an den Satzenden fehlen die Satzschlusszeichen, was jedoch auch an der Form der Aufzählung liegen könnte. Zusammenfassend lassen sich keine systematischen Fehler finden, die einen besonderen Förderbedarf nahelegen. Vielmehr verfügt der Lerner über gute Rechtschreibfähigkeiten. Abschließend soll der Text auch mit einer phonologischen Brille gelesen werden. Das erscheint vielleicht zunächst abwegig, da es sich ja um einen geschriebenen und nicht um einen gesprochenen Text handelt. Dennoch können lernersprachliche Fehlschreibungen in einigen Fällen auch auf andere Hörerfahrungen zurückzuführen sein. So ist es im Französischen z.-B. fakultativ möglich, silbenauslautende Schwa-Laute auszusprechen (oder sie eben auch nicht zu realisieren). In einigen Regionen können darüber hinaus im Mündlichen sogar zusätzliche Schwa-Laute an Wörter angehängt werden. Möglich wäre daher, dass der Lerner aufgrund von Hörinterferenzen anstelle von Tisch (Z. 5) tatsächlich Tische in der Einzahl als Grundform annimmt. Auch kommen bei frankophonen Lernenden häufiger auditive Verwechslungen des konsonantischen R-Lauts mit dem Ach-Laut vor, da beide Laute einander artikulatorisch sehr ähnlich sind, das Französische jedoch nur den R-, nicht aber den Ach-Laut kennt. Vor diesem Hintergrund wäre die Schreibung Lohr (Z. 8) anstelle von Loch erklärbar. Gerade in Bezug auf die Überlegungen zu phonologischen Fehlerursachen wird deutlich, dass es große Vorteile mit sich bringt, wenn die analysierende Person Kenntnisse über die Erstsprache(n) sowie ggf. weitere starke Sprachen der Lernenden in die Analyse einbringen kann. Dabei reicht es häufig bereits aus, Kontrastive Analysen 38 zu rezipieren, zumal Lehrpersonen selbstverständlich nicht alle Sprachen ihrer 38 Eine Vielzahl sehr gut lesbarer Kontrastiver Analysen findet sich bspw. auf den proDaZ- Seiten der Universität Duisburg-Essen. Weitere Kontrastive Analysen zu unterschiedlichen Sprachen finden sich u.-a. in Krumm et al. (2010) sowie Krifka et al. (2014). 7 Sprachentwicklung analysieren 120 Schüler: innen erwerben können. Trotz des relativ kurzen Textes lassen sich also bereits einige interessante Einblicke in die Lernersprache gewinnen, aus denen tentativ förderdiagnostische Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Die Auswahl individuell einschlägiger Förderschwerpunkte kann sich dabei nach unterschiedlichen Progressionskriterien richten. So ist es zunächst sinnvoll, in den Lernertexten nach Anzeichen für Restrukturierungsprozesse zu suchen, d.-h. nach linguistischen Bereichen, in denen normative neben non-normativen Realisierungen stehen (Gass/ Selinker 1994, 213 ff., Bredel 2005, 85 ff.) (→ 2). Im Falle des obigen Lernertextes wäre dies z.- B. der Erwerb der Satzklammer in Verbindung mit einem Wortschatzausbau im Bereich der Präfixverben. Auch die Akkusativdeklination sollte aufgegriffen und gefestigt werden. Weiter ist zu überlegen, welche lernersprachlichen Abweichungen ein kommunikatives Hindernis darstellen und welche möglicherweise auch sozial markiert sein könnten. Der vorliegende Text enthält hier keine besonderen Auffälligkeiten. (Bspw. in der Aussprache von Lernenden kann es aber häufig sehr wichtig sein, auch die Sprechwirkung in die Progressionsüberlegungen mit einzubeziehen.) Ebenfalls eine Rolle spielen können Frequenzeffekte. Wie häufig kommt ein linguistisches Phänomen sprachlich vor? Aber auch: Wie häufig kommen bestimmte Fehlerarten in einer Lernergruppe vor? Orthographische Kernbereiche wie die satzinterne Großschreibung oder die Markierung der Vokallänge ziehen bei Nichtbeherrschung deutlich mehr Fehler nach sich als z.-B. die Transliteration des Ang-Lautes. Entsprechend viele Fehler können Lernende demnach auch vermeiden, wenn sie an genau diesen Bereichen arbeiten. Schließlich stellen auch der antizipierte Korrekturaufwand sowie nicht zuletzt die Wünsche und Bedarfe der Lernenden Auswahlkriterien für die Unterrichtsplanung dar (vgl. weiterführend Horstmann/ Settinieri/ Freitag 2019, insbes. Kap.-11 zur Durchführung von Lernersprachenanalysen). 7.4 Zusammenfassung Wie der exemplarische Vergleich der drei sprachdiagnostischen Grundverfahren illustriert, lassen sich aus den jeweiligen Ergebnissen ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Während das Beobachtungsverfahren vor allem (relativ breite) Förderbereiche aufzeigt, lassen sich über das profilanalytische Verfahren primär grammatische Förderschwerpunkte eruieren. Der C-Test schließlich bietet kaum konkrete Förderansätze, zeigt aber dafür an, wo die Schüler: innen einer Lerngruppe sprachlich stehen und auf welche Lernende 7.5 Aufgaben 121 bei der Spracharbeit besonderes Augenmerk gelegt werden sollte. Als Ausgangspunkt einer individuellen Förderung erscheinen Lernersprachenanalysen in besonderem Maße geeignet. Eine Sprachdiagnose auf Basis eines ersten mündlichen oder schriftlichen Datensatzes gilt es anhand weiterer Daten zu verfeinern und darüber hinaus auch regelmäßig einer systematischen Revision zu unterziehen. Entsprechend wichtig ist es auch, grundsätzlich mehrere der skizzierten Ansätze und Verfahren in den Prozess einzubeziehen, um darauf eine solide Förderplanung aufbauen zu können, die zudem regelmäßig aktualisiert und angepasst werden sollte. 7.5 Aufgaben A. Die Verfahrensgruppen Beobachtung und Test weisen unterschiedliche diagnostische Vor- und Nachteile auf, die zudem häufig komplementär sind (vgl. für einen tabellarischen Überblick über alle Verfahrensgruppen auch Gültekin-Karakoç 2019, 110). Diese beziehen sich z.-B. auf Aspekte wie (i.a.R.) • (keine) Ableitung konkreter Förderschwerpunkte möglich • (keine) Bindung an den Besuch einer Bildungsinstitution • (keine) Grundlage für einen Austausch zwischen Bildungsakteur: innen • (keine) linguistischen Kompetenzen erforderlich • Abbildung sprachlicher Breite/ Fokussierung auf ausgewählte Indikatoren • Ganzheitlichkeit/ Oberflächlichkeit • Kontrolle/ Fehleranfälligkeit • kostenökonomisch/ kostenaufwändig • Longitudinalität/ Querschnittsmessung • Natürlichkeit/ Künstlichkeit • Objektivität/ Subjektivität • Vergleichbarkeit von Ergebnissen (auf Basis einer Normierung)/ mangelnde Vergleichbarkeit von Ergebnissen • zeitökonomisch/ zeitaufwändig Ordnen Sie die Vor- und Nachteile jeweils Beobachtungen vs. Tests zu und stellen Sie sie dann einander tabellarisch gegenüber. Nicht alle genannten Aspekte sind dabei eindeutig zuordenbar, sondern können je nach konkretem Verfahren auch variieren. 7 Sprachentwicklung analysieren 122 Beobachtungsverfahren Testverfahren + - - + B. Innerhalb welcher sprachdiagnostischen Verfahrensgruppe (1 = Schätzverfahren, 2 = Beobachtung, 3 = Profilanalyse, 4 = Test, 5 = Screening) würden Sie in den folgenden Fällen ein geeignetes Verfahren auswählen? Begründen Sie Ihre Wahl. Situation Spr. Verf.- Gr. Sie übernehmen eine Englischklasse neu und möchten einen Eindruck davon gewinnen, wie gut Ihre Schüler: innen Deutsch sprechen, um von Anfang an ein Auge auf mögliche Verständnisschwierigkeiten bei deutschsprachigen Erläuterungen zu haben. Sie übernehmen eine Deutschfördergruppe von sieben Schüler: innen und möchten eine Eingangsdiagnose machen, um Förderschwerpunkte für das kommende Halbjahr festzulegen. Um die Mehrsprachigkeit Ihrer Schüler: innen in Zukunft gezielter fördern zu können, haben Sie sich mit allen Deutsch-, Englisch-, Französisch- und Herkunftssprachenlehrkräften der 7. Klassen zusammengeschlossen. Sie möchten sich miteinander über den Sprachstand der Siebtklässler: innen in ihren unterschiedlichen Sprachen austauschen, aber auch darüber, wann und mit wem sie diese Sprachen sprechen und für welche Themen sie sich in ihrer Freizeit aktuell besonders interessieren. Auf dieser Grundlage wollen Sie ein gemeinsames Sprachenprojekt planen. Sie möchten die Lesekompetenz der Schüler: innen Ihrer internationalen Vorbereitungsklasse im Deutschen diagnostizieren, um einschätzen zu können, ob die Schüler: innen sprachlich bereits ausreichend für den Übergang in die Regelklasse vorbereitet sind oder nicht. 7.6 Weiterführende Literatur Jeuk, Stefan/ Settinieri, Julia (Hrsg.) (2019): Sprachdiagnostik Deutsch als Zweitsprache. Berlin/ Boston: De Gruyter. Junk-Deppenmeier, Alexandra/ Jeuk, Stefan (Hrsg.) (2015): Praxismaterial Förderdiagnostik. Werkzeuge für den Sprachunterricht in der Sekundarstufe I. Stuttgart: Klett/ Fillibach. Lösungshinweise zu den Aufgaben Kapitel 2 A. Die Karte zeigt z.-B., dass Englisch, Französisch oder Griechisch die gleiche Anzahl an Genera haben wie das Deutsche, und zwar drei. Spanisch hat hingegen zwei und Finnisch oder Türkisch haben keine Genera. Es kann angenommen werden, dass L2-Lernende des Deutschen mit L1 Türkisch für den Erwerb des Genussystems länger brauchen werden, weil sie Genera nicht kennen. Mit L1 Englisch könnte der Erwerb früher erfolgen, weil ein ähnliches Genussystem genutzt wird (he, she, it / er, sie, es) und das Wissen über Genera transferiert werden kann. B. Die Tabelle zeigt, dass das Mittelfeld bei Aufgabenstellungen sehr komplex sein kann. Der Operator „abschreiben“ als wichtige Handlungsanweisung kann je nach den Lernausgangslagen der Lernenden (lange) unklar bleiben. Lehrkräfte, die das Feldermodell kennen, können einerseits die Komplexität von Aufgabenstellungen (z.- B. in Schulbüchern) schnell erkennen. Andererseits können sie ausgehend vom Feldermodell Aufgabenstellungen adaptiv gestalten, d.-h. sie an das Können der Lernenden anpassen. Einigen Lernenden könnte es z.-B. bereits helfen, die linke und rechte Satzklammer zu markieren. Linke SK Mittelfeld Rechte SK Schreibe die Verben ab. Schreibe aus dem Text die Verben ab. Schreibe aus dem Text die zusammengesetzten Verben ab. Schreibe aus dem Text die zusammengesetzten Verben mit dem Wortbaustein wegab. 124 Lösungshinweise zu den Aufgaben Kapitel 3 A. Das Ausmalen eines Sprachenportraits bietet die Möglichkeit, sich all seiner Sprachen und Varietäten bewusst zu werden. Es kann sowohl bei Lernenden (links) als auch bei (angehenden) Lehrkräften (rechts) zur Sensibilisierung genutzt werden. Häufig zeigen sich in den Visualisierungen biographische (z.-B. der Erwerb der Erstsprache), emotionale (z.-B. die „Herz“- oder Lieblingssprachen), aber auch funktionale Aspekte (z.-B. Englisch auf Reisen). Statt Ausmalen können z.-B. auch bunte Steine gelegt werden. 39 B. Ausgehend von dem Paar BICS und CALP könnten z.-B. folgende Bezeichnungen gewählt werden. Sie werden in der Forschungsliteratur z.T. auch synonym gebraucht. Meistens beruhen sie auf unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen oder theoretischen Annahmen. Die jeweils rechts stehenden Ausdrücke stehen in Bildungsstandards und entsprechend auch in den schulischen Fächern im Fokus. 39 Das linke Beispiel stammt von der Webseite: https: / / www.mehrsprachigkeit.uni-hamburg.de/ foerderung-von-mehrsprachigkeit/ in-der-schule.html (20.3.2022). Das rechte Beispiel ist angelehnt an eine Befragung mit Lehrkräften. BICS CALP Sprache der Nähe Sprache der Distanz Konzeptionelle Mündlichkeit Konzeptionelle Schriftlichkeit Orate Strukturen Literate Strukturen Alltagssprache(n) Standardsprache(n) Fachsprache(n) Bildungssprache Kapitel 4 A. Bereits in diesem kurzen Auszug werden zahlreiche unterschiedliche sprachliche Anforderungen an die Lernenden formuliert, und zwar benennen (2x), Begriffe unterscheiden, erläutern, Beispiele angeben, erklären (2x), beschreiben (2x), Texte lesen und zusammenfassen, wesentliche Aussagen in vollständigen Sätzen verständlich erläutern, Beiträgen anderer konzentriert zuhören, sachlich Bezug auf die Aussagen anderer nehmen. Diese beziehen sich auf mündliche oder schriftliche sowie auf rezeptive oder produktive sprachliche Interaktionen. B. Sprachbildung über alle Fächer umfasst im Prinzip alle Unterrichtssituationen, in denen Sprache explizit zum Unterrichtsgegenstand gemacht wird, wie in Tab. 3 (S. 59) am Beispiel des Physikunterrichts erläutert. Dabei können durchaus auch alle Sprachen, die in einer Klasse zur Verfügung stehen, mit in den Fachunterricht einbezogen werden, wenn beispielsweise im Mathematikunterricht in Partner- oder Gruppenarbeit alle Sprachen (d.- h. insbesondere auch Familiensprachen der Lernenden) gesprochen werden dürfen oder wenn im Musikunterricht verschiedene Nationalhymnen in Text und Ton miteinander verglichen werden. In diesem Fall findet Sprachbildung dann gleichzeitig auch über alle Sprachen statt. Beispiele für Sprachbildung über Bildungskontexte hinweg wären Lesungen in der Stadtbibliothek, die sich an Lernende richten, eine Schülerzeitungs-AG im Rahmen der Ganztagsbetreuung oder auch Sprachkursangebote, die sich an die Eltern von Lernenden richten. 126 Lösungshinweise zu den Aufgaben Kapitel 5 A. Die erste Lesestrategie bei der Sieben-Siebe-Methode ist die Suche nach internationalem Wortschatz, der in vielen Sprachen vorkommt und häufig lateinischer oder griechischer Herkunft ist. Entsprechend könnte z.-B. leicht erkannt werden, dass es hier um einen Illustrator und Autor geht, der „libri illustrati“, d.- h. Bilderbücher, schreibt. Aufgrund von Textmusterwissen oder Wissen über den Autor könnte abgeleitet werden, dass Wolf Erlbruch 1948 geboren wurde und für Bücher wie „Die große Frage“ oder „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“ bekannt ist. Wer eine romanische Sprache sprechen sollte (z.-B. Französisch), erkennt auch weitere Wörter bzw. Wortgruppen (z.B. di lingua italiana = der italienischen Sprache, grande successo = großen Erfolg, in tutto il mondo = in der ganzen Welt). Die Aufgabe lässt sich wunderbar in der Gruppe lösen, weil die Mitglieder ihr gesammeltes, auch unterschiedliches Wissen nutzen können. Die Kontrolle des vollständigen Textes bei www.deepl.com ergibt: „Wolf Erlbruch, geboren 1948, ist ein deutscher Illustrator und Bilderbuchautor. Den italienischen Lesern ist er vor allem durch sein Buch Chi me l'ha fatta in testa? (1998) [bekannt], [das] weltweit ein großer Erfolg war. Wolf Erlbruch hat etwa zehn Veröffentlichungen vorzuweisen, außerdem hat er etwa fünfzig Bücher anderer Autoren illustriert.“ (20.03.2022) Das Übersetzungsportal arbeitet noch nicht perfekt: Der Titel wird nicht übersetzt. Es fehlt das Wort „bekannt“ (ergänzt in eckigen Klammern) und das Relativpronomen war falsch (statt „das“ stand „der“). B. Auf der MELT-Webseite können unter „Medien und Materialien“ verschiedene „Lesetheaterskripte“ gewählt werden, die immer in zwei Versionen vorhanden sind - für Lehrende (u.-a. mit Übersetzungen in Klammern) und für Lernende. Der folgende Ausschnitt stammt aus dem 4. Lesetheaterstück: Heidi muss viel lernen („Heidi“ von Johanna Spyri), Version Lehrpersonen (im Schweizer Schriftsystem gibt es kein „ß“, „sass“, „heisse“ sind entsprechend korrekt). 127 Lösungshinweise zu den Aufgaben Kapitel 6 A.-D. Aufgrund der selbst zu wählenden Aufgabenstellung kann an dieser Stelle kein Lösungsvorschlag gegeben werden. Die Abbildungen im Kapitel enthalten aber Beispiele für Musterlösungen und sprachliche Mittel (Abb. 21) sowie fachliche und sprachliche Lernziele (Abb. 20), die als Anregung dienen können. Einige Scaffolds werden zudem in Abschnitt 6.2 vorgestellt. Weitere Anregungen finden Sie auch online, z.-B. auf den Seiten von Josef Leisen (http: / / www.sprachsensiblerfachunterricht.de/ methoden-werkzeuge) oder des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (https: / / www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/ de/ publikationen/ material-fuer-die-praxis/ methodenpool/ ). 128 Lösungshinweise zu den Aufgaben Kapitel 7 A. Einen Lösungsvorschlag finden Sie in der untenstehenden Tabelle. Je nach spezifischem Verfahren, an das Sie denken, können die Zuordnungen jedoch durchaus abweichen, wie hier teilweise auch bereits über relativierende Ausdrücke angezeigt. Beobachtungsverfahren Testverfahren - Bindung an den Besuch einer Bildungsinstitution + keine Bindung an den Besuch einer Bildungsinstitution + Grundlage für einen Austausch zwischen Bildungsakteur: innen +/ teilweise Grundlage für einen Austausch zwischen Bildungsakteur: innen + Longitudinalität - Querschnittsmessung + Ganzheitlichkeit + Abbildung sprachlicher Breite - Oberflächlichkeit häufig Fokussierung auf ausgewählte Indikatoren + Ableitung konkreter Förderschwerpunkte möglich +/ - Ableitung konkreter Förderschwerpunkte teilweise möglich linguistische Kompetenzen erforderlich + häufig keine oder nur geringe linguistische Kompetenzen erforderlich + kostenökonomisch zeitaufwändig +/ teilweise kostenaufwändig +/ teilweise zeitökonomisch - Fehleranfälligkeit, Subjektivität + Kontrolle, Objektivität mangelnde Vergleichbarkeit von Ergebnissen + Vergleichbarkeit von Ergebnissen (auf Basis einer Normierung) B. Die Verfahrensgruppen können in der Reihenfolge Screening, Profilanalyse, Beobachtung, Test (von oben nach unten) in die Tabelle eingetragen werden. Im ersten Fall erscheint ein Screening der allgemeinen Sprachkompetenz (z.-B. mittels C-Test) zielführend, da es dabei helfen kann, gezielt Lernenden mit besonderem Differenzierungsbedarf in den Blick zu nehmen. Im zweiten Fall kann eine Profilanalyse dabei helfen, Kompetenzen sowie daran anschließend anstehende Erwerbsaufgaben auf unterschiedlichen linguistischen Teilebenen zu eruieren. In Bezug auf das dritte Beispiel ist ein ganzheitlicher Ansatz vonnöten, der im Idealfall auch Präferenzen und Wünsche der Lernenden mit einbezieht. Hier könnte die Beobachtung auch durch eine Befragung der Lernenden selbst ergänzt werden, um sie stärker 129 Lösungshinweise zu den Aufgaben mit in die Planung einzubeziehen. Im Bereich der Lesekompetenz schließlich, um zum vierten Fallbeispiel zu kommen, liegen zahlreiche normierte Testverfahren für unterschiedliche Zielgruppen vor, die Referenzwerte angeben, deren Überschreiten ein tiefergehendes Leseverstehen anzeigt, das einen Bildungserfolg auch in anderen Fächern als dem Deutschen wahrscheinlich macht. Eine solche Prognose erlauben grundsätzlich nur Testverfahren. Abkürzungsverzeichnis 2L1 doppelter oder bilingualer Erstspracherwerb AA-IALT ausdifferenziertes und adaptiertes IALT-Sprachmodell AV audiovisuell BICS Basic Interpersonal Communicative Skills BikUS Berater: in für interkulturelle Unterrichts- und Schulentwicklung BLK Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung CALP Cognitive Academic Language Proficiency CLIL Content and Language Integrated Learning DaE Deutsch als Erstsprache DaF Deutsch als Fremdsprache DaM Deutsch als Muttersprache DaZ Deutsch als Zweitsprache DBR Design-Based Research Delfin 4 Diagnostik, Elternarbeit, Förderung der Sprachkompetenz in Nordrhein-Westfalen bei 4-Jährigen DESI Deutsch Englisch Schülerleistungen International DiGS Deutsch in Genfer Schulen DLF Digitales Lexikon Fremdsprachendidaktik EA Einzelarbeit ECC IALT European Core Curriculum for Inclusive Academic Language Teaching ELFE Ein Leseverständnistest für Erstbis Sechstklässler EUCIM-TE European Core Curriculum for Mainstreamed Second Language Teacher Education EuroComSlav Teilprojekt des EuroCom für slawische Sprachen EuroCom European Intercomprehension - Projekt „Mehrsprachiges Europa durch Interkomprehension in Sprachfamilien“ EuroComGerm Teilprojekt des EuroCom für germanische Sprachen 132 Abkürzungsverzeichnis EuroComRom Teilprojekt des EuroCom für romanische Sprachen FörMig Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund GA Gruppenarbeit GER Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen HAVAS 5-7 Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes Fünfbis Siebenjähriger HSP Hamburger Schreib-Probe HSU Herkunftssprachlicher Unterricht IALT Inclusive Academic Language Teaching IDS Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim KGS an das Kind gerichtete Sprache L1 native language; Erstsprache L1, L2, L3 language one, language two, language three usw; d.-h. die erste, zweite und alle weiteren Sprachen, die erworben werden L2 target language; Zweitsprache oder Fremdsprache je nach Wissenschaftstradition LAC Language Across the Curriculum LAD Language Acquisition Device LASS Language Acquisition Support System LiSe-DaZ Linguistische Sprachstandserhebung - Deutsch als Zweitsprache LSA Lernersprachenanalyse LT Lerntheorie MELT Mehrsprachiges Lesetheater zur Förderung der Leseflüssigkeit und Lesemotivation NRW Nordrhein-Westfalen PISA Programme for International Student Assessment PL Plenum SFL Systemisch-funktionale Linguistik SGS an Schüler: innen gerichtete Sprache SIOP Sheltered Instruction Observation Protocol 133 Abkürzungsverzeichnis U3 Gruppen für Kinder unter drei Jahren in Kindertagesstätten Ü3 Gruppen für Kinder über drei Jahren in Kindertagesstätten UG Universalgrammatik VERA Vergleichsarbeiten VGGF Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke Literatur Abshagen, Maike (2015): Praxishandbuch Sprachbildung Mathematik. 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Wie können die Sprach(en)repertoires von Lernenden modelliert werden? Wie kann eine durchgängige Sprachbildung von der Primarbis hin zur Oberstufe gestaltet werden? Und schließlich: Wie können die sprachlichen Entwicklungs- und Bildungsprozesse analysiert und beim sprachlichen und fachlichen Lernen in einem adaptiven Unterricht unterstützt werden? Dieser Band vermittelt (angehenden) Lehrkräften Hintergrundwissen und Handlungssicherheit für das Gestalten sprachlicher Bildungsprozesse in Schule und Unterricht. Sprachliche Bildung LinguS 8 Sprachliche Bildung LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis