Der Text
0516
2022
978-3-8233-9275-0
978-3-8233-8275-1
Gunter Narr Verlag
Manfred Consten
Christiane Kirmse
10.24053/9783823392750
Die Textlinguistik kann durch ihre Fokussierung auf Verstehensprozesse und Kommunikation zur Lösung zentraler Probleme des Deutschunterrichts beitragen. Dieser Band verbindet linguistische Konzepte mit Fragen der Literatur- und Sprachdidaktik und setzt folgende Schwerpunkte: Textkohärenz als wesentliches Kriterium für das Herstellen und Verstehen von Texten; Textsortenkompetenz als kommunikative und soziale Kompetenz; spezifisch schulische Textsorten; Textverstehen und Textproduktion aus linguistischer und didaktischer Perspektive; literarisches Verstehen und Textlinguistik als Brücke zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft; textlinguistische Methoden und Konzepte, die für die schulische Vermittlung und Überprüfung von Textkompetenz hilfreich sein können. Einprägsame Definitionen zentraler Begriffe sowie Aufgaben erleichtern das Verständnis.
<?page no="0"?> LinguS 14 Der Text LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis MANFRED CONSTEN CHRISTIANE KIRMSE <?page no="1"?> Der Text <?page no="2"?> LinguS 14 LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis Herausgegeben von Sandra Döring und Peter Gallmann <?page no="3"?> Manfred Consten / Christiane Kirmse Der Text <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783823392750 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2566-8293 ISBN 978-3-8233-8275-1 (Print) ISBN 978-3-8233-9275-0 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0313-8 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 5 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Textlinguistik für die Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Wort, Satz, Text - Der Text als Gegenstand der Linguistik . . . . . 9 1.2 Textlinguistik und Deutschdidaktik: Nicht immer eine Liebesbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.3 Meist nur implizit: Textlinguistik in den Bildungsstandards . . . 15 1.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2 Textsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen? . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2 Schreiben, wie man spricht? Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3 Textsorten nur für die Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung . . . . . . . . . 37 3.1.1 Der Rote Faden: Kohärenz, Referenz und Informationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1.2 Wodurch entsteht Kohärenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.1.3 Modelle des Textverstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.2 Kohäsion und wörtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.3 Textsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.4 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4 Literarische Texte verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4.1 Ausgangssituation: Kompetenzorientierte Bildungsstandards ohne literarische Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4.2 Ein literaturdidaktischer Kompromiss: Literarisches Verstehen statt literarische Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.3 Das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren . . . . . . . . . . . 70 4.4 Merkmale des Textes und Anforderungen an Leser: innen . . . . 77 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? . . . . . . . . . . . . 82 <?page no="6"?> 6 Inhalt 4.5.1 Der Literaturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.5.2 Spezifika literarischen Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte . . . . . . . . . . . . . . 95 4.7 Ausblick: Wie entwickelt und fördert man eine literarische Lesehaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.8 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5 Textverstehen überprüfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.1 Herausforderungen bei der Konzeption von Textverstehensaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.1.1 Schwierigkeitsbestimmende Merkmale von Textverstehensaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.1.2 Die Verschränkung von Rezeptions- und Produktionsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.2 Kann man Rezeptionsleistung ohne Produktionsleistung messen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5.2.1 Hierarchieniedrige Prozesse im Blick: Lexik, Kohäsion und lokale Kohärenzetablierung erfassen . . . . . . . . . . . 112 5.2.2 Hierarchiehohe Prozesse im Blick: Globale Kohärenzetablierung und Textsinn erfassen . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.2.3 Lernen aus Leistungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.3 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Lösungshinweise zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 <?page no="7"?> 7 Einleitung Im Deutschunterricht geht es meist um Texte - diese scheinbar banale Erkenntnis steht Versionen einer Deutschdidaktik entgegen, die Textlinguistik ignoriert und die sprachwissenschaftliche Basis des Deutschunterrichtes auf Orthografie und Grammatik reduziert. Unabhängig davon, ob wir an integrativen Deutschunterricht denken, der die Kompetenzbereiche verbinden soll, oder einen Deutschunterricht vor Augen haben, der zumindest phasenweise Literatur- und Sprachunterricht trennt, haben es Deutschlehrer: innen in der Regel mit ganzen Texten zu tun. Sollen Primärtexte analysiert oder Texte über Texte geschrieben werden, bedarf es mehr als nur der formalen Beschreibung von Wörtern oder Sätzen. Entsprechend widmen wir uns in diesem LinguS-Band den Hauptgegenständen des Deutschunterrichts, Texten, sowie dem Umgang mit diesen, der über formale Betrachtungen von Sprache hinausgeht. In den Bildungsstandards (KMK 2012 1 ) überschreiten die Kompetenzbereiche „Schreiben“, „Lesen“, „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ eindeutig die Wort- und Satzgrenzen. Man liest und schreibt eben keine isolierten Wörter oder Sätze, sondern Texte. Auch für den Bereich „Sprache und Sprachgebrauch reflektieren“, 2 der auf Sprache als System abzielt, wird „Auseinandersetzung mit Texten“ explizit genannt (KMK 2012: 20). Ein Überschreiten der Satzebene wird ebenfalls bei der Reflexion über die „kognitive und kommunikative Funktion von Sprache“ (ebd.) sowie über sprachliches Handeln (ebd.: 21) vorausgesetzt. Kommunikation ist schließlich eine Funktion (gesprochener oder geschriebener) Texte. Darüber hinaus hat die Arbeit auf Textebene auch quantitativ einen hohen Stellenwert im Deutschunterricht, z.-B. beim materialgestützten Schreiben, wo erst große Textmengen verstanden und dann argumentativ verarbeitet werden müssen. Dieser Band berücksichtigt das Interesse an satzübergreifenden Phänomenen. Zur kommunikativen Funktion von Sprache sei außerdem auf den Band-11 zur linguistischen Pragmatik verwiesen (Börjesson/ Laser i. Vorb.). 1 Bildungsstandards für das Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. Die Standards für mittlere Schulabschlüsse (KMK 2012) enthalten im Wesentlichen die gleichen Kompetenzbereiche, z.T. mit etwas anderen Bezeichnungen. 2 In KMK (2004: 8) ist dieser Bereich unter dem Namen „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ den übrigen Bereichen übergeordnet. <?page no="8"?> 8 Einleitung Dieses Buch wird auch immer wieder auf den notwendigen Abgleich zwischen außerschulischer kommunikativer Praxis, insbesondere außerschulischen Textsorten, und schulischen Anforderungen und Überzeugungen über die ‚Richtigkeit‘ von Texten zu sprechen kommen. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ - das Zitat Senecas (62 n.-Chr.) beschreibt ein Ideal, dem die Schule oftmals wenig gerecht wird. In ihrem empfehlenswerten Sprach- und Studienratgeber schreiben Moll/ Thielmann (2017: 17): „Solange Gesellschaften Schulen betreiben, werden Schüler Antworten auf Fragen bekommen, die sie nie gestellt haben, und sie werden lernen, denjenigen Antworten auf Fragen zu geben, die die Antworten schon wissen.“ Was die Autor: innen hier so einfach formulieren, wird uns noch als ernsthaftes Problem textueller Kommunikation im Deutschunterricht beschäftigen. Viele Erkenntnisse und Anregungen zu diesem Buch haben wir in den Seminaren „Textlinguistik und Schule“ gewonnen, die vom Institut für Germanistische Sprachwissenschaft und der Abteilung Fachdidaktik Deutsch der Friedrich-Schiller-Universität Jena angeboten werden. Auch einige der im Buch erwähnten Aufgaben entstammen unseren gemeinsamen Seminaren. Wie die LinguS-Reihe folgen diese Seminare dem Tandemprinzip Fachwissenschaft + Fachdidaktik. Den Studierenden sei für viele inspirierende Beiträge in Diskussionen und Hausarbeiten gedankt. <?page no="9"?> 9 1.1 Wort, Satz, Text - Der Text als Gegenstand der Linguistik 1 Textlinguistik für die Schule 1.1 Wort, Satz, Text - Der Text als Gegenstand der Linguistik Ordnet man Sprachbeschreibung und -theorie nach ihren Beschreibungseinheiten, so fällt auf: Die kleinste, die lautliche Ebene spielt allenfalls für die korrektive Phonetik im Fremdsprachunterricht eine Rolle; ihr schriftsprachliches Pendant, die Orthografie, ist hingegen in der Erinnerung vieler Schulabsolventinnen und -absolventen der Gegenstand, der die Berührung mit Sprache im Deutschunterricht entscheidend prägt, wird doch schon in der Grundschule „Schreiben lernen“ und „Lesen lernen“ oft in einem ganz trivialen Sinne als Erlernen normativer Orthografie aufgefasst. Die normative Prägung setzt sich im Grammatikunterricht - also auf der Ebene des Wort- und Satzbaus - fort und führt manches Mal bei Lehrpersonen zu negativen Überzeugungen 3 über das kreative Potenzial des Gegenstands und entsprechend negativen Erfahrungen bei Schülerinnen und Schülern - vgl. den LinguS-Band 1, Fuß/ Geipel (2018: 9), die dem die Forderung nach „Systemeinsichten und Sprachreflexion“ gegenüberstellen. Auf der Ebene der größten linguistischen Beschreibungseinheit - dem Text als System aufeinander bezogener Sätze - ist die Herangehensweise nicht immer so explizit normativ wie im Orthografie- oder Grammatikunterricht. Man denke an „kreatives Schreiben“ als produktive Leistung oder die Interpretation literarischer Texte als rezeptive und/ oder produktive Leistung. Hier gerät aber oft aus dem Blickfeld, dass es sich überhaupt um Sprachunterricht handelt und Phänomene und Kompetenzen thematisiert werden, die Gegenstand linguistischer Analyse und Theoriebildung sind. Zudem zielen moderne Lehrbücher darauf ab, verschiedene Kompetenzbereiche integrativ zu behandeln. Dies macht es umso schwerer, originär linguistische Inhalte zu identifizieren. „Diese Woche machen wir Grammatik“ - diesen Satz wird jeder in der Schule schon gehört haben, und selten löste er Begeisterung aus. „Diese Woche machen wir Textlinguistik“, ein solcher Satz würde nur Rätselraten verursachen, und auch für Studierende des Unterrichtsfaches Deutsch muss immer wieder sichtbar 3 Zur Filterfunktion von Überzeugungen und ihren Einfluss auf das Handeln von Lehrpersonen vgl. Abschnitt 4.6 und Reusser/ Pauli (2014). <?page no="10"?> 10 1 Textlinguistik für die Schule gemacht werden, wie sehr die Bildungsstandards Deutsch - meist implizit - mit textlinguistischen Konzepten durchsetzt sind. Am Ende dieses Kapitels in Abschnitt 1.3 werden wir solche Konzepte nennen. Ist eine Disziplin irrelevant für den Unterricht, die nicht offen in Lehrplänen auftritt und somit auch nicht im Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler und vielleicht auch der Lehrkräfte präsent ist? Die Friedrich-Schiller-Universität Jena bietet ihren Lehramtsstudierenden ein Pflichtmodul namens „Einführung in die Schulwirklichkeit“. Man führt also Menschen in eine Wirklichkeit ein, in der sie die letzten zwölf oder 13 Jahre ihres Lebens verbracht haben. Das ergibt nur Sinn, weil Schüler- und Lehrerperspektive sich wesentlich unterscheiden: Lehrkräfte sollten hinter dem Schulstoff fachliches Wissen erkennen, das mehr ist als didaktische ‚Tricks und Kniffe‘ für den Unterricht, ein Wissen, das zum Verständnis und zur Vermittlung und Überprüfung der offen artikulierten Zielkompetenzen erforderlich ist. Moll/ Thielmann (2017: 18) beklagen: „Lehrer sind eine besondere Art institutioneller Agenten. Ihr gewöhnlicher Bildungsweg sieht folgendermaßen aus: Schule - Universität - Schule. Lehrkräfte bleiben der Institution Schule treu, sie wechseln nur die Seiten. Dies führt zu einer interessanten Erscheinung: An der Universität sind manche Lehramtsstudenten überrascht, dass sie über das Schulwissen hinaus noch Wissen erwerben sollen - wo sie doch schon alles wissen, was man für die Schule braucht. Ihre Erwartung ist, dass sie auf der Universität lernen, wie sie agentenseitig dasjenige Wissen, das sie sowieso schon haben - also das Schulwissen -, am besten vermitteln. Mit anderen Worten: Das Verhältnis zum Wissen ist bei vielen Lehrern (natürlich nicht allen) genauso äußerlich wie bei den Schülern.“ Die Textlinguistik liefert für den Deutschunterricht vielleicht die besten Beispiele für tieferes Wissen, das Zielkompetenzen erst fassbar macht, insbesondere Wissen über kognitive Prozesse des Textverstehens und der Textproduktion. Jedoch stellte Spinner (1989: 22) fest: „Schon mehrfach ist versucht worden, die linguistische Textanalyse auch für den Deutschunterricht fruchtbar zu machen. In der Schulpraxis haben solche Verfahren aber noch keinen breiten Raum gefunden.“ Wenn auch ein gewisses Interesse festzustellen ist - so spricht Heinemann (2006: 22) von der Textlinguistik als einer „Fundierungsdisziplin“ - hat noch kein Paradigmenwechsel stattgefunden, der die Textlinguistik zum selbstverständlichen Bestandteil des Deutschunterrichtes gemacht hätte. <?page no="11"?> 11 1.1 Wort, Satz, Text - Der Text als Gegenstand der Linguistik Wo liegen die Schwierigkeiten? Sie beginnen bei der Definition der Beschreibungseinheit selbst - was ist ein Text? Etwas Geschriebenes? Etwas, das aus mehreren Sätzen besteht, wie die oben formulierte Annäherung „System aufeinander bezogener Sätze“ nahelegt? Eine solche Definition bietet sich an, wenn man diejenigen Textkompetenzen in den Vordergrund stellt, die (rezeptiv oder produktiv) mit der sinnstiftenden, plausiblen Verknüpfung von Sätzen zu einem Text zu tun haben (vgl. Schwarz 2000: 25), also mit dem Roten Faden eines Textes, oder fachlich ausgedrückt: mit Kohäsion und Kohärenz (→- 3 und in Anwendung auf literarische Texte Kap. 4). (1) Kunden sauer - Deutschlandweiter Ausfall im Mobilfunknetz (Überschrift www.express.de/ 30408400) Bei der Rezeption dieser Überschrift werden Leser: innen selber die Information einfügen, dass der Textteil nach dem Gedankenstrich der Grund für den zuerst ausgesagten Sachverhalt ist. Das Beispiel zeigt auch, dass trotz einer strukturellen Herangehensweise, die die Sprache nach den Einheiten Laut/ Buchstabe - Wort - Satz - Text gliedert, für die Textdefinition ein traditioneller Satzbegriff nicht erforderlich ist: Das Beispiel enthält keine Verben, aber zwei inhaltlich satzwertige Einheiten. Auch das Kriterium der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit ist nicht so trivial, wie es scheint: Ist eine schriftlich ausformulierte Rede, die vom Blatt abgelesen wird, mündlich? Ist ein Internet-Chat schriftlich? Darauf werden wir in Abschnitt 2.2 eingehen. Für eine Verortung der Textlinguistik innerhalb der Linguistik bleibt festzuhalten: Die Textlinguistik ist keine Fortsetzung der Grammatik mit größeren Beschreibungseinheiten, auch wenn sie sich satzübergreifenden Strukturen als den typischen Textstrukturen zuwendet (Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 18). Vielmehr macht die Erkenntnis, dass Textverstehen ein kreativer, Sinn erzeugender Prozess ist, der nichtsprachliches Erfahrungswissen aktiviert, die Textlinguistik zu einer kognitionsorientierten Disziplin, die auf einer abstrakten Ebene nicht nur Formen, sondern auch mentale Prozesse beschreibt. Die kommunikative Funktion von Texten bringt die Textlinguistik in die Nähe der linguistischen Pragmatik (die sprachliches Handeln und Form-Funktions-Beziehungen beschreibt) und der Sozialwissenschaften. Als sprachwissenschaftlicher Brückenkopf zur Literaturwissenschaft hat die Textlinguistik zudem <?page no="12"?> 12 1 Textlinguistik für die Schule Berührung mit hermeneutischen Interpretationsprozessen - hiervon wird in Kapitel 4 die Rede sein. Bei so viel Komplexität und Interdisziplinarität mag die Textlinguistik Deutschlehrer: innen keine klaren Regeln und Normen für den Deutschunterricht liefern, aber das leisten auch linguistische Orthografie- und Grammatikforschung nicht. Schließlich muss hier unterschieden werden zwischen komplexen Forschungsdiskussionen beispielsweise um Wortarten und Kasus und der didaktischen Reduktion solcher Konzepte im Schulkontext, mit denen sich der nächste Absatz befasst. 1.2 Textlinguistik und Deutschdidaktik: Nicht immer eine Liebesbeziehung Somit ist festzustellen, dass die empirische statt normative Herangehensweise der Textlinguistik und die Unmöglichkeit, rezeptive und produktive Textkompetenz in Verhaltensregeln zu fassen, die Textlinguistik und ihr Potenzial für die Deutschdidaktik fragwürdig gemacht haben. So schreibt Baurmann (2000: 822): „Die Textlinguistik konnte (und kann) keine problemlos umzusetzende Theorie für den Schulgebrauch anbieten […] und vermag noch nicht überzeugend zu vermitteln, dass ihre Ergebnisse und Methoden den Muttersprachenunterricht bereichern können.“ 4 Den Mangel an „Problemlosigkeit“ schon in der Frage nach einer Textdefinition nennt auch Heinemann (2006) als einen Grund für die marginale Rolle der Textlinguistik in der Deutschdidaktik. Problemlosigkeit wird allerdings kaum eine Fachwissenschaft versprechen können, und es ist fraglich, ob wirklich Theorien für den Schulgebrauch umzusetzen sind oder eher grundsätzliche Erkenntnisse über den Gegenstand, in diesem Falle über den Text als materielles Konstrukt und über Lese- und Schreibkompetenz als zu entwickelnde mentale Eigenschaft. Die Linguistik betreibt Theoriebildung, setzt sich mit Nachbar- und Konkurrenztheorien auseinander. Erkenntnisse, die daraus entstehen, sind auch der Deutschdidaktik nicht fremd. Sie werden dort aber häufig als selbstverständliche, konsensuale „Modelle“ und ohne Bezug zu einem fachwissenschaftlichen 4 Für eine weitere Auseinandersetzung mit Baurmanns Einschätzung vgl. Consten/ Dambeck/ / Steinäcker (2017: 86-88). <?page no="13"?> 13 1.2 Textlinguistik und Deutschdidaktik: Nicht immer eine Liebesbeziehung Diskurs angeboten. 5 Andererseits findet in der Fachdidaktik ebenfalls eine komplexe und abstrakte Theoriebildung statt, die einen eigenen fachwissenschaftlichen Anspruch hat oder zumindest (bei einer besseren Vernetzung von Textlinguistik und Deutschdidaktik im wissenschaftlichen Diskurs) haben könnte. Von einer problemlos umzusetzenden Theorie für den Schulgebrauch haben sich derartige Modelle also auch entfernt, und so muss man sich fragen, warum explizit textlinguistische Erkenntnisse schlechter für den „Schulgebrauch“ geeignet sein sollten als fachdidaktische Modelle. 6 Um das Potenzial textlinguistischer Theorien und Konzepte für den Deutschtunterricht aufzuzeigen, greift dieses Buch auf zahlreiche Beispiele zurück. Eine wichtige Grundlage bildet dabei der Kurzprosatext Sonntag von Selim Özdogan. Dieser Text findet sich in aktuellen Thüringer Deutschlehrwerken eher selten, obwohl er thematisch und strukturell bedingt für den Deutschunterricht der mittleren und höheren Jahrgangsstufen gut geeignet erscheint. Mithilfe von Sonntag wollen wir die Liebesbeziehung zwischen Textlinguistik und Deutschdidaktik in beide Richtungen fördern. Schließlich haben wir es mit einem literarischen Text zu tun, der entsprechend nicht genuin das Kerngeschäft der sachtextorientierten Textlinguistik betrifft, an dem sich aber zeigen lässt, wie beide Wissenschaften voneinander lernen können - welche Gegenstände und Methoden sie trennen und verbinden. 5 So liefern Rosebrock/ Nix (2008) ein sehr textlinguistik-affines Modell zur Lesekompetenz, das Faktoren des Leseprozesses hierarchisch beschreibt. Die hierarchie-niedrigeren Ebenen stellen den Text selbst in seiner lexikalisch-grammatisch-semantischen Struktur dar; höhere Ebenen berücksichtigen das Vorwissen des Lesers und die Einbettung der Kommunikation auf einer sozialen Ebene (vgl. Kap. 3 sowie kritisch Consten/ Dambeck/ Steinäcker 2017: 93-96). Rosebrock/ Nix (2008), die hier stellvertretend für lesedidaktische Literatur genannt werden, ignorieren die Nähe (wenn nicht Übereinstimmung) ihres Konzepts zu sehr viel älterer textlinguistischer Literatur, wie sie in Kap. 3 genannt wird. 6 Eine passgenaue Anwendung linguistischen (grammatischen und textlinguistischen) Wissens auf Gegenstände des Deutschunterrichts zeigt Averintseva-Klisch (2019), speziell mit einer Aufbereitung des Terminus Textsinn (→-3.3) in Anwendung auf literarische Verstehensprozesse (→-4.1) Averintseva-Klisch/ Mülherr (2020: 70). <?page no="14"?> 14 1 Textlinguistik für die Schule Aufgabe 1 (Reflexion) Lesen Sie den folgenden Text, auf den wir immer wieder im Verlauf des Buches zurückkommen. Halten Sie schriftlich fest, welche Fragen sich Ihnen im Laufe der Lektüre und nach der ersten Lektürephase stellen. Selim Özdogan, Sonntag Es war Sonntagmittag, und ich fuhr mit meinem Fahrrad nach Hause. Es war kein Sonntag, wie wir ihn kennen. Ich fühlte mich gut und war voller Liebe, ich hätte alles sein können an diesem Tag. Es war mild, verglichen mit den letzten Wochen, ein Hauch von Frühling lag in der Luft. Noch einmal dieses Gefühl, es überstanden zu haben. Ich fuhr an einer Bushaltestelle vorbei, die völlig demoliert war. Glasscherben auf dem Bürgersteig, tausend kleine Glasscherben, und ich dachte nicht an meine Reifen. Ich dachte: Wie kann man nur so drauf kommen? Ich sah rüber auf die andere Straßenseite, und die andere Bushaltestelle war genauso ein Bild der Verwüstung. Wie kann man auf so eine verschissene Idee kommen? In Wirklichkeit habe ich eine ziemlich genaue Ahnung, wie man auf so eine Idee kommt. Es war Samstagnacht gewesen, ein paar Jungs, immer Jungs, und niemals weniger als zwei, die sich betrinken. Eine Samstagnacht, schon wieder, und du wirst aggressiv. Dein Leben kotzt dich an, du trinkst, damit der Spaß endlich kommt, du trinkst, damit du dich amüsierst, und dieses Mal trinkst du mehr als sonst, weil die letzten Wochenenden sich so geglichen haben, dass du sie gar nicht auseinanderhalten kannst. Keine einzige Frau lächelt zurück, du bist jung, du willst Abenteuer, und du willst die Welt in ihren Grundfesten erschüttern. Es reicht nicht, wenn du einfach nur Straßenlaternen austrittst, heute Nacht soll es mal etwas Größeres sein, heute Nacht willst du fühlen, wenn schon nichts anderes, dann wenigstens Macht. Und du kommst mit deinen Freunden an dieser Bushaltestelle vorbei. So kommt man auf so eine Idee. Und am nächsten Morgen wachst du auf, mit einer verschwommenen Erinnerung und einem Glücksgefühl, dass endlich etwas passiert ist. Scheiße, Mann, wie wir diese Bushaltestelle auseinandergenommen haben, alles nur noch Schutt und Asche, war das geil. Wie diese riesigen Scheiben zerbrochen sind, klirr, und glitzernde, kleine Dinger ergossen sich auf die Straße, ein Bild für die Götter. Und dann dieses Geräusch, meine Fresse, wann haben wir so etwas Schönes zum letzten Mal gehört? Scherben, Verwüstung und Verzweiflung, und die Verzweiflung anderer Leute macht mich immer trauriger als meine eigene, weil ich über die wenigstens lachen kann. Abends saß ich dann in der Bahn und sah dieses Plakat der Verkehrsbetriebe. Bis zu 1.000 DM Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung eines Vandalen führen. Leicht verdientes Geld. (Özdogan, Selim 1998/ 2010: Ein gutes Leben ist die beste Rache. Berlin: Aufbau Verlag. S. 79f.) Dass Sie sich vermutlich einige Fragen zu diesem Text stellen, hängt u.-a. damit zusammen, dass Sonntag ein literarischer Text ist, der der Polyvalenz-Konvention folgt. Das heißt, dass textseitig Deutungsspielräume angelegt sind, die Sachtexte in der Regel nicht bieten. Fahrpläne und Rezepte werden von Leser: innen positiver wahrgenommen, wenn sie monovalent sind, d.-h. mög- <?page no="15"?> 15 1.3 Meist nur implizit: Textlinguistik in den Bildungsstandards lichst eindeutig verstanden werden können. Anders als bei literarischen Texten erwarten Lesende klare Mitteilungen über Tatsachen. Dass diese Erwartungen zuweilen enttäuscht werden und Texte mit diesen Konventionen brechen, kann die Lektüre interessant machen. Außerdem motiviert es uns, mit der schulischen Tradition einer dichotomen Unterscheidung ein Stück weit zu brechen. Wir gehen der Frage, was literarische Texte und Sachtexte eint und trennt, in Kapitel 4 mit textlinguistischen Instrumentarien und literaturdidaktischem Blick ausführlicher nach. 1.3 Meist nur implizit: Textlinguistik in den Bildungsstandards Ein Blick in die „Kompetenzbereiche“ der Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife zeigt, dass alle Phänomenbereiche, die die Textlinguistik untersucht, im Deutschunterricht präsent sind - allerdings selten explizit. 7 a) Sprechen und Zuhören „Die Schülerinnen und Schüler handeln in persönlichen, fach- und berufsbezogenen und öffentlichen Kommunikationssituationen angemessen und adressatengerecht.“ b) Schreiben „Die Schülerinnen und Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie aufgabenadäquat, konzeptgeleitet, adressaten- und zielorientiert, normgerecht, sprachlich variabel und stilistisch stimmig gestalten.“ c) Lesen „Die Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, selbstständig Strategien und Techniken zu Erschließung von […] Texten unterschiedlicher medialer Form anzuwenden und zu reflektieren.“ […] (KMK 2012) Kohärent ist hier der einzige Terminus, der explizit aus der Textlinguistik übernommen wurde; er taucht auch in Lehrbüchern auf (→-3.1.2). Was „angemessen“ und „adressatengerecht“ ist, wird nicht erläutert und kann auch (anders als „normgerecht“) nicht als Katalog formaler Textmerkmale festgelegt werden. Hierfür sind fachliche Vorstellungen darüber erforderlich, wie der interaktio- 7 Im Prinzip gilt das hier Gesagte auch für die Sekundarstufe I. Zur Abgrenzung der Textkompetenzen in den Sekundarstufen I und II vgl. Feilke/ Köster/ Steinmetz (2012). <?page no="16"?> 16 1 Textlinguistik für die Schule nale Charakter von Texten verschiedene Textsorten hervorbringt (→- 2) 8 und wie eigenes Vorwissen und Annahmen über das Vorwissen eines Adressaten die Informationsstruktur eines Textes prägen (→-3). Es wird sich zeigen, dass ‚schulische Textsorten‘ eine nur schultypische, aus der alltäglichen Lebenswelt nicht bekannte Kommunikationssituation herstellen - der Textproduzent weiß, dass sein Adressat schon alles weiß, worüber der Text informieren soll - und daher gerade die Anforderung der Ziel- und Adressatenorientierung ein Problem ist, dessen Diskussion die Textlinguistik anschieben kann. Wenn schließlich Schülerinnen und Schüler selbst Leseprozesse reflektieren sollen, so ist vorauszusetzen, dass Lehrerinnen und Lehrer dies auch tun. Die Textlinguistik liefert hierfür Modelle. 1.4 Weiterführende Literatur Grundlegende Annahmen der Textlinguistik und ihr Verhältnis zu Nachbardisziplinen werden in Schwarz-Friesel/ Consten (2014: Kap.- 1) erklärt. Zum Verhältnis zwischen Textlinguistik und Deutschdidaktik machen Consten/ Dambeck/ Steinäcker (2017) kritische Anmerkungen und Vorschläge. 8 Traditionell wird die Textlinguistik am ehesten mit der Kategorisierung von Textsorten in Verbindung gebracht, die Textmuster (typische Textsorten-Vertreter) für den Deutschunterricht liefern kann (vgl. Spiegel/ Vogt 2006). <?page no="17"?> 17 2.1 Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen? 2 Textsorten 2.1 Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen? Textsorten im Deutschunterricht, da denkt man in erster Linie an die Unterscheidung zwischen literarischen Texten und nicht-literarischen Texten. Nichtliterarische Texte werden in der Deutschdidaktik als Sachtexte, Gebrauchstexte oder in den Bildungsstandards pragmatische Texte (KMK 2004, 2012) bezeichnet (vgl. Hummelsberger 2013) - wobei letzterer Terminus vermieden werden sollte, denn er steht im Widerspruch zu den linguistischen Begrifflichkeiten, aus denen er entlehnt ist: Die Semantik ist Lehre von der wörtlichen Bedeutung eines Ausdrucks; die Pragmatik ist die Lehre von der situativen, kommunikativen Bedeutung einer Äußerung. Natürlich hat jede sprachliche Äußerung eine semantische und eine pragmatische Dimension, dies ist keine Frage der Textsorte. Bei geschriebenen Texten (seien sie literarisch oder nicht-literarisch), bei denen Produktions- und Rezeptions-Situation weit auseinanderfallen können, ist die Bestimmung der pragmatischen Dimension meist schwieriger als bei Gesprächsäußerungen und am besten unter Zuhilfenahme des Konzeptes ‚Textsinn‘ zu leisten (→- 3.3). Zur Diskussion über Unterschiede im Verstehen von literarischen Texten und Sachtexten siehe 4.1. An dieser Stelle sollte jedoch schon deutlich werden, dass wir literarische Texte und Sachtexte nicht, wie die KMK-Standards dies suggerieren (KMK 2012: 9), als binäre Kategorien, sondern als zwei Pole eines Kontinuums betrachten, wie die folgende Abbildung zeigt. Sachtexte literarische Texte z.B. Vertragstext z.B. Glosse z.B. klassisches Drama Abb. 1: Eigene Darstellung zum graduellen Übergang von Sachtexten zu literarischen Texten <?page no="18"?> 18 2 Textsorten Wird eine Glosse beispielsweise vom Thüringer Lehrplan eindeutig als Sachtext klassifiziert, den es in Klasse 9/ 10 zu lesen gilt (TMBJS 2019: 43), so möchten wir auf die literarischen Merkmale aufmerksam machen, die eine Glosse im Gegensatz zum Vertragstext mit sich bringen kann. (2) Die Kurznachricht an seinen Chef-Dosenöffner, die der kleine Stubentiger nach einem Spaziergang quer über die Tastatur des Laptops hinterlassen hat, ist von sibyllinischer Art: „ppizfscaklllöhdequi9kwlöllk“. Ja, der Kerl kann zwar vierpfotig schreiben, aber eine echte Hilfe ist er wahrlich nicht im Home-Office. Aber nicht nur das kann man ihm zur Last legen, seine seltsame Wortwahl wäre zudem gefährlich für Leib und Leben, wenn sie von einem Superspreader oral verwendet würde. Alleine beim Anlaut „ppiz“ würde jedes Gegenüber derart viele Aerosole abbekommen, dass es sich die Augen wischen müsste. (Michael Morosow (2020): Konsonanten als Virenschleudern. Süddeutsche Zeitung. https: / / www.sueddeutsche.de/ muenchen/ landkreismuenchen/ coronavirus-bayern-konsonanten-glosse-1.5107401) Was genau Merkmale literarischer Texte sind, wird in Kapitel 4 ausführlicher diskutiert. Doch sei bereits hier auf Formen von Indirektheit (z.-B. Metaphern und Symbole) als typisches Merkmal literarischer Texte verwiesen. Mag die hier zitierte Glosse „Konsonanten als Virenschleudern“ auch weniger Interpretationsspielraum als Goethes „Faust“ bieten, so wartet sie doch mit mehr sprachlichen Bildern auf, die zu Indirektheit führen, als ein Auszug aus dem BGB. Es ist klar, dass Katzen ihren Besitzern im Homeoffice keine Kurznachrichten im Stile des Orakels von Delphi hinterlassen. Im Folgenden gehen wir auf die Unterscheidung formaler und inhaltlicher Kriterien zur Definition literarischer Gattungen und nicht-literarischer Textsorten ein. Literarische Texte werden nach den drei literarischen Großgattungen Epik, Lyrik und Dramatik unterschieden. Diese Einteilung geht auf Goethes Begriff der „Naturformen“ zurück, mit denen „grundsätzlich unterscheidbare menschliche Äußerungsformen“ differenziert werden (Spörl 2006: 144). Innerhalb dieser Gattungen wird unterschieden nach Genres wie Roman oder Kurzgeschichte innerhalb der Epik sowie Sonett und Limerick innerhalb der Lyrik usw. Die Einteilung von Texten in literarische Genres richtet sich oft nach einer Mischung aus formalen und inhaltlichen Kriterien, z.B.: <?page no="19"?> 19 2.1 Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen? (3) „Der Limerick ist ein kurzes, scherzhaftes Gedicht in Reimform. Seine entscheidenden Merkmale sind die Fünfzeiligkeit, das Reimschema aabba, die spezielle anapästisch-daktylische Rhythmik und die Pointe am Ende.“ (www.deutsche-limericks.de/ limericks/ aufbau-eines-limericks/ ) Das inhaltliche Merkmal „scherzhaft“ ist hier in eine ansonsten formale Definition gemischt. Das Merkmal „Pointe“ vereint ein formales Merkmal (eine Pointe steht immer am Ende des Textes) und das inhaltliche Merkmal der Überraschung. In der linguistischen Beschreibung von Textsorten hat sich seit den 1970er Jahren die (damalige) „pragmatische Wende“ bemerkbar gemacht, die insbesondere mit der Sprechakttheorie (Austin 1962, Searle 1969) zu einer Abkehr von rein formalen Beschreibungen geführt hat. Ziel linguistischer Textbeschreibung sind nun Form-Funktions-Beziehungen, d.- h. die Frage, welche kommunikativen Funktionen mit welchen sprachlichen Formen realisiert werden können. Bereits Sandig (1972) definierte Textsorten über „textinterne“ formale und „textexterne“ funktionale Merkmale. So ist ein Kochrezept in seiner Funktion ein instruktiver Text: Eine Autorin oder ein Autor teilt Leserinnen und Lesern Wissen in Form einer Handlungsanweisung mit. Anders als bei Appelltexten (Befehl, Aufruf, Werbung) liegt es jedoch allein im Interesse und in der Entscheidung der Leser: innen, dem zu folgen oder nicht. Formal sind in einem Kochrezept ein relativer starrer Textaufbau und ganz bestimmte grammatische Formen zu erwarten: Nach einer Liste mit Zutaten und Mengenangaben finden sich oft Aufforderungssätze im Infinitv wie nun die Zwiebeln anschwitzen. Brinker (1985/ 2018) lehnt sich in der funktionalen Klassifizierung von Texten direkt an Kategorien der Sprechakttheorie an und unterscheidet Informationstexte (z.-B. ein Sachbuch oder ein Zeitungsbericht), Appelltexte, Obligationstexte (mit denen sich Textproduzent: innen zu etwas verpflichten, z.-B. ein Vertrag), Kontakttexte (z.- B. eine Grußkarte) und Deklarationstexte (die einen neuen institutionellen Zustand herbeiführen, z.- B. ein Kündigungsschreiben). Man kann Texte also nach solchen kommunikativen Zwecken klassifizieren, dann spricht man von Textfunktionen. Jede Textfunktion kann durch verschiedene Textsorten realisiert werden. So kann ein Informationstext ebenso ein Reisebericht sein wie ein Kochrezept (vgl. Heinemann 2000). Trotz der klaren Hinwendung zu einem kommunikationsorientierten Textbegriff sind Ansätze in dieser Tradition der Sprechakttheorie mit ihren dichotomischen Merkmalen und dem Ziel einer eindeutigen Abgrenzung jeder Textsorte von <?page no="20"?> 20 2 Textsorten jeder anderen Textsorte einem strukturalistischen Paradigma verhaftet: So, wie die Merkmalssemantik versucht hat, Wortbedeutungen mit binären Merkmalen eindeutig voneinander abzugrenzen, so wollte die Textsortenlinguistik dies mit Textsorten tun. Eine Textsortenlinguistik mit derart festen, ‚gut lernbaren‘ Kriterien und Kategorien ist für exemplarische, prototypische Analysen geeignet. Wie Ehlich (2011: 33) feststellt, können Klassifikationen „Manipulation zwecks Zähmbarkeit der Phänomene“ sein - oder sie können „Ordnungen in den Dingen“ aufspüren. Typische, in einer Textsorte häufig zusammen auftretende textinterne Mittel werden von Heinemann (2000) als Textmuster bezeichnet, so z.-B. Anfang und Ende eines Märchens mit Es war einmal und Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute und Anrede- und Beendigungsformel in einem Brief (Lieber Wolfgang / mit freundlichen Grüßen). Schülerinnen und Schüler können anhand solcher Textmuster lernen, dass bestimmte Formen Marker für bestimmte Textsorten sind (Beispiele Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 39-42), und sich so einem Textsortenbegriff annähern, der über literarische Gattungen und Genres hinausgeht. Entsprechendes Wissen ist auch erforderlich, um intertextuelle (z.-B. parodistische) Anspielungen auf Textsorten zu verstehen: (4) Man nehme 12 Monate, putze sie ganz sauber von Bitterkeit, Geiz, Pedanterie und Angst und zerlege jeden Monat in 30 oder 31 Teile, so dass der Vorrat genau für ein Jahr reicht. Es wird jeder Tag einzeln angerichtet aus 1 Teil Arbeit und 2 Teilen Frohsinn und Humor. Man füge 3 gehäufte Esslöffel Optimismus hinzu, 1 Teelöffel Toleranz, 1 Körnchen Ironie und 1 Prise Takt. Dann wird die Masse sehr reichlich mit Liebe übergossen. Das fertige Gericht schmücke man mit Sträußchen kleiner Aufmerksamkeiten und serviere es täglich mit Heiterkeit und mit einer guten, erquickenden Tasse Tee. (Catharina Elisabeth Goethe (1731-1808), Mutter Johann Wolfgang von Goethes, zit. n. https: / / katharina-wien.at/ weisheiten/ jahresrezept.html) Eine solche prototypische Herangehensweise taugt aber nicht unbedingt dazu, die Fülle alltäglicher Textsorten in realen Lebenswelten mit allen ihren Misch- und Zwischenformen zu beschreiben. So zitieren Schwarz-Friesel/ Consten (2014: 44 f.) nach dem klassischen Kochrezept (als obligatorischem, prototypischem Beispiel) ein Beispiel aus einem Rezeptblog (oder Kochblog), der eine Mischform aus instruktivem Rezept und narrativem Tagebuch-Blog ist: Der Verfasser erzählt, was er gestern Abend gekocht hat und wie er das gemacht hat. <?page no="21"?> 21 2.1 Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen? In der modernen Textlinguistik ist die Beschreibung von Textsorten weniger am Ziel einer Klassifizierung orientiert, sondern beschreibt Textsortenwissen als eine Grundlage für soziale Orientierung. Vergleichen wir folgende Texte - hier bewusst ohne Kontext präsentiert -, um uns klarzumachen, wie wir uns ohne Textsortenkompetenz im Alltag verirren könnten: (5) Sichern Sie sich jetzt ein Exemplar GRATIS als Dankeschön für Ihre schnelle Anforderung des 17-Minuten-„Ich bin stark“-Trainings - antworten Sie noch heute! (www.elternwissen.com/ index.php? id=712) (6) Die kommende Sitzung des Allgemeinen Prüfungsausschusses wird für 28.8.2021 festgelegt. Anträge sind bis spätestens 1.8.2021 zu stellen. Später eingehende Anträge werden in der darauffolgenden Sitzung verhandelt. Bitte beachten Sie die ggf. vorgegebenen Antragsfristen gemäß der geltenden Prüfungsordnung. Bitte beachten Sie, dass ein Antrag oder Widerspruch begründet sein muss und die Gründe durch Nachweise zu belegen sind. Unvollständige Unterlagen gehen zu Lasten des Antragstellers. (Online-Information des Prüfungsamtes der Universität Jena) Beide Texte sind (zumindest unter anderem) Appelltexte: Sie fordern die Adressatinnen und Adressaten auf, innerhalb einer bestimmten Frist (noch heute bzw. bis zum 1.8.2021) einen bestimmten kommunikativen Akt zu vollziehen, damit ihnen keine Nachteile entstehen. Dies ist in beiden Fällen eher implizit: Das in der Werbesprache nun notorische sichern suggeriert, dass man vielleicht keine Gratisbroschüre mehr erhielte, wenn man nicht noch heute antwortet. In (6) drohen eine Nichtberücksichtigung in der angekündigten Sitzung und eventuell Rechtsfolgen durch Fristversäumnis. Pragmatisch und in einigen formalen Merkmalen (Imperativ-Verwendung, direkte Adressierung) sind die Texte sich also ähnlich, wenn man Textsortenkriterien wie die oben diskutierten anwendet. Wir haben sie aber auch in der kontextlosen Präsentation (5) als Werbetext und (6) als behördliche Information erkannt. Wer über diese Textsortenkompetenz nicht verfügt, wird sich auch nicht darüber im Klaren sein, dass der Werbetext ein sehr viel geringeres Maß an Zuverlässigkeit besitzt - die Gratis-Broschüre dürfte es auch dann geben, wenn man erst am nächsten Tag antwortet; dem Prüfungsamt hingegen ist es vermutlich ernst mit der Frist. Der Appell des Werbetextes stellt lediglich ein Angebot dar, das der Verfasser <?page no="22"?> 22 2 Textsorten eigennützig unterbreitet und dem man nicht folgen muss. Ein anderes Beispiel für eine kommunikative Störung auf sozialer Ebene: (7) Sie: „Ich liebe Dich! “ Er: „Ich nehme das zur Kenntnis.“ (Lohfink 1977: 37) Wollte man dieses Beispiel in den oben genannten Kategorien erklären, könnte man am ehesten sagen, dass „Er“ auf einen deklarativen Text so reagiert, als wäre es ein (nur) informativer. Tatsächlich ist dieses Beispiel in der Religionsdidaktik zuhause, um die Textsorte „Bekenntnis“ mit ihren weitreichenden persönlichen Implikationen zu erklären. Woran aber erkennen wir Textsorten, wenn sie, wie in (7), nicht durch klare und typische formale Merkmale gekennzeichnet sind? Zum einen gibt es text-interne Merkmale, die von der wörtlichen Bedeutung der verwendeten Wörter und Sätze (die in allen Kontexten gleich ist) abhängen. Nochmal ein Liebesbekenntnis: (8) Daniel, ich liebe dich. Du siehst mich im Moment nur als Freundin, aber wenn ich Glück habe, schaff ich das. Der Satz Ich liebe dich dürfte aufgrund seiner wörtlichen Bedeutung die Textsorte schon weitgehend bestimmen. Der Text wurde aber nicht in Papierform dem Adressaten übermittelt, sondern war mit Filzstift auf die Blechwand eines Bahnhofs-Wartehäuschens geschrieben (zit. n. Consten 2004: 99) - Ort und Medium legen die Textsorte Liebesbrief oder Bekenntnistext nicht nahe und spielen also für die Textsortenbestimmung hier keine große Rolle. Im Alltag werden wir aber nicht mit kontextlosen Texten konfrontiert wie in diesem Buch oder auch in Lehrwerken für die Schule, wo die Texte ja quasi um ihrer selbst willen bzw. zur Ausbildung verschiedener Kompetenzen besprochen werden. Im ‚richtigen Leben‘ begegnen uns bestimmte Texte an bestimmten Orten und in bestimmten materiellen Formen (so wird ein Behördenbrief nicht in Form eines bunten Flyers in unserem Briefkasten landen wie das Angebot eines Pizza-Lieferdienstes). Dies macht Textsorten-Beschreibungen aber nicht überflüssig, vielmehr sind solche text-externen, situativen Merkmale Teil einer kommunikationsorientierten Textsortenklassifikation (vgl. Gansel/ Jürgens 2007: Kap. 3.2). Für den Rezipienten beschränken solche Merkmale die Anzahl erwartbarer Textsorten in einer Situation: <?page no="23"?> 23 2.1 Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen? (9) Gina braucht Auslauf. 0221/ […] Dies ist der ungekürzte Text eines Aushangs am Schwarzen Brett eines Kölner Supermarktes (notiert im Juni 2013). Wenn man das Wissen hat, dass an diesem Ort in der materiellen Form angehefteter oder angeklebter Zettel Waren oder Jobs von Privat zu Privat angeboten oder gesucht werden, erkennt oder vermutet man hinter diesem Text ein Jobangebot, gegen Bezahlung eine Hündin auszuführen. Sollte ein Betrachter nicht wissen, welche Textsorten ein Schwarzes Brett konventionell zeigt, so wird er dies durch Vergleiche und Analogschlüsse durch benachbarte, expliziter formulierte Zettel herausfinden. Hier kommt Intertextualität ins Spiel: Jeder Text ist die konkrete Realisierung einer Textsorte, und jede Text-Erfahrung lässt uns Vergleiche mit früheren Text-Erfahrungen anstellen. So erkennen wir ein Gedicht als Gedicht, einen Werbeflyer als Werbeflyer oder einen journalistischen Kommentar als Kommentar, weil wir andere Vertreter derselben Textsorte schon einmal gesehen haben (vgl. Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 39). Für den Deutschunterricht ergibt sich daraus: Textsorten und entsprechende Aufgaben sollten durch die Angabe von Kontexten in der Lebenswelt der Schüler: innen verortet werden.Zum Beispiel könnte man statt einer Inhaltsangabe einen Klappentext für ein Buch schreiben lassen, das sich gut an Gleichaltrige verkaufen soll. 9 In Abschnitt 2.3 gehen wir im Zusammenhang mit der Textsorte Nacherzählung hierauf nochmal ein. Textsortenkenntnis durch lebensweltliche Erfahrung entspricht einem weiten Begriff von Intertextualität. Diesen Terminus haben de Beaugrande und Dressler (1981) neben sechs anderen „Textualitätskriterien“ geprägt; sie definieren Intertextualität als „die Faktoren, welche die Verwendung eines Textes von der Kenntnis eines oder mehrerer vorher aufgenommener Texte abhängig macht“ (de Beaugrande/ Dressler 1981: 12 f.). In enger Fassung beschreibt der Terminus Beziehungen zwischen ganz bestimmten Texten - explizite Beziehungen durch Zitate oder auch implizite in Parodien, für deren spaßige Wirkung man den Originaltext kennen muss: (10) Einigkeit und Recht und Freibier (Werbung DIE PARTEI, 2015) 9 Eine solche Form der Inhaltsangabe dürfte dann jedoch nicht, wie bei typischen schulischen Inhaltsangaben am Beginn eines Interpretationsaufsatzes üblich, mit dem Anspruch auf möglichst sachliche Darstellung und Beantwortung aller W-Fragen verbunden sein. Schließlich will ein potenzieller Buchkäufer weder gelangweilt noch gespoilert werden. <?page no="24"?> 24 2 Textsorten In der weiten Definition bedeutet Intertextualität, dass Texte dadurch miteinander in Beziehung stehen, dass sie derselben Textsorte angehören und Sprachbenutzer: innen entsprechende Gemeinsamkeiten erkennen. Die schulische Vermittlung von Textsorten macht sich solche intertextuellen Gemeinsamkeiten zwischen Texten einer Textsorte zunutze, indem aus prototypischen Texten Merkmale extrahiert und als Textsortenmerkmal generalisiert werden. Lieblingsbeispiele der Textlinguistik sind etwa Kochrezepte und Wetterberichte, da sie mit klaren Form-Merkmalen einhergehen und sich viele idealtypische Beispiele finden. 10 In Unterrichtswerken liegt oft ein Schwerpunkt auf journalistischen Textsorten: P.A.U.L. D. 8 (Diekhans/ Apel 2007) unterscheidet die Textsorten „Nachricht/ Bericht“, „Kommentar“ und „Reportage“; Doppel-Klick 8 (Krull/ Altschuh-Riederer 2011) „Zeitungsartikel“, „Reportage“, „Interview“ und „Kommentar“; Kombi Deutsch 8 (Müller/ Gaiser 2007) hat „Nachricht“, „Kommentar“ und „Reportage“, 10 Exkurs: Prototypische Vorstellungen von Gattungen und Genres gewinnen als Ziel des Deutschunterrichts Statt deklaratives Wissen zu einzelnen Textsorten vermitteln zu wollen, plädiert die Literaturdidaktik spätestens seit Spinners wegweisendem Artikel zum Literarischen Lernen (2006) stark für die Vermittlung prototypischer Vorstellungen von Gattungen und Genres. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Kritik am Auswendiglernen von Gattungsmerkmalen. Dies befördere den Irrglauben, jeder Texte müsse einem bestimmten Schema entsprechen, also alle Merkmale einer Textsorte in sich vereinen. Spinner plädiert stattdessen in Anlehnung an die Prototypentheorie dafür, typische Textsortenmerkmale an Beispielen zu vermitteln. Schüler: innen sollen nicht mehr primär befähigt werden, die Merkmale einer Kurzgeschichte oder Novelle aufzählen oder benennen zu können, sondern ein Verständnis für literarische Vielfalt und die Spezifik des einzelnen Textes entwickeln. Zentrales Mittel zur Entwicklung eines solchen Verständnisses ist der Vergleich. So können sich Schüler: innen beim Kennenlernen neuer Texte stets fragen, inwiefern ein Text dem entsprechenden Beispiel in ihrem Kopf ähnele (Spinner 2006: 13). 10 Inwiefern dieses Beispiel im Kopf der Lernenden tatsächlich als Prototyp bezeichnet werden kann (und nicht 10 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Spinners Theorie, inklusive Differenzierung zwischen Merkmalslisten, Prototypen und Exemplaren sowie Ausführungen zur Didaktisierung von Gattungs- und Genrewissen findet sich bei Köster (2015). 10 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Spinners Theorie, inklusive Differenzierung zwischen Merkmalslisten, Prototypen und Exemplaren sowie Ausführungen zur Didaktisierung von Gattungs- und Genrewissen findet sich bei Köster (2015). <?page no="25"?> 25 2.2 Schreiben, wie man spricht? Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Zusammenfassend: Textensorten können als Abstraktion über Texte verstanden werden, die prototypische Merkmale gemeinsam haben. Im Deutschunterricht kann man hier auf Kategorisierungen zurückgreifen, die die Linguistik seit den 1970er Jahren leistet. Die Vielfalt von Texten und die gegenseitige Durchdringung von Textsorten in der lebensweltlichen Realität - auch von Kindern und Jugendlichen - kann dagegen nur mit Ansätzen beschrieben werden, die kommunikative Funktionen und nicht Klassifizierungsbemühungen in den Vordergrund stellen: „Aus kognitiv-pragmatischer Sicht bilden nicht Texte als solche den Gegenstand der Untersuchung, sondern es interessiert, was Produzenten und Nutzer mit Texten tun“ (Deppermann 2002: 257). 2.2 Schreiben, wie man spricht? Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die bisherigen Beispiele zur Textsortenklassifikation kreisten vor allem um geschriebene Texte. In der Textlinguistik gibt es verschiedene begriffliche Auffassungen darüber, ob gesprochene Sprache überhaupt Texte bilden kann (vgl. Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 17 f.) - aber das sind akademische Definitionsfragen, die für den Deutschunterricht wenig relevant sind. Wie ist das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache im Deutschunterricht? Die KMK-Bildungsstandards Deutsch/ Gymnasium bieten unter der Überschrift „Sprechen und Zuhören“ weniger als eine Seite Text, explizit unter „Schreiben“ und „Lesen“ zwei Seiten, und unter dem folgenden, weitere zwei Seiten umfassenden Abschnitt „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ ist zumindest implizit von geschriebenen Texten die Rede. Eine als Exempel), hängt vom Abstraktionsgrad ab. Prototypen sind von realen Texten abstrahierte Vertreter einer Textsorte. Die Textsortenlinguistik bezeichnet sie als Textmuster (Heinemann 1990). Ob Exempel, Prototypen oder Textmuster - ein Deutschunterricht, der dieser Trendwende in der Gattungsdidaktik folgt, muss induktiv von konkreten Texten ausgehen, er kann Merkkästen ableiten, darf sie aber nicht an den Anfang einer Textbesprechung stellen oder Merkmale zu stark generalisieren. Ein solches Vorgehen ist aus unserer Sicht notwendig, wenn Textsortenmerkmale einen Beitrag zum Textverstehen leisten sollen. Wer auf literarische Allgemeinbildung setzt, verfolgt freilich mit der Vermittlung von Gattungs- und Genrewissen andere Ziele, die hier nicht in Abrede gestellt werden sollen. <?page no="26"?> 26 2 Textsorten quantitative Analyse von Lehrplänen und fachdidaktischer Forschungsliteratur würde den Eindruck stützen, dass der Erwerb schriftsprachlicher Kompetenz ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Ziel des Deutschunterrichtes ist. Abraham (2016: 7-9) stellt fest, dass trotz wachsender Aufmerksamkeit für mündliche Kompetenzen hierfür ein „Nachholbedarf “ gegenüber der Lese- und Schreibkompetenzforschung bestehe. Bislang existieren in der Fachdidaktik nur wenige Kompetenzmodelle, die sich originär auf Sprechen und Zuhören beziehen. Ein Kompetenzmodell zum Zuhören von Imhof (2010) orientiert sich sehr stark an den Prozessen des Textverstehens beim Lesen. Nicht immer ist klar, welche Kompetenzen mit schriftsprachlichen Kompetenzen genau gemeint sind. Schließlich geht es in den Sekundarstufen nicht mehr (nur) darum, Buchstaben richtig auf Papier zu schreiben. Wichtiger sind gewisse Erwartungen an den sprachlichen Stil, an Klarheit und Explizitheit in der Benennung und Informationsstrukturierung, die mit der Vorstellung von ‚Schriftsprache‘ einhergehen. Es lohnt sich daher, genauer zu untersuchen, was unter ‚Schriftsprachlichkeit‘ eigentlich zu verstehen ist. Schriftsprachlichkeit erwarten wir auch, wenn ein geschriebener, ausformulierter Text vorgetragen wird (etwa bei Theaterinszenierungen oder ‚Hörtexten‘, wie sie im erwähnten Abschnitt „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ der Bildungsstandards erwähnt werden). Wir erwarten Schriftsprachlichkeit dagegen nicht, wenn ein schriftliches Protokoll eines Gesprächs angefertigt wird. Für die Definition von Schriftsprachlichkeit kommt es hier also nicht auf das Medium an. Die Termini ‚schriftlich‘ und ‚mündlich‘ sind somit (mindestens) auf zweierlei Weise zu fassen: Erstens medial, hier ist die Definition recht einfach: Das Medium der Schriftsprache sind grafische Oberflächen (ob Papier, steinerne Höhlenwände oder ein Bildschirm) - medial schriftlich ist, was man schreibt oder liest. Das Medium der mündlichen Sprache ist die Luft, durch die Sprachlaute in Form von Schallwellen transportiert werden - medial mündlich ist, was man spricht oder hört (oder, für Gebärdensprachen: Was man sieht, vgl. den LinguS-Band Becker/ Jaeger 2019). So einfach kann man das erstmal halten - für eine medienlinguistische Diskussion siehe Marx/ Weidacher (2014: Kap. 2.2). Dagegen steht das Begriffspaar ‚konzeptionelle Mündlichkeit- / konzeptionelle Schriftlichkeit“, entwickelt von Koch/ Oesterreicher (1985). Diese Unterscheidung ist im Wesentlichen durch textlinguistische Beschreibungen fassbar; einige davon wollen wir anhand von Beispielen erarbeiten. Vergleichen wir einen Chat aus dem Jahr 2018 (eine Textsorte, von der Koch/ Oester- <?page no="27"?> 27 2.2 Schreiben, wie man spricht? Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit reicher noch nichts wissen konnten, dennoch ist ihr Ansatz wie gemacht für solche Analysen) mit dem (berühmten) Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. (11) Chat NOV 1 - 3: 43PM 4) Torgosch: aber die „7 deadly sins“ kann ich wirklich empfehlen, die sind (meines erachtens nach) richtig gut 5) The_Rabbit: Castlevania und Netflix? Wth? 6) Morv: der beschreibungstext war mir zu lahm ^^ […] 13) Morv: ne bestimme zeit hats nur einer, danach für alle ; ) NOV 1 - 3: 47PM 14) Torgosch: stimmt, aber dann hat man das meist eh schon bei amazon-prime gesehen (auch wenn man 5 euronen leihgebühr bezahlt hat) NOV 1 - 3: 48PM 15) Morv: ka, schau nix bei prime, obwohl ich kunde bin…meine fernsehbedienung hatte nen netflix knopf 16) Morv: deshalb hab ich netflix gebucht, das reicht xD Chat innerhalb des Spieleportals kongregate.com., 2018. Nummerierung der Turns dort nicht. Lässt man Chat-Texte wie diesen in textlinguistischen Seminaren ohne spezielle Aufgabenstellung analysieren, so zeigt sich meist: Konzeptionelle Mündlichkeit wird zuerst nur als Abweichung von Rechtschreib- und Grammatiknormen wahrgenommen und beschrieben - Internet-Kommunikation ist aber kein Phänomen des „Sprachverfalls“: Die meisten Norm-Abweichungen in (11) sind keine Flüchtigkeitsfehler und bedeuten keine Ignoranz von Regeln, denn sie werden systematisch und durchgängig angewandt: verbreiteter Verzicht auf Substantiv-Großschreibung und die orthografische Nachahmung flüchtiger Artikulation, etwa in Zeile 15 nix und nen. Dass auch sprachliche Kreativität zu den Merkmalen dieser Textsorte gehört, zeigt eine textsorten-unspezifische, spielerisch verlängerte Pluralform Euronen statt Euro oder Euros in 14, vor allem aber textsortenspezifische Zeichen, die nur in einer medial schriftlichen Textsorte auftreten werden, nämlich Abkürzungen wie ka „keine Ahnung“ in 15 und (hier äußerst selten) Emoticons (xD in 16) und das Zeichen ^^ in 6 als minimalistische Variante eines Smileys. Dies sind Formalia auf Graphem- und Lexem-Ebene, die für Textlinguisten eigentlich gar nicht so interessant sind. Das Gleiche gilt für den auf Kürze abzielenden Satzbau. <?page no="28"?> 28 2 Textsorten Kommen wir zu Goethe und Schiller, denen kein schneller Internetchat zur Verfügung stand. (12) Briefwechsel Goethe-Schiller 932. An Schiller Weimar, am 17. September 1803 Schreiben Sie mir doch, wie Sie sich befinden und ob Sie heute Abend ins Schauspiel gehen können, ich sehe Sie heute auf alle Fälle. Indessen bitte ich um Ihren Rath. Indem ich daran denke Humboldten etwas Freundliches zu erzeigen, so fällt mir ein ihm die natürliche Tochter stückweise zu schicken; zugleich aber auch das Bedenken, daß der Verlust eines Kindes der Gegenstand ist. […] Ich wünsche zu hören, daß Sie wieder wohl sind. G933. An Goethe [Weimar, den 17. September 1803] Ich denke diesen Abend ins Schauspiel zu kommen, auf dem kurzen Weg kann ich mich schon verwahren. Übrigens plagt mich noch der Katarrh und ich muß abwarten, wenn er nicht hartnäckig werden soll. Fernow sagte mir, daß ihm Cotta bei seiner Durchreise gesagt, er wolle die natürliche Tochter, wie sie fertig sey, an Humboldt schicken. Sie können es also, dächt’ ich, diesem überlassen, und es ihm etwa noch selbst auftragen. […] Wollten Sie wohl die Güte haben und sich, da heute Botentag ist, den Katalog der Schweizergeschichte und etwa der deutschen Reichsgeschichte von Vulpius kommen lassen. Ich freue mich Sie heute zu sehen. Wenn Sie in die Komödie fahren oder aus derselben, so nehmen Sie mich wohl mit. Sch. (https: / / www.briefwechsel-schiller-goethe.de/ ) Für einen Vergleich der Chat-Beiträge mit der Textsorte Brief wird man anführen, dass Briefe typischerweise Anrede- und Schlussformeln wie Lieber-…, Sehr geehrter-…, mit freundlichen Grüßen-… enthalten, die zu verwenden in einem Chat natürlich ebenso textsortenwidrig wäre wie in einem medial mündlichen Gespräch. Wir finden nur die abgekürzten Unterschriften Sch. bzw. G. Hier macht sich - ähnlich wie beim Internet-Chat - ein Einfluss der Kommunikationsgeschwindigkeit, die das Medium zulässt, auf Textsortenmerkmale be- <?page no="29"?> 29 2.2 Schreiben, wie man spricht? Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit merkbar. Die Briefe wurden mehrmals täglich durch Dienstboten transportiert, somit ist es möglich, per medial schriftlicher Mitteilung Verabredungen für den Abend desselben Tages zu treffen - was heute mittels deutscher Post AG absurd wäre. Sind diese Briefe also eigentlich doch Dialogbeiträge? Was macht die Textsorte Brief aus? In der literaturwissenschaftlichen Forschung würde man diese Nachrichten Goethes und Schillers gar nicht unbedingt als Briefe bezeichnen, sondern als Billets (vgl. Schöne 2015). Die Textlinguistik beschäftigt sich vor allem mit wort- und satzübergreifenden Phänomenen, und auch hier sind Kohärenz und Informationsstruktur für die Textlinguistik die interessanteren Phänomene, wenn man eine Textsorte anhand ihrer konzeptuellen Mündlichkeit oder Schriftlichkeit beschreiben will: Chat und Briefwechsel sind darin gleich, dass ein vorgeschlagenes Thema (ein Diskursgegenstand) von einem oder mehreren anderen Aktanten aufgenommen und weiterentwickelt wird. Dies macht auf inhaltlicher Ebene die Dialogizität der Textsorte aus (während ein zeitlich abwechselndes Sprechen ohne gemeinsamen Gegenstand eher nur ein scheinbarer Dialog wäre). Dennoch würde man den Briefwechsel allenfalls im weiten Sinne und nicht prototypisch als Dialog bezeichnen (zur Diskussion vgl. Diewald 1991, Abschnitt 3.6.1). Rein quantitativ fällt auf, dass die Briefe Goethes und Schillers jeweils sehr viel länger sind als die einzelnen Beiträge (Posts) im Chat, die ja nur selten mehr als eine Zeile ausmachen. Dies liegt nicht nur an einer ausführlicheren Besprechung eines Themas, sondern Goethes Brief an Schiller behandelt nacheinander drei Themen (die mögliche Abend-Verabredung am Schauspielhaus, Geschenk für Humboldt, Frage nach Schillers Gesundheit). Schillers Antwort behandelt die drei Themen in anderer Reihenfolge, die damit - wie der weitere Briefwechsel zeigt - als abgeschlossen gelten, und fügt ein viertes (Buchbestellung) hinzu. Im Chat finden wir dagegen je Post nur eine Stellungnahme oder einen Gedanken, und das Thema entwickelt sich entsprechend langsam. Das initiale Thema ist eine Videospielserie bei Netflix, andere Themen (andere Netflix- Serien) werden daraus abgeleitet, ohne sich als neues Thema eines längeren Dialogs halten zu können. Auch mit mehr zitiertem Text wäre es schwer zu sagen, wo eigentlich ein Thema anfängt und wo es aufhört. Dies kann ein Effekt des technischen Mediums sein, das eine Übermittlung der Beiträge ohne Zeitverzug - wie bei Face-to-face-Kommunikation - erlaubt. Die Zeitstempel zeigen, dass der Ausschnitt acht Minuten umfasst. Etwas langsamer als Face-to-face-Kommunikation ist dieser Chat also schon. Wenn Schiller seine alte Haushälterin mit einem Brief losgeschickt hätte, der nur auf <?page no="30"?> 30 2 Textsorten einen von Goethes drei Diskursgegenständen eingeht, um vielleicht eine Stunde später zum zweiten Gegenstand Stellung zu nehmen und dazu einen weiteren Brief auf den Weg zu bringen usw., wäre das eine absurde Verschwendung technischer (oder menschlicher) Kräfte. Je aufwendiger oder langsamer die Übermittlung, desto größer ist der Planungsaufwand und desto komplexer die Informationsstruktur. Die mündlich wirkende Kürze der einzelnen Informationseinheiten und die ziellos oder spontan wirkende Themenführung des Chats sind also kein Signal des Sprachverfalls, sondern eine Konsequenz des geringen Übermittlungsaufwands. Konzeptionelle Mündlichkeit/ Schriftlichkeit ist also nicht unabhängig vom Medium; sie richtet sich nach dessen technischen Möglichkeiten. So erlaubte das Telefon als Mittel der auditiven Fernübertragung erstmals Dialoghaftigkeit ohne physische Kopräsenz; das Mobiltelefon fügte dem typischen Ablauf eines Telefongesprächs eine Anfangssequenz hinzu, in der die Gesprächspartner erst einmal sagen, wo sie sind. Konzeptionelle Mündlichkeit/ Schriftlichkeit ist multifaktoriell und nur graduell bestimmbar, so wie auch reale Textsorten selten in prototypischer Gestalt auftreten. Die Kriterien, die bei der Bestimmung von konzeptioneller Mündlichkeit/ Schriftlichkeit eine Rolle spielen, sind auch linguistische Kriterien für die Beschreibung von Textsorten, nämlich Dialog oder Monolog, (zeitliche, räumliche oder auch soziale) Nähe oder Ferne zwischen Aktanten und inwieweit ein Text ausformuliert ist. Stilistische Angemessenheit, die zu vermitteln ein wichtiges Ziel des Deutschunterrichtes ist, kann in Textsorten-Kategorien mit Bezug auf konzeptionelle Schriftlichkeit/ Mündlichkeit beschrieben werden. Hinter der oben zitierten Klage, schriftliche Medien mit konzeptioneller Mündlichkeit führten zum „Sprachverfall“, steckt die Befürchtung, die Fähigkeit zur konzeptionell schriftlichen Textproduktion gehe verloren; Jugendliche seien mit verschiedenen Sprachvarietäten überfordert. Ähnlich hat die Deutschdidaktik erst spät verstanden, dass Dialektgebrauch im Elternhaus einem Kind nicht schadet, solange es Dialekt und Standardsprache als unterschiedliche Varietäten erlernt und situationsangemessen einsetzen kann (vgl. Berthele 2010). Tatsächlich erlauben Medien mit zeitlicher Nähe wie eine E-Mail verschiedenste Varietäten und verschiedenste Textsorten - vom Anschreiben als Teil einer elektronisch übermittelten Bewerbung, wo ein gehobener, ausformulierender Stil und Distanz angemessen ist und wo die mediale Möglichkeit zeitlicher Nähe nicht genutzt wird (der Adressat wird nicht in den nächsten Minuten antworten), bis <?page no="31"?> 31 2.2 Schreiben, wie man spricht? Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin zum E-Mail-Text bin gleich da, der zur Kollegin ins Nachbarbüro geschickt wird, mit der man zum Mittagessen verabredet ist. Schlussfolgerung: Ziel des Deutschunterrichtes sollte nicht sein, bei jedweder Textproduktion in einem schriftlichen Medium konzeptionelle Schriftlichkeit zu verlangen, sondern zu vermitteln, was verschiedene Textsorten ausmacht und welche lexikalischen, grammatischen und textstrukturierenden Mittel welchem Kommunikationsanlass sozial angemessen sind. Auch wenn im Deutschunterricht auf die begriffliche Unterscheidung zwischen konzeptioneller und medialer Mündlichkeit wie Schriftlichkeit verzichtet wird, kann über Aufgaben für Sprache der Nähe und Distanz sensibilisiert werden. Entsprechende Aufgaben sollten den Blick auf die Verknüpfung von Kommunikationsanlass, Adressat und sprachliche Besonderheiten berücksichtigen. Anlass zur Sprachreflexion könnte der Vergleich einer E-Mail an die Lehrkraft oder einen Mitschüler mit einer Frage zur Hausaufgabe oder eine Nachricht innerhalb eines Messenger-Dienstes an eine Klassenkameradin zur gleichen Hausaufgabe sein. Eine solche Aufgabe könnte folgendermaßen aussehen: Aufgabe 2 (Übung für den Unterricht) Stell dir vor, du hast die letzte Stunde im Biologieunterricht verpasst. Überlege dir einen Grund für dein Fehlen. Vielleicht hast du verschlafen, warst krank oder bei der Klassensprecherkonferenz? Der nächste Test steht bald an und du musst dich vorbereiten. Wähle eine der folgenden Teilaufgaben zur schriftlichen Bearbeitung: a) Schreibe deiner Lehrerin eine E-Mail, in der du sie bittest, dir mitzuteilen, was du verpasst hast und was du nachholen sollst. b) Schreibe einem Klassenkameraden eine E-Mail, in der du ihn fragst, was du verpasst hast und was du nachholen musst. c) Schreibe eine Messenger-Nachricht (z. B. WhatsApp, Signal) an eine Klassenkameradin und frage sie, was du verpasst hast und was du nachholen musst. Wichtig für die Auswertung einer solchen Aufgabe ist der Austausch darüber, inwiefern die entstandenen Texte voneinander abweichen und woran das liegen könnte. So sollte die größere Nähe der Messenger-Nachrichten zur gesproche- <?page no="32"?> 32 2 Textsorten nen Umgangssprache deutlich werden. Die Schüler: innen sollen diese Nähe auch tatsächlich zulassen und deutlich zwischen privater Kommunikation untereinander und der Kommunikation mit der Lehrkraft unterscheiden. Emoticons und Abweichungen von der Norm-Orthografie sind im Messenger-Bereich zulässig. Die E-Mail an den Klassenkameraden nimmt eine interessante Zwischenstellung ein. Interessant ist in der Diskussion entsprechend auch, wer überhaupt eine E-Mail an den Klassenkameraden schreiben würde oder wer dies aus welchen Gründen unpassend empfindet. Es ließe sich entsprechend weiterfragen, ob eine Messenger-Nachricht auch an die Lehrkraft denkbar wäre. 2.3 Textsorten nur für die Schule Sehen wir uns einige Definitionskriterien am Beispiel Nacherzählung an und vergleichen diese ‚rein schulische‘ Textsorte mit natürlichen Textsorten, wie sie in 2.1 als Teil sozialen Alltagswissens beschrieben wurden. (13) ▶ Die Nacherzählung ist im Präteritum, also der Vergangenheit, verfasst und bleibt dieser Zeitform im gesamten Text treu. Auf gar keinen Fall wird zwischen den Zeitformen gesprungen! ▶ Nicht nur die Zeit, sondern auch die Personalform ist immer gleichbleibend. Wenn eine Erzählung aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, verwenden wir diese auch in der Nacherzählung. Wenn die Geschichte die einzelnen Charaktere von außen zeigt - wie etwa bei einem personalen oder auktorialen Erzähler - geschieht dies auch im Aufsatz. […] ▶ Idealerweise herrscht in einer Nacherzählung ein ähnlicher Stil vor, wie auch im Original. Ist der Text eher modern, nutzen wir einen ähnlichen Stil, wirkt er altmodisch, wird dieser Umstand berücksichtigt und findet im Aufsatz Verwendung. (https: / / wortwuchs.net/ nacherzaehlung/ ) <?page no="33"?> 33 2.3 Textsorten nur für die Schule (14) Regeln der Nacherzählung: 1. Rekonstruiere den Inhalt möglichst genau. 2. Achte auf die Reihenfolge der Erzählschritte. 3. Verwende als Erzähltempus das Präteritum. 4. Schreibe mit eigenen Worten. 5. Achte auf eine abwechslungsreiche Sprache. 6. Erzähle lebendig, z.-B. durch die Verwendung von wörtlicher Rede, Gefühlen und Gedanken. (Blattert/ Krebsbach 2006. Lösungsheft: 19) Auch diese Textsortendefinition umfasst formale und inhaltliche Merkmale. Diese werden nicht deskriptiv, sondern normativ angegeben: Die Beschreibung folgt nicht dem Textprodukt, wie es in der Linguistik als empirischer Wissenschaft der Fall ist, sondern das Textprodukt soll der Beschreibung entsprechen. Dies ergibt sich natürlich aus der Tatsache, dass Unterricht generell nicht frei von Zielnormen sein kann; Schule vermittelt diese und bewertet, inwieweit sie befolgt werden. Meist betreffen diese Normen Erkenntnisse aus Fachwissenschaften oder andere Fakten, die auch außerschulisch Bestand haben - so sind weder die Deklination von Substantiven noch die Multiplikation von Zahlen noch der Verlauf der französischen Revolution schulische Konstrukte, oder zumindest ist ihre fachdidaktische Konstruktion nicht völlig unabhängig von einer außerschulischen, fachwissenschaftlich angenommenen Wirklichkeit. Außerschulische Anlässe, (literarische) Texte zusammenzufassen, kann man sich leicht vorstellen: Jemand erzählt (mündlich oder etwa in einem Brief ) unter Freunden von einem Roman, weil dieser ihn begeistert hat. Dass er dies nüchtern-neutral tut, wie die schulische Inhaltsangabe es fordert, ist nicht wahrscheinlich. In natürlichen Kontexten werden Darstellungen literarischer Texte häufig eingeleitet von eigenen lesebiografische Bemerkungen, z.B. <?page no="34"?> 34 2 Textsorten (15) Trotz der hervorragenden Kritiken konnte ich mich lange Zeit nicht dazu durchringen, „Der Schatten des Windes“ zu lesen. Laut Klappentextbeschreibung findet ein Junge auf dem geheimen „Friedhof der Vergessenen Bücher“ einen Roman, der Einfluss auf sein Leben nehmen wird. Aufgrund dieser Beschreibung habe ich Carlos Ruiz Zafóns Bestseller in die Kategorie „Fantasy/ Mystery“, die eher nicht meinem Lesegeschmack entspricht, eingeordnet - zu Unrecht, wie ich schließlich, nachdem ich den Roman doch noch gelesen habe, feststellen musste. (Amazon-Kundenbewertung, nicht mehr aktiv) Oft sind solche Darstellungen (wie auch obiges Beispiel) Rezensionen, d.- h. ihr Hauptzweck ist eine Bewertung des Textes. Wenn ein Buch als lesenswert empfohlen wird, wird eine Darstellung des Inhalts natürlich nicht zu Ende geführt, um Spoiler zu vermeiden. Ganz absurd wäre der Gedanke, dass jemand in einer solchen Textsorte in die Ich-Form des Romans schlüpft wie für die Nacherzählung gefordert. Würde man die schulische Textproduktion von Nacherzählung oder Inhaltsangabe durch eine natürliche Situierung zu motivieren versuchen, würde das vermutlich die normativ definierte Textsorte verwässern - warum sollte jemand den Inhalt eines Textes wiedergeben (Inhaltsangabe) oder gar seinen Stil nachahmen (Nacherzählung), ohne damit etwas Persönliches (wie ein Werturteil und eine Leseempfehlung an den Adressaten) zu verbinden? Im Falle der Nacherzählung kommt hinzu, dass die Normen kaum umsetzbar sind. Hierzu ein Beispiel: (16) Raphael Herzog: Einsicht Ich ging eine Strasse entlang. Sie war so lang, dass man das Ende derer nicht sehen konnte. Auf der Strasse herrschte reger Verkehr. Alle Menschen liefen schnell in die gleiche Richtung. Jeder hatte eine Aufgabe oder einen Gedanken, den er sofort erledigt haben wollte. Und ich war in diesem menschlichen Strom eingeschlossen. Auch ich hatte eine Sache, die ich sofort erledigt haben wollte. - Ich ging in Eile diese Strasse entlang. Diese Sache musste sofort zu Ende gebracht werden. <?page no="35"?> 35 2.3 Textsorten nur für die Schule Und während ich in Gedanken so dahin lief, sah ich plötzlich einen alten Mann auf einer Bank sitzen. Sein Gesicht war zerfurcht von so vielen Jahren. Er lächelte mich an und sagte: „Komm setz dich auf die Bank und hör mir zu“. Ich wollte schon sagen; ‚keine Zeit‘, doch ich setzte mich. Da fing er mir zu erzählen an. Er sprach von Liebe, Barmherzigkeit und Freundlichkeit. Auch von Güte, Geduld und Zärtlichkeit. Und während er so redete, fiel es mir doch auf, wie ruhig es auf der Strasse war. Kein Mensch war auf der Strasse, nur der alte Mann und ich sassen auf dieser Bank. Und er redete und redete. Da merkte ich plötzlich, dass der alte Mann von mir sprach. Wie ein Film lief mein Leben an mir vorüber, und ich erkannte, wieviel dass ich durch meine Ungeduld ruiniert hatte. - Tut mir leid. Mir kamen die Tränen. Ich stützte meinen Kopf in meine Hände und weinte. Als ich nach einiger Zeit die Hände vom tränennassen Gesicht nahm, war der alte Mann weg. Die Bank war leer. Die Menschen jagten immer noch die Strasse entlang. Ich stand auf, um meinen Weg auf der Strasse des Lebens weiterzugehen. Aber ich gehe jetzt mit ruhigem Schritt. Denn ich habe ja Zeit, unendlich viel Zeit. Und die Stimme des alten Mannes klingt in meinem Herzen noch nach wie er zu mir sagte: „Mein Junge, wer liebt kann warten, und lieben heisst Geduld haben“. (https: / / raphael-herzog.jimdofree.com/ %C3%BCber-mich-aboutme/ , © 2022 Raphael Herzog) Man muss sich doch fragen, wie die grundlegende inhaltliche Struktur dieser Geschichte in einer Nacherzählung erfasst werden soll, ohne den Übergang von einem vergangenen Ereignis zu einem noch andauernden Zustand („Aber ich gehe jetzt-…“) mit entsprechenden Tempusfolgen auszudrücken. Merkwürdig ist auch, dass Tempus als grammatisch-semantisches Merkmal durch die Textsorte Nacherzählung festgelegt sein soll, während andere formale Merkmale wie die Personalform aus dem Primärtext übernommen werden sollen. Schulische Textsorten als Bündel formaler Normen stehen also nicht nur im Widerspruch zu einem linguistischen Textsortenbegriff, die in Lehrwerken vorgefundenen Normen sind oftmals auch gar nicht umsetzbar. Ein anderes Problem ergibt sich durch die Forderung, einen ‚modernen‘ bzw ‚altmodischen‘ Stil nachzuahmen - man mag intuitiv erfassen, was damit gemeint ist; konkrete Hinweise, wie man ‚altmodisch‘ oder ‚modern‘ schreibt, finden sich aber nicht. Und leitet eine solche Norm nicht geradezu dazu an, <?page no="36"?> 36 2 Textsorten Textstücke oder einzelne Ausdrücke unreflektiert aus dem Primärtext zu übernehmen, was dann aber in Nacherzählungen und Inhaltsangaben als Fehler gilt? Wir schlagen vor, formale und inhaltliche Textmerkmale deutlicher voneinander zu trennen. Vage stilistische Merkmale wie ‚sachlich‘ sollten vielleicht gar nicht explizit genannt werden, zumindest nicht als Norm; sie sollten anhand von Beispieltexten induktiv vermittelt werden. Dies käme einem natürlichen Erwerb von Textsortenkompetenz durch kommunikative Alltagserfahrung näher. Schlussfolgerung: Als Konsequenz aus diesem Kapitel ergibt sich, dass das Wissen über Texte - sowohl produktives als auch rezeptives - durch eine induktive, von echten Texten ausgehenden Vermittlung einer kommunikativ orientierten Textsortenlehre sinnvoll geordnet und vertieft werden kann. Artifizielle, rein schulische Textsorten oder eine allzu lebensfremde Klassifikation von Textsorten etwa nur nach literaturwissenschaftlichen Aspekten schaffen dagegen Motivationsprobleme, denn Schülerinnen und Schüler finden dazu passende kommunikative Anlässe und entsprechende Textsorten in ihrer außerschulischen Lebenswelt nicht wieder. 2.4 Weiterführende Literatur Zu Textsorten siehe Schwarz-Friesel/ Consten (2014), Kap. 3.1, zu konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit dort das Kap. 3.2. Mit linguistischer Pragmatik, darunter auch der Sprechakttheorie, beschäftigt sich der LinguS-Band 11, Börjesson/ Laser (i. Vorb.). <?page no="37"?> 37 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung 3.1.1 Der Rote Faden: Kohärenz, Referenz und Informationsstruktur In den KMK-Bildungsstandards Deutsch/ Gymnasium heißt es bezüglich produktiver Kompetenz: „Die Schülerinnen und Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie aufgabenadäquat, konzept-geleitet, adressaten- und zielorientiert, […] gestalten“ (KMK 2012: 16); bezüglich rezeptiver Kompetenz sollen Schülerinnen und Schüler „den komplexen Zusammenhang zwischen Teilaspekten und dem Textganzen erschließen“ (KMK 2012: 31). Dies sind Merkmale, für die sich auch die Textlinguistik unter den Themenbereichen Kohärenz und Informationsstruktur interessiert. Wenn die Textlinguistik natürlich auch keine Bildungsziele und Normen erhebt, so sieht sie doch Kohärenz als wesentliches Merkmal von Texten und als einen ihrer zentralen Untersuchungsbereiche. Sie untersucht das Zustandekommen von Kohärenz als Texteigenschaft und als mentaler Prozess. Es existiert eine offiziell von der KMK verlinkte Seite https: / / grammis.ids-mannheim.de/ vggf („Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke“), aber nichts Vergleichbares zu Termini der Textlinguistik oder der linguistischen Pragmatik, und so bleibt auch die zentrale Forderung nach kohärenten Texten ohne Definition und Erklärung. Um diese will sich das vorliegende Kapitel bemühen, denn eine bloße Aufforderung „Schreibt kohärent! “ oder metaphorisch „Achte auf den Roten Faden! “ wird nicht zu einer gesteigerten Schreibkompetenz beitragen. 11 Kohärenz lässt sich definieren als sinnvoller Zusammenhang zwischen den Teilen eines Textes. Was ‚sinnvoll‘ ist, lässt sich in der Regel nur deshalb beurteilen, weil Texte auf die außersprachliche Welt Bezug nehmen, oder besser auf eine außersprachliche Welt, die mehr oder weniger real oder gänzlich fiktiv sein kann. 11 Eine kritische Lehrwerksanalyse zum Kohärenzbegriff liefern Averintseva-Klisch et al. (2019). <?page no="38"?> 38 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn Diese Bezugnahme mittels Sprache auf Außersprachliches heißt in der Linguistik Referenz. Meist wird Referenz als eine Aktivität von Sprecherinnen oder Sprechern beschrieben, die von Hörerinnen und Hörern nachvollzogen wird. Objekte, Personen oder auch abstrakte Sachverhalte, auf die ein Text Bezug nimmt, heißen Referenzobjekte oder Referenten. Von Textreferenten spricht man, wenn man die gedankliche Vorstellung eines Objektes meint, die sich durch den Text im Gedächtnis von Hörer oder Leser etabliert hat, also Teil einer mentalen Textwelt geworden ist (Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 50 f.; vgl. die Darstellung am Ende dieses Abschnitts zu einer Textweltmodell-Theorie). In der (ansatzweise) handlungsbezogenen Sprechakttheorie gilt Referenz als Teil des Sprechaktes (Searle 1969); die kognitive Linguistik hat Referenz als mentalen Prozess beschrieben (vgl. Schwarz 2008), und bereits Adelung (1782) sah Referenz (ohne sie so zu nennen) als kommunikativen Akt, mit dem ein Sprecher für einen Adressaten ein Objekt identifizierbar macht (vgl. Consten 2004: 44 f.). Die folgenden (konstruierten) Textanfänge sollen zeigen, welche Möglichkeiten der Kohärenzetablierung oder Kohärenzstörung durch Referenten-Einführung (und Wiederaufnahmen von Referenten) zustande kommen. (17a) Meine Tante bewohnte alleine ein Haus mit großem Garten. Zu ihrem 70. Geburtstag schaffte sie sich eine Katze aus dem Tierheim an. Wenn wir die beiden Sätze dieses Textanfangs als zwei Teile des bisherigen Textes nehmen, so finden wir zwischen diesen beiden Teilen schon mehrere Zusammenhänge: Die im ersten Satz eingeführte Referentin, die Tante, wird im zweiten Satz mit den Pronomina ihrem, sie und sich wieder aufgenommen. Des Weiteren kommt es uns plausibel vor, dass jemand, der alleine einen großen Garten hat, sich eine Katze anschafft. Zum Vergleich: (17b) Meine Tante lag seit einem Unfall in einem irreversiblen Koma. Zu ihrem 70. Geburtstag schaffte sie sich eine Katze an. Wie könnte aber der Text (a) weitergehen? <?page no="39"?> 39 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung (17c) Meine Tante bewohnte alleine ein Haus mit großem Garten. Zu ihrem 70. Geburtstag schaffte sie sich eine Katze aus dem Tierheim an. Das Tierheim der Stadt war bereits 1914 gegründet worden. Im selben Jahr war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Dieser hatte Millionen Tote gefordert. Tote erstehen wieder auf, glauben auch die Christen. Das Christentum ist die verbreitetste Religion in Deutschland. Deutschlands Nationalfarben sind Schwarz-Rot-Gold. Schwarz-Rot war auch der Sportwagen meines Deutschlehrers. Dieser bemängelte immer, meinen Texten fehle der Zusammenhang. Ist dies ein ungerechtes Urteil, was (17c) betrifft? Es ist doch jeder Satz ordentlich an den vorherigen angeschlossen, nämlich durch Wiederaufnahme eines Themas oder Konzeptes, das im vorherigen Satz erwähnt wird. Also hat der erste Satz etwas mit dem zweiten zu tun, der zweite mit dem dritten, und so weiter. Dieses Phänomen nennt die Textlinguistik lokale Kohärenz, also Kohärenz an einzelnen Punkten des Textverlaufs. Was wir hingegen vermissen, ist globale Kohärenz durch einen durchgehenden Bezug auf ein Thema, das alle Teile des Textes miteinander verbindet. Dazu sind verschiedene Abfolgen alter und neuer Information denkbar. Diese werden in der Textlinguistik meist nach Daneš (1970) als einer von drei Typen „thematischer Progression“ bezeichnet: 1. Lineare Progression 2. durchlaufendes Thema 3. Hyperthema Das Beispiel (17c) repräsentiert den Typ 1, lineare Progression: Die neue Information (genannt Rhema) in einem Satz wird zur alten Information (Thema) des nächsten Satzes, der wiederum ein neues Rhema hinzugefügt wird. Aus dem Beispiel (17c), das keinen akzeptablen Text darstellt, wird klar, dass eine derartige Progression in reiner Form nicht zu einem kohärenten Text führt. Der unproblematischste Typ in dieser Hinsicht ist Typ 2, Progression mit durchlaufendem Thema, etwa: <?page no="40"?> 40 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn (17d) Meine Tante bewohnte alleine ein Haus mit großem Garten. Zu ihrem 70. Geburtstag schaffte sie sich eine Katze aus dem Tierheim an. Das liebste Hobby meiner Tante war das Malen. Sie kannte auch einige Künstlerinnen. Sie reiste gerne und sammelte alles Mögliche. In jedem Satz dieses Beispiels ist die Tante das Thema, und neue (rhematische) Information wird hinzugefügt. Die Tante ist klar die Hauptreferentin des Textes. Dadurch wirkt der Text sehr kohärent, aber es lässt sich leicht denken, dass man eine längere Erzählung, die Fakten auf Fakten über eine Figur anhäuft, ohne diese wirklich zu einer Handlung zu verknüpfen, auch nicht gerne lesen würde. Der Typ 3 thematischer Progression ist dadurch gekennzeichnet, dass neue Referenzobjekte und entsprechende Themen von einem sogenannten Hyperthema - hier dem Garten - abgeleitet werden: (17e) Meine Tante bewohnte alleine ein Haus mit großem Garten. Mehrere Obstbäume standen im vorderen Teil des Gartens und trugen im Herbst eine Menge Äpfel oder Birnen. Auf der Wiese durften wir als Kinder spielen, mussten dafür aber den Rasen mähen. Die Gemüsebeete machten die meiste Arbeit. Anders als in (17d) ändert sich das Thema von Satz zu Satz, aber im Gegensatz zu (17c) sind alle neuen Themen (Bäume, Wiese, Beete) Teile eines übergeordneten Garten-Konzepts. Schließlich können Themen gespalten werden. (17f) Meine Tante bewohnte alleine ein Haus mit großem Garten. Der Garten machte eine Menge Arbeit [hier könnten Sätze wie in (17e) folgen]. Das Haus hingegen war in gutem Zustand [der zweite Teil des Textes könnte das Haus behandeln]. Statt Haus mit Garten als Thema gemeinsam fortzuführen, thematisiert der Text abschnittsweise erst den Garten, dann das Haus. Derartige Überlegungen und Typisierungen, die die Textlinguistik in den 1970er und 80er Jahren beschäftigt haben, sind stark von einem strukturalistischen, formbezogenen Denken geprägt und nur mit Mühe auf echte, natürliche Texte anzuwenden. Die Beispielsätze suggerieren, dass jeder Satz ein Thema und ein Rhema enthält. In natürlichen Texten ist dies selten so. Beschreibungseinheiten der Textlinguistik sind nicht Sätze, sondern (wenn man überhaupt Texte in formale Einheiten unterteilen will) abstraktere, inhaltlich definierte Informationseinheiten, sogenannte Propositionen (van Dijk 1980). So haben <?page no="41"?> 41 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung (18a) und (18b) denselben propositionalen Gehalt, aber (18a) besteht aus einem Satz, (18b) aus drei Sätzen: (18a) Meine Tante bewohnte alleine ein Haus mit großem Garten. (18b) Meine Tante bewohnte ein Haus. Sie wohnte darin alleine. Das Haus hatte einen großen Garten. Der allzu sehr auf formale Einheiten fixierte Ansatz von Daneš (1970) mag dennoch für den Deutschunterricht von Nutzen sein: Gerade durch seine starke Typisierung von Informationsstruktur kann er auf einfache Weise klar machen, dass Texte eine Abfolge alter und neuer Information sind, die auf verschiedene Weisen strukturiert werden kann. Auf derartige Strukturierungen zielen letztlich auch schulische Textsorten wie Inhaltsangabe und Nacherzählung (→-2.3) ab. Schlussfolgerung: Viele Texte haben verschiedene thematische Strukturen. Zusammenfassen heißt, wichtige von unwichtigen thematischen Strukturen zu unterscheiden. Die Aufgabe, eine Inhaltsangabe zu verfassen, zielt auf das Erfassen und Wiedergeben globaler Kohärenz ab, also auf Textverstehen im tieferen Sinne. Umgekehrt gilt auch: Dass sich ein Text zusammenfassen lässt, ist ein Beleg dafür, dass er global kohärent ist. Ein Text wie (17c) lässt sich paraphrasieren (d.- h. mit anderen Worten, aber nicht wesentlich kürzer wiedergeben), aber nicht zusammenfassen, denn jeder Satz scheint gleich wichtig zu sein und man erkennt nicht, was man als Nebenstruktur weglassen könnte. Eben dieses Problem kann auch beim Schreiben von Inhaltsangaben auftreten - woher weiß man, was wichtig und was weglassbar ist? Der Text muss verstanden worden sein, damit diese Entscheidung für das Schreibprodukt getroffen werden kann. Entsprechend problematisch erscheint es, dass die Inhaltsangabe am Anfang eines Interpretationsaufsatzes steht, wenn der Verstehensprozess also noch lange nicht abgeschlossen ist. 12 12 Ausführlicher zum Zusammenhang zwischen Verstehensleistung und Schreibprodukt vgl. Kapitel 5.1.2. <?page no="42"?> 42 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn 3.1.2 Wodurch entsteht Kohärenz? Worin können Über- und Unterordnungen oder andere sinnvolle Verbindungen zwischen Teilen eines Textes bestehen? Um diese Frage zu beantworten, hat sich die Textlinguistik eine Zeit lang stark an die Semantik gekoppelt, die Lehre von wörtlichen, also kontext-unabhängigen Bedeutungen von Wörtern und Sätzen. So gehören in den obigen Beispielen die Wörter Haus und Garten zu einem gemeinsamen Oberbegriff (Hyperonym), nämlich Immobilie. In der Version (17e) wird die Kette semantisch zusammenhängender Wörter fortgesetzt mit den Ausdrücken Obstbäume, Wiese, Gemüsebeete, von denen auch ohne Kenntnis des Textzusammenhangs zu sagen ist, dass sie Teile eines Gartens bezeichnen; die Ausdrücke Äpfel und Birnen wiederum bezeichnen Teile von Obstbäumen. Solche Zusammenhänge zwischen Sätzen eines Textes, die im Wesentlichen auf wortsemantischen Relationen beruhen, werden seit Greimas (1974) als Isotopie bezeichnet; der Text stellt eine Isotopiekette dar. Hat ein Text eine Überschrift (wie. z.-B. ein Zeitungsartikel) oder einen Titel (wie ein literarischer Text), können diese (bei entsprechendem Bedeutungsgehalt) als sog. gemeinsame Einordnungs-Instanz dienen (Lang 1977): Alle Textinformationen werden auf ein übergeordnetes Konzept bezogen, das die Überschrift benennt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist (19): (19) August Stramm: Patrouille Die Steine feinden-/ Fenster grinst Verrat-/ Äste würgen-/ Berge Sträucher blättern raschlig-/ Gellen-/ Tod. (1915, zit.n. Detering 2007: 546) Ohne das mentale Schema einer militärischen Patrouille in einem Kriegsgebiet, das durch die Überschrift (und durch die Kenntnis der Entstehungszeit) aktiviert wird, wäre der Text wohl nicht verständlich oder würde einer anderen bedrohlichen Situation zugeordnet. Oft ist es aber nicht so einfach. In vielen Fällen ist nicht sprachliches Wissen über Wortbedeutungen für Textkohärenz (produktiv wie rezeptiv) entscheidend, sondern konzeptuelles Wissen, also außersprachliches Weltwissen. Sehen wir uns einen Ausschnitt aus dem literarischen Text Sonntag (Özdogan 1998) an, der im Kapitel 4 ausführlich besprochen wird und sich aus Sicht eines Ich- Erzählers mit Vandalismus an einer Bushaltestelle beschäftigt. Auf dem Weg nach Hause bietet sich dem Erzähler folgendes Bild: <?page no="43"?> 43 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung (20) Glasscherben auf dem Bürgersteig, tausend kleine Glasscherben, und ich dachte nicht an meine Reifen. Hier gilt es zunächst, das neue Referenzobjekt Reifen zu identifizieren, das der Erzähler an dieser Stelle in den Text einführt. Das Possessivpronomen in Meine Reifen deutet wie in meine Füße auf eine Zugehörigkeit zum Erzähler hin, aber der Erzähler ist ein Mensch, und Menschen haben an sich keine Reifen. Dies wäre ein Kohärenzproblem - ein neuer Referent wird eingeführt, der nicht sinnvoll den schon vorhandenen Textreferenten zugeordnet werden kann - wenn man vergessen oder überlesen hätte, dass es weiter oben hieß „und ich fuhr mit meinem Fahrrad nach Hause“. Man kann hier noch im Rahmen einer (für einige Sätze unterbrochenen) Isotopiekette die Reifen als Teil des vorerwähnten Fahrrads identifizieren. Was hat aber der (versäumte) Gedanken an Reifen mit Glasscherben auf dem Bürgersteig zu tun? Es hieße, den Begriff sprachliches Wissen und insbesondere Wortwissen zu überdehnen, würde man sagen, dass der nicht weiter erklärte Zusammenhang - Glasscherben beschädigen Fahrradreifen und -schläuche, sodass diese Luft verlieren - Teil unseres lexikalischen Wissens über die Wörter Fahrrad, Glasscherben oder Reifen sei. Vielmehr werden hier Konzepte - Informationseinheiten in unserem Langzeitgedächtnis - aktiviert, die zusammen ein sogenanntes mentales Schema bilden. In einem solchen mentalen Schema sind typische Verhältnisse, Situationen und Aktivitäten unserer Lebenswelt gespeichert (vgl. Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 70-73 oder ausführlicher Schwarz 2008: 108-119). Man kann unterscheiden zwischen mentalen Frames (Rahmen), die statisches Wissen repräsentieren (etwa: Fahrräder haben typischerweise luftgefüllte Reifen) und mentalen Skripts, die typische Handlungsabläufe repräsentieren (man fährt mit einem Fahrrad über Scherben, und die Reifen werden platt). Als sog. Inferenz könnte man ansetzen: Das Fahrrad des Erzählers hatte danach platte Reifen. Inferenzen sind Schlussfolgerungen über das im Text Gesagte hinaus, die durch die Anwendung mentaler Schemata auf den Text entstehen. Eine weitere kohärenzetablierende Operation ist die Einsetzung spezifischer Referenten, die sogenannte Instanziierung (Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 68). (21) Ich fuhr an einer Bushaltestelle vorbei, die völlig demoliert war. Glasscherben auf dem Bürgersteig, tausend kleine Glasscherben. <?page no="44"?> 44 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn Der Ausdruck Bushaltestelle ist per wörtlicher Bedeutung nicht spezifisch genug, um eine Verbindung zum nachfolgenden Textteil herzustellen. Eine Bushaltestelle besteht minimal aus einem Haltestellenschild an einem Mast. Wenn überhaupt ein Wartehäuschen vorhanden ist, könnte dieses aus Blech oder gemauert sein. In der Erwartung, der Text sei kohärent, werden wir hier aber den Ausdruck Bushaltestelle spezifischer verstehen als Bushaltestelle mit gläsernem Wartehäuschen. Für Erwachsene sind dies triviale Beispiele, aber sie machen deutlich, dass Kohärenzetablierung als wesentlicher Teil des Textverstehens von Wissensvoraussetzungen abhängen kann, die nichts mit sprachlichen Fähigkeiten zu tun haben, sondern mit Lebenserfahrung: Ein Kind, das bislang nur Kinderfahrräder mit Vollgummireifen kennengelernt hat, würde den textuellen Zusammenhang zwischen Scherben und Reifen nicht verstehen. Wer nie in einer Stadt mit gläsernen Wartehäuschen war, wird nicht verstehen, woher die Scherben kommen. Es sind also (auch) Voraussetzungen, die ein Text an das konzeptuelle Wissen stellt, die einen Text ‚schwierig‘ machen. Hiermit wird sich der Abschnitt 3.3 näher befassen. Manchmal fügen wir beim Lesen Referenzobjekte ein, die gar nicht direkt im Text genannt sind. Auch hier gibt es einfache Fälle, die Lesern in der Regel nicht bewusst werden: (22) Die Kartoffeln schälen, gar kochen, etwas abkühlen lassen und in Scheiben schneiden (https: / / www.chefkoch.de/ rezepte/ 1555691262857604/ Matrosenschmaus. html 2019) In diesem Instruktionstext werden nicht die erforderlichen Werkzeuge und Hilfsmittel genannt („mit einem Messer“, „in einem Topf mit Wasser auf einem Herd“); das Rezept setzt insofern Grundkenntnisse des Kochens voraus, die die Hinzufügung solcher Referenzobjekte ermöglichen. In unserem Text Sonntag nennt der Satz Wie diese riesigen Scheiben zerbrochen sind ebenfalls keine Werkzeuge, mit denen die Scheiben zerbrochen wurden, und derartige Mittel sind hier auch nicht eindeutig aus dem Weltwissen zu erschließen. Wichtiger ist aber, dass die intransitive Verwendung des Verbs zerbrechen vermeidet, ein Agens, einen Handelnden, zu nennen. Der literarische Text liefert uns somit eine unvollständige Spezifizierung eines Ereignisses der Art „Person A zerbricht Objekt B mit Werkzeug C“, wobei die Rollen A und C nicht besetzt werden. Aus dieser referenziellen Unterspezifikation als <?page no="45"?> 45 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung gewöhnlicher Texteigenschaft wird hier eine beabsichtigte literarische Strategie der Unbestimmtheit oder Mehrdeutigkeit. Für den Literaturunterricht dürfte wichtig sein, diese Arten der referenziellen Unterspezifikation zu differenzieren: Wissen um empfindliche Fahrradschläuche und verglaste Wartehäuschen zu aktivieren, gehört zwar zum grundlegenden Textverstehen, das der Produzent des Textes bei seiner Leserschaft voraussetzt, nicht aber zur literarischen Interpretation. Sollte Schülerinnen und Schülern dieses Wissen fehlen, muss es ihnen durch entsprechende Hinweise geliefert werden. Dabei sollte nicht der Eindruck entstehen, es mangele ihnen an literarischem Verständnis. Umso mehr gilt das natürlich für Texte, deren Entstehung zeitlich oder lebensweltlich weit entfernt von den Leserinnen und Lesern liegt. Wenn ein Text ohne Kenntnis z.-B. seiner historischen Voraussetzungen nicht verstehbar ist, sollte die Klärung dieser nicht als literarische Verstehensleistung ausgegeben werden, denn dies würde zu einer Lese-Demotivation führen. Umgekehrt sollte deutlich werden, dass das literarische Verstehen auf Interpretationsebene (Wer hat die Scheibe zerbrochen? ) keine Frage des überlegenen Weltwissens ist. Man kann jedoch durch ‚genaues Lesen‘ und Reflexion über die sprachlichen Mittel des Textes die Interpretationsfrage sehr präzise fassen (etwa: zerbrechen kann intransitiv und agenslos verwendet werden wie hier, aber auch transitiv „jemand zerbricht etwas“). Diese Überlegungen werden wir in Abschnitt 3.3 aufgreifen, um eine Unterscheidung von Textkohärenz und Textsinn zu begründen. Eine wichtige kohärenzstiftende Eigenschaft ist die Wiederaufnahme bereits eingeführter Referenten (vgl. Schwarz 1997: 445). Diese bleiben als Hauptreferenten eines Textes oder Textabschnitts aktiv oder werden reaktiviert. In der Linguistik wird dieses Phänomen Anaphorik oder Anaphora genannt (nicht zu verwechseln mit dem gleichlautenden Terminus der Rhetorik, mit dem die Wiederholung desselben Ausdrucks insbesondere an Satzanfängen bezeichnet wird). Die Ausdrücke, mit denen die Wiederaufnahme erfolgt, heißen Anaphern. Vermeintlich einfache Fälle von Anaphern sind direkte Anaphern, mit denen genau derselbe Referent wiederaufgenommen wird. Der Ausdruck, mit dem der Referent eingeführt wird, heißt der Antezedent oder das Antezedens. Antezedent und Anaphern sowie die Anaphern untereinander stehen in der Relation der Koreferenz, d.-h. mit ihnen referiert der Sprecher auf dasselbe. Eine dichte Kette direkter Anaphern, dann meist mit Pronomina, weist auf ein durchlaufendes Thema hin, dazu noch einmal (17d) mit Kennzeichnung der anaphorischen Kette mittels Referenz-Indices (T für Tante): <?page no="46"?> 46 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn (17d’) Meine Tante T [einführender Ausdruck, genannt der Antezedent oder das Antezedens] bewohnte alleine ein Haus mit großem Garten. Zu ihrem T [Anapher] 70. Geburtstag schaffte sie T [Anapher] sich T [Anapher] eine Katze aus dem Tierheim an. Das liebste Hobby meiner Tante T [Anapher] war das Malen. Sie T [Anapher] kannte auch einige Künstlerinnen. Sie T [Anapher] reiste gerne und sammelte alles Mögliche. Eine derartige Kennzeichnung anaphorischer Ketten ist auch schon als Aufgabe in der Sekundarstufe I denkbar (z.B.: Kringelt alle Ausdrücke ein, mit denen die Tante gemeint ist). Durch diese einfache Übung wird die thematische Struktur des Textes sehr klar. Wenn man dann noch bemerkt, dass es außer der Tante-Kette keine weiteren Anaphern gibt, so wird auch klar, dass der Text kein weiteres satzübergreifendes Thema hat. Nimmt man wieder den Text Sonntag als Beispiel, so zeigt sich, dass die Bestimmung direkter Anaphern nicht nur über Kohärenzmerkmale Aufschluss gibt, sondern auf einfache Weise zum Kern literarischer Interpretationsprobleme führen kann. Sucht man in einem Text anaphorische Ketten, ist es naheliegend, sich die Referenz auf Hauptfiguren anzusehen. In Sonntag gibt es nur eine Hauptfigur, den Erzähler, und die anaphorische Kette für diesen Referenten scheint zunächst nicht besonders schwierig zu bestimmen - sie besteht aus achtmal ich in den ersten Sätzen, dann noch einmal mich und zweimal ich am Ende des Textes. Wiederum ein einfaches Einkringeln dieser Anaphern würde zeigen, dass die anaphorische Kette in der Mitte des Textes unterbrochen ist, und man muss sich fragen, warum. Ist der Text hier inkohärent, oder widmet er sich abschnittsweise einem anderen Thema? Welche anderen Referenten werden dort eingeführt? Der Ausdruck ein paar Jungs, immer Jungs, und niemals weniger als zwei, die sich betrinken führt neue Referenten ein, aber die Referenzkette geht nicht klar weiter. Sie wechselt von der dritten Person auf du und schließlich auf wir, wobei der Wechsel von zweiter zu erster Person als indirekte Rede- oder besser Gedankenwiedergabe gedeutet werden kann. Andererseits ist die erste Person Plural zumindest grammatisch nahe an der Erzähler-Referenzkette in der ersten Person Singular. Es gibt somit zwei Erklärungen, warum die anaphorische Kette mit ich in der Mitte des Textes aussetzt: Der Erzähler beschreibt Dritte, wobei er du mit generalisierender Referenz (wie englisch you mit Bedeutung „man“) verwendet und sich gedanklich in sie hineinversetzt - oder die Erzähler-Referenzkette setzt eigentlich gar nicht aus, und der Erzähler meint mit all diesen Referenzmitteln der dritten und zweiten Person und der ersten <?page no="47"?> 47 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung Person Plural sich selber, führt die Referenzkette also mit ungewöhnlichen sprachlichen Mitteln fort. Auf Ebene der Interpretation würde dies bedeuten, dass der Ich-Erzähler selbst der Vandale ist. Diese Frage kann und soll hier nicht vertieft werden. Es ist aber deutlich geworden, dass direkte Anaphorik ein zentrales textlinguistisches Konzept ist, das im Deutschunterricht leicht durch Aufgaben erfassbar ist (anaphorische Ketten durch Markierung im Text bestimmen) und dann nicht nur das Bewusstsein für die thematische Strukturiertheit von Texten und unterschiedliche Möglichkeiten für thematische Strukturen schärft, sondern auch einen systematischen, weil an der sprachlichen Form orientierten Einstieg in ‚höhere‘ Fragen der Interpretation bietet. In der Textlinguistik ebenso wie in der experimentell orientierten Psycholinguistik und der Computerlinguistik waren Anaphern eine Zeit lang aus anderen Gründen ein vieldiskutierter Gegenstand. Geradezu ein Klassiker der Psycholinguistik ist der Zweisatz-Text: (23) Ein Mann ging mit seinem Hund zum Tierarzt. Er gab ihm eine Spritze, und jetzt geht es ihm besser. (engl. Original Marslen-Wilsen e.a. 1982: 340, vgl. Schwarz 2008: 183) Der zweite Satz enthält drei Pronomina, die nur durch konzeptuelles Wissen - genauer: ein mentales Skript, das Wissen über einen prototypischen Tierarztbesuch enthält - zugeordnet werden können. Solche Beispiele zeigen wiederum die Rolle außersprachlichen Wissens, das hier sogar grammatische Faktoren überlagert, beim Textverstehen. Im Deutschunterricht könnten derartige Beispiele zur Sprachreflexion anregen etwa mit dem Ziel, ein Bewusstsein für sprachliche Mehrdeutigkeiten zu schaffen und zu erkennen, welche Information der Text grammatisch oder semantisch vermittelt und welche Information Leser: innen durch eigene Lebenserfahrung in einen Text hineinbringen. Auch die Täuschung lebensweltlich geprägter Erwartungen an einen Text lässt sich mit solchen Beispielen demonstrieren (23’) und schließlich sogar der Fall, dass der semantisch-grammatische Gehalt im Widerspruch zu konzeptueller, lebensweltlicher Plausibilität steht (23’’): (23’) Ein Mann ging mit seinem Hund zum Tierarzt. Er gab ihm eine Spritze, und jetzt geht es ihm besser. Der Mann leidet nämlich immer sehr, wenn sein Hund krank ist. Daher ging es dem Mann vor dem Tierarztbesuch echt schlecht. <?page no="48"?> 48 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn (23’’) Ein Mann ging mit seiner Hündin zum Tierarzt. Er gab ihm eine Spritze, und jetzt geht es ihm besser. Kinder bis ca. 9 Jahre werden hier nach Skriptwissen urteilen, dass die Hündin die Spritze bekam, und die grammatische Genus-Information ignorieren. Generell bevorzugen Kinder semantisch-pragmatische Strategien und nutzen syntaktische Information nur dann, wenn semantisch-pragmatische Information nicht zum Verständnis ausreicht (Flores d’Arcais/ Schreuder 1983: 8). Findige Jugendliche und Erwachsene werden dagegen zu einer Lesart tendieren, die die Genus-Information und eigenes Skriptwissen integriert, etwa: Der Besitzer der Hündin bekam die Spritze mit nach Hause, um sie dort selbst zu verabreichen, weil die Hündin in der Arztpraxis zu unruhig war. Das zweite ihm erklärt sich wie in (23’). Solche Überlegungen sind anhand einfacher, kurzer Beispiele möglich und könnten eine Vorbereitung für den reflektierten Umgang mit (auch schwierigen) literarischen Texten sein, denn sie vermitteln die Notwendigkeit, einem Text auch grammatische und semantische Information zu entnehmen und diese mit eigenen Erwartungen und Erfahrungen abzugleichen. Indirekte Anaphern sind ein weiteres Phänomen, das in der kognitiv orientierten Textlinguistik großes Interesse gefunden hat, weil es die Abhängigkeit des Textverstehens und der Textkohärenz von konzeptuellem Wissen verdeutlicht. Mit indirekten Anaphern führen Sprecher: innen neue Referenzobjekte in die Textwelt ein, machen dabei aber Gebrauch von aktiviert gebliebenen oder reaktivierten Referenzobjekten, die bereits durch einen sog. Ankerausdruck in den Text eingeführt wurden (vgl. Schwarz 2000). Der Terminus ist deutschsprachig spätestens seit Heinrichs (1954: 99 f.) definiert: „Die indirekte Anaphora: Das, was genannt wird, ist zwar nicht unmittelbar im vorhergehenden Text erwähnt, aber es sind doch Größen angeführt, in deren Umkreis es gehört und die unmittelbar seine Vorstellung hervorrufen können. Beispiel: […] Wir waren in der Waldnieler Kirche und wollten uns einmal den Altar anschauen. Da sagte der Küster zu uns-… Durch den Begriff ‚Kirche‘ werden unmittelbar auch die Begriffe ‚Altar‘ und ‚Küster‘ in uns wach.“ Man beachte, dass Begriff hier fachsprachlich korrekt im Sinne von „Konzept“, nicht „Ausdruck“ verwendet wird. Wach werden würde die moderne Kognitive Linguistik als zunehmende Aktiviertheit eines Konzeptes im Langzeitgedächtnis beschreiben. Schwarz (2000: 137) nennt Konzepte wie hier ‚Altar‘ und ‚Küs- <?page no="49"?> 49 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung ter‘, die durch Nennung eines Bezugskonzeptes wie hier ‚Kirche‘ „im Zustand der latenten Abrufbereitschaft“ sind, „semi-aktiviert“. Im Text Sonntag ist der bereits diskutierte Ausdruck meine Reifen ein Beispiel für eine indirekte Anapher, denn ein Referent für diesen Ausdruck kann nur abhängig vom Vortext gefunden werden, in dem bereits ein Fahrrad erwähnt wird (Ankerausdruck: ich fuhr mit meinem Fahrrad nach Hause oder nur die Nominalphrase meinem Fahrrad). Indirekte Anaphern sind ein Mittel der Sprachökonomie, weil Sprecher: innen mit ihnen das bei den Hörer: innen erwartete konzeptuelle Wissen nutzen, um Textkohärenz zu schaffen, ohne die Kohärenzrelation explizit machen zu müssen. Ein Text der Art „Ich fuhr mit meinem Fahrrad nach Hause, und dieses Fahrrad hatte zwei Räder mit Gummireifen und luftgefüllten Schläuchen, die beim Überfahren von Glasscherben beschädigt werden konnten-…“ wäre sperrig und als literarischer Text auch unattraktiv. Texte sind in aller Regel geprägt durch referenzielle Unterspezifikation, d.-h. sie stellen Sachverhalte lückenhaft dar und überlassen es Hörer: innen und Leser: innen, die Lücken durch konzeptuelles Wissen zu schließen (vgl. Schwarz 2000: Kap. 4). Das Zuordnen und Verstehen indirekter Anaphern ist ein typisches Beispiel für die Verarbeitung referenziell unterspezifizierter Textstellen und ist im Normalfall (d.-h. bei ungestörter Textverarbeitung) ein automatischer, also unbewusster Prozess. Dies betrifft sowohl die Sprachproduktion - also die Erwartung, welches konzeptuelle Wissen Adressaten aktivieren können und welcher Grad an referenzieller Unterspezifikation somit tolerierbar ist, als auch die Rezeption. Derartige Prozesse bewusst und reflektierbar zu machen, sollte ein Ziel des Deutschunterrichtes sein, zum einen, weil dies eine Voraussetzung für textsorten- und adressatengerechtes Schreiben ist, zum anderen auch im Hinblick auf die Rezeption literarischer Texte. Grad und Art von Unterspezifikation, wie sie im Phänomen indirekter Anaphora augenfällig werden, sind textsortenspezifische Phänomene. So würde man von einem Gesetzestext oder einer Instruktion (z.- B. einer Bedienungsanleitung) mehr Explizitheit erwarten als von einem informellen Gespräch. Für schulische Textsorten, die ganz oder teilweise auf eine Wiedergabe von Inhalten abzielen, die dem Adressaten (der Lehrerkraft) schon bekannt sind, stellen sich neben den in Abschnitt 2.3 besprochenen Problemen mangelnder Natürlichkeit und Schreibmotivation auch konkrete Probleme bezüglich referenzieller Unterspezifikation. Diese hat Steinäcker (2016) in einer Untersuchung <?page no="50"?> 50 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn von Referenteneinführungen und anaphorischen Wiederaufnahmen in Abituraufsätzen zu Fontanes Roman „Effi Briest“ nachgewiesen. Es zeigt sich, dass etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in ihren Interpretationen bei der Referenteneinführung ein Maß an referenzieller Unterspezifikation wählt, das beim Adressaten eine genaue Kenntnis des Primärtextes voraussetzt. (24) „Er [Innstetten] bittet Wüllersdorf, eine Forderung zu überbringen und ihm als Sekundant beizustehen. Ohne zu wissen, was passiert sei fragt Wüllersdorf, ob es wirklich sein müsse (…). Geheimrat Wüllersdorf versucht ihn von einem Duell abzusehen [intendiert: abzubringen].“ (Schülertext zit. n. Steinäcker 2016: 194) Das Duell ist nicht vorerwähnt und wird mit es in den Text eingeführt. Steinäcker (ebd.) bemerkt, dass es als indirekte Anapher klassifiziert werden könnte. Dies ist plausibel: Das Personalpronomen ist semantisch beinahe leer und kann also selbst keinen Referenten spezifizieren. Dieser kann insbesondere aus den Ankerausdrücken Forderung überbringen und Sekundant erschlossen werden, deren Referenten zu einem mentalen Duell-Schema gehören. Die später folgende lexikalische Nominalphrase einem Duell sieht nicht wie ein Postzedent aus (Bezugsausdruck einer sog. Katapher, d.-h. einer Anapher, die ihrem Bezugsausdruck vorangeht), denn der Ausdruck ist indefinit (er ist mit dem unbestimmten Artikel einem versehen), was sonst ein grammatisches Signal für die Neueinführung eines Referenten ist. Hier zeigt die Unsicherheit bei der Wahl referenteneinführender und -wiederaufnehmender Mittel möglicherweise eine Unsicherheit über den Informationsstatus des Adressaten, der ja tatsächlich alle Informationen aus der Textwelt des Romans bereits besitzt, aber von den Schülertexten spezifizierende Referenteneinführungen erwartet. Die gewisse Künstlichkeit einer solchen Kommunikationssituation, die schon in Abschnitt 2.3 beschrieben wurde, kann nun also so beschrieben werden: Die schulische Textsorte Interpretation verbietet für die Textproduktion der Schülerinnen und Schüler ein hohes Maß an referenzieller Unterspezifikation, das aber angesichts des Informationsstatus des Adressaten (Lehrer: innen, die den Primärtext natürlich kennen) ökonomisch und natürlich wäre. Das Problem trifft in noch größerem Maße für Inhaltsangaben und Nacherzählungen zu, deren Zweck sich beschränkt auf die Vermittlung von Information, die dem Adressaten bekannt ist. <?page no="51"?> 51 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung Steinäcker (2014) weist darauf hin, dass für textbezogenes Schreiben, also schülerseitige Textproduktion, die auf einen Primärtext Bezug nimmt und somit Kohärenzetablierung bei der Rezeption des Primärtextes voraussetzt, und der Rezeption der Schülertexte durch Lehrkräfte ein Rahmen besteht, der die beteiligten Rezeptionsprozesse verbindet. Zwischen Primärtexten und den darauf Bezug nehmenden Texten sind Ähnlichkeiten in der Kohärenzstruktur zu erwarten. Für diese „implizite Kohärenzrelation zwischen zwei Texten in einer Diskurssituation“ (nämlich der schulischen Situation, über den Primärtext schriftliche oder mündliche Texte verfassen zu sollen) führt Steinäcker (2014: 72) die Bezeichnung „Interkohärenz“ ein. Nach der Kohärenzetablierung als wesentlicher Teil der Rezeption des Primärtextes sei für eine textsortengerechte Gestaltung des bezugnehmenden Textes eine Kohärenzmodifizierung erforderlich, die Rezeption und Produktion verbindet (ebd.). Für den praktischen Umgang mit Schülertexten sollte noch bedacht werden, dass nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Lehrpersonen ‚Opfer‘ natürlich geprägter Rezeptionsprozesse werden, bei denen referenzielle Lücken automatisch, also unbewusst, durch eigenes Vorwissen gefüllt werden. In diesem Fall besteht das Vorwissen insbesondere in der genauen Kenntnis des Primärtextes. Es ist durchaus denkbar, dass Lehrerinnen und Lehrer bei der Korrektur von Schülertexten eine unklare Anapher wie es in (24) schnell übergehen und nicht als sprachlichen Mangel erkennen, weil ihnen durch das hohe Maß an Unterspezifikation kein reales Kohärenzproblem entsteht. Ein besonderes Augenmerk auf die sprachlichen Mittel der Referenteneinführung und der anaphorischen Wiederaufnahmen bezüglich ihrer referenziellen Unterspezifikation sollte somit in allen Diskurssituationen mit ‚interkohärenten‘ Bezugnahmen gegeben sein. 3.1.3 Modelle des Textverstehens Aus dem Bisherigen ist klar geworden, dass Textkohärenz einerseits als Anforderung an Textproduzenten und als Eigenschaft von Texten zu sehen ist - man soll kohärente Texte produzieren -, andererseits ist Kohärenz aber auch das wünschenswerte Ergebnis eines Leseprozesses. So ist es vielleicht missverständlich, wie Steinäcker (2014, 2016) auf Produktionsseite von Kohärenzgenerierung und auf Rezeptionsseite von Kohärenzetablierung zu sprechen. Lesen im Sinne von Textverstehen ist ein Prozess, an dessen Ende eine mentale Repräsentation einer Textwelt steht, die informationsreicher ist als der Text selbst, somit <?page no="52"?> 52 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn liegt ein produktiver Prozess vor. Der Leseprozess überträgt nicht nur im Text vorhandene Information an das mentale System von Leserinnen und Lesern, er generiert Information. Lexikalische und grammatische Eigenschaften des Textes sind Auslöser für diesen Prozess und führen zur Aktivierung von konzeptuellem Wissen, mit denen der Text angereichert (elaboriert) wird, um zu kohärenten Lesarten zu gelangen. 13 Dies lässt sich an literarischen Leseprozessen gut zeigen, und dieser Bereich ist von besonderem Interesse für den Deutschunterricht. Das Gesagte gilt aber genauso für mündlichen Alltagskommunikation, wo der Grad der referenziellen Unterspezifikation sehr hoch sein kann, wenn das gemeinsame Wissen der Aktanten sehr groß ist: (25) Einmal normal und einmal wie immer (Bestellung in einem Asia-Imbiss, Hörbeleg) Gemeinsames Wissen („common ground“, Clark/ Marshall 1981) kann individuell-episodisch (auf ähnlichen Erfahrungen beruhend) oder auch enzyklopädisch (Allgemeinwissen) sein. Wesentlich ist, dass die Aktanten voneinander wissen, dass sie dieses Wissen teilen. Aus diesem Grund sind populäre „Kommunikationsmodelle“ wie das mathematisch-technisch basierte von Weaver/ Shannon (1949) völlig inadäquat zur Beschreibung menschlichen Textverstehens und sprachlicher Kommunikation überhaupt. Empfangsgerät Sendegerät Störquelle Empfänger Sender Signal Nachricht Nachricht Abb. 2: Mathematische Theorie der Kommunikation (Shannon/ Weaver 1949) 13 Der Terminus Lesart wird hier verwendet für die Festlegung auf einen bestimmten Bedeutungsgehalt eines Ausdrucks (Wort, Satz oder Text), im Unterschied zu Interpretation, womit ein literarischer Deutungsprozess gemeint ist; →-3.3 und 4. <?page no="53"?> 53 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung Die Nachricht erscheint wie ein festgefügtes, materielles Objekt, das ein Sprecher in ein Medium verpackt und verschickt. Der Hörer packt es wieder aus und erhält also im Idealfall, wenn keine Störung durch „Rauschen“ eingetreten ist, genau das, was der Sprecher eingepackt hat. Explizit linguistische Modelle wie das bereits in 48. Auflage verbreitete Vierseiten-Modell von Schulz von Thun (1981) thematisieren funktionale, pragmatische Aspekte der Kommunikation, ohne sich jedoch grundsätzlich von der fragwürdigen „Sender-Empfänger“-Konzeption zu lösen, die dem textverstehenden Menschen eine rein passive Rolle zuweist und das Zustandekommen einer elaborierten (durch eigenes Wissen ergänzten) mentalen Textrepräsentation in deren Langzeitgedächtnis nicht erklärt. Angesichts der Verbreitung solcher Modelle auch im Deutschunterricht soll hier dazu angeregt werden, Reflexion über sprachliche Kommunikation nicht in derart vertechnisierte, psychologisch unplausible Modelle zu fassen. Auch hier gilt es, lebensweltliche Erfahrung von Kindern und Jugendlichen einzubeziehen. Jedes Kind im Schulalter wird selbst schon die Erfahrung gemacht haben, eine Äußerung nicht zu verstehen oder selbst nicht verstanden worden zu sein. Ein Modell, das eine solche Störung nur in der medialen Übertragung verorten kann, trägt sicherlich nicht zu einem Verständnis der eigenen Kommunikation bei, sei es mündliche Alltagskommunikation oder literarisches Verstehen. Psychologisch plausiblere Modelle können dagegen direkt aus der Erfahrung realen Textverstehens heraus entwickelt werden. Eine geeignetere Grundlage dafür bietet die Textweltmodell-Theorie (Schwarz 2000: 45 f., Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 58-69). Diese gehört zu den kognitiv orientierten Theorien, die über der Ebene des Textes eine mentale Repräsentation des Textes oder besser der Textwelt im Langzeitgedächtnis der Leserinnen und Leser annehmen, die einerseits durch die oben beschriebenen Prozesse der Elaboration mit außertextuellem Wissen angereichert ist, andererseits durch Deaktivierung irrelevanter Textinformation (z.- B. Nebenhandlungen in einem Roman) vereinfacht ist. Diese Repräsentation heißt hier Textweltmodell. <?page no="54"?> 54 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn Konzeptuelles Wissen Textweltmodell Textverstehen Textoberfläche Grammatik, Semantik, Referenzpotenzial Kognitive Strategien der Elaboration Abb. 3: Textweltmodell-Theorie (eigene Darstellung. Ähnliche Darstellungen Schwarz 2000: 46 und Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 69) In Anlehnung an ein aus der Informatik stammendes Begriffspaar werden die von der unmittelbaren Textwahrnehmung ausgelösten Vorgänge als Bottomup-Prozesse bezeichnet; die vom kognitiven System ausgehenden Prozesse der Wissensaktivierung, die das Textverstehen beeinflussen, heißen Top-down- Prozesse. Das Texweltmodell ist die Repräsentation eines Text-Inhalts im Langzeitgedächtnis. Sie entsteht durch den Text selbst und das individuelle Wissen, das Leser: innen beim Lesen aktivieren. Evidenz für eine Textweltmodell-Theorie kommt aus der experimentellen Psycholinguistik (Überblick bei Schwarz 2008: 187-190) und lässt sich durch eine beinahe selbstverständliche Erfahrung leicht nachvollziehen: Den Wortlaut eines Textes (also die Textoberfläche) haben wir nach weniger als einer Minute wieder vergessen (etwas auswendig zu lernen ist ein ganz anderer Vorgang), an den Inhalt eines Textes können wir uns möglicherweise unser Leben lang erinnern. Erinnern wir uns an Elemente der Textoberfläche (z.- B. an eine <?page no="55"?> 55 3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung ‚Lieblingsstelle‘ in einem Roman, den wir oft gelesen haben, oder an einen einprägsamen Dialog in einem Film), können wir uns nie sicher sein, ob uns unsere Erinnerung nicht täuscht. Wer mit Bibellektüre aufgewachsen ist, wird sich vielleicht deutlich erinnern, dass Adam und Eva in der Genesis einen Apfel vom verbotenen Baum gegessen haben und daher aus dem Paradies vertrieben wurden. Tatsächlich ist im Text aber nur von Frucht die Rede. Sich darunter einen Apfel vorzustellen, ist ein Fall von Instanziierung. Versuchen wir, vom Textweltmodell wieder auf die Textoberfläche zurückzuschließen, können wir glauben, im Text hätte das Wort Apfel gestanden. Eine nicht neue, aber nun populär werdende Richtung der Gedächtnispsychologie zeigt, dass derartige Phänomene nicht spezifisch für das Textverstehen sind, sondern bei jeglicher Erinnerung auftreten. Erinnerungen sind immer Konstruktionen des Gedächtnisses, die durch neue Wahrnehmungen laufend verändert werden. Als populärwissenschaftliche Quelle hierzu ist Dworschak (2016) empfehlenswert. In der Psycholinguistik war lange umstritten, was eigentlich die Verarbeitungseinheiten des Textverstehens sind. Ausgehend von Modellen, die an der formalen, grammatischen Sprachstruktur orientiert waren, stellten sich manche Linguist: innen (u.- a. noch Sanford 1985 zur Verarbeitung anaphorischer Pronomina) Textverstehen als einen sequenziellen Prozess vor, in dem zunächst die Verarbeitung lexikalischer Einheiten (Wörter) und sodann syntaktischer Einheiten (Teilsätze) abgeschlossen wird, ehe konzeptuelle Plausibilität als Verarbeitungsfaktor überhaupt ins Spiel kommt. Kognitive Strategien wie Inferenzen sind in diesen Modellen nicht der Normalfall des Textverstehens, sondern eine Ausnahme für den Fall, dass die lexikalisch-syntaktische Verarbeitung am Ende nicht zu einer plausiblen Lesart des Satzes führt. In diesen Fällen interagiert konzeptuelles Wissen nicht mit sprachstruktureller Information, sondern ersetzt diese. Demgegenüber hat schon der KI-Pionier Winograd (1972) ein ganzheitliches und interaktives Modell des Sprachverstehens postuliert, und bereits Marslen- Wilson/ Tyler (1977) fanden experimentelle Evidenz dafür, dass sprachlicher Input sofort, d.- h. Laut für Laut, von allen am Verstehensprozess beteiligten Teilsystemen gleichzeitig verarbeitet wird. 14 Ein Textweltmodell entsteht somit in kleinen Schritten (‚inkrementell‘) während des Rezeptionsvorgangs, nicht erst an dessen Ende. 14 Einen ausführlichen Überblick über die experimentelle Forschung und Modellbildung bietet Schwarz (2008: 167-196). <?page no="56"?> 56 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn Hieraus lässt sich auch eine psychologisch plausible Definition von Kohärenz ableiten: Kohärenz: Ein Text ist kohärent, wenn jedes neue Stück davon sich ohne konzeptuelle Widersprüche in das entstehende Textweltmodell einfügen lässt. Ein konstruierter Text von Schnotz (2006: 227, nach Collins/ Brown/ Larkins 1980) macht einen solchen Prozess gerade dadurch nachvollziehbar, dass er misslingt: (26) Er legte an der Kasse 5-€ hin. Sie wollte ihm 2,50-€ geben, aber er weigerte sich, das Geld zu nehmen. Deshalb kaufte sie ihm, als sie hinein gingen, eine große Tüte Popcorn. Die meisten Leserinnen und Leser werden zunächst ein Supermarkt-Schema aktivieren und sich denken, dass sie auf eine Kassiererin referiert, die 2,50-€ als Wechselgeld herausgibt. Dass ein Supermarktkunde sich weigert, Wechselgeld anzunehmen, ist zwar unserem Erfahrungswissen nach ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen (Trinkgeld? ). Das entstandene Textweltmodell, das eine Supermarktszene repräsentiert, lässt sich somit noch gerade erhalten. Andere Leserinnen und Leser revidieren ihr Textweltmodell vielleicht dahingehend, dass sie auf eine Begleiterin referiert, die die Hälfte eines gemeinsamen Einkaufs bezahlen will. Erst der Ausdruck als sie hinein gingen zwingt uns, das Supermarkt-Modell aufzugeben, denn dieses ist nicht mehr kompatibel mit der Information, dass eine Person eine Kasse beim Hineingehen passiert hat. Der abschließende Ausdruck Popcorn ist schließlich Teil eines Kinoschemas (das rein kulturell bedingt ist, semantisch-logisch haben Kino und Popcorn nichts miteinander zu tun) und gestattet uns somit ein revidiertes Textweltmodell, wonach ein Mann Kino-Eintrittskarten für sich und eine Frau gekauft hat, die sich dafür mit Popcorn revanchiert. 15 Dieses Beispiel zeigt zweierlei: Erstens gehört es nicht zum menschlichen Verhalten, mit der Verarbeitung eines Textes zu warten, bis er zu Ende ist (dasselbe lässt sich auch über andere Rezeptionsprozesse sagen, z.-B. Wahrnehmung von Musik oder Betrachten einer Bilderfolge). Für ungeübte oder schlecht motivierte Leserinnen und Leser birgt das die Gefahr, einen Text nicht zu Ende 15 Die genannten Preise wurden aus der Quelle übernommen; für eine heute plausible Kino-Lesart müsste man sie vielleicht vervierfachen. <?page no="57"?> 57 3.2 Kohäsion und wörtliche Bedeutung zu lesen und sich mit einer anfänglichen Lesart zufrieden zu geben, auch wenn diese nicht kompatibel mit späteren Textstellen ist. Stark (2017) zeigt am Beispiel seiner „Laut-Denk-Studie“, bei denen Versuchspersonen unmittelbar während des Lesens Kommentare abgeben, wie schwer es schwächeren Leser: innen fällt, ihr Textweltmodell zu revidieren und wie schnell aus Vermutungen Überzeugungen werden, die den Blick auf den Text verstellen. Zweitens zeigt das Textbeispiel, dass auch ein formal sehr geordneter Text mit expliziten sprachlichen Mitteln der Kohärenzerzeugung (deshalb als Marker für eine Kausalrelation, der als-Satz für eine Temporalrelation) in seiner Kohärenzstruktur tückisch sein kann. Mit dem Verhältnis solcher sprachlichen Mittel zum Phänomen der Kohärenz befasst sich der nächste Abschnitt. 3.2 Kohäsion und wörtliche Bedeutung Wir haben bereits gesehen, dass Kohärenzrelationen implizit und den lückenfüllenden Strategien des Textverstehens überlassen bleiben können; sie können aber auch explizit durch kohärenzstiftende Ausdrücke oder grammatische Merkmale gekennzeichnet sein: (27) Es regnet, es regnet, die Erde wird nass. (Kinderlied, unbek. Autor) (27’) Es regnet, es regnet, dadurch wird die Erde nass. (27’’) Weil es regnet, wird die Erde nass. De Beaugrande/ Dressler (1982) unterscheiden entsprechend einerseits Kohärenz als inhaltlichen Zusammenhang und andererseits Kohäsion als die Verknüpfung zwischen Textteilen auf der Textoberfläche durch grammatische oder lexikalische Mittel. 16 Typische Kohäsionsmittel sind Konjunktionen und Subjunktionen (formalgrammatisch bestimmte Wortartkategorien) oder Konnektoren als funktional bestimmte Kategorie, zu denen neben Konjunktionen und Subjunktionen auch Adverbien (wie deshalb) und Partikeln (wie nur) sowie nach einigen Definitionen sogar die Zeichensetzung gehört: (28) Der Mensch denkt; Gott lenkt. Das Semikolon hat eine gleichordnende Funktion; das Satzpaar ist gleichbedeutend mit 16 Das Adjektiv zu Kohärenz heißt kohärent, das Adjektiv zu Kohäsion heißt kohäsiv. <?page no="58"?> 58 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn (28’) Der Mensch denkt und Gott lenkt. Beide Vorgänge, menschliches Denken und göttliches Lenken, finden parallel statt. Unsere Suche nach Kohärenz wird allerdings weitere Zusammenhänge zwischen den beiden Teilsätzen liefern. Darauf beruht der Scherzspruch (29) Schiller ist tot, Goethe ist tot, und ich fühle mich auch schon ganz elend. (Buchtitel von Mosblech/ Kaczmarek 1976) Der Text nennt drei Zustände und sagt per wörtlicher Bedeutung, die vom Präsens-Tempus und von der Gleichordnung (Koordination) durch Komma und der Konjunktion und ausgeht, dass diese drei Zustände gleichzeitig bestehen. Da wir von einem Text neue Information sowie Kohärenz, also einen nicht nur formalen Zusammenhang zwischen seinen Teilen erwarten, wird man hier zu der Lesart kommen, dass der Sprecher sich in eine Reihe mit den großen Dichtern stellt und seinen Tod erwartet. (28’’) Der Mensch denkt: Gott lenkt. (Bertolt Brecht, Mutter Courage) Der Doppelpunkt hingegen bewirkt eine Unterordnung (Subordination) des zweiten Satzes unter den ersten, gleichbedeutend mit: (28’’’) Der Mensch denkt, dass Gott lenkt. womit der Text auch inhaltlich ins Gegenteil verkehrt wird, denn die Glaubensaussage des zweiten Satzes wird zur menschlichen Fiktion erklärt. Konnektoren sind sprachliche Ausdrücke für grundlegende logische Beziehungen zwischen Sachverhalten, so die Addition von Sachverhalten mit A und B (beide treffen zu), die Disjunktion mit A oder B (exklusives oder: „A“ und „B“ schließen sich gegenseitig aus; inklusives oder: „A“, „B“ sowie „A und B“ sind möglich). Des Weiteren gibt es adversative Konnektoren (aber, jedoch, doch: Zwei Sachverhalte widersprechen sich, oder ein Sachverhalt schränkt den anderen ein), konzessive (obwohl, trotzdem, wenn auch: ein Sachverhalt hat nicht die erwartete Auswirkung auf einen anderen Sachverhalt), kausale Konnektoren (weil, denn, deshalb, wegen), konditionale (wenn, falls: ein Sachverhalt ist die Bedingung für einen anderen Sachverhalt) und temporale Konnektoren (als, wenn, dann, während, nachdem, bevor …). Während adversative, konzessive und konditionale Relationen meist explizit durch entsprechende Konnektoren ausgedrückt werden, bleiben kausale und temporale Beziehungen oft gänzlich implizit (30), oder kausale Beziehungen <?page no="59"?> 59 3.2 Kohäsion und wörtliche Bedeutung werden durch temporale Konnektoren ausgedrückt (31). Logisch ist in einer kausalen Beziehung eine temporale enthalten, denn eine Ursache muss zeitlich vor ihrer Wirkung liegen. (30) Ich komme etwas später, mein Zug hat Verspätung (31) Der Staatsschutz ermittelt nach einem offenbar antisemitischen Angriff gegen drei Unbekannte. (Beginn einer Nachrichtenmeldung, spiegel.de 19.6.19) Es ist klar, dass der antisemitische Angriff nicht nur zeitlich vor den Ermittlungen liegt, wie im Text wörtlich durch nach gesagt wird, sondern auch die Ursache der Ermittlungen ist. Um solche Phänomene zu beschreiben, muss man zwischen wörtlichen und nicht-wörtlichen (=- pragmatischen) Bedeutungen unterscheiden. Erstere sind Inhalt der Textoberfläche, genauer der dort auftretenden Wörter mit ihrem lexikalischen Gehalt und der Art, wie die Wörter zu syntaktischen Einheiten (Phrasen, Sätze) verknüpft sind. Die wörtliche Bedeutung eines Satzes ist ‚kontext-invariant‘, d.-h. sie ist immer gleich, egal in welcher Situation der Satz geäußert wird. Man spricht auch von semantischer Bedeutung, denn die Semantik ist die Lehre von kontext-invarianten Bedeutungen. Die nicht-wörtliche oder pragmatische Bedeutung ist Ergebnis kohärenzstiftender Elaboration (→-Abb. 3), und da die Elaboration situativ passendes Weltwissen in den Text hineinträgt, ist die nicht-wörtliche Bedeutung abhängig vom jeweiligen Kotext (Textzusammenhang) und Kontext (Äußerungssituation). So enthält der Satz Heute ist Donnerstag immer „Der Tag, der auf den Tag der Äußerung folgt, ist Freitag“, aber nur je nach Situation „Es wird Zeit, deinen Unterricht für Freitag vorzubereiten“ oder „Heute Abend kommt im TV meine Lieblingsshow“. Nicht-wörtliche Bedeutungen kann man eliminieren, indem man sich einfach eine andere Äußerungssituation vorstellt. Wörtliche Bedeutungen sind dagegen nicht wegzudenken (? Heute ist Donnerstag, aber morgen ist nicht Freitag.) 17 Die Elaboration hat den Zweck, eine Äußerung in ihrer jeweiligen Situation sinnvoll zu verstehen. In vielen Fällen kann nicht-wörtliche Bedeutung in einer alternativen Textversion durch Kohäsionsmittel explizit gemacht werden, d.- h. sie wird zur wörtlichen Bedeutung: 17 Ausführlicher Schwarz/ Chur (2014: 32-37). Zum Terminus nicht-wörtliche Bedeutung vgl. Börjesson/ Laser (i. Vorb.). <?page no="60"?> 60 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn (30’) Ich komme etwas später, weil mein Zug Verspätung hat. (31’) Der Staatsschutz ermittelt wegen eines offenbar antisemitischen Angriffs gegen drei Unbekannte. Manchmal eliminieren Kohäsionsmittel aber auch pragmatische Lesarten, die sonst nahegelegen hätten. So kann die Annahme, dass sich Sachverhalte chronologisch in der Reihenfolge ereignet hätten, in der sie erzählt werden (32), durch temporale Konnektoren (32’) und/ oder Tempus (32’’) aufgehoben werden. (32) Der Referendar fing an zu weinen und rannte aus dem Klassenzimmer. (32’) Bevor der Referendar anfing zu weinen, rannte er aus dem Klassenzimmer. (32’’) Der Referendar fing an zu weinen, nachdem er aus dem Klassenzimmer gerannt war. Wir haben somit Tempus als weiteres Kohäsionsmittel identifiziert, hier in Form einer Abfolge verschiedener Tempora. Durchgehendes Tempus ist aber auch ein kohäsionstiftendes Mittel, weil es für formale Geschlossenheit sorgt. Zum Beispiel kann ein Text, der durchgehend im Präteritum geschrieben ist, leicht als zusammenhängende Narration oder historische Beschreibung identifiziert werden. Selbst ein durchgehendes Layout als Textsortenmerkmal, z.- B. versweiser Zeilenumbruch als typisches Merkmal von Lyrik, Endreim sowie die häufige Wiederkehr bestimmter (Schlüssel-)Wörter, sogenannte Rekurrenz, sind Kohäsionsmittel. In Lehrwerken werden Konnektoren vor allem in Form von Konjunktionen unter grammatisch-semantischen Gesichtspunkten (als Einleiter unterschiedlicher Nebensatzarten) und ferner als Stilmittel (Nebensätze zur Vermeidung von Parataxe) besprochen. Das Thema Kohäsionsmittel wird damit etwas zersplittert und kaum in Beziehung zur Textkohärenz gebracht. 18 18 Deutsch plus 7 (2005: 123) fragt anhand eines Beispieltextes nach „Funktionen“ der Konjunktionen, nennt aber keine. Deutsch plus 7 (2005: 162) berücksichtigt unter „Satzverknüpfungen“ - also in einem anderen Kapitel als dem über Konjunktionen - Adverbien einschließlich Pronominaladverbien wie deshalb als Kohäsionsmittel (ohne den Terminus Kohäsion explizit einzuführen). Tandem 2 Deutsch (2004: 144) empfiehlt die Verwendung von Konjunktionen zur Vermeidung von Parataxe. Tandem 3 (2005: <?page no="61"?> 61 3.2 Kohäsion und wörtliche Bedeutung Übungen im Rahmen von Textverbesserungen, in denen zur reichlichen Verwendung von Kohäsionsmitteln aufgefordert wird, erscheinen sinnvoll - zum einen, um deren normgerechten lexikalischen bzw. grammatischen Gebrauch einzuüben (die Bedeutung von Konnektoren, richtige Tempusfolge usw.), aber auch und vor allem, um die logische Struktur fremder und eigener Schreibprodukte zu reflektieren. Es sollte also klar sein, dass es nicht (nur) um die Bedeutung von Konjunktionen, die Produktion komplexer Satzgefüge und die Kategorisierung von Nebensätzen geht, sondern um die Frage, welche Kohärenzrelationen in einem adressatengerechten Text durch Kohäsionsmittel explizit gemacht werden sollten und welche nicht. Lautet nämlich die Empfehlung, möglichst viele solcher Mittel zu verwenden, droht (wieder einmal) ein Konflikt zwischen schulischen Normen und natürlicher Sprachverwendung. Für letztere gilt ein Ökonomieprinzip, wonach Sprecher: innen und Schreiber: innen Informationen implizit lassen, von denen sie annehmen, dass ihre Adressaten sie bereits kennen oder durch eigenes Weltwissen erschließen können (→- 3.1.3). So werden einem die Äußerungen (30) und (31) vielleicht natürlicher vorkommen als die kohäsionsreicheren Versionen (30’) und (31’). Einen literarischen Text würde eine übermäßige Verwendung von Kohäsionsmitteln vielleicht auch seiner ästhetischen Qualität, seines Humors oder seiner Spannung berauben. So ist eine berühmte Zeile aus Goethes Faust (I, Szene 10, Mephistopheles zu Marthe) (33) Ihr Mann ist tot und lässt sie grüßen sicherlich wirkungsvoller als die kohäsive Version (33’) Ihr Mann hatte Sie noch grüßen lassen, bevor er gestorben ist. (vgl. die Beispiele in Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 84-89) Aus textlinguistischer Sicht ist daher empfehlenswert, Kohäsionsmittel als Teil des Themas Textkohärenz, Textsorte und Adressatenwissen zu besprechen und nicht als eine unverbundene Ansammlung grammatischer und stilistischer Phänomene. Implizites durch Kohäsion explizit zu machen, kann eine sinnvolle Strategie sowohl zum Verstehen schwieriger Texte als auch zur klareren Textproduktion sein; der Deutschunterricht sollte jedoch nicht suggerieren, dass maximale Kohäsion dem natürlichen Sprachgebrauch in allen Textsorten 116) ist ausführlicher bezüglich einer semantischen Zuordnung von Konjunktionen und logischen Satzverknüpfungen zwecks Kategorisierung von Nebensätzen. <?page no="62"?> 62 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn entspräche. Folgende Aufgabe führt aus unserer Sicht aus den ausgeführten Gründen nicht zum Ziel: (34) Schreibe den Beispieltext „Smartphones“ so um, dass möglichst viele Sätze zu Satzgefügen verknüpft werden. Smartphones kann sich heute fast jeder leisten. Diese Geräte sind sehr verbreitet. Jeder ist rund um die Uhr erreichbar. Die meisten wollen das eigentlich gar nicht. Wer ein Smartphone hat, der ist permanent online. Ich finde Smartphones gut. Ich kann damit mit meinen Freunden in Kontakt bleiben. In den Ferien schalte ich es einfach ab. Ich möchte auch mal meine Ruhe haben. Meine Freunde sind mir wichtig. Mein Leben ist mir mindestens genau so wichtig. Dieser Text liest sich holprig, weil er nur aus Hauptsätzen besteht. „Satzgefüge“ (Verknüpfungen aus Haupt- und Nebensatz) lesen sich meistens besser und sind oft besser verständlich. Eine Möglichkeit zur Verbindung von Haupt- und Nebensätzen sind Konjunktionen wie weil, wenn, obwohl, damit, dass (https: / / www.lehrerfreund.de/ medien/ deutschunterricht/ grammatik/ konjunktionen/ AB_saetze_verknuepfen_konjunktionen.pdf) 3.3 Textsinn Wenn Kohärenz wie in Abschnitt 3.1. beschrieben (auch) ein Ergebnis des Leseprozesses ist, muss man nach den Voraussetzungen seitens der Leser: innen fragen. Zurück zu unserem Beispieltext Sonntag: Die in Abschnitt 3.1.2 besprochenen möglichen Kohärenzprobleme verweisen teilweise auf die Hauptfrage, die sich wohl jede Leserin und jeder Leser stellen wird: War der Erzähler selbst der Vandale? Oder assoziiert er nur die zerstörte Haltestelle mit eigenen destruktiven Gedanken? Auf Kohärenzebene ist diese Frage aber nicht zu lösen. Hier zeigt sich, dass Kohärenzerzeugung durch Leserinnen und Leser nicht dasselbe ist wie Textverstehen im Sinne einer Interpretation des Textes - in der Textlinguistik „Textsinn“. Textsinn ist eine Vorstellung über kommunikative Absichten und die Relevanz eines Textes, die man beim Lesen aufgrund eigener Lebenserfahrungen, Wissensvoraussetzungen und spezifisch für die jeweilige Rezeptionssituation entwickelt. <?page no="63"?> 63 3.3 Textsinn Diese Definition ist auf literarische und nicht-literarische Texte anwendbar. In der Regel ist Textsinnerzeugung ein bewusster, kein automatischer Prozess. Die Unterscheidung von Kohärenz und Textsinn (Schwarz 2006) ist weder in der Textlinguistik noch in der Lesedidaktik Allgemeingut. Rosebrock/ Nix (2008: 19 f.), die sich implizit stark an textlinguistische Begrifflichkeiten anlehnen, erklären globale Kohärenz als „inhaltliche Gesamtvorstellung“ und als hierarchiehöheren Prozess, der „bewusste gedankliche Anstrengung“ erfordert. Während aber Kohärenzerzeugung wie in Abschnitt 3.1 gezeigt im ungestörten Falle ein unbewusster, automatischer Prozess ist, ist hier eine bewusste, reflektierende Tätigkeit gemeint, was dem oben skizzierten Konzept der Textsinnerzeugung entspricht. Rosebrocks und Nix’ Konzept der globalen Kohärenz, für das sie keinerlei linguistische Quellen nennen, scheint also sowohl Aspekte der automatischen Kohärenzerzeugung als auch der bewussten Textsinnerzeugung zu umfassen. Es ist klar, dass diese Vermischung völlig unterschiedlicher kognitiver Prozesse problematisch ist. Wir argumentieren aus folgenden Gründen für Textsinn als eigenständige Größe: 1. Der Textsinn wird auch ohne weitgehendes Verstehen der Kohärenzstruktur eines Textes verstanden, und auch Texten mit defizitärer Kohärenz kann man einen Textsinn zuschreiben. Umgekehrt ist eine perfekte, klare Kohärenzstruktur kein Garant für eine erfolgreiche Generierung von Textsinn. 2. Eine Gleichsetzung von Kohärenz und Textsinn bringt Probleme gerade für die Besprechung anspruchsvoller, voraussetzungsreicher Texte im Unterricht. Wenn Kohärenz als die höchste Stufe des Textverstehens angesehen wird, ist jedes Verstehensproblem mit einem anspruchsvollen Text ein Kohärenzproblem, ein Problem also, das sich mit entsprechender Lese-Erfahrung und Textkompetenz lösen lassen müsste (vgl. Consten/ Dambeck/ Steinäcker 2017: 94 f.). <?page no="64"?> 64 3 Kohäsion, Kohärenz, Textsinn (35) Leberecht Dreves: Sah ein Fürst ein Büchlein stehen (1. Strophe) Sah ein Fürst ein Büchlein stehn in des Ladens Ecken, nahm es rasch, es durchzusehn las es auch vorm Schlafengehn doch mit tausend Schrecken. Büchlein, Büchlein, Büchlein keck, aus des Ladens Ecken. (Zit. n. Robb, David/ John, Eckhard (Hg.) 2010). Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. www.liederlexikon.de) Auch eine vollständige Analyse der Kohärenz dieses Textes wird ein literarisches Verstehen nicht fördern können. Dazu ist text-externe Information erforderlich, nämlich Wissen um die intertextuellen Bezüge zu Goethes Gedicht Heidenröslein, dessen formaler Aufbau hier parodistisch übernommen wird. Manche Texte sind in dem Sinne schwierig, dass ihr Satzbau sehr hypotaktisch verschachtelt ist, andere dadurch, dass ihr Plot komplex ist, viele Referenzobjekte (in literarischen Texten Protagonisten) eingeführt werden oder es zeitliche Sprünge im Handlungsablauf gibt. 19 In solchen Fällen ist es sinnvoll, Schülerinnen und Schüler zu einem intensiveren, geduldigeren Lesen anzuhalten mit dem Versprechen, dass sich Verstehensprobleme dadurch lösen lassen. Im Falle des Textes (35) und aller anderen Texte, deren Schwierigkeit in text-externen Voraussetzungen liegt, wäre eine intensivere Beschäftigung mit dem Text selbst ohne weitere Informationen aber eine sinnlose Übung, die nichts zur Textsinnerzeugung beitragen und Schülerinnen und Schüler demotivieren würde. Zusammenfassend: Es bleibt somit festzuhalten, dass eine Unterscheidung von Kohärenz und Textsinn nicht nur theoretisch sinnvoll ist, um automatische und bewusste Prozesse zu unterscheiden. Sie ist vor allem unterrichtspraktisch erforderlich, um die Ursachen von Textschwierigkeit richtig zu bestimmen und angemessene Unterrichtsstrategien zu entwickeln, wie diese aufgelöst werden können. 19 Zum Thema Textschwierigkeit und den Ebenen, auf denen diese auftreten kann, vgl. Köster 2005 und Winkler 2013. Zur Rolle textueller und text-externer Informationen beim Textverstehen aus Sicht der Lesedidaktik vgl. Winkler 2011: 66. <?page no="65"?> 65 3.4 Weiterführende Literatur 3.4 Weiterführende Literatur Der Referenzbegriff und die Textweltmodell-Theorie werden erklärt in Schwarz-Friesel/ Consten (2014), Kap. 4.; Kohäsion und Kohärenz als wesentliche Eigenschaften von Texten dort im Kap. 5. Kognitionslinguistisch orientierte Annahmen und Modelle zum Textverstehen findet man in Schwarz (2008, Kap. 5). Consten/ Dambeck/ Steinäcker (2017) liefern im Abschnitt 3 weitere Argumente für eine Unterscheidung von Kohärenz und Textsinn. <?page no="67"?> 67 3.4 Weiterführende Literatur 4 Literarische Texte verstehen Die Textlinguistik beschäftigt sich genuin mit Sachtexten, nicht mit literarischen Texten, vielleicht um nicht in das Revier zu geraten, das die Literaturwissenschaft für sich abgesteckt hat. Nicht-literarische Texte machen im Schulalltag jedoch nur einen Teil der Texte aus, denen Schüler: innen begegnen. Laut KMK-Bildungsstandards soll im Deutschunterricht nicht nur eine Auseinandersetzung mit Sachtexten 20 stattfinden, sondern auch mit „literarischen Texten“ wie auch grundsätzlich mit „Texten unterschiedlicher medialer Form und Theaterinszenierungen“ (KMK 2012: 9). In diesem Kapitel geht es nicht nur darum herauszufinden, inwiefern die Standards diese Textgruppen voneinander abgrenzen oder ob dies überhaupt möglich ist. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern die Textlinguistik mit ihren bisher vorgestellten Konzepten dazu beitragen kann, literarische Texte zu verstehen. Wir sehen hier ein großes Potenzial, das wir anhand des Kurzprosatextes Sonntag aufzeigen möchten. Dazu wird zunächst geklärt, was das Verstehen literarischer Texte ausmacht und inwiefern es sich vom Verstehen von Sachtexten unterscheidet. Literaturwissenschaftliche Probleme sollen umschifft werden, wobei die Frage nach der Unterscheidung von Verstehen und Interpretieren nicht ganz auszuklammern ist. Einen sicheren Hafen bietet hier die in Abschnitt 3.3 erläuterte Differenzierung von Kohärenz und Textsinn. Neben dem bereits bekannten Beschreibungsinstrumentarium führen wir in Abschnitt 4.6 Emotionalisierung als Terminus ein, um der Spezifik literarischer Texte an der Schnittstelle von Textlinguistik, Literaturwissenschaft und Didaktik gerecht zu werden. Somit werden auch die Grenzen der Textlinguistik für den Literaturunterricht in diesem Kapitel ausgelotet. 20 In Anlehnung an unsere Ausführungen in Kapitel 2.1 verwenden wir im Verlauf nicht den Ausdruck der KMK-Standards pragmatische Texte, sondern Sachtexte. Wir folgen damit der Terminologie diverser Lehrbücher. <?page no="68"?> 68 4 Literarische Texte verstehen 4.1 Ausgangssituation: Kompetenzorientierte Bildungsstandards ohne literarische Kompetenz Da die KMK-Standards eine Auseinandersetzung mit literarischen Texten verlangen, erscheint es naheliegend, dort nach weiteren Ausführungen zu schauen, was das im Detail heißt. Die Auseinandersetzung beinhaltet schon auf grundlegendem Niveau eine Analyse von „Inhalt, Aufbau und sprachliche[r] Gestaltung“ und damit verbunden eine Beschreibung des Zusammenspiels von Form und Inhalt. Schüler: innen sollen in der Oberstufe über die Fähigkeit verfügen, „eigenständig ein Textverständnis [zu] formulieren“ sowie ihr „Textverständnis argumentativ durch gattungspoetologische und literaturgeschichtliche Kenntnisse über die Literaturepochen von der Aufklärung bis zur Gegenwart [zu] stützen“ und zu anderen Texten aus verschiedenen Zeiten ins Verhältnis zu setzen (KMK 2012: 18). All diese Anforderungen setzen bereits ein Verstehen der Texte voraus, sie sind auf Integration bzw. Vergleich und damit auch Reflexion angelegt. Das Verstehen selbst scheint nicht erklärungsbedürftig. Es wird mit dem Erschließen gleichgesetzt. Lediglich die konsequente Unterscheidung von literarischen Texten und Sachtexten sowie der kurze Verweis auf die Ästhetik als besonderes Gestaltungsprinzip literarischer Text legt nahe, dass die Standards von einer Spezifik des Verstehens literarischer Texte ausgehen: „Die Schülerinnen und Schüler erschließen sich literarische Texte von der Aufklärung bis zur Gegenwart und verstehen das Ästhetische als eine spezifische Weise der Wahrnehmung, der Gestaltung und der Erkenntnis.“ (KMK 2012: 18) Die kompetenzorientierten Standards erwähnen keine literarische Kompetenz, die es auszubilden gäbe. Für den mittleren Schulabschluss ist lediglich von einer „Verstehens- und Verständigungskompetenz“ in Hinblick auf Literatur die Rede (KMK 2003: 7), die allerdings auch nicht definiert wird. Es stellt sich die Frage, warum literarische Kompetenz als Konzept in den Standards fehlt, wenn doch von einer Spezifik literarischer Texte in Abgrenzung zu Sachtexten ausgegangen wird. Denkbar ist einerseits, dass die Texte sich zwar unterscheiden, die Abläufe im Kopf und der damit verbundene Verstehensprozess jedoch gleich sind. In diesem Fall gäbe es schlichtweg keine spezifisch literarische Verstehenskompetenz. Andererseits meint Kompetenz im Sinne Weinerts (2014: 27) eine empirisch überprüfbare „Fähigkeit und Fertigkeit“, Probleme zu lösen, sowie auch die Bereitschaft, dies zu tun. Denkbar ist folglich ebenso, dass das Problem nicht <?page no="69"?> 69 4.2 Ein literaturdidaktischer Kompromiss im Bereich der Konzeption literarischer Kompetenz liegt, sondern der Testung, was auch zu einem Ausklammern in den Standards führen könnte. Gehen wir beiden Hypothesen aus textlinguistischer, aber auch literaturwissenschaftlicher und literaturdidaktischer Sicht nach. Schließlich resultiert daraus die Antwort, ob es so etwas wie eine spezifische literarische Kompetenz gibt und inwiefern Lehrkräfte diese ausbilden können. 4.2 Ein literaturdidaktischer Kompromiss: Literarisches Verstehen statt literarische Kompetenz „Es gibt eine allgemeinbildende literaturbezogene Kompetenz […] und es ist die entscheidende Aufgabe des Deutschunterrichts, diese Kompetenz zu vermitteln. […] Der Deutschunterricht wird dieser Aufgabe viel weniger gerecht, als er könnte, weil er selbst keine explizite Vorstellung dieser allgemeinbildenden Literaturkompetenz entwickelt […].“ (Matuschek 2012: 64) Aus literaturwissenschaftlicher Sicht scheint die Antwort auf die Frage nach der Existenz einer spezifischen literarischen Kompetenz klar zu sein. Der Argumentation Matuscheks folgend bedürfen literarische Texte eines besonderen Umgangs, dessen Beherrschung literarisch kompetente Leser: innen ausmacht. Wer in der Lage sei, Literatur als Angebot „sprachlicher Simulation von Lebenswelten“ anzunehmen und sich darüber klar zu werden, worin dieses Angebot jeweils bestehe, der verfüge über eine „allgemeinbildende literaturbezogene Kompetenz“ (Matuschek 2012: 68). Nähern wir uns textseitig dem an, was prototypische literarische Texte im Kern ausmacht, überzeugen literaturwissenschaftliche Positionen wie die Matuscheks. 21 Sie liefern jedoch keine Antwort darauf, inwiefern eine empirisch überprüfbare literarische Kompetenz modellierbar ist. Darüber herrscht in der Literaturdidaktik große Uneinigkeit (vgl. Kirmse/ Matz 2018). Entsprechend wird im Verlauf auf den Terminus literarische Kompetenz zugunsten des Terminus literarisches Verstehen verzichtet. 21 Zur differenzierteren Beschreibung textseitiger Merkmale literarischer Texte siehe Kapitel 4.5. <?page no="70"?> 70 4 Literarische Texte verstehen Literarisches Verstehen meint insofern ein spezifisches Verstehen, als ästhetische Komponenten eines Textes (z. B. Metaphern) beim Elaborieren des Textes, also beim Aufbau eines Textweltmodells, berücksichtigt werden. Zabka (2016) spricht folglich sogar von „literarästhetischem Verstehen“. Wie dieses Verstehen kognitionspsychologisch abläuft, lässt sich gegenwärtig nicht sicher sagen. Hier gibt es einen großen Forschungsbedarf: Die empirische Leseforschung aber hat die Konstruktion ästhetischer Textinformation bisher kaum untersucht, weil ihr dieser Gegenstand für empirisch gesicherte Aussagen noch zu komplex ist. So beschäftigt sie sich hauptsächlich mit dem Verstehen der dargestellten Situationen, Ereignisse und menschlichen Handlungen in narrativen Texten, nicht aber mit dem Verstehen von ästhetischen Qualitäten dieser Texte (Grzesik 2005: 316). 4.3 Das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren Aus Sicht der KMK-Standards besteht die Spezifik literarischer Texte darin, dass sie mehrdeutig und somit interpretationsbedürftig seien (KMK 2012: 19). Folglich muss an dieser Stelle geklärt werden, was Interpretieren meint, wie sich das Verhältnis von Interpretation und Textverstehen bei literarischen Texten beschreiben lässt und inwiefern die Textlinguistik einen Beitrag zum Interpretieren im Deutschunterricht leisten kann. Schauen wir zuerst, was die Standards selbst über das Interpretieren verraten. Die Interpretation als Aufgabenart erscheint in den Standards als einzige spezifische Möglichkeit der Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Alle anderen mit Erschließung verbundenen Anforderungen werden in den Bildungsstandards sowohl an literarische Texte als auch an Sachtexte herangetragen. 22 Der besondere Stellenwert der Interpretation ergibt sich aus der Annahme, literarische Texte seien typischer Weise mehrdeutig. Ziel der Interpretation ist es laut KMK, ein eigenständiges Textverständnis dieser Gegenstände „zu entfalten und textnah sowie plausibel zu begründen“, wobei eine „bloße Paraphrasierung des Textes oder ein distanzloser Umgang mit dem Text“ den Anforderungen der Aufgabenart nicht entspricht (KMK 2012: 24). 22 So findet sich neben dem „Erschließen“ für beide Textarten das „Analysieren“ und „Bewerten“ (KMK 2012) und als Aufgabenart des textbezogenen Schreibens die „Erörterung“ (KMK 2012: 24). <?page no="71"?> 71 4.3 Das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren Die Herausforderung des Interpretierens resultiert gemäß dieser Beschreibung aus den Merkmalen der literarischen Texte. 23 Schon hier sei darauf hingewiesen, dass Schwierigkeiten beim Interpretieren oder auch Textverstehen im Zusammenspiel von Leser- und Textmerkmalen zu suchen sind. Um textseitigen Anforderungen gerecht zu werden, fordern die KMK, Inhalt, Aufbau und sprachliche Darstellung der Texte zu analysieren und in ihren „Bezügen und Abhängigkeiten“ zu erfassen und zu deuten (ebd.). Wie genau dies funktioniert, in welchem Verhältnis also Verstehen, Analysieren und Deuten stehen, wird nicht klar. Deutlich ist nur die Anforderung, literarische Texte anders als Sachtexte zu behandeln, sprich sie als ästhetisch geformte Texte wahrzunehmen und sie zu interpretieren. Einerseits soll die Interpretation also zum Textverstehen beitragen, andererseits geht sie jedoch über dieses hinaus. Inwiefern dem Interpretieren ein Verstehen vorausgeht oder Verstehen Teil des Interpretierens ist, wird im Verlauf dieses Kapitels diskutiert. Übrigens galt Verstehen im Kontext von Logik und Hermeneutik nicht als eigenständiger Begriff, sondern wurde im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Konzept der Interpretation betrachtet. Verstehen im Sinne der Hermeneutik des 17./ 18.-Jahrhunderts meinte entsprechend genau das, was von Schüler: innen und auch teilweise von Studierenden heute als Interpretation verstanden wird, nämlich die vermeintlichen Gedanken eines Autors zu erkennen (Teichert 2010: 776). Aus heutiger literaturwissenschaftlicher Perspektive verstellt die Frage, was der Autor uns mit einem Text sagen wollte, den Blick auf diesen eher als zum Verstehen beizutragen. So moniert Matuschek (2012: 65), literarische Texte gerieten so zu einer Art „Rätselaufgabe des Verstehens“, die es zu knacken gälte. Eine solche „Nussknackerhermeneutik“ führe letztendlich zu beliebigen Assoziationen, die es mit einer scheinbar objektiven Analyse beim schulischen Interpretieren zu verbinden gelte. Um passende Arbeitsdefinitionen für den Deutschunterricht zu finden, erscheint es durchaus bereichernd, einen Blick auf literaturwissenschaftliche Theorien zu werfen. Doch lassen sie sich nicht eins zu eins auf den Deutschunterricht übertragen. Das Interpretieren im schulischen Kontext sollte von dem im universitären Kontext schon allein deshalb abgegrenzt werden, weil am Ende schulischer Interpretationsbemühungen oft der Interpretationsauf- 23 Um die Beschreibung spezifischer Merkmale literarischer Texte wie beispielsweise Mehrdeutigkeit geht es hauptsächlich in Kapitel 4.5.2. <?page no="72"?> 72 4 Literarische Texte verstehen satz als schriftliche Prüfungsleistung steht. Führen wir uns den Kontext des Interpretierens im Deutschunterricht vor Augen, wird klar, dass es im Literaturunterricht nicht das Interpretieren gibt, sondern eigentlich drei Arten von Interpretation: 1. die Interpretation als Aufsatz und damit schulspezifische Textsorte 2. die Interpretation als individueller mentaler Prozess der Zuweisung von Textsinn 3. die Interpretation als Aushandlung verschiedener Möglichkeiten der Zuweisung von Textsinn in literarischen Gesprächen Dem schulischen Interpretationsaufsatz gehen individuelle Verstehenshandlungen voraus, begleiten den Schreibprozess und wirken sich entsprechend auf das Schreibprodukt aus. In der Lernsituation wird der individuelle Verstehensprozess oftmals von Gesprächen über den Text und vorbereitenden Aufgaben angeregt, gesteuert oder auch im Nachgang reflektiert. In Bezug auf das Interpretieren im Deutschunterricht sollten wir folglich zwischen ablaufenden mentalen Prozessen, (schrift)sprachlichen Handlungen und (Zwischen)produkten unterscheiden, wenn wir nach dem Verhältnis von Interpretieren und Verstehen fragen. Uns interessiert zunächst der mentale Prozess des Interpretierens, weil dieser wie der Verstehensprozess beim Lesen eines literarischen Textes stattfindet, ohne dass er zwingend, initiiert durch Aufgaben, auf ein normativ bestimmtes Produkt wie einen Interpretationsaufsatz angelegt ist. Für die Beschreibung eines solchen Leseprozesses, wie er auch außerhalb des Deutschunterrichts stattfinden kann, bietet die Textlinguistik Konzepte, auf die der Literaturunterricht zumindest modifiziert zurückgreifen kann. Wann interpretieren wir aus textlinguistischer Sicht und inwiefern ist das ein anderer mentaler Prozess als das Textverstehen? Ausgehend davon, dass wir die Wörter und Sätze eines Textes immer mit unserem Vorwissen in Verbindung bringen, um ein mentales Textmodell zu etablieren, wäre es vertretbar zu behaupten, dass wir stets interpretieren. Auch beim Lesen eines Sachtextes ziehen wir Inferenzen, Schlussfolgerungen aufgrund unseres Erfahrungswissens, um aus der unterspezifizierten Textbasis ein Textweltmodell zu genieren. Ein so weiter Interpretationsbegriff erscheint uns jedoch wenig zielführend für den Schulkontext. Er berücksichtigt textseitige Anforderungen und Spezifika literarischer Texte nicht, auf denen die Existenz des Interpretationsaufsatzes und letztendlich der gesamte Literaturunterricht fußt. Entscheidend ist, wann <?page no="73"?> 73 4.3 Das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren eine explizite Interpretationsleistung erforderlich wird, und diese resultiert aus spezifischen Merkmalen literarischer Texte. Die weite Definition des Interpretierens ist jedoch insofern gewinnbringend, als sie eine Grunderkenntnis dieses Kapitels offenlegt. Sie schärft nämlich den Blick darauf, was Textverstehen grundsätzlich ist und mit welchen Anforderungen an unsere Schülerinnen und Schüler es verbunden ist. Schlussfolgerung: Einen Text, egal ob literarisch oder nicht, zu verstehen heißt, Wörtern und Sätzen Bedeutung zuzuschreiben und aus der Anreicherung der Textbasis mit Vorwissen Informationen zu generieren. Informationen sind nichts objektiv aus dem Text Ermittelbares, wie es typische Aufgaben zum Textverstehen suggerieren mögen. Es braucht immer Vorwissen, um mit Unterspezifikationen umzugehen und Inferenzen ziehen zu können. Der große Mehrwert, wenn wir Textverstehen als Kohärenzetablierung begreifen, besteht darin, dass wir uns sowohl der Subjektivität als auch der Konstruktivität des Prozesses bewusstwerden (→ 3). Textverstehen gelingt, wenn jedes neue Stück Text plausibel in ein bereits bestehendes Textweltmodell integriert werden kann. Wenn wir die Spezifik literarischer Texte im Blick behalten, dann heißt das auch, dass in dieses Textweltmodell ästhetische Qualitäten des Textes Eingang finden müssen. Literarisches Verstehen umfasst die Prozesse der Kohärenzetablierung, die auch beim Verstehen eines Sachtextes eine Rolle spielen, unter Einbezug ästhetischer Textkomponenten. Wir stehen dabei vor dem Problem, dass die Art im literarischen Text, wie etwas gesagt wird, das, was gesagt wird, formt. Doch stoßen wir bei der Frage, wie beispielsweise eine Metapher in das Textweltmodell integrierbar ist, an unsere Grenzen. Das liegt nicht nur an mangelnden empirischen Befunden, sondern auch daran, dass es sehr unterschiedliche Arten von Metaphern gibt. Nicht jede Metapher lässt sich eindeutig auflösen, funktioniert also bildanalog und ist uns aus unserem Alltag bekannt, wie „der Fuß des Berges“ als unterer Teil eines Berges. Am Beispiel dieser Metapher aus dem Alltagsbereich wird deutlich, dass wir es bei Metaphorik mit einem Stilmittel zu tun haben, das sich auch außerhalb literarischer Texte findet. Auch wenn Metaphorik als typisches Stilmittel literarischer Texte gilt, so begegnet sie uns doch oft in Sachtexten, beispielsweise <?page no="74"?> 74 4 Literarische Texte verstehen in politischer Sprache, wenn vom Rettungsschirm, der Flüchtlingswelle oder auch Finanzspritzen die Rede ist. Möchte ein Leser oder eine Leserin grünes Feuer in (36) angemessen verstehen, ist dies vermutlich schwieriger, weil die Bedeutung der Metapher erst aus dem Kontext des Gedichts konstruiert werden muss: Bereits das Wissen darüber, dass es sich bei dem Text um ein Gedicht handelt, aktiviert vielleicht die Erwartung, dass wir es nicht mit einer Flamme zu tun haben, die sich durch das Verbrennen von Kupfer grün färbt, sondern eben mit einer Metapher. (36) Georg Britting: Feuerwoge jeder Hügel Grünes Feuer jeder Strauch,-/ Rührt der Wind die Flammenflügel, Wölkt der Staub wie goldner Rauch.-/ […] Blüten schwelen an den Zweigen.-/ Rüttle dran! Die Funken steigen Wirbelnd in den blauen Raum-/ Feuerwerk ein jeder Baum! (zit.n. Gajek, Bernhard/ Schmitz, Walter (Hg.), 1993, Georg Britting. Regensburg: Buchverlag der Mittelbayerischen Zeitung.) Nachdem wir als geübte Leserinnen und Leser die erste Strophe kennengelernt haben, können wir eine Vorstellung von der Szenerie des grünen Feuers entwickeln. Auch wenn das Bild, das in unseren Köpfen entsteht, vermutlich nicht bei allen Rezipienten das gleiche ist, haben wir vermutlich keine brennende Landschaft vor Augen. Den Ausdruck grünes Feuer wörtlich zu verstehen, erscheint spätestens mit Strophe drei wenig plausibel. Dort ist von vollen Blüten die Rede, die sich durch Bewegung vom Baum lösen. Unser Wissen um die Entwicklung der Bäume in den Jahreszeiten lässt uns die Inferenz ziehen, dass das Feuerwerk aus bunten Blütenblättern bestehen könnte, die im Sommer durch die Luft wirbeln wie Funken, wenn der Wind ins Feuer bläst. Es gibt kein Indiz im Text, das dafür spräche, dass ein unbekannter Agens ein Feuerwerk zwischen den Bäumen gezündet hätte. Grammatisch findet sich kein Konnektor zwischen der Aufforderung an den Zweigen zu rütteln und den aufsteigenden Funken. Und doch erkennen wir eine Kausalität zwischen der Bewegung eines verblühenden Zweiges und Blüten, die durch diese Bewegung aufwirbeln. Nun stellt sich die spannende Frage, ob das, was in der Auseinandersetzung mit Brittings Gedicht eben in unseren Köpfen passiert ist, mentale Handlungen des Textverstehens oder des Interpretierens waren. Schließlich resultiert daraus die Frage, welche Rückmeldung für einen Schüler angemessen wäre, der folgende Äußerungen während der Rezeption des Textes macht: <?page no="75"?> 75 4.3 Das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren (37) <<vorlesend>grünes feuer jeder strau: ch,> (1.0) äh=das _is wieder das mit dem grünen feuer, dass_es ja jetz eigentlich so nich gibt, das is halt is vielleicht irgendwie in der chemie wenn da-1).och andere stoffe mit im spiel sind, ((atmet ein)) drum denk_ich mal dass das grüne vielleicht sich doch etwas mehr noch auf den STRAUch beziehtdass der strauch halt grün war- und jetzt durch das feuer zerSTÖRT wirdwas vielleicht dann so wirkt als wär das feuer grünwas ja eigentlich nicht wirklich sein kann-(8.0) [Schüler, 9. Klasse, Gymnasium] (Lessing-Sattari/ Wieser 2016: 138) 24 Unserer Meinung nach liegt die Herausforderung, die der metaphernreiche Text mit sich bringt, auf der Ebene des Textverstehens. Dort liegen die Schwierigkeiten, die sich bei der Lektüre des Schülers zeigen. Er hält nicht inne, sondern löst seine Irritation, dass es so etwas wie grünes Feuer eigentlich nicht gebe, unabhängig vom Text mit Wissen aus der Chemie zu grünen Flammen auf. Textlinguistisch betrachtet hätte unser Beispielsschüler aber durchaus die Möglichkeit, die einzelnen Textteile eindeutig in sein Textweltmodell zu integrieren. Dass dies vielleicht nicht spontan passiert und mit Anstrengung verbunden ist, liegt daran, dass die Metaphern im Gedicht weder lexikalisiert noch konventionalisiert sind. Auch wenn der Text potenziell irritierend ist, ist er nicht inkohärent. Zu Beginn des Rezeptionsprozesses erscheint die Hypothese des Schülers durchaus legitim, spätestens mit der dritten Strophe wird die wörtliche Lesart jedoch unplausibel. Formen von Indirektheit mögen immer einen Gestaltungsfreiraum in der konkreten Vorstellung bieten, ihre Existenz führt jedoch nicht dazu, dass das Erkennen ihrer nicht-wörtlichen Bedeutung bereits Teil der Interpretation ist. Die Fragen, welche Funktionen die Metaphern für 24 Lessing-Sattari und Wieser (2016) arbeiten mit Schülerdaten, die mit der Methode des Lauten Denkens erhoben wurden. Mit ursprünglich aus der Problemlöseforschung Anfang des 20.- Jahrhunderts stammenden Lautdenkprotokollen versuchen Literaturdidaktiker mentale Handlungen beim (literarischen) Lesen zu rekonstruieren (Konrad 2010). Leser: innen werden gebeten, während oder nach der abschnittsweisen Lektüre eines Textes zu artikulieren, was ihnen beim Lesen durch den Kopf geht. Die Grenzen der Methode schwingen bereits in der Bezeichnung mit - Was Forscher: innen von den Versuchspersonen hören können, sind keine mentalen Prozesse, sondern nur Verbalisierungen dessen, was den Studienteilnehmer: innen bewusst ist. Eine ausführliche Schilderung der Vorteile und Nachteile dieser Methode in der Deutschdidaktik findet sich bei Stark 2010. <?page no="76"?> 76 4 Literarische Texte verstehen den Text haben und wie sie auf mich als Leser oder Leserin wirken, liegen auf Interpretationsebene, der Einbezug der Metaphern als Formen des ‚uneigentlichen Sprechens‘ in das Textweltmodell betrifft jedoch die Verstehensebene. 25 Interpretieren als mentale Handlung umfasst die Reflexion über Textteile, deren Funktion für den Sinn des Gesamttextes sich aufgrund textseitiger Eigenschaften nicht mehr oder nicht mehr eindeutig zuweisen lässt. Ausgehend davon, dass das Erzählte kohärent ist, also zumindest innerhalb der fiktionalen Welt in sich schlüssig, bemühen sich die Interpreten zumeist bewusst um Zuschreibung eines Textsinns. Wie in Abschnitt 3.3 erläutert, stellen Leserinnen und Leser beim Interpretieren Überlegungen dazu an, welche kommunikativen Absichten mit einem Text verbunden sind und welche Relevanz der Text für die eigene Lebenswelt hat. Mag die Frage, was der Autor uns mit einem Text sagen möchte, aus literaturwissenschaftlicher Sicht verpönt sein, so zeigt sie doch Interpretationsbemühungen. Entscheidend ist jedoch, dass Leserinnen und Leser nicht ins Rätselraten verfallen, sondern sich darauf konzentrieren, was die Textbasis nahelegt und wie etwas im Text gesagt oder eben nicht gesagt wird. 25 Dass das Verstehen von „Feuerwoge jeder Hügel“ herausfordernd ist, zeigen die Laut- Denk-Daten von Lessing-Sattari und Wieser (2016). Bei der Einordnung der Aussagen von Schülerinnen und Schülern aus Klasse 6 und 9 ist jedoch die spezifische Situation der Textbegegnung zu beachten. Wenn Lesende während der Lektüre kommentieren sollen, was sie denken, verlangsamt und lenkt das natürlich den Leseprozess unweigerlich. Schlussfolgerung: Interpretieren setzt somit Textverstehen voraus, weil Rezipienten erkennen müssen, wo Kohärenzetablierung nicht mehr eindeutig möglich ist oder gar scheitert. Denken Leserinnen und Leser über eine Interpretationsfrage nach, wie zum Beispiel darüber, ob der Junge auf dem Fahrrad in der Kurzgeschichte Sonntag der Vandale war oder nicht (→ 3.1), wird ein sonst automatisch ablaufender Verstehensprozess verlangsamt oder zeitweise gestoppt. Nun kann dieses Innehalten natürlich aus ganz verschiedenen Gründen der Fall sein. Auch bei der Lektüre eines Sachtextes kann der Verstehensprozess ins Stocken geraten, beispielsweise aufgrund fehlender Vorkenntnisse <?page no="77"?> 77 4.4 Merkmale des Textes und Anforderungen an Leser: innen 4.4 Merkmale des Textes und Anforderungen an Leser: innen Ausgehend davon, dass Verstehen und Interpretieren eines literarischen Textes zwar nicht dasselbe sind, aber beide auf Kohärenzetablierung fußen, gibt es aus textlinguistischer Sicht überhaupt keinen Zweifel daran, dass bei diesen Prozessen Merkmale eines Lesers oder einer Leserin mit Textmerkmalen interagieren. Ein Blick in die Lehrwerke macht jedoch deutlich, dass diese Erkenntnis zwar den Weg in die Literaturdidaktik, aber nicht zwingend in die Unterrichtsmaterialien gefunden hat. Wir wollen an dieser Stelle nicht nur den Blick für entsprechende Aufgabenstellungen schärfen, sondern auch Anregungen dafür geben, warum und wie die ablaufenden Prozesse für Schülerinnen und Schüler transparent gemacht werden können. Dies lagern wir den Möglichkeiten zur Beschreibung text- und leserseitiger Anforderungen vor. Zunächst fällt beim Blick in die Lehrwerke auf, dass dem Interpretieren zwar spätestens in der Oberstufe viel Raum zukommt, um auf den Interpretationsaufsatz als Prüfungsleistung in Abitur und auch Realschulprüfung vorzubereiten, das Textverstehen jedoch kaum Erwähnung findet. Es scheint schlichtweg selbstverständlich zu sein und eben nicht der Anleitung zu bedürfen. Entsprechend wenig fündig wird man beim Blick in die Stichwortverzeichnisse auf der Suche nach dem Schlagwort Textverstehen. Es könnte aber durchaus hilfreich sein, Schülerinnen und Schülern zu erläutern, was beim Textverstehen passiert, wenn sie einen Text lesen und verstehen sollen. Für unsere Studierenden nutzen wir in der Einführung in die Fachdidaktik dafür folgende Abbildung, die wiederum auf dem Mehrebenenmodell der Lesekompetenz von Rosebrock/ Nix (2017) fußt: zu einem Thema. Uns interessiert im Verlauf jedoch das Zusammenspiel aus leserseitigen und textseitigen Merkmalen bei der Rezeption literarischer Texte, aus denen Verstehens- und Interpretationsanforderungen resultieren können. Nur wenn wir uns darüber bewusst werden, können wir Verstehen und Interpretieren über Aufgaben gezielt fördern. Zum jetzigen Zeitpunkt sollte jedoch schon klar geworden sein, dass das Verstehen literarischer Texte oftmals genauso der Unterstützung durch Aufgaben bedarf wie das Interpretieren. <?page no="78"?> 78 4 Literarische Texte verstehen Leser (Vorwissen, Leseziele) Text (Propositionen) Hierarchiehohe Teilprozesse (globale Kohärenzetablierung, Erkennen von Superstrukturen und Darstellungsstrategien) Hierarchieniedrige Teilprozesse (Worterkennung, lokale Kohärenzetablierung) Wissensgesteuerte Prozesse (top down) Datengesteuerte Prozesse (bottom up) Abb. 4: Kognitive Prozesse beim Textverstehen: Mit textlinguistischen Termini modifizierte Übersicht aus Köster/ Winkler (2015: 121) Dass Studierende des Lehramts Deutsch wissen sollten, was beim Lesen bzw. Verstehen eines Textes passiert, ist unstrittig, wenn sie später Schülerinnen und Schüler kompetent anleiten und beurteilen sollen. Doch warum könnte dieses Wissen relevant für Schülerinnen und Schüler sein? Wenn sich Lerner darüber klar werden, dass jeder andere Bilder beim Lesen einer Geschichte im Kopf hat, weil das Vorwissen eine erhebliche Rolle bei der Vorstellungsbildung spielt (vgl Spinner 2006), können Schülerinnen und Schüler sicher nicht nur die Harry-Potter-Filme mehr genießen, sie erkennen vielleicht auch grundlegend die Bedeutung des Vorwissens für das Textverstehen. Einerseits können Lernerinnen und Lerner auf motivationaler Ebene davon profitieren, wenn sie wissen, dass Textverstehen nicht nur über genaues Lesen, sondern auch über Anreicherung des Vorwissens verbesserbar ist, und andererseits können sie Wege aus der Misere des Nichtverstehens finden. Sie können lernen, ihren eigenen Verstehensprozess zu überwachen, zu reflektieren und entsprechende Strategien wie das Hinzuziehen von Lexika anzuwenden, wenn sie merken, dass sie etwas nicht verstanden haben. In Bezug auf literarische Texte kann entsprechendes metakognitives Wissen hilfreich sein, um eigene Wertungen zu reflektieren. Vielleicht ist der Text daraufhin angelegt, dass Aspekte unverständlich erscheinen. Liegt das Nichtverstehen im eigenen <?page no="79"?> 79 4.4 Merkmale des Textes und Anforderungen an Leser: innen Vorwissen oder ist der Text erheblich unterspezifiziert? Erscheint mir eine Figur vielleicht nur deshalb unsympathisch, weil ihre Erfahrungswelt mir vollkommen fremd ist oder die Erzählperspektive mir nicht genügend Einblick in die Innenwelt der Figur gewährt? Diese Überlegungen führen uns schon wieder an die Schnittstelle zur Interpretation, aber sie fußen auf metakognitivem Wissen zum Textverstehen. Wie ist die Einsicht in diese Prozesse erreichbar? Denkbar sind einfache Experimente wie das Lesen von Wörtern mit verdrehten Buchstaben, um zu zeigen, dass bekannte Wörter nicht Buchstabe für Buchstabe gelesen werden, sondern als Einträge im mentalen Lexikon hinterlegt sind: (38) Nüatrilch vretseehn Sei deesin Staz. Um die Bedeutung des Vorwissens auf Satzbzw. Textebene zu zeigen, kann die Methode des „Lauten Denkens“ 26 verwendet werden. Ziel der introspektiven Erhebungsmethode aus der Problemlöseforschung sind Erkenntnisse über den Verarbeitungsprozess, der zu mentalen Repräsentationen führt. Diese sollen durch Einblicke in die Gedanken, Gefühle und Absichten denkender Personen ermöglicht werden. In der Forschung werden Probandinnen oder Probanden gebeten ihre Gedanken auszusprechen, während sie Aufgaben lösen. Adaptiert als Unterrichtsmethode wäre es vorstellbar, Schülerinnen und Schüler einen Text abschnittsweise vorlesen und nach jedem Abschnitt ihre Gedanken formulieren zu lassen. Im Plenum ist das kleine Experiment auch schriftlich möglich. Mit folgendem Text können Lehrende ihren Schülerinnen und Schülern gut veranschaulichen, wie nach und nach aus Wörtern, Sätzen und Vorwissen ein Textweltmodell entsteht: (39) Abschnitt 1: Paul war auf dem Weg zur Schule. Abschnitt 2: Er machte sich Sorgen wegen der Mathearbeit. Abschnitt 3: Er hatte Angst, die Klasse nicht unter Kontrolle kriegen zu können. Das Beispiel zeigt auch, was gerade im Umgang mit literarischen Texten wichtig ist: Die Fähigkeit, Verstehenshypothesen zu verändern. Wir erfahren im letzten Satz des Beispiels, dass Paul ein besorgter Mathelehrer und kein Schüler ist. Da 26 Die Bezeichnung ist dahingehend irreführend, als es natürlich nicht möglich ist, tatsächlich laut zu denken. Was versprachlicht wird, kann bestenfalls als Annäherung an bewusste Denkprozesse gewertet werden. Vgl. Fußnote 24. <?page no="80"?> 80 4 Literarische Texte verstehen die meisten Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrerinnen und Lehrern mit Nachnamen sprechen und Ängste vor Arbeiten vermeintlich eher ihren Alltag als den der Lehrer prägen, erscheint es jedoch im ersten Satz plausibel, dass wir es mit einem Schüler als Referenten zu tun haben. Diese Hypothese müssen wir erst beim letzten Satz revidieren. Nun ist es jedoch nicht so, dass das Verstehen von Sachtexten und literarischen Texten in Lehrwerken gar keine Rolle spielt. Gerade für die Sekundarstufe I gibt es diverse Aufgaben und Merkkästen, die Lernende beim Textverstehen implizit unterstützen sollen. Eine Methode der Texterschließung stellt dabei die Einteilung des Textes in Abschnitte dar. P.A.U.L.D. für Klasse 5 leitet dazu unter der Überschrift „Einen Text gliedern“ nach der Präsentation von Sabine Dillnes Erzählung Kein normaler Schultag mit einem Merkkasten folgendermaßen an: (40) Wenn du dir einen Überblick über einen Text verschaffen willst, kannst du ihn gliedern. Das bedeutet: Du teilst den Text in Abschnitte ein. Einen neuen Abschnitt kannst du zum Beispiel festlegen, Wenn etwas Neues geschieht, Wenn der Ort des Geschehens wechselt Wenn sich die Zeit ändert, Oder wenn neue Personen auftreten. Fasse den Inhalt des jeweiligen Abschnitts mit einem Satz oder stichwortartig zusammen. Schreibe vor diese Informationen die Zeilen des Abschnitts. […] Achte darauf, dass du nicht zu viele Gliederungspunkte aufschreibst, da dann die Übersichtlichkeit verloren geht. (Bartoldus 2013: 37) Abgesehen davon, dass die Spezifik literarischen Verstehens ausgeblendet wird, wollen die Verfasser: innen der Lehrbücher mit der Methode offenbar die globale Kohärenzetablierung unterstützen („Überblick“), indem zunächst lokale Kohärenz gefördert werden soll. Allerdings versuchen Leserinnen und Leser vom Beginn des Leseprozesses an globale Kohärenz zu etablieren. Sie setzen dazu beispielsweise die Überschrift eines Textes mit ihrem Vorwissen in Verbindung. Der Merkkasten zur Abschnittsbildung blendet das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler allerdings aus. Im Grunde genommen steht hinter den Markern für einen neuen Abschnitt die Idee, ein Rhema von einem Thema zu unterscheiden (→-3.1.1). Dieser Ansatz mag durchaus hilfreich für die Herstellung lokaler Sinnzusammenhänge sein, führt jedoch nicht automatisch zu einem Überblick über den Text. Abgesehen davon, dass die Formulierung des Abschnittsinhalts in einem Satz herausfordernd sein kann, müssen die einzel- <?page no="81"?> 81 4.4 Merkmale des Textes und Anforderungen an Leser: innen nen Abschnitte hierarchisiert und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Was bereits auf Ebene eines Abschnitts schwierig sein kann, nämlich Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, muss zur globalen Kohärenzetablierung auf den gesamten Text angewendet werden. Vor dieser Anforderung stehen Schüler: innen auch, wenn sie eine Inhaltsangabe schreiben sollen. Merkkästen suggerieren hier ebenfalls, dass die eigene Position und das Vorwissen nicht relevant seien, sondern nur die durch den Text beantwortbaren W-Fragen. Die Antworten scheinen sich unmittelbar aus der Textgrundlage ableiten zu lassen, indem Lerner: innen beispielsweise die „Streichmethode“ anwenden: (41) Mit der Streichmethode kann aus einer Nacherzählung eine Inhaltsangabe erarbeitet werden: 1. Mithilfe der W-Fragen lassen sich die notwendigen Kerninformationen ermitteln. Alles Entbehrliche wird gestrichen. 2. Wörtliche Reden und Verben werden markiert. 3. Aus dem ‚Sprachskelett‘ entsteht ein neuer Text in sachlicher Sprache im Präsens (bzw. Perfekt) und mit indirekter Rede (im Konjunktiv). […] (Aleker/ Mettenleiter 2013: 88) 27 Im Grunde fordert die Inhaltsangabe dazu auf, aus einem wertenden literarischen Text einen möglichst neutral informierenden Sachtext zu machen, indem nicht notwendige Informationen und Wertungen getilgt werden. Textverstehen kann jedoch niemals nur Reduktion sein. Es braucht elaborative Prozesse, auch wenn der zu schreibende Text kürzer als der Ausgangstext sein soll. Schreib- und Denkprozess sind getrennt zu betrachten. Verstehen kann nur gelingen, wenn Leser: innen die Unterspezifikation des Ausgangstextes mit ihrem Vorwissen anreichern. Dazu gehören auch Emotionen. So gibt die Textgrundlage von Sonntag keine eindeutige Antwort darauf, wer die Bushaltestellen zerstört hat. In einer Laut-Denk-Studie mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen zeigte sich der Einfluss leserseitiger Faktoren auf das Textverstehen und die Interpretation von Sonntag deutlich (vgl. Kirmse in Vorb.). So wird das Alter des Protagonisten in der Geschichte ganz unterschiedlich eingeschätzt, was sicherlich mit der eigenen Lebenswelt zu tun 27 Hervorhebungen wurden entfernt. <?page no="82"?> 82 4 Literarische Texte verstehen hat. Einige Leserinnen und Leser ziehen die Möglichkeit in Betracht, dass der Protagonist in seiner Jugend vandaliert habe und sich die Situation entsprechend beim Anblick der zerstörten Bushaltestellen gut vorstellen könnte. Er wäre dann entsprechend nicht der Täter in diesem konkreten Fall. Für andere Leserinnen und Leser handelt es sich um einen Jugendlichen, der am Abend zuvor die Bushaltestellen zerstört hat. Was wir über leserseitige Anforderungen literarischer Texte aus fachdidaktischer und textlinguistischer Sicht wissen, wird genauer in Abschnitt 4.6 vorgestellt. An dieser Stelle sei abschließend nur vermerkt, dass die erfolgreiche Unterstützung des Textverstehens erfordert, dass Lehrkräfte Vorwissen ihrer Schüler: innen in einem breiten Sinne und Textbasis in Verbindung bringen. Im Sinne des literarischen Lernens meint dies, „subjektive Involviertheit und genaue Textwahrnehmung miteinander ins Spiel [zu] bringen“ (Spinner 2006: 8). Es genügt weder losgelöst voneinander W-Fragen zum Text beantworten zu lassen noch Schülerinnen und Schüler nach ihrer eigenen Meinung zu einem Text zu fragen. Warum gerade die eigene Meinung und Emotionen für das Verstehen literarischer Texte relevant sind, verdeutlichen wir im Abschnitt 4.6. In jedem Fall gilt es für erfolgreiches Textverstehen, Vorwissen zu aktivieren, bereitzustellen und Inferenzziehung bestmöglich zu unterstützen. 28 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? Es gibt viele Möglichkeiten zur textseitigen Beschreibung dessen, was literarische Texte ausmacht. Und schon allein die Entscheidung, ob wir die Spezifika literarischer Texte als Merkmale, Schwierigkeiten oder Anforderungen kategorisieren, fußt auf dem eigenen Literaturbegriff. Diesen wollen wir zunächst offenlegen, um zu verdeutlichen, warum wir die Beschreibung textseitiger Anforderungen in Anlehnung an Zabka (2016) vornehmen. Der Mehrwert dieses Instrumentariums, aber auch dessen Grenzen sollen dadurch deutlich werden, dass wir Anforderung nicht nur beschreiben, sondern direkt auf die Erzählung Sonntag anwenden. 28 Dass der Umgang mit Vorwissen entscheidend ist und Vorwissen auch den Blick auf einen Text verstellen kann, zeigt Freudenberg (2012). <?page no="83"?> 83 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? 4.5.1 Der Literaturbegriff Dass der Literaturbegriff unter Literaturwissenschaftler: innen stark umstritten ist (Willems 2010: 225), lässt sich u.- a. auf den Wandel von Literatur als kulturellem Produkt zurückführen. Literatur passt sich an die Bedürfnisse der Menschen an, die zu manchen Zeiten eher ein mimetisches Grundverständnis literarischer Texte haben, also davon ausgehen, dass Literatur die Wirklichkeit nachzuahmen habe, und zu anderen nicht (Willems 2010: 233). Aus diesem Grund können wir nicht per se sagen, Literatur sei beispielsweise immer fiktional, auch wenn das auf viele literarische Texte heute zutreffen mag. Grundsätzlich müssen wir bei allen Versuchen der Beschreibung und Abgrenzung literarischer Texte von Sachtexten immer ein Spektrum vor Augen haben (→-2.1). Aufgabe 3 (Reflexion) Verorten Sie den folgenden Buch-Auszug auf einer fünfstufigen Literaritäts-Skala zwischen den Polen Sachtext und literarischer Text und begründen Sie Ihre Entscheidung am Beispiel. (42) Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskette war die Bändigung des Feuers. Wir wissen nicht genau, wann, wo und wie Menschen dies schafften. Doch vor rund 300.000 Jahren scheint das Feuer für viele zum Alltag gehört zu haben. Damit hatten sie eine verlässliche Licht- und Wärmequelle und eine wirkungsvolle Waffe gegen die lauernden Löwen. Damals starteten die Menschen ihre ersten großangelegten Unternehmungen: die gezielte Brandrodung von Wäldern. Nachdem die Feuer erloschen waren, wanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammelten geröstete Tiere, Nüsse und Wurzeln ein. Ihnen folgten die ersten Landschaftsplaner. Mit einem sorgfältig gelegten Buschfeuer ließ sich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln, auf der es von Beutetieren nur so wimmelte. Aber das Beste am Feuer war, dass man damit kochen konnte. (Harari, Yuval Noah, 2015. Eine kurze Geschichte der Menschheit. Übersetzung: Jürgen Neubauer © 2013, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH) Bereits der Auszug aus diesem ersten Kapitel Ein ziemlich unauffälliges Tier, der sich um das „kochende Tier“ dreht, zeigt, dass wir es mit einer Art literarischem Sachbuch zu tun haben. Harari informiert seine Leser: innen auf dem Stand aktueller Forschung über den Einfluss des Feuers auf die Entwicklung des Menschen und erfüllt damit eine wichtige Funktion von Sachtexen, wie wir sie <?page no="84"?> 84 4 Literarische Texte verstehen in Abschnitt 2.1 mit Brinker (1985/ 2018) vorgestellt haben. Schauen wir jedoch vom Was, also dem Gegenstand des Textes, auf das Wie, die Darstellung, so unterhält uns Harari mit witzigen Metaphern und Wortneuschöpfungen wie Steinzeitunternehmer. Sonderlich mehrdeutig ist der faktuale Text trotz seiner Formensprache nicht. Je nachdem, welchen Wert Leser: innen bzw. Literaturwissenschaftler: innen Mimesis, Fiktionalität, Anschaulichkeit, Formensprache usw. zuschreiben, erscheint ein Text mehr oder weniger literarisch. Entscheidend für unsere Einordnung eines Textes als literarisch ist die Kommunikationssituation zwischen Text und Leser: in. Ein literarischer Text ermöglicht es durch formale und sprachliche Mittel, „Werterlebnisse in der Phantasie [der Lesenden] zum Leben [zu] erwecken und die erlebten Werte verständlich und plausibel machen zu können. […] Im Mittelpunkt der literarischen Kommunikation als wertender Verständigung über Werte steht demgemäß der literarische Text als Medium der Darstellung von Erleben.“ (Willems 2010: 1016) Der Charme der Definition von Literatur als „wertende Verständigung über Werte“ (ebd. 1012) besteht nicht nur darin, dass sie relativ weit ist. Sie hebt auch die Bedeutungen von Wertungen in den Texten durch Figuren und Erzählinstanzen als auch durch Leserinnen und Leser über die Texte hervor. Warum Wertungen enorm bedeutsam für das Verstehen literarischer Texte sind, sollte bis zum Ende des vierten Kapitels deutlich werden. Auch wenn die Definition uns viel Spielraum gewährt, einen Text als literarisch zu bezeichnen, möchten wir nun detaillierter beschreiben, was viele der Texte ausmacht, die im schulischen Kontext als literarisch gelten. Da wir dabei die Leser: innen nicht aus dem Blick verlieren wollen, sprechen wir nicht von Merkmalen eines literarischen Textes, sondern von Anforderungen, die der Text an die Rezipienten stellt. Doch auch wenn das, was als schwierig wahrgenommen wird, zu einem großen Teil vom Leser oder der Leserin abhängt, resultieren potenzielle Verstehensprobleme aus der Textoberfläche. Kann prinzipiell alles, was von den eigenen Lesegewohnheiten abweicht, wie beispielsweise das Layout, 29 unbekannte 29 Ein Beispiel für ein ungewöhnliches Layout, das uns mit der Lesegewohnheit brechen lässt, einen Text von links oben nach rechts unten lesen zu lassen, bietet Terézia Moras Roman Das Ungeheuer: Mora halbiert die Buchseiten und beschreibt oben die Erleb- <?page no="85"?> 85 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? Wörter, der Textaufbau oder die Art des Erzählens schwierig sein, so gehen wir doch davon aus, dass es textseitig manifestierte Verstehensanforderungen gibt, die prototypisch für literarische Texte sind und uns als geübte Leserinnen oder Leser einladen, einen literarischen Text anders als einen Sachtext zu lesen. 4.5.2 Spezifika literarischen Verstehens Zabka nutzt für seine Beschreibung der Spezifika literarischen Verstehens einen kognitionspsychologischen und insofern auch textlinguistisch basierten Ansatz. Er unterscheidet textseitig zwischen Poetizitätssignalen der Unbestimmtheit und der Überstrukturiertheit. Unbestimmtheit gewährt Leserinnen und Lesern literarischer Texte viele Freiheiten bei der Bildung von Textweltmodellen. Überstrukturiertheit erlaubt es ihnen in besonderem Maße, ihr „Verstehen durch die wiederholte Betrachtung der Textoberfläche [zu] modifizieren) (Zabka 2016: 154). Aus dieser Grobeinteilung lassen sich vier Spezifika literarischen Verstehens (Zabka 2006: 82 f.) ableiten, die wir nun am Beispiel von Sonntag erläutern wollen. Um die Besonderheiten klarer erkennen zu können, braucht es auch immer den Abgleich mit dem, was als Regefall gilt - in unserem Fall sind das Sachtexte, auf die wir ebenfalls entsprechend Bezug nehmen werden. Wenden wir uns zunächst der Art der Informationsverknüpfung in literarischen Texten zu. Wäre diese in literarischen Texten wie bei Sachtexten, wüssten Leser: innen von Sonntag gleich zu Beginn des Textes, was der Protagonist auf dem Fahrrad überstanden hat, ob es der Vandalismus des Vorabends, der vergangenen Jugendjahre oder etwas anderes ist. Leserinnen und Leser eines Krimis wüssten direkt nach dem Mord, wer der Täter ist. Wäre die Informationsverknüpfung in Sachtexten und literarischen Texten gleich, könnte uns das ziemlich den Spaß verderben. Was uns beim Lesen eines Sachtextes als normal erscheint, nämlich eine Struktur, die Kohärenzetablierung möglichst automatisiert und zweifelsfrei gewährleistet, findet sich in literarischen Texten oftmals nicht. Woran liegt das und wie genau sehen diese strukturellen Unterschiede aus? Wir können die unterschiedliche Informationsstruktur auf die Funktion der Texte zurückführen. So handelt es sich z.-B. bei Kochrezepten um Handlungs- Instruktionen. Je weniger Vorwissen ein Adressat hat, desto weniger unterspezinisse des Protagonisten Kopp. Im unteren Teil werden die Tagebucheintragungen seiner verstorbenen Frau wiedergegeben, mit denen sich auch die Figur auseinandersetzt. <?page no="86"?> 86 4 Literarische Texte verstehen fiziert darf das Rezept sein, damit Kohärenzetablierung lokal und global gelingt und die Instruktion zum gewünschten Ergebnis führt. Bei literarischen Texten ist das anders, weil sie primär andere Funktionen als Sachtexte erfüllen. Hier sollte aber der institutionelle Kontext mitgedacht werden. Schülerinnen und Schüler lesen literarische Texte im Unterricht schließlich oft, weil sie dazu aufgefordert werden. Es wäre entsprechend fragwürdig, von einer rein primären Unterhaltungsfunktion, Entspannung beim Eintauchen in fremde Welten oder dem Wunsch nach ästhetischen Erfahrungen auszugehen. Ein zentraler Aspekt besteht darin zu lernen, die Perspektiven literarischer Figuren nachzuvollziehen. Einerseits geht es darum, mit einer literarischen Figur zu fühlen, also das Empathievermögen über Identifikation zu schulen, andererseits darum, fremde Perspektiven zu reflektieren, also Alteritätserfahrungen zu machen, und den Zusammenhang zwischen innerer Figurenwelt und äußerer Handlung wahrzunehmen. Das erscheint insofern zentral, als uns durch Figuren Zutritt in die erzählte Welt verschafft wird (vgl. Hurrelmann 2003: 5). Genau genommen ist es der Erzähler, der die Figuren einsetzt oder selbst als eine solche fungieren kann. Er steuert, was wir wie sehen und über die erzählte Welt wissen. In Sachtexten haben Autor: innen meist weniger Möglichkeiten, Realität zu schaffen. Diese besondere literarische Kommunikationssituation, die sich aus dem Zwischenschalten von Erzähler und Figuren zwischen Autor: in und Leser: in ergibt, prägt die Informationsstruktur eines Textes und damit auch alle Anforderungen literarischen Verstehens. Was eine Figur zu Beginn des Textes nicht äußert, können wir als Lesende auch nicht wissen, wenn wir, wie in Sonntag, die erzählte Welt durch die Brille des Ich-Erzählers sehen. Selbst wenn unser Erzähler die Bushaltestelle in der Nacht zuvor zerstört hätte und sich vielleicht trotz des Alkoholeinflusses, der solche Taten laut Erzählung oft begleitet, erinnern könnte, gäbe es doch keinen Anlass für den Erzähler, dies einzugestehen, wenn er sich „gut und voller Liebe“ und nicht vom schlechten Gewissen geplagt fühlte. Gerade die Tatsache, dass sich jemand relativ gleichzeitig „voller Liebe“ und „aggressiv“ und unzufrieden fühlen könnte, stellt uns vor ein Verstehensproblem. Wir haben es mit scheinbar konkurrierenden Informationen zu tun, die in den meisten nicht-literarischen Textsorten als Kohärenzmangel wahrgenommen würden. Gerade dadurch, dass Informationen, die im Sinne der Kohärenzetablierung verknüpft werden müssen, oft weit auseinanderstehen, wirken literarische Texte unterhaltsam. Genau das erzeugt schließlich im Krimi Spannung. Was uns zunächst vielleicht widersprüchlich erscheint, löst sich durch weitere Textinformationen auf. In diesem Fall <?page no="87"?> 87 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? sprechen wir nicht von konkurrierenden Informationen. Um die besondere Informationsverteilung literarischer Texte genauer zu verstehen, lohnt sich ein vertiefter Blick auf die Gefühlslage des Vandalen während der Zerstörung, sei sie vom Erzähler erinnert oder imaginiert: Aufgabe 4 (Übung für den Unterricht) Setzen Sie die folgenden Passagen zueinander ins Verhältnis und leiten Sie Schlüsse für eine Charakterisierung des Erzählers ab. Beschreiben Sie die Informationsstruktur, insbesondere die Abfolge von Informationen, und stilistische Eigenschaften dieser Textstellen. (43) Ich fühlte mich gut und war voller Liebe […] (44) Wie diese riesigen Scheiben zerbrochen sind, klirr, und glitzernde, kleine Dinger ergossen sich auf die Straße, ein Bild für die Götter. Und dann dieses Geräusch, meine Fresse, wann haben wir so etwas Schönes zum letzten Mal gehört? (45) Scherben, Verwüstung und Verzweiflung, und die Verzweiflung anderer Leute macht mich immer trauriger als meine eigene, weil ich über die wenigstens lachen kann. Zusammenfassend: Die Informationsstruktur literarischer Texte ist manchmal dadurch geprägt, dass Informationen, die gedanklich verknüpft werden müssen, weit im Text auseinanderstehen können. Das Zusammenspiel von Form und Inhalt kann zusätzliche Information erzeugen. Da Sonntag verschiedene Möglichkeiten des Verstehens einräumt, lässt sich an diesem Text auch gut verdeutlichen, inwiefern das Verstehen konkurrierender Informationen eine zweite Anforderung literarischer Texte ist. Wie bereits angedeutet, können die Informationen, die in Konkurrenz zueinanderstehen, sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlich-formaler Ebene liegen. In unserem Beispiel ist beides der Fall, der Text ist mehrdeutig. Natürlich können auch Sachtexte bewusst mehrdeutig gestaltet sein, beispielsweise wenn der Verfasser oder die Verfasserin unkonventionelle Metaphern verwendet, die Verstehensspielräume eröffnen. Typischerweise sind Sachtexte jedoch eher auf Eindeutigkeit angelegt als literarische Texte. Das hängt wieder mit ihrer Funktion zusammen. Ein informierender Text verliert schnell an Glaubwürdigkeit, wenn <?page no="88"?> 88 4 Literarische Texte verstehen sich Informationen widersprechen. Folgender Zeitungsartikel thematisiert ein ähnliches Ereignis wie die Kurzgeschichte Sonntag: (46) Neubrandenburg. Für Fußgänger sowie Rad- und Autofahrer war am Mittwochmorgen Vorsicht in der Ihlenfelder Straße in Neubrandenburg geboten. In der Nacht zum Mittwoch haben bislang unbekannte Täter eine Bushaltestelle der Neubrandenburger Verkehrsbetriebe völlig zerstört, wie die Polizei mitteilte. Die Scherben flogen dabei über den gesamten Rad- und Fußweg sowie auf die Abbiegespur zur Usedomer Straße. (Nordkurier vom 25.03.2020) Aufgabe 5 (Übung für den Unterricht) Stell dir vor, du seist Redakteur einer Lokalzeitung. Dein Reporter bietet dir folgenden Artikel an. Erkläre ihm in einer E-Mail, warum der Artikel mit Blick auf die Glaubwürdigkeit eurer Zeitung so nicht gedruckt werden kann: Neubrandenburg. Für Fußgänger sowie Rad- und Autofahrer war am Mittwochmorgen Vorsicht in der Ihlenfelder Straße in Neubrandenburg geboten. In der Nacht zum Mittwoch haben bislang unbekannte Täter eine Bushaltestelle der Neubrandenburger Verkehrsbetriebe völlig zerstört, wie die Polizei mitteilte. Glitzernde, kleine Dinger ergossen sich dort über den gesamten Rad- und Fußweg sowie auf die Abbiegespur zur Usedomer Straße - ein Bild für die Götter. Die Polizei bittet um Mithilfe: Bis zu 500 € Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung eines Vandalen führen, sind ausgesetzt. Leicht verdientes Geld. Die Widersprüche, die diese Sätze im Textweltmodell erzeugen würden, erscheinen bei Sonntag für Leser: innen akzeptabel, wären für den Zeitungsartikel jedoch nicht tragbar. Lenken wir den Blick zunächst darauf, worin die konkurrierenden Informationen bestehen, und überlegen dann, wie Leser: innen eines literarischen Textes damit umgehen können. Auf propositonaler Ebene besteht die Konkurrenz der Sätze darin, dass der Ich-Erzähler an einem Sonntagmorgen mit dem Fahrrad an einer zerstörten Bushaltestelle vorbeikommt und sich beim Anblick fragt: „Wie kann man nur so drauf kommen? “ Als er auf der anderen Straßenseite ein ähnliches „Bild der Verwüstung“ erblickt, wiederholt er die Frage modifiziert: „Wie kann man auf so eine verschissene Idee kommen? “ Wir ziehen als Lesende die Inferenz, dass mit verschissene Idee nur die Zerstörung der Bushaltstellen gemeint sein könnte. Die Fragen bringen Verwunderung über den Anblick der Zerstörung zum Ausdruck. Im Widerspruch dazu steht der Satz: „In Wirklichkeit habe ich eine ziemlich genaue Ahnung, wie man auf <?page no="89"?> 89 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? so eine Idee kommt.“ In Wirklichkeit bedeutet, dass die vorherige Ratlosigkeit über die Motive des Vandalen nicht aufrichtig war. Doch können wir unser bisheriges Textweltmodell eines unbeteiligten Erzählers, der ratlos berichtet, was er sieht, nicht einfach revidieren, denn unser Erzähler sagt nicht, er wüsste in Wirklichkeit, wie man auf so eine Idee käme. Er spricht von einer „ziemlich genaue[n] Ahnung“. Wie kann intuitives Wissen, eine Vermutung „ziemlich genau“ sein? Der Widerspruch auf Wortebene wird auf lexikalischer Ebene dadurch verstärkt, dass der Erzähler nun bei der Beschreibung der „Ahnung“ ein unpersönliches du verwendet. Das kann als Hinweis einer Distanzierung vom Geschehen gedeutet werden, womit wir jedoch von der Verstehensauf die Interpretationsebene wechseln. Was beschrieben wird, bezieht sich auf „Samstagnacht“ und wird sehr genau erläutert. Zeitlich wäre vorstellbar, dass der Erzähler die Bushaltestellen in der Nacht zuvor zerstört hat, bevor er Sonntagmorgen dort vorbeikommt, zumal er sich so gut mit Motiven und Gefühlen der potenziellen Täter identifizieren kann. Der Detailreichtum der Beschreibung legt nahe, dass der Erzähler aus Erfahrung spricht. Auch das „Glücksgefühl“ am Morgen nach einer solchen Nacht passt zur Stimmung vom Anfang der Erzählung. Was widersprüchlich bleibt, ist nicht nur der Bruch der sprachlichen Stilebenen: Ein Fahrradfahrer fühlt sich pathetisch gesprochen „gut und voller Liebe“, einen Vandalen „kotzt [das] Leben an“. Widersprüchlich sind auch die Informationen zur zeitlichen Einordnung der Geschehnisse. Wir wissen nicht, ob die Erzählung von Samstagnacht nur imaginiert ist, oder ob es sich um die Samstagnacht vorm Sonntagtagmorgen am Anfang der Erzählung handelt. Wenn der Erzähler Sonntagabend in der Bahn sitzt und das Plakat der Verkehrsbetriebe mit der Bitte um Hinweise zu Tätern liest, dann passt das nur scheinbar in das Textweltmodell, in dem der Erzähler der Täter ist. Wie plausibel ist es, dass die Verkehrsbetriebe ein entsprechendes Plakat innerhalb eines Sonntags erstellen und in der Bahn platzieren? Doch folgen Leser: innen der anderen Verstehenshypothese, dass der Erzähler nicht der Täter sei, wieso meint er dann im letzten Satz, die Prämie für Hinweise zur Ergreifung der Vandalen sei „leicht verdientes Geld“? Das wäre es nur für jemanden, der Hinweise liefern kann. Außerdem bekäme der Erzähler wohl keine Prämie, wenn er Hinweise auf die eigene Tat liefern würde. Darauf, dass der Erzähler die Tat beobachtet haben könnte, ohne selbst beteiligt zu sein, liefert der Text keine Hinweise. Es finden sich für beide Verstehenshypothesen Hinweise im Text, aber auch Informationen, die jeweils dagegensprechen. Ließen sich die Widersprüche auflösen, läge die Herausforderung im Bereich der Informationsverteilung. <?page no="90"?> 90 4 Literarische Texte verstehen Grundsätzlich eröffnen gerade Erzählungen in der Ich-Form Raum für konkurrierende Informationen, weil die erzählenden Figuren die erzählten Ereignisse für die Leser: innen weniger zuverlässig in einen Zusammenhang bringen können als ein auktorialer Erzähler. Ob derartige Widersprüche wie in Sonntag jedoch als solche wahrgenommen und wie sie bewertet werden, hängt wieder sehr stark vom jeweiligen Leser bzw. der Leserin ab. Fallen die Widersprüche nicht auf oder entscheiden sich Leser: innen ungeachtet der Widersprüche für eine eindeutige Lesart, gilt die Anforderung, mit konkurrierenden Informationen eines Textes umzugehen, aus literaturdidaktischer Sicht nicht als adäquat im Sinne literarischen Verstehens bewältigt. Die Mehrdeutigkeit eines Textes anzuerkennen, heißt bereit zu sein, ein Textweltmodell während des gesamten Rezeptionsprozesses und darüber hinaus sehr flexibel modifizieren zu können. Im Grunde müssen die Lesenden sogar fähig sein, je nach Anzahl der Verstehenshypothesen verschiedene Textweltmodelle parallel aufzubauen und zwischen diesen zu changieren. Zusammenfassend: Literarische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sich sowohl inhaltliche als auch sprachlich-formale Informationen innerhalb eines Textes widersprechen dürfen. Das führt zu verschiedenen plausibel begründbaren Verstehenshypothesen führt, die die Leser: innen reflektieren müssen. Im Zusammenhang mit Sonntag, aber auch anderen Beispielen für literarische Texte war nun schon an einigen Stellen die Rede von Mehrdeutigkeit. Diese kann nicht nur durch die Existenz konkurrierender Informationen in einem Text entstehen, sondern auch beispielsweise durch Andeutungen, Ironie oder Metaphorik. Dies alles sind Formen von Indirektheit, einem dritten Spezifikum literarischer Texte, mit dem Leser: innen umgehen müssen. Indirektheit ist nicht per se ein Spezifikum literarischer Texte, sondern wird in der linguistischen Pragmatik als Phänomen der Alltagskommunikation beschrieben. Im Folgenden soll deutlich werden, wie sich die Indirektheit literarischer Texte hiervon unterscheidet. Es liegt nahe, dass es gerade diese Anforderung literarischer Texte und der Umgang damit im Schulkontext ist, der Lerner: innen zur Frage bewegt, was der Autor eines Textes ihnen denn nun eigentlich sagen wollte. Der Terminus Indirektheit selbst suggeriert, dass jemand etwas sinnbildlich durch die Blume <?page no="91"?> 91 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? sagt, was auch deutlicher ausdrückbar wäre. Ein Beispiel dafür, dass wir uns im Alltag oft nicht direkt äußern, ist: (47) Doris, willst du dir nicht noch deine Haare waschen, bevor wir losgehen? Wir haben noch genug Zeit, bis das Konzert anfängt. Welche Frau würde diese Frage einer Freundin nicht als Aufforderung zum Haarewaschen verstehen? Dies entspricht der alltagssprachlichen Verwendung indirekter Sprechakte, wie sie die Sprechakttheorie (Searle 1969) formal als Äußerungen mit zwei Illokutionen, d.- h. einer gemeinten und einer gesagten Bedeutung, beschrieben hat, sowie später die Implikaturentheorie (Grice 1980) und ihre Nachfolger in Erweiterung des formal-logischen Begriffs der Implikation auf alltägliche, pragmatische Schlussfolgerungen, den sog. Implikaturen. Auch die aus der Soziologie adaptierte Höflichkeits-Theorie (Brown/ Levinson 2011) beschreibt Indirektheit in der Kommunikation: Um jemanden nicht zu beleidigen, sagen wir nicht direkt, dass er fettige Haare hat, sondern nutzen eine rhetorische Frage. Die gemeinte Bedeutung ist jedoch eindeutig: Wasch dir besser die Haare. Praktisch alle Ansätze der linguistischen Pragmatik, die sich mit Indirektheit befassen, gehen explizit oder stillschweigend davon aus, dass indirekte Äußerungen - Äußerungen, in denen wörtliche Bedeutung und kommunikativer Sinn nicht identisch sind - auf ein eindeutiges Verstehen des ‚eigentlich Gemeinten‘ abzielen. Solche Äußerungen wie (47) sind also ‚übersetzbar‘ in direkte Äußerungen. 30 In literarischen Texten soll Indirektheit jedoch häufig nicht auf eine bestimmte Weise verstanden werden, sie führt oft zu Mehrdeutigkeit des Textes und kann entsprechend Deutungsspielräume eröffnen. Es geht nicht darum, Formen von Indirektheit als etwas zu erwarten, was sich in Direktheit übersetzen lässt. Zielführender wäre es, Indirektheit fortwährend und in verschiedenen Ausprägungen als etwas zu erwarten, „das sich häufig nicht eindeutig auflösen lässt, sondern der Reflexion und Beurteilung des gesamten Textes und seiner Kontexte bedarf “ (Zabka 2006: 82). Diese systematische Indirektheit verstehen zu lernen, fällt jedoch schwer, wenn Deutschunterricht nahelegt, dass in lite- 30 Searles ‚Prinzip der Ausdrückbarkeit‘ (1969/ 1971: 32) gilt als eine der wichtigsten Prämissen der linguistischen Pragmatik. Es besagt, dass man alles Gemeinte auch sagen kann. Liedtke (1998: 48) weist darauf hin, dass dies nur eine Möglichkeit, nicht eine Verpflichtung des Sprechers bezeichnet. <?page no="92"?> 92 4 Literarische Texte verstehen rarischen Texten häufig etwas für etwas anderes steht. Ein Beispiel dafür sind Tabellen, die im Methodenteil von Lehrwerken zu erläutern versuchen, was unter einem Stilmittel verstanden wird (z.-B. Apel/ Diekhans 2014). Formen von Indirektheit in literarischen Texten sind vielschichtig. Schauen wir uns einige Beispiele und ihre Anforderungen an Leser: innen von Sonntag an: Grundlegend resultiert Indirektheit im Text daraus, dass Leser: innen an die Perspektive des Ichs gebunden sind. Perspektivisches Sprechen, gerade wenn das Ich einen inneren Monolog führt und sich nicht an eine andere Figur wendet, geht beispielsweise mit Andeutungen einher. Schließlich gibt es keine Notwendigkeit bzw. durch das Wissen, die psychologische Disposition und die Situation der Figur nur eingeschränkte Möglichkeiten, die eigenen Befindlichkeiten und das eigene Tun möglichst objektiv oder auch nur intersubjektiv nachvollziehbar darzustellen. Eine erste Andeutung im Text, die auch im Verlauf nicht aufgelöst wird, ist „dieses Gefühl, es überstanden zu haben“, das das Ich auf dem Fahrrad „noch einmal“ verspürt. Wir wissen aus dem ersten Satz, dass der Sprecher sich „gut“ fühlt, aber warum das so ist, wissen wir nicht. Was hat er überstanden? Eine Prüfung, eine schwere Krankheit oder doch eine durchzechte Nacht, in der er Bushaltestellen zerstört hat? Da das nur angedeutet wird, können wir auch die Schlussbemerkung „leicht verdientes Geld“ nicht eindeutig auflösen. Der Ich-Erzähler deutet an, dass es für ihn einfach wäre, die von der Polizei ausgeschriebene Belohnung für „Hinweise, die zur Ergreifung eines Vandalen führen“ zu bekommen, aber wir können nicht sicher sagen, ob das stimmt und warum das so sein sollte. Vielleicht übertreibt der Erzähler hier auch. Da wir die Geschehnisse nicht verifizieren können, ist das schwer einzuschätzen. Entscheidend ist letztendlich auch nicht, ob tatsächlich in besagter Samstagnacht „keine einzige Frau“ zurückgelächelt hat, sondern nur, dass der Vandale es so empfunden haben mag. Der subjektive Maßstab ist auch entscheidend für die Vergleiche, die im Text angestellt werden und ebenfalls Indirektheit erzeugen. Die erzeugten Bilder bleiben unscharf, wenn der Erzähler behauptet: „Es war kein Sonntag, wie wir ihn kennen.“ Der Erzähler sieht sich mit uns als Leser: innen in einer Gruppe, einem Wir, doch worin besteht die Gemeinsamkeit der Sonntage, die wir kennen, von denen besagter im Text abweicht? Wir wissen nur, dass es sich um einen positiv konnotierten Sonntag handelt, an dem unser Erzähler „es“ überstanden hat. Noch weniger klar erscheint der Vergleich am Ende des Textes: <?page no="93"?> 93 4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen? (48) und die Verzweiflung anderer Leute macht mich immer trauriger als meine eigene, weil ich über die wenigstens lachen kann. Es ist nicht nur der Stimmungswandel, der hier nur bedingt nachvollziehbar ist. Von eigener Verzweiflung war bisher keine Rede - der Erzähler sprach zu Beginn vom eigenen Glücksgefühlt und auch vom Glücksgefühl der vandalierenden Täter beim Anblick der zerstörten Scheiben. Obwohl der Erzähler viel über seine Stimmung erzählt, bleiben nach der Lektüre viele Fragen dazu offen. Dies ist u.-a. auf Indirektheit erzeugende Formen wie Andeutungen, Übertreibungen und Vergleiche beim perspektivierten Sprechen zurückzuführen. Zusammenfassend: Indirektheit in literarischen Texten kann aus verschiedenen Stilmitteln resultieren und trägt zur Mehrdeutigkeit und Deutungsoffenheit bei. Die erwähnten Formen von Indirektheit erfordern von den Lesenden, dass sie Inferenzen ziehen. Das führt uns zur vierten von Zabka beschriebenen Anforderung literarischer Texte an die Rezipienten: Den Umgang mit systematischer Unbestimmtheit. Leser und Leserinnen müssen bei jedem Text Inferenzen ziehen, weil Texte, wie im Abschnitt 3.1.2 ausgeführt, unterspezifiziert sind. In literarischen Texten finden sich jedoch nicht nur da Leerstellen, wo zu erwarten ist, dass Leser: innen diese mit ihren alltäglichen Skripts und Schemata schließen können. Zur besseren Abgrenzbarkeit sprechen wir aus diesem Grund bei literarischen Texten von Unbestimmtheit statt von Unterspezifikation. Der literarische Text lässt kaum zweifelsfrei ergänzbare Informationen aus, die Leser: innen durch Schlussfolgerungen oder Vermutungen beisteuern müssen. So kann ein literarischer Text Deutungshypothesen provozieren, die über seine Kohäsions- und Kohärenzstruktur hinausgehen. Da dieses Phänomen bereits zuvor am Beispiel von Sonntag im Kapitel zur Textsinnzuweisung ausbuchstabiert wurde, sei hier nur auf die Anforderungen an Schülerinnen und Schüler hingewiesen, die aus der systematischen Unbestimmtheit literarischer Texte aus Sicht der Literaturdidaktik resultieren. Sie decken sich mit zwei Bildungszielen des Literaturunterrichts nach Spinner (1999). Einerseits soll Literaturunterricht Imaginationsfähigkeit fördern und anderseits Empathie. Sonntag vermag es, Leserinnen und Leser durch Leerstellen, die aus Unbestimmtheit, Indirektheit und konkurrierenden Informationen resultieren, <?page no="94"?> 94 4 Literarische Texte verstehen dazu anzuregen, Überlegungen zur Psyche einer Figur und darüber hinaus zur Psyche eines potenziellen Vandalen anzustellen. Zusammenfassend: Jeder Text ist unterspezifiziert, literarische Texte sind zudem häufig systematisch unbestimmt. Leser: innen müssen also vermehrt Inferenzen ziehen und Deutungen anstellen. Das Besondere der Modellierung literarischen Verstehens nach Zabka besteht nicht nur darin, dass Text und Leser als gleichgewichtig betrachtet werden, sondern auch in der Beachtung des institutionellen Kontexts. Im Deutschunterricht geht es nicht nur darum, Verstehensprozesse zu rekonstruieren, sondern auch darum, sie anzuleiten. Aus diesem Grund unterscheidet Zabka (2012), was von einem Text unbedingt verstanden werden müsste, was wünschenswert und welchen Verständnis unangemessen sei. Er differenziert weiterhin, inwiefern Aspekte des Textverstehens mit und ohne Anleitung erreichbar sein können. Der von ihm vorgeschlagene Bogen zur Beurteilung von Verstehensresultaten kann als Orientierung für eine textlinguistisch fundierte literaturdidaktische Analyse dienen: Das Verständnis … … ist unverzichtbar, muss erreicht werden … ist nicht notwendig, aber passend und soll gefördert werden ist nicht angemessen oder geht nicht weit genug … ist erwartbar (könnte sich von selbst einstellen) … ist erreichbar (könnte sich angeleitet einstellen) … Ist vermutlich nicht erreichbar Abb. 5: Beurteilungsbogen zur Erwartung und Steuerung von Verstehensresultaten, eigene Hervorhebungen (Zabka 2012: 142) <?page no="95"?> 95 4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte 4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte Zabkas Analysemodell kann Lehrpersonen helfen, textseitige Anforderungen zu beschreiben. Auf Grundlage dieser Beschreibung können Lehrkräfte entscheiden, ob sie einen Text überhaupt als Unterrichtsgegenstand auswählen und, wenn dies der Fall ist, inwiefern sie ihn modifizieren und mit Begleitmaterialien und mit unterstützenden Aufgaben präsentieren. Aufgabe 6 (Reflexion) Nachdem wir nun bereits ausführlich mit Sonntag gearbeitet haben, schätzen Sie die textseitigen Anforderungen stichpunktartig mithilfe von Zabkas Analysemodell ein. Würden Sie den Text ohne zusätzliche Erklärungen im Unterricht einer Mittelstufe einsetzen? Für die Beurteilung, inwiefern Verstehensanforderungen eines Textes passend für den geplanten Unterricht erscheinen, müssen Lehrpersonen neben dem Text noch einen entscheidenden Faktor berücksichtigen: ihre Schülerinnen und Schüler. Es obliegt ihrer Kompetenz, zu antizipieren und zu diagnostizieren, inwiefern eine Textanforderung für einige Schüler: innen zur Schwierigkeit wird bzw. geworden ist. Hierfür bedarf es Wissens über leserseitige Anforderungen literarischer Texte, die Zabkas Modell nicht liefert. In diesem Unterkapitel wird nicht nur die Bedeutung leserseitiger Anforderungen für den Verstehensprozess differenziert betrachtet. Es geht auch darum, wie leserseitige Voraussetzungen erkannt, beschrieben und ins Wechselspiel mit textseitigen Merkmalen gebracht werden können. Dass das Wechselspiel aus text- und leserseitigen Merkmalen entscheidend für den Verstehensprozess ist, wurde bereits grundlegend im Abschnitt 3.1 zur Kohärenzetablierung herausgearbeitet. Doch was genau ist unter leserseitigen Anforderungen eines Textes zu verstehen und inwiefern sind diese Voraussetzungen spezifisch für literarisches Verstehen? Grundsätzlich unterscheiden wir, wenn wir vom Zusammenspiel aus Text und Leser: in sprechen, aus literaturdidaktischer Sicht in Anlehnung an Artelt (2004: 12) vier Facetten des Textverstehens: 1. Textmerkmale 2. Leseanforderungen 3. Lesermerkmale 4. Leseraktivitäten <?page no="96"?> 96 4 Literarische Texte verstehen Wollen wir also die leserseitigen Anforderungen eines Textes beschreiben, so interessiert uns einerseits, welche Disposition Leser: innen mitbringen müssen, um den Text verstehen zu können (z.-B. welches Vorwissen), als auch, welche konkreten mentalen Aktivitäten beim Lesen des Textes von ihnen gefordert werden (z.-B. Inferenzen ziehen). Das Modell wäre auch hilfreich, um operative Tätigkeiten beim Lesen in den Blick zu nehmen, die sich durch Aufgaben initiieren lassen, doch darum soll es an dieser Stelle nicht gehen. Anders als in Kapitel 5 geht es uns zunächst um Deskription ungesteuerter Leseprozesse, soweit dies im Unterrichtskontext möglich ist. Lesermerkmale Textbeschaffenheit Leseanforderung Leseraktivitäten Abb. 6: Einflussfaktoren des Textverstehens (Artelt 2004: 12) Wenden wir uns zunächst der Frage zu, welche Lesermerkmale für das Verstehen literarischer Texte im Deutschunterricht als besonders relevant erscheinen. Wir orientieren uns bei der Auswahl aus einem breiten Spektrum an Möglichkeiten am Lesekompetenzmodell von Rosebrock/ Nix (2008), weil Lesen dort als Bündel von Teilfähigkeiten begriffen wird, das auf Textverstehen abzielt. Neben den kognitiven Prozessen des Individuums bezieht das Mehrebenenmodell auch die Persönlichkeit und Identität der Leser: innen sowie die Einbettung des Lesens in eine soziale Situation mit ein. Da die im Modell dargestellten kognitiven Prozesse aus den textseitigen Anforderungen eines Textes abgeleitet wurden, die wir bereits im Abschnitt 4.5 erläutert haben, blenden wir sie an dieser Stelle aus. Wir ergänzen stattdessen diagnostische Fragen auf der Sub- <?page no="97"?> 97 4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte jektebene, die sich im Zusammenhang mit der Rezeption des Kurzprosatextes Sonntag stellen lassen. Inwieweit stimmst du den Aussagen des Textes zu? Findest du das Thema des Textes interessant ? Was meinst du, wie sich der Erzählter Sonntagabend fühlt? Was ist mit „eine[r] verschissene[n] Idee“ im Text „Sonntag gemeint? soziale Ebene Subjektebene Prozessebene Abb. 7: Vereinfachte Darstellung des Mehrebenenmodells von Rosebrock (2012: 5) mit modifizierten Fragen zur Diagnostik der Lesekompetenz auf der Subjektebene Entscheidend erscheinen uns hier die Schlagwörter auf der Subjektebene. Aus diesen lässt sich ableiten, was für das Verstehen eines literarischen Textes neben den Fähigkeiten zur Kohärenzetablierung auf der Prozessebene wichtig ist. Natürlich können auch viele andere Variablen eine Rolle spielen, die im Modell nicht explizit auftauchen. So zeigt PISA beispielsweise einen erheblichen Einfluss des Geschlechts auf die Lesekompetenz (OECD Bd.-2: 2018), auch wenn das im konkreten Klassenzimmer nicht der Fall sein muss. Letztendlich lassen sich die verschiedenen Lesermerkmale jedoch den genannten großen Merkmalen auf der Subjektebene zuordnen. Um den Fokus stärker vom Prozess des Lesens allgemein auf das Verstehen literarischer Texte zu lenken, modifizieren wir minimal, worauf es auf der Leserseite ankommt: ▶ Vorwissen ▶ Emotion ▶ subjektive Überzeugungen (beliefs) ▶ Fähigkeit und Bereitschaft zur Reflexion des Verstehensprozesses <?page no="98"?> 98 4 Literarische Texte verstehen Da Lehrkräfte erkennen sollten, wo das Problem liegen könnte, wenn ein Text nicht verstanden wird, bedarf es der Anschlusskommunikation über den Text. Egal ob schriftlich oder mündlich, im Austausch über den Text kann sich offenbaren, was verstanden wurde und was (noch) nicht. Bevor wir detaillierter auf die genannten Lesermerkmale eingehen, möchten wir den Wert des Nichtverstehens als Teil des Verstehensprozesses in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten hervorheben. Beim Nichtverstehen handelt es sich keinesfalls um einen zu überwindenden Anfangszustand bei der Rezeption literarischer Texte (vgl. Baum 2013: 118). Anders als die Textverständlichkeitsforschung, die sich für Kriterien interessiert, welche Sachtexte möglichst leicht verständlich und gut lesbar erscheinen lassen, setzt sich der Literaturunterricht häufig mit Texten auseinander, die nicht auf Eindeutigkeit angelegt sind. Mehrdeutigkeit und Indirektheit können zu einem reflektierten Umgang mit dem Umstand führen, dass Sinnbildungsprozesse nicht wirklich abgeschlossen werden. Dies sieht die Literaturdidaktik sogar als einen wichtigen Aspekt literarischen Lernens (Spinner 2006: 12). Sich als Leser: in auf diese Unabschließbarkeit einlassen zu können, also beispielsweise anzuerkennen, dass sich bei Sonntag nicht final klären lässt, wer die Bushaltestellen zerstört hat, gilt als Teil des Verstehens literarischer Texte. Leser: innen sollen möglichst in der Lage sein, darüber zu reflektieren, warum sie etwas nicht verstehen. Liegen die Ursachen im Text oder beim Leser, weil beispielsweise Vorwissen fehlt? Zusammenfassend: Nichtverstehen meint aus fachdidaktischer Sicht also nicht nichts zu begreifen, sondern disparate Texteindrücke zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht verstehend zusammenbringen zu können (Baum 2013: 106). Das Nichtverstehen literarischer Texte kann als solches vom Text provoziert sein (z. B. durch konkurrierende Informationen). Entscheidend ist der produktive Umgang damit, also die Reflexion über die Ursachen des Nichtverstehens. Entscheidend für Lehrkräfte erscheint uns, dem Nichtverstehen Raum im Deutschunterricht zu geben sowie textseitige Ursachen des Nichtverstehens für Schüler: innen transparent zu machen. <?page no="99"?> 99 4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte Nichtverstehen kann in „literarischen Gesprächen“, die also nicht nur unmittelbar nach der Rezeption eines Textes unbekannte Wörter klären, artikuliert werden (vgl. kritisch dazu Zabka 2015). Das Heidelberger Modell erscheint nicht nur geeignet, um dem Nichtverstehen Raum zu geben, sondern auch um Verstehensprozesse zu reflektieren. Der Fähigkeit zur Reflexion des eigenen (Nicht-)Verstehens möchten wir uns nun auch als erstem leserseitigen Merkmal genauer zuwenden. Wir knüpfen mit unserem Reflexionsbegriff nicht an PISA an, wo „Reflektieren und Bewerten“ eine eigene Subskala von Lesekompetenz bildet, die wissensbasierte Verstehensleistung in Abgrenzung zu textimmanenten Verstehensleistungen umfasst (Artelt et al. 2001). Zusammenfassend: Uns geht es bei Reflexion als leserseitiger Anforderung um die Fähigkeit, den eigenen Leseprozess metakognitiv zu überwachen. Letztendlich ermöglicht ein gutes Reflexionsvermögen Leserinnen und Lesern, aus Texten etwas über sich selbst zu lernen sowie auch Textkritik zu üben. Dass Leserinnen und Leser sich fragen, was sie bereits verstanden haben und was (noch) unklar ist, ermöglicht ihnen, unterscheiden zu lernen, wo ein Text beispielsweise systematisch mehrdeutig angelegt ist und wo es ihnen an nötigen Vorwissensbeständen fehlt. Teilweise sind entsprechende Vorwissensbestände vielleicht sogar vorhanden und müssen nur (re)aktiviert werden. Wie dies gelingen kann und was unter Vorwissen zu verstehen ist, sei hier nur kurz umrissen. In Anlehnung an das, was Lehrwerke im Zusammenhang mit literarischen Texten als Vorwissen anbieten, greifen wir hier auf eine Kategorisierung zurück, die Spinner (2012) vornimmt. Er unterscheidet in Anlehnung an Köster (2003) und Stark (2010) fünf Arten von Vorwissen: 1. Gattungswissen 2. Textanalysewissen 3. Literaturgeschichtliches (Epochen-)Wissen 4. Autorenwissen: Autorenkonzepte und biographisches Wissen 5. intertextuelles Wissen Diese Vorwissensbestände können literarisches Verstehen fördern. Anders als Lehrwerke es jedoch suggerieren mögen, trägt der Aufbau der entsprechen- <?page no="100"?> 100 4 Literarische Texte verstehen den Wissensbestände jedoch nicht per se zum besseren Textverstehen bei. Im Gegenteil: Diverse literaturdidaktische Studien zeigen, dass der schematische Rückgriff auf Vorwissensbestände literarisches Verstehen sogar behindern kann (vgl. Spinner 2012). In der fachdidaktischen Forschung brachte PISAs Unterscheidung zwischen textinternen und wissensbasierten Verstehensleistungen frischen Wind in die Debatte um die Relevanz des Vorwissens für das Textverstehen. Die KMK- Standards und Lehrpläne betonen den Aufbau kumulativen Wissens, bei dem Neues in Vorwissen integriert wird, sowie Einzelfähigkeiten und Detailwissen. PISA dagegen hebt den Wert prozeduralen Wissens für die Lesekompetenz und damit das Textverstehen hervor (Köster 2003: 95). Der Anspruch PISAs auf die Fokussierung lexikalischen Wissens sowie die Kohärenzstruktur von Texten steht deutlicher im Einklang mit der Textlinguistik als der Anspruch der Lehrwerke, die domänenspezifisches Vorwissen wie Textsortenmerkmale oder Gattungswissen zu vermitteln versuchen. Auf den ersten Blick mag es logisch erscheinen, dass fehlendes Textsorten- oder Gattungswissen zu qualitativen Mängeln beim Textverstehen bzw. der Interpretation führt. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass das bloße Vorhandensein deklarativer Wissensbestände nicht automatisch zu deren Integration in den Textverstehensprozess führt. Und auf den dritten Blick zeigt sich sogar, wie starre deklarative Wissensbestände den Blick auf Texte verstellen können. Sehr eindrücklich skizziert dies Freudenberg (2012) am Beispiel eines Barocksonetts. Abiturient: innen, die über entsprechendes Vorwissen zum Barock verfügen, und Zehntklässler: innen ohne epochenspezifisches Vorwissen wurden danach gefragt, worum es im Gedicht geht. Während die Abiturient: innen typische Motive des Barock im Gedicht erkannten, waren zumindest einige Zehntklässler: innen in der Lage, inhaltliche Aspekte und eine zentrale Metapher auszumachen. Das Vorwissen der Abiturienten verstellt den Blick darauf. Freudenbergs Studie zeigt, dass Vorwissen nur zum Textverstehen beiträgt, wenn es auch dynamisch angewendet werden kann. Aus unserer Sicht bedarf es entsprechend immer unterschiedlicher Anwendungssituationen und einer Textauswahl, die die Grenzen von Merkmalskatalogen deutlich werden lässt. Wer sich nun fragt, warum Schüler: innen unpassende Wissensbestände über Texte stülpen oder warum die Lehrpläne verschiedener Bundesländer beständig auf den Aufbau textsortenspezifischen Merkmalswissens setzen, obwohl eben diese Wissensbestände wie auch die bloße Kenntnis sprachlicher Gestaltungsmittel gerade wenig zum Textverstehen beizutragen vermag, für den sollte das nächste <?page no="101"?> 101 4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte vorgestellte Lesermerkmal von Interesse sein: die subjektiven Überzeugungen (beliefs) von Leserinnen und Lesern. Sie beeinflussen unser Lehren und Lernen. Ähnlich wie die Forschung zu Vorwissen bietet auch die zu den beliefs in der Deutschdidaktik ein weites Feld, das wir in diesem Band nur minimal beackern können. Wir konzentrieren uns dabei im Speziellen auf die eigenen Überzeugungen, also die der Literaturlehrenden, da diese Gruppe der in der Unterrichtspraxis tätigen Lehrpersonen auch im Zentrum der deutschdidaktischen Überzeugungsforschung steht (vgl. Pollack 2020: 22). 31 Schließlich soll der Einblick in die Überzeugungsforschung dafür sorgen, die Relevanz eigener Überzeugungen für den Textverstehensprozess zu zeigen. Um zu verstehen, wie Überzeugungen wirken, müssen wir uns darüber verständigen, was Überzeugungen überhaupt sind. Unter Überzeugungen von Lehrpersonen verstehen wir in Anlehnung an die von Reusser/ Pauli (2014: 642 f.) im Forschungsdiskurs etablierte Definition „affektiv aufgeladene, eine Bewertungskomponente beinhaltende Vorstellungen über das Wesen und die Natur von Lehr-, Lernprozessen, Lerninhalten, die Identität von Lernenden und Lehrenden (sich selbst) sowie den institutionellen und gesellschaftlichen Kontext von Bildung und Erziehung, welche für wahr oder wertvoll gehalten werden und welche ihrem berufsbezogenen Denken und Handeln Struktur, Halt, Sicherheit und Orientierung geben.“ Mag es schwierig sein, Überzeugungen von Orientierungen, Wertungen, Einstellungen, Haltungen usw. abzugrenzen, so unterscheiden sich Wissen und Überzeugungen deutlich hinsichtlich der subjektiven Komponente von Überzeugungen. 32 Anders als Wissensbestände können Überzeugungen fragmentarisch oder auch widersprüchlich in Erscheinung treten. An dieser Stelle sollen Wissen und Überzeugungen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Schließlich kann auch Wissen affektiv aufgeladen und subjektiv, also aus Erfahrung gewonnen, sein (Neuweg 2014: 584). Überzeugungen sind das, woran jemand glaubt, worauf er vertraut, was er für subjektiv richtig hält und womit er sich identifiziert (Reusser/ Pauli 2014: 644). Entsprechend einflussreich scheinen Überzeugungen auf unser Handeln, in unserem Fall auf das Textverstehen zu sein. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Überzeugungen auf drei Ebenen wir- 31 Mit den Überzeugungen Studierender bzw. angehender Lehrkräfte setzen sich Wieser (2008), Magirius (2020) sowie Zühlsdorf (2020) auseinander. 32 Zur weiteren Klassifizierung von Überzeugungen in Abgrenzung zu den genannten Termini vgl. Reusser/ Pauli (2014). <?page no="102"?> 102 4 Literarische Texte verstehen ken: Zum einen filtern sie die Wahrnehmung von Ereignissen. Zum anderen rahmen sie die Einordnung und Bewertung von (Problem-)Situationen oder steuern gar konkretes Verhalten (vgl. Fives/ Buehl 2012). Im Fall eines Abiturienten, der die Metapher des diamantenen Herzens verkennt, kann durchaus die Überzeugung eine Rolle gespielt haben, Interpretieren erfolge nach festen Regeln, zu denen es eben dann auch gehöre, Motive des Barock in einem Barock-Sonett zu suchen und nachzuweisen (vgl. Magirius 2020: 126). Mag es auch nicht möglich sein, sich von Überzeugungen freizumachen oder deren Einfluss auf unser Handeln zu verändern, so sollten sich Lehrkräfte doch ihrer eigenen Überzeugungen bewusst sein, um auch Schüler: innen zur Reflexion anregen zu können. Welche Möglichkeiten bieten sich, um zur Reflexion über Überzeugungen anzuregen, die das Textverstehen beeinflussen können? Eine Variante, um sich über eigene lesebezogene Überzeugungen bewusst zu werden, die sowohl Lehrkräfte als auch Schüler: innen nutzen können, ist das Schreiben von Leseautobiografien. Im Rahmen unserer Einführungsseminare in die Fachdidaktik haben wir die Erfahrung gemacht, dass Studierende Überzeugungen explizieren, wenn Sie nach ihrer Lesegeschichte befragt werden. So wie wir unsere Studierenden gebeten haben, zu Hause auf mindestens einer A4-Seite zu formulieren, welche Bedeutung das Lesen von Büchern, Zeitschriften, Internetseiten etc. in ihrem Leben bisher hatte und aktuell hat, kann dies natürlich auch jede Lehrkraft für sich selbst tun oder ihre Schüler: innen anleiten. Als anregend haben sich einzelne Impulsfragen erwiesen, die jedoch nicht beantwortet werden müssen (z.-B. „Welche Lektüren haben Sie am meisten oder wenigsten beeindruckt? “). Im Rahmen unseres Lehrforschungsprojektes zu lesebezogenen Überzeugungen in Leseautobiografien Studierender (Kirmse/ Seeber/ Hesse 2021 in Vorb.) ließen sich aus 81 Lesebiografien unserer Deutsch- Lehramtsstudierenden diverse lesebezogene Überzeugungen zu Rezeptionsgegenständen und Rezeptionserträgen ableiten. Wie wichtig das Einbeziehen von Wertungen in den Deutschunterricht ist, zeigt nicht nur die Forschung zu beliefs als affektiv aufgeladenen Aussagen, sondern auch neuere empirische Forschung zur Rolle von Emotionen beim Interpretieren bzw. Textverstehen. Dieser wollen wir uns im letzten Teil des Abschnitts zuwenden. Wenn wir Literatur, wie in Abschnitt 4.5.1, als „wertende Verständigung über Werte“ (Willems 2010: 1012) begreifen, gehen wir davon aus, dass literarische Texte prinzipiell über das Potenzial zur Emotionalisierung verfügen. Die Textlinguistik bietet Vorschläge, das sogenannte Emotionspotenzial von Texten zu beschreiben, das zur Emotionalisierung von Leser: innen <?page no="103"?> 103 4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte führen kann. Im Grunde geht die Literaturwissenschaft einen Schritt weiter als die Textlinguistik, wenn sie literarischen Texten eine Absicht zuschreibt, Wertungen zu provozieren. Letztendlich sind sich Literaturwissenschaft und Textlinguistik einig in der Bedeutsamkeit von Emotionen für das Textverstehen bzw. Interpretieren. Wir wissen, dass emotional bewegende Texte schneller gelesen und besser gespeichert werden als neutrale Texte (vgl. Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 138). Entsprechend wichtig erscheint es uns, Emotionen für den Deutschunterricht fruchtbar zu machen. Dazu unterscheiden wir Emotionspotenzial und Emotionalisierung. Auch wenn hier leserseitige Eigenschaften im Vordergrund stehen, können wir das Emotionspotenzial nicht unberücksichtigt lassen, weil es die Grundlage für Emotionalisierung beim Lesenden bildet. Das Emotionspotenzial ist eine Eigenschaft des Textes. Sie bezeichnet seine sprachlichen Mittel (von der lexikalischen Ebene bis zur Informationsstruktur), die eine Emotionalisierung von Leser: innen bewirken können (Schwarz-Friesel 2007: 212f., Schwarz-Friesel/ Consten 2014: 137 f.). Emotionalisierung hingegen ist ein individueller Prozess. Dabei werden Emotionen durch einen Text beim Rezipienten ausgelöst, wodurch eine empathische Verbindung zwischen Leser: in und Figuren der Textwelt entsteht (Schwarz 2007: 212 f.). Eine Erscheinungsform dieser zunächst inneren mentalen Vorgänge sind explizierte Wertungen durch Leser: innen. Wenn wir davon ausgehen, dass Texte uns emotionalisieren, stellt sich die Frage, wie sich das konkret auf das Textverstehen auswirkt und inwiefern Lehrkräfte die Wirkung steuern können. In der literaturdidaktischen Forschung verdeutlicht Stark (2010), dass sich Textverstehens- und Bewertungsprozesse nicht trennen lassen. In seinen Laut-Denk-Studien zeigt sich deutlich, dass Beurteilungen und Wertungsprozesse ebenso von Anfang die Rezeption begleiten wie die Aktivierung von Wissen in Form spontaner Assoziationen, Annahmen zum Verlauf des Textes, Vergleichen mit eigenen Erfahrungen, Erwartungshaltungen usw. Die genannten Prozesse finden nicht nur parallel statt, sie bedingen einander und interagieren miteinander. Stark (2010: 122) plädiert entsprechend dafür, Verstehens- und Bewertungsprozesse nicht zu trennen. Was sich beispielsweise als Kritik am Lesekompetenzmodell PISAs auslegen lässt, das Reflektieren und Bewerten als isolierte Teilkompetenzen betrachtet, hat auch Auswirkungen auf den Literaturunterricht. Einerseits sei hier auf schulische Textsorten wie die Inhaltsangabe hingewiesen, die fordern, Wertungen auszuklammern oder nachgestellt vorzunehmen, andererseits sei an das klassische literarische <?page no="104"?> 104 4 Literarische Texte verstehen Unterrichtsgespräch gedacht, bei dem Verstehen und Bewerten in der Regel voneinander getrennt thematisiert werden sollen (ebd.: 126). Eine Aufgabenstellung angelehnt an Levines (2014) „affect based practice“, die die vorangestellten Überlegungen zum Nichtverstehen berücksichtigt, könnte zu Sonntag folgendermaßen aussehen: (49) Lies dir den Text/ die Textabschnitte leise und in Ruhe durch. Konzentriere dich nur darauf, was dir gefällt und was nicht. Markiere grün, welche Wörter positive Gefühle und Gedanken bei dir hervorrufen, und rot, welche Wörter negative hervorrufen. Kreise ein, was du nicht verstehst. Notiere am Rand, warum dir etwas gefällt oder nicht gefällt bzw. was du nicht verstehst! Mag es auch von der Bearbeitung einer derartigen Aufgabenstellung bis zum fertigen Interpretationsaufsatz noch ein weiter Weg sein, so scheint das Voranstellen und Ernstnehmen eigener Wertungen sowohl Novizen als auch fortgeschritteneren Schüler: innen beim Interpretieren zu helfen (Levine 2014). 33 In jedem Fall zeigt die Forschung zu Emotionen, zu Überzeugungen oder auch zum Vorwissen, dass es wichtig ist, leserseitige Voraussetzungen und Anforderungen beim Lesen literarischer Texte in den Blick zu nehmen, um Textverstehen und Interpretieren gezielt fördern zu können. 4.7 Ausblick: Wie entwickelt und fördert man eine literarische Lesehaltung? Wir möchten dieses Kapitel mit einem Appell zur Entwicklung und Förderung einer literarischen Lesehaltung abschließen. Da jeder literarische Text anders ist, variieren auch die bisher vorgestellten leserseitigen Anforderungen von Text zu Text. Es obliegt der Lehrkraft einzuschätzen, wann sie beispielsweise spezifische Wissensbestände bereitstellt und wann sie darauf verzichtet, weil anzunehmen ist, dass das entsprechende Vorwissen eher den Blick auf den Text verstellt statt schärft. Auch wenn die Textlinguistik sich nicht originär mit literarischen Texten beschäftigt, lehrt sie uns deutlich, warum es wichtig ist, Leser: innen als Kerngröße des Textverstehens einzubeziehen. Textverstehen geht in jedem Fall über blo- 33 Was als Hilfe gedacht ist, nämlich das Verlangsamen der Lektüre und Isolieren einzelner Wörter, sollte natürlich im Unterrichtsverlauf als solches deutlich werden, um die Bedeutung von Kontexten für den Interpretationsprozess nicht aus dem Blick zu verlieren. <?page no="105"?> 105 4.7 Ausblick: Wie entwickelt und fördert man eine literarische Lesehaltung? ßes Extrahieren von Informationen hinaus. Wenn wir davon ausgehen, dass sich grundlegende Abläufe des Interaktionsprozesses zwischen Textbasis und Rezipienten beim Lesen von Sachtexten und literarischen Texten nicht unterscheiden, literarische Texte jedoch zusätzlich eine vermehrte Verarbeitung ästhetischer Komponenten erfordern, stellt sich die Frage, wie Lehrkräfte die Rezeption literarischer Texte grundsätzlich, also textübergreifend, fördern können. Wir haben in diesem Kapitel bereits einige Hinweise dazu gegeben, welche leserseitigen Anforderungen Lehrende im Blick behalten sollten (z.-B. Vorwissensbestände). Nun geht es um eine grundlegende Haltung, die Lernenden vermittelt werden sollte, um die Rezeption literarischer Texte zu erleichtern. Rosebrock (2017) spricht in Anlehnung an die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Louise Rosenblatt (1978) von einer literarischen Lesehaltung, die es zu fördern gelte. 34 Erst die flexible Wahl zwischen einer Leserhaltung für Sachtexte und einer für literarische Texte, wohlwissend, dass wir uns in einem Kontinuum bewegen, ermöglicht es uns, zwischen verschiedenen Lesemodi zu wählen. Unter Lesemodi verstehen wir in Anlehnung an Graf (2004: 49f.) die unten genannten Intentionen, mit denen Leser: innen im Laufe ihrer Lesesozialisation bestenfalls lernen, an Texte heranzutreten und die entsprechend die Art und Weise der Textrezeption steuern. Nach Graf (2004) unterscheiden wir folgende Lesemodi für literarische Texte nach ihrer Funktion: ▶ leichte Unterhaltung ▶ wunscherfüllendes (intimes Lesen) ▶ literarische Teilhabe oder kommunikative Praxis (z.-B. über einen aktuellen Roman ins Gespräch kommen) ▶ selbstkonzeptionelle Leseinteressen (aus Literatur etwas über sich lernen) ▶ ästhethisches Lesen (Freude an sprachlichen Formen) ▶ informatorischer Gebrauch der Fiktion (z.- B. etwas über eine Epoche lernen, in der ein Roman spielt) Diese Lesemodi lassen sich auch bedingt auf Sachtexte anwenden, wenn Leser: innen in der Lage sind, unterschiedliche Lesehaltungen einzunehmen. Aus 34 Zur komplexen Debatte darüber, wie eine literarische Lesehaltung aussehen kann, vgl. Mitterer/ Wintersteiner (2015). <?page no="106"?> 106 4 Literarische Texte verstehen unserer Sicht ist die literarische Lesehaltung, die es auszubilden gilt, Voraussetzung für die Einnahme der entsprechenden Lesemodi. Was macht eine literarische Lesehaltung aus und wie kann deren Ausbildung gefördert werden? Eine literarische Lesehaltung ist eng mit Irritationsbereitschaft verknüpft. Irritationsbereitschaft meint eine Facette einer literarischen Lesehaltung, die es Leser: innen ermöglicht, Kohärenzbrüche oder Differenzen zwischen Text und eigenen Erwartungen und Erfahrungen wahrzunehmen und diesen nachzugehen (Freudenberg 2014: 67). Um literarische Texte mit ihrer jeweiligen ästhetischen Komponente wahrnehmen zu können, sich vielleicht sogar davon unterhalten zu fühlen, dass nach der Lektüre von Sonntag nicht eindeutig entscheidbar ist, wer der Vandale war, braucht es die Irritationsbereitschaft. Diese erfordert es auszuhalten, dass ein Text sich einer „bequemen, unkomplizierten Lektüre widersetzt“ (Freudenberg 2014: 61). Wer Irritationen zulässt, die sich textseitig bieten, dem kann sich die ästhetische Dimension eines literarischen Textes eröffnen, wenn er bzw. sie innehält und sich darauf einlässt, was der Text auslöst. Es obliegt der Lehrkraft, zur Ausbildung von Irritationsbereitschaft und literarischer Lesehaltung eine Bandbreite an literarischen Texten auszuwählen und darüber zu sprechen, die ein solches Irritationspotenzial (z.-B. in Form von Leerstellen oder Inkohärenz) bietet. Auch wenn sich Irritationen nicht gezielt auslösen lassen mögen, so lässt sich der Blick der Schüler: innen auf bestimmte Textstellen doch über verlangsamte Lektüre oder beispielsweise Verfahren der Handlungs- und Produktionsorientierung (vgl. Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 24) lenken. Auch erscheint es uns wichtig, die verschiedenen Lesemodi im Unterricht gezielt einzunehmen, literarische Texte auch ab und an „nur“ zur Unterhaltung zu lesen, also die Schüler entgegen der Kompetenzorientierung einzuladen, literarische Texte als Angebot zu begreifen, in Textwelten einzutauchen, die ihrer Lebenswelt fremd sind, ohne dass am Ende dieser Reise ein Interpretationsaufsatz steht. 4.8 Weiterführende Literatur Textseitige Verstehensanforderungen sind nachzulesen bei Zabka (2012), Einblick in leserseitige Verstehensprozesse bietet Stark (2017). Die Wechselbeziehung von Text- und Lesermerkmalen, aus der Verstehensschwierigkeiten entstehen können, wird bei Winkler (2013) deutlich. <?page no="107"?> 107 5.1 Herausforderungen bei der Konzeption von Textverstehensaufgaben 5 Textverstehen überprüfen Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, was das Verstehen von Sachtexten und literarischen Texten kennzeichnet und in diesem Zusammenhang immer wieder Anregung zur Förderung von Textverstehensprozessen gegeben (z.-B. zur Bildung von Isotopieketten, Führen literarischer Gespräche nach dem Heidelberger Modell usw.). Abschließend konzentrieren wir uns auf Möglichkeiten zur Überprüfung des Textverstehens. Wir bewegen uns in diesem Kapitel folglich im Feld der Leistungsaufgaben, wobei uns die Aufgaben interessieren, die Lehrkräfte selbst konzipieren können und nicht die übergreifenden standarisierten Tests wie IGLU, VERA oder PISA. Uns interessiert bei der Konzeption von Leistungsaufgaben primär, inwiefern sich Textverstehensprozesse isoliert von Schreibprozessen erfassen lassen. Mit unseren Beispielen nehmen wir sowohl literarische Texte als auch Sachtexte in den Blick. Bevor wir jedoch zu konkreten Aufgabenvorschlägen kommen, führen wir aus, vor welchen Herausforderungen Lehrkräfte bei der Konzeption von Textverstehensaufgaben stehen. Wir erläutern, warum gerade in der Verbindung von Rezeptions- und Produktionsleistung bei der Aufgabenkonzeption ein Problem bestehen kann. Das Herzstück dieses Kapitels bilden Anregungen zur Messung der Rezeptionsleistung auf den bereits bekannten Ebenen des Textverstehens. Abschließend werfen wir den Blick zurück von den Schüler: innen auf die Seite der Lehrenden und fragen uns, was und wie Lehrkräfte aus ihren Leistungsaufgaben lernen können. 5.1 Herausforderungen bei der Konzeption von Textverstehensaufgaben Um uns darüber klar zu werden, was bei der Aufgabenstellung zu beachten ist, wenn mit diesen das Textverstehen geprüft werden soll, müssen wir uns zunächst darüber klar werden, wie Textverstehen und Aufgabenstellung zusammenhängen. Wir haben bereits in den Kapiteln zuvor herausgearbeitet, dass sich das Textverstehen aus dem Zusammenspiel von Textbeschaffenheit und Lesermerkmalen wie Vorwissen sowie konkreten Aktivitäten der Lesser: innen ergibt. Verfügen Leser: innen nicht über entsprechendes Vorwissen zu einem Text, kann dies ebenso zu Verstehensproblemen führen, wie die fehlende Aktivierung eigentlich vorhandenen Vorwissens oder die mangelnde Anwendung <?page no="108"?> 108 5 Textverstehen überprüfen bekannter Lesestrategien. Hier können Aufgaben ansetzen, indem sie Unterstützung für Verstehensanforderungen des Textes liefern. Entscheidend für die Konzeption einer Aufgabe ist für uns neben der Schwierigkeit, die der Text mit sich bringt, und den Voraussetzungen und Aktivitäten der Lerner: innen lediglich das Gütekriterium der Validität (die Aufgabe prüft tatsächlich, was man prüfen wollte), das von den vorangegangen Lernzielen im Unterricht abhängt. Wichtig ist, dass die Aufgabe misst, was sie messen soll. Inwiefern eine Aufgabe maximal anspruchsvoll sein muss, hängt von der Lehrkraft und ihren Zielen ab. Dass die Gewährleistung von Validität eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellen kann, verdeutlichen wir in Abschnitt 5.2. Grundsätzlich sollten Aufgaben zwar kognitiv anregend und somit nicht unterfordernd sein (vgl. Ergebnisse von TIMSS bei Baumert 2002: 138-140), gleichzeitig müssen jedoch auch Leistungsaufgaben eine Chance auf Bewältigung bieten, um Schülerinnen und Schüler nicht dauerhaft zu demotivieren. Nun soll es im Detail um die Merkmale einer Aufgabe gehen, mit denen Lehrkräfte den Schwierigkeitsgrad ‚einstellen‘ können. 5.1.1 Schwierigkeitsbestimmende Merkmale von Textverstehensaufgaben Um eine Aufgabe zu konzipieren, die den Voraussetzungen der Lernenden als auch den Merkmalen des gewählten Textes gerecht wird, kann die Lehrkraft laut Artelt et al. (2004) an drei Stellschrauben drehen. Es handelt sich um den Entscheidungsspielraum, den Integrationsgrad und den Präzisionsgrad. Alle drei schwierigkeitsbestimmenden Merkmale lassen sich sowohl auf die Ausgangssituation der Aufgabe, den Lösungsweg als auch das Ergebnis beziehen. Hinter dem Entscheidungsspielraum verbirgt sich die Frage nach der Offenheit einer Aufgabe. Der Integrationsgrad beschreibt das Maß an Komplexität. Das heißt, es gilt die Anzahl und Art der Textstellen zu bestimmen, die für die Kohärenzetablierung zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Beim Präzisionsgrad geht es um das Maß der Tiefenschärfe, mit der Aufgabe und Bezugstext gelesen werden müssen. Schauen wir uns diese Merkmale anhand einer typischen Aufgabe im Literaturunterricht an, nämlich der, einen Text zu interpretieren. (50) Interpretiere den Kurszprosatext Sonntag von Selim Özdogan! <?page no="109"?> 109 5.1 Herausforderungen bei der Konzeption von Textverstehensaufgaben Diese Aufgabe muss nach Artelt et al. (2004) als schwierig gelten, weil hier ein hoher Grad an Offenheit mit einem großen Komplexitätsgrad kombiniert wird, auch wenn der Präzisionsgrad nur mäßig hoch ist, weil nicht detailliert nach einer bestimmten Textstelle gefragt wird. Der hohe Grad an Offenheit resultiert daraus, dass zwar durch typische Unterrichtsskripts in der Leistungssituation klar sein wird, dass das Ergebnis ein Interpretationsaufsatz ist und wie eben jener aufgebaut sein sollte, doch wie Schüler: innen zu diesem Aufsatz kommen, worauf sie konkret im Primärtext achten sollen, was es also zu interpretieren gilt, lässt die Aufgabe offen. Entsprechend komplex ist das, was Schüler: innen leisten müssen. Sie müssen erkennen, wo im Text konkurrierende Informationen und daraus resultierende Mehrdeutigkeit auftritt, um interpretieren zu können, ob der Erzähler der Vandale in der Geschichte ist oder nicht. Außerdem müssen sie entscheiden, wie sie die Textstellen, die sie bearbeitet haben, in ihren Aufsatz sinnvoll argumentativ einbeziehen. Die Aufgabe schränkt den Anspruch des Textes nicht ein, sie erhöht ihn sogar, weil sie an die Verstehensleistung eine Produktionsleistung, den Interpretationsaufsatz, knüpft. Eine Alternative, die mehr Support bietet, könnte folgendermaßen aussehen: Aufgabe 7 (Übung für den Unterricht) In Selim Özdogans Kurzprosatext Sonntag spricht ein Ich über einen Vandalen, aber wer ist dieses Ich? Sammle zunächst tabellarisch Textstellen, die für und gegen folgende Erzählinstanz sprechen: (a) Das Ich ist ein männlicher Jugendlicher, der unbeteiligt von einer Straftat erzählt. (b) Das Ich ist eine weibliche Jugendliche, die unbeteiligt von einer Straftat erzählt. (c) Das Ich ist ein Erwachsener, der von einer eigenen früheren Straftat in seiner Jugend erzählt. (d) Das Ich ist ein männlicher Jugendlicher, der von seiner eigenen Straftat erzählt. (a) bis (d) lassen sich als Interpretationshypothesen verstehen. Entscheide dich anhand deiner Tabelle für eine Interpretationshypothese, zu der du einen Aufsatz schreibst. Die Aufgabe schränkt den Entscheidungsspielraum beim Interpretieren insofern ein, als sie bereits Interpretationshypothesen vorgibt und somit den Ausgangspunkt ebenso vorstrukturiert wie auch den Lösungsweg, indem die gesammelten Textbelege aus der Tabelle weiterverarbeitet werden sollen. Eine Differenzierung wäre durch die Möglichkeit denkbar, nur zwei statt vier Inter- <?page no="110"?> 110 5 Textverstehen überprüfen pretationshypothesen hinsichtlich ihrer Plausibilität prüfen und ggf. eine eigene entwickeln zu lassen. In jedem Fall verengt der Instruktionstext zwar den Entscheidungsspielraum und auch das Maß an Komplexität, weil klar ist, dass die Textstellen aus der Tabelle zueinander ins Verhältnis gesetzt werden sollen, doch wird aus der Aufgabe nicht automatisch eine maximal einfache. Das liegt daran, dass die Schüler: innen immer noch einen Entscheidungsspielraum haben, nämlich welche Hypothese sie letztendlich plausibler finden und verfolgen und damit verbunden, welche Textstellen sie einbeziehen. Außerdem erhöht sich schon allein durch den Umfang der Instruktion das Maß an Tiefenschärfe für den Aufgabentext selbst, aber auch für den Primärtext, weil gezielt nach geeigneten Textstellen gefragt wird. Die Aufgabe ließe sich auch als Vereinfachung hinsichtlich der Produktionsleistung einordnen, aber als Herausforderung in Hinblick auf die Rezeption des Primärtextes. Der Primärtext wird zwar durch die Aufgabe nicht schwerer, aber die Aufgabe lenkt den Blick auf potenzielle Textschwierigkeiten und rückt so Rezeptionsanforderungen in den Vordergrund. Wichtig ist, dass im Anschluss an das Ankreuzen ein mündlicher oder schriftlicher Diskurs zur Plausibilität der angekreuzten Antwort stattfindet, um der Mehrdeutigkeit des Textes Rechnung zu tragen. Um das Verhältnis von Rezeptions- und Produktionsleistung bei Textverstehensleistungen soll es auch im Verlauf gehen. 5.1.2 Die Verschränkung von Rezeptions- und Produktionsleistung Wir möchten dafür sensibilisieren, dass Aufgaben, die eigentlich das Textverstehen abprüfen sollen, genau hinsichtlich ihrer Validität zu hinterfragen sind. Die Frage, die wir in Abschnitt 5.2 detaillierter erörtern wollen, ist, ob sich Textverstehen überhaupt ohne Produktionsleistung messen lässt. Lehrkräfte sollten sich darüber bewusst sein, dass viele Textverstehensaufgaben sowohl eine Rezeptionsals auch eine Produktionsleistung messen. Gerade in Leistungssituationen, die das individuelle Textverstehen offenbaren sollen, erfordern Aufgaben Texte von Schüler: innen zu Primärtexten - z.-B. Inhaltsangaben, Interpretationsaufsätze oder auch ausformulierte Analysen. Was wir in Kapitel 4 im Zusammenhang mit der Methode des Lauten Denkens kritisiert haben, nämlich dass es nicht möglich ist, unmittelbaren Zugriff über Aussagen auf Verstehensleistungen zu erhalten, zeigt sich in diesem Fall umso stärker: Es lässt sich nur bedingt von einem Schreibprodukt auf ein Verstehensprodukt schließen. Das liegt in der Natur der Schreibkompetenz, die die Schüler: innen mitbringen. <?page no="111"?> 111 5.1 Herausforderungen bei der Konzeption von Textverstehensaufgaben Prozessperspektive • Sprachhandlung • Medialität Planungskompetenz (Auswahl und Strukturierung von Textinhaltselementen) Formulierungskompetenz (Verfügen über und Auswählen von für die Schreibintention und den Schreibauftrag angemessene(n) Formulierungs- und Gestaltungsoptionen Überarbeitungskompetenz (Distanzieren vom eigenen Text, Identifizieren von Auffälligkeiten, Diagnostizieren, Bewerten von Alternativen) Produktperspektive • Sprachwerk • Konzeptualität Ausdruckskompetenz (Ausgleich fehlender Ausdrucksqualitäten wie Mimik/ Gestik durch lexikalische und syntaktische Mittel) Kontextualisierungskompetenz (Aufbau einer aus sich heraus verständlichen Textwelt) Textgestaltungskompetenz (Aufbau und Strukturierung des Textes in einer nachvollziehbaren Ordnung: u.U. auf der Basis von Textsortenwissen) Antizipationskompetenz (Einschätzung und Vorwegnahme möglicher Leserreaktionen) Metakognitives und Problemlösewissen Deklaratives Wissen Prozedurales Wissen (motorisch-technisch) Motivation Schreibkompetenz Abb. 8: Schreibkompetenzmodell von Baurmann/ Pohl (2009: 96) Der Vorteil des Schreibkompetenzmodells von Baurmann/ Pohl liegt in der Trennung von Prozess- und Produktperspektive. Unabhängig von Vorwissen, Motivation und motorischen Voraussetzungen zeigt das Modell, dass Defizite im Schreibprodukt aus dem Schreibprozess selbst resultieren können, der in unserem Fall eng mit der Verstehensleistung des Primärtextes verknüpft ist, aber dass sie auch aus Faktoren entstehen können, die das Produkt betreffen: z.-B. fehlende Antizipationskompetenz. Wir wissen aus der Schreibforschung, dass Schreiber: innen sich von einer egozentrischen Textwahrnehmung hin zur Antizipation eines generalisierten Lesers entwickeln (Baurmann/ Pohl 2009: 98). Theoretisch zeugt es also davon, dass Schüler: innen in ihrer Schreibentwicklung bereits fortgeschritten sind, wenn sie in ihrer Inhaltsangabe referen- <?page no="112"?> 112 5 Textverstehen überprüfen zielle Unterspezifikationen des Primärtextes beibehalten oder dort gegebene Informationen auslassen, die sie bei der Lehrkraft als Leser: in voraussetzen. Lehrkräfte sollten sich des Phänomens der Interkohärenz bewusst sein, das wir im Abschnitt 3.1 vorgestellt haben. In diesem Fall fällt es leichter, unzulässige Unterspezifikationen oder Kohärenzbrüche in Schülertexten zu bemerken. Ohne Gespräch mit Schüler: innen können Lehrkräfte aber nicht wissen, ob Kohärenzlücken daraus resultieren, dass mit dem Adressaten (der Lehrkraft) geteiltes Wissen implizit bleibt, also eine Fehlvorstellung über die geforderte schulische Textsorte vorliegt, oder ob der Primärtext nicht verstanden wurde. 5.2 Kann man Rezeptionsleistung ohne Produktionsleistung messen? Wir möchten Lehrkräften in diesem Kapitel Mut machen, alternative Aufgabenformate anstelle umfangreicherer offener Schülertexte zu erproben. Allerdings ist ein Einblick in Rezeptionsleistungen ganz ohne Produktionsleistungen im schulischen Kontext wohl nicht denkbar, schließlich können wir nicht in die Köpfe der Schüler: innen schauen. Aus unserer Sicht gibt es jedoch Aufgabenformate, die zumindest alternative Produkte ermöglichen. Natürlich müssen dann in der Leistungssituation entsprechend angepasste Bewertungskriterien für die jeweiligen Schülerlösungen gefunden werden. Doch im Sinne von Aufgaben als Support erscheint es uns gerade für Schüler: innen, die Probleme haben, eigenständig längere Texte zu verfassen, wichtig, andere Formate als Aufsätze auszuprobieren - nicht nur im Sinne der Schülermotivation, sondern auch aus diagnostischer Sicht, um als Lehrkraft herausfinden zu können, wo Rezeptionsschwierigkeiten und wo Produktionsschwierigkeiten vorliegen. Wir schauen uns im Verlauf des Kapitels am Beispiel von Sonntag die bereits in anderen Kapiteln vorgestellten Textverstehensebenen mit ausgewählten Beispielen an. Dabei werden auch Grenzen der Überprüfbarkeit von Textverstehen ohne die typische Aufsatzproduktion deutlich. 5.2.1 Hierarchieniedrige Prozesse im Blick: Lexik, Kohäsion und lokale Kohärenzetablierung erfassen Sind Schüler: innen nicht in der Lage, einen eigenen Text zu einem Primärtext zu erfassen, sollte zuerst abgeklärt werden, ob vielleicht Probleme auf der Ebene von Lexik oder Kohäsion vorliegen. Dies kann im Unterrichtsgespräch erfragt werden. Auch die Methode des Lauten Denkens kann diesbezüglich Anhalts- <?page no="113"?> 113 5.2 Kann man Rezeptionsleistung ohne Produktionsleistung messen? punkte bieten. Aber welche Möglichkeiten gibt es in der Leistungssituation? Hier ist die Lehrkraft im Vorfeld des Tests gefragt, möglichst sicher zu antizipieren, welche Wörter Probleme bereiten könnten. Natürlich könnte die Lehrkraft dann verlangen, dass Schüler: innen schriftlich definieren, was sie unter einem bestimmten Wort verstehen. Doch weiß jeder, wie schwer es sein kann, ein Wort möglichst prägnant zu erklären. Ist jemand in einer Leistungssituation nicht in der Lage zu formulieren, was ein Vandale ist, heißt das nicht zwingend, dass er es nicht weiß. Dem Problem lässt sich leicht mit einer geschlossenen Aufgabe Abhilfe schaffen, die folgendermaßen aussehen könnte: Aufgabe 8 (Übung für den Unterricht) Im Text Sonntag von Selim Özdogan geht es um einen Vandalen. Setze ein Kreuz bei der Definition, die am besten für diesen Text beschreibt, was das ist: (a) Ein Vandale ist ein Schwarzfahrer in der Bahn. (b) Ein Vandale ist Angehöriger eines ostgermanischen Volksstamms. (c) Ein Vandale ist ein betrunkener Jugendlicher. (d) Ein Vandale ist ein zerstörungswütiger Mensch. Natürlich wäre es auch möglich, unabhängig vom Primärtext nach der Bedeutung des Wortes Vandale zu fragen, doch wollen wir mit der Aufgabe darauf aufmerksam machen, dass auch auf Wortebene Kotexte einbezogen werden können, ohne dass wir direkt lokale Kohärenz überprüfen. Wer eine ungefähre Ahnung hat, was ein Wort bedeutet, kann es sich oft aus dem Zusammenhang erschließen. Das kann jedoch auch scheitern, was zum Ankreuzen der Option (a) oder (c) führen würde. Um für dieses Problem zu sensibilisieren, empfiehlt es sich aus unserer Sicht, zusätzlich zu einer entsprechenden Aufgabe ein Wörterbuch bereitzustellen oder ein digitales Nachschlagewerk einzubeziehen. So haben Schüler: innen die Möglichkeit, Ihre Antwort zu überprüfen und in unserem Fall die Wahloptionen auf (b) und (d) zu begrenzen. Derartige Aufgaben sollen schließlich nicht das Vorwissen der Schüler: innen prüfen, sondern inwiefern sie überhaupt Schwierigkeiten auf Wort- und Satzebene wahrnehmen. Gerade Kurzprosa wie Sonntag wirkt auf den ersten Blick leicht, weil die Wortwahl oftmals an die Alltagssprache angelehnt ist. Wie schon gezeigt, treten Schwierigkeiten eher auf Referenz-Ebene auf, z.-B. worauf referiert es in es überstanden zu haben. Die Anforderungen, denen Le- <?page no="114"?> 114 5 Textverstehen überprüfen sende hier begegnen, hängen mit den Merkmalen literarischer Texte zusammen, wie wir sie in Kapitel 4 beschrieben haben, hauptsächlich mit Unbestimmtheit, da sich die Fragen im Laufe des Textes nur bedingt klären lassen. Wie kann für Schüler: innen erkennbar gemacht werden, dass diese Fragen es wert sind, gestellt zu werden, und wie können Lehrkräfte fruchtbare Irritationen auf hierarchieniedrigen Ebenen unterhalb globaler Kohärenz und Textsinn auch in Leistungssituationen inszenieren? Formulieren wir hier eine geschlossene Frage wie die, was mit es gemeint sei, sind wir bereits auf Ebene der lokalen Kohärenz, da dann mehrere Textstellen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen, um plausible von weniger plausiblen Lösungen zu unterscheiden, z.B.: (51) Im Text erzählt ein Ich gleich zu Beginn, vom wiederholt auftretenden positiven Gefühl, „es überstanden zu haben“. Was könnte mit diesem Es gemeint sein? Kreuze bei den folgenden Antwortmöglichkeiten an, ob du sie für plausibel hältst. Wenn das der Fall ist, markiere den Buchstaben und einen passenden Textbeleg im Primärtext in derselben Farbe. „es überstanden zu haben“: plausibel nicht plausibel (a) eine Krankheit (a) eine Prüfung (a) ein Alkoholrausch (a) eine Straftat Abb. 9: Geschlossene Aufgabe zur lokalen Kohärenzetablierung bei Sonntag Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, Fragen nur auf Wort- und Satzebene ohne Produktionsleistung zu provozieren. Schließlich mögen Markierungen im Text ein Indiz dafür darstellen, dass Textstellen mit dem Pronomen es sinn- <?page no="115"?> 115 5.2 Kann man Rezeptionsleistung ohne Produktionsleistung messen? voll in Verbindung gebracht werden, aber um das sicher zu wissen, bedarf es einer Begründung. Eine entsprechende weiterführende Produktionsaufgabe, bei der es darum ginge, die Entscheidung mithilfe des Primärtextes schriftlich zu begründen, wäre zu ergänzen. Letztendlich könnte eine Lehrkraft, die zunächst mit geschlossenen Aufgaben und den damit verbundenen Markierungen arbeitet, voraussichtlich mehr über die Verstehensleistung schwächerer Schüler: innen aussagen, als eine andere Lehrkraft, die gleich eine ausformulierte Erläuterung einfordert, wofür es stehen könne. 5.2.2 Hierarchiehohe Prozesse im Blick: Globale Kohärenzetablierung und Textsinn erfassen Bei der Erfassung hierarchieniedriger Verstehensleistungen sind bereits Grenzen von Aufgaben deutlich geworden, die auf Produktionsleistung im Sinne offener Schülertexte verzichten. Dennoch möchten wir verstärkt die Möglichkeiten in den Fokus rücken, die halboffene und geschlossene Aufgaben bieten, um Rezeptionsprozesse diagnostisch zu erfassen. Diese Möglichkeiten bieten sich nicht nur in Hinblick auf hierarchieniedrige Prozesse, sondern auch in Hinblick auf die Erfassung von globaler Kohärenz und Textsinn. Ein Beispiel für eine halboffene Aufgabe zur Kohärenzetablierung bei Sonntag sehen wir in der Erstellung eines Zeitstrahls. Wer sich begründet entscheiden kann, in welcher Reihenfolge die Ereignisse im Text stattfinden, gelangt auch zu einer Hypothese, ob das Ich im Text der Vandale war oder nicht. Die Aufgabe muss aber entsprechenden Spielraum für die Einordnung der Geschehnisse lassen: Aufgabe 9 (Übung für den Unterricht) Schneide die Kärtchen mit den Textstellen aus und ordne die dort beschriebenen Szenen aus Sonntag den Zeitpunkten am Zeitstrahl zu. Falls es mehrere Varianten gibt, kennzeichne das am Zeitstrahl mit den Buchstaben. (a) Jemand sitzt in der Bahn und liest, dass die Polizei ein Belohnungsgeld zur Ergreifung eines Vandalen ausgesetzt hat. (b) Jemand fährt mit dem Fahrrad an einer kaputten Bushaltestelle vorbei. (c) Jemand zerstört eine Bushaltestelle. (d) Jemand trinkt zu viel. (e) Jemand ist froh, etwas überstanden zu haben. <?page no="116"?> 116 5 Textverstehen überprüfen Samstagnacht Sonntagmorgen Sonntagmittag Sonntagabend Abb. 10: Zeitstrahl zu Sonntag Die Aufgabe erfordert es, alle zentralen Textstellen von Sonntag inhaltlich zueinander ins Verhältnis zu setzen, also globale Kohärenz zu etablieren. Sie steht damit den Anforderungen beim Schreiben einer Inhaltsangabe in nichts nach. Jedoch liefert sie denen Support, die Schwierigkeiten haben, in eigenen Worten eine Inhaltsangabe zu schreiben. Wenn jemand erkennt, dass es mehrere Varianten gibt und diese in einer nachfolgenden Produktionsaufgabe mit Textbelegen auf ihre Plausibilität prüft, bewegen wir uns auf Ebene des Textsinns. Diesen ohne Produktionsleistung zu erfassen, sehen wir als problematisch an. Wir möchten jedoch auch hier zu Varianz anregen und plädieren in Leistungssituationen dafür, halboffene und geschlossene Aufgaben mit offenen Aufträgen zu kombinieren. Lehrkräfte sollten wissen, was Schüler: innen bereits verstanden haben, also Lexik, Kohäsion und lokale Kohärenz in den Blick nehmen, bevor sie nach dem Textsinn fragen. Abschließend möchten wir zu Erfassung des Textsinns auf Aufgaben im Bereich der Handlungs- und Produktionsorientierung verweisen, auch wenn diese Aufgaben spezifische Bewertungsprobleme mit sich bringen. Eine Aufgabe, die sowohl globale Kohärenz als auch Zuweisung von Textsinn anregen könnte und die Idee des Zeitstrahls fortsetzt, ist: Aufgabe 10 (Übung für den Unterricht) Zeichne händisch oder am Rechner eine Bildergeschichte zu Sonntag, die den Zeitraum von Samstagabend bis Montag umfasst. Beim Bild zum Montag musst du über den Text hinausgehen und dir überlegen, wie es weitergehen könnte. Die Aufgabe ließe sich auch auf die Darstellung der Geschichte bis zur Bahnfahrt begrenzen. Die Frage, wie es weitergeht, verlangt jedoch eine Entscheidung, ob der Erzähler zur Polizei geht und ob er sich oder eine andere Person anzeigt. Aber auch ohne die Geschichte weiterführen zu müssen, regt die zeichnerisch herausfordernde Aufgabe die Zuweisung von Textsinn an: Schüler: in- <?page no="117"?> 117 5.3 Weiterführende Literatur nen müssen entscheiden, ob der Erzähler und der Vandale identisch aussehen. Eine Alternative ist die Produktion eines kleines Films mit vorgezeichneten Figuren, aus denen die Schüler: innen auswählen können. Wir haben uns hier mit Bewertungsfragen zurückgehalten, wohl wissend, dass diese für jede Lehrkraft von Bedeutung sind. Aus unserer Sicht sind in jedem Fall Begründungen und Reflexionen unabdingbar. Allerdings lässt sich doch auch überlegen, inwiefern diese mündlich stattfinden können. 5.2.3 Lernen aus Leistungsaufgaben Rezeptions- und Produktionsleistung lassen sich nur bedingt trennen. Unsere Aufgaben sollen Anregungen bieten, wie dies zumindest in Ansätzen gelingen kann. Wir plädieren damit für die Unterscheidung exekutiver und geistiger Tätigkeiten (Köster 2018: 52-54). Wer Probleme hat, einen offenen Arbeitsauftrag zu erfüllen, weil er vielleicht nicht über die nötige Antizipations- oder Formulierungskompetenz verfügt, hat nicht automatisch nichts vom Primärtext verstanden. Textverstehensaufgaben in Leistungssituationen haben u.-a. das Ziel herauszufinden, was der Schüler: innen bereits verstanden haben und was noch nicht. Geschlossene Aufgaben sind nicht per se leicht. Für Lehrkräfte mag es eine Herausforderung sein, geeignete Items zu formulieren, gerade wenn die Aufgabe der Mehrdeutigkeit eines literarischen Textes gerecht werden soll. Bei der Konzeption entsprechender halboffener und geschlossener Aufgaben lernt die Lehrkraft im Zweifelsfall nicht nur aus den Fehlern der Schüler, sondern auch aus den eigenen Fehlern, wenn sich eine Aufgabe beispielsweise durch das Ausschlussprinzip lösen ließ. Letztendlich lohnt sich der Aufwand aus unserer Sicht, weil Lehrkräfte mittels Support auch schwächeren Schüler: innen ermöglichen können, globale Kohärenz zu etablieren und Textsinn zuzuweisen. 5.3 Weiterführende Literatur Grundlegendes zur Einschätzung von Aufgabenschwierigkeit und zur Konzeption eigener Aufgaben findet sich bei Winkler (2010) sowie ausführlicher bei Köster (2018). <?page no="119"?> 119 5.3 Weiterführende Literatur 6 Fazit Textlinguistik ist ein integraler Bestandteil der Deutschdidaktik. Viele didaktische Modelle zum Umgang mit Texten erinnern auch ohne expliziten Bezug an längst erhärtete textlinguistische Theorien und Annahmen. Einigkeit besteht insbesondere darin, dass Textverstehen ein kreativer Prozess ist, der entscheidend von Vorkenntnissen und -annahmen der Lesenden bestimmt wird. Wir haben versucht zu zeigen, dass die Kenntnis originär textlinguistischer Konzepte wie Textsorte sowie Kohäsion, Kohärenz und Textsinn als Ebenen des Textverstehens dazu verhelfen können, Probleme des Deutschunterrichtes zu erkennen und zu lösen. Der Umgang mit Texten ist ein natürlicher Prozess alltäglicher Kommunikation, schriftlich oder mündlich, der auch außerhalb des Deutschunterrichtes stattfindet. Deutschlehrer: innen tun stets gut daran, die natürliche Fähigkeit des Menschen zur Sprach- und eben auch Textverarbeitung im Blick zu halten und sich der Stellen bewusst zu sein, wo der Deutschunterricht andere, spezifisch schulische Prozesse verlangt, etwa im Bereich der ‚schulischen Textsorten‘ und der Interkohärenz beim textbezogenen Schreiben. Spezifika literarischer Texte und literarischen Textverstehens stehen in der Textlinguistik nur selten im Fokus; sie sind ein schwieriger und daher ungeliebter Spezialfall der Textverarbeitung. Für den Schulkontext wäre eine Darstellung des Textverstehens ohne literarisches Verstehen unvollständig und kaum für die Praxis brauchbar. Wir haben gezeigt, dass man auch hier mit Linguistik weiterkommt: Der Verzicht auf den Anspruch einer vollständigen ‚Vereindeutigung‘ eines Textes öffnet den Blick für Verstehensprozesse, die auf den linguistischen Beschreibungsebenen Kohäsion, lokale und globale Kohärenz und schließlich Textsinn anzusiedeln sind. Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass es auch für die Konstruktion von Aufgaben vorteilhaft ist, sich dieser Ebenen bewusst zu sein und Textverstehen von innen nach außen, von kleinen zu großen Einheiten anzugehen. <?page no="121"?> 121 5.3 Weiterführende Literatur Lösungshinweise zu den Aufgaben Bei einem Großteil unserer Aufgaben handelt es sich um Reflexionsanregungen, die zum Nachdenken anregen sollen. Es erscheint uns nicht möglich und auch nicht sinnvoll, vollständige Erwartungsbilder anzufügen. Überlegungen zu den jeweiligen Aufgaben sind direkt im Fließtext verankert. Hier finden sich Verweise auf die jeweiligen Seitenzahlen sowie einzelne weiterführende Gedanken, wo wir dies für sinnvoll halten. Aufgabe 1 (Reflexion) Wichtig für diese Übung ist es, zunächst wirklich alle Fragen zuzulassen, auch wenn sie einem vielleicht auf den ersten Blick banal erscheinen. Wir liefern an dieser Stelle ein Beispiel aus einem Laut-Denk-Protokoll einer Lehrkraft, die gebeten wurde, ihre offenen Fragen nach der Relektüre zu formulieren: „Es gibt jetzt ÜBERHAUPT keine Hinweise zum Ich-Erzähler. Weder Alter, Aussehen, Geschlecht. […] Warum wird jetzt automatisch trinken, aggressiv werden männlichen Jugendlichen zugeordnet? Also, für mich ist das nach wie vor immer noch eine Tatsache. Also, dass man das nicht pauschalisiert sagen kann. Also, dass das nicht auf weibliche Teenager auch zutreffen könnte. Also, DAS bleibt nach wie vor eben auch eine Frage. Und die dann vielleicht auch, wenn man das in einer Klasse behandelt, Diskussionspotenzial hätte. Also, dieses, KLISCHEEARTIGE. Und dass eben, wie schon gesagt, man aus dem Text, wenn man jetzt sagen würde, markiere dir alle Stellen, die etwas zum Ich-Erzähler, seinem Aussehen, kann man das nicht machen. Also, man kann jetzt nur anhand der Kurzgeschichte nachvollziehen, Tageszeit und wie bewegt derjenige sich von dem Tag zuvor zu dem Sonntag und dann enden mit diesem Abend. Und dann offenlassen. Eine Belohnung ist ausgeschrieben. Wie wird er sich verhalten? “ Die Fragen liegen auf unterschiedlichen Ebenen, gehen teilweise über den Plot der Geschichte hinaus: Wie können nicht herausfinden, wie sich der Erzähler am Montag verhalten wird. Doch hilft das Formulieren der Fragen auch, einander widersprechende Informationen bzw. fehlende Informationen im Text ausfindig zu machen, die zur globalen Kohärenzetablierung bzw. Textsinnzuweisung identifiziert werden müssen. Über das Formulieren der Fragen wird sich auch die Lehrkraft im Beispieltranskript bewusst, dass uns <?page no="122"?> 122 Lösungshinweise zu den Aufgaben Informationen zum Ich-Erzähler fehlen, um die Schulfrage abschließend zu klären. Aufgabe 2 (Übung für den Unterricht) Die entstehenden Texte könnten folgendermaßen aussehen: (a) Sehr geehrte Frau Müller, ich bitte Sie, mein Fehlen in der letzten Biologiestunde am Mittwoch zu entschuldigen. Ich war krank. Die Krankschreibung finden Sie anbei. Könnten Sie mit bitte kurz per Mail mitteilen, was ich verpasst habe bzw. wie die Hausaufgaben aussehen? Mit freundlichen Grüßen Tim Maier. (b) Hey Joe, ich war Mittwoch krank und konnte nicht zu Bio gehen. Kannst du mir kurz schreiben, was ich verpasst hab und wie die Hausaufgaben aussehen? Schließlich naht die nächste Klausur ; ) LG Tim (c) hey joe, was hab ich in bio verpasst? ; ) Aufgabe 3 (Reflexion) Als literarisches Sachbuch wäre der Text unmittelbar in der Mitte einer solchen Skala zu verorten, also bei Stufe 2 oder 3. Aufgabe 4 (Übung für den Unterricht) Es sollte deutlich werden, dass die Textstellen sich stark hinsichtlich der Stimmung und Stilebene unterscheiden. Die positive Stimmung des Ich-Erzählers in (43), der sich „voller Liebe“ fühlt, passt weder zur Freude über Zerstörung, die mit „meine Fresse“ kommentiert wird (44), noch zur Trauer in (45). Die drei Textstellen legen entsprechend nahe, dass der Erzähler nicht der Vandale sein kann, obwohl andere Textstellen darauf hindeuten. <?page no="123"?> 123 Lösungshinweise zu den Aufgaben Aufgabe 5 (Übung für den Unterricht) Eine Musterlösung könnte folgendermaßen aussehen: Lieber Herr Müller, ich danke Ihnen für den Entwurf des Artikels zum Vandalismus in Neubrandenburg. Allerdings können wir ihn so nicht drucken. Um die Glaubwürdigkeit unserer Zeitung nicht zu gefährden, bitte ich Sie um zeitnahe Überarbeitung. Bitte drücken Sie sich weniger metaphorisch aus und ersetzen Sie die „glitzernde[n], kleine[n] Dinger“ durch „Scherben“. Außerdem bitte ich Sie, auf Ihre doch sehr fragwürdigen Wertungen („ein Bild für die Götter“ und „leicht verdientes Geld“) zu verzichten. Vielen Dank für Ihre Mühe im Voraus! Mit freundlichen Grüßen Susanne Hauser Aufgabe 6 (Reflexion) Im Sinne Zabkas erscheint es für das Verständnis des Textes aus unserer Sicht unverzichtbar zu erkennen, dass es einander widersprechende Informationen im Text dazu gibt, ob der Ich-Erzähler der Vandale war. Inwiefern die Schüler die entsprechenden Textstellen selbst identifizieren können oder dazu angeleitet werden müssen, hängt von der jeweiligen Klasse ab. Als Hilfe denkbar wären Markierungen der unterschiedlichen Stimmungslagen . Aufgabe 7 (Übung für den Unterricht) Als Textstellen wären exemplarisch identifizierbar: <?page no="124"?> 124 Lösungshinweise zu den Aufgaben Textstellen, die dafür sprechen Textstellen, die dagegen sprechen (a) „Leicht verdientes Geld“; „Wie kann man nur so drauf kommen? “ „In Wirklichkeit habe ich eine ziemlich genaue Ahnung, wie man auf so eine Idee kommt.“; „Scheiße, Mann, wie wir diese Bushaltestelle auseinandergenommen haben, alles nur noch Schutt und Asche, war das geil. Wie diese riesigen Scheiben zerbrochen sind, klirr, und glitzernde, kleine Dinger ergossen sich auf die Straße, ein Bild für die Götter.“ (b) „Leicht verdientes Geld.“; „Wie kann man nur so drauf kommen? “ „Es war Samstagnacht gewesen, ein paar Jungs, immer Jungs, und niemals weniger als zwei, die sich betrinken.“ (c) „Ich fühlte mich gut und war voller Liebe“; „Noch einmal dieses Gefühl, es überstanden zu haben.“; „In Wirklichkeit habe ich eine ziemlich genaue Ahnung, wie man auf so eine Idee kommt.“ „Wie kann man nur so drauf kommen? “ (d) „In Wirklichkeit habe ich eine ziemlich genaue Ahnung, wie man auf so eine Idee kommt.“; „Scheiße, Mann, wie wir diese Bushaltestelle auseinandergenommen haben, alles nur noch Schutt und Asche, war das geil. Wie diese riesigen Scheiben zerbrochen sind, klirr, und glitzernde, kleine Dinger ergossen sich auf die Straße, ein Bild für die Götter.“ „Ich fühlte mich gut und war voller Liebe.“; „Leicht verdientes Geld“; „Wie kann man nur so drauf kommen? “ <?page no="125"?> 125 Lösungshinweise zu den Aufgaben Aufgabe 8 (Übung für den Unterricht) Nur Antwort (d) ist in Hinblick auf den Text korrekt. Aufgabe 9 (Übung für den Unterricht) Samstagnacht: (d), (c) → Sonntagmorgen: (e) → Sonntagmittag: (e), (b) → Sonntagabend: (a) Aufgabe 10 (Übung für den Unterricht) Die Bildergeschichte sollte Bilder zu Samstagnacht, Sonntagmorgen bzw. Sonntagmittag, Sonntagabend und Montag umfassen. Spannend für die Diskussion ist die Frage, ob die Figur des Vandalen genauso aussieht wie die des Erzählers. Entscheidend ist also nicht das Zeichnen selbst, sondern die Anschlusskommunikation über das Gezeichnete und die entsprechende Arbeit mit Textstellen zur Begründung der eigenen Verstehenshypothesen. <?page no="127"?> 127 5.3 Weiterführende Literatur Literatur (Auszug) Dieses Verzeichnis enthält nur die wichtigsten Quellen, die in diesem Band zitiert werden. Das vollständige Verzeichnis, in dem ebenfalls die besprochenen Lehrwerke aufgeführt sind, findet sich unter www.narr.de und www.textlingustik.net Abraham, Ulf; Müller, Astrid (2009): Aus Leistungsaufgaben lernen. In: Praxis Deutsch (214), S.-4-12. Artelt, Cordula et al. (2004): Die PISA-Studie zur Lesekompetenz. Überblick und weiterführende Anlysen. In: Ulrich Schiefele; Cordula Artelt; Wolfgang Schneider; Petra Stanat (Hg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.-139-168. 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Dieser Band verbindet linguistische Konzepte mit Fragen der Literatur- und Sprachdidaktik und setzt folgende Schwerpunkte: Textkohärenz als wesentliches Kriterium für das Herstellen und Verstehen von Texten; Textsortenkompetenz als kommunikative und soziale Kompetenz; spezifisch schulische Textsorten; Textverstehen und Textproduktion aus linguistischer und didaktischer Perspektive; literarisches Verstehen und Textlinguistik als Brücke zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft; textlinguistische Methoden und Konzepte, die für die schulische Vermittlung und Überprüfung von Textkompetenz hilfreich sein können. Einprägsame Definitionen zentraler Begriffe sowie Aufgaben erleichtern das Verständnis. Der Text