Sprachliche Zweifelsfälle
Definition, Betrachtungsdimensionen und Erforschung
0630
2025
978-3-8233-9372-6
978-3-8233-8372-7
Gunter Narr Verlag
Renata Szczepaniak
10.24053/9783823393726
Das Buch widmet sich den sprachlichen Zweifelsfällen. Darunter fallen bspw. die schwankende Kasusrektion bei Präpositionen wie wegen oder dank oder auch Flexionsformen von Substantiven wie bei dem Helden und dem Held. Im Buch werden korpus-, sozio- und psycholinguistische Betrachtungsdimensionen diskutiert, mit denen sich Zweifelsfälle bezüglich ihrer Grammatikalität und Angemessenheit, ihres Gebrauchs, ihrer sozialen Bedeutsamkeit und ihrer Verarbeitung adäquat beschreiben und vom sprachlichen Fehler abgrenzen lassen. Das Buch wendet sich mit der Analyse konkreter Zweifelsfälle, in der die vielfältigen Forschungszugänge fruchtbar gemacht werden, auch an Lehramtsstudierende und schulische Lehrkräfte.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8372-7 Das Buch widmet sich den sprachlichen Zweifelsfällen. Darunter fallen bspw. die schwankende Kasusrektion bei Präpositionen wie wegen oder dank oder auch Flexionsformen von Substantiven wie bei dem Helden und dem Held. Im Buch werden korpus-, sozio- und psycholinguistische Betrachtungsdimensionen diskutiert, mit denen sich Zweifelsfälle bezüglich ihrer Grammatikalität und Angemessenheit, ihres Gebrauchs, ihrer sozialen Bedeutsamkeit und ihrer Verarbeitung adäquat beschreiben und vom sprachlichen Fehler abgrenzen lassen. Das Buch wendet sich mit der Analyse konkreter Zweifelsfälle, in der die vielfältigen Forschungszugänge fruchtbar gemacht werden, auch an Lehramtsstudierende und schulische Lehrkräfte. Szczepaniak Sprachliche Zweifelsfälle Sprachliche Zweifelsfälle Definition, Betrachtungsdimensionen und Erforschung Renata Szczepaniak 18372_Umschlag Alle Seiten 18372_Umschlag Alle Seiten 05.06.2025 10: 10: 08 05.06.2025 10: 10: 08 <?page no="1"?> Sprachliche Zweifelsfälle <?page no="2"?> narr studienbücher Prof. Dr. Renata Szczepaniak lehrt Historische Sprachwissenschaft des Deutschen an der Universität Leipzig. <?page no="3"?> Renata Szczepaniak Sprachliche Zweifelsfälle Definition, Betrachtungsdimensionen und Erforschung <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823393726 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-8372-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9372-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0533-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 1 11 1.1 11 1.2 13 1.3 15 2 17 2.1 18 2.1.1 19 2.1.2 19 2.2 22 2.2.1 23 2.2.2 24 2.2.3 26 2.3 26 A 3 31 3.1 31 3.1.1 34 3.1.2 38 3.2 42 3.2.1 45 3.2.2 47 3.2.3 53 3.3 56 4 59 4.1 59 4.1.1 62 4.1.2 65 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denkimpulse oder: Was passiert bei sprachlichen Zweifelsfällen? . . . Ziel und Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozedurale Sprachkompetenz (Sprachfertigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexive (oder deklarative) Sprachkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Zweifelsfälle und sprachspezifische Kompetenzen . . . . . Kompetenz auf einzelnen Ebenen des Sprachsystems . . . . . . . . . . . . . . Variationskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatische Kompetenz (Handlungskompetenz) . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Zweifelsfälle - Zustand der Unbestimmtheit . . . . . . . . . . Dimensionen der sprachlichen Zweifelsfälle Grammatische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Grammatikalität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatische Regelkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatikalität und Akzeptabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eine sprachliche Variante? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die innersprachliche Ebene der Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die außersprachliche Ebene der Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebrauchshäufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Imperfektabilität des Sprachsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolinguistische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Bedeutung von sprachlichen Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indexikalisierung und Registrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4.2 67 4.2.1 67 4.2.2 73 4.2.3 81 4.2.4 84 4.3 86 4.3.1 86 4.3.2 89 4.3.3 91 4.3.4 95 5 99 5.1 100 5.2 102 5.3 105 6 107 B 7 113 7.1 113 7.1.1 113 7.1.2 123 7.2 128 7.2.1 128 7.2.2 133 7.3 142 7.3.1 142 7.3.2 150 7.4 155 7.4.1 155 7.4.2 161 8 167 8.1 167 8.2 172 Standardsprache und Standardvarietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Merkmale der Standardsprachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardisierung des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normierung, ihre Akzeptanz und Destandardisierung . . . . . . . . . . . . . Standardsprachliche Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskurse über die Standardsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metapragmatische Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstellungen zu sprachlichen Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardsprachideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandel der Leitvarietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimension der Sprachbewusstheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein Fehler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehler und sprachliche Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrekturverhalten der Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsperspektiven der sprachlichen Zweifelsfälle Grammatik und Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebrauchanalyse: Was wird tatsächlich gebraucht: Genitiv oder Dativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf . . . . . . . . Grammatische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebrauchsanalyse: Wie häufig flektieren starke Verben schwach? . . Schwache Maskulina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebrauchsanalyse: Abbau schwacher Flexionsmerkmale . . . . . . . . . . Der am-Progressiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebrauchsanalyse: Der Grammatikalisierungsgrad des am-Progressivs im Varietätenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrektheit und Angemessenheit von Genitiv und Dativ als Rektionskasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bekanntheit starker und schwacher Formen niedrig frequenter starker Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 8.3 177 8.4 180 9 185 9.1 185 9.2 193 9.3 200 10 207 10.1 207 10.2 212 10.3 216 219 219 220 221 238 Bekanntheit starker Flexionsformen unprototypischer schwacher Maskulina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akzeptabilität des am-Progressivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskurse über grammatische Zweifelsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Genitiv oder Dativ die bessere Wahl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soll winken stark oder schwach flektiert werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehört der am-Progressiv zur Standardsprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präpositionalkasus: Genitiv vs. Dativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Starke und schwache Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwache Maskulina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatiken und Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenbanken und Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> All grammars leak. E D WA R D S A P I R ([1921] 2014: 39) <?page no="9"?> Vorwort Seit über 15 Jahren setze ich mich gemeinsam mit meinen Studierenden mit den sprachlichen Zweifelsfällen in Seminaren und Vorlesungen auseinander. Immer wieder aufs Neue mache ich an verschiedenen Universitäten die Erfahrung, dass das Thema wie kein anderes Interesse weckt. Studierende der Germanistik und der Sprachdidaktik wollen sprachliche Zweifelsfälle ergründen, sie haben das Gefühl, für ihre künftigen Berufe äußerst Relevantes zu erlernen. Sprachliche Zweifelsfälle haben das Potential, Interesse an der Sprache und der Sprachwissenschaft zu erwecken. Sie sind zugleich auch deswegen so interessant, weil sie äußerst komplexe Phänomene darstellen, die grammatische ebenso wie gebrauchslinguistische, sozio- und diskurslinguistische sowie psycholinguistische Zugänge benötigen. Die Begeisterung für dieses Thema hat im Rahmen meiner Lehrtätigkeit zu vielen sehr guten Forschungsarbeiten geführt, auf die ich in diesem Buch eingehen werde. Neben exzellenten Promotionen werden hier auch einige sonst in der Schublade verstaubende hervorragende Haus- und Masterarbeiten gewürdigt. Das Buch profitiert vom akademischen Austausch, an dem ich beteiligt sein durfte und darf. Die sprachlichen Zweifelsfälle begeistern auch deswegen, weil die Studierenden als Sprachnutzerinnen mit ihnen auf verschiedene Weise im Alltag konfrontiert werden. Es liegt in der Natur der Zweifelsfälle, dass sie nicht wie für grammatische Phänomene üblich unbemerkt zum Einsatz in sprachlichen Handlungen kommen. Grammatik stellt eigentlich einen Pool an Routinen zur Verfügung, über die im Zuge der Äußerung nicht nachgedacht wird. Sprachliche Zweifelsfälle hingegen beschäftigen und bewegen die Gemüter. Dem Verlag und insbesondere Tillmann Bub danke ich für die engagierte und freundliche Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Marius Krusch, Linda Kunow und Jette Sterz bin ich für die kritische Lektüre der ersten Fassung und die vielen fruchtbaren Kommentare sehr dankbar. Marlies Konrad und Lisa Schor danke ich für die Unterstützung bei der Erstellung von Abbildungen. Leipzig, im Frühjahr 2025 Renata Szczepaniak <?page no="11"?> 1 Einleitung und Überblick Dieses Kapitel leitet in das Thema ein und gibt einen Überblick über den Aufbau des Buches. Leitfragen des Kapitels sind: ● Welche Relevanz haben sprachliche Zweifelsfälle im Alltag? ● Welche Forschungszugänge gibt es bei sprachlichen Zweifelsfällen? Dieses Buch ist eine Einführung in das Phänomen der sprachlichen Zweifelsfälle. Damit schließt es an die Tatsache an, dass etwas so Selbstverständliches wie die Fähigkeit, sprachlich zu kommunizieren, in bestimmten Fällen nicht mehr selbstverständlich ist, weil über (im weiteren Sinne) grammatische Ausdrücke nachgedacht werden muss. Eigentlich liefert uns das Sprachsystem routinisierte Verfahren, so dass wir während der Kommunikation nicht über Grammatik, sondern über zu vermittelnde Inhalte oder Argumente reflektieren. Die Anwendung des grammatischen Wissens verläuft also meist unterschwellig und ungemerkt. Wer denkt schon darüber nach, dass im Imperativ von nehmen ein Vokalwechsel im Stamm vorzunehmen ist oder dass das Wort Regenschirm im Akkusativ keine Flexionsendung hat, wenn man jemanden warnen möchte: Nimm heute lieber den Regenschirm mit! In manchen Fällen aber bietet uns unser grammatisches Wissen zwei oder mehr Formen an, z. B. den Imperativ mit und ohne Vokalwechsel Befiehl oder Befehl mir bitte nicht! oder zwei Akkusativformen Spiel nicht den Helden oder den Held! Wird dann über die grammatische Richtigkeit der Formen nachgedacht und anschließend auch argumentiert und bewertet, haben wir mit einem sprachlichen Zweifelsfall zu tun. In diesem Moment ist Grammatik keine selbstverständliche Routine mehr. Das Buch wird zunächst aufzeigen, was sprachliche Zweifelsfälle sind und wie sie wissenschaftlich zu betrachten sind, und anschließend an ausgewählten Phänomenen die Betrachtungsdimensionen der Zweifelsfälle illustrie‐ ren. In diesem Kapitel werden Sie zunächst auf Ihre persönlichen Erfahrungen mit sprachlichen Zweifelsfällen angesprochen. Anschließend wird ein Überblick über den Aufbau des Buches angeboten. Es folgen ein paar Hinweise zur Lektüre. 1.1 Denkimpulse oder: Was passiert bei sprachlichen Zweifelsfällen? Sprachliche Zweifelsfälle sind in unserem Alltag präsent. Die folgenden zwei Denkim‐ pulse sollen illustrieren, welche Relevanz sie für uns haben und welche linguistischen Bereiche sie betreffen. <?page no="12"?> Denkimpuls 1 Möglicherweise müssen Sie gar nicht tief in Ihrem Gedächtnis graben, um sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie selbst sprachliche Zweifel erlebt haben. Überlegen Sie bitte, in welcher Situation und welches grammatische Phänomen Sie da beschäftigt hat. Wie haben Sie den Zweifel gelöst? Denkimpuls 2 Im folgenden Thread aus dem Language Forum von wordreference.com wird eine grammatische Frage gestellt. Wie würden Sie antworten? Wie würden Sie begrün‐ den? Der initiierende Beitrag (28.07.2007, 15: 55): Ich verwende das Wort „dank“ eigentlich immer mit Genitiv. also: Dank des Einsatzes der Feuerwehr… Dank deiner Bemühungen … Nun hab ich heute wieder in einem Buch gelesen: dank dem schnellen Eingreifen … und das klingt für mich so falsch. Der Denkimpuls 1 lädt sie dazu ein, über eigene sprachliche Zweifel nachzudenken. Sie haben womöglich an solche Phänomene angeschlossen, die in der Einleitung erwähnt wurden. Es gibt einige sog. schwache Maskulina wie Held, Bär oder Prinz, für die neben der flektierten Form den Helden, den Bären, den Prinzen, auch eine endungslose den Held, den Bär oder den Prinz bekannt sind. Das ist ein möglicher Auslöser von sprachlichen Zweifeln. Es kann aber sein, dass Sie sich an eine Geburtstagsrede erinnert haben, in der mit der am-Progressivform Wir waren gerade am Aufbrechen eine Anektode eingeleitet wurde, die Sie ins Grübeln brachte. Vielleicht haben Sie sich über Ihre Beobachtung mit Ihrer Tischnachbarin ausgetauscht? War sie derselben Meinung? Fand sie womöglich die Form in der familiären, wenn auch doch feierlichen Atmosphäre angemessen? Vielleicht sagte sie aber, dass sie die Form zwar akzeptiert, selbst aber nicht verwenden würde? An diesen zwei Beispielen sieht man schon, dass sprachliche Zweifelsfälle mehrere Aspekte betreffen. Es stellen sich zum einen Fragen nach der Grammatikalität der Formen. Zum anderen aber lösen sprachliche Zweifels‐ fälle auch Fragen aus, ob und welche Formen in einer Situation angemessen sind, was andere Personen über den Gebrauch dieser Formen denken, was die Verwendung dieser Formen über die Personen aussagt usw. Sprachliche Zweifelsfälle betreffen also nicht nur die Grammatikalität, sondern auch die Angemessenheit, die soziale Bedeutung und die Varietätenzugehörigkeit von sprachlichen Varianten. 12 1 Einleitung und Überblick <?page no="13"?> Im Denkimpuls 2 werden Sie dazu angeregt, die Rolle einer Expertin einzunehmen. Ist es etwas, was Sie häufiger tun? Füllen Sie sich sicher in dieser Rolle? Oder kommt es eher vor, dass Sie an der eigenen Sprachkompetenz zweifeln? In den Antworten in diesem Thread (nachzulesen in Szczepaniak 2014) werden unterschiedliche Positionen vertreten: Es werden beide Rektionsvarianten von dank als richtig angesehen oder es wird für den Gebrauch eines bestimmten Kasus in der Standardsprache plädiert. Auch das ist ein Spezifikum von sprachlichen Zweifelsfällen. Sie werden überindividuell unterschiedlich bewertet. Die Begründungen folgen dabei bestimmten im Diskurs gefestigten argumentativen Mustern. Sie berufen sich auf unterschiedliche Quellen: Internetseiten, allgemeines Wissen, Grammatiken. Sprachliche Zweifelsfälle laden also dazu ein, Korrekturen vorzunehmen und Fehlerhypothesen aufzustellen. Dabei werden sie auch diskursiv reflektiert. Sie können aber auch bewirken, dass der eigene Sprachgebrauch oder der einer anderen Person geringgeschätzt wird. Beide Denkimpulse zeigen, dass bei dem Phänomen der sprachlichen Zweifelsfälle viele linguistische Aspekte zusammenlaufen: die Grammatikalität, die Bekanntheit von Formen, die situative Angemessenheit, die soziale Bedeutung von sprachlichen Varianten, die sprachliche Expertise und Sprachbewusstheit und die diskursive Aus‐ einandersetzung mit der Standardsprache. Diese Aspekte können mit Hilfe entspre‐ chender Forschungszugänge in die wissenschaftliche Betrachtung der Zweifelsfälle eingebunden werden. Sprachliche Zweifelsfälle betreffen viele Dimensionen der Linguistik: die grammatische, die soziolinguistische, die Dimension der Sprachbewusstheit und die psycholinguistische Dimension. Für die Beschäftigung mit ihnen sind mehrere Forschungszugänge notwendig. 1.2 Ziel und Aufbau des Buches Ziel des Buches ist es, die sprachichlichen Zweifelsfälle aus grammatischer, gebrauchs‐ linguistischer, soziolinguistischer und psycholinguistischer Perspektive zu beleuchten, um ihre komplexe Natur aufzudecken. Das Buch hat zwei Teile, denen ein Kapitel zur sprachlichen Kompetenz vorausgeschickt wird, denn sprachliche Zweifelsfälle hängen wesentlich vom Grad der Sprachbewusstheit bei kompetenten Sprecherinnen einer Sprache ab (Abb. 1). Im Teil A werden Dimensionen (Betrachtungsebenen) von sprachlichen Zweifels‐ fällen vorgestellt, die für die Beschäftigung mit ihnen notwendig sind. Für einen adäquaten Umgang mit Zweifelsfällen reicht nicht aus, sich auf das eigene „Bauchge‐ fühl“ zu verlassen. Dieses kann und soll selbstverständlich nicht vernachlässigt werden, man sollte aber bereit sein, das Bauchgefühl sprachwissenschaftlich zu hinterfragen. Teil A wird aufzeigen, welche Erkenntnisse jede Dimension zum Verständnis von 1.2 Ziel und Aufbau des Buches 13 <?page no="14"?> sprachlichen Zweifelsfällen liefert. Sie bilden die Koordinaten für die wissenschaftlich fundierte Beschäftigung mit ihnen. Die grammatische Dimension richtet den Fokus auf die Bestimmung der Gramma‐ tikalität und den tatsächlichen Sprachgebrauch von sprachlichen Zweifelsfällen. Sie umfasst die Aspekte der Grammatikalität, der Akzeptabilität und der grammatischen Variation. Die soziolinguistische Dimension beleuchtet die soziale Bedeutsamkeit von sprachlichen Varianten, die ihre Bewertung beeinflusst. Sie betrachtet das Varietäten‐ spektrum und verortet darin die standarsprachliche(n) Varietäten. Sie macht zudem deutlich, wie die Diskurse über die Standardsprache zur Deutung von sprachlichen Zweifelsfällen beitragen, indem sie die darin enthaltenen sprachideologischen Annah‐ men thematisiert, die die Bewertung bedingen. Die Dimension der Sprachbewusstheit widmet sich der Wahrnehmung von sprachlichen Zweifelsfällen und betont die Notwendigkeit einer klaren und bewussten Trennung zwischen sprachlichen Zwei‐ felsfällen und grammatischen Fehlern. Diese ist für die sprachkritische Betrachtung im schulischen und außerschulischen Kontext äußerst relevant und spielt damit auch eine wichtige Rolle in der Sprachdiagnostik und der alltäglichen Sprachkritik. 1 Einleitung 2 Sprachliche Zweifelsfälle 3 Grammatische Dimension 7 Grammatik und Sprachgebrauch 4 Soziolinguistische Dimension 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit 5 Dimension der Sprachbewusstheit 9 Diskurse über sprachliche Zweifelsfälle 6 Gesamtbetrachtung der Dimensionen 10 Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen Dimensionen Untersuchungsperspektiven Abb. 1: Übersicht über die thematischen Zusammenhänge zwischen den Buchkapiteln 14 1 Einleitung und Überblick <?page no="15"?> Diese vier Perspektiven werden im Teil B eingenommen, um vier ausgewählte Zwei‐ felsfälle zu beschreiben. Teil B widmet sich dem schwankenden Präpositionalkasus von Sekundärpräpositionen wie dank, den Flexionsschwankungen bei (ursprünglich) starken Verben wie befehlen, der schwankenden Flexion der sog. schwachen Masku‐ lina wie Held und dem am-Progressiv. Teil B ist nach den im Teil A eingeführten Dimensionen aufgegliedert: In Kap. 6 wird nach einer grammatischen Einordnung der Gebrauch der jeweiligen sprachlichen Varianten ermittelt. In Kap. 7 werden Urteile zur Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit präsentiert. Anschließend folgen in Kap. 8 Analysen von Diskursen, Diskurspositionen und argumentativen Mustern, während sich Kap. 9 den psycholinguistischen Studien zur Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen widmet. 1.3 Hinweise zur Lektüre Das Buch ist als Grundlage für ein Seminar oder eine Vorlesung konzipiert. Es kann aber auch im Selbststudium bearbeitet werden und eignet sich als Basis für eine Abschlussprüfung im Bereich der germanistischen Linguistik und Sprachdidaktik. Als Seminargrundlage ist es in einen vorbereitenden Teil A und einen studienbezo‐ genen Teil B aufgeteilt. Die Kapitel können zur Vorbereitungslektüre für die Sitzungen genutzt werden. Sie können im Seminar unter Bezug auf weitere Literatur intensiv diskutiert werden. Am Anfang jedes Kapitels werden Leitfragen formuliert. Die Kapitel werden mit Literaturempfehlungen für die weitere Lektüre abgeschlossen: Leitfragen am Kapitelanfang Literaturempfehlungen am Ende des Kapitels. Die Gliederung der Kapitel wird durch Merkboxen unterstützt, in denen die wich‐ tigsten Aussagen der Abschnitte graphisch gekennzeichnet werden. Als Steckbriefe formulierte Einblicke in die sprachgeschichtlichen Zusammenhänge und Entwicklun‐ gen werden als Hilfe zur historischen Einordnung angeboten: Merkbox, sprachhistorische Steckbriefe. 1.3 Hinweise zur Lektüre 15 <?page no="17"?> 2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz Dieses Kapitel setzt sich mit der grundsätzlichen Frage auseinander: Was sind sprachliche Zweifelsfälle und wie hängen sie mit sprachlicher Kompetenz zusam‐ men? Leitfragen des Kapitels sind: ● Wie werden sprachliche Zweifelsfälle definiert? ● Welche Fähigkeiten umfasst sprachliche Kompetenz? ● Welche Bereiche umfasst sprachspezifische Kompetenz? ● Wie kann man sprachliche Zweifelsfälle klassifizieren? Bleiben Sie zu Hause wegen dem Regen oder wegen des Regens? Sind sie am Nachdenken oder denken Sie gerade nach? Heißt es sie schwamm oder schwomm ins Ziel? Im alltäglichen Gespräch mit der Schwester, beim Vorbereiten einer Geburtstagsrede, beim Schreiben einer SMS an eine Freundin oder beim Lesen einer E-Mail der Vorgesetzten, also in beinahe allen Kommunikationssituationen kann es dazu kommen, dass man von Zweifeln bezüglich eines sprachlichen Ausdrucks ergriffen wird oder dass das Gefühl entsteht, über eine sprachliche Form zu stolpern und über sie noch einmal nachdenken zu wollen. Was tun in einer solchen Situation? Man kann sich darüber direkt mit der Gesprächspartnerin austauschen, man kann eine Kollegin fragen, in einer Grammatik nachsehen, Sprachberatungsstellen zu Rate ziehen oder auch schnell mal im Internet nach ähnlichen Ausdrücken suchen, denn in den meisten Fällen ist man nicht allein: Auf die Frage, an welchem sprachlichen Ausdruck man in letzter Zeit gezweifelt oder nachgedacht hat, nennen Personen unabhängig voneinander ähnliche sprachliche Phänomene. Das Zweifeln und Nachdenken ist in vielen Fällen also überindividuell und beschäftigt viele Sprecher und Schreiberinnen. Wer sich bei den eingangs genannten und ähnlichen Fällen fragt, zweifelt, überlegt, sollte eine adäquate, die sprachliche Realität abbildende Antwort bekommen. Es ist daher das Ziel des Buches, die sprachlichen Zweifelsfälle in ihrer komplexen Natur zu beschreiben und an ausgewählten Phänomenen die methodischen Möglichkeiten des wissenschaftlichen Umgangs damit aufzuzeigen und auf ihre didaktische Aufarbeitung im universitären Unterricht sowie in der Schule vorzubereiten. Dabei stützt sich das Buch teils auf die bestehende Forschung, teils werden hier auch neue Studien durchgeführt und neue, darauf basierende Konzepte entwickelt und präsentiert. Generell basieren sprachliche Zweifelsfälle auf wahrgenommenen Alternativen, die sprachliche Varianten darstellen. So kennen wir bspw. zwei Rektionsvarianten der Präposition wegen, denn das Nomen kann in einer Präpositionalphrase mit wegen im Dativ wie in wegen dem Regen oder im Genitiv wie in wegen des Regens stehen. Ähnlich sind uns zumindest zwei Möglichkeiten bekannt, über eine gerade stattfindende <?page no="18"?> Tätigkeit zu sprechen: Wenn wir gerade nachdenken, dann können wir auch sagen: Ich bin am Nachdenken. Neben dem a-haltigen Präteritum schwamm von schwimmen sind wir uns einer weiteren Variante schwomm bewusst. Da man sich hier nicht auf die sprachliche Intuition verlassen kann, um eine Variante sicher auszuwählen, können solche Alternativen zu Zweifeln führen. Das Besondere ist dabei, dass nicht oder nicht allein Sprachlernende in Zweifel geraten, denn solche Zweifel gehören zum Alltag von Personen, die die deutsche Sprache bereits vollständig erworben haben und sie damit sicher beherrschen. Die folgende, auf Klein (2003: 7) basierende Definition der sprachlichen Zweifelsfälle macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die Unsicherheit vor allem darin besteht, ob eine Form dem standardsprachlichen Repertoire angehört: Ein sprachlicher Zweifelsfall ist eine sprachliche Einheit, bei der kompetente Sprecherinnen und Sprecher im Blick auf (mindestens) zwei Varianten in Zweifel geraten können, welche der beiden Formen (standardsprachlich) korrekt ist. Die beiden Varianten eines Zweifelsfalls sind formseitig oft teilidentisch (nach Klein 2003: 7). Klein (2003, 2018) verfolgt mit dem expliziten Hinweis auf kompetente Sprecherinnen und Sprecher in seiner Definition das Ziel, darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei den sprachlichen Zweifelsfällen nicht um Unsicherheiten handelt, die aus dem unabgeschlossenen Spracherwerb resultieren. Er selbst schreibt: „Auch geht es nicht um (sprachlich in- oder teilkompetente) Personen, deren Spracherwerb als muttersprachliche oder fremdsprachliche Lerner noch nicht abgeschlossen ist und die von daher zweifeln oder unkorrekt sprechen mögen“ (Klein 2003: 7). Vielmehr betreffen sprachliche Zweifel auch oder gerade und gewissermaßen überra‐ schenderweise kompetente Sprecherinnen und Sprecher. Der Begriff der kompetenten Sprecherin wird daher in Kap.-2.1 genauer beleuchtet. 2.1 Sprachliche Kompetenz Wie kann das sein, dass sprachlich kompetente Sprecherinnen in Zweifel geraten? Um die Antwort zu ermöglichen, beschäfigt sich dieses Kapitel mit dem Phänomen der sprachlichen Kompetenz. Sie umfasst mehr oder weniger bewusst ablaufende Fertigkeiten und Fähigkeiten, die es einem Individuum ermöglichen, sprachlich zu handeln (Lehmann 2007: 234, siehe auch Gailberger 3 2019: 275-286). Die Bereiche der sprachlichen Kompetenz liegen auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen: Kaum bewusst, daher auf der niederen kognitiven Ebene zu verorten, ist die generelle Sprachfertigkeit, mit Hilfe von Sprache zu kommunizieren und die Welt begreiflich 18 2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz <?page no="19"?> zu machen. Sie stellt die prozedurale Sprachkompetenz dar, die auf routinierten, kaum bewusst ablaufenden Verhaltensweisen zum Produzieren und Verstehen von Sprache basiert (Kap. 2.1.1). Davon abzugrenzen ist die Fähigkeit, über Sprache zu reflektieren, d. h. bewusst und unter Bezug auf das eigene Wissen über Sprache nachzudenken (Kap. 2.1.2). Diese reflexive Sprachkompetenz ist in Bezug auf sprachliche Zweifelsfälle besonders wichtig (Knapp und Lehmann 2006: 87-89, siehe auch Coseriu 1985, 1988). Sprachliche Kompetenz umfasst eine kaum bewusste prozedurale Sprachfer‐ tigkeit und die reflexive (bewusste) Sprachkompetenz. 2.1.1 Prozedurale Sprachkompetenz (Sprachfertigkeit) Doch zunächst zu der prozeduralen Sprachkompetenz (auch: Sprachfertigkeit), die auf der niederen kognitiven Ebene zu verorten ist. Sie umfasst implizites Wissen in Form einer generellen unbewussten Fertigkeit, in einer Sprache zu kommunizieren und zu denken. Diese grundsätzlichen Fertigkeiten der sprachlichen Produktion und Rezeption ermöglichen sprachliche Aktivitäten in allen gegebenen Modi der sprach‐ lichen Kommunikation, d. h. als gesprochene, geschriebene oder gebärdete Sprache (Lehmann 2007: 248). Dank der prozeduralen Sprachkompetenz ist das Individuum in der Lage, in der gegebenen Sprache zu sprechen oder zu gebärden und zu schreiben sowie die gesprochene, gebärdete oder geschriebene Sprache zu verstehen. Bei mehr‐ sprachigen Personen kommt noch die Fähigkeit zum Dolmetschen und Übersetzen hinzu. Dabei kann die prozedurale Kompetenz, das Produzieren und Verstehen von Spra‐ che, mehr oder weniger flüssig sein, also mit einem gewissen Grad an Leichtigkeit stattfinden. Die sprachliche Flüssigkeit korreliert mit dem Grad der Automatisierung in der Sprachproduktion und -rezeption. Die Flüssigkeit impliziert jedoch keine grammatische Korrektheit. 2.1.2 Reflexive (oder deklarative) Sprachkompetenz Die oben beschriebene Sprachfertigkeit ist von der reflexiven (oder deklarativen) Sprachkompetenz zu unterscheiden, die auf einer höheren Bewusstseinsebene liegt und das Faktenwissen (sog. deklaratives, auch explizites Wissen) über Sprache enthält. Somit befähigt die reflexive Sprachkompetenz zur Sprachreflexion und spielt eine wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung mit den sprachlichen Zweifelsfällen. Sie wird daher auch als Sprachbewusstheit bezeichnet (s. Kap.-5). Die Sprachfertigkeit, also die prozedurale Sprachkompetenz, wird bspw. von Kindern im ungesteuerten Erstspracherwerb entwickelt. Ohne instruiert zu werden, welche Pluralformen den Feminina zugeordnet werden, lernen sie in einer natürlichen Umge‐ 2.1 Sprachliche Kompetenz 19 <?page no="20"?> bung Plurale von Mama, Frau oder Tante, die mit unterschiedlichen Pluralmarkern gebildet werden: -s in Mamas, -en in Frauen und -n in Tanten. Die reflexive Sprachkompetenz, also das Wissen über die Sprache, wird anschließend durch alltägliche Diskurse über Sprache und die schulische oder akademische Bildung (Bildungsdiskurse) entwickelt (zum Diskurs s. Kap. 4.3.1). Eine hochgradige reflexive Sprachkompetenz, die es erlaubt zu erklären, warum der Plural von Mama mit -s, aber von Frau oder Tante mit -(e)n gebildet wird, und dieses Wissen auf Fälle wie Pizza oder Komma anzuwenden, die mehrere Pluralformen zulassen, kann im sprachwissenschaftlichen Studium erworben werden. Dank der rekursiven, auf die sprachlichen Produkte selbst bezogene Reflexion kann ein Individuum aus sprachli‐ chen (Selbst-)Beobachtungen (Introspektion) Wissen über Regeln generieren und es in Fällen anwenden, die Klärung benötigen. Wenn man bspw. eine Form wie Kommatas selbst bildet oder diese in der Aussage einer anderen Person identifiziert, kann im Zuge der reflexiven Sprachkompetenz aufgedeckt werden, dass in Komma-ta-s der Plural doppelt mit -ta (Fremdsuffix) und -s markiert wird. Die reflexive Sprachkompetenz ist nicht nur für die Reflexion über die bereits prozedual beherrschte Sprache sinnvoll, sondern sie erleichtert auch den gesteuerten Fremdspracherwerb, wenn das zunächst erworbene deklarative Wissen - zum Beispiel über die Pluralbildung von schwachen Feminina oder Fremdwörtern - durch sprach‐ praktische Übungen automatisiert wird. Das deklarative Wissen über sprachliche Varianten und Zweifelsfälle trägt wesentlich zur Erweiterung der reflexiven Kompe‐ tenz von Lernerinnen des Deutschen als Fremdsprache (DaF) bei. Tabelle 1 fasst den Unterschied zwischen den beiden Bereichen der Sprachkompe‐ tenz zusammen: Bewusstseinsebene niedere Bewusstseinsebene höhere Bewusstseinsebene Beherrschung prozedural reflexiv Kompetenz Sprachfähigkeit Sprachkenntnis Gehalt Fertigkeiten des Sprechens und Verstehens rekursive Reflexion auf Spra‐ che Beispiel Produzieren und Verstehen von Pluralformen wie Mama-s, Frau-en, Tante-n, Pizza-s, Pizz-en, Komma-s, Komma-ta, Komma-tas Anwenden sprachlicher Regeln bspw. auf ungewöhnliche Plu‐ ralformen wie Kommatas Tabelle 1: Kognitive Ebenen der sprachlichen Kompetenz (nach Knapp und Lehmann 2006: 92-93) Bezieht man sich zunächst nur auf die ungesteuert erworbene(n) Erstsprache(n) (sog. L1), so können die Grade der individuellen Sprachkompetenz erheblich variieren, was für sprachliche Zweifelsfälle im besonderen Maße relevant ist (s. Tab. 2). Mit dem abgeschlossenen Spracherwerb beherrschen Individuen zwar die sprachlichen Handlungsroutinen beim Sprechen und Verstehen, verfügen aber über unterschiedliche 20 2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz <?page no="21"?> deklarative Wissensbestände, um ihre Entscheidungen wie im Falle konkurrierender Pluralformen (Kommas und Kommata) oder doppelter Pluralformen (Kommatas) begründen zu können. Die Wissensbestände umfassen sowohl die Kenntnis von sprachlichen Regeln als auch Annahmen über die Standardsprache, zu denen u. a. die Erwartung von oder Ablehnung grammatischer Varianz gehört (s. dazu Kap 4.3.3 zur Standardsprachideologie). So kann die reflexive Sprachkompetenz auf eine kate‐ gorische Ablehnung einer Variante, erwachsen aus der Erwartung von variantenloser Standardsprache oder unter Einfluss einer ablehnenden Haltung von Lehrkräften oder anderer Sprachautoritäten, reduziert sein, die den Zweifelsfällen „aus dem Weg geht“. Umgekehrt ermöglicht eine hohe reflexive Sprachkompetenz, basierend auf der Erwartung grammatischer Varianz, sich den sprachlichen Zweifeln zu stellen und nach Erklärungen zu suchen. Zwischen diesen beiden Polen sind Sprachkompetenzgrade zu verorten, die die Unsicherheit auslösen, entweder weil die gerade beobachtete Existenz von Varianten das standardsprachliche Ideal der Variantenlosigkeit verletzt, weil man sich der Existenz von konkreten Varianten nicht bewusst war oder weil im Unklaren bleibt, welche Variante im konkreten Fall gebraucht werden könnte/ sollte. Kompetenzebenen - 1)-prozedurale Sprachfertigkeit kompetent kompetent kompetent 2)-reflexive Sprachkenntnis - < > + • Erwartung grammatischer Varianz nein nein/ ja ja • Kenntnis von sprachlichen Regeln gering gering/ mittel hoch Haltung gegenüber sprachlichen Zweifels‐ fällen ablehnend zweifelnd erklärend Tabelle 2: Grade der sprachlichen Kompetenz in Bezug auf sprachliche Zweifelsfälle Ähnlich unterscheidet auch Klein (2018: 21-25) kompetente von vollkompetenten Sprachbenutzerinnen, wobei sich Letztere dadurch abheben, dass sie aufgrund einer hohen reflexiven Sprachkompetenz im Blick auf zwei (oder mehrere) Varianten nicht zweifeln, weil sie sich die Existenz von Varianten erklären können. Sprachliche Zweifelsfälle verbindet Klein mit dem mittleren Kompetenzbereich, wenn die Existenz von Varianten zwar bekannt ist, aber ihr Auftreten Zweifel bezüglich der standard‐ sprachlichen Korrektheit auslöst. Die geringste Kompetenz liege dann vor, wenn Sprecherinnen die Varianten nicht kennen und daher auch nicht zweifeln. Sprachliche Zweifelsfälle betreffen gerade Sprecherinnen, die über prozedurale Sprachfertigkeit verfügen und diesbezüglich kompetent sind. Die sprachlichen Zweifel spiegeln den Grad der reflexiven Sprachkompetenz wider, der sich 2.1 Sprachliche Kompetenz 21 <?page no="22"?> aus der Erwartung/ Ablehnung sprachlicher Varianz und der Kenntnis gramma‐ tischer Regeln ableitet. Nun zu dem umgekehrten Fall: Der gesteuerte Erwerb, v. a. einer Fremdsprache, setzt beim deklarativen Wissen an, das durch sprachpraktische Übungen automatisiert wird. Das Wissen ist zunächst didaktisch reduziert, kann aber, je nach Art der Beschäf‐ tigung mit der zu erwerbenden Sprache, unterschiedlich stark ausgebaut werden. DaF-Sprechende können das bspw. im Studium der Germanistik tun. Die reflexive und die prozedurale Sprachkompentenz können sich also gegenseitig befruchten, so dass auch DaF-Sprechende kompetente bis vollkompetente Sprecher des Deutschen werden können. Die Reflexion über sprachliche Zweifelsfälle erhöht die reflexive Sprachkom‐ petenz sowohl beim ungesteuerten Erst- und (zeitlich versetzten) Zweitspracherwerb als auch beim gesteuerten Fremdspracherwerb. Reflexion über sprachliche Zweifelsfälle erhöht die reflexive Sprachkompetenz im Zweit- und Fremdspracherwerb. 2.2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachspezifische Kompetenzen Sprachliche Zweifelsfälle entstehen in sprachspezifischen Kompetenzbereichen, die je nach individueller Sprachbiographie, d. h. je nach individueller lebensweltlicher Spracherfahrung im Laufe des Lebens, unterschiedlich entwickelt sind. Die Bereiche der sprachspezifischen Kompetenz sind im Folgenden angeführt. Bereiche der sprachspezifischen Kompetenz (Lehmann 2007: 252-258) 1. Sprachsystemische Kompetenz (s. Kap.-2.2.1): - Aussprache: Phonetik, Phonologie, Orthophonie - Schreibung: Graphematik, Orthographie - Grammatik: Morphologie (Flexion und Wortbildung) und Syntax - Lexikon: Vokabular, lexikalische Relationen, Wortbildung - Bedeutung: Semantik und semantische Relationen - Text und Diskurs: sprachspezifische Textstrukturen 2. Variationskompetenz (s. Kap.-2.2.2): - soziokulturelle (diastratische), dialektale (diatopische), situative (diaphasi‐ sche), mediale (diamesische) und sprachhistorische (diachrone) Kompetenz 3. Pragmatische Kompetenz (Handlungskompetenz; s. Kap.-2.2.3): - Fähigkeit, Sprache in unterschiedlichen sozialen Kontexten adäquat zu verwenden. 22 2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz <?page no="23"?> Sprecherinnen des Deutschen können 1. auf den einzelnen Ebenen des Sprachsystems, 2. in den Dimensionen sprachlicher Variation (Variationskompetenz und 3. in der pragmatischen Kompetenz unterschiedlich sprachspezifisch kompetent sein. So kann bspw. eine Person aufgrund ihrer beruflichen Karriere in der Forstwirtschaft über das spezielle Vokabular verfügen und die Fachsprache des Forstwesens beherrschen. Ihre Handlungskompetenz deckt spezielle soziale Kontexte ab, in denen sie sich mit anderen Forstwirtinnen über die Krankheiten der Bäume flüssig und mit Sachverstand unterhalten kann. Hat eine andere Person wiederum zur Sprache des Forstwesens im 18. Jh. Vorträge gehalten und promoviert, so verfügt sie über besondere reflexive Kompetenzen im Bereich des Vokabulars in seiner sprachhistorischen Dimension (Va‐ riationskompetenz) und hat durchs häufige Vortragen eine spezifische pragmatische Kompetenz entwickelt. Im nächsten Schritt werden die sprachlichen Zweifelsfälle in den Bereichen der sprachlichen Kompetenz verortet. Sprachspezifische Kompetenzen hängen von der individuellen Sprachbio‐ graphie ab. Sie umfassen sprachsystemische, Variations- und pragmatische Kompetenzen. 2.2.1 Kompetenz auf einzelnen Ebenen des Sprachsystems Sprachliche Zweifelsfälle können in allen Bereichen des Sprachsystems entstehen und daher auch diesbezüglich klassifiziert werden (Klein 2003: 15; 2018: 14-15). Tabelle 3 listet Beispiele für phonetische, graphematische, morphologische, syntak‐ tische, lexikalische und semantische Zweifelsfälle auf. Darüber hinaus enthält die Tabelle pragmatische Zweifelsfälle, die Unsicherheiten bei sprachlichen Handlungen umfassen, die mit der Einschätzung der sozialen Parameter einer konkreten Situation verbunden sind. Ebene des Sprachsystems Beispiel Phonetik und Phonologie Ausprache von Wörtern mit <ä> mit [ ɛ: ] oder [ e: ]: später, Sträß‐ chen, sägen Graphematik und Orthographie Zusammenschreibung von Komposita mit mehrteiligen Personen‐ namen als Erstglied: Barbara-Paetzold-Preis Morphologie Flexion: Genitiv-s bei Eigennamen Länder des heutigen Europa(s) Wortbildung: Adjektivbildung unüberwindlich/ unüberwindbar; Verfugung Schadenersatz/ Schadensersatz Syntax Stellungsvarianten von Prä-/ Postpositionen wie entgegen: ent‐ gegen meinem Wunsch (Präposition)/ meinem Wunsch entgegen (Postposition); zu-Infinitiv bei brauchen: du brauchst nicht (zu) kommen 2.2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachspezifische Kompetenzen 23 <?page no="24"?> Lexik Wortvarianten: benutzen/ benützen; Genusvarianten: die/ das Mail Semantik Bedeutungsunterschiede: der Drache/ der Drachen Pragmatik Verwendung von Anredepronomina Du/ Sie Tabelle 3: Sprachliche Zweifelsfälle nach Ebenen des Sprachsystems Die sprachlichen Zweifelsfälle basieren darauf, dass der Sprachnutzerin bewusst ist oder während der sprachlichen Aktivität (mehr oder weniger vage) bewusst wird, dass sie zwischen Alternativen wählen kann, die sich in der Form lediglich leicht unter‐ scheiden, also teilidentisch sind. Die sprachlichen Alternativen, die das Sprachsystem liefert, sind zwar überindividuell, d. h. in der Sprachgemeinschaft (Raith 2 2004: 147-158) bekannt, sie sind aber als Teil der sprachlichen Kompetenz von der individuellen Sprachbiographie abhängig. 2.2.2 Variationskompetenz Die Variationskompetenz eines jeden Individuums hängt von seiner Sprachbiographie ab, während der es sich das Sprachrepertoire aneignet, d. h. die Gesamtheit der sprachlichen Möglichkeiten, die einer Person in spezifischen Situationen zur Verfü‐ gung steht (Pütz 2 2004: 226-232). Da Sprache abhängig von den „fundamentalen extralinguistischen Dimensionen“ (Berruto 2 2004: 193) - der Zeit, dem Raum, der sozialen Identität der Sprechenden, der Situation und dem Medium der Kommunikation - realisiert wird, sammeln Individuen unterschiedliche Spracherfahrungen und ent‐ wickeln davon abhängig unterschiedliche Variationskompetenzen. Daher lassen sich sprachliche Zweifelsfälle den entsprechenden Variationsebenen zuordnen, je nachdem ob sie zeitliche (diachrone), räumliche (diatopische), soziokulturelle (diastratische), situative (diaphasische) oder mediale (diamesische) Varianten betreffen (s. Tab. 4). Sprachliche Zweifelsfälle sind somit als sprachliche Varianten in der sprachlichen Varietätenarchitektur verortet (Coseriu 1969: 148-150, Berruto 2 2004; s. Kap.-3.2.2). Zweifelsfälle entstehen also dann, wenn ein Individuum mindestens zwei Formen sprachlicher Realisierung kennt und bei Produktion oder Rezeption einer der Varianten ins Zweifeln gerät, weil die Verortung der Variante in der Varietätenarchitektur unklar ist. Dabei können Varianten zu Zweifeln führen, ob bpsw. eine jüngere sprachliche Form wie die Dativrektion in wegen dem Wetter (schon) standardsprachlich ist, ob eine sprachliche Form wie der am-Progressiv wie in Ich bin am Überlegen überregio‐ nal und schriftsprachlich ist oder ob die Präteritumform schwomm von schwimmen sprechergruppenspezifisch gebraucht wird. Tabelle 4 benennt die außersprachlichen Dimensionen, die Klein (2018: 16) als Steuerungsklassen sprachlicher Zweifelsfälle be‐ zeichnet, beschreibt das jeweilige Verhältnis zwischen Varianten und veranschaulicht es mit weiteren Beispielen. 24 2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz <?page no="25"?> Dimension Varianten Beispiele (aus der Morphosyntax) diachron (historisch) sprachhistorisch ältere und jüngere Formen Rektion von Präpositionen: wegen des Regens (älter)/ wegen dem Regen (jünger), aber trotz dem Regen (äl‐ ter)/ trotz des Regens (jünger) diatopisch (räumlich) regionale Formen Pluralbildung bei Substantiven: der Wagen - die Wagen/ die Wägen (süddt.) diastratisch (soziokulturell) sprechergruppenspezifische For‐ men (z.-B. Sprache des Rechts, des Alltags, Jugendsprache) Schadensersatz/ Schadenersatz; chillen/ entspannen; schwamm/ schwomm diaphasisch (situativ) situative Varianten (z.-B. in einer Konzertpause oder im Sportverein) das Duzen/ das Siezen (Was haben Sie/ hast du heute noch vor? ) diamesisch (medial) eher geschrieben- oder gespro‐ chensprachliche Formen Verwendung des Genitiv- oder des präpositionalen Attributs: die Fuge J.S. Bachs (eher geschrie‐ benspr.)/ von J.S. Bach (eher ge‐ sprochenspr.) Tabelle 4: Steuerungsklassen der sprachlichen Zweifelsfälle (siehe auch Klein 2018: 16-19) Die so aufgefächerte Variationskompetenz ist nachvollziehbarermaßen unterschied‐ lich bei einer Forstwirtin und einer historischen Linguistin. Noch anders sieht die Variationskompetenz einer Person aus, die als junge Erwachsene längere Zeit im Ausland lebte und daher gesteuert/ ungesteuert eine Fremdsprache erworben hat und diese ausschließlich im Berufsleben anwendet. Und noch einmal anders entwickelt sich die Kompetenz einer Person, die in einem forstwirtschaftlichen Elternhaus auf‐ gewachsen ist. Ebenso unterscheiden sich die Spracherfahrungen einer Person, die neben der deutschen Standardsprache bereits früh einen Dialekt erworben hat. So leben in Deutschland viele Personen, die regionale Varietäten und die Standardsprache beherrschen. Sie kennen darauf basierende Alternativen. Ähnlich beherrschen wir vielfach Varianten, die eher in der gesprochenen oder in der geschriebenen Sprache gebräuchlich sind. Hierbei ist jedoch zu unterscheiden zwischen der (über-)individuellen Einschätzung der Sprachnutzerinnen und der z. B. in Sprachkorpora vorzufindenden sprachlichen Realität. Wie in Teil B diskutiert wird, deckt sich diese (über-)individuelle Einschätzung häufig nicht mit der sprachlichen Realität, was ein wichtiger Faktor im Umgang mit sprachlichen Zweifelsfällen ist. Beispielsweise schätzen viele Sprachnutzerinnen die Dativrektion von wegen wie in wegen dem Regen als nicht standardsprachlich ein, dabei ist diese häufig in überregionalen Zeitungen wie der „Zeit“ zu finden. An dieser Stelle ist es also wichtig, sich dessen bewusst zu werden, dass die folgenden Steuerungsklassen je nach Beobachtungsgrundlage (Untersuchungen sprachlicher Realität vs. individuelles Sprachgefühl) eine unterschiedliche Variantenverteilung ergeben können. 2.2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachspezifische Kompetenzen 25 <?page no="26"?> 2.2.3 Pragmatische Kompetenz (Handlungskompetenz) Die pragmatische Kompetenz befähigt uns, in einem gegebenen sozialen Kontext, der eine bestimmte Ausprägung der Variationsdimensionen aufweist, sprachlich adäquat zu handeln. Das Sich-Zurechtfinden in einer gegebenen sozialen Situation rekurriert noch auf weitere physiologische, kognitive, soziale und mentale Fähigkeiten (siehe auch Grewendorf et al. 1989: 36-37). Beispielsweise können wir nicht adäquat han‐ deln, wenn wir das Gesagte nicht hören. Ähnlich beziehen wir ins Gespräch unser Weltwissen mit ein, das zwischen Gesprächspartnerinnen stark variieren kann. Im Gespräch über den CO 2 -Ausstoß umgefallener Bäume wird bspw. eine berufserfahrene Forstwirtin über anderes Wissen verfügen als eine Klimaaktivistin. Zudem kann der Erfolg einer Klimaaktivistin beim Argumentieren für den Erhalt umgefallener Bäume von ihren sozialen Kompetenzen abhängen, z. B. von ihrer Einschätzung der interpersonellen Beziehung im Gespräch oder von ihrer emotionalen Verfassung und vom Empathievermögen. All diese Komponenten entscheiden über den Verlauf eines Gesprächs. Dabei kann bpsw. der Einsatz einer bestimmten Form wie wegen mit Genitiv oder mit Dativ oder einer Du-/ Sie-Form die soziale Nähe zwischen den Gesprächspartnerinnen beeinflussen. Auf die besondere Bedeutung der sprachlichen Zweifelsfälle auf die interpersonelle Interaktion gehen Kap.-3.1.2 und Kap.-4.1.2 ein. 2.3 Sprachliche Zweifelsfälle - Zustand der Unbestimmtheit Unter Bezug auf die einzelnen, in diesem Kapitel vorgestellten Ebenen der Sprach‐ kompetenz lassen sich sprachliche Zweifelsfälle nach Stark (2019) als sprachliche Strukturen erfassen, die sich im Zustand der Unbestimmheit (sog. Superposition) befinden (Abb. 2): In diesem Zustand bietet die pragmatische Kompetenz keine klare Grundlage, wie in der gegebenen Situation adäquat sprachlich zu handeln ist, bpsw. ob die Klimaaktivistin beim Gespräch mit der berufserfahrenen Forstwirtin wegen des CO 2 -Ausstoßes oder wegen dem CO 2 -Ausstoß gebrauchen soll oder ob man einem spielenden Kind gegenüber Bedauern ausdrücken soll, dass der Drache oder der Drachen sich in den Ästen verfangen hat. Um ihr kommunikatives Ziel zu erreichen, steht eine Sprachbenutzerin in einer solchen Situation vor der Aufgabe, eine Zuordnung von Bedeutung und Form (sprachliche Struktur) vorzunehmen. In der Konzeptualisierungsphase der sprachlichen Handlung wird somit eine Mes‐ sage, d. h. das, was gesagt werden soll, gefasst. Im Zuge der Versprachlichung der avisierten Bedeutung werden zeitgleich zwei (oder mehr) sprachliche Strukturen aktiviert: Dabei muss sich die Sprachbenutzerin für eine Form entscheiden, die die gewünschte Semantik transportiert und zu der jeweiligen Situation passt. Hierbei spielen wiederum die sprachsystemische und die Variationskompetenz eine wichtige Rolle. Beim Zweifelsfall liefern diese unzureichende Grundlagen, um zu entscheiden, ob die Formen der Drache und der Drachen eine klar unterscheidbare Semantik haben oder 26 2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz <?page no="27"?> ob in einer bestimmten Konstellation im Varietätenraum (z. B. formelles Streitgespräch) wegen dem oder wegen des eingesetzt werden sollte. Message (=was gesagt werden soll) Sprachliche Struktur A: Sprachliche Struktur B: Bedeutung A Bedeutung B Wissen über Verwendung von A Wissen über Verwendung von B ? ? Abb. 2: Modell sprachlicher Zweifelsfälle als Zustand der Superposition (nach Stark 2019: 35) Das Modell der Superposition von Stark (2019) bietet die Möglichkeit, nicht nur solche ausdrucksbezogenen sprachlichen Zweifelsfälle zu erfassen, die in der Definition von Klein (2003) (auf S. 18) genannt sind, sondern auch semantische Zweifelsfälle wie der Drache/ der Drachen, in denen unklar ist, welche Bedeutung mit einer Form assoziiert ist. Während ausdrucksbezogene (onomasiologische) Zweifelsfälle entstehen, weil für eine Bedeutung zwei (oder mehr) teilidentische Formen bekannt sind, greifen in‐ haltsbezogene (semasiologische) Zweifelsfälle (also semantische Zweifelsfälle) dann, wenn bei einer Form zwei Bedeutungen konkurrieren. In dieses Modell lassen sich auch pragmatische Zweifelsfälle integrieren, da hier das Wissen über die Verwendung in konkreten Situationen keine klare Entscheidung ermöglicht. Das Modell kann darüber hinaus weitere Zweifelsfälle erklären, die nicht an die Existenz von Varianten in einer Sprache geknüpft sind (Schmitt 2021). Vielmehr können sich Unsicherheiten und Zweifel durch die Kenntnis von anderen Sprachen einstellen, in denen bpsw. dasselbe Wort in einer anderen Schreibweise existiert. Schmitt (2021) nennt das Beispiel Komitee, das der Duden (online) auf der Liste der orthographisch schwierigen Wörter führt. Wie andere, ähnliche Fremdwörter sind sie vielen Sprachbenutzerinnen in einer anderen orthographischen Form bekannt (z. B. engl. committee). Das Zweifeln basiert hier auf der Kenntnis von zwei Schreibungen, die keine orthographischen Varianten der deutschen Standardsprache sind, sondern die von einzelnen Individuen nicht klar der deutschen Orthographie und fremdsprachli‐ cher Orthographie zugeordnet werden können. Auch beim Zweifeln zwischen dass und das liegt keine formale Varianz vor: Beide Wörter haben unterschiedliche, klar zuordenbare Funktionen, so dass die Zweifel vielmehr mit der Unsicherheit bei der Analyse des Nebensatzes verbunden sind. So kann ein Attributivsatz durch dass als 2.3 Sprachliche Zweifelsfälle - Zustand der Unbestimmtheit 27 <?page no="28"?> Subjunktion wie in Das Gefühl, dass etwas möglich ist eingeleitet werden oder durch das als Relativpronomen in Das Gefühl, das sie mir gibt, das das Gefühl aus dem Matrixsatz als Objekt im untergeordneten Satz wiederaufnimmt. Ähnlich sind seid und seit keine Varianten, sondern ihren Funktionen klar zuordenbar. In beiden Fällen liegt aber Homophonie vor, d. h. Gleichklang beider Wörter, die in der Schreibung disambiguiert (vereindeutigt) wird. Der Zweifelsfall ist damit wie die semantischen Zweifelsfälle semasiologischer Natur, da zwei Inhalte nicht klar zwei schriftlichen Formen zugeordnet werden können. Hennig, Mathilde (Hrsg.) ( 9 2021). Duden - Sprachliche Zweifelsfälle. Das Wörterbuch für richtiges und gutes Deutsch. 9., überarb. u. erw. Aufl. Berlin: Dudenverlag. Klein, Wolf Peter (2003). Sprachliche Zweifelsfälle als linguistischer Gegenstand. Zur Einführung in ein vergessenes Thema der Sprachwissenschaft. Linguistik online 16: 4, 5-33. Klein, Wolf Peter (2018). Sprachliche Zweifelsfälle im Deutschen. Theorie, Praxis, Geschichte. Berlin/ Boston: de Gruyter. Knapp, Karlfried/ Lehmann, Christian (2006). Sprachliche Kompetenz. Neurolinguistik 20, 81-98. 28 2 Sprachliche Zweifelsfälle und sprachliche Kompetenz <?page no="29"?> A Dimensionen der sprachlichen Zweifelsfälle <?page no="31"?> 3 Grammatische Dimension Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Grammatikalität von sprachlichen Aus‐ drücken. Fokussiert werden grammatische Regeln sowie der Gebrauch und die Akzeptabilität von sprachlichen Varianten. Leitfragen des Kapitels sind: ● Wann ist ein Ausdruck grammatisch? ● Wie wird die Grammatikalität eines sprachlichen Ausdrucks bestimmt? ● Was sind sprachliche Regeln und warum konfligieren sie miteinander? ● Können zwei konkurrierende Formen gleichermaßen grammatisch sein? ● Wird ein grammatischer Ausdruck immer akzeptiert? ● Was sind sprachliche Varianten und wie sind sie distribuiert? ● Warum ist das Sprachsystem imperfektibel? An die sprachliche Kompetenz im Bereich des Sprachsystems ist die Fähigkeit eines Individuums gekoppelt, zu entscheiden, ob ein Ausdruck grammatisch ist oder nicht, und gegebenenfalls zu unterscheiden, zu welchem Grad und auf welche Weise ein Ausdruck sprachlich abweichend ist (siehe u. a. Grewendorf et al. 3 1989: 33, Fetzer 2004: 12-13). Damit ist zunächst noch nicht gemeint, inwieweit ein Individuum einschätzen kann, ob die gegebene Form bestimmten präskriptiven Erwartungen entspricht. Diese Bewertungsebene ist Gegenstand von Kapitel-4. 3.1 Was ist Grammatikalität? Die Grammatikalität von sprachlichen Ausdrücken wird an den grammatischen Regeln und Restriktionen, die der Sprache als System zugrunde liegen, bestimmt. Die Fähigkeit, die Grammatikalität zu beurteilen, gehört zur sprachlichen Kompetenz. Das Konzept der Grammatikalität setzt voraus, dass eine kompetente Person in der Lage ist, grammatische (1) von ungrammatischen Formen (markiert durch den Asterisk *) wie (2) oder (3) zu differenzieren und grammatische Formen zu produzieren und zu verstehen (Fetzer 2004: 12-13). (1) Ich habe an meine Zukunft gedacht. (2) *Ich habe an meiner Zukunft gedacht. (3) *Ich bin an meiner Zukunft gedacht. <?page no="32"?> Grewendorf et al. (1989: 32-33) fügen hinzu, dass uns die sprachliche Kompetenz dazu befähigt, auch Grade und Typen von Abweichungen von einer sprachlichen Regel zu bestimmen. Sprachliche Regeln sind Strukturprinzipien einer Sprache. Sie stellen Konventionen dar, d. h. auf sprachlichen Handlungen basierende überindividuelle Verhaltensmuster (Cherubim 1980: 127). Ihr Inhalt kann aus den Regelmäßigkeiten in den bisher wahrgenommenen Äußerungen induziert werden (Gloy 2004: 392-393). So erkennen wir, dass in (2) eine sprachliche Regel verletzt ist, da die Präposition an in an etwas denken den Akkusativ fordert. Durch die Wahl des Auxiliars sein weicht (3) noch stärker von der grammatischen Form in (1) ab und weist damit einen höheren Grad der Abweichung als (2) auf. Die Grammatikalität eines sprachlichen Ausdrucks ist gegeben, wenn der Ausdruck den grammatischen Regeln und Restriktionen des Sprachsystems entspricht. Zur sprachlichen Kompetenz gehört die Fähigkeit, zu bestimmen, ob ein Ausdruck grammatisch ist oder zu welchem Grad und auf welche Weise ein Ausdruck gegebenenfalls sprachlich abweichend ist. Die Bestimmung des Grammatikalitätsgrads ist möglich, weil wir über das prozedurale Wissen (s. Kap. 2.1) zu grammatischen Regeln und Restriktionen verfügen, also über eine mentale Grammatik. So wissen wir nicht nur, dass die Präposition an in Verbindung mit dem Verb denken eine Nominalphrase im Akkusativ regiert, sondern kennen auch andere Anwendungen, in denen die Präposition an den Dativ verlangt, z. B. an einem Roman schreiben. Zwar ist die mentale Grammatik nicht direkt abfragbar, d. h. es gibt keine Möglichkeit, die mentalen grammatischen Regeln abzurufen, etwa so, wie man den Quellcode eines Computerprogramms einsehen und durch direkte Befehle die Programmierung durchführen kann. Da wir überindividuell gleiche (oder ähnliche) grammatische Regeln einsetzen, wird aber mittelbar in der sprachlichen Kommunikation sichtbar, durch die von uns produzierten und rezipierten Äußerungen. Im Zuge der sprachlichen Kommunikation sind Individuen (mündlichen/ gebärdeten und später auch schriftlichen) Äußerungen ausgesetzt, aus denen sie die gramma‐ tischen Regeln unbewusst herleiten. Sie entwickeln implizite Regeln (als Teil der prozeduralen Kompetenz, s. Kap. 2.1.1), die sie zwar per se nicht formulieren, aber nach ihnen sprachlich handeln (Schneider 2005: 8-12). Man kann also sagen, dass wir im Laufe unseres Lebens ein individuelles internes (mentales) Sprachkorpus aufbauen (Featherston 2007: 60-61). Die vernommenen und selbstproduzierten Äußerungen in diesem Sprachkorpus sind nicht einfach aufgelistet, sondern in einem hochdimensio‐ nalen konzeptuellen Raum in vielfache Beziehungen zueinander gesetzt (Goldberg 2019). Wenn wir bspw. aus unterschiedlichen Situationen Äußerungen „eingesammelt“ haben, die das Verb denken enthalten, so entsteht aus diesen Exemplaren eine verstärkte Repräsentation der Konstruktion mit dem Verb denken an NP-A KK neben der Kon‐ struktion ohne Präpositionalobjekt (wie in Sie ist schneller, als ich dachte), mit einem 32 3 Grammatische Dimension <?page no="33"?> Akkusativobjekt oder einen Objektsatz (Ich denke etwas oder Ich denke, am besten warten wir erst auf eine Antwort) oder mit einem Präpositionaladverb daran, das z. B. als Korrelat auf den Nebensatz verweist (Daran, dass bald der Winter kommt, denke ich ab und zu). So bilden wir folgende Regeln: Aus Sprachdaten erschlossene sprachliche Regeln zu Konstruktionen mit dem Verb denken 1. denken kann mit der Präposition an, die nach einer Nominalphrase im Akkusativ verlangt, verwendet werden, 2. denken kann ohne Objekt verwendet werden, 3. denken kann mit einem Akkusativobjekt oder einem Objektsatz auftreten, 4. denken kann mit einem Präpositionaladverb daran verwendet werden. Dank dem deiktischen Teil darkann u.-a. auf einen Nebensatz verwiesen werden. In dem hochdimensionalen konzeptuellen Raum stehen die Präposition an, das Verb denken und weitere Bestandteile der Äußerung in vielfachen semantischen, pragma‐ tischen und grammatischen Beziehungen zu anderen Wörtern und Konstruktionen. Beispielsweise steht denken in semantischer Beziehung zu anderen verba sentiendi et intellegendi (Verben des Wahrnehmens, Wissens und Glaubens) wie sich an et‐ was/ jemand erinnern, wissen oder glauben und teilt mit einigen von ihnen sogar die Rektionspräposition an, mit anderen wiederum das direkte Akkusativobjekt (Ich weiß etwas). Die Rektionspräposition an steht wiederum in Verbindung mit solchen Verben, die Dativ regieren wie an etwas schreiben oder an etwas erkranken. Sie steht aber genauso in Verbindung mit anderen Rektionspräpositionen, z. B. nach in sich nach jemandem sehnen oder sich nach jemandem erkundigen. Da man den hochdimensionalen konzeptuellen Raum nicht direkt einsehen kann, können ersatzweise Sprachkorpora, d. h. externe, meist digitale Sammlungen von Sprachdaten, durchsucht werden (s. Kap. 3.2.3). Eine Abfrage nach dem Verb denken im DWDS-Korpus 21 zeigt bspw. schnell, dass die zum Zeitpunkt der Recherche (14.09.2021) 4.714 einsehbaren Treffer sich auf diese Regeln reduzieren lassen. Darin lassen sich sehr viele Belege für denken an + NP im Akkusativ finden. Die schnelle Durchsicht ergibt auch keinen Treffer mit der Struktur denken an + NP im Dativ wie in Beispiel (2) (*Ich denke an meiner Zukunft). Daraus, dass eine solche Stuktur in dem externen Korpus nicht belegt ist, gibt es keine Grundlage zur Bildung einer grammatischen Regel, ähnlich denen oben unter 1. bis 4. Würde eine solche wohl eher seltene Abweichung wie in Beispiel (2) auftreten, könnten wir sie auf Basis dieses externen Korpus mit gewisser Sicherheit als von der Grammatik abweichend bewerten. Auf ähnliche Weise basiert unser grammatisches Regelwissen auf dem internen, individuellen hochkomplexen Korpus. Dieses implizite Regelwissen bewegt uns dazu, Sätze wie in (2) nicht zu produzieren und sie als grammatisch abweichend zu beurteilen. 3.1 Was ist Grammatikalität? 33 <?page no="34"?> Sprachliche Regeln sind Strukturprinzipien der Sprache. Sie werden induziert aus den Regelmäßigkeiten in den bisher wahrgenommenen Äußerungen und gehören zur mentalen Grammatik jedes Individuums. Grammatische Regeln sind überindividuell und können auf Basis von Sprachkorpora ermittelt werden. 3.1.1 Grammatische Regelkonflikte Aufgrund der großen Komplexität des grammatischen Regelsystems kann es zu sog. Regelkonflikten kommen. Dies ist der Fall, wenn ein Ausdruck durch zwei oder mehrere miteinander konkurrierende Regeln bestimmt wird. Wir betrachten zwei Regelkonflikte, die bei der Hilfsverbswahl zur Bildung des sog. Perfekts von Fortbe‐ wegungsverben wie schwimmen und fahren bestehen (Gillmann 2016; Bangel und Gillmann 2017). Im Deutschen stehen zwei Hilfsverben zur Verfügung: haben und sein, z.-B. Sie hat das Buch gelesen, aber Sie ist nach Hause gefahren. Der erste Regelkonflikt betrifft die Hilfsverbswahl abhängig von der Aktionalität der Fortbewegungsverben, der zweite Regelkonflikt die Hilfsverbswahl abhängig von der Transitivität. Regelkonflikt 1: Aktionalität der Fortbewegungsverben Als Verben der Fortbewegung bilden schwimmen und fahren (ähnlich auch gehen, laufen oder fliegen) das Perfekt mit sein nach Regel 1 in (4). Gleichzeitig reguliert eine weitere Regel die Hilfsverbswahl unter Bezug auf die aktionale Semantik des Verbs, nach der zwischen atelischen Verben, d. h. solchen, die einen andauernden Zustand oder eine andauernde Aktivität ausdrücken wie schlafen oder lesen, und telischen, d. h. einen Zustandswechsel bezeichnenden wie einschlafen, unterschieden wird. Telische Verben verlangen nach Regel 2a in (5) das Hilfsverb sein. Atelische Verben selegieren nach Regel 2b haben als Hilfsverb wie in (6). Während die Regel 1 und 2a übereinstimmend das Hilfsverb sein fordern, kommt es zwischen Regel 1 und Regel 2b zum Konflikt. Dieser führt zu Schwankungen in der Hilfsverbswahl, sobald schwimmen atelisch gebraucht, d. h. als eine andauernde oder sich wiederholende (sportliche) Aktivität oder ein Hobby konzeptualisiert wird wie in (7). Regeln zur Hilfsverbswahl bei Bewegungsverben ● Regel 1 (Bewegungsverben bilden die Vergangenheitsform mit sein): (4) Sie ist gefahren/ geschwommen/ gelaufen. ● Regel 2a (Telische Verben bilden die Vergangenheitsform mit sein): (5) Sie ist eingeschlafen; Sie ist nach Hause gefahren; Sie ist bis zum anderen Ufer geschwommen. 34 3 Grammatische Dimension <?page no="35"?> ● Regel 2b (Atelische Verben bilden die Vergangenheitsform mit haben): (6) Sie hat (lange) gelacht/ geschlafen/ gelesen. ● Regelkonflikt zwischen Regel 1 und Regel 2b: (7) Sie ist/ hat in ihrer Kindheit/ den ganzen Tag geschwommen. Regelkonflikt 2: Transitivität Der zweite Regelkonflikt ist mit der Transitivität des Satzes verbunden (Gillmann 2016: 46-48): Ein transitiver Satz beschreibt die Handlung eines Subjekts, die sich auf ein Objekt auswirkt. In (8) ist Ariadne das handelnde Subjekt und der Wollfadenknäuel das ihrer Handlung des Tragens unterliegende Objekt. Wenn Ariadne den Knäuel mit dem Wagen zum Eingang des Labyrinths fährt, heißt der Satz konform mit Regel 3a: Ariadne hat den (schweren) Wollfadenknäuel bis zum Eingang des Labyrinths gefahren. Der Handlung von Ariande unterliegt aber auch der Wagen, weswegen nach Regel 3a auch ein Satz wie Ariadne hat den Wagen bis zum Eingang des Labyrinths gefahren gebildet werden kann. Der Regelkonflikt entsteht dann, wenn der Wagen nicht als fortzubewegendes Objekt, sondern als Mittel der Fortbewegung konzeptualisiert wird, wodurch der Satz mit dem Verb fahren intransitiv ist. Intransitive Handlungen wie Ariadne ist immer nur Mercedes gefahren verlangen sein als Hilfsverb (9). Da Sätze wie Sie fährt Mercedes sowohl transitiv (nach Regel 3a) als auch intransitiv (nach Regel 3b) interpretierbar sind, entstehen bei der Perfektbildung Schwankungen der Hilfsverbswahl wie in (10). Zusätzlich wird dieser Konflikt durch Regel 1 wie in (4) verstärkt, nach der Fortbewegungsverben sein fordern. Regeln der Hilfsverbswahl bei Bewegungsverben abhängig von der Transiti‐ vität ● Regel 3a (Transitive Verben bilden die Vergangenheit mit haben): (8) Ariadne hat den Wollfadenknäuel (zum Eingang des Labyrinths) getragen; Ariadne hat den Wagen (zum Eingang des Labyrinths) gefahren. ● Regel 3b (Intransitive Verben bilden die Vergangenheit mit sein): (9) Ariadne ist immer nur Mercedes gefahren. ● Regelkonflikt zwischen Regel 3a und 3b: (10) Sie hat/ ist den Mercedes gefahren. 3.1 Was ist Grammatikalität? 35 <?page no="36"?> Beide Regelkonflikte führen zu Schwankungen in Sprachkorpora, die Gillmann (2016) in ihrer Untersuchung im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) ermittelt. Im öffentlich zugänglichen Archiv W der geschriebenen Sprache mit rund 4 Milliarden Wörtern (zum Zeitpunkt der Untersuchung) mit Zeitungsartikeln und parlamentarischen Pro‐ tokollen der Landtage überwiegt bei den untersuchten Bewegungsverben sein als Hilfsverb. Tabelle 5 zeigt aber, dass das Hilfsverb haben bei dem häufigen Verb fahren fast 10 % aller Belege ausmacht, auch schwimmen und laufen kommen mit dem Hilfsverb haben vor. Verb sein haben - absolute Belegzahl % absolute Belegzahl % gehen 14.633 100% 0 0% fahren 9.012 90,5% 951 9,5% laufen 2.376 97,2% 68 2,8% schwimmen 425 95,5% 20 4,5% Tabelle 5: Bewegungsverben und ihre Hilfsverbswahl (aus Gillmann 2016: 267) Tabelle 6 deckt den Konflikt zwischen Regel 1 und Regel 2b auf: Der telische Gebrauch der untersuchten Verben (weiß hinterlegt) generiert keine Schwankungen. Das atelisch gebrauchte Bewegungsverb schwimmen wird in 10 von 210 Fällen, d. h. in fast 5 % der Fälle, mit haben verwendet. Bei seltener gebrauchten Verben für sportliche Aktivitäten wie joggen und skaten ist der Konflikt noch deutlicher. Sie schwanken noch stärker. Verb Hilfsverb sein Hilfsverb haben Gesamtzahl der Belege telisch atelisch telisch atelisch schwimmen 100 200 - 10 310 joggen 6 22 - 4 32 skaten 5 9 - 3 17 Tabelle 6: Hilfsverbswahl des Verbs schwimmen in intransitiven Sätzen (aus Gillmann 2016: 270) Tabelle 7 enthält Schwankungen der Hilfsverbswahl, die auf den zweiten Regelkonflikt zwischen 3a und 3b zurückgehen. 36 3 Grammatische Dimension <?page no="37"?> Verb haben sein fahren 243 (84,4%) 45 (15,6%) fliegen 9 (56,3%) 7 (43,7%) Tabelle 7: Hilfsverbswahl bei fahren und fliegen mit einer Akkusativergänzung wie Auto oder Flugzeug (Gillmann 2016: 286) Bewegungsverben wie fahren oder fliegen mit Akkusativergänzungen das/ ein Auto fahren oder das/ ein Flugzeug fliegen treten mit haben und mit sein auf, da sie zwei Interpretationen zulassen (Gillmann 2016: 280-305). So kann ein/ das Auto oder das/ ein Flugzeug als Patiens wie in (11) und (13) konzeptualisiert werden und haben nach Regel 3a fordern oder sich als Fortbewegungsmittel wie in (12) und (14) mit sein nach Regel 3b richten. Hilfsverbswahl und die Konzeptualisierung der Akkusativergänzung ● Patiens: (11) Noch weiss die Polizei nicht, wer das Auto gefahren hat. ● Fortbewegungsmittel: (12) Wer einmal ein Elektroauto gefahren ist, fährt immer Elektroauto. ● Patiens: (13) Rund 500 Mal habe ich dieses Flugzeug geflogen, und immer funktionierte das Fahrwerk. ● Fortbewegungsmittel: (14) Das kann ich nicht beurteilen, weil ich dieses Flugzeug nie geflogen bin. Ganz selten wird das Hilfsverb haben verwendet, wenn das Fortbewegungsmittel als inkorporiertes Objekt realisiert wird, d. h. wenn es eine Nominalphrase ohne Determinierer und ohne overte Nominalflexion bildet, z. B. Auto/ Taxi/ Zug/ Mercedes fahren. Hier überwiegt das sein-Perfekt, z. B. Sie ist nur Mercedes gefahren. Die Regel 3b wirkt hier stärker als die Regel 3a. Sätze wie Der hat nur Mercedes gefahren sind nach Gillmann (2016: 291) zwar belegt, aber sehr selten. Lediglich in 6 von 390 Sätzen mit einem inkorporierten Objekt, das sind 1,5%, tritt im von Gillmann untersuchten Korpus das Hilfsverb haben auf. 3.1 Was ist Grammatikalität? 37 <?page no="38"?> Sprachliche Zweifelsfälle können auf derartigen Regelkonflikten basieren, wes‐ wegen Klein (2003: 15-16) sie als eine der Entstehungsursachen von sprachlichen Zweifelsfällen klassifiziert. In Kap. 5.1, das sich der Definition von Fehlern und ihrer Abgrenzung von sprachlichen Zweifelsfällen widmet, wird die Relevanz von Regelkonflikten noch einmal deutlich. 3.1.2 Grammatikalität und Akzeptabilität Nicht jede grammatische, d. h. sprachlichen Regeln folgende Äußerung ist für die Sprachnutzerinnen gleichermaßen akzeptabel. Die Akzeptabilität, d. h. die Einschät‐ zung, ob eine Äußerung im Sprachgebrauch vorkommt oder vorkommen kann, nimmt u. a. dann ab, wenn eine nach den grammatischen Regeln gebildete Äußerung schwer zu verarbeiten ist (Dąbrowska 2010: 4). Hierbei deutet sich der von de Saussure eingeführte Unterschied zwischen langue und parole an (Saussure 2001[1923]: 9-21). Dabei ist langue (in der deutschen Übersetzung Sprache) „ein Schatz, den die Praxis des Sprechens [parole; RS] in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat, ein grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen; denn die Sprache ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse“ (de Saussure 2001[1923]: 16). Begreift man langue als überindividuelles Sprachsystem, „das in jedem Gehirn existiert“, oder, wie Hundt (2005: 18, 20) es ausdrückt, als „kollektives Sprachbewusst‐ sein, das sich zwar aus der Summe der individuellen Grammatiken aller einzelnen Sprachteilnehmer zusammensetzt, das jedoch insgesamt gesehen sehr homogen ist“, ist parole der Sprachgebrauch („die Praxis des Sprechens“), der sich aus allen selbst produzierten und allen wahrgenommenen (gesprochenen, geschriebenen, gebärdeten) Äußerungen zusammensetzt. Die Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte der menschlichen Sprache (Tab. 8): Die Grammatikalitätsurteile betreffen die Regelkonformität einer Äußerung und bemessen den Grad der Übereinstimmung mit den grammatischen Regeln. Die Grammatikalitätsurteile beziehen sich auf die sprachliche Kompetenz. Inwieweit eine Äußerung aber als akzeptabel beurteilt wird, hängt vom subjektiven Sprachempfinden ab. Der Akzeptabilitätswert betrifft somit die sprachliche Performanz. Er bemisst den Grad, zu dem nach Meinung der Sprecherin eine Äußerung dem Sprachgebrauch angehören bzw. entsprechen kann (Dąbrowska 2010: 3-5, Schütze 2016: 20-36, Siemeling 2020: 109-112). 38 3 Grammatische Dimension <?page no="39"?> Sprache Sprachsystem (langue) Sprachgebrauch (parole) Urteile Grammatikalitätsurteile Akzeptabilitätsurteile Bewertung der Äußerung in Bezug auf die Übereinstim‐ mung mit den Bildungsregulari‐ täten in Bezug auf die Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch Bezug auf sprachliche Kompetenz sprachliche Performanz Tabelle 8: Grammatikalitäts- und Akzeptablitätsurteile Die Akzeptabilität eines sprachlichen Ausdrucks betrifft die Einschätzung, ob der Ausdruck dem Sprachgebrauch entspricht. Sie unterscheidet sich von der Grammatikalität, d.-h. der Bewertung der Regelkonformität eines Ausdrucks. In der Forschung wird die Unterscheidung zwischen Grammatikalitäts- und Akzepta‐ bilitätsurteilen sehr kontrovers diskutiert. Zum einen wird in Frage gestellt, ob die Beurteilung der Systemadäquatheit (Grammatikalitätsurteile) überhaupt möglich ist (s. Schütze 2016). Die Begründung bezieht sich darauf, dass das grammatische System lediglich aus dem Sprachgebrauch herleitbar ist. Schütze (2016: 26) geht daher davon aus, dass ausschließlich Linguistinnen aufgrund ihrer Ausbildung die Grammatikalität beurteilen können, während Sprachnutzerinnen lediglich die Akzeptabilität bewerten können. Dabei bezieht er sich auf Chomsky (1965: 10-11), nach dem die Struktur umso akzeptabler ist, je leichter sie zu produzieren und rezipieren ist und je weniger unbe‐ holfen sie wirkt. Dąbrowska (2010) vergleicht in ihrer Studie die Akzeptabilitätsurteile von Linguistinnen und Studierenden der englischen Literatur. Es zeigt sich, dass die Linguistinnen durchgehend höhere Akzeptabilitätsurteile (bei eindeutig grammati‐ schen, eindeutig ungrammatischen und bezüglich der Grammatikalität schwankenden Strukturen) vergeben als linguistisch weniger gebildete Studierende. Siemeling (2020) kombiniert in einer Studie zum Portugiesischen Grammatikalitäts- und Akzeptabili‐ tätsbefragungen von linguistischen Laien. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Grammati‐ kalitäts- und Akzeptabilitätsurteile unterscheiden können. Noch klarer trennen Bader und Häussler (2010) in ihren Experimenten binäre Grammatikalitätsurteile zwischen grammatisch und ungrammatisch von graduellen Akzeptabilitätsurteilen, die in einer numerischen Einschätzung bestehen, um wie viel besser eine Äußerung im Vergleich zu einer Referenzäußerung ist. Generell ist die große Mehrheit der Äußerungen grammatisch und akzeptabel zugleich. Im Randbereich fallen jedoch die Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile nicht einheitlich aus und können überindividuell stark variieren. Dies hat mehrere Gründe (Hundt 2005: 17-21): 3.1 Was ist Grammatikalität? 39 <?page no="40"?> ● Varietätenbezug: Die Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile hängen von der jeweiligen Varietätenkompetenz ab. Darüber hinaus können Urteile abhängig davon abweichen, auf welche Varietät (bswp. Standardsprache oder Dialekt) sie sich beziehen. ● Individualität: Zusätzlich können die Urteile einzelner Personen darin schwan‐ ken, was sie für grammatisch und akzeptabel in der Standardsprache halten. Zu erwarten ist bspw., dass die Hilfsverbswahl bei Fortbewegungsverben fahren oder fliegen, die in den Korpora starken Schwankungen ausgesetzt ist, uneinheitliche Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile hervorruft. ● Gradierbarkeit: Der Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsstatus einer Äuße‐ rung ist zudem gradierbar. Zum einen kann eine Struktur unterschiedlich viele Regelverletzungen enthalten (vgl. weniger in *Ich habe an meiner Zukunft gedacht vs. mehr in *Ich bin an meiner Zukunft gedacht) und ist somit bezüglich ihrer Grammatikalität gradierbar. Zum anderen können Strukturen dem Grenzbereich (Peripherie) eines Teilsystems zugeordnet werden, in dem Regelkonflikte auftreten (zum Kern-Peripherie-Modell s. Kap. 3.3). Dies betrifft die starke Flexion von einsilbigen schwachen Maskulina wie (mit dem) Bär oder (mit dem) Prinz, die für viele Sprachnutzerinnen deutlich akzeptabler sind als starke Flexionsformen der im Kern dieses Teilsystems stehenden Substantive, die mehrsilbig sind und Menschen bezeichnen wie Matrose (*mit dem Matrose). Aufgrund ihrer Form gehören einsilbige schwache Maskulina wie Prinz oder Bär zur Peripherie und stehen im Spannungsfeld zwischen den Kernen zweier Teilsysteme: der schwachen Maskulina wie Matrose und der starken Maskulina wie Dieb oder Hund, denen sie in der Form ählich sind. Die Akzeptabilitätsgrade für starke Flexionsformen steigen mit der zunehmenden Entfernung vom Kern (s. Kap. 7.3). Auch können gram‐ matische Strukturen aufgrund ihrer geringen Vorkommenshäufigkeit reduzierte Akzeptabilität aufweisen. Weiterhin ist zu erwarten, dass bei selten gebrauchten Verben wie gären oder sinnen die seltenere schwache Partizipform gegärt oder gesinnt geringere Akzeptabilitätswerte hat als die häufigere starke Partizipform gegoren oder gesonnen (s. Kap.-7.2). ● Wandelbarkeit: Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile verändern sich im Laufe der Zeit. Ihre Wandelbarkeit lässt sich indirekt am grammatischen Wandel ablesen: Mit der Entstehung einer grammatischen Form (sog. Grammatikalisie‐ rung) oder auch ihrem Abbau verändern sich Grammatikalitäts- und Akzeptabi‐ litätsurteile. Der sog. am-Progressiv wie in Sie ist am Lesen ist bereits teilweise als Ausdruck der Progressivität grammatikalisiert (s. Kap. 7.4), wobei die Verwendung mit direktem Objekt wie in Sie ist die Blumen am gießen für viele Sprecherinnen einen geringen Grad an Grammatikalität hat. Die Akzeptabilitätsurteile wandeln sich im Zuge der Verfestigung dieser Formen im Sprachgebrauch. ● Hohe Streuung: Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile einer sprachlichen Struktur können individuell stark voneinander abweichen und breit streuen. Während kerngrammatische Strukturen relativ einheitlich beurteilt werden, ist im 40 3 Grammatische Dimension <?page no="41"?> grammatischen Peripheriebereich mit großer Schwankungsbreite zu rechnen. So können die Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile der starken Flexion von einsilbigen schwachen Maskulina stark streuen. Köpcke (2011: 290) bringt das Verhältnis zwischen der Grammatikalität und Akzepta‐ bilität auf eine einfache Faustformel: „Weder ist jeder grammatische Satz akzeptabel, noch ist jeder akzeptable Satz grammatisch“. Man kann sich die Gesamtsumme aller produzierten und rezipierten Äußerungen (parole) als eine offene Ansammlung, reprä‐ sentiert durch das Viereck mit gestrichelten Rändern in Abb. 3, vorstellen. Der Kreis innerhalb des Vierecks bildet dann alle grammatischen, das Dreieck alle akzeptablen Äußerungen ab. produzierte Formen und Sätze grammatische Formen und Sätze akzeptable Formen und Sätze Abb. 3: Grammatikalität und Akzeptabilität der produzierten und rezipierten Äußerungen (nach Köpcke 2011: 291) Nach den grammatischen Regeln gebildete Äußerungen können also inakzeptabel sein. Dies trifft im Deutschen bspw. auf zu komplex verschachtelte Sätze zu. Durch das syntaktische Klammerverfahren, das darin besteht, dass „inhaltlich eng Zusammenge‐ höriges im Ausdruck weit getrennt erscheint“ (Ronneberger-Sibold 1991: 207), können zusammengehörige Elemente (bspw. Bestandteile eines Verbs wie anrufen) so weit auseinandergezogen werden, dass die Verarbeitbarkeit erschwert oder unmöglich wird. Dies ist bspw. der Fall, wenn die Größe einer Lexikalklammer, wie sie durch rufe und an (Ich rufe dich morgen an) aufgespannt wird, durch in sich verschachtelte Nebensätze stark gedehnt wird: Ich rufe jede Person, die mich über mein Handy zu erreichen versucht, auch wenn die Telefonnummer nicht in meinem persönlichen Telefonbuch gespeichert ist, immer, ohne viel Zeit zu verlieren, sofort, nachdem ich den verpassten Anruf gesehen habe, an. Die geringe Akzeptabilität einer stark gedehnten Klammer zeigt indirekt die Studie von Thurmair (1991). In dem von ihr untersuchten Korpus gesprochener Sprache umfasst die Lexikalklammer durchschnittlich 2,8 Wörter, womit ihr Umfang 3.1 Was ist Grammatikalität? 41 <?page no="42"?> übrigens weit unter den durch das Kurzzeitgedächtnis abgesteckten menschlichen Verarbeitungsmöglichkeiten liegt (s. Thurmair 1991: 180-190). Der erhöhte Verarbei‐ tungsaufwand solcher infrequenter, wenn auch grammatischer Strukturen mindert ihre Akzeptabilität. Akzeptable, aber ungrammatische Äußerungen kommen im Sprachgebrauch eben‐ falls vor. Hundt (2005) nennt in diesem Zusammenhang ungrammatische Strukturen wie Bei uns werden Sie erholt oder Da werden Sie geholfen. Beide haben als Werbeslogans Eingang in den Sprachgebrauch gefunden. Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an Wendungen wie ohne alles. Auch schriftliche Regelverletzungen wie Apo‐ stroph vor Plural-s (wie in Info’s) gehören dazu. Scherzhaft gemeinte Passivbildungen von gehen wie Sie ist gegangen worden, die den Ausdruck der Unfreiwilligkeit vermit‐ teln, sind ebenfalls ungrammatisch, aber im Sprachgebrauch seit dem 19.-Jahrhundert belegt (s. Stichwort „gegangen worden“ in Küpper 1987). Gemein ist solchen ungram‐ matischen Strukturen, dass sie kontextgebunden akzeptabel sind, obwohl oder gerade deswegen, weil sie grammatische Regeln verletzen. Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile können voneinander abwei‐ chen. Sie sind von vielen Faktoren, darunter Individualität oder Varietätenbezug abhängig. Die Mehrheit der Strukturen ist grammatisch und akzeptabel. Gram‐ matische Strukturen können inakzeptabel sein, akzeptable ungrammatisch. Sprachliche Zweifelsfälle stellen sprachliche Formen dar, die zwar den Regeln des Sprachsystems entsprechen, jedoch individuell abweichende Grammatikalitätsurteile hervorrufen. Die Formen können trotz geringer Korrektheitswerte hohe Akzeptabili‐ tätswerte aufweisen, da sie aus dem Sprachgebrauch bekannt sind. In Relation zu anderen Strukturen kann aber ihre Akzeptabilität reduziert sein (s. Kap.-8). Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile werden von den Normvorstellungen, aber auch Vorstellungen bezüglich der Sprechereigenschaften sowie durch weitere pragmatische und metapragmatische Aspekte beeinflusst. Diesem Thema widmet sich Kapitel-4. 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? Es ist bereits deutlich geworden: Das grammatische System lässt sprachliche Varianten zu. So kann bspw. ein Substantiv wie Wein den Genitiv mit -s (kurze Genitivendung) oder mit -es (lange Genitivendung) bilden, wobei beide Genitivformen Weins und Weines in geschriebenen Korpora in etwa gleich häufig vorkommen (s. Szczepaniak 2010: 111). Eine am 22. Oktober 2021 durchgeführte Suche im W-Archiv der geschrie‐ benen Sprache des DeReKo in allen Texten ab dem 01. Januar 2010 ergab ein relativ 42 3 Grammatische Dimension <?page no="43"?> ausgeglichenes Verhältnis mit einer leichten Tendenz zur kurzen Genitivendung: Auf Weins entfielen 6.231 und auf Weines 4.732 Treffer. Bezogen auf die im Korpus vertretene geschriebene standardnahe Sprache (s. Kap. 4.2.4) lässt sich konstatieren, dass beide Genitivformen (Weins und Weines) gleichermaßen grammatisch, d. h. vom grammatischen System vorgesehen sind (zur Grammatikalität s. Kap. 3.1). Sie bilden sprachliche Varianten, d. h. alternative Formen, die keine semantischen Unterschiede aufweisen. So drücken Weins und Weines dieselbe grammatische Bedeutung ' G E N . S G ' aus und stellen damit zwei Alternativen dar, die der linguistischen Variable 'Wein- G E N . S G ' angehören. Als linguistische Variable gilt in der Sprachwissenschaft also dementsprechend jede Einheit, die zwei oder mehrere Varianten zulässt (Durrell 2004: 195-196). Dies kann die regional variierende Aussprache eines Wortes sein, z. B. Aussprache von später mit [ ɛ: ] oder [ e: ] oder auf der höheren Ebene die Aussprache von Wörtern mit <ä> (später, Sträßchen, sägen usw. mit [ ɛ: ] oder [ e: ]). Ebenso kann die linguistische Variable den Genitiv Singular von maskulinen Simplizia sein, also nicht nur von Wein, sondern auch von bspw. Kopf, Baum, Kauf oder Müll. Auch die bereits in Kap. 3.1.1 erwähnte schwankende Hilfsverbswahl bei Fortbewegungsverben: ich bin/ habe das Flugzeug noch nie geflogen (s. Beispiele auf S. 37) bildet eine linguistische Variable, da hier zwei Perfektformen möglich sind: ich bin das Flugzeug geflogen und ich habe das Flugzeug geflogen. Wie bspw. im Falle der alternativen Perfektformen gezeigt (s. Kap.-3.1.1), kann sich ihre in Korpora ermittelte Gebrauchshäufigkeit auch stark unterscheiden. Sprachliche Varianten sind alternative Formen, die keine semantischen Unter‐ schiede aufweisen. Sie können sich in ihrer Gebrauchshäufigkeit unterscheiden, die in sprachlichen Korpora ermittelt werden kann. Es lohnt sich, etwas länger bei den Genitivvarianten zu verweilen. Sie zeigen, wie komplex die Variation in der Grammatik sein kann. In Abbildung 4 ist das stark variierende Vorkommen beider Genitivvarianten fünf maskuliner Simpizia (Kopf, Baum, Wein, Kauf und Müll) im W-Archiv von DeReKo (ab 01. Januar 2010) zu sehen. Die linguistische Variable ist hier der Ausdruck von Genitiv Singular bei diesen Wörtern. Während Wein ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen der kurzen und langen Genitivendung aufweist, tendiert Baum deutlicher zur kurzen. Kopf lässt mehrheitlich die lange Genitivendung zu. Bei Kauf überwiegt sehr deutlich die kurze Genitivendung, die bei Müll bis auf wenige Ausnahmen dominiert. 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? 43 <?page no="44"?> -s kurze Genitivendung -es lange Genitivendung Kopf 664 10% 5.877 90% Baum 3.599 26% 10.376 74% Wein 6.231 57% 4.732 43% Kauf 2.112 86% 357 14% Müll 3.291 99,6 % 12 0,4% linguistische Variable: Ausdruck des Genitiv Singular der Simplizia Kopf, Baum, Wein, Kauf und Müll Abb. 4: Kurze und lange Genitivendung als Varianten einer linguistischen Variable (DeReKo, W-Archiv, ab 1.01.2010) Aus den Daten in Abbildung 4 lassen sich folgende Beobachtungen ableiten: Zwar enthält das grammatische System zwei Varianten, diese sind jedoch unterschiedlich distribuiert. Nicht alle Substantive tendieren zur selben Endung. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Distribution (Verteilung) beider Varianten bloß zufällig ist oder sich erklären lässt. Da zwei Formen in der Grammatik gegeben sind, trifft jedes Indiviuum bei jeder Verwendung eines dieser Wörter, die im Genitiv Singular zwei Formen zulassen, die Wahl. Die in Abbildung 4 dargestellten Verhältnisse bilden die Gesamtheit der Belege ab, die im durchsuchten Korpus zu finden sind. Diese hier betrachtete, überindividuelle Variation innerhalb der linguistischen Variable Aus‐ druck des Genitiv Singular der maskulinen und neutralen Simplizia kann sowohl durch innersprachliche Regeln und Prinzipien als auch durch außersprachliche Faktoren (Einflussgrößen) beeinflusst sein. Die innersprachlich bedingte Variation ist vom grammatischen System abhängig, die außersprachlich bedingte Variation ergibt sich daraus, wie die Sprache räumlich, sozial, situativ, medial und zeitlich abhängig variabel eingesetzt wird. Die Wahl einer sprachlichen Variante in einer konkreten Äußerung kann von inner- und außersprachlichen Faktoren abhängen. Die innersprachlichen Fak‐ toren können verschiedene, auch miteinander konfligierende Regeln umfassen. Zu außersprachlichen Faktoren gehören die Umstände der sprachlichen Äußerung. 44 3 Grammatische Dimension <?page no="45"?> 3.2.1 Die innersprachliche Ebene der Variation Wir beginnen mit der innersprachlichen Ebene der Variation. Auf dieser Ebene wird die Variation durch Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien gesteuert, die in den einzelnen Modulen des Sprachsystems wirksam sind (s. auch Kap. 2.2). Die Module des Sprachsystems sind: Module des Sprachsystems ● Aussprache: Phonetik, Phonologie, Orthophonie ● Schreibung: Graphematik, Orthographie ● Grammatik: Morphologie (Flexion und Wortbildung) und Syntax ● Lexikon: Vokabular, lexikalische Relationen, Wortbildung ● Bedeutung: Semantik und semantische Relationen ● Text und Diskurs: sprachspezifische Textstrukturen Das Spannungsverhältnis zwischen den kurzen und langen Genitivformen ist von vielen innersprachlichen Faktoren abhängig. An dieser Stelle sollen zwei Faktoren‐ gruppen diskutiert werden: die lexikalischen und die lautlichen Faktoren (zu weiteren s. Konopka und Fuß 2016: 61-68). Abbildung 5 präsentiert die lexikalisch bedingte Distribution und kontrastiert die Verteilung der Genitivformen in zwei Wortschatzbe‐ reichen. Sie zeigt, dass sich einzelne Bereiche des Lexikons in Bezug auf die Genitivform unterschiedlich verhalten. So kann man bei Eigennamen - darunter Vornamen, Familiennamen und geographische Namen -, die eine Sondergruppe des Wortschatzes bilden, aus zwei Gründen vom Sonderverhalten sprechen: Eigennamen tendieren deutlich zur kurzen Genitivendung, z. B. Bachs Suiten, Geschichte Afrikas usw., bilden aber häufig auch endungslose Genitivformen, die eine dritte Ausdrucksvariante von Genitiv Singular darstellen, z. B. Cembalomusik des jungen Bach oder Staaten des heutigen Europa (Konopka und Fuß 2016: 63). Einsilber (wie Kopf, Baum, Müll), die zum häufig gebrauchten Wortschatz, dem sog. Grundwortschatz, gehören, tendieren hingegen zur langen Genitivendung und bilden kaum endungslose Formen (Konopka und Fuß 2016: 81). Aus der Gruppe der „Einsilber“ in Abbildung 5 sind solche, die auf einen Vokal (z. B. Stau), auf [ st ] (z. B. Nest) oder auf einen Zischlaut (z. B. Haus oder Tisch) enden, ausgeschlossen. Diese Einschränkung wird weiter unten begründet. 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? 45 <?page no="46"?> Abb. 5: Einfluss der lexikalischen Faktoren auf die Wahl der kurzen und langen Genitivendung (s. Konopka und Fuß 2016: 63, 81) Schaut man sich die Substantive jedoch aus der lautlichen Perspektive an, wird schnell deutlich, dass die Genitivwahl auch phonologisch bedingt ist. Abbildung 6 kontrastiert das Verhältnis zwischen der kurzen und langen Genitivendung bei Nomina mit dem Auslaut auf [ s ] wie Haus oder Herz, [ st ] wie Nest und [ ʃ ] wie Tisch und den bereits in Abbildung 5 betrachteten Einsilbern, die auf einen anderen Konsonanten auslauten (Konopka und Fuß 2016: 73 und 81). Bei Nomina auf [ s ], [ st ] und [ ʃ ] ist die Tendenz zur langen Genitivendung auf lautliche Faktoren zurückzuführen: Bei Nomina auf [ s ] würde die kurze Genitivendung zu einem langen [ s: ]-Laut (sog. Geminate) am Wortende führen, die im Standarddeutschen aber phonologisch ausgeschlossen (ungrammatisch) ist. Die Ausnahmen, in denen Nomina nicht die lange Genitivendung -es nehmen, gehen auf Sonderverhalten von Eigennamen (Heiligenkreuzs Sportlicher Leiter) und auf gemischt flektierende Nomina mit einer erweiterten Genitivmarkierung zurück, z. B. Herz-ens oder Fels-ens (Konopka und Fuß 2016: 67). Bei Nomina auf [ st ] und [ ʃ ] ist die Aussprache nicht unmöglich, jedoch ist die Lautfolge [sts] wie in Nests und [ ʃs ] wie in Tischs schwierig auszusprechen. Die Gruppe der Einsilber umfasst hingegen Auslaute auf alle übrigen Konsonanten [ p, t, k, p͜f, f, x, m, n, ŋ, l ] und das am Ende des Wortes vokalisierte r wie in Tier. Sie bilden deutlich häufiger die Genitivformen mit der kurzen Endung. 46 3 Grammatische Dimension <?page no="47"?> Abb. 6: Einfluss der phonologischen Faktoren auf die Wahl der kurzen und langen Genitivendung (Konopka und Fuß 2016: 73, 81) Die Wirkung beider innersprachlichen Faktoren führt dazu, dass die Einsilber im Kontrast zu Eigennamen zwar zur langen Genitivendung tendieren, jedoch ist diese Tendenz innerhalb dieser Gruppe unterschiedlich stark ausgeprägt. Während die Einsilber auf [ s ], [ st ] und [ ʃ ] sehr stark zur langen Genitivendung tendieren, treten alle anderen deutlich häufiger mit der kurzen Genitivendung auf. Der Regelkonflikt bei solchen Einsilbern, zwischen der allgeinen lexikalischen Tendenz zur langen und vom Auslaut abhängigen Tendenz zur kurzen Genitivendung, schlägt sich in der Distribution in Abbildung 4 nieder: Substantive wie Kopf tendieren stark zur langen Genitivendung, wohingegen bpsw. Müll fast ausschließlich eine kurze Genitivendung trägt (mehr zur Abhängigkeit vom Auslaut, s. Szczepaniak 2010, Konopka und Fuß 2016). 3.2.2 Die außersprachliche Ebene der Variation Die außersprachlichen Faktoren eröffnen fünf große Dimensionen der Variation, die davon abhängen, wie das Sprachsystem in der Sprachgemeinschaft realisiert wird (Berruto 2 2004). Dabei wirken sich 1) geographische oder regionale (diatopische), 2) soziale/ gruppenspezifische (diastratische), 3) funktionale oder situative (diaphasische) und 4) mediale (diamesiche) Unterschiede im Gebrauch so aus, dass das Sprachsystem unterschiedliche Realisierungsformen erfährt (Sinner 2014: 27). Diese Realisierungs‐ formen bezeichnet man als Varietäten (zum Begriff der Varietät s. Berruto 2 2004: 189- 190). Hinzu kommt noch als weiterer außersprachlicher Faktor die Gebrauchshäu‐ 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? 47 <?page no="48"?> figkeit (s. dazu Kap. 3.2.3). Sprachliche Varianten können entlang dieser außersprach‐ lichen Faktoren distribuiert sein. Ihre Verteilung trägt dann zur Konstitution einer Varietät bei. Hudson ([ 2 1996] 2001: 22) definiert dementsprechend eine sprachliche Varietät als „a set of linguistic items with similar social distribution“. Sprachliche Varietäten sind z. B. Standarddeutsch, Standarddeutsch in Franken, Umgangssprache in Bamberg, Jugendsprache, Sprache der Fußballkommentare, gesprochene Sprache, Sprache(n) einer bestimmten Person, Wissenschaftssprache usw. diastratisch diatopisch diaphasisch Abb. 7: Varietätenraum mit den drei Hauptdimensionen (diatopisch, diastratisch und diaphasisch) Die Art und Weise, wie sich Sprache in Varietäten aufgliedert, die Anzahl der Varietäten und ihre gegenseitigen Beziehungen bilden die sog. Architektur der Sprache (Berruto 2 2004: 193). Dabei bilden die Varietäten einen Varietätenraum, in dem jedes Mitglied der Sprachgemeinschaft unterschiedlich positioniert ist, d. h. der Sprachgebrauch jeder Person deckt bestimmte Bereiche im Varietätenraum ab (Abb. 7). Dies ist wichtig für die Untersuchung der sprachlichen Variation und der Zweifelsfälle, weil wir abhängig von unserem Sprachgebrauch unterschiedliche Erfahrungen des Deutschen haben und damit auch unterschiedliche Variationskompetenzen besitzen (s. Kap. 2.2.2). In Abbildung 7 ist ein Schema des Varietätenraums mit den drei wichtigsten Dimensionen, der diatopischen, der diastratischen und der diaphasischen, dargestellt. Jede Dimension enthält verschiedene Ausprägungen. Sie stellt somit eine Reihung von gleichwertigen Kategorien, nicht eine Rangordnung dar. So umfasst die diastratische Dimension eine Reihung von gruppenspezifischen Varietäten ( Jugendsprache usw.), die diaphasische Dimension wiederum umfasst funktionale Ausprägungen (Wissen‐ 48 3 Grammatische Dimension <?page no="49"?> schaftssprache, Alltagssprache usw.), die diatopische Dimension (einzelne Dialekte, größere Regiolekte, überregionale Standardvariäteten usw.). Die Verteilung der Varianten im Varietätenraum soll hier am Beispiel der kurzen und langen Genitivendung demonstriert werden. Der Schwerpunkt liegt auf den diastratischen und diaphasischen Faktoren. Die diastratischen Faktoren betreffen soziale Identitätsaspekte, entlang derer man Individuen innerhalb einer Sprachgemeinschaft gruppieren kann. Dazu gehören das Alter, die Bildung, der Beruf, politische oder religiöse Überzeugungen usw. In einer kleinen Studie im Rahmen ihrer Hausarbeit zeigt Neumann (2014), dass die Wahl der kurzen oder langen Genitivendung vor dem Bildungshintergrund gesehen werden kann. Neumann wählte für ihre Studie fünf Substantive aus, die in der Korpusuntersuchung von Szczepaniak (2010) eine ausgeglichene Verteilung der kurzen und langen Genitivendung aufweisen: Gang (kurze Genitivendung 46 %), Ruf (46 %), Zahn (47 %), Zaun (48 %), Wein (48 %) und Klang (51 %). Sie führte einen Produktionstest durch, der aus einem Lückentext bestand. So wurden die Testpersonen u. a. darum gebeten, den Satz in (15) zu vervollständigen. Der Text vor dem Satz schildert die Kommunikationssituation, in die der Satz eingebettet ist: (15) Als Weinliebhaber möchtest du dir ein Nachschlagewerk über die edelsten französi‐ schen Weinsorten kaufen. Du liest einen Klappentext: Weltweit gelten französische Weingüter als herausragend, darunter das bekannte Château Haut-Brion. Dieses Werk bietet Interessierten einen einzigartigen Zugang zu der Welt des edelsten ___________ (Wein) aus Frankreich. Die Umfrage wurde mit ausgedruckten Fragebögen in einem Textilgeschäft durchge‐ führt. An der Studie haben 100 Personen teilgenommen. Die Wahl der kurzen bzw. langen Genitivendung in diesem Satz ist vom Bildungsgrad beeinflusst: Unter den elf Testpersonen mit Hauptschulabschluss wählten bei Wein fünf die lange und lediglich eine die kurze Genitivendung. 37 Testpersonen mit Realschulabschluss entschieden sich ebenfalls mehrheitlich für die lange Endung (22-mal -es zu 8-mal -s), ähnlich auch die mit Abitur (19 : 6), während bei Personen mit dem Hochschulabschluss die Verhältnisse zwischen beiden Endungen ausgeglichen sind (13 : 11). Da die Zahlen für ein Lexem sehr gering sind, werden hier keine Prozentangaben geliefert. Interessant ist aber, dass der Anteil der Nullendung wie in des edelsten Wein ebenfalls mit dem Bildungsgrad variiert: Fünf der elf Personen mit Hauptschulabschluss haben zur Nullendung bei Wein gegriffen, vier der 37 Personen mit Realschulabschluss und eine Person mit Fachhochschulreife bzw. Abiturabschluss. Personen mit Hochschulab‐ schluss bildeten keine endungslosen Formen. In Abbildung 8 werden die Verhältnisse zwischen der langen und der kurzen Endung für alle von Neumann (2014) untersuchten Substantive dargestellt. Deutlich zeigt sich das ausgeglichene Verhältnis zwischen beiden Endungen bei Personen mit Hochschulabschluss. Das Verhältnis in den übrigen Gruppen schlägt hingegen zugunsten der langen Genitivendung aus. 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? 49 <?page no="50"?> Abb. 8: Wahl der kurzen und langen Genitivendung geordnet nach Bildungsgrad Die Wahl der Genitivendung hängt aber auch von diaphasischen Faktoren ab, die in verschiedenen Kommunikationssituationen unterschiedlich ausgeprägt sind. Da wir je nach Tätigkeitsfeld und Situation unterschiedlich sprachlich handeln, tragen wir mit den Ausdrucksformen zur Konstruktion von diaphasischen Varietäten bei. Diese können entlang verschiedener Dimensionen der Kommunikationssituation verlaufen, darunter dem sozialen Umfeld (findet das Gespräch in der Straßenbahn, im Privathaus‐ halt, vor Gericht oder an der Universität statt) der am Gespräch Beteiligten und der damit verbundenen sozialen Rollen (Schülerin - Lehrerin, Käuferin - Verkäuferin, Leserin - Schriftstellerin usw.), aber auch je nach Thema (Näheres s. Dittmar 1997: 206-233, Sinner 2014: 136-143, Felder 2016: 123-130). Die Genitivvariation auf dieser Ebene soll an einem kleinen Ausschnitt illustriert werden. Hierzu betrachten wir die Genitivformen von Müll. Im DeReKo sind seit 1. Januar 2010 3.291 Formen mit der kurzen (Mülls) und lediglich sechs mit der langen Genitivendung (Mülles) verzeichnet. Die Belege der kurzen Genitivendung wurden bereinigt, doppelt erschei‐ nende Belege nur einmal berücksichtigt. Bei den sechs Belegen lohnt es sich, den Kontext anzuschauen: Es handelt sich einmal um eine als direkte Rede formulierten Aussage eines Energieexperten von Greenpeace (16), einmal als indirekte Rede eines Ordnungsamtsleiters (20), zwei Mal taucht die Form in Ratschlägen zum Umgang mit Müllproblemen (17, 18), weitere zwei Mal in Verbindung mit dem Verb sich einer Sache entledigen, das dem gehobenen Register zugehört und zusätzlich ein Genitivobjekt verlangt (19, 20), und ein Mal in metaphorischer Verwendung auf. Im Folgenden werden die nicht-metaphorischen Verwendungen näher bezüglich ihrer Kontextualisierung betrachtet. 50 3 Grammatische Dimension <?page no="51"?> (16) „Bis zu fünf Millionen Kubikmeter solchen flüssigen Mülles werden jährlich einge‐ leitet“, sagt Wladimir Tschuprow, Energieexperte von Greenpeace Russland. Wissen‐ schafter hätten nachgewiesen, dass die Radioaktivität im Fluss seit 2001 angestiegen sei. (NZZ10/ NOV.02872 Neue Zürcher Zeitung, 19.11.2010, S. 9; Eine Atomfabrik mit furchterregender Vergangenheit) (17) Die Temperaturen lassen wieder gemütliche und ausgelassene Grillereien an Flüs‐ sen und Seen zu. Was zu einem gelungenen Beisammensein dazugehört, ist das Wegräumen des Mülles. Diesen Fund hat eine Leserin an der Drau in der Nähe des Lienzer Heizwerkes gemacht. Da macht Entspannung an der Drau ,Spaß‘ schreibt sie verärgert.KK/ PRIVAT (K18/ MAI.00084 Kleine Zeitung, 01.05.2018, S. 27; Zugemülltes Ufer) (18) Einfach mal Grillen auf dem eigenen Balkon, im Vorgarten oder im Hinterhausgarten unbegrenzt erlauben. Und schon wäre mindestens die Hälfte der Grillmeister aus den Parks verschwunden, inklusive ihres Mülles. (via Facebook zum Artikel: „Alles sauber, alles rein“ vom 17. Juli; L18/ JUL.01859 Berliner Morgenpost, 19.07.2018, S.-2; „Was spricht gegen die Wiedereinführung des 17. Juni? “) (19) Ein Maler und Anstreicher dürfte sich an der Bundesstraße 6 zwischen Klement und Eichenbrunn bei den „Zwei Kreuzen“ seines Mülles entledigt haben. Farbkübel, Werkzeug und selbst seinen Pullover hat der Umweltverschmutzer dort abgelagert. Nur einige Schritte daneben liegen Dachziegel, Plastiksäcke mit Müll und dergleichen. (NON10/ APR.20261 Niederösterreichische Nachrichten, 28.04.2010) (20) Auf Nachfrage des Uckermark Kurier ließ er [Ordnugnsamtsleiter; RS] wissen, dass es leider wirklich so sei, dass sich einige Mitmenschen ihres Mülles entledigten, ohne dass sie über die Folgen für Natur und Landschaft nachdenken würden. „Für uns ist es immer wieder ein Ärgernis, auch weil die Allgemeinheit die Kosten für die Entsorgung tragen soll. (…)“. (NKU20/ MAI.00157 Nordkurier, 02.05.2020, S.-18 sowie NKU20/ MAI.00477 Nordkurier, 05.05.2020, S.-13; Bauschutt einfach am Waldrand abgekippt) Dazu wenden wir das sog. „Zwiebelmodell der Kontextualisierung“ (s. Abb. 9) von Müller (2012: 49-52) an. Im Kern des Zwiebelmodells steht der betrachtete Ausdruck, z. B. die Wortform Mülles - hier Fokuskonstruktion (FK) genannt. Der Kontext besteht aus mehreren Schichten: In der inneren Kontextschicht befindet sich der sprachliche Kotext, d. h. die sprachliche Umgebung des betrachteten Ausdrucks mit typischen Text- oder Interaktionsmustern seines Austretens, bspw. die typische syntaktische Ein‐ bettung oder typische mediale Übertragunsform (etwa schriftlich in Massenmedien). Der außersprachliche Kontext umfasst die Situation (Setting und Personenkonstella‐ tion), die Gesellschaftsdomäne (soziale Rollen der Kommunikationspartnerinnen) und die Wissensdomäne (Thema und Diskurs). 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? 51 <?page no="52"?> Kotext - Text- und Interaktionsmuster Situation - Setting- und Personenkonstellationen FK Gesellschaftsdomäne - soziale Rolle Wissensdomäne - Thema, Diskurs Kontext Abb. 9: Das Zwiebelmodell der Kontextualisierung (Müller 2012: 50) Die wenigen Belege für die lange Genitivendung gehören dem thematischen Kontext ‚Umgang mit lästigem oder auch gesundheitsgefährdendem Müll‘ an. Das in (16) und (20) wiedergegebene Setting umfasst öffentliche Äußerungen von institutionell gebundenen Personen, die im Bereich der Müllentsorgung besondere Expertise haben. In (17) ist es eine Kurznachricht, die eine aufklärende Feststellung zum Zusammenhang zwischen gemütlichem Beisamensein und Müllentsorgung enthält. In (18) ist das ein Facebook-Eintrag mit einem Lösungsszenario zur Müllvermeidung, das sich auf die Kenntnis des menschlichen Handelns beruft. Generell kann man annehmen, dass die ausnahmsweise gebrauchte lange Genitivendung in dem besonderen Kontext und bei einem asymmetrischen Beziehungsverhältnis zwischen den Experten bzw. den betroffenen Personen einerseits und der Zeitungsredaktion bzw. Zeitungsleserinnen andererseits nicht zufällig vorkommt, sondern in dieser besonderen diaphasischen Ausprägung der Kommunikationssituation als adäquates sprachliches Mittel gewählt wird. Da es sich dabei um Ausnahmen von der fast durchgehend belegten Kurzform des Genitivs handelt, könnte man annehmen, dass die lange Genitivform nur in solchen Kontexten auftreten kann, wo die besondere kommunikative Funktion der Äußerungen sprachlich ausgestaltet wird. Zusammenfassend zeigt das Beispiel der Variation der kurzen und langen Genitiv‐ endung das komplexe Faktorengeflecht: Die lexikalische Tendenz zur langen Genitiv‐ endung bei Müll konfligiert mit der Tendenz zur kurzen Endung beim l-Auslaut. Gleichzeitig kann eine besondere soziokommunikative Konstellation, hier der thema‐ 52 3 Grammatische Dimension <?page no="53"?> tische Kontext „Umgang mit lästigem, gesundheitsgefährdendem Müll“, zur Wahl der langen Genitivendung führen. 3.2.3 Gebrauchshäufigkeit Das grammatische System einer Sprache wird durch den Gebrauch kontinuierlich geformt. Je nachdem wie oft einzelne sprachliche Varianten verwendet werden, verändert und festigt sich das grammatische System. Dabei spielt die Häufigkeit der Verwendung, sog. Gebrauchshäufigkeit, eine zentrale Rolle. Ausgelöst und gesteuert durch die in Kap. 3.2.1 und 3.2.2 angesprochenen Faktoren können sich Varianten durch zunehmenden Gebrauch durchsetzen, sie können auch zurückgehen oder nebeneinander in unterschiedlichen Gebrauchsverhältnissen existieren. Auf diese Weise wird die Grammatik, wie am Beispiel des Genitivausdrucks gezeigt, geformt und verändert. Die Gebrauchshäufigkeit einzelner sprachlicher Einheiten formt und verän‐ dert das grammatische System. Grammatische Zweifelsfälle entstehen häufig im Bereich geringer lexikalischer oder auch kategorieller Gebrauchshäufigkeit (Tokenfrequenz). Die lexikalische Ge‐ brauchshäufigkeit umfasst die Gesamtzahl aller belegten Wortformen eines sprach‐ lichen Zeichens, z. B. des Substantivs Hund, des Hilfsverbs werden oder der Präposition während. Im Falle flektierbarer Wortarten wie der Substantive machen alle Belege (d. h. alle Tokens) für alle Flexionsformen des Substantivs Hund seine lexikalische Gebrauchshäufigkeit aus, also auch Belege für Hundes, Hunds und Hunde. Bei unflek‐ tierbaren Wortarten wie den Präpositionen besteht die lexikalische Häufigkeit aus den Belegen dieser einer Form, z. B. während. Die absolute lexikalische Gebrauchshäu‐ figkeit, d. h. die Anzahl der Lexembelege, und die relative lexikalische Gebrauchs‐ häufigkeit, d. h. der Anteil eines Lexems an bspw. der Menge aller Lexeme gleicher Wortart kann auf Basis von Korpora ermittelt werden (Andresen und Zinsmeister 2019: 25-28). Dies wird an zwei Korpora illustriert (Lemnitzer und Zinsmeister 3 2015, Hirschmann 2019). Das DWDS-Korpus 1900-1999 (dwds.de) besteht (Stand: 19. Juni 2023) aus 100.897.420 Tokens (ohne Satz-/ Sonderzeichen, Nichtwörter und Zahlen). Die absolute lexikalische Häufigkeit des Lemmas Hund (Lemmasuche: „Hund“) umfasst in diesem Korpus 5.122 Tokens (nur anzeigbare Treffer), das Lemma Mensch ist 73.686-mal belegt. Die offensichtlichen Gebrauchshäufigkeitsunterschiede werden im DWDS skalar in Relation zur Korpusgröße ausgedrückt (s. Tab. 9). Im gesamten aggregierten zugrundeliegenden Korpus von 35.271.873.584 Tokens wird dem Lemma Hund auf der Worthäufigkeitsskala von 0 bis 6 der Skalenwert 4 beigemessen, da es zu den Wörtern gehört, die im gesamten Korpus eine Worthäufigkeit zwischen 1.115.395 und 11.153.945 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? 53 <?page no="54"?> haben. Mensch weist hingegen den Skalenwert 5 (zwischen 11.153.946 bis 111.539.457) auf. Die Skalenwerte bilden die relative lexikalische Gebrauchshäufigkeit ab. Die Häu‐ figkeit von Lemmata wie Mensch im DWDS-Korpus kann an der Schnittstelle unter http s: / / www.dwds.de/ api/ frequency/ ? q=Mensch abgefragt werden (weitere Informationen unter https: / / www.dwds.de/ d/ api). Skalenwert Worthäufigkeit Beispiel - - von bis Wort abs. Frequenz häufig 6 111.539.458 35.271.873.584 der, die, das 279.673.494 - 5 11.153.946 111.539.457 Mensch 23.083.120 - 4 1.115.395 11.153.945 Hund 2.401.285 - 3 111.540 1.115.394 Katze 883.814 - 2 11.154 111.539 Krake 15.103 - 1 1.116 11.153 Schleie 7.201 selten 0 5 1115 Zaupe 9 Tabelle 9: Relationale lexikalische Häufigkeit in Bezug zur Korpusgröße - Skalenwerte 6-0 im DWDS-Kor‐ pus (dwds.de) Am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim (ids-mannheim.de) wird die relative lexikalische Gebrauchshäufigkeit der sprachlichen Zeichen in einer Grund‐ formliste dargestellt. Die neueste Grundformliste, basierend auf dem Deutschen Referenzkorpus/ Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache 2012 (kurz: DeReKo-Archiv Mitte 2012), derewo-v-ww-bll-320000g-2012-12-31-1.0, veröffentlicht am 31.12.2012 umfasst 326.946 Einträge und ist unter https: / / www.ids-mannheim.de/ di gspra/ kl/ projekte/ methoden/ derewo/ samt Allgemeinen Anmerkungen und Benutzer‐ dokumentation herunterladbar (Stand: 22.01.2025). Hier wird die relative lexikalische Häufigkeit der Lexikoneinträge in Relation zur Grundform der, die, das (mit mehreren Funktionen: Definitartikel, Demonstrativ, Relativpronomen) berechnet. Die Häufigkeit der Grundform Hund in dieser Liste ist somit die relative Häufigkeit aller Flexionsfor‐ men von Hund, die hier in Häufigkeitsklassen angegeben wird. Der nummerische Wert der Häufigkeitsklasse (Tab. 10) gibt an, wie viel häufiger der, die, das auftritt im Verhältnis zu bpsw. Hund. Die Häufigkeitsklasse 11 bedeutet also, dass der, die, das 2 11 (= 2.048) mal häufiger ist als Hund. Auf 2.048 Belege für der, die, das kommt ein Beleg für eine Wortform von Hund. Der nummerische Wert der Häufigkeitsklasse steigt mit abnehmender Tokenfrequenz: eine Wortform von Katze (Häufigkeitsklasse 12) ist somit noch seltener. Sie kommt ein Mal auf 4.096 Belege für der, die, das vor. Die Konjunktion und (Häufigkeitsklasse 2) ist hingegen viel häufiger, sie kommt ein Mal auf vier Belege 54 3 Grammatische Dimension <?page no="55"?> von der, die, das vor, Mensch (Häufigkeitsklasse 7) ein Mal auf 128 Belege für der, die, das. Häufigkeits‐ klasse Worthäufigkeit in Relation zu der, die, das Beispiel von 0 bis 29 auf 2 N auf X Belege für der, die, das Wort häufig 0 2 0 1 der, die, das - 2 2 2 4 und - 7 2 7 128 Mensch - 11 2 11 2.048 Hund - 12 2 12 4.096 Katze - 17 2 17 131.072 Krake - 19 2 19 524.288 Schleie selten 29 2 29 536.870.912 Zaupe Tabelle 10: Relationale lexikalische Häufigkeit in Bezug zur häufigsten Grundform der, die, das - Häufigkeitsklassen im DeReWo 0-29 (https: / / www.ids-mannheim.de/ digspra/ kl/ projekte/ methoden/ de rewo/ ) Obwohl beide Korpora aus unterschiedlichen Texten bestehen, sind die relativen Häufigkeiten der Lexeme vergleichbar. In beiden Korpora werden Lexeme wie Mensch häufiger gebraucht als Hund oder Katze, während Krake, Schleie oder Zaupe zu den ganz seltenen Lexemen gehören. Die Unterschiede in der lexikalischen Gebrauchshäufigkeit schlagen sich u. a. bei einem der in diesem Buch intensiv behandelten Zweifelsfälle der schwachen Maskulina nieder (s. Kap.-7.3,-8.3 und-10.3). Die lexikalische Gebrauchshäufigkeit stellt die Gesamtzahl der Vorkom‐ mensbelege eines Lexems in allen Wortformen dar. Sie kann als absolute Ge‐ brauchshäufigkeit durch die Beleganzahl in einem Korpus bestimmt werden. Wird die Beleganzahl eines Lexems in Relation zu einer Gesamtmenge z. B. von allen Lexemen bestimmt, handelt es sich um relative Gebrauchshäufigkeit. In digitalen Korpora werden relationale Gebrauchshäufigkeiten angegeben, die Lemmata entweder in Häufigkeitsklassen einteilen oder in Relation zum häufigsten Lemma (der, die, das) berechnen. Bei flektierbaren Wortarten ist zusätzlich die Betrachtung der kategoriellen Ge‐ brauchshäufigkeit sinnvoll, d. h. der Frequenz konkreter grammatischer Kategorien, denn auch diese schlägt sich im Bereich der grammatischen Zweifelsfälle nieder, z. B. 3.2 Was ist eine sprachliche Variante? 55 <?page no="56"?> bei den schwächelnden starken Verben (Kap. 7.2, 8.2, 9.2 und 10.2). Während die lexika‐ lische Gebrauchshäufigkeit eines Verbs wie schwimmen Belege für alle Flexionsformen umfasst, kann die gesonderte Betrachtung der kategoriellen Frequenz aufdecken, wie stark einzelne Flexionsformen, bspw. die Indikativ- und Imperativformen aller Verben, bezüglich der Gebrauchhäufigkeit differieren. Bei Verben zeichnen sich so frequenzielle Unterschiede zwischen den Moduskategorien ab: Der Indikativ wird viel häufiger verwendet als der Konjunktiv oder der Imperativ. Dabei ist der Imperativ der am seltensten benutzte Modus: Im Korpus aus gesprochenen standardsprachlichen Dialo‐ gen (Unterhaltungen, Beratungen und Dienstleistungsdialogen), die 3.000 konjugierte Verbformen enthalten, machen Indikativformen 90 % aus, Konjunktivformen etwas über 7 % und Imperativformen weniger als 3 % (Tomczyk-Popińska 1987: 339). Dabei tritt der Imperativ am häufigsten in der 2. Person Singular auf. Insgesamt sticht bei Verben mit über 37 % die 3.Sg.-Form hervor, gefolgt von der 1.Sg. mit über 23 %. Insgesamt sind verbale Pluralformen seltener als solche im Singular. Die kategoriellen Unterschiede schlagen sich bei dem Zweifelsfall bezüglich schwächelnder starker Verben nieder. Die kategorielle Gebrauchshäufigkeit reflektiert die Unterschiede im Ge‐ brauch einzelner grammatischer Kategorien. So ist bspw. der Imperativ der am seltensten benutzte Modus bei Verben. 3.3 Die Imperfektabilität des Sprachsystems Mit Antos (1996, 2003) gesprochen, ist das Sprachsystem an sich „imperfektibel“: Die Sprachstrukturen sind nicht durchgehend homogen und mit einfachen Regeln beschreibbar. Vielmehr tritt an vielen Stellen im System sprachstrukturelle Disparatheit auf, wenn sich sprachliche Regeln überlagern und teilweise miteinander konkurrie‐ ren, was zur Bildung von sprachlichen Varianten führt. Während das System oder Teilsystem im Kern regelhaft ist, treten an deren Rändern Unregelmäßigkeiten auf. Das von der Prager Schule in den 1960er Jahren vogeschlagene Modell von Kern und Peripherie (auch: Zentrum-Peripherie-Modell) trägt dieser Tatsache Rechnung (Daneš 1966, Filipec 1966, Schmidt 2018: 20-27). Daneš (1966: 11) verweist darauf, dass „the classes (and sub-classes) of [linguistic; RS] elements should not be regarded as ‚boxes‘ with clear-cut boundaries but as formations with a compact core (centre) and with a gradual transition into a diffuse periphery which, again, gradually passes (infiltrates) into the peripheral domain of the next category“. Nach diesem für die Behandlung sprachlicher Zweifelsfälle sehr hilfreichen Modell sind Teilbereiche des grammatischen Systems eben nicht homogen, sondern enthalten einen regelhaften Kern. Beispielsweise wird im Bereich der Substantive und ihrer Flexion 56 3 Grammatische Dimension <?page no="57"?> ein Kern durch die große Mehrheit derjenigen maskulinen Substantive (ca. 67 %) gebildet, der sich durch starke Flexion auszeichnet (z. B. Hund, des Hundes, die Hunde; s. Kap. 7.3.1.1). Damit weist der Kern, der die meisten maskulinen Substantive umfasst, eine hohe Typenfrequenz (Mitgliederanzahl) auf. Jedes Substantiv, das stark flektiert, stellt einen Type dar. In der Peripherie dieses Teilsystems befinden sich Substantive wie der Autor (des Autors, die Autoren), die gemischt flektieren und zuweilen auch schwache Genitivformen (des Autoren) zeigen. Sie bilden den Übergangsbereich zum Teilsystem der schwachen Maskulina, deren Kern deutlich kleiner ist, d. h. eine geringere Typenfrequenz aufweist, dafür aber formal und semantisch definiert ist. Von diesem Kern aus gesehen, der von mehrsilbigen, Menschen bezeichnenden, auf Schwa auslautenden Substantiven gebildet wird, gibt es im Übergangsbereich einsilbige schwache Maskulina wie der Held oder der Bär. Der Übergangsbereich steht also im Spannungsfeld zweier Kerne, d. h. im Wirkungsbereich zweier konkurrierender Regelsysteme (der starken und der schwachen Maskulina). Substantive, die in Über‐ gangsbereichen verortet sind, bilden sprachliche Varianten (hier: starke und schwache Flexionsformen im Singular), die Zweifelsfälle auslösen können. Kern 1 Kern 2 Abb. 10: Das Kern-Peripherie-Modell - Spannungsfelder und konkurrierende Regeln Das grammatische System ist nicht homogen aufgebaut. Bestimmtes grammati‐ sches Verhalten, z. B. die starke Substantivflexion, weist eine hohe Typenfre‐ quenz (Mitgliederanzahl) auf, wodurch die starke Substantivflexion regelhaft ist. Davon abweichendes Verhalten kann wie im Falle der schwachen Substan‐ tivflexion einen „kleinen“ Kern bilden. Substantive, die sich im Übergangsbereich befinden, stehen im Spannungsfeld beider Kerne und weisen Regelkonflikte beider Kerne auf. Neben diesen grammatisch vorhersehbaren „Schwachstellen“ des Systems treten akzeptable, aber Regeln verletzende (also ungrammatische) Strukturen auf, die aus bestimmten Gebrauchskontexten wie bspw. Kindersprache (gehte statt ging) oder Wer‐ 3.3 Die Imperfektabilität des Sprachsystems 57 <?page no="58"?> besprache (Bei uns werden Sie erholt) bekannt sind und in den allgemeinen Gebrauch übergehen. Die Imperfektabilität des Sprachsystems ist ein Grund dafür, weshalb das gramma‐ tische Wissen der Sprachbenutzerinnen lückenhaft (also imperfektibel) ist. Zudem ist auch die Verortung der Varianten im Varietätenraum nicht scharf abgrenzbar. So ist der sog. am-Progressiv (Sie ist am Lesen) nicht klar auf einen Dialektraum beschränkt, sondern auch in den überregionalen standardsprachlichen Äußerungen zu finden. Trotzdem ist es für viele Sprachnutzerinnen schwierig, diese Struktur als standard‐ sprachlich einzustufen. Dies zeigt, dass auch die Varietätenkompetenz, das Wissen über die Zugehörigkeit von Formen zur Standardsprache und die sonstige Verteilung der Varianten im Varietätenraum, imperfektibel ist. Darüber hinaus verschärft sich die Imperfektabilität des sprachlichen Wissens dadurch, dass auch die Inhalte von Normen nicht vollständig erlernt werden und die Befolgung von Präskriptionen nicht eindeutig gestaltbar ist. Auf diese Punkte wird im nächsten Kapitel eingegangen. Die Imperfektabilität des grammatischen Systems zeigt sich in der Lückenhaf‐ tigkeit des grammatischen Wissens der Sprachnutzerinnen. Andresen, Melanie/ Heike Zinsmeister ( 3 2019). Korpuslinguistik. Tübingen: Narr Francke Attempto. Berruto, Gaetano ( 2 2004). Sprachvarietät - Sprache (Gesamtsprache, historische Sprache). In: Ammon, Ulrich et al. (Hrsg.). Sociolinguistics/ Soziolinguistik. Ein Internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Bd.-3.1. Berlin/ New York: de Gruyter, 188-195. Hundt, Markus (2005). Grammatikalität - Akzeptabilität - Sprachnorm. Zum Verhältnis von Korpuslinguistik und Grammatikalitätsurteilen. In: Lenz, Friedrich/ Schierholz, Stefan J. (Hrsg.). Corpuslinguistik in Lexik und Grammatik. Tübingen: Stauffenburg, 15-40. Saussure, Ferdinand de ([1923] 2001). Grundlage der allgemeinen Sprachwissenschaft. Ber‐ lin/ New York: De Gruyter. 58 3 Grammatische Dimension <?page no="59"?> 4 Soziolinguistische Dimension Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die soziale Bedeutsamkeit von sprachlichen Varianten. Fokussiert werden die Standardsprache als Varietät, die Diskurse über die Standardsprache und die Rolle der Standardsprachideologie im Bezug auf sprachliche Zweifelsfälle. Leitfragen des Kapitels sind: ● Was ist soziale Bedeutung und warum erzeugt sie sprachliche Zweifelsfälle? ● Was ist Standardsprache? Wie kann sie von anderen Varietäten abgegrenzt werden? ● Was unterscheidet die Standardisierung, die Normierung und die Kodifizie‐ rung? ● Welche Relevanz haben Diskurse über die Standardsprache? ● Was ist der Unterschied zwischen Grammatikalität, Akzeptabilität und Ange‐ messenheit? ● Warum gibt es sprachliche Unsicherheit? 4.1 Soziale Bedeutung von sprachlichen Varianten Die Existenz der sprachlichen Zweifelsfälle ist nicht nur auf die Variabilität und die Imperfektabilität des Sprachsystems zurückzuführen, sondern auch auf die Tatsache, dass Varianten sozial bedeutsam sein können, indem sie etwas über die soziale und persönliche Identität ihrer Nutzerinnen, darunter Bildung, Alter, Herkunft, Persönlich‐ keit und ideologische Ausrichtung, vermitteln (Beltrama 2020, Werani 2023: 59-79, 81-98). Dabei ist es wichtig, dass sich die Sprecherin bei der Wahl einer Variante in dem System der sozialen Regeln bewegt, daher kann ihre Sprachhandlung in diesem System interpretiert werden. Darüber hinaus kann sie sich in diesem sozialen System als Individuum positionieren und Informationen über sich selbst, ihre soziale und persönliche Identität vermitteln. Sprachliche Varianten können sozial bedeutsam sein, indem sie etwas über die soziale und persönliche Identität ihrer Nutzerinnen vermitteln. Soziale Bedeutung haben Varianten zum einen dann, wenn sie auf konventiona‐ lisierte Art und Weise soziale Beziehungen anzeigen oder dem Vollzug sozialer Handlungen dienen (Löbner 2 2015: 35-36). Beispielsweise haben die zwei Varianten der Anredepronomina, du und Sie, zwar dieselbe deskriptive Bedeutung 'angesprochene <?page no="60"?> Person(-en)', transportieren aber unterschiedliche soziale Bedeutungen: du steht für 'formlosen Umgang', Sie für den 'förmlichen Umgang'. Die fest konventionalisierte soziale Bedeutung ist bei den Anredepronomina Teil der Wortsemantik, was in Tabelle 11 durch grauen Hintergrund markiert wird. Soziale Bedeutung kann als Teil der Wortbedeutung konventionalisiert sein. Zum anderen kann soziale Bedeutung durch mehr oder weniger starke Korrelation zwischen einer Variante und sozialem Kontext zustandekommen und ist dann kein fester Bestandteil der Wortsemantik. Der soziale Kontext konstituiert sich u. a. durch die sozialen Sprecher-/ Hörermerkmalen wie Alter oder Bildungsgrad, ihre sozialen Rollen wie Chefin und untergeordnete Mitarbeiterin oder Mutter und Tochter, ihre Beziehung zueinander (z. B. distanziert, wertschätzend oder liebend und herzlich), ihre Einstellungen und ihr Wissen. Wenn eine Variante in Bezug zu den Parametern des sozialen Kontextes wie Beziehungskonstellation der Kommunizierenden oder ihr Alter gesetzt wird, wird sie sozial indexikalisiert (s. Kap. 4.1.1). So kann beispielsweise die Genitivrektion wegen des Starkregens als Index für einen eher formellen, distanzierten Sprachgebrauch, d. h. in Verbindung mit diesem Parameter des sozialen Kontextes auf‐ treten. Im Gegensatz zur oben eingeführten konventionalisierten sozialen Bedeutung verändert sich die soziale Indexikalisierung einer Variante abhängig vom jeweiligen sozialen Kontext. So kann die Genitivrektion auch anders sozial interpretiert werden, z. B. als Verweis auf einen eleganten, gebildeten, präzisen oder auch auf einen um‐ ständlichen Sprachgebrauch. Umgekehrt kann beim eher formellen und distanzierten Umgang auch die Dativrektion wegen dem starken Regen verwendet werden. Die indexikalisierte soziale Bedeutung einer Variante ist nicht eineindeutig. Soziale Bedeutung kann dadurch entstehen, dass eine Variante (bewusst oder unbewusst) in Abhängigkeit vom sozialen Kontext gewählt wird, d. h. mit diesem Kontext in Beziehung steht. In diesem Fall ist eine sprachliche Variante sozial indexikalisiert, weil sie als Index für einen Parameter des sozialen Kontextes wie distanzierter Umgang oder Bildungsgrad der Kommunizierenden fungiert. Weiterhin kann soziale Bedeutung als Merkmal der Zugehörigkeit einer sprachlichen Variante zu einem sprachlichen Register wie der Standardsprache konventionalisiert sein, d. h. die Variante wird sozial registriert. So wurde und zum Teil wird auch heute noch die Genitivrektion wie in wegen des Starkregens in Diskursen über Sprache in Grammatiken, Schulen oder sprachpflegerischen Institutionen als standardsprachlich registriert, die Dativrektion hingegen als umgangssprachlich. So ist bspw. in Zifonun et al. (1997: 2081) zu lesen, dass der Dativ bei wegen „nur umgangssprachlich“ 60 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="61"?> verwendet wird. Die Dativrektion tritt zwar in den standardsprachlichen Texten auf, gilt jedoch trotzdem für viele Sprachnutzerinnen aufgrund der Registrierung als nicht standardsprachlich (s. Kap.-7.1.2. und-9.1). Im Zuge der sozialen Registrierung wird die soziale Bedeutung als Merkmal der Zugehörigkeit einer sprachlichen Variante zu einem sprachlichen Register, z.-B. der Standardsprache, konventionalisiert. Sozial indexikalisierte bzw. registrierte Bedeutung ist in Tabelle 11 weiß hinterlegt, um zu markieren, dass sie nicht Teil der Wortsemantik ist. - Beispiele soziale Bedeutung deskriptive Bedeutung konventionalisiert (Semantik) du 'formloser Umgang' '2. Sg.' Sie 'förmlicher Umgang' '2. Sg./ Pl.' sozial indexikali‐ siert wegen des - 'formeller, distanzierter Umgang' ODER 'eleganter Umgang' ODER 'umständlicher sprachlicher Um‐ gang' 'Gen. Sg.' wegen dem 'informeller Umgang' ODER 'an‐ genehmer Umgang' ODER 'nach‐ lässiger sprachlicher Umgang' 'Dat. Sg.' sozial registriert wegen des als standardsprachlich registriert 'Gen. Sg.' wegen dem als nicht standardsprachlich regis‐ triert 'Dat. Sg.' Tabelle 11: Soziale Bedeutung: konventionalisiert, indexikalisiert, registriert Sprachliche Zweifelsfälle können auftreten, wenn die soziale Bedeutung Teil der Wortbedeutung ist (wie bei du und Sie). Hierbei handelt es sich um pragmatische Zweifelsfälle (s. Kap.-2.2.1), da der Sprachbenutzerin unklar ist, ob in der gegebenen sozialen Konstellation eine du- oder Sie-Anrede angemessen ist. Für die Wahl des Anredepronomens du oder Sie sind einerseits die vertikale (hierarchische) Distanz zwischen Gesprächspartnerinnen wichtig, z. B. das asymetrische Verhältnis zwischen Vorgesetzter und untergeordneter Mitarbeiterin am Arbeitsplatz oder auch in Ver‐ kaufssituationen, und andererseits die soziale Distanz von Bedeutung, die sich mit zunehmender emotionaler Nähe und bei geteilten Lebenswelten erhöht und dabei mit relativem Alter in Konflikt stehen kann. Je nachdem welche sozialen Handlungsgrund‐ lagen befolgt werden, können vertikale und soziale Distanz miteinander konfligieren und pragmatische Zweifelsfälle erzeugen: Das Duzen im Chor empfiehlt sich bspw. aufgrund der geteilten Lebenswelt, wohingegen die Unterschiede im relativen Alter 4.1 Soziale Bedeutung von sprachlichen Varianten 61 <?page no="62"?> zwischen Chorsängerinnen fürs Siezen sprechen. Das Siezen in Verkaufssituationen ergibt sich aus der asymmetrischen Struktur der Verkaufssituation, das Duzen kann hingegen emotionale soziale Nähe herstellen (Kretzenbacher 2010). Für die Auseinandersetzung mit systemischen Zweifelsfällen ist hingegen relevant, dass Zweifel von sprachlichen Varianten, die sozial indexikalisiert oder registiert sind, ausgelöst werden. Beiden Prozessen, der Indexikalisierung und der Registrierung, ist Kap. 4.1.1 gewidmet. Die sozial-indexikalische Aufladung der morphologischen Varianten veranlasst Harnisch ( 2 2004) dazu, von Sozio-Morphologie zu sprechen, van Ostade (2018) gar von grammatischen Grenzen von sozialen Klassen. Harnisch ( 2 2004: 522) beobachtet weiterhin treffend, dass die Morphologie „im Bewusstsein der Sprecher [eine; R.S.] relativ geschlossene Klasse“ bildet und „normativ stark fixiert ist, d. h. die Formen sind relativ strikt vorgeschrieben, Abweichungen werden deutlich wahrgenommen, nehmen in „Fehler“-Hierarchien obere Ränge ein und werden direkter sozial bewertet als Variablen anderer Teil(dia)systeme“. Es ist jedoch wichtig, dass die soziale Indexikalisierung nicht eineindeutig ist, wes‐ wegen sprachliche Varianten nicht regelhaft sozialen Kategorien zugeordnet werden. So gibt es keine Übereinkunft unter den Deutschsprechenden, welchem sprachlichen Umgang die Dativrektion von Präpositionen zuzuordnen ist. Jede Festlegung, z. B. die feste Erwartung, dass die Dativrektion von Präpositionen Index des informellen Sprachgebrauchs ist, wird durch Sprachgebrauchsbeobachtungen aus den Angeln gehoben: Die Dativrektion von Präpositionen ist auch im formellen Sprachgebrauch zu finden. Ähnlich trägt auch die Registrierung der sprachlichen Varianten zu Zweifeln bei, da die Einschätzung, was zur Standardsprache gehört, sehr variabel ist und die Beherrschung der Standardsprache mit der sozialen Position der Sprecherin assoziiert wird. Zudem wird die Standardsprache im Geflecht der Varietäten als eine besondere Varietät gehandelt, nicht zuletzt - wie im Zitat von Harnisch angeklungen ist - wegen der hochgradigen Bewusstheit der standardsprachlichen Normierung. 4.1.1 Indexikalisierung und Registrierung Die soziale Bedeutung von sprachlichen Varianten ist also größtenteils nicht Teil der Wortbedeutung, sondern ergibt sich im Zuge der sog. metapragmatischen Reflexion, in der sprachliche Varianten auf den sozio-situativen Kontext bezogen werden. Meta‐ pragmatische Reflexion umfasst das Reflektieren über das eigene sprachlich-kom‐ munikative Handeln sowie das der anderen Personen (Silverstein 1979, 1993; Spitzmül‐ ler 2013). Gerät die Wahl einer bestimmten Variante ins Bildfeld der metapragmatischen Reflexion und wird sozial gedeutet, d. h. als Kontextualisierungshinweis aufgefasst, werden Varianten sozial indexikalisiert (Auer 1986). Die Verbindungen zwischen den sozialen Strukturen und sprachlichen Varianten werden diskursiv hergestellt (zu metasprachlichen Diskursen s. Kap.-4.3). 62 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="63"?> Metapragmatische Reflexion umfasst das Reflektieren über das eigene sprachlich-kommunikative Handeln sowie das der anderen Personen. Sie ermög‐ licht soziale Deutung von sprachlichen Varianten. Wenn eine sprachliche Variante, z. B. die Grußformel wie Mahlzeit! , unter Arbeitskol‐ leginnen im Arbeitskontext zur Mittagszeit verwendet wird, so kann diese Grußformel von einer (meist) jungen Person, die mit den sozio-situativen Kontexten der Arbeitswelt erstmals konfrontiert wird, reflektiert und sozial indexikalisiert werden, denn diese Form wird im Gegensatz zu Guten Tag, Hallo oder Hey außerhalb von diesen Kommuni‐ kationssituationen (kaum) benutzt. Die Grußformel Mahlzeit! wird für die junge Person zum Index für den Sprachgebrauch von erwachsenen Menschen, die im Arbeitskontext stehen. Als Index oder indexikalisches Zeichen gilt allgemein ein Zeichen, das in Verbindung zum Bezeichneten steht, z. B. ein lauter Knall als Index für eine Explosion, ein plötzlicher Aufschrei als Index für den gerade empfundenen Schmerz (Pierce 1998). Die Grußformel Mahlzeit! ist ebenfalls ein Index. Sie gibt Hinweise auf den sozialen und situativen Kontext, der ihre Interpretation ermöglicht, da das Zeichen mit diesem Kontext assoziiert wird. Index (Pl. Indizes) ist ein Zeichen, das in Verbindung zum Bezeichneten steht (ein lauter Knall ist ein Index für eine Explosion). Soziale Indizes sind dement‐ sprechend Zeichen, die in Verbindung zum sozialen Kontext stehen, z. B. die Grußformel Mahlzeit! als Index für eine erwachsene Person im Arbeitskontext. Für die Auseinandersetzung mit der sozialen Indexikalisierung ist die von Silverstein (2003) gemachte Beobachtung, dass indexikalische Zeichen selbst als Indices benutzt werden können, von Bedeutung: Die grundlegende, primäre Indexikalisierung oder Indexikalisierung erster Ordnung ist dann gegeben, wenn der Sprachbenutzerin selbst nicht bewusst ist, dass sie eine sprachliche Variante nach bestimmten sozio-situativen Bedingungen auswählt. Die Indexikalisierung findet im Zuge der metapragmatischen Reflexion von Dritten statt, die in diesem Sprachgebrauch eine Korrelation zwischen der Variantenwahl und dem sozialen Kontext herstellen. Wird die soziale Indexikalität von der Sprachbenutzerin wahrgenommen und die sprachliche Variante dann auch bewusst (intendiert) verwendet, um einen Kontext anzuzeigen oder zu erzeugen, besteht eine sekundäre Indexikalisierung (auch Indexikalisierung zweiter Ord‐ nung). Hierbei nutzt die Sprachproduzentin das Wissen der Sprachrezipientin über die Indexikalität von Zeichen. Das indexikalische Zeichen wird selbst zum Index auf den speziellen Kontext. So tragen die Grußformeln wie Mahlzeit! oder Hey! zur Interpretation des sozialen Kontextes als Arbeitskontext oder als lockeres, informelles Gespräch bei. In einer weiteren, dritten Ordnung der Indexikalisierung (tertiäre 4.1 Soziale Bedeutung von sprachlichen Varianten 63 <?page no="64"?> Indexikalisierung) werden die Varianten stereotyp verwendet, um das sprachliche Verhalten bestimmter Personengruppen zu imitieren. In unserem Beispiel kann davon ausgegangen werden, dass den Nutzerinnen die soziale Bedeutung von Mahlzeit! durch‐ aus bewusst ist und dass sie diese bewusst anwenden, um den Kontext (Mittagszeit in der Arbeitswelt) anzuzeigen (sekundäre Indexikalisierung). Tertiäre Indexikalisierung ist zu beobachten, wenn die junge Person außerhalb der sozio-situativen Kontextes der Arbeitswelt, beispielsweise beim Familientreffen die Grußformel Mahlzeit! verwendet, um das stereotype Verhalten zu imitieren (s. auch Spitzmüller 2013; 2022: 259-260). Das indexikalische Potential von Varianten ist dynamisch. Es verändert sich und ist auch variabel in Abhängigkeit von verschiedenen Kontexten und von verschiedenen Akteuren, die ein und dieselbe Variante unterschiedlich und unter Umständen sogar widersprüchlich bewerten. Abhängig von der Sozialisation kann ein und dieselbe Vari‐ ante für unterschiedliche Kommunikationsteilnehmerinnen eine sehr unterschiedliche soziale Symbolik transportieren. Die Indexikalität sprachlicher Varianten ist auch sozial stratifiziert (Spitzmüller 2013: 265). Eine Variante verfügt auch individuell über ein Set von sozialsymbolischen Bedeu‐ tungsaspekten, die je nach Verwendungskontexten und beteiligten Akteurinnen akti‐ viert werden können. Dadurch eröffnen sie ein indexikalisches Feld von unterschied‐ lichen, ideologisch miteinander verbundenen Bedeutungsaspekten (Eckert 2008). Metapragmatische Reflexion führt weiterhin dazu, dass sprachliche Varianten zu Emblemen, d. h. zu erkennbaren Zeichen werden. Ähnlich einem Sticker oder einem Haarschnitt bei einer sozialen Gruppe können auch sprachliche Varianten im Zuge der metapragmatischen Reflexion ihres Gebrauchs bestimmten kommunikativen Prakti‐ ken zugeordnet werden. Diesen Prozess bezeichnet man als soziale Registrierung (engl. enregisterment). Ein Register umfasst das Repertoire an sprachlichen Varianten, das mit bestimmten kommunikativen Praktiken und deren Akteurinnen assoziiert wird (Agha 1999: 216, 2003: 231, 2005: 38, 2006, 2007, 2015; Johnstone 2016; Busch 2021). Unter kommunikativen Praktiken sind Grundformen der Verständigung gemeint, die auf routinisierten Verfahren des kommunikativen Handelns basieren und Verfah‐ rensweisen darstellen, mit denen ein bestimmtes kommunikatives Ziel erreicht werden kann (Fiehler et al. 2004: 99-104). So gehören Gerichtsverhandlungen, Prüfungen, wissenschaftliche Vorträge, Arbeitstreffen, Bewerbungsgespräche, Bewerbungsbriefe oder ein Plausch über den Gartenzaun zu kommunikativen Praktiken. Sie werden auf bestimmte Weise und mit bestimmten Mitteln sprachlich realisiert. Die Standardssprache ist ein Register, das ein Repertoire an sprachlichen Vari‐ anten bietet, das ein breites Spektrum von kommunikativen Praktiken mitformt. Manche kommunikativen Praktiken, darunter viele schriftliche förmliche Texte wie Bewerbungsbriefe oder wissenschaftliche Artikel, werden fast ausschließlich mit dem standardsprachlichen Repertoire realisiert. Dieses wird auch mit einer bestimmten Trägerschaft verbunden, d. h. den Akteurinnen, die mit dem standardsprachlichen Repertoire assoziiert werden. Kap. 4.2 widmet sich der Definition der Standardsprache, darunter auch ihren kommunikativen Funktionen und ihrer Trägerschaft. 64 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="65"?> Die Registrierung von sprachlichen Varianten als dem standardsprachlichen Reper‐ toire zugehörig bzw. nicht zugehörig findet in metasprachlichen Diskursen in Schulen und Medien, in Grammatiken und Wörterbüchern permanent statt. Die Entwicklung der Standardsprache (Standardisierung), die in Kap. 4.2.2 vorgestellt wird, ist aufs Engste mit der Registrierung von sprachlichen Varianten verbunden. Die metaprag‐ matischen Diskurse über die Standardsprache werden in-4.3 analysiert. Die Standardsprache ist ein sprachliches Register, das ein Repertoire an sprachlichen Varianten liefert, die mit einer Vielzahl von (häufig schriftlichen und förmlichen) kommunikativen Praktiken und bestimmten sozialen Personen als Trägerinnen assoziiert wird. Die Registrierung wird in metapragmatischen Diskursen in Grammatiken, Schulen, Sprachratgebern usw. verhandelt. Zum Repertoire der Standardsprache als Register gehören Sprachzeichen mit unter‐ schiedlicher sozialer Indexikalisierung. Manche Formen verweisen auf den Bildungs‐ stand, andere können bspw. das Alter oder die religiöse Orientierung indizieren. Die Relevanz der sozialen Indexikalisierung und Registrierung für das Phänomen der Zweifelsfälle wird im zweiten Teil des Buches an ausgewählten sprachlichen Zweifelsfällen präsentiert (hauptsächlich Kap.-8 und-9). 4.1.2 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit Wenn sprachliche Varianten sozialsymbolisch aufgeladen sind, scheinen sie für ein‐ zelne Kommunikationssituationen unterschiedlich angemessen zu sein. Jede kennt das Gefühl, dass eine bestimmte Variante nicht zu jeder Kommunikationssituation passt. So macht sich wegen dem schlechten Wetter nicht so gut in einer förmlichen E-Mail, in der man sich fürs Ausbleiben bei einem wichtigen Meeting bei der Vorgesetzten im vor kurzem gestarteten Job entschuldigt. Hier wäre wegen des schlechten Wetters wohl eher angemessen. Die Angemessenheit einer sprachlichen Variante ist dementsprechend von der Kommunikationssituation abhängig. Die Kommunikationssituation kann als Ge‐ samtheit von Bedingungen der außersprachlichen Wirklichkeit verstanden werden (Biber und Conrad 2 2019: 40-48). Sie bestimmen den sozio-situativen Kontext einer sprachlichen Handlung: Bedingungen der Kommunikationssituation 1. Kommunikative Ziele (Illokutionstypen s. u.; spezifische Ziele wie moralische Belehrung mit Hilfe einer persönlichen Geschichte oder Vorstellung neuer For‐ schungserkenntnisse; Art des Tatsachenbezugs; Ausdruck der Einstellung zum Gesagten) 4.1 Soziale Bedeutung von sprachlichen Varianten 65 <?page no="66"?> 2. Thema (thematische Domäne wie Alltagsaktivitäten, Arbeitswelt, Religion, Wis‐ senschaft; spezielle Themen; sozialer Status referierter Personen) 3. Kommunikationsteilnehmerinnen (soziale Charakteristika wie Alter, Bildungs‐ grad, Beruf sowie die Anzahl der Produzentinnen, Rezipientinnen und Zaungäste) 4. Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmerinnen (Grad der Interak‐ tion, relative soziale Rollen (Status und Machtposition), persönlicher Beziehungs‐ status, geteiltes Wissen) 5. Umgebung (Setting) (privater oder öffentlicher Ort, gegenwärtige oder historische Kommunikation, Gleichzeitigkeit der Kommunikation, Kommunikation am glei‐ chen Ort) 6. Kommunikationskanal (schriftlicher, mündlicher oder gebärdender Kommuni‐ kationsmodus, permamentes bzw. flüchtiges Medium wie Tonaufnahme vs. Face-to-Face-Gespräch) 7. Umstände der Produktion und Rezeption (geplante oder online Produktion, schnelle oder sorgfältige Lektüre) Der angemessene Sprachgebrauch ist wiederum zentral für den kommunikativen Erfolg (Schäfer 2014: 258). Der kommunikative Erfolg besteht in der Erreichung des kommunikativen Ziels der Sprecherin (Bedingung 1). Die kommunikative Ab‐ sicht, auch Illokution genannt (Searle 12 2013), ist die von Sprecherin anvisierte Sprachhandlung, z. B. eine Entschuldigung - ein expressiver Sprechakt (s. Meibauer 2 2008). Das kommunikative Ziel der Sprecherin ist am besten erreicht, wenn die sprachliche Handlung von der Hörerin wie beabsichtigt (z. B. als Entschuldigung) wahrgenommen wird (Fetzer 2004: 118). Die sprachliche Ausgestaltung hängt jedoch davon ab, in welcher thematischen Domäne (z. B. Arbeitswelt), welche Akteurinnen (z. B. höher gebildete Vorgesetzte und untergeordnete Mitarbeiterin), in welcher Umgebung (Büro der Vorgesetzten), durch welches Medium (gesprochene Sprache) und unter welchen Umständen (z. B. geplantes Entschuldigungsgespräch) die sprachliche Handlung stattfindet. Die Angemessenheit einer sprachlichen Variante unterscheidet sich damit von der Grammatikalität und der Akzeptabilität (s. Kap. 3.1.2; Fetzer 2004: 1-31, 90). Die Grammatikalität betrifft die Befolgung von grammatischen Regeln. Im Falle der Genitiv- und Dativrektion von Präpositionen wie wegen ist keine grammatische Regel verletzt, da Präpositionen verschiedene Kasus regieren können. Die Existenz von zwei Varianten weist aber auf einen Regelkonflikt hin. Die Akzeptabilität betrifft den Sprachgebrauch. Die Bewertung der Akzeptabilität bezieht sich auf die Überein‐ stimmung einer Äußerung mit dem beobachteten Sprachgebrauch. Die Angemessen‐ heit hingegen bewertet, ob die sprachlichen Varianten im konkreten sprachlichen Kotext und sozio-situativen Kontext der (angenommenen) kommunikativen Absicht angemessen sind. Die Angemessenheit von sprachlichen Varianten betrifft somit die Adäquatheit sprachlicher Realisierung in einer bestimmten Kommunikationssituation (Schäfer 2014, 2020). 66 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="67"?> Die Angemessenheit einer sprachlichen Variante hängt davon ab, inwieweit die Variante unter den gegebenen situativen Kommunikationsbedingungen wie Thema, interagierende Akteurinnen, Medium, Setting oder Umstände der Pro‐ duktion zum Erreichen des kommunikativen Ziels beiträgt. Die Angemessenheit sprachlicher Varianten stellt damit einen weiteren Aspekt der sprachlichen Zweifelsfälle dar. Sprachliche Varianten sind zwar beide bekannt, jedoch in einer gegebenen Kommunikationssituation unterschiedlich angemessen. Hier ent‐ steht also ein Konflikt, da die Wahrnehmung der Angemessenheit zwischen den Sprachnutzerinnen stark variieren kann (s. Kap.-8 zu konkreten Zweifelsfällen). 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten Standardsprache spielt in der Definition der sprachlichen Zweifelsfälle von Klein (2003) auf S.-18 eine wichtige Rolle. In der Definition wird angenommen, dass die Zweifel in der Regel in Bezug auf die Standardsprache entstehen. In anderen Worten: Es ist meist die Standardsprache, die für Sprachnutzerinnen das Bezugsregister für sprachliche Zweifel darstellt. In diesem Kapitel soll zunächst in 4.2.1 geklärt werden, was unter Standardsprache zu verstehen ist, wo, mit welchen kommunikativen Funktionen und von wem sie verwendet wird. Anschließend wird in Kap. 4.2.2 der Prozess der Standardisierung vorgestellt, dem die Standardsprache unterworfen ist und in dem u. a. die Kodifizierung eine wichtige Rolle spielt. In Kap. 4.2.3 stehen Sprachnormen und die Normierung im Vordergrund. Schließlich erörtert Kap. 4.2.4 die Frage, in welchen (Kon-) Texten die Standardsprache instantiiert ist und damit auch beobachtet und beschrieben werden kann. 4.2.1 Typische Merkmale der Standardsprachlichkeit Standardsprache (kurz auch Standard) ist zunächst einmal Sprache, also ein komple‐ xes Zeichensystem, das der Kommunikation dient. Da jede Sprache zumindest eine Varietät, also zumindest eine Realisierungsform, umfasst (s. Kap. 3.2.2), versteht man unter der Standardsprache eine Sprache, die mindestens eine standardisierte, d. h. inventarbezogen vereinheitlichte, kodifizierte, gesellschaftlich breit akzeptierte und funktional ausgebaute Varietät (sog. Standardvarietät) hat (Ammon 1986; Haugen 1966, 1987). Der Grad der Standardisierung kann sich im Laufe der Zeit erhöhen (zur Standardisierung s. Kap. 4.2.2) oder auch verringern (Destandardisierung, s. Kap. 4.2.3). 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 67 <?page no="68"?> Die Standardsprache ist eine Sprache, die zumindest eine (mehr oder min‐ der) standardisierte, d. h. inventarbezogen vereinheitlichte, kodifizierte, gesell‐ schaftlich breit akzeptierte und funktional ausgebaute Varietät umfasst. Standardvarietäten lassen sich durch eine Reihe von typischen Merkmalen charakte‐ risieren, die unten aufgelistet sind. Wie gleich deutlich wird, handelt es sich dabei nicht um Alleinstellungsmerkmale, die nur den Standardvarietäten eigen sind. Vielmehr besteht hier ein gradueller Unterschied zu Nicht-Standardvarietäten, auf den im Folgenden eingegangen wird (s. die detaillierte Diskussion in Ammon 1986). Merkmale von Standardvarietäten (nach Ammon 1986) 1. Überregionalität, 2. Schriftlichkeit, 3. Ausgebautheit, 4. Invarianz, 5. Oberschichtlichkeit, 6. Kodifiziertheit. Zu 1: Standardvarietäten sind typischerweise überregional. Dies bedeutet, dass sie in ihrer geographischen Ausdehnung andere, darunter regional gebundene Varietäten wie Dialekte oder Regiolekte überdachen. Dies trifft auf die deutsche Standardspra‐ che zu. Sie ist überregional, weist jedoch auf allen Ebenen des Systems regionale Besonderheiten auf, was eine Unterscheidung von arealen Standardvarietäten wie der norddeutschen oder der schweizerdeutschen Standardvarietät notwendig macht (Elspaß und Kleiner 2019). Dabei wird die deutsche Standardsprache plurinational, d. h. von mehreren Nationen verwendet (Ammon 2000). Als Nation definiert Ammon (2000: 509) eine größere, seßhafte Gruppe von Deutschsprachigen. In sieben so definierten Nationen ist Deutsch Amtssprache. Diese sind Deutschland, Österreich, Liechtenstein, die Schweiz, Luxemburg, Belgien und Bozen-Südtirol. Die arealen Besonderheiten, die Standardvarietäten konstituieren, verteilen sich entlang der dialektalen oder der historischen bzw. der aktuellen Staats- und Länder‐ grenzen (Elspaß und Kleiner 2019). Sie bestehen in der Lexik und in der Grammatik. Areale standardsprachliche Varianten in der Lexik können im „Variantenwörterbuch des Deutschen“ von Ammon, Bickel und Lenz (2016) nachgeschlagen werden. In Deutschland bspw. gehören Wörter wie feudeln, klönen oder Knust zu lexikalischen Besonderheiten der norddeutschen Standardvarietät, wohingegen Beißkorb für 'Maul‐ korb' Teil des standardsprachlichen Wortschatzes in Österreich sowie im mittel- und südöstlichen Deutschland ist. Standardsprachliche Varianten im grammatischen Bereich können auf der öffentlich zugänglichen Website der „Variantengrammatik des Standarddeutschen“ nachgeschlagen werden (variantengrammatik.net): Dort zeigen sich u. a. regionale Besonderheiten in der Genitivflexion einzelner Substantive wie des 68 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="69"?> Tages/ des Tags. Im südöstlichen und südwestlichen Deutschland ist standardsprachlich die kurze Genitivvariante des Tags üblicher, wohingegen im mittel- und nordöstlichen Deutschland, im Südosten und in der Mitte Österreichs sowie in Südtirol mehrheitlich die lange Genitivvariante des Tages benutzt wird (s. Unterkategorie „Substantive - Genitiv Singular“). Der sog. am-Progressiv - um ein weiteres Besipiel zu nennen - ist vor allem in der schweizerdeutschen Standardvarietät gebräuchlich. Die deutsche Standardsprache ist überregional und plurinational. Sie tritt jedoch in regionalen Standardvarietäten auf. Dabei verteilen sich die arealen Beson‐ derheiten in der Lexik und in der Grammatik entlang der dialektalen oder der historischen bzw. aktuellen Staats- und Ländergrenzen. Zu 2: Mit Schriftlichkeit ist eine medial-schriftliche Erscheinungsform der Stan‐ dardvarietät gemeint. Die deutsche Standardsprache ist in der geschriebenen Form sehr präsent, so dass die Bezeichnung Schriftsprache sich auf die geschriebene Stan‐ dardvarietät bezieht. Historisch gesehen ist es sogar die ältere Erscheinungsform der Standardsprache (s. historischen Exkurs zur Entstehung der Standardsprache zu Beginn des Kap. 4.2.2). Es ist jedoch zu bedenken, dass auch andere Varietäten, mitunter auch Dialekte, Regiolekte oder Soziolekte wie Jugendsprache, geschrieben wurden und werden. Schrifliche Zeugnisse in der Geschichte der deutschen Sprache bis zur Herausbildung der schriflichen Standardssprache sind sogar ausschließlich nicht-standardsprachlich, da regional. Die deutsche Standardsprache zeichnet sich dadurch aus, dass sie medial-schrif‐ lich realisiert werden kann. Die Schriftlichkeit ist ihr jedoch nicht vorbehalten, da auch Nicht-Standardvarietäten schriftlich realisiert wurden und werden. Zu 3: Die Ausgebautheit einer Standardvarietät bezieht sich auf ihre kommunikati‐ ven Funktionen. Der Grad der Ausgebautheit kann an Anwendungsbereichen und Entfaltungsstufen einer Standardvarietät gemessen werden (s. Kloss 2 1978). Für die deutsche Standardsprache trifft zu, dass sie sowohl in der literarischen als auch in der sachorientierten Sphäre (sog. Sachprosa) angewendet wird. In Abbildung 11 werden auf der vertikalen Achse drei Anwendungsbereiche der Sachprosa unterschieden, die drei Entfaltungsstufen erreichen können. Welche der Entfaltungsstufen die ein‐ zelnen Anwendungsbereiche der volkstümlichen, gehobenen und wissenschaftlichen Prosa erreicht werden, ist abhängig davon, ob sie bei Themen aus dem eigenen Lebensbereich der Sprachgemeinschaft (eigenbezogene Thematik), aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen (kulturkundliche Thematik) oder aus naturwis‐ 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 69 <?page no="70"?> senschaftlichen sowie technisch-technologischen Bereichen (naturwissenschaftliche Thematik) gebraucht werden. Anwendungsbereiche Wissenschaftliche Prosa (Hochschulniveau) Gehobene Prosa (Niveau der höheren Schulausbildung) Volkstümliche Prosa (Grundschulniveau) Entfaltungsstufen Eigenbezogene Thematik (aus dem eigenen Lebensbereich der Sprachgemeinschaft) Kulturkundliche Thematik (aus geistes- und sozialwisse nschaftlich en Bereichen) Naturwissenschaftliche Thematik Abb. 11: Stufen der Ausgebautheit einer Sprachvarietät im Bereich von Sachprosa (Kloss 2 1978: 48) Unter Bezug auf Abbildung 11 kann für die deutsche Standardsprache ein sehr hoher Grad an Ausgebautheit festgestellt werden. Die Multifunktionalität des Deutschen ist allerdings durch die Verwendung des Englischen im internationalen Wissenschaftsaustausch deutlichen Einschränkungen unterworfen (Ammon 1991: 251-256). Durch den hohen Grad an Ausgebautheit ist die Standardsprache die einzige (oder bevorzugte) Realisierungsform vieler kommunikativer Praktiken v. a. des öffentlichen Lebens wie Verwaltung oder Jurisprudenz (s. S.-64). Die deutsche Standardsprache weist einen hohen Grad an Ausgebautheit auf und ist die einzige (oder bevorzugte) Realisierungsform vieler kommunikativer Praktiken v.-a. des öffentlichen Lebens (in der Verwaltung oder Jurisprudenz). 70 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="71"?> Zu 4: Die Invarianz wäre in einer Standardvarietät dann gegeben, wenn sprachli‐ che Varianten komplett fehlten. Generell lässt sich tatsächlich beobachten, dass der Grad der lexikalischen und grammatischen Varianz im Zuge der Standardisierung und Normierung reduziert wird, wodurch Standardvarietäten relativ stabil bleiben. Die Entwicklung neuer Varianz in einer Standardvarietät ist verlangsamt, weil die Standardisierung und Normierung Vorteile für die Nutzerinnen bringen, darunter eine bessere Verständlichkeit, einen größeren Wirkungsradius und damit nicht zuletzt wirt‐ schaftliche Vorteile. Zudem schränken die offizielle Kodifizierung und gesellschaftliche Sanktionen zum gewissen Grad die Entwicklung von Varianten ein. Die Existenz von Varianten, die sog. sprachliche Variation, ist jedoch auch in der Standardsprache gegeben. Die reiche stilistische Variation zeichnet eine Standardsprache sogar aus und ist „ein wichtiges Gütekriterium“ (Ammon 1986: 29). Die vielfältigen stilistischen Varianten sind in Wörterbüchern festgehalten, die man konsultiert, um den passen‐ den, d. h. dem Stil angemessenen, Ausdruck zu finden. So wird im Vorwort des Duden-Stilwörterbuchs ( 10 2017) damit geworben, dieses führe „den ganzen Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache vor“. Auch die grammatische Variation trägt zur sprachlichen Angemessenheit bei und ist mitunter sehr wichtig für den kommunikativen Erfolg (s. Kap.-4.1.2). Die deutsche Standardsprache ist nicht variantenfrei. Die lexikalischen und grammatischen Varianten sind wichtig für die sprachliche Angemessenheit und tragen so zum kommunikativen Erfolg bei. Die Standardisierung geht jedoch mit Variantenreduktion einher. Zu 5: Das Merkmal der Oberschichtlichkeit betrifft die Trägerschaft und die Ein‐ stellung einer Sprachgemeinschaft zur Standardsprache. Zwar wird die deutsche Standardsprache heute von allen Gesellschaftsgruppen verwendet, jedoch werden (teilweise aus historischen Gründen) sowohl der Gebrauch als auch die Angemes‐ senheit des Gebrauchs typischerweise Gesellschaftsschichten zugesprochen, die ein hohes kulturelles und ökonomisches Kapital besitzen, d. h. Gesellschaftgruppen, die sich durch hohes Bildungsniveau, gehobenen Lebensstil, gehobene Berufsposition und hohes Einkommen auszeichnen. Die Standardsprache genießt typischerweise ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Die deutsche Standardsprache hat sich zunächst als Varietät der höheren Schichten etabliert, gebraucht von Kanzleischreibern und später vom Bildungsbürgertum, und wurde erst im 19. Jh. durch die Pädagogisierung und die Entwicklung der überregiona‐ len gesprochenen Standardsprache popularisiert (Mattheier 2003). Dadurch sind auch Elemente aus dem Sprachgebrauch anderer Schichten in die Grammatik der Standard‐ varietät eingegangen (s. Kap. 4.2.2.3; Elspaß 2005). In einer Studie deckt Huesmann (1998) auf, dass gegenwärtig Personen, die nach eigenen Angaben akzentfreies Hoch‐ deutsch verwenden, im Vergleich zu solchen, die Hochdeutsch nach eigenen Angaben 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 71 <?page no="72"?> nicht akzentfrei und nicht in allen Situationen verwenden, weniger ortsloyal, regional mobiler sind, eine bessere Schulausbildung haben, seltener in handwerklichen Berufen arbeiten, eher in Großstädten und eher im Norden der Bundesrepublik wohnen (Hu‐ esmann 1998: 158-179). Diese Sprecherinnen gebrauchen mehr standardsprachliche Wörter. In ihrer Einschätzung ist auch das Prestige des Standards und seine Akzeptanz am höchsten. Beide Einstellungswerte sind bei Personen, deren Sprachgebrauch sich durch einen höheren Anteil an regionalen und dialektalen Wörtern auszeichnet, niedriger. Die deutsche Standardsprache wird von allen Gesellschaftsgruppen verwen‐ det. Unterschiede bestehen v. a. darin, ob sie ausschließlich und situationsunab‐ hängig gebraucht wird. Davon hängt auch ihre Akzeptanz und ihr Ansehen ab. Zu 6: Die Kodifiziertheit kann als das wichtigste Kriterium für die Bestimmung der Standardsprachlichkeit gelten (Ammon 1986). Kodifiziert ist eine Varietät dann, wenn ihre sprachlichen Regeln, die Strukturprinzipien (s. Kap. 3.1), in Wörterbüchern, Gram‐ matiken u.Ä. (also den sog. schriftlichen Regelwerken) beschrieben und veröffentlicht werden. Die Gesamtheit dieser Werke, die einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als Autorität, d. h. zur sprachlichen Orientierung dienen, bilden den Sprachkodex (mehr zu sprachlichen Autoritäten s. Ammon 1995: 73-82, Hundt 2009). Einen gesonderten Stellenwert hat der Kernkodex. Das sind Werke, die eine fachlinguistische Verfasserschaft haben, „primär für formelle Gebrauchssituationen (z. B. Schule, Verwaltung) verfasst werden und die direkt oder indirekt ofiziell (ggf. „staatlich“) legitimiert sein können, z. B. „Amtliche Regelung der deutschen Orthogra‐ phie, Schulgrammatiken (inkl. Lehrpläne)“ (Klein 2014: 224). Dem Kernkodex gehören damit neben den vom Staat in Auftrag gegebenen Kodizes auch solche wie bspw. die Duden-Grammatik an, die Lehrkräften und anderen sprachlichen Autoritäten, die Korrekturen vornehmen, zur Orientierung dienen, aber nicht staatlich legitimiert sind (Ammon 1995: 77, Klein 2014, Schneider 2016). Davon ist der Parakodex zu trennen, dem alle übrigen Regelwerke, Wörterbücher, Grammatiken, Ratgeber usw. (meist keine fachlich gesicherten Publikationen) angehören, die aber von vielen Sprachnutzerinnen zur Orientierung benutzt, d.-h. als Sprachautorität angesehen werden. Der Standardisierungsgrad einer Varietät kann daran gemessen werden, welche Ebenen der Sprache (Schriftsystem, Lautung, Morphologie, Syntax, Wortschatz oder Stil) im Sprachkodex beschrieben sind (Ammon 1986: 53). Diesbezüglich kann die deutsche Standardsprache als umfangreich kodifiziert gelten, wohingegen andere Varietäten wie Dialekte oder Soziolekte einen deutlich geringeren Kodifizierungsgrad aufweisen. Nur zur Standardsprache, die zudem ein schulischer Lerngegenstand ist, gibt es einen offiziell legitimierten, teilweise sogar staatlich autorisierten Kernkodex. Allerdings unterscheiden sich die regionalen Standardvarietäten bezüglich der Ko‐ difizierung, da nicht in allen Regionen standardsprachliche Besonderheiten in eigenen 72 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="73"?> Nachschlagewerken kodifiziert und dadurch autorisiert sind. Solche Regionen gelten als sog. Vollzentren (Ammon, Bickel und Lenz 2016: XXXIX-LVII). Diese gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Plurizentrizität des Deutschen, d. h. die Existenz national abweichender Gebrauchsnormen, ist jedoch asymmetrisch, da der bundesdeutschen Sprachnorm das höchste Prestige beigemessen wird. Dies führt bspw. zur negativen Einschätzung eigener Sprachkompetenzen bei schweizer‐ deutschen Sprecherinnen, die die von ihnen benutzten, schweizerischen Standardva‐ rianten als schlechtes oder fehlerhaftes Deutsch bewerten (s. Scharloth 2005). Fehlen solche Nachschlagewerke, wie im Falle von Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol, wo Deutsch eine Amtssprache ist, spricht man von Halbzentren. Die deutsche Standardsprache weist einen hohen Grad an Kodifiziertheit auf, da sie über einen umfangreichen Sprachkodex und einen staatlich legitimierten Kernkodex verfügt. Regionale Standardvarietäten unterscheiden sich jedoch im Kodifizierungsgrad. 4.2.2 Standardisierung des Deutschen Die Standardisierung, d. h. die Herausbildung und Weiterentwicklung einer Stan‐ dardvarietät ist ein fortwährender Prozess, der neben Phasen des Anstiegs auch die des Abbaus des Standardisierungsgrads (sog. Destandardisierung, s. Kap. 4.2.3) umfassen kann. So ist auch der Standardisierungsgrad in der Geschichte der deutschen Standardsprache Veränderungen unterworfen, die der folgende historische Exkurs skizziert. Darauf folgt die Analyse einzelner Teilprozesse, die zur Standardisierung beitragen. Exkurs: Historische Entwicklung der deutschen Standardsprache - eine Skizze Die Anfänge der Entwicklung der deutschen Standardsprache reichen in die 2. Hälfte des 15. Jhs. zurück (siehe u. a. Besch 2003, Mattheier 2003, Reichmann 2003, Elspaß 2005). In dieser Zeit, die von Regionalität, Dialektalität und damit Variantenvielfalt in der gesprochenen und geschriebenen Sprache geprägt war, bilde‐ ten sich mit der ostmitteldeutsch-ostoberdeutschen „Schreibalianz“ (Besch 2003: 2261-2262) die Voraussetzungen für eine überregionale Schriftsprache heraus: Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs v. a. zwischen größeren Städten wie Augsburg, Nürnberg, Erfurt und Leipzig fanden v. a. im Schriftverkehr überregional agierender Kanzleien, in denen ursprünglich Kleriker, mit der Zeit zunehmend häufig juristisch gebildete, weltliche Schreiber und Notare arbeiteten (siehe u. a. Bentzinger 2000, Meier 2012), sprachliche Ausgleichprozesse in der Lexik und Grammatik statt. Diese Prozesse deckt Besch (1967) anhand eines umfangreichen Handschriftenkorpus aus dem 15. Jh. auf. Die 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 73 <?page no="74"?> ostmitteldeutsch-ostoberdeutsche „Schreiballianz“ bildete den Ausgangspunkt für die fortschreitende Ausbreitung einer überregionalen Schriftsprache im 16. Jh., für die die Luther’sche Bibelübersetzung und die Verbreitung der gedruckten Bibel in deutscher Sprache von zentraler Bedeutung war. „Die Bibel baut[e] die schriftsprachlichen Brücken“ (Besch 2003: 2271). Landschaftliche Wortkonkur‐ renzen wurden auf dem Weg zur überregionalen Sprache nicht selten zugunsten der ostmitteldeutsch-ostoberdeutschen Formen beseitigt: Beispielsweise wurde die im 15. Jh. bestehende Konkurrenz von zwei Substantiven minne und liebe zugunsten der im „Allianz“-Raum geltenden Form liebe entschieden, die in die überregionale Standardsprache einging (s. Abb. 12 mit der Karte 159.9 aus Besch 2003: 2269). Die spätere Konfessionalisierung der Schriftsprache im 16. Jh. wirkte den Ausgleichprozessen zeitweise entgegen und stärkte die regional-konfessio‐ nellen Unterschiede (siehe Mattheier 2003: 216-218; Elmentaler und Voeste 2019: 76-77). So wurden das 17. und das 18. Jh. durch den Konflikt zwischen zwei Schreibsprachen dominiert: dem sog. Gemeinen Deutsch (einer oberdeutschba‐ sierten Schreibsprache, die nicht nur im Süden des deutschsprachigen Gebiets, sondern auch in religiösen Regionen wie dem Kölner Erzbistum gebraucht wurde; Mattheier 1991b) und dem ostmitteldeutschbasierten Lutherdeutsch. Mattheier (1981) zeigt am Beispiel der Stadt Köln, wie im Zeitraum von 1450 bis 1800 die auf der regionalen Sprechvarietät basierende ripuarische Schreibsprache aufgrund des entstehenden Sprachprestigegefälles durch zwei nacheinander verlaufende Verdrängungsvorgänge von anderen, prestigehaltigeren Varietäten, also Leitva‐ rietäten, überschichtet wurde. Zunächst wurden im 16. Jh. oberdeutsche Formen in die Kölner Schreibsprache übernommen. Das Gemeine Deutsch büßte jedoch dann seinen Leitvarietätencharakter im Laufe des 17. bis Mitte des 18. Jhs. im Zuge des zweiten Verdrängungsvorgangs, diesmal durch ostmitteldeutsche Formen, ein, deren regionaler Kernraum um Meißen und Leipzig lag. In diesem Zeitraum fand eine intensive Kodifizierung der überregionalen Sprache statt, zu der u. a. Opitz und Schottel (im 17. Jh.) sowie Gottsched und Adelung (im 18. Jh.) beige‐ tragen haben. Erst gegen Ende des 18. Jhs. setzte sich die in der Gottsched’schen Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst von 1748 kodifizierte, ostmitteldeutsche Norm durch. Der lange und komplexe historische Standardisierungsprozess erreichte mit der Herausbildung der gesprochenen Standardsprache seit dem frühen 18. Jh. eine weitere wichtige Entwicklungsstufe (Mattheier 2003: 225-227, Riecke 2016: 129-187). Seit dem 17. Jh. fand ein allmählicher Ausbauprozess statt, in dem die sich entwickelnde deutsche Standardsprache in öffentlichen Kommunikationsdomänen, darunter der Wissenschaft und Jurisprudenz, die zu‐ vor verwendeten Fremdsprachen Latein und Französich ersetzte (Hundt 2000). Im 19. Jh. wurde sie zum schichtenunabhängigen Kommunikationsmittel. Umgekehrt trugt die intensive Phase der Kodifizierung in der 2. Hälfte des 19. Jhs. auch zur „Herausbildung eines modernen Staatsbewusstseins“ bei (Klein 2014: 227, s. auch Mattheier 2003). Die Standardisierung ist jedoch als fortwährender, sich 74 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="75"?> daher auch aktuell abspielender Prozess zu verstehen, zu dem auch Destandardi‐ sierungsentwicklungen dazugehören (Mattheier 1997). Abb. 12: Lexikalische Konkurrenz zwischen liebe und minne im 15 Jh. (aus Besch 2003: 2269) Die Standardisierung, d. h. die Herausbildung und Weiterentwicklung einer Standardsprache, ist ein fortlaufender Prozess, der neben Phasen des Anstiegs auch den Abbau des Standardisierungsgrads umfassen kann. 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 75 <?page no="76"?> Der Exkurs zur Geschichte der deutschen Standardsprache lässt bereits erkennen, dass sich die Standardisierung aus mehreren Prozessen speist (Tab. 12): Sie betreffen zum einen die Gestaltung des sprachlichen Inventars (der Form der Sprache), zu der die in der Sprachgemeinschaft stattfindende Selektion und damit Reduktion von Varianten wie der lexikalischen Konkurrenten liebe und minne und die Kodifizierung des Sprachsystems in Grammatiken und Wörterbüchern beitragen. Zum anderen stärken die gesellschaftliche Akzeptanz und damit einhergehend der Gebrauch der Standardvarietät und die Elaboration, d. h. der Ausbau des sprachlichen Inventars zur Abdeckung neuer Funktionen das kommunikative Potential (die Funktionen) der Sprache (Haugen 1966, 1987). Neben der Kodifizierungsarbeit und dem Ausbau des sprachlichen Inventars ist die Standardisierung also stets von der gesellschaftlichen Dynamik abhängig, die zur Variantenselektion im Sprachgebrauch führt und zur Akzeptanz der Standardsprache durch ihre Verwendung beiträgt. - Form Funktion Gesellschaft Selektion Akzeptanz Sprache Kodifizierung Elaboration Tabelle 12: Teilprozesse der Standardisierung (nach Haugen 1966, 1987) Die Teilprozesse der Standardisierung werden im Folgenden näher beleuchtet, da sie für das Phänomen der sprachlichen Zweifelsfälle von hoher Relevanz sind. 4.2.2.1 Selektion Die Standardisierung hat generell, auch außerhalb der Sprache, mit formaler Ver‐ einheitlichung zu tun, d. h. mit der Selektion einer oder mehrerer Varianten aus einem größeren Variantenpool. Die sich im Sprachgebrauch vollziehende Selektion setzt bereits im 16. Jh. im Zuge der schriftlichen Ausgleichprozesse ein (Besch 2003): So wurden, wie bereits erwähnt, die im 15. Jh. existierenden lexikalischen Varianten liebe und minne (Abb. 12) im Selektionsprozess auf liebe reduziert. Ebenso wurden regionale lautliche und schriftliche Varianten bspw. für ‚Schwester‘ - die Form <suster> im Norden und die Formen <swester> und <schwester> im Süden und Südosten - zugunsten der heutigen standardsprachlichen Schreibform <Schwester> aufgegeben. Auch morphologische Formen unterlagen einer Selektion, so wurden u. a. Pluralen‐ dungen von Verben wie in wir geb-en, ihr geb-t, sie geb-en gefestigt (s. Besch 2003: 2268). Die Selektion führt zur Ausbildung von sprachlichen Normen, die man als Ge‐ brauchsnormen bezeichnen kann, da sie sprachliche Regeln darstellen, die sich im Selektionsprozess durchsetzen (vgl. Hundt 2009: 121). So sind im Laufe der Zeit die Schreibform <Schwester> oder das Lexem Liebe zur Gebrauchsnorm geworden, während die konkurrierenden Varianten aus dem Gebrauch verdrängt wurden (mehr zur Norm in Kap.-4.2.3). 76 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="77"?> Die sich im Sprachgebrauch vollziehende Selektion von sprachlichen Varianten aus einem Variantenpool trägt zur Herausbildung von Gebrauchsnormen bei. Sprachliche Zweifelsfälle stellen sprachliche Varianten dar, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch den Sprachgebrauch nicht selegiert worden sind. So umfasst das standardsprachliche Inventar mit dem sog. am-Progressiv wie in Ich war am Lesen, als es plötzlich klingelte eine spezifisch zum Ausdruck der Progressivität, d. h. zur Darstellung der Handlung in ihrem Verlauf, geeignete Form (s. Kap. 7.4). Sie steht in Konkurrenz zur indikativischen Verbform (habe gelesen), die mit Hilfe von Adverbialen wie gerade oder zu diesem Zeitpunkt Progressivität transportieren kann (ich habe gerade/ zu diesem Zeitpunkt gelesen). Darüber hinaus existieren noch weitere Formen zum Ausdruck der Progressivität (s. Kap.-7.4.1). Der ursprünglich regionale am-Progressiv ist heute nicht nur überregional in der gesprochenen Alltagssprache, sondern auch in der überregionalen Zeitungssprache zu finden (Flick 2016). Laut Variantengrammatik (variantengrammatik.net) ist er besonders in der schweizerdeutschen Standardvarietät üblich. Somit befinden sich der am-Progressiv und die indikativische Verbform gegenwärtig im Selektionsprozess für den Ausdruck der Progressivität. Im Vergleich dazu hat sich im Englischen die progressive Form zum Normausdruck für Progressivität entwickelt, z. B. I was reading when suddenly the doorbell rang, nicht *I read when suddenly the doorbell rang. Ähnlich tragen Sprachnutzerinnen zur Variantenselektion bei, wenn sie sich in der Schrift bspw. der Form Sprachnutzer*innen bedienen. Im Sprachgebrauch, den der Rat für deutsche Rechtschreibung (RfdR, kurz Rechtschreibrat) an ausgewählten Sparschreibungen Bürger*in, Bürger/ -in, Bürger/ in, BürgerIn und Bürger_in in seinem Ratskernkorpus beobachtet hat (https: / / www.rechtschreibrat.com/ DOX/ rfdr_PM_20 21-03-26_Anlage1_Geschlechtergerechte_Schreibung_seit_2018.pdf, kurz: Anlage 1 zur geschlechtergerechten Schreibung), zeichnet sich zwar ein Trend ab, aus dem Variantenpool der sog. verkürzten Formen geschlechtergerechter Schreibung die mit dem Asterisk * (auch Gendersternchen genannt) zu wählen. Der Ausgang des Selektionsprozesses ist jedoch noch offen. Eine Gebrauchsnorm hat sich noch nicht herausgebildet. Auch weitere sprachliche Varianten, die Basis für sprachliche Zweifelsfälle bilden, befinden sich im Konkurrenzverhältnis, das nur durch Selektion einer Variante aufge‐ löst werden kann. Dem Sprachgebrauch von ausgewählten Zweifelsfällen widmet sich Kap.-7. Sprachliche Zweifelsfälle stellen Varianten dar, die im Konkurrenzverhältnis stehen, das durch die Selektion einer Variante beendet werden kann. 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 77 <?page no="78"?> 4.2.2.2 Kodifizierung Zur Standardisierung gehört weiterhin die Kodifizierung der selegierten Varianten, d. h. ihre Aufnahme in den Sprachkodex (s. auch Kap. 4.2.1). Den Inhalt des Sprachkodex bildet die Beschreibung der sprachlichen Regeln, so wie sich diese im Sprachgebrauch äußern. Die Kodizes haben einen Geltungsbereich, z. B. eine deutschsprachige Region, ein oder mehrere deutschsprachige Länder, auf deren Standardvarietät die Beschreibung im Kodex zutrifft. Sie dienen zur Orientierung in der privaten Gültig‐ keitssphäre, von der die staatliche zu unterscheiden ist, in der sie als Kernkodex verbindlich sind. Der staatlichen Gültigkeitssphäre gehören staatliche oder staatlicher Aufsicht unterstehende Institutionen wie Schulen, Verwaltung und Rechtspflege an. Dadurch sind Lehrkräfte, Verwaltungsvorgesetzte usw. vom Staat autorisiert, den vom Kodex verlangten standardsprachlichen Gebrauch zu erzwingen und die Nichtbefol‐ gung zu sanktionieren (Ammon 1995: 73-82). Der Sprachkodex hat einen Geltungsbereich, für den die Beschreibung zutrifft, und verschiedene (private und öffentliche) Gültigkeitssphären, in denen für den Gebrauch der Standardsprache verschiedene Grade der Verbindlichkeit gelten. Gegenwärtig fällt nur der Bereich der - historisch jungen - Orthographie unter die staatliche Gültigkeitssphäre. Nur für diesen Bereich der Standardsprache gibt es eine offizielle, staatlich betraute Norminstanz - den Rat für deutsche Rechtschreibung, dessen 41 Mitglieder sieben Länder und Regionen (Deutschland, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein, die Autonome Provinz Bozen-Südtirol, die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens und Luxemburg) vertreten und nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch aus dem Verlags- und Zeitungswesen, aus dem pädagogischen, journa‐ listischen und schriftstellerischen Bereich kommen (rechtschreibrat.com). Das vom Rechtschreibrat verfasste amtliche Regelwerk von 2018 (https: / / www.rechtschreibrat .com/ DOX/ rfdr_Regeln_2016_redigiert_2018.pdf) hat laut Vorbemerkung auf S. 4 den Anspruch, „in allen Ländern und Regionen mit Deutsch als Amtssprache gleicherma‐ ßen Geltung zu haben“. Gültig und verbindlich ist das amtliche Regelwerk für die Institutionen, „für die der Staat Regelungskompetenz hinsichtlich der Rechtschreibung hat“ (Amtl. Regelwerk 2018: 7). Dazu gehören Schulen und Verwaltung sowie die Rechtspflege. Das amtliche Regelwerk hat darüber hinaus einen „Vorbildcharakter für alle, die sich an einer allgemein gültigen Rechtschreibung orientieren möchten (das heißt Firmen, speziell Druckereien, Verlage, Redaktionen - aber auch Privatpersonen)“ (Amtl. Regelwerk 2018: 7). Der bereits erwähnte Fall der sog. verkürzten Formen geschlechtergerechter Schrei‐ bung ist besonders interessant, da diese einen Variantenpool darstellen, der nur zum geringen Teil kodifiziert ist: Aus der hier bereits erwähnten, 2018 aktualisierten Fassung des amtlichen Regelwerks lässt sich lediglich die Sparschreibung mit dem 78 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="79"?> Ergänzungsstrich (§ 98), z. B. Bürger/ -in als kodifiziert herleiten, wobei man dazu noch § 106 zum Schrägstrich, z. B. die Schülerinnen/ Schüler, benötigt (s. Auslegung des amtlichen Regelwerks im Zweifelsfälle-Duden 2021: 400-411). Die im Sprachgebrauch existierenden Auslassungen mit Asterisk, Doppelpunkt, Unterstrich oder mit der Binnenmajuskel sind im amtlichen Regelwerk nicht enthalten. Der Bereich der Grammatik (d. h. Lautung, Flexion, Wortbildung und Syntax) ebenso wie alle übrigen Bereiche (Lexik, Stilistik) sind nicht staatlich geregelt. Eine Ausnahme bilden hier Schulgrammatiken und Lehrpläne, wobei Letztere selten konkret und nicht systematisch sind. Die Dudengrammatik, die sich der Lautung, dem Schriftsystem, der Morphologie, der Syntax, dem Text und schließlich der gesprochenen Sprache widmet, sowie alle weiteren der zwölf Duden-Bände, die sich mit der Rechtschreibung, der Aussprache, dem Stil usw. befassen, fallen nur insoweit in den Bereich des Kernkodex, als dass sie fachlinguistische Publikationen mit hohem Ansehen darstellen und von sprachlichen Autoritäten zur Orientierung genutzt werden. Sie sind nicht staatlich autorisiert (Klein 2014, Schneider 2016). Die Kodizes steuern die Variantenaufmerksamkeit. Indem sie die Varianz thema‐ tisieren, beschreiben und bewerten, tragen sie maßgeblich zur metasprachlichen Positionierung von Sprachnutzerinnen bei. Viele der heute als sprachliche Zweifels‐ fälle geltenden Varianten, darunter die schwankende Rektion von Präpositionen wie wegen oder trotz, gerieten bereits im 19. Jh. ins Blickfeld der Kodifizierung und sind durch die fortwährende Übernahme in die Folgekodizes zum festen Bestandteil des metasprachlichen Bewusstseins geworden (Klein 2014: 233-237). Zudem tragen Kodizes durch die selektive Erwähnung von Varianten in der Beschreibung sowie durch ihre direkte Bewertung dazu bei, dass einzelne Varianten wie die Dativrektion von Präpositionen (wegen/ trotz dem Wind) von den Sprachnutzerinnen als nicht dem standardsprachlichen Inventar zugehörig eingeschätzt werden (Davies und Langer 2006: 200-211). Die Rolle der Kodifizierung für sprachliche Zweifelsfälle wird an ausgewählten Phänomenen in Kap.-9 exemplifiziert. Sprachliche Zweifelsfälle stellen Varianten dar, auf die im Zuge der Kodifizie‐ rung aufmerksam gemacht wird, wobei sie bezüglich ihrer Zugehörigkeit zum standardsprachlichen Inventar gewichtet werden. 4.2.2.3 Akzeptanz Die Standardisierung wird auch durch die wachsende Akzeptanz und Implementie‐ rung, also den Gebrauch der Standardvarietät vorangetrieben. Mit der wachsenden Akzeptanz findet die Ausbreitung der Standardvarietät auf möglichst viele Mitglieder der Sprachgemeinschaft statt. 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 79 <?page no="80"?> Für die Standardisierung einer Varietät ist ihre Akzeptanz und Implementierung bei möglichst vielen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft erforderlich. In der Entwicklung der deutschen Standardsprache setzte der Akzeptanzprozess zu Beginn des 19. Jhs. ein (Mattheier 2003: 234-238): Bereits intensiv kodifiziert, wurde die entstehende Standardvarietät zunächst vor allem von der gebildeten Mittelschicht als Schrift- und anschließend auch als gesprochene Sprache verwendet, die sich v. a. in hoch modernisierten Regionen wie Sachsen oder dem Rheinland konzentrierte. Die Ausbreitung verlief daher regional unterschiedlich und mit Hilfe populärer Literatur sowie zunehmend auch der Massenmedien (sog. Popularisierung), begleitet von der Ausbreitung technischer Innovationen, die das Lesen förderten, z. B. der Petroleum‐ lampen auch in Haushalten mit geringen finanziellen Mitteln (von Polenz 1991: 5-7). Ab Mitte des 19. Jhs. trat fördernd die Pädagogisierung der Standardsprache hinzu, die zum Kommunikationsmittel und Lerngegenstand in den Schulen wurde (von Polenz 1983: 6-8; Mattheier 1991a). Im Gegensatz zu Gymnasien und Oberrealschulen gab es in Volksschulen jedoch „ein massives Vermittlungsproblem“ (Elspaß 2005: 91) der Standardsprache. Neben der Varietät der kleinen elitären bildungsbürgerlichen Schicht entwickelte sich so eine spezielle Varietät, die Mattheier (2003: 237) als „Proto-Standard“ bezeichnet. Mit der zunehmenden Übernahme des ursprünglich bildungsbürgerlichen Standards in der breiten Bevölkerung sind auch viele sprachliche Merkmale des sog. Proto-Standards in die heutige Standardsprache eingegangen. Dazu gehören Phänomene wie die Dativrektion von Präpositionen wie wegen dem Geld. Diese und vermutlich viele andere sprachliche Zweifelsfälle enthalten Varianten, die dem protostandardsprachlichen Inventar angehörten. Eine breite gesellschafliche Akzeptanz von Standardsprache geht mit der Verwen‐ dung von Varianten einher und äußert sich in Unterschieden in der Bewertung ihrer Akzeptabilität, wie in Kap.-8 an ausgewählten Zweifelsfällen gezeigt wird. Eine breite gesellschaftliche Akzeptanz der Standardsprache geht mit diastra‐ tischen Unterschieden in der Verwendung von Varianten einher. Sprachliche Zweifelsfälle können im Prozess der Akzeptanz hervortreten. 4.2.2.4 Ausbau Zur Standardisierung trägt schließlich auch der Ausbau (auch: Elaboration) des sprachlichen Inventars bei, der die Standardsprache fit für die Nutzung in vielfältigen (privaten wie öffentlichen) kommunikativen Praktiken macht. Die deutsche Standardsprache weist einen hohen Grad an Ausgebautheit auf (s. Kap. 4.2.1), auch wenn sie aktuell im internationalen Wissenschafts- oder politischen 80 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="81"?> Austauch nur sehr eingeschränkt verwendet wird. Hier dominiert seit Jahrzehnten das Englische als Sprache der internationalen Fach- und politischen Kommunikation. Aus der historischen Perspektive eroberte die deutsche Standardsprache in einem langen Prozess, der bereits im 17. Jh. startete, viele funktionale Domänen, die bis dato v. a. vom Latein (Wissenschaft) und Französich (Sprache der Gerichte) dominiert waren, was mit der Entwicklung der entsprechenden Terminologie (Wortschatzentwicklung) und adäquater sprachlicher Strukturen einherging (Hundt 2000). Der Ausbau bedeutet für die Sprache der Literatur eine Entwicklung hin zur mehr (stilistischen) Heterogenität, für die Sprache der Wissenschaft hingegen hin zur mehr Homogenität, die die Transparenz der wissenschaftlichen Diskurse sicherstellt. Der Ausbau der zunächst als Schriftsprache entstandenen Standardvarietät vollzog sich dann auch weiter von einem offiziellen Kommunikationsmittel hin zum privaten. Der funktionale Ausbau der Standardsprache fördert ihre diaphasische Ausdifferen‐ zierung in Lexik und Grammatik, wenn bspw. in der Wissenschafts- oder Literatur‐ sprache andere Varianten bevorzugt verwendet werden als in der Alltagssprache. Die darauf basierende diaphasische Indexikalisierung von Varianten kann zu sprachlichen Zweifelsfällen führen, wenn metapragmatische Annahmen über die diaphasische Zuordnung von Varianten wie die Dativ- und Genitivrektion von Präpositionen nicht mit einem konkreten Gebrauchsfall übereinstimmen. Für die Standardisierung einer Varietät ist der Ausbau (auch: Elaboration) des sprachlichen Inventars von zentraler Bedeutung. Dieser ermöglicht eine thematisch uneingeschränkte Kommunikation mit Hilfe der Standardsprache. Der funktionale Ausbau der Standardsprache geht mit einer diaphasischen Ausdifferenzierung von Lexik und Grammatik einher. Sprachliche Zweifelsfälle ergeben sich dadurch, dass der konkrete Gebrauch der metapragmatischen Zuordnung widerspricht. 4.2.3 Normierung, ihre Akzeptanz und Destandardisierung Was sind Normen? Wir beginnen mit einem Beispiel: Normen unterliegen wir beispiel‐ weise bei unserem Urlaubsverhalten. So orientieren wir uns bei der Urlaubsplanung nach der Norm, dass der Urlaub nicht bloß eine arbeitsfreie, sondern eine Zeit voller schöner Erlebnisse zu sein hat. Normen sind also „sozial bedingte Orientierungen, die die Organisation von (sprachlichen) Handlungen leiten (sollen)“ (Gloy 2016: 617). Im Unterschied zu anderen sozialen Zwängen sind Normen gewollte Verpflichtungen, was auch bedeutet, dass wir sie auch als von anderen Personen gewollt erleben. Wer einen einen schönen Urlaub haben will, handelt nach der o. g. Norm. Sprachnormen sind dementsprechend gewollte soziale Verpflichtungen, eine bestimmte sprachliche Handlung zu vollziehen. Die Sprachnormen stellen Erwartungen oder auch explizite Verpflichtungen dar, die „die Bildung, Verwendungsabsicht, Anwendung und Evalua‐ 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 81 <?page no="82"?> tion sprachlicher Einheiten […] regulieren (sollen)“ (Gloy 2004: 394). In den Normen stecken damit nicht nur sprachliche Regeln, sondern auch die Frage nach der Absicht, der Gebrauchssituation und der Bewertung. Die Norm kann bspw. die Verwendung einer Regel wie die Verwendung von Dativ oder Genitiv nach Präpositionen wie trotz oder wegen gebieten, erlauben oder auch verbieten, wenn die Verwendungsabsicht ist, sich bpsw. in einer offiziellen Situation sprachlich angemessen oder grammatikalisch („richtig“) zu äußern. Normen erlangen ihre soziale Geltung auf unterschiedliche Weise: Sie sind verbindlich, weil sie 1. verordnet werden (vgl. das Amtliche Regelwerk der Rechtschreibung), 2. explizit mit einem Richtigkeitsbzw. Angemessenheitsurteil versehen werden oder 3. im Sprachgebrauch etabliert und vorherrschend sind (Gloy 2004: 394-395). Normen müssen nicht schriftlich vorliegen, sondern können auch als subsistente, d. h. nicht-formulierte, implizite, sich im Gebrauch manifestierende Normen stillschwei‐ gend existieren (Hundt 2009; Ziegler 2011). Normierung im Sinne der Entstehung von (subsistenten) Sprachnormen ist nicht auf die Standardvarietät beschränkt ist, sondern findet in jeder Varietät statt. Auch in Dialekten, Regiolekten usw. existieren Normen, die in Dialektwörterbüchern u.Ä. kodifiziert werden können. Standardsprachliche Normen sind soziale Verpflichtungen, die das sprachli‐ che Handeln regulieren, indem sie die Verwendung von Varianten gebieten, erlauben oder verbieten, wenn das Ziel ist, eine standardsprachliche Äußerung zu tätigen. Dabei kann die Nichtbefolgung der standardsprachlichen Normen sanktioniert wer‐ den. Die Art der Sanktionen ist davon abhängig, welcher Verbindlichkeitsgrad vorliegt und ob und in welcher Gültigkeitssphäre (z. B. Schule, Firma, privates Umfeld) man sich befindet. Ein Beispiel: Die staatlich legitimierte Rechtschreibung kann in der Schule zu Sanktionen führen, die mit Mitteln der Korrektur und Bewertung zur Befolgung der Normen bewegen (sollen). Dabei sind die Schülerinnen und Schüler die Normsubjekte, für die die Norm gilt, während die Lehrkräfte als Normautoritäten, die die Norm durchsetzen, fungieren (Ammon 2005: 33). Da die Rechtschreibung in Firmen indirekt legitimiert ist, kann die Sanktion der Nicht-Befolgung von Recht‐ schreibnormen sein, dass die Person (ein Normsubjekt) nicht befördert oder gar nicht eingestellt wird. Im privaten Bereich hingegen kann die Nicht-Befolgung auf der Beziehungsebene sanktioniert werden. Dementsprechend kann die Entstehung von Normen als Normierung bezeichnet werden. Dabei stehen „undurchschaute habituelle Vorgänge“ (Gewohnheiten) am Anfang des Prozesses, der über „Normalitäten“ zu Normen führt (Gloy 2004: 397). Normierung kann jedoch auch durch eine explizite Festlegung und die Kodifizierung von Normen vollzogen werden. 82 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="83"?> Normierung, d. h. die Entstehung von Normen, kann im Zuge von habituellen Vorgängen (Gewohnheiten) oder durch explizite Festlegung und Kodifizierung zustande kommen. Die Standardisierung ist von der Akzeptanz der sprachlichen Normen und der Normau‐ toritäten abhängig (Mattheier 2003: 239). Werden die Normen oder Normautoritäten in Frage gestellt (wie bspw. im Zuge der Rechtschreibreform), findet Destandardi‐ sierung statt. Sie äußert sich in der Verwendung von nicht-standardsprachlichen Varianten, d. h. solchen, die nicht der kodifizierten Sprachnorm entsprechen. Dabei spielen die wahrgenommenen Unterschiede zwischen der kodifizierten Standardva‐ rietät und dem öffentlich-offiziellen mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch einer Gemeinschaft (mit subsistenten Normen) eine wichtige Rolle. Die Akzeptanz und Verwendung von nicht der kodifizierten Sprachnorm entsprechenden Varianten kann zur Reduktion der Uniformität und Normativität führen. Derartige Phänomene hat u. a. Elspaß (2005) in Bezug auf die Verwendung der protostandardsprachlichen Varianten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. beschrieben. Darunter fallen der am-Progressiv und die Dativrektion von Präpositionen wie wegen, häufig also Phänomene, die heute Zweifelsfälle generieren. Die Sprachgemeinschaften reagieren auf Destandardisierungsentwicklungen ent‐ weder eher kodex- oder ususorientiert. Die Kodexorientierung markiert von der kodifizierten Standardnorm abweichende Varianten als Fehler, wohingegen bei der Ususorientierung, d. h. der Orientierung am Gebrauch, die Anpassung des Kodex an den aktuellen Sprachgebrauch die Öffnung der Standardnorm vorantreibt (Mattheier 1997: 8). Die Destandardisierung umfasst die Verwendung von nicht-standardsprach‐ lichen Varianten, d. h. solchen, die nicht der kodifizierten Sprachnorm entspre‐ chen. Sie resultiert aus abnehmender Akzeptanz von standardsprachlichen Normen. Die Destandardisierung wird durch soziale Prozesse unterstützt, durch die die Stan‐ dardvarietät ihre Rolle als Symbol der nationalen Identitität (Nationalsprache) einbüßt (Mattheier 2003: 240). Dies ist der Fall, wenn in einer stabilen oder sich im Auflö‐ sungsprozess befindlichen Nation die Standardvarietät als eben solches Symbol nicht als nötig empfunden wird oder die Nation als soziohistorisches Ideal eine negative Bewertung erfährt. So ist das Standarddeutsche u. a. plurinational - in Deutschland, Österreich und Liechtenstein die einzige, in der Schweiz und Luxemburg eine von mehreren Amtssprachen und in Belgien sowie Italien regionale Amtssprache - und daher als Abgrenzungsmerkmal von Nationen obsolet (Ammon 2000). Weiterhin 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 83 <?page no="84"?> widerspricht die Mehrsprachigkeit der Annahme, dass sich die Nation durch eine Sprache definieren lässt (s. auch Kap.-4.2.1 und Kap.-4.3.3). Schließlich trägt die Destandardisierung nach Mattheier (2003: 241) zur höheren funktionalen Leistungsfähigkeit der deutschen Sprache bei. Durch die soziale Ausdiffe‐ renzierung von Varianten und Varietäten (z. B. Jugendsprache oder technische Sprache) erfährt die deutsche Sprache eine höhere soziale, regionale und stilistische Komplexität, die so ausdifferenzierten sprachlichen Normen können die soziale Funktion der Identifikation besser ausfüllen. 4.2.4 Standardsprachliche Texte Welche sprachlichen Varianten Teil des standardsprachlichen Inventars sind, kann ususorientiert auf Basis von Texten bestimmt werden, in denen die Standardsprache instanziiert ist (Mattheier 1997; Klein 2013). Solche konkreten standardsprachlichen Erzeugnisse, die als Vorbilder dienen können, bilden sog. Modelltexte, die von Modellsprecherinnen und -schreiberinnen produziert worden sind (Ammon 2005: 33): „In modernen Gesellschaften fungieren als solche personalen Vorbilder am unbestrittendsten prominente Berufssprecher und -schreiber: Nachrichtensprecher in Massenmedien, Schau‐ spieler, Journalisten und Schriftsteller.“ (Ammon 2005: 33) Zu Modelltexten gehören schriftliche und mündliche Sachtexte wie Zeitungstexte, amtliche Mitteilungen des Bundes, Gebrauchsanleitungen für gängige Produkte großer Hersteller, offizielle Websites großer Unternehmen oder auch Prosaliteratur; öffent‐ liche, politische Reden, Talkshows im Abendfernsehen oder auch Durchsagen in Flugzeugen oder an Flughäfen (Ammon 2005: 33; Klein 2013; Dürscheid und Schneider 2019: 42-46). Damit instanziiert sich in den Modelltexten der Sprachgebrauch, der in überregionalen und formelleren, sog. standard-affinen Kontexten „gebräuchlich und stilistisch unauffällig“ ist (Dürscheid und Schneider 2019: 36). Dementsprechend kann in Abhängigkeit von der medialen Ausformung zwischen geschriebener und gesprochener Standardsprache unterschieden werden (Schneider, Butterworth und Hahn 2018: 55). Die Standardsprache ist in schriflichen und mündlichen Modelltexten instan‐ ziiert, die in standard-affinen, d. h. überregionalen und formelleren, Kontexten von Modellsprecherinnen produziert werden. Um im gegebenen Fall zu überprüfen, ob eine Variante als standarddeutsch gelten kann, können standardsprachliche Korpora als Sammlungen von Modelltexten zu Rate gezogen werden (s. Kap. 3.2.3). So basiert die Beschreibung des schriftlichen Stan‐ darddeutsch im Zweifelsfälle-Duden auf dem sog. Duden-Korpus, das vorwiegend aus 84 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="85"?> überregionalen Zeitungen besteht. Es umfasst verschiedene Formate von Zeitungsar‐ tikeln, wobei gewöhnliche Zeitungsberichte eher dem unmarkierten Standardgebrauch entsprechen als beispielsweise Kommentare oder sprachlich besonders elaborierte Feuilleton-Artikel (s. Dürscheid und Schneider 2019: 38). Ähnlich ist bei belletristi‐ schen Werken aufgrund der künstlerischen Ausgestaltungsfreiheit mit stilistischen Ausnahmen zu rechnen. Nichtdestotrotz sind einige, v. a. ältere Untersuchungen zur Standardsprache belletristikbasiert. Das geschriebene Standarddeutsch kann als die „Leitvarietät“ gelten, nicht zuletzt aufgrund der historischen Entwicklung der Standardsprache (s. Kap.-4.3.4). Die Standardsprachlichkeit von Varianten kann ususorientiert auf Basis von standardsprachlichen (schriftlichen und mündlichen) Korpora bestimmt werden. Generell teilt das gesprochene Standarddeutsch, dessen Instanziierung sich u. a. in Talkshows im Abendfernsehen beobachten lässt, die standardsprachlichen Strukturen mit dem schriftlichen Standard. Darüber hinaus sind im Mündlichen zusätzliche sprachliche Strukturen üblich, die teilweise auf die Flüchtigkeit des Gesprochenen und die Interaktionalität zurückgeführt werden können (Schneider, Butterworth und Hahn 2018; Butterworth, Hahn und Schneider 2018; Dürscheid und Schneider 2019: 42-46). Zu solchen grammatischen Strukturen, die Schneider, Butterworth und Hahn (2018) in einem Korpus aus 20 Anne-Will-Talkshowsendungen, ausgestrahlt zwischen 2013 und 2014 (Umfang von 25 Stunden), und der Unterrichtskommunikation (80 Stunden Oberstufenunterricht und 12 Stunden Unterstufe (5. Klasse)) ermitteln, gehört die sog. uneigentliche Verberststellung wie in Zeile 05 in (21) (aus Schneider, Butterworth und Hahn 2018: 185). In diesem Satz mit der uneigentlichen Verberstellung fehlt auf der syntaktischen Oberfläche das Subjekt, das jedoch aus dem vorigen Ausschnitt (Zeile 01-04) noch bekannt ist und von der Hörerin (unter einem erhöhten kognitiven Aufwand) identifiziert werden muss. Die Ergänzung des Subjekts findet interaktional statt. In der Transkription (nach GAT 2, s. Selting et al. 2009) steht °h für Ein- und Ausatmen von ca. 0.2-0.5 Sekunden und (.) für eine sehr kurze Pause von bis ca. 0.2 Sekunden. (21) Beispiel aus der Anne-Will-Talkshow (14.04.2013; 44: 55; aus Schneider, Butterworth und Hahn 2018: 185) - 01 °h uns fEhlen zweihundertzwanzigtausend (.) KItaplätze, - 02 °h das hat äh die jEtzige bundesregierung LANge hIngezogen und verschlAfen - - 03 obWOHL klar war- 4.2 Standardsprache und Standardvarietäten 85 <?page no="86"?> 04 dass es das recht auf den kitaplatz für die unter dreijährigen Ab diesem sommer GIBT, - 05 hat die koMUnen im regen stehen gelassen, - 06 die werden nämlich die KLAgen der Eltern haben, - 07 °h und hat vor Allem (.) frauen UND männer- mÜtter UND väter im regen stehen lassen, Interessanterweise tritt der am-Progressiv kaum in dem Korpus des gesprochenen Standards auf, woraus geschlossen werden kann, dass diese Struktur in formelleren mündlichen Kontexten kaum verwendet wird (Schneider, Butterworth und Hahn 2018: 214-216). Die zwei medialen Varietäten der Standardsprache, das schriftliche und mündliche Standarddeutsch, haben gemeinsam, dass sie überregional gebräuch‐ lich und in formelleren (d.-h. standard-affinen) Kontexten unauffällig sind. 4.3 Diskurse über die Standardsprache Die Sprachnutzerinnen „stolpern“ und zweifeln nicht nur in der Sprachproduktion oder -rezeption über sprachliche Varianten, sondern setzen sich mit den sprachlichen Zweifelsfällen auch explizit auseinander. Wie in den Auseinandersetzungen die sprach‐ lichen Varianten bewertet werden, wird mit Annahmen über die Standardsprache begründet. So baut die Ablehnung von einer Variante u. a. auf der Annahme auf, dass die Standardsprache einheitlich sein solle. Die Analyse der Annahmen, die in metapragmatischen Diskursen, d. h. Diskursen über sprachliche Handlungen, artikuliert werden und argumentative Muster unterfüttern, ist daher für die Zweifels‐ fallsforschung sehr wichtig, da sie die Einstellungen der Sprachnutzerinnen zu den sprachlichen Zweifelsfällen begreiflich macht. Metapragmatische Diskurse über die Standardsprache enthalten Annahmen über sie, auf deren Basis die sprachlichen Zweifelsfälle bewertet werden. 4.3.1 Metapragmatische Diskurse Diskurse sind „Auseinandersetzungen mit einem Thema“ (Gardt 2007: 30) wie eben Standardsprache, sprachliche Zweifelsfälle oder auch Anglizismen, aber ebenso Kli‐ mawandel, Migration, Maskenpflicht während der Pandemie etc. Sie schlagen sich in einem „Netz kulturell und historisch gebundener Aussagen“ (Spitzmüller 2005: 86 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="87"?> 35) nieder. Dabei spiegeln sie nicht nur das Wissen, sondern auch die Einstellungen zur Standardsprache oder zu sprachlichen Zweifelsfällen (als dem Diskursthema) und prägen diese gleichzeitig aktiv. Dadurch wirken sie sich handlungsleitend auf die künftige Wahrnehmung und Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit bezüglich des Diskursthemas aus (Gardt 2007: 30). Aussagen über die Standardsprache haben eine lange Tradition und bilden ein dichtes und heterogenes Netz. Man kann sie bis ins 16. Jh. zurückverfolgen, als die Herausbildung einer überregionalen Standardsprache eingesetzt hat. Sie intensi‐ vierten sich im 17. und 18. Jh. und beeinfluss(t)en so auch die Weiterentwicklung der Standardvarietät(en) (Mattheier 1981; von Polenz 1994: 135-180; Faulstich 2008: 1-9). Die Datenbank ZweiDat bietet die Möglichkeit, die historischen Diskurse in der Grammatikschreibung zu verfolgen. Diskurse sind Auseinandersetzungen mit einem Thema, die sich zu einem Netz aus kulturell und historisch gebundenen Aussagen zum Diskursthema verdichten. Im Zuge der Diskurse über die Standardsprache verfestigte sich allmählich eine Auswahl von besprochenen Varianzfällen zu einem Kerninventar der sprachlichen Zweifelsfälle: Varianten, die bereits im 17. Jh. ins Blickfeld der Kodifizierer gerieten, stellen bis heute Themen der grammatikreflexiven Diskurse dar. So zeigt Klein (2014: 233-237) in einem Vergleich von drei Grammatiken aus der sog. Bauer-Duden-Tradi‐ tion - der 1850 zum ersten Mal erschienenen „Grundzüge der Neuhochdeutschen Grammatik für die unteren und mittleren Klassen höherer Bildungsanstalten“ von Friedrich Bauer, ihrer 13. Auflage aus dem Jahr 1871 und der von Konrad Duden bearbeiteten 27. Auflage von 1912 -, wie der Variantendiskurs über 150 Jahre die Entwicklung eines Inventars von Zweifelsfällen förderte, zu dem u. a. die Kasusrektion bei Präpositionen (z. B. trotz des oder trotz dem) oder die Flexion in der Adjektivreihung ohne Determinierer (nach langem schwerem Leiden/ nach langem schweren Leiden) gehören. „Was einmal in das metasprachliche Bewusstsein der Kodifizierer gerät und damit auch das Sprecherbewusstsein formt, tendiert zur Versteinerung“ (Klein 2014: 235). Diskurse über die Standardsprache und die sprachlichen Zweifelsfälle beeinflus‐ sen die Weiterentwicklung der Standardsprache, indem sie Varianten stigmatisieren bzw. bevorzugen. Stigmatisierung findet durch Zuschreibung von diskreditierbaren Merkmalen und Eigenschaften oder durch Herabwürdigung von Merkmalen und Eigenschaften statt (Goffmann ([1974] 1963: 4-25). In Bezug auf sprachliche Varianten gibt es bspw. die Zuschreibung von Fehlerhaftigkeit oder Lächerlichkeit, die diese Va‐ rianten und damit auch ihre Nutzerinnen diskreditiert. Die Geringschätzung manueller Tätigkeitsbereiche in der Landwirtschaft oder der Industrie bringt mit sich die Stig‐ matisierung der Personengruppen, die diese Tätigkeiten ausüben, und der mit ihnen 4.3 Diskurse über die Standardsprache 87 <?page no="88"?> assozierten, sozial indexikalisierten sprachlichen Varianten. Dies kann die Aufnahme in die standardsprachliche Grammatik erschweren oder komplett verhindern. So wurde die Dativrektion von Präpositionen wie wegen, die im Sprachgebrauch lange bezeugt ist, seit dem 17. Jh. in den Grammatiken durch die Nichterwähnung indirekt oder durch explizite Bewertung direkt als fehlerhaft stigmatisiert (Davies und Langer 2006: 200-211; Szczepaniak 2014: 45). Die Untersuchung der Auswandererbriefe aus dem 19. Jh. von Elspaß (2005) lässt vermuten, dass die Stigmatisierung der Dativrektion an höheren Schulen in dieser Zeit weiter vorangeschritten war als an Volksschulen: In den Briefen ist die Genitivrektion insgesamt in nur einem Drittel der Belege verwendet, während die Dativrektion dominiert. Den insgesamt seltenen Genitiv verwenden aber über vier Fünftel der Schreibenden mit höherer Bildung und lediglich ein Fünftel derer mit Volksschulbildung. Der Sprachgebrauch zeigt, dass der in der Grammatikographie und im Schulunterricht geführte, die Dativrektion stigmatisierende Diskurs die Geni‐ tivrektion zum sozialen Marker einer höheren sozialen Klasse (der Bildungsschicht) verstärkt hatte. In der Übersichtsstudie von Davies (2005) geben 57 % aller Lehrer immer noch an, dass sie die Verwendung des Dativs als umgangssprachlich einstufen. Die im 17. und 18. Jh. systematisch bspw. als „altväterlich“ und „lächerlich“ stigma‐ tisierte sog. tun-Periphrase, die u. a. zum Ausdruck von habituellen Vorgängen wie in Er tat ihn jeden Tag besuchen diente, erfährt einen allmählichen Rückgang im schriftlichen Sprachgebrauch (Langer 2001). Sie wird zwar noch in den Auswandererbriefen des 19. Jhs. bei den Schreibenden mit Volksschulbildung verwendet (Elspaß 2005), ist jedoch heute im standardsprachlichen Gebrauch nicht belegt und gehört somit nicht mehr zum grammatischen Inventar der Standardsprache. Die Stigmatisierung führt zur sprachlichen Unsicherheit, wenn Individuen den eigenen Sprachgebrauch als schlechter ansehen, weil sie prestigehaltigere sprachliche Varianten zwar kennen, aber nach eigener Einschätzung selber nicht verwenden (Labov 2006: 317-323). Die sprachliche Unsicherheit lenkt den Sprachwandel, wenn der eigene Sprachgebrauch dann durch Nutzung von prestigehaltigeren Varianten oder auch Hyperkorrekturen angepasst wird (Labov 2001, 2006). In metapragmatischen Diskursen über die Standardsprache wird das meta‐ sprachliche Bewusstsein auf bestimmte sprachliche Varianten gelenkt. Dies kann zur Stigmatisierung von sprachlichen Varianten führen, die wiederum einen Rückgang im Sprachgebrauch bewirken kann. Diskurse treten als Verbünde von Äußerungen und Texten unterschiedlicher Art auf, die in gesellschaftlichen Interaktionsformen entstehen und koexistieren. So finden Diskurse über die Standardsprache in sprachreflexiven Texten wie Grammati‐ ken, Wörterbüchern, wissenschaftlichen Aufsätzen, aber auch sprachpflegerischen, sprachkritischen, rhetorischen und sprachhistorischen Texten, im Sprachunterricht sowie in privaten Unterhaltungen oder auch Kommentaren in Foren etc. statt. Sie 88 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="89"?> werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mit variablem Grad an sprachwissenschaftlichem Wissen getragen, wobei die Diskursteilnehmenden sich in den Diskursen in unterschiedlichem Maße als linguistische Laiinnen oder Expertinnen sozial positionieren und als solche von anderen Diskurteilnehmenden wahrgenommen werden (Spitzmüller 2013; König 2014: 11-15). In einem Diskursfragment zur Kasus‐ rektion bei dank in (22), das am 28.07.2007 im Language Forum von Wordreference.com, ausgelöst durch eine Frage zur Richtigkeit, geführt wurde in (22a), formuliert dieselbe teilnehmende Person im Laufe des Diskurses ein vorsichtiges Resümee in (22b), indem sie eine persönliche Schlussfolgerung präsentiert. Als Antwort darauf in (22c) unterstreicht eine andere Teilnehmerin seine Diskursposition durch die Erwähnung der Duden-Grammatik und präsentiert sich als Expertin: (22) Diskursfragment zur Kasusrektion von dank (28.07.2007, 15: 55-17: 28; aus Szczepa‐ niak 2014: 44) - a. Initiierender Beitrag von N… (28.7.2007, 15: 55) Ich verwende das Wort „dank“ eigentlich immer mit Genitiv. also: Dank des Einsatzes der Feuerwehr … Dank deiner Bemühungen … Nun hab ich heute wieder in einem Buch gelesen: dank dem schnellen Eingreifen …und das klingt für mich so falsch. Ich finde dank+dativ öfters - was ist denn nun richtig? Genitiv oder Dativ? - b. Resümee von N… (28.7.2007, 16: 45) Danke für Eure Antworten. Ich nehme dann mal an, dass es sich mit dank genauso wie mit wegen verhält. Hier war ursprünglich nur der Genitiv richtig und inzwischen ist auch der Dativ erlaubt… - c. Antwort von S… (28.7.2007, 17: 28) Laut Duden war’s wohl andersherum: dank kam ursprünglich von „Dank sei seinem Einfluss,“ daher Dativ, aber weil andere „unechte“ Präpositionen (d.-h. solche, die aus einem Substantiv entstanden) mit Genitiv gebraucht werden, z. B. kraft, laut, statt, infolge, wurde bei dank der Genitiv auch üblich. Ist ja auch nur gerecht so! Wenn der Dativ sonst überall den Genitiv vertreibt! 4.3.2 Einstellungen zu sprachlichen Varianten Sprachliche Zweifelsfälle lösen metasprachliche Diskurse aus, wenn Sprachnutzerin‐ nen auf sprachliche Varianten reagieren. So beginnt das Diskursfragment in (22) mit der Wahrnehmung der Varianz in der Kasusrektion von dank, die zum Zweifelsfall wird („was ist denn nun richtig? “). Darauf folgen Äußerungen von Überzeugungen („Ich nehme dann mal an, dass“) und von Gefühlen und indirekten Verhaltensintentionen („Ist ja auch nur gerecht so! “). Die hier beispielhaft zitierten Einstellungen zur variablen Kasusrektion sind überindividuell und stellen gewohnte Reaktionen dar, die vielfach beobachtet werden können. Dies zeigt, dass Diskurse Produkte von Mentalitäten sind. 4.3 Diskurse über die Standardsprache 89 <?page no="90"?> Sie stellen Handlungen dar, durch die sich Mentalitäten sprachlich manifestieren können (Spitzmüller 2005: 60-61). Mentalitäten stellen die Gesamtheit der usuellen Einstellungen einer sozialen Gruppe dar (Hermanns 2002: 80-81). Mentalitäten sind unbewusste kollektive Gewohnheiten oder Dispositionen (also Veranlagungen oder die innere Bereitschaft), die das Denken und Handeln der Individuen in einer Gesellschaft prägen. Mentalitäten dienen damit als Orientierungsrahmen für Denken und Handeln und stecken die Grenzen der Diskurse, d. h. Grenzen des Sag- und Denkbaren und des Logischen ab (Spitzmüller 2005: 58-60; Spitzmüller und Warnke 2011: 85-87). Diskurse sind Produkte von Mentalitäten, in denen sich usuelle Einstellungen organisieren und die Grenzen des Denkens und Handels abstecken. Diskurse über die Standardsprache oder über sprachliche Zweifelsfälle sind also durch die Spracheinstellungen der Diskursteilnehmenden bedingt und gleichzeitig begrenzt und beeinflussen diese. Die Bewertung von sprachlichen Varianten äußert sich in Spracheinstellungen. Diese stellen komplexe Reaktionen auf bestimmte sprachliche Varianten dar, die verbaler und nonverbaler Natur sein können, die in Tabelle 13 als Reaktionsmodus bezeichnet werden. Die Reaktionen selbst lassen sich drei Kategorien zuordnen: der Kognition, dem Affekt oder der Konation (Ajzen 1989: 242). Die Kategorie „Kognition“ umfasst Reaktionen, die die Wahrnehmung oder die Informationen über das Einstellungsobjekt, z. B. die Kasusrektion von dank, reflektieren. Gefühle gegenüber dem Einstellungsobjekt sind unter der Kategorie „Affekt“ zu subsumieren, während in die Kategorie „Konation“ Verhaltensintentionen, Neigungen, eigene Verpflichungen, auf eine bestimmte Art und Weise sprachlich zu agieren, einzuordnen sind. Verbal geäußerte Spracheinstellungen betreffen sprachideologische Überzeugungen bezüglich einer Variante. In (22c) wird die Überzeugung geäußert, dass die Genitivrek‐ tion der Präposition dank positiv zu beurteilen sei, da „der Dativ sonst überall den Genitiv vertreibt! “ (Reaktionskategorie „Kognition“). Es werden auch positive oder negative Gefühle gegenüber einer Variante verbalisiert (Reaktionskategorie „Affekt“) und Verhaltensintentionen formuliert, wenn jemand dazu aufruft, die Genitivvariante zu verwenden, oder auch beteuert, diese Formen selbst (nicht) zu gebrauchen: „Ich verwende das Wort ‚dank‘ eigentlich immer mit Genitiv“ (Reaktionskategorie: „Kona‐ tion“). Die nonverbalen Reaktionen sind Verhaltensweisen: Dazu gehören 1) die Wahr‐ nehmung und Markierung der Dativvariante als korrekt oder fehlerhaft (z. B. in Korrekturen einer Lehrkraft), 2) körperliche Reaktionen wie zustimmender oder abweisender Gesichtsausdruck und 3) favorisierte Verwendung der Dativrektion oder seine bewusste Vermeidung. 90 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="91"?> Reaktionskategorie: Reaktionsmodus: Kognition Affekt Konation verbal Äußerung von Überzeu‐ gungen gegenüber der sprachlichen Variante Äußerung von Ge‐ fühlen gegenüber der sprachlichen Variante Äußerung von Verhaltens‐ intentionen gegenüber der sprachlichen Variante nonverbal Wahrnehmung der sprachlichen Variante physische Reaktion auf eine sprachliche Variante konkretes Handeln bezüg‐ lich der sprachlichen Vari‐ ante Tabelle 13: Spracheinstellungen - Verbale und nonverbale Reaktionen (Ajzen 1989: 242) Spracheinstellungen sind komplexe verbale und nonverbale Reaktionen auf sprachliche Varianten. Spracheinstellungen werden im Laufe der Sozialisation erlernt (Vieregge 2025: 22-23). Dabei spielen Stereotype eine wichtige Rolle. Dies sind Annahmen über eine Gruppe von Menschen, die praktisch allen ihren Mitgliedern, unabhängig von tatsächlichen Unterschieden zwischen ihnen, dieselben charakteristischen Merkmale zuschreiben (Aronson, Wilson und Akert 8 2014: 476). Die Bewertung findet unter Bezug auf die Sprachideologie, insbesondere auf die Standardsprachenideologie, und baut auf die soziale Indexikalisierung (auch die Registrierung) von sprachlichen Varianten. Da diese bestimmte soziale Werte wie Bildungsgrad, Alter usw. indizieren, sind sie ideologisch deutbar. 4.3.3 Standardsprachideologie Mit der Standardisierung des Deutschen - ähnlich auch mit der anderer Sprachen - setzt in den Diskursen die Entwicklung einer Standardsprachenideologie (kurz auch Standardideologie) ein und die Entwicklung einer sog. Standardsprachenkultur, d. h. der Art und Weise, die Standardsprache zu gestalten (Haarmann 1997, Milroy 2001). Der Begriff Sprachideologie ist eine wertneutrale linguistische Bezeichnung für die Ansammlung von Annahmen über Sprache, die Mitglieder einer Gemeinschaft teilen und mit deren Hilfe sie die soziale Wirklichkeit rationalisieren und rechtfertigen (s. Silverstein 1979: 193; Spitzmüller 2013: 264). Ideologien (Annahmen) können mitein‐ ander konkurrieren, wenn sie die sprachliche Wirklichkeit unterschiedlich deuten. Die Standardsprachenideologie umfasst demenstprechend derartige Annahmen rund um die Standardsprache. Wie alle Ideologien speist sich auch die Standardsprachenideologie aus nicht selten über Generationen fortgeführten Diskursen „mit Elementen (vielfach anachronistischer) politischer Ideologien, (untergegangener) professioneller 4.3 Diskurse über die Standardsprache 91 <?page no="92"?> Sprachtheorien und oft jahrhundertealter Mythen“ (Maitz und Elspaß 2011: 224; s. auch Watts 2011; Anderwald 2012). Standardsprachenideologie ist die Ansammlung von Annahmen über die Standardsprache, auf die Mitglieder der Gemeinschaft zurückgreifen, um stan‐ dardsprachliche Phänomene zu deuten. Die für die Beschäftigung mit den Zweifelsfällen zentralen standardideologischen Annahmen kreisen um bestimmte Themenbereiche. Sie liefern Begründungen für Topoi, d. h. wiederkehrende diskursive Argumentationsmuster. Dazu zählen folgende ideologische Elemente (Faulstich 2008; Maitz und Elspaß 2011): 1. Homogenismus: Abgeleitet von den Diskursen rund um die sprachliche Standar‐ disierung (i.S. der Variantenselektion) existiert die Annahme, dass die Standard‐ sprache einheitlich und invariant ist bzw. sein soll. Laut dieser Annahme ist sprachliche Varianz ausgeschlossen, wovon die Erwartung abgeleitet wird, dass nur eine der betrachteten Varianten richtig sein kann. Daraus erwächst auch die Erwartung an Kodizes, im Falle einer Variation präskriptiv vorzugehen, d. h. Varianten als richtig oder falsch zu bewerten und auf diese Weise die Verwendung einer Variante vorzuschreiben. Diese Erwartung läuft der deskrip‐ tiven (also beschreibenden) Vorgehensweise der Grammatiken entgegen und führt zum Normativitätsdilemma für Grammatikschreibende, die, ihrer Aufgabe der Beschreibung des grammatischen Problems folgend, dem ihnen bewussten Präskriptionsbedürfnis der Lesenden nicht entsprechen können (Hennig 2010; s. auch Wermke 2005). Während sprachpflegerische, populäre Sprachkritik den präskriptiven, meist sehr emotionalen Diskurs eher bevorzugt, kann die gebrauchs‐ basierte Grammatikschreibung der Varianz wissenschaftlich fundiert begegnen (Schütte 2015; Schneider 2020). 2. Standardismus baut auf der Annahme auf, dass eine Nation eine einheitliche Standardsprache verwende. Somit wird die Nation als solche über bestimmte Ei‐ genschaften, zu denen die gemeinsame Sprache (Nationalsprache) gehört, definiert und mit Hilfe dieser Eigenschaften von anderen Nationen abgegrenzt. Bereits im humanistischen Zeitalter (15./ 16. Jh.) wurde die deutsche Sprache als Teil der nationalen Identität „entdeckt“ und den drei „heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein“ (Knape 2000: 106) gleichgestellt. Im 17. Jh. wird in den barocken Sprachgesellschaften die Konzeption der Nationalsprache weiterentwickelt. So hat Justus Georg Schottelius, Mitglied der bekanntesten und bedeutendsten deutschen Sprachgesellschaft, der im ostmitteldeutschen Raum angesiedelten „Fruchtbrin‐ genden Gesellschaft“, Sprache nicht nur als Spiegel der Volks- und Nationalkultur gesehen, sondern die Nationalsprache zur Voraussetzung und Grundlage für ein funktionierendes Staatswesen erhoben (s. Roelcke 2000: 145-146). Auch im 18. Jh. 92 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="93"?> rückt, verstärkt durch das Fehlen eines politischen Zentrums, die Muttersprache als Ausdruck politischer Identität in den Vordergrund (Gardt 2000; Faulstich 2008: 389-462). Auf die Entwicklung dieser standardideologischen Annahme wirk(t)en sich politi‐ sche und ökonomische Interessen aus (Milroy 2001: 534-535). Wie auch Mattheier (2003) hervorhebt, fingen die Standardisierungsprozesse in der Zeit der gesell‐ schaftlichen Modernisierung, d. h. der Transformation von einer feudalen zu einer modernen Massengesellschaft an. Diese war mit ökonomischem Wachstum und erhöhter sozialer Mobilität verbunden. Dieser in den heutigen Diskursen immer noch präsenten Ideologie der einheitli‐ chen Nationalsprache, die sich im monolingualen Habitus äußert (Gogolin 1994), steht und stand die sprachliche Realität entgegen. So macht die Plurinationalität des Deutschen, das in Deutschland, Österreich und Liechtenstein die einzige, in der Schweiz und Luxemburg eine von mehreren Amtssprachen und in Belgien sowie Italien regionale Amtssprache ist, Sprache als Abgrenzungsmerkmal von Nationen obsolet (Ammon 2000; s. Kap. 4.2.1). Ebenso widerspicht die Tatsache, dass es in deutschsprachigen Ländern sowohl die äußere Mehrsprachigkeit, also die Beherrschung mehrerer Sprachen, aber auch die innere Mehrsprachigkeit als Beherrschung mehrerer (z. B. regionaler und überregionaler) Varietäten einer Sprache gibt, der sprachideologischen Annahme, dass sich eine Nation durch eine einheitliche Sprache definieren lässt. 3. Prestigehaltigkeit: Der Standardvarietät und damit den von den Sprachnutze‐ rinnen als standardsprachlich eingeschätzten Formen wird ein höheres Ansehen (Prestige) zugedacht, was wiederum auf der Annahme basiert, dass Varietäten mehr oder weniger wertvoll seien. Die Prestigezuweisung an die Standardvarietät ist teilweise daraus erwachsen, dass diese historisch zunächst ein Kommunikationsmittel der gebildeten und v. a. sozioökonomisch höher gestellten Schichten war (mehr zu den Verschiebungen der Sprachvorbilder in Kap. 4.3.4). So ist bereits im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jhs. die Frage nach der sozialen Schicht, die das vorbildliche Hochdeutsch verwendet, virulent. Dabei wird den Gebildeten „Einsicht in das innere Sprachwesen der Leitvarietät“ unterstellt (Faulstich 2008: 322). Basierend auf der Annahme, dass Varietäten mehr oder weniger wertvoll seien, wird in den historischen Äußerungen dieser Zeit eine Leitdifferenz zwischen der Prestige- und Stigmavarietät sichtbar (Faulstich 2008: 311- 330). 4. Korrektheit: Die Standardvarietät wird als die korrekte Sprachvarietät angese‐ hen. Dies hat zur Folge, dass nicht standardsprachliche Formen als falsch beurteilt werden, auch wenn diese in der betroffenen Varietät (sei es Dialekt oder regionale Alltagssprache) durchaus der Norm angehören. Die Korrektheitsannahme basiert darauf, dass die Standardvarietät - u. a. aufgrund ihrer zum Teil staatlich und institutionell verankerten Normierung - als Referenzvarietät für andere diastrati‐ sche oder diatopische Varietäten angesehen wird (Beuge 2017). 4.3 Diskurse über die Standardsprache 93 <?page no="94"?> 5. Sorgfalt: Die Annahme, die Standardvarietät erfordere mehr Gewissenhaftigkeit und mehr Genauigkeit beim Sprechen und Schreiben als andere Varietäten, ist ebenfalls weit verbreitet. Sie kann zumindest teilweise davon abgeleitet werden, dass sich in der Standardvarietät durch die Ausbauprozesse eine diaphasische Varietätenbreite entwickelt hat, die u. a. auch wissenschaftliche und technische Kommunikation abdeckt. In einer im Jahr 2008 telefonisch durchgeführten, reprä‐ sentativen Umfrage (Gärtig, Plewnia und Rothe 2010) stuften 91,9% aller Befragten - dies waren insgesamt 2.004 Personen über 18 Jahren, 1.835 gaben Deutsch als ihre Muttersprache an - die Sorgfalt beim Sprechen der deutschen Sprache als wichtig bzw. sehr wichtig ein, beim Schreiben waren es sogar 94,6% aller Befragten. 6. Erlerntheit: Es wird angenommen, dass die Standardsprache formal, also durch schulische Bildung, erlernt werden muss. Im Umkehrschluss bedeutet diese Annahme, dass die standardsprachliche Kompetenz im Gegensatz zu anderen Varietäten in informellen Kontexten (Familie, Alltag usw.) nicht verlässlich aus‐ gebildet werden kann. Somit kann einer Person diese Kompetenz mit Hinweis auf unvollständige Bildung abgesprochen werden. Diese Annahme ist stark damit verbunden, dass die Standardvarietät früh zum schulischen Gegenstand erhoben wurde und dass die Normierung in der Schule ihre primäre Gültigkeitssphäre hat. 7. Aufrechterhaltung: Die häufig geäußerten Bemühungen um die Aufrechterhal‐ tung der Standardsprache folgen der Annahme, dass die Standardvarietät in einer idealen Form aufrechterhalten werden kann. Die Annahme richtet sich häufig gegen den Sprachwandel, der mit Sprachverfall (Plewnia und Witt 2014) gleichgesetzt wird. Mit der Standardsprache werden also ideologisch positiv eingeschätzte Eigenschaften verknüpft (Beal 2016). Diese Eigenschaften sind entweder - wie die Invarianz - nicht real gegeben oder implizieren - wie die Korrektheit - ein Gefälle zwischen der prestigeträchtigen Standardvarietät und anderen Varietäten. Als standardsprachlich angesehene Formen werden zum Bezugspunkt für die Bewertung der Korrektheit, wodurch andere Formen, die mit anderen Varietäten (Dialekten, aber auch weniger prestigehaltigen Standardvarietäten) assoziert sind, abgewertet werden. Die Standard‐ sprache hat den Default-Status (Hennig 2009: 32). Gleichzeitig sind standardsprachen‐ ideologisch auch Sprachnutzerinnen in die Pflicht genommen, von denen positiv bewertete Handlungsziele erwartet werden: Sorgfalt, das Erlernen der standardsprach‐ lich richtigen Formen sowie ihre Aufrechterhaltung durch Nutzung der als korrekt angesehenen Formen. Die Nicht-Verwendung dieser Formen kann mit der Zuschreibung von negativ kon‐ notierten Charaktereigenschaften sanktioniert werden. Dies beobachten Arendt und Kiesendahl (2014) in sprachkritischen Kommentaren in der Internetkommunikation, wo die Verwendung sprachlicher Varianten wie die Dativrektion von wegen mit Spott sanktioniert und explizit fremdkorrigiert wird. Mit dem sprachkritischen Kommentar wie in (23) kann sich die Diskursteilnehmerin als sprachlich kompetente Person insze‐ 94 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="95"?> nieren und mit der Zurückweisung der anderen Person in der Beziehungskonstellation höher positionieren. (23) Sprachkritische Kommentare (aus Arendt und Kiesendahl 2014: 115) - „Also, so geht das nicht, wenn schon, dann: ‚wegen des haesslichen Koeters‘! “ Wenn aufgrund eines bestimmten Sprachgebrauchs Menschen sozial benachteiligt, kategorisiert und negativ bewertet werden, liegt sprachliche Diskriminierung, sog. Linguizismus, vor (Elspaß und Maitz 2011: 2). Sie basiert auf sprachbezogenen Vorurteilen, d. h. negativen Einstellungen gegenüber bestimmten Menschengruppen, die der Realität nicht standhalten und nicht an der Realität überprüft werden. 4.3.4 Wandel der Leitvarietät Ein wichtiger Bestandteil der (historischen) Diskurse über die Standardsprache, wie sie von Grammatikern, Sprachgelehrten, Schriftstellern, Sprachfreunden u.w.m. seit dem 17. Jh. geführt wurden, ist die Annahme einer sozialprestigereichen Leitvarietät. Als eine Varietät, die im Sprachbewertungssystem höher eingestuft wird und dadurch als eine mit Prestige behaftete Zielvarietät den Sprachbenutzerinnen zur (bewussten oder unbewussten) Orientierung im Varietätengeflecht dient, wurde und wird sie als Sprachvorbild wahrgenommen. Als Leitvarietät bezeichnet man die im Sprachbewertungssystem am höchsten eingestufte, daher prestigebehaftete Zielvarietät, die den Charakter eines Sprach‐ vorbilds hat. Das Konzept einer prestigebehafteten Leitvarietät erwuchs aus den sozial bedingten Veränderungen im Sprachbewertungssystem: In der Geschichte des Deutschen lagen die regionalen (hoch- und niederdeutschen) Varietäten bis ins 15. Jh. hinein auf etwa derselben Bewertungsebene - es gab also keine Leitvarietät. Beeinflusst u. a. durch den Niedergang der niederdeutschen Wirtschaftsmacht im 16. Jh., die Stärkung der Territorialstaaten im Zuge der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, die Intensivierung des Handels und die Emanzipation des Bürgertums kam es zu Verschiebungen im Sprachbewertungssystem, die zur Vertikalisierung der Varie‐ täten geführt haben (Mattheier 1981, 2000; Reichmann et al. 1988; Reichmann 1990, 2003; Gardt 2000): Durch die abstufende Bewertung der Varietäten veränderte sich die horizontale (also flache) Bewertungsanordnung der Varietäten zu einer vertikalen (also hierarchischen), an deren Spitze die Varietät der höchsten Bewertungsebene steht, die als Leitvarietät wahrgenommen wurde (s. Abb. 13). 4.3 Diskurse über die Standardsprache 95 <?page no="96"?> V 1 V 2 V 3 V 4 V 5 V 6 V 7 V 8 V n V 1 V 2 V 3 V 4 V n Varietätensystem ohne Leitvarietät Varietätensystem mit einer Leitvarietät Abb. 13: Vertikalisierung im Deutschen - der Wandel von einem Varietätensystem ohne zu einem Varietätensystem mit Leitvarietät (Reichmann 1990: 141) Eine Leitvarietät entsteht durch Veränderungen im Bewertungssystem von Varietäten und ergibt sich im Zuge ihrer Vertikalisierung. In der Geschichte der deutschen Standardsprache verschob sich das Sprachvorbild mehrfach ( Josten 1976, Mattheier 1981, Faulstich 2008, von Polenz 2 2013: 144-192). Im Laufe der Jahrhunderte wechselten sich regionale Vorbilder ab, um zunehmend zugunsten der sozialen (Sprache der Bildungseliten als Vorbild) und medialen (Schrift‐ sprache als Sprachvorbild) Leitvarietät in den Hintergrund zu treten. In Folge von Verschiebungen des wirtschaftlichen, kulturellen und administrativen Gewichts verlagerte sich die regionale Ausrichtung der Leitvarietät vom 16. bis ins 19 Jh. mehrfach: Während im 16. Jh. das sog. „Gemeine Deutsch“, das sich im ökonomisch und kulturell hochentwickelten Raum zwischen Augsburg und Nürn‐ berg herausbildete und anschließend auch in der kaiserlichen Kanzlei verwendet wurde, regionalübergreifend als prestigebehaftete Zielvarietät „im gesamten Süd- und Nordwesten und ansatzweise auch im ostmitteldeutsch-niederdeutschen Raum“ fungierte (Mattheier 1981: 303), gewann im 17. und 18. Jh. das ostmitteldeutsche Meißnisch-Obersächsische den Vorbildcharakter, um ihn dann wieder allmählich zu verlieren. Als neues Lautungsvorbild setzte sich im 19. Jh. die norddeutsche (Hannoveranische) Aussprache durch (Ikenaga, Ehrlich und Conrad 2024). Die Aus‐ handlung von Vorbildern, Leitvarietäten, ging nicht zuletzt mit der Stigmatisierung anderer regionaler Varietäten, darunter des Ober- und des Niederdeutschen, später aber auch des Meißnisch-Obersächsischen einher (Gardt 2 1998, 2000, Faulstich 2008). Das „symbolische Kapital“ (Dürscheid und Schneider 2019: 33-35) und die symbolische „Bürde“, die mit derartigen Vorbildannahmen und Stigmatisierungen von bestimmten regionalen Varietäten verbunden sind, werden bis heute durch sprachideologische Annahmen aktiviert und können bisweilen tragische Folgen haben. So berichtet König (2013: 8) von negativen Entscheidungen über Lektoratskandidatinnen aufgrund ihres bairischen Akzents. 96 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="97"?> Die Verschiebung von regionalen hin zu sozialen (Sprache der Bildungseliten) und medialen (Schriftsprache) Sprachvorbildern kündigte sich früh an. Im Rahmen des im 17. und 18. Jh. (zeitweise sehr intensiv) geführten Sprachnormierungsdiskurses, aus dem viele sprachreflexive Texte, nicht nur Grammatiken und Wörterbücher, sondern auch sprachpflegerische, sprachkritische, rhetorische und sprachhistorische Texte hervorgegangen sind, bildete sich die diskursive Einschränkung der Leitvarietät auf den schriftlichen Sprachgebrauch von Bildungseliten bzw. der Oberschicht und die Stigmatisierung und Distanzierung von der Sprache der „niederen“ Schichten, aber auch des Adels heraus (s. Faulstich 2008: 311-388). Diese Entwicklung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die zentralen Akteure (sog. „ideology brokers“, s. Blommaert 1999: 9; Spitzmüller und Warnke 2011: 110, 179-181), die den Diskurs im 17. und 18. Jh. maßgeblich prägten, aus dem gebildeten Bürgertum stammten, eine schulische und universitäre Ausbildung absolviert hatten und mehrheitlich im Schulwesen oder an den Universitäten beschäftigt waren (Roelcke 2000, Faulstich 2008). Darin gründete ihre Autorität in diesem Diskurs, den sie auch diesbezüglich klar mitgestalteten. Diese Position ist heute nach wie vor Teil des ideologischen Systems rund um die Standardsprache. Adelung bedient sich bspw. in seinen „Grundsätzen der Deutschen Orthographie“ (1782: 47) der Lichtmetaphorik, die er zur Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels und eines auf Bildungsgrad basierten Gesellschaftsmodells mit niederen, mittleren und oberen Klassen anwendet (s. Faulstich 2008: 311-312). „Dunkles“ Sprachbewusstsein assoziert er mit „rohen ungebildeten Zeiten“, „dunkel ist diese Empfindung“ nach Adelung auch „in aufgeklärten Zeiten unter den untern Classen in der Nation; weniger dunkel unter den mittleren, zumahl wenn sie gelernet haben auf den Gang der Sprache aufmerksam zu sehn; am klärsten und deutlichsten bei denen, welche es bis zu klaren und deutlichen Begriffen in der Sprache gebracht haben, deren Anzahl denn aber immer die geringste ist“ (Adelung 1782: 47). Die Dominanz und das hohe Ansehen der von Bildungsschichten benutzten Varietät liegt auch noch heute den sprachideologischen Argumentationsmustern zugrunde. Die Erwartung, dass Gebildete eine höher zu bewertende, angesehene Sprache verwenden, und das gesellschaftlich konstruierte Zuschreibungswissen, welche Formen zur Spra‐ che der Gebildeten gehören, bilden Grundlagen für die Ausgrenzung von Formen, die mit geringe(re)m Bildungsstand assoziiert werden. Die Rolle der Leitvarietät ist historisch wandelbar und wird anhand unterschied‐ licher Parameter realisiert. Sprachvorbilder können regional, sozial oder medial sein. Der geschriebene Standard wird von vielen Sprachbenutzerinnen heute als Leitvarietät angesehen. Die Dominanz des geschriebenen Standards äußert sich darin, dass die 4.3 Diskurse über die Standardsprache 97 <?page no="98"?> grammatischen Formen, die aus der geschriebenen Standardsprache bekannt sind, als Teil der standardsprachlichen Grammatik angesehen und so den Strukturen und grammatischen Regeln der gesprochenen Sprache vorgezogen werden (Fiehler 2007: 462-463, Günther 2012). Das sog. written language bias äußert sich in mangelnder Beachtung und einer von der geschriebenen Standardsprache ausgehenden Art und Weise der (wissenschaftlichen) Betrachtung der gesprochenen Sprache (s. u. Ágel 2003, Linell 2011). Bereits in den historischen Diskursen des 18. Jhs. spielte die Kategorie der grammati‐ schen Richtigkeit eine wichtige argumentative Rolle. Vor allem in den Stillehren wurde die Erwartung gefestigt, dass Texte fehlerfrei sein sollten. In diesem Zusammenhang kamen Forderungen auf, Ausdrücke der „niederen“ Schichten, Provinzialismen oder Archaismen zu vermeiden (Faulstich 2008: 518-519). Die Bezugsgröße für die Bestim‐ mung der grammatischen Richtigkeit bildet also in den meisten Fällen die geschriebene Leitvarietät (s. Kap.-4.2.4). Ammon, Ulrich (1986). Explikation der Begriffe ‚Standardvarietät‘ und ‚Standardsprache‘ auf normtheoretischer Grundlage. In: Holtus, Günter/ Radtke, Edgar (Hrsg.). Sprachlicher Substandard I. Tübingen: Niemeyer, 1-63. Beltrama, Andrea (2020). Social meaning in semantics and pragmatics. Language and Linguistics Compass 14 (9), 1-20. Dürscheid, Christa/ Schneider, Jan G. (2019). Standardsprache und Variation. Tübingen: Narr Francke Attempto. Spitzmüller, Jürgen (2013). Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung: Zur diskur‐ siven Konstruktion sprachideologischer Positionen. Zeitschrift für Diskursforschung (3), 263-287. Spitzmüller, Jürgen (2022). Soziolinguistik: Eine Einführung. Berlin, Heidelberg: J.B. Metzler. 98 4 Soziolinguistische Dimension <?page no="99"?> 5 Dimension der Sprachbewusstheit Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die schulische Relevanz sprachlicher Varianz. Fokussiert wird die Abgrenzung zwischen sprachlichen Zweifelsfällen und Fehlern sowie das Korrekturverhalten der Lehrkräfte. Leitfragen des Kapitels sind: ● Was ist ein Fehler? ● Welche Chancen bietet eine sprachwissenschaftlich fundierte Fehlerkorrek‐ tur? ● Werden Fehler und sprachliche Zweifelsfälle sicher im Korrekturvorgang identifiziert? Bei der Auseinandersetzung mit sprachlichen Zweifelsfällen - ob in der Schule, in der Öffentlichkeit oder im privaten Umfeld - ist zu beachten, dass für einen adäquaten Umgang mit ihnen das eigene „Bauchgefühl“ trügerisch sein kann. Die Introspektion (Selbstbefragung) ist nicht ausreichend, da sie sich auf individuelle Erfahrungen beschränkt, die durch die Beobachtung der eigenen und fremden Sprachhandlungen entwickelt werden. Diese Erfahrungen sind zwar enorm wichtig (wir besitzen eine hohe sprachliche Kompentenz, s. Kap. 2.1), aber bei weitem nicht objektiv, u. a. weil sie in metapragmatischen Diskursen gebzw. verformt werden. Wissenschaftliche Unter‐ suchungen zeigen, dass es häufig eine Diskrepanz zwischen dem wahrgenommenen Sprachzustand und der sprachlichen Realität gibt. Das eigene Sprachgefühl ist „ein durch praktischen Umgang, durch Erfahrung erworbenes gefühlsmäßiges Wissen“ (Gauger und Oesterreicher 1982: 63). Langlotz u. a. (2014: 9) sprechen von unreflek‐ tiertem Wissen, das „intuitiv zur Bewertung von sprachlichen Äußerungen und deren Richtigkeit oder Akzeptabilität herangezogen wird“. Da es sich beim Sprachgefühl um Emotionen handelt (Fiehler 2014), ist es umso wichtiger, dieses sprachwissenschaftlich zu hinterfragen und Sprache bewusst zu analysieren. Dies geschieht, wenn statt dem intuitiven Sprachgefühl (auch Sprachbewusstsein), das „sprachliche Phänomene ohne bewusste Reflexion über Sprache zu beurteilen ermöglicht“ (Hohm 2005: 71), die reflexive Fähigkeit, über Sprache und ihren Gebrauch bewusst nachzudenken (sog. Sprachbewusstheit) eingesetzt wird (Spitta 2000), s. Kap.-2. Zur Sprachbewusstheit gehört die Unterscheidung zwischen sprachlichen Zweifels‐ fällen und Fehlern. Diese Kompetenz ist bei Lehrkräften besonders relevant, um die standardsprachliche Bildung adäquat zu fördern und zu begleiten. <?page no="100"?> 5.1 Was ist ein Fehler? Fehler können generell als Abweichungen von einer Anforderung oder einer Erwar‐ tung bezeichnet werden. Eine solche Fehlerdefinition trifft nicht nur auf Sprache, sondern auch auf andere Lebensbereiche wie Medizin, Technologie oder Sport zu, wenn bspw. brückenbauliche Anforderungen oder eine erwartbare Qualität in einer sportlichen Standardsituation nicht erfüllt werden (Schneider 2013: 35). Fehler stellen Abweichungen von einer Anforderung oder einer Erwartung dar. Sprachliche Fehler müssen grundsätzlich danach unterschieden werden, wovon im konkreten Fall abgewichen wird. Auf dieser Basis lassen sie sich in System- und Normfehler klassifizieren (Eisenberg und Voigt 1990; Eisenberg 2007; Ágel 2008). Ein Systemfehler liegt dann vor, wenn von den Regularitäten des Sprachsystems abgewichen wird wie in *Der Nussbaum spenden im Sommer viel Schatten. Eine kompe‐ tente Sprecherin erwartet die systemisch erforderliche Numeruskongruenz, wodurch das Subjekt des Satzes Nussbaum und das flektierte Verb (spenden) miteinander bezüg‐ lich des Numerus übereinstimmen. Die Kombination aus dem Subjekt im Singular und dem Verb im Plural verstößt gegen diese Regularität. Dort liegt der Systemfehler vor, der dazu führt, dass der Satz ungrammatisch ist. Dies wird mit dem Asterisk * angezeigt. Um diesen Fehler zu korrigieren, reicht der kompetenten Sprecherin der Zugriff auf das implizite Sprachwissen, also ihre prozedurale Sprachkompetenz (s. Kap. 2.1.1). Wenn die Regel zusätzlich auch formuliert werden kann, ist sie auch Bestandteil des expliziten Wissens einer Sprecherin und damit ihrer deklarativen Sprachkompetenz (s. Kap. 2.1.2). Solche Regelverstöße werden von kompetenten Sprecherinnen und Schreiberinnen meist selbst korrigiert, weswegen sie auch in den Referenzkorpora des Standarddeutschen kaum zu finden sind. Systemfehler verstoßen gegen die Regularitäten des Sprachsystems und führen zu ungrammatischen Strukturen. Zwar trifft es auf die meisten Systemfehler zu, dass sie „unter allen Umständen Fehler“ (Eisenberg 2007) bleiben. Einige wenige gegen das grammatische System verstoßende Strukturen wie bspw. eines Nachts gehören jedoch zum Sprachgebrauch (Ágel 2008: 67). Aus der systemlinguistischen Perspektive handelt es sich hierbei um einen Genusfehler, denn Nacht ist feminin, eines Nachts weist aber die grammatischen Merkmale eines Neutrums bzw. Maskulinums im Genitiv Singular auf. Da eines Nachts gebräuchlich ist, wird es anders als bpsw. *eines Mutters oder *eines Hands von den Sprachnutzerinnen nicht als Abweichung wahrgenommen. 100 5 Dimension der Sprachbewusstheit <?page no="101"?> Nicht alle Strukturen jedoch, die grammatisch auffällig sind, lassen sich als System‐ fehler kategorisieren. Häufig lassen sie sich wie bpsw. die Verwendung des Hilfsverbs haben bei Bewegungsverben wie schwimmen auf Regelkonflikte im Sprachsystem zurückführen (s. Kap. 3.1.1). Im Falle von sprachlichen Varianten wie Sie hat (neben Sie ist) den ganzen Tag geschwommen, die auf Regelkonflikte zurückführbar sind, liegt kein Systemfehler vor. Vielmehr wird unter bestimmten Bedingungen eine grammatische Norm verletzt. Diese kann als der Normalfall definiert werden, der sich daraus ergibt, dass bpsw. Bewegungsverben prototypischerweise sein-flektieren (vgl. Ágel 2008: 66). Abweichende, periphere Regeln verstoßen gegen „normale Realisierungen“ (Ágel 2008: 64-66). Sie können als Normfehler betrachtet werden, die nach Eisenberg und Voigt (1990: 14) Ausdrucksweisen darstellen, „die zwar vom System her möglich sind, die aber gegen Festlegungen verstoßen, die direkt oder indirekt in der Sprachgemeinschaft vertreten werden“. Der Begriff Sprachnorm ist bereits in Kap. 4.2.3 eingeführt worden. Hier sei nur kurz rekapituliert: Sprachnormen sind soziale Verpflichtungen, die die Bildung, Verwendungsabsicht und Evaluation sprachlicher Einheiten regulieren. Sie dienen bei sprachlichen Handlungen zur Orientierung, wobei sie explizit in Sprachko‐ dizes formuliert oder implizit (subsistent) sein können. Normfehler sind grammatische Strukturen, den gegen Sprachnormen versto‐ ßen. Nicht selten weichen subsistente Normen von den in Sprachkodizes formulierten ab. So sind die kurze und lange Genitivform wie in des Weines oder des Weins zweifellos beide grammatisch und auch so kodifiziert (s. Kap. 3.2). Aus dem Diskursfragment in (24) lassen sich zwei konfligierende subsistente Normen ermitteln. Eine davon, eine diaphasische Distributionsnorm, lässt die lange Genitivform im formelleren und die kurze im informelleren Kontext erwarten. Diese formuliert eine Diskursteilnehmerin der Ratgeber-Community gutefrage.net mit der Begründung, dass der lange Genitiv „eleganter und gebildeter“ sei. Die andere, konfligierende Norm sieht die Weglassbar‐ keit des Vokals e vor, „[w]enn es sich gut sprechen lässt“ (s. Szczepaniak 2014: 35): (24) Diskursfragment zur Genitivform (aus Szczepaniak 2014: 35). Beitrag von c… (10.7.2007) - So kenne ich es auch. Wenn es sich gut sprechen lässt, kann man das „e“ weglassen. Aber Mords wird doch auch häufig benutzt statt Mordes. Allerdings würde ich, wenn ich einen Brief schreibe oder auch Schüler einen Aufsatz o.ä. schreiben, eher mehr zu der Form mit „e“ neigen, es klingt eleganter und gebildeter. Nur in der Umgangssprache würde ich es weglassen bis auf die wenigen Ausnahmen bei schwieriger Aussprache. Ähnliche Distributionsnormen werden auch in Sprachkodizes formuliert, z. B. in Bezug auf die Kasusrektion von Präpositionen. 5.1 Was ist ein Fehler? 101 <?page no="102"?> Die Normfehler stellen Verstöße gegen Normen mit verschiedener sozialer Geltung dar. Verletzungen subsistenter Normen sind zwar per definitionem Normfehler, können aber nicht mit Verletzungen expliziter Normen gleichgesetzt werden. Bei Letzteren wiederum sollte zwischen Verstößen gegen in Sprachkodizes beschriebene (deskrip‐ tive) Normen und solchen gegen verordnete und verbindliche (präskriptive) Normen (wie die orthographischen Normen im Amtlichen Regelwerk der Rechtschreibung) unterschieden werden. Bei der Bestimmung der Normfehler sollte auch die graduelle Gültigkeit der Normen beachtet werden. So sind standardsprachliche Rechtschreibnormen im schulischen Aufsatz hochgradig gültig, geringer aber für die Werbung auf Kreidetafeln vor Restau‐ rants und Cafés. Normautoritäten wie Lehrkräfte sind dazu angehalten, Normfehler wie die Nichtbefolgung von Phonem-Graphem-Korrespondenzen [ i: ] - <ie> in Gebiet, Betrieb, fliehen in Aufsätzen zu korrigieren und diese damit auch durch die Benotung zu sanktionieren. Bei gleichen Normverstößen auf Kreidetafeln z. B. B E T R IB S U R LAU B ist dieses sanktionierende Verhalten nicht angemessen, ja unhöflich. Vorausgesetzt, der Normverstoß wird überhaupt wahrgenommen, kann man wohl eher attitüdinale Sanktionsformen erwarten, z. B. Zuschreibung von negativ konnotierten Eigenschaften an das Personal oder die Leitung des Restaurants. Schließlich ist noch zu beachten, dass Normen der Standardvarietät eine höhere Wertigkeit genießen als Normen anderer Varietäten, so dass sie als präskriptive Normen mit der absoluten Geltung für andere Varietäten wahrgenommen werden (Hennig 2012). Aus diesem Grund werden Verstöße gegen diese hierarchisch höher stehende, präskriptive Norm auch in anderen Varietäten zu Normfehlern. Bei sprachlichen Zweifelsfällen handelt es sich nicht um Systemfehler, denn die sprachlichen Varianten sind grammatisch richtig. Vielmehr haben bestimmte sprach‐ liche Varianten das Potential als Normverstöße wahrgenommen und können daher lediglich als Normfehler betrachtet werden (s. auch Ágel 2008). 5.2 Fehler und sprachliche Kompetenz Fehler werden gewöhnlich nicht absichtlich gemacht - es sei denn, es handelt sich bpsw. um spezifische Situationen wie Wortspiele. Geschehen sie trotzdem, so handelt es sich häufig um Performanzfehler, d. h. Flüchtigkeitsfehler (Tippfehler, Versprecher u.ä.). Wenn sie auf die sprachliche Kompetenz zurückgeführt werden, dann werden sie als Kompetenzfehler bewertet (Ramge 1980: 1-2). Die Klassifizierung einer Abweichung als Kompetenz- und Perfomanzfehler ist davon abhängig, wie die sprachliche Kompetenz einer Person beurteilt wird. Von Personen mit weitgehend abgeschlossenem Spracherwerb werden Kompetenzfehler nicht erwartet. Wenn sie dennoch vorkommen, sind sie für Hörerinnen auffällig. So zeigen Hanulíková et al. (2012), dass L1-Sprecherinnen grammatische Systemfehler an‐ derer L1-Sprecherinnen, also Sprecherinnen ohne wahrnehmbaren fremdsprachlichen Akzent, deutlich wahrnehmen. Bei Personen, die eine Sprache als L2 erlernen und einen 102 5 Dimension der Sprachbewusstheit <?page no="103"?> fremdsprachlichen Akzent haben, werden Kompetenzfehler in der Sprachproduktion hingegen erwartet und bei der Verarbeitung nicht wahrgenommen. Aus sprachdidaktischer Perspektive können Kompetenzfehler als diagnostische Grundlage dienen, d. h. als „Hinweise und Hilfen, mit denen in einer Gesamtschau das System der inneren Regeln, die der [K]ompetenz eines bestimmten Lerners zu einem gegebenen Zeitpunkt zugrunde liegen, rekonstruiert werden kann“ (Siekmann und Thomé 2 2018: 10). Siekmann und Thomé beziehen sich zwar auf Rechtschreib‐ kompetenz, ihre Perspektive kann aber auf andere Kompetenzbereiche ausgedehnt werden. Die systemischen Regularitäten werden dabei als dynamische, sich veränder‐ bare Größen angesehen, die im Laufe des Spracherwerbs weiterentwickelt werden. Die Kompetenzfehler können als Zonen der nächsten Entwicklung gewertet und so anstehende Fördermaßnahmen aufzeigen (Vygotskij 1964: 259). Sprachfehler sind immer Diagnoseergebnisse. Sie setzen eine kontrollierende und ggf. sanktionierende Instanz voraus, die eine Äußerung in der sozialen Interaktion zum Fehler erhebt (Ramge 1980: 3). Die Fehlererzeugung ist nur ein Bestandteil im Gesamtprozess der „Herstellung von sprachlichen Fehlern“ (Ramge 1980: 3). Sie bleibt interaktional belanglos, wenn ihr nicht die Fehlerwahrnehmung durch die Lehrkraft o.Ä. folgt. Nicht nur die Lehrkräfte können die Funktion einer kontrollierenden (und sanktionierenden) Instanz übernehmen. Eine solche soziale Rolle liegt jeder sprachkritischen Äußerung inne, ob in Online-Foren oder am Abendbrottisch. Kompetenzfehler werden als Abweichung von der erwarteten sprachlichen Kompetenz der Produzierenden wahrgenommen. Ihre Wahrnehmung setzt eine asymmetrische soziale Interaktion voraus, in der es eine kontrollierende und sanktionierende Instanz gibt. An die Fehlerwahrnehmung schließt eine Fehlerhypothese an (Hennig 2012: 130), die abhängig von der Erwartung der korrekten Zieläußerung ist, die die korrigierende Person bildet. Eine konkrete Äußerung kann daher unterschiedlich interpretiert wer‐ den. So zeigt Hennig (2012), dass beim Korrigieren der Äußerung es handelt sich um ein Unfall beim Sprung vom Dreimeterbrett unterschiedliche Zielhypothesen vorlagen, weswegen um ein Unfall als eine grammatische Abweichung (falsche Markierung des Akkusativ Singular von Unfall), als eine orthographische Abweichung, die die gesprochene Form verschriftlicht, oder als ein Worwahlfehler (Unfall statt Unglück) bewertet wurde. Korrekte Zieläußerungen sind darüber hinaus von der Systemkennt‐ nis und dem Normbewusstsein der korrigierenden Person abhängig. Dabei tendieren viele Lehrkräfte, aber auch viele alltägliche Sprachkritikerinnen häufig zum strengen Normverständnis (Hennig 2012: 125). Mit der expliziten Fehlerkorrektur wird nun die Äußerung als Fehler identifiziert, was sich im schulischen Kontext auf die Bewertung der Gesamtleistung auswirkt und schlussendlich weitere Fehlerfolgen haben kann 5.2 Fehler und sprachliche Kompetenz 103 <?page no="104"?> (z. B. die auf Noten basierende, weitreichende Entscheidung über den weiteren Bildungsweg). Im institutionellen Kontext können andere Sanktionen folgen, die den Berufsweg beeinflussen. Der Fehlerkreislauf sollte im Idealfall durch Fehlerreparatur abgeschlossen werden, die im schulischen Kontext lernfördernd wirken sollte (Hennig 2012: 131). Im außerschulischen Kontext kann der Fehlerreparatur begegnet werden, indem bspw. die Expertenrolle der sanktionierenden Person in Frage gestellt wird. Fehlererzeugung Fehlerwarnung Fehlerhypothese Fehlerkorrektur Fehlerfolgen Fehlerreparatur Abb. 14: Fehlerkreislauf (Hennig 2012: 129) Eine Fehlerhypothese ist abhängig davon, welche Zielstruktur die korrigie‐ rende Instanz erwartet. Sie eröffnet einen Fehlerkreislauf, der neben der Korrek‐ tur und den Sanktionen als Folgen auch eine Reparatur enthalten sollte. Sprachliche Zweifelsfälle werden meist als Kompetenzfehler bewertet und korrigiert. Die Fehlerreparatur basiert gewöhnlich auf einem strengen Normverständnis, gestützt durch substistente Normen der Standardsprache, die den beschreibenden Normen der Sprachkodizes nicht entsprechen (s. Eisenberg und Voigt 1990: 11). Die in der Fehlerkorrektur angebotene Alternative folgt dann der präskriptiven Norm. Dies steht im Konflikt mit dem Sprachgebrauch und kann zu sprachlicher Unsicherheit, d. h. einer Geringschätzung des eigenen Sprachgebrauchs führen, was gerade im schulischen Kontext zu vermeiden ist. 104 5 Dimension der Sprachbewusstheit <?page no="105"?> 5.3 Korrekturverhalten der Lehrkräfte Untersuchungen zum Korrekturverhalten der Lehrkräfte zeigen, dass weder die Fest‐ stellung von Systemfehlern übereinstimmend geschieht noch eine sichere Trennung zwischen Systemfehlern und sprachlichen Zweifelsfällen gezogen wird. Hier sollen exemplarisch zwei Studien betrachtet werden: In einem Korrekturtest legt Hennig (2012) 15 Lehrkräften, zwei Refendarinnen und 23 Germanistikstudierenden einen Text vor, der als Produkt einer Sechstklässlerin eingeführt wird. Die Anzahl der im Text diagnostizierten Fehler schwankt individuell sehr stark von 5 bis 30 Fehlern. Auch ein klarer Systemverstoß der Schriftsprache es handelt sich um ein Unfall beim Sprung vom Dreimeterbrett wurde nicht von allen Probandinnen korrigiert: 91,3% der Studierenden und 88,2% der Lehrkräfte und Referendarinnen haben hier zum Stift gegriffen. Die restlichen Probandinnen haben die Äußerung im Korrekturprozess nicht als Fehler wahrgenommen. Weiterhin stellt Davies (2000, 2005) fest, dass das Normwissen der Lehrkräfte nicht mit dem Kodex übereinstimmt und sie selbst nicht immer (wie häufig erwartet) normkonform handeln. Über ein ähnlich schwankendes und unsicheres Korrekturverhalten berichten auch Kunow und Müller (2021), die sich in ihrer Studie explizit mit sprachlichen Zweifelsfäl‐ len beschäftigen, wobei sie neben einem Korrekturtest auch einen sprachreflexiven Teil analysieren. Den Probandinnen, rekrutiert in zwei Masterseminaren (42 Personen) und einem Bachelorseminar (17 Personen), wird ein fiktiver Schülertext der gymnasialen Oberstufe zur sprachformalen Korrektur präsentiert. Für die Klassifikation von Fehlern stehen ihnen vier Typen von Korrekturzeichen zur Verfügung: A (Ausdruck/ Stil), Gr (Grammatik), R (Rechtschreibung/ Orthographie) und Z (Interpunktion/ Zeichenset‐ zung). Der Text enthält Instanziierungen von drei sprachlichen Zweifelsfällen, darunter die Kasusrektion bei Sekundärpräpositionen. Neben den sprachlichen Zweifelsfällen sind im Text orthographische und Interpunktionsfehler sowie ungeschickte Formulie‐ rungen enthalten. Das Korrekturverhalten bei der schwankenden Kasusrektion wird bezüglich einer Genitiv- und einer Dativrektion überprüft: Während die Genitivrektion in Ines besucht Winfried wegen des Tods der Großmutter zu 92 % nicht als fehlerhaft wahrgenom‐ men und nicht korrigiert wird, wird die Dativvariante in Wegen dem Schuss-Gegen‐ schuss-Prinzip kommt Hektik in die eher ruhige Szene zu 73 % als Fehler wahrgenommen und zu Genitivrektion korrigiert. Für die Kategorisierung des wahrgenommenen Fehlers, die zwischen einem orthographischen, einem grammatischen und einem Ausdrucksfehler schwankt, wird stets die Form dem markiert. Im anschließenden Reflexionsteil folgt auf die Frage nach der Definition von sprachlichen Zweifelsfällen die explizite Bitte um Korrekturvorschläge zu bestimmten Stellen im Text. An dieser Stelle entscheiden sich noch mehr Personen, die Dativzu Genitivrektion zu korrigieren. Es fehlen jedoch etwaige Hinweise auf Gebrauchs‐ unterschiede zwischen beiden Varianten, woraus die Autorinnen schlussfolgern: „Va‐ riantenbewusstsein scheint […] kaum ausgebildet zu sein“ (Kunow und Müller 2021: 360). 5.3 Korrekturverhalten der Lehrkräfte 105 <?page no="106"?> Eine sprachwissenschaftlich fundierte Korrektur müsste bei der Fehlerwahrneh‐ mung mit einer Unterscheidung zwischen klaren System- und möglichen Normfehlern ansetzen. Bei Normfehlern wäre es empfehlenswert, die „Fehlerhypothese“ deutlich als Variantenwahl zu formulieren und in der „Fehlerreparatur“ die Reflexion über die Gebrauchskontexte von sprachlichen Varianten zu führen. Beiträge in Müller und Szczepaniak (2017) bieten zu ausgewählten sprachlichen Zweifelsfällen passende Unterrichtsmodelle mit Übungen an. Eisenberg, Peter/ Voigt, Gerhard (1990). Grammatikfehler? Praxis Deutsch 17, 10-15. Müller, Astrid/ Szczepaniak, Renata (Hrsg.) (2017). Grammatische Zweifelsfälle. Seelze: Friedrich. Ramge, Hans (1980). Fehler und Korrektur im Spracherwerb. In: Cherubim, Dieter (Hrsg.). Fehlerlinguistik. Beiträge zum Problem der sprachlichen Abweichung. Tübingen: Max Niemeyer, 1-22. Schneider, Jan Georg (2013). Sprachliche ‚Fehler‘ aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Sprachreport 2013/ 1-2, 30-37. 106 5 Dimension der Sprachbewusstheit <?page no="107"?> 6 Gesamtbetrachtung Dieses Kapitel führt die Erkenntnisse des ersten Teils des Buches für eine Gesamt‐ betrachtung des Phänomens der sprachlichen Zweifelsfälle zusammen. Auf dieser Basis wird eine Definition der sprachlichen Zweifelsfälle vorgeschlagen. Leitfragen des Kapitels sind: ● Sind alle sprachlichen Varianten auch Zweifelsfälle? ● Können nur formseitig teilidentische Varianten zu Zweifelsfällen führen? ● Welche Relevanz hat Sprachbewusstheit für sprachliche Zweifelsfälle? ● Wie tragen sprachliche Zweifelsfälle zur sprachlichen Unsicherheit bei? Die im Teil A vorgestellten Dimensionen der sprachlichen Zweifelsfälle erfordern eine abschließende Gesamtbetrachtung, die in eine diese Dimensionen umfassenden Definition des Phänomens mündet. Diese Definition soll der Tatsache Rechnung tragen, dass sprachliche Variation keine hinreichende Bedingung für sprachliche Zwei‐ felsfälle ist: Nicht alle sprachlichen Varianten führen zu Zweifeln. Denn grundsätzlich macht die Möglichkeit, eine alternative Form mit gleicher semantischen Bedeutung zu wählen, das kommunikative Potential einer Sprache aus. Sprachliche Variation ist „ein wichtiges Gütekriterium“ einer Sprache (Ammon 1986: 29). Sprachliche Zweifelsfälle gehen auf den Zustand der Unbestimmtheit zurück, in dem eine der Kommunikationssituation angemessene Zuordnung von Bedeutung und Form nicht eindeutig vorgenommen werden kann. Die nicht eineindeutige Zuordnung ergibt sich dann, wenn die Form oder Bedeutung eine linguistische Variable darstellt, d. h. wenn ihr mehrere Varianten zugeordnet wer‐ den können. Linguistische Variablen können verschiedene Ebenen des Sprachsystems betreffen (von der Phonetik bis hin zur Syntax), z. B. der kurze und lange Genitiv von Wein (Weines/ Weins). Es können auch pragmatische Variablen auftreten wie im Falle des pragmatischen Zweifelsfalls der Anredepronomina du/ Sie. Hier werden soziale Dimensionen wie relatives Alter oder hierarchische soziale Beziehung zwischen Kommunizierenden zu Variablen, die nicht klar einer Form (du/ Sie) zugeordnet werden können. Schließlich können linguistische Variablen bei mehrsprachigen Personen auch interlingual sein, wenn bspw. zwei schriftliche Formen nicht klar der jeweiligen Sprache zugeordnet werden können. Sprachliche Varianten bei Zweifelsfällen können sich formal ähneln, also - wie in der Definition von Klein (2003) (auf S. 18) formuliert - „formseitig teilidentisch“ sein. Dies ist bei der Genitivendung -s und -es der Fall. Die Varianten können aber auch formal ganz unterschiedlich sein wie Perfekthilfsverben sein und haben. Wichtig ist vielmehr, dass die Ausdrücke einer linguistischen Variable angehören, z. B. Genitiv Maskulinum/ Neutrum Singular oder Perfekthilfsverben. <?page no="108"?> Sprachliche Varianten befolgen grammatische Regeln des Sprachsystems, die mit‐ einander konfligieren. Regelkonflikte sind Grundlage vieler sprachlicher Zweifelsfälle, so auch bspw. beim Gebrauch starker und schwacher Flexionsformen bei einsilbigen Maskulina wie mit dem Held(en) oder mit dem Bär(en). Sprachliche Varianten sind, wenn sie grammatische Regeln befolgen, grammatisch. Ihr tatsächlicher, oft schwankender Gebrauch bewirkt, dass sie sich in der Akzeptabi‐ lität unterscheiden. Dies trifft u. a. auf die Dativrektion von Präpositionen wie wegen zu, die Teil des standardsprachlichen Sprachgebrauchs sind, jedoch eine geringere Ge‐ brauchshäufigkeit aufweisen als die Genitivvarianten. Die individuelle Einschätzung, dass eine Variante im Sprachgebrauch vorkommt oder vorkommen kann, deckt sich nicht mit ihrer Grammatikalität. Sprachliche Varianten können sozial bedeutsam sein. Ihre soziale Indexikalisierung und ihre Registrierung als (nicht) standardsprachlich sind (in vielen Fällen) ein integraler Aspekt von sprachlichen Zweifelsfällen. Viele sprachliche Zweifelsfälle wie die Genitiv-/ Dativrektion von Präpositionen gehen auf soziale Indexikalisierung und Stigmatisierung von Varianten zurück. Die Registrierung als standardsprachlich unterscheidet sich aufgrund der sozialen Wertigkeit der Varietäten von anderen Registrierungen. Sie hängt mit Prestige, Bildung usw. der Sprachnutzerinnen zusammen, ermöglicht Bewertung und bewirkt Zweifel oder Ablehnung. Sprachliche Zweifelsfälle sind überindividuell. Sie sind Gegenstand metapragmati‐ scher Diskurse mit großem Wirkungsradius, bspw. in Grammatiken, in den Schulen, in der populärwissenschaftlichen Literatur und Massenmedien und sozialen Medien. Die Reflexion über sprachliche Varianten ist eng mit den metasprachlichen Dis‐ kursen verknüpft. Das reflexive Sprachwissen (die Sprachbewusstheit) entscheidet darüber, ob ein sprachlicher Variationsfall zum Zweifelsfall bei einem Individuum wird. Sprachliche Zweifelsfälle sind sprachliche Varianten, die sich im Selektionsprozess befinden. In der Kodifizierung werden sie nicht als gleichwertige Varianten nebenein‐ ander gestellt, sondern stigmatisiert. Sprachliche Zweifelsfälle sind keine Systemfehler. Sie sind nicht ungrammatisch. Sie verletzten lediglich Sprachnormen, die v. a. in ihrer subsistenten Art besonders präskriptiv sind. Sprachliche Zweifelsfälle weisen weiterhin eine Diskrepanz zwischen der Gramma‐ tikalität und der Angemessenheit auf. Varianten werden als ungrammatisch, aber in bestimmten, v. a. weniger formellen Kommunikationssituationen als angemessen bewertet. Im Korrekturvorgang wird bei sprachlichen Zweifelsfällen eine Fehlerhypothese aufgestellt, die eine grammatische Variante als grammatischen Fehler klassifiziert. Die Fehlerkorrektur und -reparatur basiert auf einem strengen Normverständnis. Sprachkritische Korrekturen von Normfehlern können zur sprachlichen Unsicher‐ heit, d.-h. der Geringschätzung des eigenen Sprachgebrauchs führen. 108 6 Gesamtbetrachtung <?page no="109"?> Sprachliche Zweifelsfälle sind Ausprägungen einer linguistischen Variable im Zustand der Unbestimmtheit, die in diskursiver Aushandlung soziale Bedeutsam‐ keit erlangen und zur sprachlichen Unsicherheit führen können. Sprachliches Zweifeln ist an den Grad der Sprachbewusstheit gekoppelt. 6 Gesamtbetrachtung 109 <?page no="111"?> B Untersuchungsperspektiven der sprachlichen Zweifelsfälle <?page no="113"?> 7 Grammatik und Sprachgebrauch In diesem Kapitel werden vier ausgewählte sprachliche Zweifelsfälle grammatisch eingeordnet und in ihrem tatsächlichen Sprachgebrauch der aktuellen Forschung folgend analysiert. Betrachtet werden Schwankungen beim Präpositionalkasus, zwischen starker und schwacher Verbflexion und bei der Flexion von sog. schwa‐ chen Maskulina sowie der Gebrauch des sog. am-Progressivs. Leitfragen des Kapitels sind: ● Wie unterscheiden sich der Genitiv und der Dativ formal und funktional voneinander? Wie werden sie als Präpositionalkasus gebraucht? ● Welche Regelkonflikte liegen der schwankenden Verbflexion zugrunde? Wie äußert sich das im Gebrauch? ● Welche Besonderheiten weisen die sog. schwachen Maskulina auf ? Was steuert den Abbau der schwachen Flexionsmerkmale im Gebrauch? ● Welche Funktion übt der sog. am-Progressiv aus? Wann wird er in der Standardsprache gebraucht? 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 7.1.1 Grammatische Beschreibung Grammatisch grundlegend für die Auseinandersetzung mit der schwankenden Kasus‐ rektion von Präpositionen wie dank bspw. in dank dem Telefonat oder dank des Telefonats ist die Frage nach formalen und funktionalen Unterschieden zwischen Nominalphrasen im Genitiv und Dativ (s. Kap. 7.1.1.1 und 7.1.1.2). Weiterhin ist für die Erfassung der Variation wichtig zu betrachten, was Präpositionen auszeichnet, die Kasusschwankungen aufweisen (s. Kap.-7.1.1.3). 7.1.1.1 Formale Unterscheidbarkeit von Genitiv und Dativ In der Nominalphrase werden beide Kasus, Genitiv und Dativ, unterschiedlich markiert. Tabelle 14 zeigt, dass der Genitivmarker am Artikel oder anderen Determinierern (z. B. dem Demonstrativ) als s-haltige Endung im Singular Maskulinum und Neutrum (des/ eines/ dieses usw. Spiels) hinzutritt, seltener kommt hier eine n-haltige Endung wie in jeden Spiels vor (Hübener und Szczepaniak 2024). Im Singular Femininum und im Plural hat der Genitiv die Form einer r-haltigen Endung (der/ einer/ dieser usw. Hand). Der Genitiv ist der einzige Kasus, der bei starker Flexion im Singular auch am maskulinen oder neutralen Nomen markiert werden kann, z.B. des Spiels. Bei schwachen Maskulina (in Tab. 14 ausgespart) wie der Löwe (Nom.), aber des Löwen (Gen.), dem Löwen (Dat.), <?page no="114"?> den Löwen (Akk.) gibt es am Nomen keine eindeutige Genitivmarkierung, da die n-Endung Löwe-n auch im Dativ und Akkusativ auftritt. Schwachen Maskulina ist ein gesondertes Kap.-7.3.1 gewidmet. Der Dativ wird bei starken Maskulina und Neutra im Singular am Artikel und Adjektiv, nicht aber am Nomen regelhaft markiert - in festen Wendungen tritt aber am Nomen ein Dativ-e hinzu (z. B. von Rat - zu Rate ziehen, vom Schild - im Schilde führen usw.). Im Plural wird am Nomen in allen Genera wiederum nur der Dativ durch die n-Endung gekennzeichnet, z.-B. die Spiele - (mit) den Spielen. Bei Nomina mit dem (e)n- und s-Plural bleibt diese Dativendung aus, z. B. die Autos - (mit) den Autos, die Hemden - (mit) den Hemden. Der Genitiv wird im Plural nicht am Nomen markiert. Die Gegenüberstellung starker Feminina, Maskulina und Neutra in Tabelle 14 verdeutlicht, dass im Singular der Genitiv vom Dativ nur in den Maskulin- und Neutrumformen unterscheidbar ist. Diese Zellen sind in der Tabelle grau markiert. Ähnlich verhalten sich im Singular gemischte Maskulina und Neutra (mehr zur starken, gemischten und schwachen Flexion s. Kap. 7.3.1.1). Bei allen Feminina lauten die Form des Artikels (oder eines anderen Determinierers) als auch die Form des Nomens im Genitiv (der Hand) und Dativ (der Hand) gleich. Im Plural werden beide Kasus formal am Determinierer markiert. Am Nomen ist die n-haltige Dativendung auf Substantive eingeschränkt, die keine n-haltigen Pluralsuffixe haben wie Spiel - Spiel-e, daher der Spiele (Genitiv) und den Spielen (Dativ). Ansonsten wird die Kasusmarkierung bei Plural auf -(e)n und -s (der/ den Autos, der/ den Karten) nur am Determinierer formal gesichert. Genitiv und Dativ werden an unterschiedlichen Stellen in der Nominalphrase formal markiert. Im Singular wird der Genitiv nur bei starken und gemischten Maskulina und Neutra am Nomen gekennzeichnet. - Singular Plural Genus Kasus Femininum Maskulinum Neutrum alle Genera Nominativ die Hand der Wein das Spiel die Spiele Genitiv der Hand des Weins des Spiels der Spiele Dativ der Hand dem Wein dem Spiel den Spielen Akkusativ die Hand den Wein das Spiel die Spiele Tabelle 14: Formale Unterscheidung zwischen Genitiv und Dativ (außer schwacher Maskulina) 114 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="115"?> 7.1.1.2 Syntaktische Funktionen von Genitiv und Dativ im Vergleich Die Kasus Genitiv und Dativ werden im Standarddeutschen zum Ausdruck von unterschiedlichen syntaktischen Funktionen gebraucht. In Tabelle 15 werden die wichtigsten Funktionen zusammengestellt (zu weiteren Funktionen s. Zifonun et al. 1997: 1294-1296). Es fällt auf, dass beide Kasus unterschiedliches Gewicht beim Ausdruck dieser Funktionen haben. Die randständigen Funktionen sind in Tabelle 15 grau markiert. Im Folgenden werden zunächst diese Funktionen besprochen, bei denen einer der beiden Kasus, also entweder Genitiv oder Dativ, die funktionale Hauptlast übernimmt. Die größte funktionale Überschneidung gibt es zwischen Genitiv und Dativ als präpositionalen Rektionskasus. Syntaktische Funktionen Genitiv Dativ Objekt (im Rückgang begriffen) eines Ratschlags bedürfen ja jemandem helfen Ergänzung von Adjek‐ tiven/ Partizipien (im Rückgang begriffen) des Lesens kundig ja dem Brauch treu Attribut ja die Unterschrift des Vaters (umgangssprachlich) (dem Vater seine Unter‐ schrift) Präpositionaler Rektionskasus ja anhand des Beispiels ja beim/ vom Vater Tabelle 15: Syntaktische Funktionen des Genitivs und des Dativs im Vergleich Genitiv und Dativ teilen sich funktionale Aufgaben in der Syntax. Während bei den meisten funktionalen Aufgaben jeweils ein Kasus die funktionale Hauptlast trägt, werden beide Kasus in der Funktion des Rektionskasus von Präpositionen verlangt. Objekte und Ergänzungen von Adjektiven/ Partizipien: Objekte können im Stan‐ dardeutschen in allen obliquen Kasus auftreten - es gibt daher Genitiv-, Dativ- und Akkusativobjekte (s. Duden-Grammatik 9 2016: 825-836). Am häufigsten sind Akkusativobjekte, da sie von vielen transitiven Verben wie pflanzen, fällen, lesen oder werfen verlangt werden, um den von der verbalen Handlung am stärksten betroffenen Partizipanten zu markieren, z. B. den Baum, die Einleitung oder den Stein in Sie pflanzen/ fällen den Baum, Sie lesen die Einleitung, Sie werfen den Stein (s. Hopper und Thompson 1980). Während Akkusativobjekte ein großes Spektrum an Substantiven zulassen, die sowohl belebte als auch unbelebte Entitäten bezeichnen, treten als Dativobjekte v. a. Menschenbezeichnungen auf. Dies liegt daran, dass diese v. a. 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 115 <?page no="116"?> als Benefizienten (jemandem helfen/ schaden), Experiencer (jemandem gefallen), Rezipienten (jemandem etwas geben) oder Possessoren (jemandem gehören) einer verbalen Handlung auftreten (s. Duden-Grammatik 9 2016: 829-832 für weitere Funktionen). Zu den Akkusativ- oder Dativobjekten gehören auch Ergänzungen von prädikativ gebrauchten Adjektiven oder Partizipien wie gewohnt, wert, treu, bekannt, z. B. sie war den Anblick (= Akkusativobjekt) gewohnt, es war eine Reise (= Akkusativobjekt) wert, er war ihm (=-Dativobjekt) treu/ bekannt. Während Dativ und Akkusativ als Objektkasus produktiv sind, sind Genitivobjekte sprachhistorisch betrachtet im Rückgang begriffen. Dies betrifft den Genitiv als Objektkasus (eines Ratschlags bedürfen, keines modernen Komforts entbehren, sich einer Sache erinnern), bei Ergänzungen von Adjektiven (sie ist des Lesens kundig / des Lebens überdrüssig), aber auch weitere Funktionen wie adverbialer Kasus (Genitivadverbiale wie in jemanden des Mordes anklagen oder schnellen Schrittes gehen; Lenz 1996, 1998, Egorova 2006, Wich-Reif 2016). Genitivverben, d. h. Verben mit Genitivobjekten oder Genitivadverbialen büßen im Laufe der Sprachgeschichte entweder ihre Gebrauchs‐ häufigkeit ein oder werden mit alternativen Strukturen gebraucht. So zeigt Konopka (2015) am Beispiel des sog. Genitivus criminis von Verben wie anklagen, beschuldigen, bezichtigen, überführen und verdächtigen, die in der Rechtsprache beheimatet sind, dass der Genitivus criminis (jemanden des Diebstahls bezichtigen) bei vielen Verben durch die Infinitivkonstruktion in jemand bezichtigen, einen Diebstahl begangen zu haben ersetzt werden. Auch Kasuswechsel oder die Verwendung von Präpositionalphrasen gehören zu den Alternativen zu einstigen Genitivverben, z. B. das Buch entbehren, den Rat bedürfen; sich an eine Sache erinnern. Konopka (2015) macht dabei auch Belege für die Ersetzung durch den Dativ ausfindig, z. B. dem Amt entheben, jeglichem Wahrheitsgehalt entbehren. In Präpositionalobjekten stehen die Nominalphrasen fast ausschließlich im Dativ oder Akkusativ, z. B. (ich denke) an meine Eltern oder (ich bin) an der Sache (interessiert), da sie von Primärpräpositionen eingeleitet werden (s. Kap. 7.1.1.3). Attribute: Zum Genitiv, im Standarddeutschen dem Hauptkasus der nominalen Attribute, z. B. die Unterschrift des Vaters, der Hund des Nachbarn, gibt es mit der nachgestellten von-Periphrase eine alternative Ausdrucksvariante (die Unterschrift meines Vaters vs. die Unterschrift von meinem Vater). Diese Alternative hat jedoch eine andere syntaktische Struktur, da sie aus einer Präpositionalphrase besteht, sodass der Kasus hier von der (dativregierenden) Präposition von abhängig ist. Dabei ist die von-Periphrase immer dann obligatorisch, wenn die Markierung des Genitivs nicht möglich ist, weil das im Attribut enthaltene Nomen (z. B. Olivenöl) nicht von Determinierer oder Adjektiv begleitet ist, z. B. Genuss von Olivenöl. Die von-Phrase ist bei Herkunftsattributen sogar semantisch notwendig, z. B. das Bild vom Mond 'das Bild, das vom Mond aus gemacht wurde', die Aussicht vom Hügel 'die Aussicht, die vom Hügel aus möglich ist' (Kopf 2021). Eine rein nominale Alternative zum Genitivattribut, eine vorangestellte Dativphrase wie dem Vater in dem Vater seine Unterschrift, ist in der gesprochenen Sprache geläufig, in der geschriebenen wird sie jedoch gemieden 116 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="117"?> (Duden-Grammatik 9 2016: 1229). Sie gehört zu den stark stigmatisierten Konstruktio‐ nen (s. Zifonun 2003: 104). Dativattribute drücken v. a. Possessivität aus, während im Genitiv verschiedene Relationen zum Kernnomen realisiert werden können: neben dem genitivus possessivus wie in die Hand des Bildhauers v.-a. auch genitivus partitivus wie in im Herbst dieses Jahres, genitivus qualitatis wie in eine Frau hohen Alters, genitivus subiectivus wie in das Lob des Vaters und genitivus obiectivus wie die Überführung des Segelbootes (s. Zifonun et al. 1997: 2025-2033, Duden-Grammatik 9 2016: 832-844 für weitere Funktionen). 7.1.1.3 Präpositionaler Rektionskasus Im Standarddeutschen stehen insgesamt drei Kasus zur Verfügung, die von Präpositio‐ nen verlangt (d. h. regiert) werden können: Genitiv, Dativ und Akkusativ. So ist bspw. der Dativ der Rektionskasus der Präposition nach wie in nach dem Mittagessen, während die Präposition um den Akkusativ regiert wie in um den Preis. In äußerst seltenen Fällen ist auch Nominativ möglich. Die Wahl des präpositionalen Rektionskasus unterscheidet die Präpositionen und gehört gemeinsam mit anderen Eigenschaften zu den Kriterien für ihre Klassifizierung in Primär-, Sekundär- und Tertiärpräpositionen (Grießhaber 2009: 630-631): Mitgliederanzahl (Typenfrequenz) Im Deutschen gibt es ca. 300 Präpositionen, wobei die Zahl aufgrund der offenen Klassenränder nur approximativ ist (Di Meola 2 2014; Eisenberg 5 2020: 205). Die Kern‐ gruppe der Primärpräpositionen ist dabei auffällig klein und relativ gut umrissen. Mit 22 Elementen haben sie also eine geringe Typenfrequenz: Der Bestand von Primärpräpositionen (alphabetisch): an, auf, aus, bei, bis, durch, für, gegen, hinter, in, mit, nach, neben, ohne, seit, über, um, unter, von, vor, zu, zwischen Die Typenfrequenz von Sekundärpräpositionen ist deutlich höher, wobei der Bestand schwerer zu bestimmen ist, weil das Vorkommen der Präpositionen stark korpus- und textsortenabhängig ist. So kommt bspw. die Präposition laut im DWDS-Kernkorpus (1900-1999) zu über 95 % in Zeitungstexten vor, wohingegen lediglich 2,6% ihres Gesamtvorkommens in der Belletristik, 1,3% in der Gebrauchsliteratur und 0,7% in der Wissenschaftsliteratur zu finden sind (s. auch Di Meola 2 2014). Die aktuelle Suche im selben Korpus ergibt etwa 120 Sekundärpräpositionen. Die frequentesten unter ihnen sind (absteigend) laut, wegen, gegenüber, während, trotz, innerhalb, außer, ab, statt, infolge sowie die seltensten (aufsteigend) rechts, voller, unangesehen, beziehentlich, uneingedenkt, ausweislich, rücksichtlich, unerachtet, mithilfe, gemäß. Der Bestand der Tertiärpräpositionen darf ebenfalls als umfangreich angenommen werden. Beneš (1974: 38-41) listet über 160 Tertiärpräpositionen auf. Zu den zehn häufigsten in dem von Beneš (1974) untersuchten Korpus aus wissenschaftlichen 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 117 <?page no="118"?> Texten gehören auf Grund/ aufgrund, mit Hilfe/ mithilfe, im Sinne, im Hinblick auf, im Lauf(e), im Gegensatz zu, im Falle, in Bezug auf, in Hinsicht auf, anhand. Transparenzgrad und interne Komplexität Primärpräpositionen sind (nicht zuletzt aufgrund des hohen Alters) intransparent, d. h. ihre Ausdrucksform ist nicht (mehr) durchsichtig, so dass man ihre Ursprungswör‐ ter (oder -phrasen) nicht mehr erkennen kann. Primärpräpositionen wie bei, auf, aus usw. sind größtenteils aus Lokaladverbien entstanden (s. Grießhaber 2009: 631-632). Sekundär- und Tertiärpräpositionen weisen einen höheren Transparenzgrad auf: So sieht man den Sekundärpräpositionen laut, dank oder trotz ihre Ursprungslexeme (laut, Dank/ danken oder Trotz/ trotzen) noch an. Der Transparenzgrad von Tertiärprä‐ positionen (auch Halbpräpositionen genannt) wie in Anbetracht oder in Bezug auf ist noch höher. Sie haben eine phrasale Struktur, unterscheiden sich aber semantisch und formal von ihren Ursprungsphrasen. So kann Hilfe in der Präposition mit Hilfe 'mit, mittels, unter Einsatz von' nicht durch Artikel erweitert werden, *mit der Hilfe, *mit großer Hilfe usw. (s. Beneš 1974: 34-35; Wellmann 1985; Meibauer 1995; Lehmann 1998; Schierholz 2001: 145-146). Aus der zunehmenden Fossilierung der einstigen Phrase resultiert die zusammengeschriebene Variante mithilfe (vom Duden empfohlen). Viele der Tertiärpräpositionen bedienen sich zur Kasusrektion einer Primärpräposition wie auf in in Bezug auf oder von in in Abhängigkeit von. Viele dieser relativ jungen Präpositionen lassen sich durch eine Primär-, meist aber eine Sekundärpräposition ersetzen, z. B. mit Hilfe durch mit, mittels; in Hinsicht auf durch hinsichtlich; in Bezug auf durch bezüglich; im Gegensatz zu durch gegenüber usw. Ein hoher Transparenzgrad ist meist mit interner Komplexität verbunden. Während die generell intransparenten Primärpräpositionen wie in oder von einfach (d. h. nicht komplex und daher nicht weiter segmentierbar) sind, weisen viele Sekundärpräposi‐ tionen wie anstatt oder entlang eine interne Struktur auf: an+statt und ent+lang. Tertiärpräpositionen wie in Bezug auf weisen häufig die Komplexität einer Präpositionalphrase auf. Gebrauchsfrequenz (Tokenfrequenz) Primärpräpositionen haben die höchste Gebrauchsfrequenz. Alle Primärpräpositionen besetzen Spitzenfelder in den Frequenzlisten des deutschen Wortschatzes, d. h. sie lassen sich den höchsten Häufigkeitsklassen zuordnen (s. zweite Spalte in Tab. 16) - zu der Definition der Häufigkeitsklasse im DeReWo s. Kap.-3.2.3. 118 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="119"?> Primärpräposition Häufigkeitsklasse Dativ Akkusativ in 2 + + von 3 + mit 3 + für 4 - + auf 4 + + zu 4 + an 4 + + bei 4 + nach 5 + aus 5 + über 6 + + vor 6 + + durch 6 - + gegen 6 - + um 6 - + bis 6 - + zwischen 7 + + seit 7 + unter 7 + + ohne 7 - + neben 8 + + hinter 9 + + Tabelle 16: Primärpräpositionen mit der Häufigkeitsklasse und dem Rektionskasus In Tabelle 16 sind die Primärpräpositionen mit der Angabe ihrer Häufigkeitsklasse und ihres Rektionskasus aufgelistet. Unter den Primärpräpositionen fallen neben und hinter durch die niedrigste Tokenfrequenz auf. Sekundärpräpositionen besetzen keine Spitzenpositionen, sondern finden sich breit gestreut im Mittel- und im unteren Feld der Frequenzlisten. Am häufigsten sind interessanterweise wegen (Häufigkeitsklasse 8) und während und laut (Häufigkeitsklasse 9). Die Häufigkeit von Tertiärpräpositionen lässt sich in der DeReWo-Liste nur schwer ermitteln. So haben bereits die zusammenge‐ schriebenen Varianten wie aufgrund (Häufigkeitsklasse 10), anhand (Häufigkeitsklasse 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 119 <?page no="120"?> 13), infolge (Häufigkeitsklasse 13) oder mithilfe (Häufigkeitsklasse 14) eine geringe Tokenfrequenz. Für syntaktisch komplexe Präpositionen wie in Anbetracht kann aus der Häufigkeitsklasse von Anbetracht in etwa die Häufigkeitsklasse 15 abgeleitet werden. Viele der Tertiärpräpositionen wie in Bezug auf oder zu Lasten dürften noch viel seltener sein. Stellung innerhalb der Präpositionalphrase Die meisten Präpositionen im Deutschen sind der regierten Nominalphrase präponiert (daher Präposition), z. B. an der Universität. Unter den Primärpräpositionen gibt es nach Lindqvist (1994: 92-132) vier Elemente nach, über, durch und zu, die neben dieser typischen nominalen Prästellung (nach einer Stunde) auch postponiert werden können, z.-B. allem Anschein nach, die ganze Nacht über, den Winter durch und (wir fahren) der Sonne zu. Eine ausschließlich postbzw. zirkumnominale Stellung weisen Sekundär- und Tertiärpräpositionen auf, z. B. dringender Geschäfte halber, um des Friedens willen. Auch kommen Schwankungen zwischen verschiedenen Stellungen v. a. im Bereich der Sekundär- (und Tertiär-) Präpositionen vor, z. B. meinem Freund gegenüber - gegenüber meinem Freund, gemäß den Vorschriften - den Vorschriften gemäß. Syntaktische Wertigkeit Primärpräpositionen sind syntaktisch vielwertig, d. h. sie können sehr vielfältig syntaktisch eingesetzt werden. Primärpräpositionen können Präpositionalobjekte einleiten, z. B. ich denke an sie, ich warte auf sie. Darüber hinaus können sie Pronominaladverbien mit da(r)-, hier- und wo(r)bilden, z. B. damit, hiermit, womit. Diese Eigen‐ schaften fehlen bei Sekundär- und Tertiärpräpositionen, wobei wegen in Verbindung mit dem Verb sich schämen als ein (noch) fakultativer Präpositionalsobjekteinleiter fungiert und damit bezüglich der syntaktischen Wertigkeit in den Übergangsbereich zu Primärpräpositionen gestellt werden muss, sich (wegen) einer Sache schämen (Lindqvist 1994: 190). Semantische Wertigkeit Primärpräpositionen können semantisch vielwertig (= polysem) sein. So kann die Präposition in lokal (in der Stadt), temporal (in diesem Sommer), modal (in Blau) sowie auch bedeutungsleer (zur Einleitung von Präpositionalobjekten) wie in er hat sich in sie verliebt benutzt werden. Sekundär- und Tertiärpräpositionen transportieren hingegen eine sehr spezifische Semantik, z. B. entlang (nur lokal) oder innerhalb (nur temporal). Kasusrektion Die Primärpräpositionen regieren Dativ, z. B. mit, nach, bei (wie in mit dem Zug) oder Akkusativ, z. B. für, durch, gegen (wie in für den Fall). Einige von ihnen wie in, auf oder an regieren als Wechselpräpositionen abhängig von der Semantik 120 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="121"?> der Verben entweder Dativ bei statischen Verben wie in ich bin in der Stadt oder Akkusativ bei Bewegungsverben wie in ich fahre in die Stadt). Charakteristisch für die Primärpräpositionen ist daher eine stabile Kasusrektion und gegebenenfalls eine semantisch begründete Wechselrektion. Die Sekundärpräpositionen können hingegen auch Genitiv regieren bzw. zwischen mehreren Kasus schwanken, z. B. während/ wegen/ dank des Vortrags und während/ we‐ gen/ dank dem Vortrag. Im Gegensatz zu den Wechselpräpositionen geht damit aber kein grundsätzlicher Bedeutungsunterschied einher. Dies gilt auch für Tertiärpräpositionen, die entweder Genitiv (in Anbetracht des Alters) oder meist mit Hilfe einer Primärpräpo‐ sition auch Dativ oder Akkusativ (in Bezug auf + AKKU S ATIV , in Abhängigkeit von + DATIV ) verlangen können. In seltenen Fällen ist auch Nominativ möglich, z. B. pro Studierendem (Dativ)/ pro Studierender (Nominativ). Bei der Bestandsaufnahme von Tertiärpräpositio‐ nen fällt auf, dass sich manche an der Schwelle hin zu Sekundärpräpositionen befinden, was u. a. aus ihrer gestiegenen Gebrauchsfrequenz resultiert. So wird anhand, eine Präposition, die den Kasus des Nomens entweder mit Hilfe einer Primärpräposition anhand von Bildern oder aus „eigener Kraft“ anhand des Beispiels regiert, aufgrund der vergleichsweise hohen Frequenz (Häufigkeitsklasse 13) zusammengeschrieben. Als präpositionaler Rektionskasus wird die Kasuswahl der Nominalphrase bezeichnet, die von der Präposition ausgeht. Die Präposition regiert den Kasus der Nominalphrase. Die Wahl und die Stabilität des präpositionalen Rektionska‐ sus gehört zu den klassifikatorischen Eigenschaften von Präpositionen. Auf Basis dieser Eigenschaften lassen sich Präpositionen bezüglich ihrer Prototypizi‐ tät skalieren. Dabei sind Primärpräpositionen prototypisch, d. h. sie vereinen in sich typische Eigenschaften einer Präposition im Deutschen: Typische Eigenschaften von deutschen Präpositionen ● Gebrauchsfrequenz: typisch ist eine hohe Gebrauchsfrequenz (=-Tokenfrequenz) ● Transparenzgrad und interne Komplexität: typisch ist ein einfacher, intransparen‐ ter Ausdruck (ohne interne Komplexität) ● Ausdruckslänge: typisch ist die Ausdruckskürze ● Stellung: typisch ist die pränominale Stellung ● Rektion: typisch ist die Dativund/ oder Akkusativrektion ● Syntaktische Wertigkeit: typisch ist die syntaktische Vielwertigkeit ● Semantische Wertigkeit: typisch ist die semantische Vielwertigkeit Aufgrund des höchsten Prototypizitätsgrades bilden Primärpräpositionen den Kern der Präpositionen, weswegen sie auch Kernpräpositionen genannt werden. Zum Kern gehören Präpositionen wie in in, die alle oben aufgeführten Kriterien im hohen Maße erfüllen. Die Präposition in entspricht dem Prototyp der deutschen Präpositionen: 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 121 <?page no="122"?> Sie wird sehr häufig gebraucht (Häufigkeitsklasse 2, s. Tab. 16), hat eine einfache Ausdruckseite und ist kurz, wird ausschließlich pränominal verwendet, regiert Dativ und Akkusativ (Wechselpräposition), sie ist syntaktisch und semantisch vielwertig. Primärpräpositionen bilden den prototypischen Kern von Präpositionen, der sich u.-a. durch eine stabile Kasusrektion (Dativ oder Akkusativ) auszeichnet. Sekundär- und Tertiärpräpositionen weichen bezüglich einzelner Eigenschaften, dar‐ unter der Kasusrektion, vom Prototyp ab und bilden so die Peripherie (Lindqvist 1994, 1996; Szczepaniak 2 2011: 93-103): Sekundärpräpositionen Kern (Primärpräpositionen) Tertiärpräpositionen Abb. 15: Kern und Peripherie der deutschen Präpositionen Die Peripherie der Präpositionen lässt sich nach Protopizität skalieren: Weit vom Prototyp entfernt ist die Präposition halber. Sie wird deutlich seltener gebraucht (Häufigkeitsklasse 15), ihr Ausdruck ist länger und weist interne Komplexität auf (halb+er), sie wird nur postnominal verwendet, regiert weitgehend stabil den Genitiv, sie kann syntaktisch nicht so vielfältig eingesetzt werden wie Primärpräpositionen (z. B. ist die Bildung eines Pronominaladverbs mit da(r)nicht möglich) und hat eine spezifische Semantik. Die Präpositionen wegen, während und trotz stehen den Kernpräpositionen nah, da sie eine recht hohe Gebrauchsfrequenz aufweisen: wegen und während (Häufigkeits‐ klasse 8) und dank (Häufigkeitsklasse 11). Der Ausdruck wegen ist intransparent, während lässt die Segmentierung der internen Struktur in währen+d noch zu, dank kann man das Ursprungslexem Dank noch sehr gut „ansehen“. Im Ausdruck unterscheidet sich wegen nicht von zweisibligen Primärpräpositionen wie gegen, zwischen oder neben. 122 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="123"?> Die Präposition während hat mehr Ausdruckslänge, die Präposition dank ist zwar kurz, aber (wie oben schon erwähnt) transparent. Wegen kann prä- und postnominal (wegen des Metrums, des Metrums wegen), während und dank nur pränominal gebraucht werden. Alle drei Präpositionen weisen Rektionsschwankungen auf (wegen des/ dem, während des/ dem, dank des/ dem Vortrag(s)). Alle drei Präpositionen sind syntaktisch nicht vielfältig einsetzbar und semantisch sehr spezifisch. Anhand der Kritierien lassen sich die Präpositionen wegen, während und dank recht nah am Pol der prototypischen Präpositionen situieren, auch wenn zwischen ihnen graduelle Unterschiede bestehen. - Kern (Prototyp) Peripherie - in wegen während dank halber Gebrauchsfrequenz hoch - niedrig Transparenz und interne Komplexität intransparent, einfach - transparent, intern komplex Ausdruckslänge kurz - lang Stellung pränominal - postnominal Rektion Dativ u. Akkusativ - Genitiv Syntaktische Wertigkeit vielfältig - eingeschränkt Semantische Wertigkeit polysem - semantisch spezifisch Tabelle 17: Graduelle Unterschiede zwischen den Präpositionen wegen, während und dank bezüglich ihrer Distanz zum Prototyp der deutschen Präpositionen Schwankende Kasusrektion und/ oder Genitivrektion sind charakteristisch für Präpositionen mit peripheren Eigenschaften. 7.1.2 Gebrauchanalyse: Was wird tatsächlich gebraucht: Genitiv oder Dativ? Die oben beschriebenen graduellen Unterschiede zwischen den Präpositionen sind Folge ihrer Entwicklung. Allgemein gilt, dass sich Präpositionen im Zuge der Gram‐ matikalisierung, d. h. der Entwicklung von lexikalischen zu grammatischen Morphe‐ men, allmählich (über mehrere Jahrhunderte) zum Kern hin bewegen (s. Lehmann und Stolz 1992; Lindqvist 1994; Szczepaniak 2 2011: 93-103). Im Zuge der Prototypisierung verändern sich ihre Eigenschaften hin zum Typischen, so dass sie kürzer werden (vgl. die Aussprache von wegen [ ve: gən ] > [ ve: gŋ ] > [ ve: ŋ ]), von der nominalen Postzur 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 123 <?page no="124"?> Prästellung tendieren, syntaktisch vielfacher eingesetzt werden usw. (di Meola 2 2014: 160; Vieregge 2019a: 200-203). Die Prototypisierung umfasst auch den Übergang von der Genitivzur Dativrektion, die sich in heutigen Schwankungen zwischen Genitiv und Dativ bei Präpositionen wie wegen, während oder dank äußert. Man kann also den drei Präpositionen ein unterschiedliches Stadium der Prototypisierung im heutigen Standarddeutsch attestieren (s. Tab. 17). Als Prototypisierung bezeichnet man den Wandel hin zu typischen Eigenschaf‐ ten. Gleichzeitig wirken im Bereich der Kasusrektion auch entgegengesetzte Kräfte. Zum einen findet in vielen Fällen die Differenzierung statt (di Meola 2 2014: 160; Vieregge 2019a: 203-204). Diese führt dazu, dass eine ursprünglich dativregierende Präposition wie dank zum Genitiv tendiert (dank dem Herrn > dank des Herrn) und dabei sogar die prototypische Dativrektion aufgibt, sich aber dadurch von der Struktur des Spen‐ derlexems, des Nomens Dank wie in Dank dem Herrn, abkoppelt: Entwicklungsstufen der Differenzierung syntaktische Struktur und Rektion Spenderstruktur [Dank] [dem Herrn] [Nomen][Artikel Nomen] Präposition mit ursprünglichem Kasus (Dativrektion) [dank [dem Herrn]] [Präposition [Artikel Nomen]] Präposition nach Differenzierung (Genitivrektion) [dank [des Herrn]] [Präposition [Artikel Nomen]] Tabelle 18: Differenzierung der Präposition dank vom Spenderlexem Dank (vgl. Vieregge 2019a: 203) Im Zuge der Differenzierung werden die von der Spenderstruktur vererbten Eigenschaften, darunter die Kasusrektion, aufgegeben. Der zweite, gewichtigere Grund für den häufig umgekehrten Wandel von der Dativzur Genitivrektion ist die soziale Registrierung (Vieregge 2019a: 206-207, s. auch Lehmann und Stolz 1992: 37). Die soziale Registrierung basiert auf der metapragmati‐ schen Reflexion, d. h. auf der Reflexion über sprachliche Handlungen, und assoziiert die Kasusrektion in Verbund mit anderen als standardsprachlich registrierten sprachlichen Eigenschaften mit kommunikativen Praktiken, Formalitätsgraden oder Personentypen (s. Kap. 4.1.1 und 4.3.1). Die Kasus Genitiv und Dativ haben offensichtlich im Laufe der Sprachgeschichte eine solche soziale Registrierung erfahren, was genauer in Kap. 9.1 betrachtet wird. Dabei ist die Genitivrektion bei kasusschwankenden Präpo‐ 124 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="125"?> sitionen wie wegen als standardsprachlich registriert worden und mit einem höheren Formalitätsgrad der Texte sowie mit bestimmten personenbezogenen Parametern wie Bildungsgrad und situationsbezogenen wie offizieller Sprachgebrauch assoziiert. Dies beeinflusst bis heute die Wahl des Rektionskasus bei vielen Sekundärpräpositionen. Die soziale Registrierung als zugehörig oder nicht zugehörig zum standard‐ sprachlichen Register beeinflusst die Wahl des Genitivs oder Dativs als Rekti‐ onskasus. Das komplexe Zusammenspiel von Prototypisierung, Differenzierung und Registrie‐ rung von Kasus dokumentiert Vieregge (2019a) in ihrer historischen Korpusstudie. Anhand der Korpora DTA und DWDS untersucht sie die Entwicklung des Rektions‐ kasus bei vier Sekundärpräpositionen im Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jh. Zwei dieser Präpositionen haben ursprünglich Genitiv (laut und während) und zwei ursprünglich Dativ (dank und entsprechend) regiert. Betrachtet man das Spenderlexem, so sind laut und dank denominal, während und entsprechend hingegen deverbal, da sie dem Partizip I entstammen. Im Korpus ist die Präposition laut am frühesten, schon im 16. Jh. belegt. Die Präposition während kommt im 18. Jh. in Gebrauch, dank und entsprechend erst im 19. Jh. Es handelt sich also um sehr junge Präpositionen, die tendenziell in Gebrauchs- und wissenschaftlichen Texten verwendet wurden, im 20. Jh. auch zunehmend in Zeitungstexten. Dabei entwickelt sich ihr Rektionsverhalten sehr unterschiedlich. In Abbildung 16 wird diese Entwicklung in drei Zeiträume aufgeteilt: ZR1 (1473-1749), ZR2 (1750-1899) und ZR3 (1900-1999): Abb. 16: Entwicklung der Kasusrektion von Präpositionen laut, dank, entsprechend und während (Vieregge 2019a: 214) 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 125 <?page no="126"?> Die Entwicklung der Kasusrektion der vier Sekundärpräpositionen wird von den genannten Wandelprinzipien der Prototypisierung, Differenzierung und Registrierung von Kasus unterschiedlich geprägt: ● laut: die denominale, ursprünglich Genitiv regierende Präposition laut unterliegt dem Rektionswandel zum Dativ. Hier verstärken sich die Prinzipien der Prototy‐ pisierung und der Differenzierung. ● entsprechend: die deverbale Präposition entsprechend hat den ursprünglichen Dativ-Kasus beibehalten. Möglicherweise blockiert die semantische Nähe zum Spenderlexem die Differenzierung. ● während: bei der deverbalen, ursprünglich Genitiv regierenden Präposition wäh‐ rend ist die ansetzende Dativrektion zurückgedrängt worden. Die urprüngliche Genitivrektion wurde unter Einfluss der Kasusregistrierung verstärkt, obwohl diese Entwicklung der Prototypisierung und der Differenzierung widersprechen. ● dank: die denominale, ursprünglich Dativ regierende Präposition dank unterliegt dem Kasuswechsel zum Genitiv. Hier stützen sich die Differenzierung und die Kasusregistrierung gegenseitig und wirken entgegen der Prototypisierung. Verfolgt man die historische Entwicklungslinie der Sekundärpräpositionen, ist man nicht überrascht, im heutigen Gebrauch eine Fortsetzung der Tendenzen festzustellen. Anhand eines Produktionsexperiments geht Vieregge (2025) der Frage nach, welche Faktoren heute die Kasuswahl von Sekundärpräpositionen beeinflussen. In dem Expe‐ riment werden insgesamt 397 Befragte unterschiedlichen Alters, Bildungsgrads und Berufs aus ganz Deutschland (zu den Befragtenprofilen s. Vieregge 2025: 135-147) gebeten, zwei Lückentexte mit unterschiedlichem Formalitätsgrad zu vervollständigen: Der formellere Lückentext hat die Form eines klassischen Bewerbungsschreibens, der informellere ähnelt einer privaten Textnachricht oder E-Mail. So wird bspw. die Kasusrektion von wegen im informellen Lückentext mit dem Satz in (25) und im formellen mit dem Satz in (26) abgefragt: (25) Hab jetzt nochmal mit Max wegen ________________ (Verkauf) auf dem Flohmarkt morgen telefoniert. (26) Ihr Ansatz interessiert mich insbesondere wegen ________________ (Anspruch). In die Analyse floss das Kasusverhalten von vier Sekundärpräpositionen wegen, während, dank und gegenüber ein, wobei nur gegenüber überwiegend (aber nicht ausschließlich), zu etwa 90 %, mit Dativ gebildet wurde (z. B. Bedenken gegenüber dem Plan). Die restlichen drei Präpositionen wegen, während und dank wurden zu nicht weniger als 60 % mit Genitiv gebraucht. Alle drei Präpositionen widersetzen sich damit stark der Prototypisierung. Die Differenzierung, die sich im Falle von wegen in der Durchsetzung der pränominalen Stellung äußert, greift nicht bei der Kasusrektion bei wegen. Vielmehr, gestützt durch die Registrierung von Kasus, tendieren alle drei Präpositionen zum Genitiv. Die Wirkmächtigkeit der Registrierung wird umso 126 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="127"?> deutlicher, wenn der Formalitätsgrad der Lückentexte in die Analyse miteinbezogen wird. In Abbildung 17 ist deutlich zu sehen, dass die Befragten im informellen Lückentext wegen, während und dank häufiger mit Dativ gebraucht haben als im formellen Lückentext. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Befragten aufgrund der Testsituation in Verbindung mit der Bildungsinstitution insgesamt zum Genitiv tendieren, da dieser als Merkmal des gebildeten und professionellen Sprachgebrauchs registriert ist. Abb. 17: Kasusrektion von wegen, während, dank und gegenüber nach Formalitätsgrad des Textes (Vieregge 2025: 237) Vieregge (2025) konnte in ihrer umfassenden Analyse die Auswirkung mehrerer Faktoren auf die Kasuswahl bei den genannten Präpositionen untersuchen. Neben dem bereits vorgestellten Formalitätsgrad des Textes überprüfte sie die personenbe‐ zogenen Faktoren: die regionale Herkunft, den Bildungsgrad, die von den Befrag‐ ten selbst beurteilte eigene Sprachsicherheit, ferner auch Alter, Textaffinität des ausgeübten Berufs, Variationstoleranz und die Reihenfolge der Präsentation beider Lückentexte, die hier nicht berücksichtigt werden. Bei allen drei insgesamt zum Genitiv tendierenden Präpositionen wegen, während und dank ist die Kasuswahl stark von der regionalen Herkunft abhängig: Die Befragten aus den nordeutschen Bundesländern (Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen und Hamburg) tendieren bei allen Präpositionen zum Gebrauch des Genitivs, aus den süddeutschen (Bayern und Baden-Württemberg) zum Dativ. Der Kasusgebrauch ist bei manchen Präpositionen, u. a. bei dank, auch durch den Bildungsgrad beeinflusst: So wählen Befragte aus den süddeutschen Bundesländern beim informellen Lückentext häufiger Dativ, wenn sie keinen Hochschulabschluss haben. Bei der Präposition wegen wählen Befragte aus süd- und ostdeutschen Bundesländern mit Hochschulabschluss hingegen bei selbst eingeschätzter hoher Sprachsicherheit eher Genitiv, bei als gering selbst eingeschätzter Sprachsicherheit eher Dativ. Alle Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Kasuswahl bei nicht prototypischen Prä‐ positionen im heutigen Gebrauch stark von der Registrierung der Kasus abhängig ist (s. 7.1 Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus 127 <?page no="128"?> Kap. 8.1 und 9.1). Die Befragten wählen, geleitet von diesem metadiskursiven Wissen, im Kontext eines hohen Formalitätsgrads den Genitiv als Rektionskasus, wohingegen sie bei geringem Formalitätsgrad bereit sind, häufiger Dativ zu gebrauchen. Die Gebrauchsanalyse zeigt aber auch deutliche regionale Unterschiede. Die Wahl des Rektionskasus bei nicht prototypischen Präpositionen wird durch drei Gebrauchs- und Wandelprinzipien beeinflusst: die Prototypisierung, die Differenzierung und die soziale Registrierung. 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 7.2.1 Grammatische Beschreibung In der deutschen Verbflexion, der sog. Konjugation, stellen formale Flexionsvarianten ein grundlegendes Organisationsprinzip dar. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass Verben eine grammatische Information wie bspw. Präteritum formal unterschied‐ lich zum Ausdruck bringen wie in kam (mit Vokalwechsel) und siegte (mit Dentalsuffix -te). Aus diesen formalen Unterschieden konstituieren sich (rein formale) Flexions‐ klassen (s. Dammel 2011: 4-37). Im Zuge des Spracherwerbs erlernen wir, welche Verben welcher Flexionsklasse angehören. Zweifelsfälle können dann entstehen, wenn bei einem Verb mehrere Formen für dieselbe Funktion bekannt sind, z.B.: (27) Beispiele für Dubletten von verbalen Flexionsformen - a. 2. Sg. Imperativ: befiehl mir nicht/ befehl mir nicht - b. 2./ 3. Sg. Präsens: du fichst/ du fechtest; sie ficht/ sie fechtet - c. Präteritum: sie buk/ sie backte; sie sandte/ sie sendete - d. Partizip II (im Perfekt): sie hat gemelkt/ sie hat gemolken Diese Zweifelsfälle haben mit der spezifischen Struktur der deutschen Verbgrammatik zu tun, die hauptsächlich auf der Opposition zwischen zwei Flexionsklassen, der starken und der schwachen, basiert, denn das Deutsche hat in seiner (jüngsten) Sprachgeschichte diese zwei Klassen auf Kosten anderer kleinerer Klassen stark ausgebaut (Dammel 2010: 149-225). Verbgruppen mit anderem Flexionsverhalten sind sehr klein. Zu diesen unregelmäßigen Verben gehören u. a. Modalverben sowie Hilfsverben, worauf wir noch zurückkommen (s. Duden-Grammatik 10 2022: 664-665, 673-675, 684-687). 128 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="129"?> Die meisten Verben des Deutschen flektieren entweder schwach oder stark. Die starke und die schwache sind die wichtigsten verbalen Flexionsklassen. Verbklasse schwach stark Besonderheiten der starken Flexion Infinitiv siegen helfen keine Imperativ siege! hilf! Vokalwechsel Präsens ich siege du siegst sie siegt ich helfe du hilfst sie hilft Vokalwechsel in der 2./ 3. Sg. (Wechselflexion) - wir siegen wir helfen - Präteritum ich siegte ich half Vokalwechsel (Ablaut) kein Dentalsuffix -t- Konjunktiv II ich siegte ich hälfe (auch: hülfe) Vokalwechsel (Ablaut und Umlaut) + e-Suffix Partizip II gesiegt geholfen Vokalwechsel (Ablaut) + (ge-)…-en Tabelle 19: Flexionsparadigmen starker und schwacher Verben im Vergleich Die formalen Unterschiede zwischen der starken und schwachen Flexionsklasse treten in mehreren Zellen des Flexionsparadigmas auf. Ein Flexionsparadigma umfasst alle Flexionsformen eines Wortes (hier eines Verbs wie kommen, helfen und siegen). In Tabelle 19 wird das verbale Paradigma zu Anschauungszwecken in relevanten Ausschnitten gezeigt: Der grundlegende Unterschied zwischen schwacher und starker Verbflexion besteht darin, dass schwach flektierende Verben einen intakten Flexions‐ stamm haben wie {sieg-}, der in allen Zellen des Flexionsparadigmas unverändert bleibt. Zu den flexivischen Besonderheiten starker Verben gehören hingegen vielfältige Vokalwechsel im Stamm, die zu Stammvarianten (sog. Stammalternation) führen. So wird bei helfen der Stammvokal e in der Stammvariante {helf-} durch einen anderen Vokal alterniert: durch i im Imperativ und in der 2./ 3. Sg. {hilf-}, durch a im Präteritum {half-}, durch ä im Konjunktiv II {hälf-} und durch o im Partizip II {holf-}, das zur Bildung von Perfektformen benötigt wird. Zudem nutzen schwache Verbformen das sog. Dentalsuffix -te zum Ausdruck des Präteritums, starke Verben haben im Präteritum außer dem Vokalwechsel keinen zusätzlichen Tempusmarker. Nur starke Verben kön‐ nen mit Hilfe des Vokalwechsels und des e-Suffixes eine distinkte Konjunktiv-II-Form bilden (hälfe oder auch hülfe). Bei schwachen Verben fällt die Konjunktiv-II-Form mit der Präteritumform zusammen (siegte). Starke Partizipien enden auf -en (geholfen), schwache auf -(e)t (gesiegt). 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 129 <?page no="130"?> Starke Verben lassen im Gegensatz zu schwachen Stammalternation zu: Starke Verbstämme haben mehrere Varianten, z. B. helf-, hilf-, half-, holf- und hälfbeim Verb helfen, während schwache Verbstämme wie siegimmer in gleicher Form auftreten. 7.2.1.1 Verbale Flexionsklasse als Quelle für grammatische Zweifelsfälle Die Existenz von verbalen Flexionsklassen bildet den Ausgangspunkt für viele der heutigen Zweifelsfälle, die in Flexionsklassenübertritten und Flexionsklassenwandel begründet sind (Nowak 2021: 369). Diese grammatischen Zweifelsfälle basieren auf Regelkonflikten, die in den Spannungsfeldern zwischen Flexionsklassen (flexions‐ klassenübergreifend) oder durch Übernahme von anderen Flexionsklassenmerkmalen innerhalb einer Flexionsklasse (flexionsklassenintern) entstehen (s. Tab. 20). Verben, die in einem solchen Spannungsfeld stehen, sind den Sprachbenutzerinnen in zwei oder mehreren Varianten bekannt. Da die starke und schwache Flexionsklasse das Gros der Verben im Deutschen abdecken, entsteht v. a. in den betreffen Spannungsfeldern 1 und 4 eine ganze Reihe von Variantenpaaren. Im Spannungsfeld 2 und 3 befinden sich nur ganz wenige Verben, die mit Flexionsmerkmalen von zwei Klassen bekannt sind. Diese werden zuerst kurz gestreift, der Schwerpunkt liegt auf dem Gebrauch vieler Verben, die sich im Spannungsfeld 1 und 4 befinden. Die Regelkonflikte, die zu verbalen Flexionsvarianten führen, entstehen in Span‐ nungsfeldern zwischen Flexionsklassen oder zwischen Flexionsmerkmalen einer Flexionsklasse. Flexionsklassen- Spannungsfelder Beispiele übergrei‐ fend 1: starke vs. schwache Flexion melken - molk/ melkte - gemolken/ ge‐ melkt 2: unregelmäßige vs. schwache Flexion dünken - deuchte/ dünkte - gedeucht/ ge‐ dünkt 3: schwache vs. Modalverbflexion brauchen: brauch(t), bräuchte, Infinitiv ohne zu intern 4: Vokalalternanzen der starken Verben (insb. die Vokalalter‐ nanz Prät.-o und Part.-II-o) spinnen - spann/ sponn - gesponnen Tabelle 20: Spannungsfelder im Bereich der Verbalklassen als Gründe für grammatische Zweifelsfälle (nach Nowak 2021: 369) 130 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="131"?> Spannungsfeld 2 zwischen unregelmäßiger und schwacher Flexion Im Spannungsfeld 2 stehen drei Verben senden, wenden und dünken, die in zwei Flexions‐ formen bekannt sind (Tab. 21): Verben Unregelmäßige Flexion Regelmäßige schwache Flexion senden Präteritum: sandte Perfekt: gesandt Präteritum: sendete Perfekt: gesendet wenden Präteritum: wandte Perfekt: gewandt Präteritum: wendete Perfekt: gewendet dünken Präteritum: deuchte Perfekt: gedeucht Präsens: mir deucht Präteritum: dünkte Perfekt: gedünkt Präsens: mir dünkt Tabelle 21: Im Spannungsfeld zwischen unregelmäßiger und regelmäßiger schwacher Flexion (wenden, senden, dünken) Die unregelmäßigen Flexionsformen im Präteritum und Perfekt (linke Spalte) kom‐ binieren mit -te und ge-…-t Merkmale der schwachen Klasse mit den Merkmalen der starken Klasse, dem Vokalwechsel, wie in wenden - wand-te - gewandt. Diese Flexionsweise ist auch für weitere vier sog. Rückumlautverben (brennen, rennen, nennen, kennen) charakteristisch, vgl. brennen - brannte. Bei dünken trägt zusätzlich noch der Konsonantenwechsel (dünkvs. deuch-) zur unregelmäßigen Flexion bei (auch im Präsens mir deucht). Die regelmäßigen Flexionsformen dieser Verben (rechte Spalte) sind schwach gebildet, d.-h. mit -te und ge-…-t und ohne Stammalternation. Bei Verben senden und wenden kommt neben der formalen Schwankung noch hinzu, dass die Konjugationsdubletten (sandte/ sendete, wandte/ wendete) zur Bedeutungsdiffe‐ renzierung benutzt werden. Dabei werden beide Bedeutungen (Bedeutung A und Be‐ deutung B, s. Tab. 22) nicht ganz konsequent formal unterschieden: Wie Nowak (2011) in einer Korpusuntersuchung aufdeckt, werden nicht selten schwache wenden-Formen ohne Bedeutungsdifferenzierung (d. h. mit Bedeutung B, aber auch mit Bedeutung A) gebraucht, seltener auch schwache senden-Formen. Unregelmäßige Formen werden hingegen meist, aber nicht konsequent, nur mit Bedeutung A verknüpft. Dies kann also zusätzlich zu semantischen Zweifelsfällen führen (s. S.-27f.). - Bedeutung A Bedeutung B wenden übertragen (unregelmäßig) Er hat sich an sie gewandt. konkret (schwach) Das Auto hat gewendet. Gebrauch schwach statt unregelmäßig: unregelmäßig statt schwach: Präteritum: 49% Präteritum: 0% Perfekt: 24% Perfekt: 0,5% 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 131 <?page no="132"?> senden 'schicken' (unregelmäßig) Sie sandte mir viele Briefe. 'ausstrahlen' (schwach) Die Station hat heute gesendet. Gebrauch schwach statt unregelmäßig: unregelmäßig statt schwach: Präteritum: 6% Präteritum: 0,03% Perfekt: 0,01% Perfekt: 0,02% Tabelle 22: Gebrauch der unregelmäßigen und schwachen Formen für unterschiedliche Bedeutungen (vgl. Nowak 2011) Spannungsfeld 3 zwischen schwacher und Modalverbflexion Im Spannungsfeld zwischen der schwachen und der besonderen Modalverbflexion steht das Verb brauchen, das neben regelmäßig schwachen Formen (sie braucht, sie brauchte) auch nach dem Muster der Modalverbflexion gebildete endungslose Form in der 3.Sg. (sie brauch nicht kommen, ähnlich wie sie muss nicht kommen) und umgelautete Konjunktiv-II-Form (bräuchte, ähnlich wie müsste) aufweist. Zudem kann brauchen ohne zu mit Infinitiv verwendet werden (sie brauch(t) nicht kommen neben sie braucht nicht zu kommen, vgl. Modalverben + Infinitiv sie muss nicht kommen). Diese formalen Ähnlichkeiten zwischen brauchen und Modalverben resultieren aus der laufenden Grammatikalisierung von brauchen zum Modalverb (mehr dazu s. Askedal 1998; Szczepaniak 2 2011: 166; Maché 2021). 7.2.1.2 Spannungsfeld 1 zwischen starken und schwachen Verben In den meisten Fällen entstehen verbale Zweifelsfälle im Spannungsfeld zwischen der starken und schwachen Flexionsklasse, die man als zwei „ungleiche“ Konkurrentinnen betrachten kann. Die starke Flexionsklasse hat vergleichsweise wenige Mitglieder und ist damit nicht typenfrequent, denn lediglich ca. 4 % aller Verben im Deutschen flektieren stark. Diesen ca. 170 starken Verben steht eine offene Klasse von etwa ~3.800 schwachen Verben gegenüber (Augst 1975: 231-281). Darüber hinaus gibt es eine kleine Gruppe von etwa 20 Verben, die sich nicht in eine der zwei Flexionsklassen einordnen lassen, z. B. Hilfsverben sein, haben und werden, Modalverben oder Verben wie dünken, wenden, senden sowie weitere vier sog. Rückumlautverben, brennen, rennen, nennen und kennen, aber auch stehen und gehen. Verben wie stehen und gehen werden unter den unregelmäßigen Verben geführt, da sie durch weit über den Vokalwechsel hinaus gehende Eingriffe in den Stamm flektieren: Bei gehen - ging - gegangen und stehen - stand - gestanden bleibt nur noch der Stammanlaut gleich, vgl. [g]eh - [g]ing - ge[g]angen. 132 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="133"?> Flexionsklassen Mitgliederanzahl (Typenfrequenz) Gebrauchsfrequenz (Tokenfrequenz) schwache Verben ~-3.800 (ca. 95,3%) 33 (41-%) starke Verben 169 (ca. 4,2 %) 33 (41-%) unregelmäßige Verben 20 (ca. 0,5%) 14 (18-%) Gesamt ~-4.000 (100-%) 80 (100-%) Tabelle 23: Typen- und Tokenfrequenz von Flexionsklassen im Deutschen nach Augst (1975: 235) Obwohl die schwache Verbflexion so mitgliederstark (also typenfrequent) ist, ist die Wahrscheinlichkeit, eins der über 3.800 schwachen Verben im Text anzutreffen, nicht höher als eins von den 170 starken. Augst (1975: 235) hat unter Bezug auf die Sprachstatistik von Meier ( 2 1967) gezeigt, dass unter den 80 häufigsten Verben, die den 1.000 häufigsten Wortformen zugeordnet werden können, gleich viele, d. h. 33 von den (in seiner Zählung) insgesamt 169 starken und 33 von den mehr als 3.800 schwachen Verben zu finden sind. Zusätzlich sind in dem Bereich der höchsten Gebrauchsfrequenz 14 der 20 unregelmäßigen Verben zu finden. Starke und unregelmäßige Verben haben damit im Vergleich zu vielen schwachen Verben eine hohe Gebrauchsfrequenz (auch Tokenfrequenz). Daraus können wir schließen, dass die Mehrheit der schwachen Verben selten benutzt wird. Unter den starken Verben gibt es jedoch einige, die an Gebrauchsfrequenz verlieren. Der Verlust an Gebrauchsfrequenz führt bei starken Verben zum Verlust von starken Flexionsmerkmalen: Da sie selten verwendet werden, sind den Sprecherinnen ihre starken Formen nicht gut bekannt, was die Bildung von schwachen Formen begünstigt. Die starke und die schwache Flexionsklasse unterscheiden sich hinsichtlich der Typen- und Tokenfrequenz. Die starken Verben sind typeninfrequent, dafür aber sehr tokenfrequent. 7.2.2 Gebrauchsanalyse: Wie häufig flektieren starke Verben schwach? 7.2.2.1 Gebrauchsfrequenz und Abbau starker Flexionsmerkmale Die Gebrauchshäufigkeit (s. Kap. 3.2.3) ist ein wichtiger Steuerungsmechanismus in der Flexion (s. u. a. Nowak 2016). Die besondere Flexionsweise der starken Verben, die Stammalternationen umfasst (s. Tab. 19), bleibt dann erhalten, wenn die einzelnen Fle‐ xionsformen (z. B. hilf! , half oder geholfen vom Verb helfen) durch häufige Verwendung in unserem Gedächtnis gut gefestigt werden. Die regelmäßige Flexion verlangt von den Sprecherinnen hingegen keinen besonderen Memorierungsaufwand. Hier muss 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 133 <?page no="134"?> man sich keine Stammalternation merken. Das regelmäßige Flexionsverfahren gelingt daher auch bei selten gebrauchten, unbekannten oder neuen Verben. Hohe Tokenfrequenz fördert den Erhalt von besonderen Flexionsmerkmalen, da diese durch die häufige Verwendung im Gedächtnis gut gefestigt sind. Gebrauchsbasierter Schwund und Erhalt starker Verben in der Geschichte des Deutschen Die Geschichte der starken Verben im Deutschen ist eng mit ihrer Gebrauchs‐ häufigkeit verbunden. In der ältesten Sprachstufe des Deutschen, dem Althoch‐ deutschen (700-1050), sind 345 starke Verben dokumentiert. Sie machen 12,4% aller Verben aus. Ihnen stehen ca. 2.450 schwache und 20 unregelmäßige Verben gegenüber. Im Laufe der Sprachgeschichte verringert sich die Anzahl der starken Verben. Gab es im Mittelhochdeutschen (1050-1350) noch 339 starke Verben, halbiert sich ihre Anzahl auf 169 im heutigen Deutsch (Neuhochdeutsch). Dabei sterben 119 aus, 54 werden schwach (Augst 1975: 246-260). Doch nicht alle starken Verben sind gleichermaßen von der Tendenz erfasst. Im Bereich des über Jahrhunderte sehr stabilen Grundwortschatzes bleiben sie fast unangetastet (s. Tab. 24). Zum Grundwortschatz gehören Verben für „Grundtä‐ tigkeiten des menschlichen Lebens und Verkehrs“ (Henzen 2 1957: 211). Während im Althochdeutschen 41 starke Verben 70 % des verbalen Grundwortschatzes ausmachten, sind es heute (im Neuhochdeutschen) nach wie vor 37 starke Verben, die mit 63-% den Großanteil am Grundwortschatz haben. - Gesamtwortschatz Grundwortschatz --Flexionsklasse: Althoch‐ deutsch (500-1050) Neuhoch‐ deutsch (ab 1650) Althoch‐ deutsch (500-1050) Neuhoch‐ deutsch (ab 1650) stark 349 12% 169 4% 41 70% 37 63% unregelmäßig 20 1% 20 0,5% 2 3% 3 5% schwache 2450 87% 3800 95% 16 27% 19 32% Tabelle 24: Anteil von starken Verben am Gesamtvs. Grundwortschatz im Althochdeutschen und im Neuhochdeutschen im Vergleich (Augst 1975: 258) Wie der kurze Einblick in die Geschichte der starken Verben zeigt, bleiben sie erhalten, wenn sie dem - häufig gebrauchten - Grundwortschatz angehören. Dadurch bleibt ihr Anteil am Grundwortschatz seit Jahrhunderten faktisch fast unverändert. Die Verluste sind daher bei diesen starken Verben auszumachen, die nicht oder nicht mehr zum Grundwortschatz gehören, weil sie selten gewordene Tätigkeiten (wie melken, backen, 134 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="135"?> dreschen) bezeichnen und dementsprechend von der Sprachgemeinschaft seltener verwendet werden. Der Übergang eines Verbs von der starken in die schwache Flexion verläuft stufen‐ weise, wobei die starken Verbeigenschaften (wie schon in Tab. 19 vorgestellt), die bei einem konkreten Verb vorhanden sind, in einer bestimmten Reihenfolge aufgegeben werden (Bittner 1985, 1996; Dammel 2011; Nowak 2016). Tabelle 25 fasst die Stufen zusammen. Sie basiert auf der Beobachtung, dass die starken Verbeigenschaften in einem gerichteten Implikationsverhältnis zueinander stehen: Wenn ein Verb die Imperativhebung e > i (Imp.) hat, hat es auch die Wechselflexion im Präsens (WF), d. h. Imperativhebung in hilf ⸧ Wechselflexion in helfe, hilfst, hilft. Umgekehrt aber impliziert die Wechselflexion wie in fahre, fährst, fährt keine Imperativhebung (vgl. fahr! von fahren ohne Imperativhebung). Ebenso impliziert die Imperativhebung oder auch die Wechselflexion ein starkes Präteritum, z. B. half oder fuhr. Umgekehrt aber gibt es Verben, die zwar ein starkes Präteritum, aber keine Wechselflexion und auch keine Imperativhebung haben. Dies ist bei finden der Fall. Schließlich ist das starke Partizip die einzige Eigenschaft, die sich alle starken Verben teilen. Im äußersten Fall ist das starke Partizip II dann auch die einzige starke Flexionseigenschaft, vgl. das Verb mahlen. Starke Verben wie helfen, die alle starken Flexionseigenschaften besitzen, bilden den Extremfall starker Flexion. Je weniger starke Eigenschaften ein Verb aufweist, desto ähnlicher ist es einem schwachen Verb. Die starken Flexionseigenschaften der Verben stehen in einem gerichteten Implikationsverhältnis zueinander: Die Imperativhebung in hilf ⸧ ('impliziert') die Wechselflexion ich helfe - du hilfst, sie hilft usw. Dabei muss man beachten, dass das Fehlen der Imperativhebung oder der Wechsel‐ flexion nicht zwingend ein Hinweis auf Übergangstendenzen sein muss. Bei Verben wie finden oder kommen sind beide Flexionseigenschaften sprachgeschichtlich nicht zu erwarten, d. h. nie dagewesen. Vielmehr ist der Fall, dass je nachdem, welche starken Eigenschaften ein Verb besitzt, der Abbau rechts ansetzt und sich entlang der Implikationsskala vollzieht. Mit der Aufgabe des starken Partizips ist der Übergang in die schwache Verbflexion endgültig vollzogen. - gerichtete Implikationsskala/ Abbaurichtung von links nach rechts: Starke Verbeigenschaften Imp. ⸧ WF ⸧ Prät. ⸧ Part. schwach Imp.-Hebung hilf! fahr! finde! mahle! belle! Wechselfl. im Präsens helfe hilfst fahre fährst finde findest mahle mahlst belle bellst 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 135 <?page no="136"?> hilft fährt findet mahlt bellt Starkes Prät. half fuhr fand mahlte bellte Starker Konj. hälfe führe fände mahlte bellte Starkes Perf. geholfen gefahren gefunden gemahlen gebellt max. Anzahl der Verben 29 26 105 14 > 4.000 Prototyp stark - schwach Tabelle 25: Gerichtete Implikationsskala und Abbaurichtung starker Flexionsmerkmale bei Verben (Dammel/ Nowak 2011) Tabelle 26 zeigt, dass lediglich 29 Verben heute alle starken Merkmale aufweisen. Nur diese Verben haben also die Imperativhebung. Sie bleibt unter dem Schutz der hohen Gebrauchshäufigkeit erhalten. Diese Verben bilden den Prototyp der starken Verbflexion. Jede weitere Stufe nach rechts auf der Implikationsskala bezeichnet eine graduelle Entfernung vom Prototyp der starken und damit eine graduelle Annäherung zum Prototyp der schwachen Verben. Geringfügige Abweichung findet sich bei Verben, die keine Imperativhebung haben (26 Verben, z. B. fahren). Höhergradig weichen Verben ab, die keine Wechselflexion aufweisen (105 Verben, z. B. finden). Am weitesten vom starken Prototyp entfernt sind Verben wie mahlen, die nur eine starke Perfektform bilden (14 Verben). Starke Verben sind prototypisch organisiert. Der Prototyp ist mit allen starken Flexionsmerkmalen ausgestattet. Periphere starke Verben weichen graduell vom starken Prototyp ab und nähern sich so dem Prototyp der schwachen Verben. Tabelle 26 listet alle Verben mit Imperativhebung auf. Diese ist bei häufig gebrauchten Verben (lexikalische Häufigkeitsklassen 6-14, s. Kap.-3.2.3) stabil, z.-B. geben/ gib! , sehen/ sieh! Die Imperativhebung wird bei diesen Verben zusätzlich durch eine hohe kategorielle (Imperativ-)Frequenz geschützt: Zum Vergleich findet man im DWDS-Korpus 1900-1999 929 Belege für die 2.Sg.Imp.-Form gib! (geben HF 6), 595 Belege für sieh! (sehen HF 7), 912 Belege für nimm! (nehmen HF 7), aber lediglich fünf Belege für drisch! , keinen Imperativ‐ beleg von schwellen und 19 für befiehl! . Schwankende Imperativhebung und damit das Auftreten von Imperativen mit und ohne Vokalwechsel spielt sich bei Verben quellen, befehlen, schmelzen, erlöschen, schwellen, dreschen ab (s. Plätze 24-29 in Tabelle 26). Diese Verben haben eine geringe lexikalische Häufigkeit - gehören den Häufigkeitsklassen 14-16 an - und werden im Imperativ sehr selten gebraucht. Die geringe kategorielle Häufigkeit der Imperative macht sie „anfällig“ für den Verlust der Imperativhebung. 136 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="137"?> Nr. Verb LH (DeReWo) Nr. Verb LH (DeReWo) 1. geben 6 16. essen 11 2. sehen 7 17. stehlen 11 3. nehmen 7 18. messen 12 4. sprechen 8 19. bergen 12 5. gelten 8 20. stechen 13 6. treffen 8 21. erschrecken 13 7. treten 9 22. fressen 13 8. helfen 9 23. verderben 14 9. sterben 9 24. quellen 14 10. lesen 9 25. befehlen 14 11. werfen 10 26. schmelzen 14 12. vergessen 10 27. erlöschen 14 13. brechen 10 28. schwellen 15 14. empfehlen 11 29. dreschen 16 15. werben 11 - - - Tabelle 26: Stabilität der Imperativhebung und die lexikalische Häufigkeitsklasse (LH) Die Anzahl der wechselflektierenden starken Verben ist mit 55 fast doppelt so hoch wie die der imperativhebenden. Neben den 29 Verben mit Imperativhebung gehören dieser Gruppe weitere 26 starke und das unregelmäßige werden an (Nübling 2001). In Tabelle 27 sind imperativhebende und zugleich wechselflektierende Verben unterstrichen. Solche, bei denen Wechselflexionsschwankungen berichtet werden, sind durch den weißen Hintergrund markiert (Nübling 2001). Auch hier bestätigt sich der Einfluss der Gebrauchshäufigkeit: Alle stabil wechselflektierenden Verben gehören tendenziell hohen Häufigkeitsklassen (HK) 3-13 an, schwankende Verben mit Dubletten wie du fichst/ du fechtest; sie ficht/ sie fechtet werden vergleichsweise seltener gebraucht (HK 14-16). 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 137 <?page no="138"?> Nr. Verb HK Nr. Verb HK 1. werden 3 29. essen 11 2. geben 6 30. raten 11 3. sehen 7 31. empfangen 11 4. lassen 7 32. stehlen 11 5. nehmen 7 33. messen 12 6. halten 7 34. schlafen 12 7. sprechen 8 35. bergen 12 8. gelten 8 36. stechen 13 9. treffen 8 37. erschrecken 13 10. laufen 9 38. fressen 13 11. fahren 9 39. backen 13 12. treten 9 40. blasen 13 13. fallen 9 41. waschen 13 14. schlagen 9 42. graben 13 15. helfen 9 43. verderben 14 16. sterben 9 44. quellen 14 17. lesen 9 45. befehlen 14 18. wachsen 9 46. schmelzen 14 19. laden 9 47. fechten 14 20. werfen 10 48. erlöschen 14 21. stoßen 10 49. braten 15 22. vergessen 10 50. schwellen 15 23. geschehen 10 51. saufen 15 24. brechen 10 52. schelten 16 25. empfehlen 11 53. dreschen 16 26. gebären 11 54. melken 16 27. werben 11 55. bersten 16 28. fangen 11 56. flechten 16 Tabelle 27: Wechselflektierende Verben und ihre lexikalischen Häufigkeitsklassen 138 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="139"?> Die überwiegende Mehrheit der starken Verben (um die 100) zeichnet sich nur durch ein starkes Präteritum und ein starkes Partizip aus. Eine kleine Gruppe von etwa 10 Verben wie mahlen (HF 16) oder salzen (HF 17) hat durch Abbau des starken Präteritums nur noch ein starkes Partizip. Fallen diese Eigenschaften auch weg, ist der Übergang in die schwache Verbklasse vollzogen. Das heute schwache Verb bellen, Häufigkeitsklasse 14, (ähnlich auch rächen HF 14, verhehlen HF 16, verwirren HF 13) hat diese Entwicklung komplett abgeschlossen, weswegen heute nur noch schwache Formen bekannt sind und benutzt werden (weitere Details zur historischen Entwicklung dieser Verben und ihrer sinkenden Gebrauchshäufigkeit in der Sprachgeschichte, s. Nowak 2015, 2016). Nach der Aufgabe aller typischen Eigenschaften werden ursprünglich starke Verben schwach flektiert. Damit wird das Spannungsfeld verlassen und der Übergang in die schwache Flexionsklasse vollzogen. Der Übergang in die schwache Flexionsklasse wird bei einigen Verben durch die Regularisierung des Vokalwechsels im starken Präteritum und Partizip Perfekt aufgehalten (Nowak 2015, 2016). Dabei geben Verben den ursprünglichen Vokal auf und nehmen den o-Vokal an, z. B. frnhd. heben - hub - gehaben > nhd. heben - hob - gehoben, melken - malk - gemolken > melken - molk - gemolken. Eine ähnliche Regularisierung innerhalb der starken Flexion weisen im heutigen Deutsch ca. 20 Verben auf (Nowak 2016: 144). Das vereinfachte Vokalwechselmuster x-o-o (heben - hob - gehoben, quellen - quoll - gequollen) gilt als ‚Auffangsbecken‘ für starke Verben mit sinkender Gebrauchsfrequenz und Tendenz zum Abbau der starken Flexionsmerkmale. Heutzutage sind es die Verben schwimmen, spinnen, rinnen und sinnen, die neben alten Präteritum- und Perfektformen die o-regularisierten aufweisen, z. B. schwimmen - (alt) schwamm / (neu) schwomm - geschwommen, rinnen - (alt) rann / (neu) ronn - geronnen. Einige x-o-o-Verben nehmen schwache Präteritum- und Perfektformen an, die neben den älteren starken Formen existieren, z. B. dreschen - drosch/ dreschte - gedroschen, melken - molk/ melkte - gemolken/ gemelkt bzw. diese komplett ersetzen wie bei rächen (früher roch - gerochen) - rächte - gerächt. Auch bei diesem Übergang spielt die Gebrauchsfrequenz eine entscheidende Rolle (s. Nowak 2015, 2016). Die Regularisierung des Vokals im starken Präteritum und Perfekt führt zu Flexionsvarianten bei nicht-prototypischen starken Verben. Weiterer Verlust der prototypischen starken Eigenschaften äußert sich in stark-schwa‐ chen Dubletten, die zunächst im Bereich des Präteritums und anschließend auch im Partizip auftreten. In Tabelle 28 werden die Schritte des Schwächungsprozesses 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 139 <?page no="140"?> dargestellt. Die Präteritum-Dubletten bestehen entweder aus ursprünglichen starken und regularisierten o-haltigen starken Formen (Typ: rann/ ronn), aus ursprünglichen starken und neuen schwachen Formen (Typ: buk/ backte) oder nur noch aus regulari‐ sierten o-haltigen starken Formen und schwachen Formen (Typ: drosch/ dreschte). Von manchen Verben sind sogar drei konkurrierende Formen in Verwendung: malk, molk und melkte. Eine Kombination aus schwachem Präteritum und Dubletten im Partizip wie in gedungen/ gedingt bildet den letzten Schritt vor dem Übergang in die schwache Verbflexion. Alle betroffenen Verben gehören den mittleren bis untereren lexikalischen Häufigkeitsklassen (HK) an. - - Präteritum Partizip Verb HK stark regul. schwach stark schwach rinnen 16 rann ronn - geronnen - backen 13 buk - backte gebacken - dreschen 16 - drosch dreschte gedroschen - melken 16 malk molk melkte gemolken gemelkt glimmen 17 - glomm glimmte geglommen geglimmt dingen 17 - - dingte gedungen gedingt Tabelle 28: Dubletten im Präteritum und Perfekt bei schwächelnden Verben 7.2.2.2 Erstarkende schwache Verben In der Liste der starken und unregelmäßigen Verben in der Duden-Grammatik ( 9 2016: 494-506) wird u. a. das Verb winken mit zwei Perfektformvarianten gewinkt und gewunken neben der schwachen Präteritalform winkte angeführt. Dieses Verb wird ebenfalls im Zweifelsfälle-Duden ( 9 2021: 1049) in Bezug auf das Partizip II behandelt: „Obwohl das Präteritum nach wie vor schwach gebildet wird (winkte), wird inzwischen in allen deutschsprachigen Regionen mit Ausnahme der Schweiz meist das starke Partizip gewunken verwendet, nur manchmal das schwache Partizip gewinkt.“ (Zweifelsfälle-Duden 9 2021: 1049) Die Angaben zur Gebrauchshäufigkeit der Partizipformen gewunken und gewinkt im obigen Zitat werden auf Basis des Dudenkorpus (online unter www.duden.de) vorge‐ nommen, das zum Zeitpunkt der Publikation des Zweifelsfälle-Dudenbandes im Jahr 2021 ca. 6. Milliarden Wortformen enthielt (s. Allgemeine Nutzungshinweise auf den vorderen Vorsatzblättern). Das Korpus besteht v. a. aus überregionalen Zeitungstexten, Romanen, aber auch Reden oder Reparatureinleitungen und repräsentiert somit das geschriebene Standarddeutsch. Mit dem Frequenzausdruck „meist“ wird die Häufigkeit 140 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="141"?> des Aufkommens von 70 % bis unter 90 % bezeichnet, „manchmal“ steht für 10 % bis unter 30 %. Die oben zitierte Aussage lässt sich daher dahingehend interpretieren, dass im Dudenkorpus das Partizip II zu über 70 % stark (gewunken) gebildet wird, nur in unter 30 % der Fälle kommt ein schwaches Partizip II (gewinkt) vor. Die Tendenz zur Verwendung der starken Partizipform bestätigen auch die Ergebnisse der Korpussuchen, die auf grammis.ids-mannheim.de veröffentlicht sind (https: / / grammi s.ids-mannheim.de/ fragen/ 76): Während in älteren Texten aus den 1950er und 1960er Jahren noch kaum Belege für gewunken zu finden sind, ist seit den 1980er Jahren ein deutlicher Trend zu gewunken beobachtbar. Dieses wird zu etwa 60-70% gebraucht, wohingegen gewinkt etwa 30-40% ausmacht. Das Verb winken gehört zu einer kleinen Gruppe von ursprünglich schwachen Verben, die Formen mit starken Flexionsmerkmalen ausgebildet haben. Damit unter‐ liegt das Verb einem selten zu beobachtenden Stärkungsprozess (Köpcke 1999: 48). Bei den Verben kneifen, weisen, gleichen und preisen ist dieser Prozess abgeschlossen. Theobald (1992: 212-236) beobachtet, dass sich die starken Flexionsformen dieser gebrauchshäufigen Verben relativ schnell im 18. Jh. im Rahmen der Konstituierung der Standardsprache durchsetzten. Heute sind nur noch ihre starken Präterital- und Partizip-II-Formen bekannt: kniff/ gekniffen, glich/ geglichen und pries/ gepriesen. Für das Verb winken sind hingegen keine starken Präteritalformen belegt, aber eben neben einer schwachen gewinkt auch eine starke Variante des Partizip II gewunken, die nach der oben zitierten Beobachtung im Zweifelsfälle-Duden sogar häufiger ist. Das Verb winken wird relativ häufig gebraucht: Im DWDS-Korpus gehört es der Frequenzklasse 3 an (in derselben Frequenzklasse liegen auch Wörter wie Katze oder Fahrrad), im DeReKo zur Häufigkeitsklasse 13 (gemeinsam mit Verben wie weichen, ste‐ chen oder gießen). Seine individuelle lexikalische Gebrauchshäufigkeit ist nach Köpcke (1999) nicht der einzige Grund für die Herausbildung des starken Flexionsverhaltens. Unterstützt wird der Stärkungsprozess durch ein valides Schema für starkes Flexi‐ onsverhalten. Dieses entsteht dadurch, dass sich auf Basis des Sprachgebrauchs eine starke Assoziation zwischen einer bestimmten Form mit einer bestimmten Funktion herausbildet. So ist die Lautfolge [ ıƞC ], also ein kurzes ungespanntes i + velarer Nasal (+ velarer Konsonant k) im Infinitiv und Präsens, die Verben wie trinken, sinken, singen oder gelingen (kurz: ing/ ink-Verben) teilen, mit starkem Flexionsverhalten assoziiert, d. h. mit den Vergangenheitsformen mit der Lautstruktur [ aƞC ] im Präteritum und [ ʊƞC ] im Partizip II. 98 % aller Grundverben mit der Lautstruktur [ ıƞC ] im Infinitiv und Präsens flektieren stark, also nach dem Muster trinken - trank - getrunken (Köpcke 1999: 55). Damit handelt es sich bei der Verbindung zwischen der Lautstruktur [ ıƞC ] und dem starken Flexionsverhalten um ein hoch valides Schema. Es gibt kaum ing/ ink-Verben, die nicht stark flektieren. Das Verb winken, eine der Ausnahmen, teilt die lautliche Struktur mit den ing/ ink-Verben, somit wird das starke Partizip gewunken durch ein Schema mit der höchsten Validität gestützt. Nach Köpcke (1999: 58) benötigen Verben, die um ein Schema gruppiert sind, weniger eine individuell 7.2 Starke und schwache Verben: der Reis quellt/ quillt nicht auf 141 <?page no="142"?> hohe Gebrauchshäufigkeit, weil sie durch ihre Schemapartner (trinken, sinken, singen, gelingen usw.) im Flexionsverhalten unterstützt werden. Die Annahme starker Flexionseigenschaften ist selten. Sie wird durch die Exis‐ tenz eines Schemas gefördert, bei dem lautliche Struktur mit Flexionseigenschaf‐ ten assoziiert sind. Die Gebrauchsfrequenz wirkt dabei unterstützend. 7.3 Schwache Maskulina 7.3.1 Grammatische Beschreibung 7.3.1.1 Starke und schwache Deklination Grob gesagt entstehen sprachliche Zweifelsfälle bei den Substantiven ebenfalls häufig im Spannungsfeld zwischen der starken und der schwachen Flexion. Tabelle 29 stellt daher die Deklinationsklassen vor, die sich im Standarddeutschen im formalen Ausdruck von Kasus und Numerus unterscheiden: die starke, gemischte und schwache Substantivflexion (s. auch Kap. 7.1.1.1). Die Deklinationsklassen setzen sich aus zwei Schablonen für Singular und Plural zusammen, durch deren Kombination sie sich graduell unterscheiden. Für die starke Schablone (grau markiert, links in Tab. 29) ist im Singular entscheidend, dass der Genitiv mit -(e)s gebildet wird, das dadurch als das starke Flexionsmerkmal im Singular fungiert; im Plural zeichnet sich die starke Schablone dadurch aus, dass der Pluralmarker nicht auf -n auslautet. Das Dativ-n kann nur in solchen Fällen hinzutreten, weswegen es auch zu den starken Flexionsmerkmalen gehört. Ein Substantiv, das beide Eigenschaften verbindet, flektiert stark, z. B. Hund. Enden alle Flexionsformen eines Substantivs bis auf Nominativ Singular auf -n wie bei Kunde, flektiert es schwach (weiß markiert, rechts in Tab. 29). Wird hingegen schwaches Verhalten im Plural, d. h. ein n-haltiger Pluralmarker (weiße Schablone im Plural), mit starkem Verhalten im Singular (graue Schablone im Singular) kombiniert, handelt es sich um die gemischte Flexion wie bei Staat. - Flexionsklassen Komb. star‐ ker / schwa‐ cher Fl.-Merk‐ male stark im Sg. und Pl. gemischt (-F) stark im Sg. schwach im Pl. gemischt (+F) endungslos im Sg. schwach im Pl. schwach im Sg. und Pl. Singular stark stark endungslos schwach Nom. Hund Staat Sache Kunde Gen. Hundes Staates Sache Kunden 142 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="143"?> Dat. Hund Staat Sache Kunden Akk. Hund Staat Sache Kunden Plural stark schwach schwach schwach Nom. Hunde Staaten Sachen Kunden Gen. Hunde Staaten Sachen Kunden Dat. Hunden Staaten Sachen Kunden Akk. Hunde Staaten Sachen Kunden Tabelle 29: Starke und schwache Flexionsmerkmale im Singular und Plural und ihre Kombination in starker, schwacher und gemischter Flexionsklasse Die nominalen Flexionsklassen (Deklinationsklassen) unterscheiden sich gra‐ duell durch die Kombination starker und schwacher Flexionsmerkmale voneinander. Tabelle 29 enthält zwei Beispiele für die gemischte Flexion, weil nur in der gemischen Flexion bei Nicht-Feminina („-F“ in der Tabelle; also Maskulina und Neutra) tatsächlich der Genitivmarker -(e)s auftritt (des Staat-es), wohingegen die Singularformen bei Fe‐ minina endungslos sind (der Sache). Das abweichende Flexionsverhalten der Feminina offenbart eine Genusschranke zu den ähnlich flektierenden Maskulina und Neutra (s. u.-a. Nübling 2008). Tabelle 30 präsentiert die Häufigkeitsverhältnisse von Deklinationsklassen (stark, gemischt und schwach) in den drei Genera (Maskulinum, Neutrum und Femininum). In jeder Zeile dieser Kreuztabelle werden Typen- und nach dem Schrängstrich Tokenfrequenzen angegeben. Die Typenfrequenzen sind Pavlov (1995) entnommen, der sie auf Basis der 6.505 Einträge des Wahrig-Wörterbuchs ermittelt hat. Hierbei machen schwache Maskulina des Typs Matrose, Kunde etwa 17,4% aller maskulinen Simplizia im Deutschen aus. Die Tokenfrequenzen sind ebenfalls von Pavlov (1995) auf Basis von literarischen Prosawerken von 13.587 Tokens geschätzt (s. auch Nübling 2008: 298). In diesem Korpus haben schwache Maskulina einen Anteil von 12,5% aller belegten Maskulina. Bei den Angaben für die starke Flexion werden s-Plural bildende Substantive getrennt aufgelistet, da sie eine besondere Gruppe der starken Flexion bilden: Der s-Plural wird bei vokalisch auslautenden Wörtern und vielen Fremdwörtern angehängt und blockiert die für starke Flexion charakteristische Dativmarkierung im Plural, vgl. mit den Hund-e-n, aber mit den Opa-s (nicht *den Opasn). 7.3 Schwache Maskulina 143 <?page no="144"?> Genera stark gemischt gemischt schwach Maskulina - 66,7%/ 81,1% (Tag, Wald) 3%/ 2,5% (Staat, Strahl) - 17,4%/ 12,5% (Matrose, Kunde) s-Plural 11,5%/ 1,4% (Opa, Zoo) Neutra 74,7%/ 85,3% (Kissen, Haus) 2%/ 8% (Auge, Hemd) - - s-Plural 20,8%/ 4,7% (Klo, Konto) Feminina 0,5%/ 10% (Stadt, Kunst) - 97%/ 88% (Sache, Taube) - s-Plural 1,7%/ 0,2% (Oma, Pizza) Tabelle 30: Typen- und Tokenfrequenz von Deklinationsklassen nach Genus (nach Nübling 2008: 298) Während die überwiegende Mehrheit der femininen Substantive der gemischten Flexionsklasse (Typ: Sache, Taube) angehört und Neutra bis auf wenige Ausnahmen der gemischen Flexion stark und nie schwach flektieren, sind bei den Maskulina alle drei Flexionsklassen relevant: Zwar flektiert die Mehrheit der Maskulina stark (insg. 78,2% aller Substantive mit einer Tokenfrequenz von ings. 82,5%), jedoch gehört eben etwas mehr als ein Sechstel der schwachen Deklinationsklasse an. Jedes achte Maskulinum im Korpus von Pavlov (1995) ist ein schwaches (12,5% Tokenfrequenz). Die gemischte Flexion ist mit ca. 3-% Typenfrequenz am seltensten. Maskulina unterscheiden sich von anderen Genera durch die Deklinations‐ klassenvielfalt, wobei die schwache eine deutlich geringere Typen- und Token‐ frequenz hat als die starke. Die wenigsten Maskulina flektieren gemischt. 7.3.1.2 Semantisch-formale Besonderheiten der schwachen Maskulina Die schwachen Maskulina stehen in Opposition zu einer typen- und tokenbezogen deutlich frequenteren starken Flexionsklasse, deren typische Merkmale das Genitiv-(e)s im Singular und das Dativ-n im Plural sind. Diese formalen Eigenschaften definieren den starken Flexionsprototyp. Der Prototyp der schwachen Maskulinflexion wird nicht nur durch die typischen Formeigenschaften, die n-haltigen Endungen in allen Kasus außer Nominativ, sondern zusätzlich durch die semantische Typizität definiert, die sich in der deutschen Sprachgeschichte ausgebildet hat. 144 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="145"?> Kurzer Abriss der Geschichte der schwachen Deklinationsklasse Die Gruppe der schwachen Maskulina ist historisch gesehen ein „Überbleibsel“ einer Deklinationsklasse, die im Althochdeutschen (500-1050) noch in allen drei Genera vertreten war, wobei auch im Althochdeutschen nur eine kleine Gruppe von Neutra schwach flektierte (Braune 16 2018: 282-291). Charakteristisch für diese Deklinationsklasse sind nasalhaltige Flexionsendungen, die bei Maskulina wie ahd. boto 'Bote' und Feminina wie ahd. tūba 'Taube' im gesamten Paradigma bis auf Nominativ Singular und bei Neutra wie ahd. ouga 'Auge' bis auf Nominativ und Akkusativ Singular auftreten. In den unten aufgeführten ahd. Flexionsparadig‐ men, aus denen die heutige schwache Flexion hervorgeht, sind die nasalhaltigen Flexionsendungen unterstrichen. - - Maskulina Feminina - Neutra Sg. Nom. ahd. boto 'Bote' ahd. tūba 'Taube' ahd. ouga 'Auge' - Gen. - boten - tūbūn - ougen - Dat. - boton - tūbūn - ougen - Akk. - boton - tūbūn - ouga Pl. Nom. - boton - tūbūn - ougun - Gen. - botōno - tūbōno - ougōno - Dat. - botōm - tūbōm - ougōm - Akk. - boton - tūbūn - ougun Im Mittelhochdeutschen (1050-1350) setzt bei Feminina ein Prozess an, der zur Entwicklung der heutigen gemischten Flexion führt, wie sie in Tabelle 29 und Tabelle 30 vorgestellt worden ist. Dabei fallen die n-haltigen Flexionsendungen im Singular weg, vgl. der Taube (G./ D. Sg.). Die wenigen schwachen Neutra gehen in die gemischte Flexion über, vgl. des Auges, dem/ das Auge - die Augen. Auch bei Maskulina verlor die schwache Deklinationsklasse seit dem Mittelhoch‐ deutschen einen beträchtlichen Teil ihrer Mitglieder, wurde dabei aber semantisch reorganisiert (Köpcke 2000). Sie entwickelte sich zur Flexionsklasse für Bezeichnun‐ gen hochgradig belebter Entitäten, die das Zentrum eines anthropozentrischen Kontinuums bilden, also Bezeichnungen für Menschen und menschenähliche Lebe‐ wesen (mehr zum anthropozentrischen Kontinuum s. unten). Köpcke (2000) betrachtet die Entwicklung von 307 maskulinen Substantiven, die nach Paul (1968: §§24-35 und 55f.) bis ins Mittelhochdeutsche (auch vorübergehend) schwach flektieren (s. auch Kürschner 2008: 116-121). Tabelle 31 zeigt, dass von den 307 Maskulina lediglich 67 (ca. 22 %) die schwache Flexion beibehalten haben. Es sind mehrheitlich Bezeichnungen für belebte Entitäten, Menschen (54 Substantive, darunter Bote, Genosse), seltener andere höhere Säugetiere (13 Substantive, darunter 7.3 Schwache Maskulina 145 <?page no="146"?> Affe, Löwe), wobei bei vielen wie bspw. Herr das auslautende e (vgl. mhd. hërre) getilgt wurde (sog. e-Apokope). 194, also ca. 63 % der schwachen Maskulina, sind in die starke Flexion übergegangen, darunter Greis, Schelm. Davon haben 72 - mehrheitlich unbelebte - Substantive eine n-Erweiterung im Stamm erfahren (z.-B. der balke > der Balken, der gaume > der Gaumen). 46 weitere Maskulina, mehrheitlich Bezeichnungen für Fische, Reptilien, Amphibien, Insekten und Weichtiere, die einen abnehmenden Grad an Menschenähnlichkeit aufweisen (z. B. Koralle, Schnecke, Schlange), sowie unbelebte Entitäten wie Flocke oder Fahne wechselten das Genus und wanderten zu den Feminina über (Köpcke 2000, Kürschner 2008). - Menschen Tiere abnehmend menschenähnlich unbelebt Säugetiere > Vögel > Fische > Reptilien > Amphibien > Insek‐ ten > Weichtiere etc. schwach mit e-Auslaut (n = 49) 40 (82-%) Bote, Genosse 9 (19-%) Affe, Löwe, Ochse - - schwach mit e-Apokope (n = 18) 14 (78-%) Herr, Narr 4 (22-%) Bär, Fink - - stark mit e-Apokope (n = 122) 38 (31-%) Greis, Schelm, Gemahl 24 (20-%) Kater, Adler, Star 8 (7-%) Dorsch, Frosch, Krebs 52 (43-%) April, Blitz, Kern Genuswechsel zum Femininum (n = 46) 1Waise 2Ammer, Trappe 15 (33-%) Koralle, Schnecke, Schlange 28 (61-%) Flocke, Sprosse, Fahne stark mit n-Stammerweiterung (n = 72) - - 3Hausen, Huchen, Karpfen 69 (96-%) Balken, Gau‐ men, Magen Tabelle 31: Deklinationsklassen- und Genuswechsel von ursprünglich schwach flektierten Maskulina vom Mittelzum Neuhochdeutschen (nach Kürschner 2008: 119) Die in Tabelle 31 zusammengefasste Auswertung bezieht sich auf die sich wandelnde Typenfrequenz. Untersuchungen zur Tokenfrequenz fehlen bisher, d. h. es ist noch zu ermitteln, wie häufig einzelne diesem Wandel unterliegende Maskulina gebraucht wurden. Durch die oben beschriebene Abwanderung in die starke Deklinationsklasse oder zu den Feminina blieben in der schwachen Deklinationsklasse mehrheitlich maskuline Bezeichnungen für Menschen. Sie sind in den zwei oberen linken Zellen der Tabelle 31 enthalten, teilen das semantische Merkmal [+ menschlich] und bilden bis heute die überwiegende Mehrheit der schwachen Maskulina (Köpcke 1995). 146 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="147"?> Auch schon in der historischen Entwicklung zu erkennen ist eine Tendenz zur bestimmten Form der schwachen Maskulina, die zum großen Teil auf -e auslauten (Bote, Genosse). Eine kleinere Gruppe bilden die e-apokopierten Maskulina wie Herr oder Narr, denen das formale Merkmal (das auslautende -e) fehlt, wodurch sie sich formal nicht mehr von starken Maskulina unterscheiden, vgl. die ursprünglich schwachen Greis oder Schelm, die heute stark flektieren. Neben dem auslautenden -e ist die Mehrheit der heutigen schwachen Maskulina mehr als zweisilbig (bei Köpcke 1995 „mehrsilbig“) mit Betonung auf vorletzte Silbe, vgl. Ge′nosse in Tabelle 31. Die typischen Eigenschaften der schwachen Maskulina beziehen sich nicht nur auf ihre Form, sondern auch auf ihre Bedeutung. Im heutigen Standarddeutsch gruppieren sich die schwachen Maskulina um zwei Prototypen, die sich durch die typische Ausprägung der semantischen und formalen Eigenschaften definieren. Prototyp I der schwachen Maskulina Etwa 400 maskuline Substantive sind um den Prototyp I organisiert (s. Tab. 32). Die typenstärkste Gruppe bilden dabei schwache Maskulina des Typs Matrose. Zu dieser gehören ca. 80 native und etwa 200 nicht-native Substantive (Köpcke 1995: 171). Da sie mit etwa 70 % die Mehrheit der schwachen Maskulina darstellen, formieren ihre Eigenschaften den Prototyp I eines schwachen Maskulinums: eine mehr als zweisilbige („mehrsilbige“) Menschenbezeichung mit e-Auslaut. Alle übrigen Substantive weichen von diesen typischen Eigenschaften graduell ab: Semantisch weisen sie einen unter‐ schiedlichen Grad an Menschenähnlichkeit auf. Formal lassen sie sich abstufen in mehr als zweisilbige („mehrsilbige“) und e-auslautende (Typ: Genosse), zweisilbige und e-auslautende (Typ: Bote) und einsilbige (Typ: Narr). - Abnehmende Menschenähnlichkeit - Menschen Tiere unbelebt mehr als zweisilbig mit e-Auslaut Matrose ca. 280 Types Schimpanse ca. 5 Types Gedanke 1 Type zweisilbig mit e-Aus‐ laut Kurde ca. 70 Types Falke ca. 9 Types Name, Wille, Funke, Friede, (Buch-)Stabe, Glaube einsilbig Held ca. 15 Types Bär ca. 20 Types --- Tabelle 32: Klassifizierung der schwachen Maskulina nach semantischen und formalen Eigenschaften (nach Köpcke 1995: 170) 7.3 Schwache Maskulina 147 <?page no="148"?> Die Menschen bezeichnenden Zweisilber des Typs Kurde teilen mit dem Prototyp die Semantik, aber nicht die Form. Zwar enthalten sie das auslautende -e, doch dieses Merkmal bildet keine notwendige Bedingung, schwach zu flektieren: Substantive mit gleicher Form wie Piefke, Steppke oder Vize flektieren stark. Tierbezeichnungen des Typs Oktopode haben zwar die prototypische (mehr als zweisilbige) Form, weichen aber semantisch vom Prototyp ab, da sie zwar belebte, aber nicht menschliche Entitäten bezeichnen. Substantive des Typs Falke weichen in zweifacher Hinsicht vom Prototyp ab: sowohl semantisch (Tierbezeichnung) als auch formal (Zweisilbigkeit). Die einsilbigen Menschenbezeichnungen (Typ Held) haben keine formalen Gemeinsamkeiten, sind dem Prototyp aber semantisch näher als Tierbezeichnungen (Typ Bär). Semantisch am weitesten vom Prototyp entfernt sind Bezeichnungen für Unbelebtes, die entweder mehr als (Gedanke) oder nur zweisilbig (u. a. Name) sind. Es gibt keine einsilbigen schwach flektierten und Unbelebtes bezeichnenden Substantive, was vermuten lässt, dass Mehrsilbigkeit (also eine zumin‐ dest trochäische Struktur) ein wichtigeres Merkmal für den Erhalt der schwachen Flexionsmerkmale ist als die Semantik. Der Klassenerhalt der unbelebten schwachen Maskulina ist auf ihre prosodische Struktur zurückzuführen. Umgekehrt gibt es kaum unbelebte, auf Schwa auslautende Substantive, die stark flektieren. Die Ausnahmen bilden Käse und ge-Bildungen wie Gerede (Thieroff 2003). Prototypische Maskulina (Prototyp I) sind mehr als zweisilbige Menschen‐ bezeichnungen mit e-Auslaut, z. B. Matrose. Je weniger prototypisch ein schwach flektiertes Maskulinum ist, desto geringer unterscheidet es sich von stark flek‐ tierenden Maskulina. Die hier beschriebene Gradualität der formalen und semantischen Eigenschaften bedingt die heutige Variation im Gebrauch der schwachen Maskulina. Mit jeder Abschwächung der für schwache Maskulina typischen Eigenschaften sinkt das Ab‐ grenzungspotential zu dem rein formal definierten schwachen Prototyp. Daher stehen nicht-prototypische schwache Maskulina im Spannungsfeld zwischen der schwachen und der starken Flexion. Je weniger prototypisch sie sind, desto eher können sie die starken Flexionsmerkmale annehmen. Starke Flexionsvarianten von nicht-prototypi‐ schen schwachen Maskulina setzen die sprachhistorisch beobachtbare Reorganisation der schwachen Maskulina fort und bilden die Grundlage für sprachliche Zweifelsfälle. Prototyp II der schwachen Maskulina Nicht unerheblich wird die schwache Maskulinflexion durch Entlehnungen unterstützt (Köpcke 1995: 167-169). Anders als die etwa 200 nicht-nativen Substantive wie Matrose, Theologe oder Schamane, die den Prototyp I stärken, sind umfangreiche Entlehnungen, die v. a. im 18. und 19. Jh. aus dem vom deutschen Bürgertum gepflegten Französischen 148 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="149"?> ins Deutsche gelangten, endbetont, z. B. Journalist (aus franz. journaliste). Solche Entlehnungen haben maßgeblich zur Entstehung des Prototyp II der schwachen Maskulina beigetragen - einer jungen Abstaltung vom Prototyp I, mit dem sie alle Eigenschaften bis auf die abweichende Ultimabetonung teilen, die in den meisten Fällen auf ein fremdes (hauptbetontes) Suffix wie -ist, -ant oder -(i)ent zurückgeht. Die weit über 800 nicht-native Substantive zählende Gruppe ist somit die größte Gruppe der schwachen Maskulina und ebenfalls prototypisch organisiert: ihre Mehrheit ist mehr als zweisilbig und bezeichnet menschliche Entitäten. Sie sind endbetont (Köpcke 1995: 175, Bittner 2003 [1991]: 105). Tabelle 33 präsentiert die Typenfrequenz der Substantive mit den wichtigsten fremden endbetonten Suffixen bezüglich ihrer Flexion. Es zeigt sich, dass schwach flektierende Suffigierungen wie Journalist, Legat, Rezipient, Spekulant usw. mehrheit‐ lich oder wie bei den ist-Bildungen sogar ausschließlich Menschenbezeichnungen sind. Umgekehrt ist die starke Flexion Derivaten für unbelebte Entitäten wie Aorist, Granat, Akzent usw. vorbehalten. Während schwachflektierende Maskulina auf -ist prototy‐ pisch sind, finden sich bei anderen Suffigierungen mit eher seltenen Bezeichnungen für Tiere und Pflanzen (Elefant, Parasit) schwächere semantische Ausprägungen. Schließlich besetzen schwach flektierte Bezeichnungen für Unbelebtes, darunter viele graph/ graf-Bildungen wie Autograph/ Autograf, den Randbereich des Prototyps nach dem semantischen Kriterium der Belebtheit. - schwache Flexion starke Flexion Suffix Menschen belebt unbelebt Menschen belebt unbelebt -ist > 300 Journalist - - - - 2Aorist -at 37 Adressat 1 2 Automat - 1 21 Granat -(i)ent 63 Patient - 7 Koeffizient - - 10 Akzent -ant 97 Spekulant 1Elefant 16 Konsonant - - 8Krokant -it 21 Sodomit 3Parasit 6Stalaktit - - 42 Transit -graph/ -graf 14 Geograph - 21 Autograf - - - Tabelle 33: Typenfrequenz der Substantive mit fremden Suffixen mit schwacher und starker Flexion geordnet nach Belebtheit (Köpcke 1995: 175) Prototypische Maskulina (Prototyp II) sind endbetonte, mehr als zweisilbige Menschenbezeichnungen, z.-B. Journalist. Zum Prototyp II tragen fremdsprach‐ 7.3 Schwache Maskulina 149 <?page no="150"?> liche Suffixe in unterschiedlichem Maße bei: Schwach flektierende Suffigierun‐ gen auf -ist bezeichnen ausschließlich Menschen, wohingegen schwach flektierte Suffigierungen auf -graph/ -graf mehrheitlich unbelebte Semantik transportieren. Die Bezeichnungen für Unbelebtes, in Tabelle 33 auf weißem Hintergrund, stehen in einem Spannungsfeld zwischen der schwachen und der starken Flexion: Gegenüber den ausschließlich Menschenbezeichnenden ist-Bildungen sind sie bei at- und (i)ent-Bil‐ dungen wie Automat oder Koeffizient mit einem Anteil von 5 %-10% in der Unterzahl und gehören zur Peripherie der schwachen Flexion. Das Spannungsfeld zwischen der schwachen und starken Flexion wird weiterhin durch die stark flektierenden Suffigie‐ rungen unterstützt, die fast ausschließlich Unbelebtem vorbehalten sind (Granat oder Akzent). Bei schwach flektierenden Bildungen auf -ant und -it machen Bezeichnungen für Unbelebtes wie Konsonant und Stalaktit zwischen 13-20% aus und stehen stark flektierenden, ausschließlich Unbelebtes bezeichnenden Bildungen wie Krokant oder Transit gegenüber. 7.3.2 Gebrauchsanalyse: Abbau schwacher Flexionsmerkmale Die Zweifelsfälle, die durch den Abbau schwacher Flexionsmerkmale zustande kom‐ men, betreffen die unprototypischen schwachen Maskulina. Als die stärkste Abwei‐ chung kann die Einsibligkeit des Stamms wie bei Held gewertet werden. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass unter einsilbigen schwachen Maskulina des Prototyps I keine Bezeichnungen für Unbelebtes zu finden sind. Bei schwachen Maskulina des Prototyps II fehlen einsilbige Substantive vollständig. Umgekehrt flektiert die überwiegende Mehrheit der einsilbigen Maskulina stark. Einsilbige Maskulinstämme wie Held teilen mit dem Prototyp nur semanti‐ sche Merkmale der Belebtheit. Einsilbige schwache Maskulina wie Held weisen also schwache Flexionsformen nur im obliquen Kasus auf, s. linke Spalte in Tabelle 34. Wenn die schwachen Endungen im Dativ und Akkusativ fehlen, gleichen die Formen im Singular bis auf den Genitiv der starken Flexion, s. zweite Spalte von rechts in Tabelle 34. Der Genitiv ist dann der starken Flexion angepasst, wenn die schwache en-Endung durch die starke (e)s-Endung ersetzt wird, d. h. des Helden (schwach) zu des Heldes (stark). Wird die schwache en-Endung im Genitiv beibehalten, ergibt sie in Kombination mit stark flektiertem Dativ und Akkusativ ein Singularparadigma, in dem starke und schwache Formen gemischt sind („gemischt einsilbig“ in Tab. 34). Durch die Anreicherung der schwachen en-Endung durch die starke (e)s-Endung kommt es zur doppelten Genitivmarkierung wie in Held-ens (s. „gemischt zweisilbig“ in Tab. 34). Im Gegensatz zur „klassischen“ 150 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="151"?> gemischten Flexion entsteht in beiden Fällen ein aus starken und schwachen Flexions‐ formen gemischter Singular. Flexionsklasse: schwach gemischt zweisilbig gemischt einsilbig stark Held Nominativ der Held Held Held Held Genitiv des Held-en Held-ens Held-en Held-es Dativ dem Held-en Held(en) Held Held Akkusativ den Held-en Held(en) Held Held Friede Nominativ der Friede Friede - Frieden Genitiv des Friede-n Friede-ns - Frieden-s Dativ dem Friede-n Friede-n - Frieden Akkusativ den Friede-n Friede-n - Frieden Tabelle 34: Starke, gemischte und schwache Flexionsformen von Held und Friede im Singular Die Aufgabe der schwachen Flexionsendungen im Dativ und Akkusativ Singular der einsilbigen Maskulina ergibt eine gemischte Singularflexion, die sich formal nur im Genitiv von der starken unterscheidet. Bei zweisibligen, jedoch unprototypischerweise Unbelebtes bezeichnenden Substan‐ tiven wie der Friede führt diese s-Erweiterung im Genitiv wie in des Friedens zur Reanalyse (Umdeutung) der Flexionsendung -n als Teil des Lexems: Friede-n-s > Frieden-s. Den Weg sind viele unbelebte Substantive gegangen, z. B. Balken (früher Balke) (s. Tab. 31). Im Gegensatz zu den Einsilbern verlieren sie nicht die n-Endung im Dativ und Akkusativ (dem/ den Friede-n), sondern erweitern die Genitivform (des Friede-n-s), eine weitere Version des gemischten Singulars (s. oben). Wird durch die Präsenz der s-Genitivmarkierung der n-Auslaut als Teil des Lexems umgedeutet, tritt er auch im Singular Nominativ hinzu: der Frieden, wodurch der Übertritt in die starke Flexion abgeschlossen ist. Schäfer (2019) wertet den Gebrauch der schwachen Maskulina auf Basis des Web‐ korpus des Deutschen DECOW12A aus, das 9,1 Milliarden Tokens enthält (Schäfer und Bildhauer 2012). Mittlerweile ist das Webcorpus weiter gewachsen und umfasst in der neuesten Version (DECOW14) 20,5 Milliarden Tokens (Schäfer 2015). In der Version DECOW12A (9,1 Milliarden Tokens) identifiziert Schäfer (2019) mit der Suche nach 7.3 Schwache Maskulina 151 <?page no="152"?> schwach flektierten Formen in Verbindung mit der Genitivform des Definitartikels des 451 Substantiv-Types (z. B. des Helden). Anschließend ermittelt er die Häufigkeit der schwachen und starken Flexionsformen dieser Substantive nach Indefinitartikel (eines, einem, einen), gefolgt optional von einem flektierten Adjektiv (z. B. großen) und dem gesuchten Substantiv, z. B. Helden (schwach)/ Heldes (stark). Lediglich 2,8% aller so ermittelten Flexionsformen der 451 Substantivtypes sind stark (26.667 Belege). Die schwachen Formen bilden mit 926.450 Belegen die überwiegende Mehrheit. Dies zeigt, wie gering die Gebrauchsfrequenz starker Flexionsformen bei den Substantiven ist. Die starken Flexionsformen treten im Dativ in 2,8% und im Akkusativ in 2,5% der Fälle und damit häufiger als im Genitiv auf, wo sie nur 1,1% der Belege ausmachen (Schäfer 2019: 402). Starke Flexionsvarianten sind im Dativ und Akkusativ Singular häufiger als im Genitiv Singular. Diese empirische Untersuchung zeigt, dass die Häufigkeit der starken Flexionsformen davon abhängig ist, wie prototypisch oder unprototypisch die Substantive sind. Tabelle 35 bietet eine Übersicht über die auf Basis der Ergebnisse berechnete Chance (sog. odds ratio), stark zu flektieren, je nach Grad der Prototypizität: Die Chance, stark zu flektieren, ist bei einsilbigen Substantiven, d. h. Substantiven mit dem geringsten Grad an Prototypizität, am höchsten. Bei einsilbigen Nicht-Menschenbezeichnungen wie Bär ist die Chance, stark flektiert zu werden 9,281-mal höher als schwach flektiert zu werden. Ebenfalls hoch ist die Chance, stark zu flektieren, bei einsilbigen Menschenbezeichnungen wie Held. Sie liegt 4,778-mal so hoch wie bei der schwachen Flexion. Prototyp I Chance Prototyp II Chance menschlich Matrose 0,605 Kurde 0,605 belebt Schimpanse 1,176 Falke 1,176 unbelebt Gedanke 1,087 menschlich Artist 1,770 belebt Leopard 3,438 unbelebt Trabant 3,177 menschlich Held 4,778 belebt Bär 9,281 gering hoch Prototypizität mehrsilbig einsilbig Tabelle 35: Chancen, stark zu flektieren (odds ratio), geordnet nach Prototypizität der schwachen Maskulina (nach Schäfer 2019: 406) 152 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="153"?> Die Mehrsilbigkeit erhöht den Prototypizitätsgrad und verringert die Chance, stark zu flektieren. Dies trifft bei mehrsilbigen, endbetonten Substantiven (Prototyp II) zu, wobei sich hier das semantische Kriterium auswirkt: Menschen bezeichnende Substantive wie Artist heben sich von belebten (Leopard) und unbelebten (Trabant) ab, deren Chance auf starke Flexion 3-mal so hoch ist wie auf schwache. Bei Substantiven wie Artist ist sie hingegen nur noch 1,770-mal so hoch und damit vergleichbar mit semantisch vom Prototyp I entfernten, mehrsilbigen auf Schwa auslautenden Substan‐ tiven. So ist die Chance, stark flektiert zu werden, bei Nicht-Menschen bezeichnenden Substantiven (Schimpanse, Falke, Gedanke) nah beieinander und nur leicht erhöht (1,087bis 1,176-mal höher). Bei Menschenbezeichnungen wie Matrose oder Kurde werden schwache Flexionsformen deutlich bevorzugt. Nur bei diesen Substantiven ist die Chance, stark zu flektieren, kleiner als die, schwach zu flektieren. Die Gebrauchsstudie von Schäfer (2019) zeigt, dass Substantive, die den höchsten Prototypizitätsgrad aufweisen, weil sie Menschen bezeichnen, zwei- oder mehrsilbig sind und auf Schwa auslauten, vor Schwankungsfällen am besten geschützt sind. Interessanterweise hat der Unterschied zwischen mehr- (Typ Matrose) und zweisilbigen Substantiven (Typ Kurde) keinen Einfluss auf ihr flexivisches Verhalten, so dass man schlussfolgern kann, dass der Schwaauslaut (und damit ein trochäisches Betonungs‐ muster) ein stärkeres Merkmal der schwachen Flexion ist als die Anzahl der Silben. Substantive mit einem geringeren Prototypiziätsgrad geraten in das Spannungsfeld zwischen schwacher und starker Flexion, so dass bei ihnen stark flektierte Formen ver‐ stärkt auftreten. Dies zeigt sich bereits bei den auf Schwa auslautenden Substantiven, die nicht Menschen bezeichnen, die also nur auf der semantischen Ebene vom Prototyp abweichen (Typ: Schimpanse, Falke, Gedanke). Deutlich höher ist die Anziehungskraft der starken Flexionsklasse bei einer formalen Abweichung, die mehrsilbige, aber nicht auf Schwa auslautende Substantive (Prototyp II) zeigen, wobei innerhalb dieser Gruppe eine zusätzliche Abweichung auf der semantischen Ebene eine weitere Erhöhung des Anteils an stark flektierten Formen (Typ: Leopard, Trabant) bedeutet. Fehlt der formale Schutz komplett, wie das bei Einsilbern der Fall ist (Held, Bär), wirkt die Anziehungskraft der starken Flexion am stärksten, aber auch hier semantisch bedingt abgestuft. Die Chance für eine schwache Flexionsvariante ist nur bei prototypischen schwachen Maskulina (Prototyp I) höher als für die starke. Dies sind Menschen‐ bezeichnungen mit e-Auslaut wie Matrose oder Kunde. In Tabelle 35 sind zweisilbige, auf Schwa auslautende Substantive, die Unbelebtes bezeichnen, nicht berücksichtigt (Typ: Friede). Es handelt sich um eine kleine Gruppe von Substantiven: Name, Friede, Wille, Buchstabe, Glaube und Funke (s. auch Tab. 32), die in der Studie von Schäfer (2019) einen sehr hohen Anteil an stark flektierten Formen (vermutlich v. a. im Genitiv) zeigen: Während bspw. Gedanke, das einzige 7.3 Schwache Maskulina 153 <?page no="154"?> mehrsilbige Abstraktum, zu lediglich 7 % stark flektiert wird, sind die Anteile bei diesen Substantiven sehr hoch: Buchstabe - 10 %, Friede - 13 %, Wille - 13 %, Glaube - 15 %. Lediglich Name weist mit 3 % einen geringen Anteil an starken Flexionsformen auf, Funke ist in der Untersuchung von Schäfer (2019) nicht enthalten. Auch im Nominativ steht der alten Stammform wie der Friede die neue Form der Frieden gegenüber, in der die ursprüngliche n-Flexionsendung (wie in des Friede-n, dem Friede-n, den Friede-n) als Teil des Stammes reanalysiert wird (s. Tabelle 34). Das im DWDS-Kernkorpus (1990- 1999) ermittelte Verhältnis zwischen beiden Stammformen (im Nominativ Singular, Suchsyntax @der @Friede/ Glaube/ Wille bzw. @ein @Buchstabe/ Funke/ Name) ist zwar je nach Substantiv unterschiedlich, eine Tendenz zum vollständigen Übergang zur starken Flexion ist jedoch erkennbar: Der Anteil an der neuen Stammform ist mit über 30 % am höchsten bei der Frieden (252 Belege) vs. der Friede (488 Belege) und ein Funke (45) vs. ein Funken (21), während der Glaube (775) und der Wille (927) deutlich über der Glauben (12 Belege) und der Willen (4 Belege) liegen. Buchstabe und Name lassen sich kaum mit der n-erweiterten Stammform (Buchstaben oder Namen) finden. An den semantischen Rändern des Prototyps gibt es somit große Flexionsschwankungen, die sogar die Stammform verändern lassen (Friede > Frieden). Auch hier greift die in der Sprachgeschichte wirksame Tendenz weiter (s. Köpcke 1995, 2000 und Tab. 31). Substantive wie Friede/ -n haben zusätzlich das Potential, einen semantischen Zwei‐ felsfall zu generieren, da sie nicht klar mit zwei großen Bereichen des Bedeutungsfeldes von Friede-/ n assoziiert werden: 1) (als Gegensatz zu 'Krieg') 'zwischenstaatlicher Zustand der Ruhe und Sicherheit, ohne militärische Auseinandersetzungen' und 2) (im Gegensatz zu 'Zwietracht') 'innerlicher wie zwischenmenschlicher Zustand der Eintracht'. Diese semantische Ausdifferenzierung kann nur im Nominativ ausgedrückt werden, da die übrigen gleichlauten: der Friede-/ n, des Friedens, dem Frieden, den Frieden, denn der Friede flektiert schwach oder gemischt (zweisiblig) und der Frieden stark (s. Tab. 34). Weitere gebrauchslinguistische Studien sind notwendig, um zu klären, ob bspw. die Form der Friede häufiger gebraucht wird, wenn neben der Bedeutung 'Gegensatz des Krieges' auch der Aspekt der zwischenmenschlichen Eintracht mit vermittelt werden soll wie in Der Friede und die Freiheit unseres Landes ist nur in einem engen Zusammenschluss der Völker zu sichern oder weiterhin wie häufig die Form der Frieden in bspw. religiösen Kontexten für den inneren Frieden wie in der Friede/ Frieden Gottes bewahre unsere Herzen gebraucht wird. Stammvarianten wie Friede/ Frieden lösen semantische Zweifelsfälle aus. Schließlich sind auch Zweifelsfälle um die Flexion von Substantiven auf -or wie Autor, Pastor oder Juror bekannt (Köpcke 2005, Schäfer 2019). Diese Substantive flektieren gemischt: stark im Singular (des Autors/ dem Autor/ den Autor), aber schwach im Plural (die Autoren). Somit unterscheiden sie sich im Plural nicht von anderen schwachen Maskulina wie z. B. die Kurden, die Schwaben. Im Singular existieren neben starken 154 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="155"?> Formen (des Autors, mit dem Autor) schwach flektierte wie des Autoren, mit dem Autoren. Dabei treten die schwachen Flexionsformen häufiger im Genitiv (Anteil von 3 %) als im Dativ und Akkusativ (Anteil je 2 %) auf. Die Chance, schwach zu flektieren, ist im Genitiv 1,5-mal höher als im Dativ oder Akkusativ (Schäfer 2019: 407). Schäfer (2019: 406-407) ermittelt auch für diese (ursprünglich) starken Substantive eine auf Belebtheit basierte Tendenz zur schwachen Flexion: So lassen die von ihm untersuchten 32 Menschen bezeichnenden Substantive einen viel höheren Anteil an schwacher Flexion (ca. 4 %) zu als die 30 Substantive auf -or für Nicht-Menschen wie Transistor, Motor oder Rotor (ca. 0,02%). Menschen bezeichnende gemischt flektierte Substantive auf -or nehmen v. a. im Genitiv Singular die schwachen Flexionsmerkmale an, z. B. des Autor-en. Flexionsklasse gemischt schwach Singular (stark oder schwach) Nominativ der Autor Autor Genitiv des Autor-s Autor-en Dativ dem Autor Autor-en Akkusativ den Autor Autor-en Plural (schwach) Nominativ die Autor-en Genitiv der Autor-en Dativ den Autor-en Akkusativ die Autor-en Tabelle 36: Autor als Zweifelsfall - Schwankung zwischen der gemischten und der schwachen Flexion 7.4 Der am-Progressiv 7.4.1 Grammatische Beschreibung Ich bin noch am Abklären, ob…; Bist du noch am Arbeiten? ; Sie war am Lesen, als…; Ich bin die ganze Zeit nur am Telefonieren. Diese Sätze vereint die Verbalform mit finitem Verb sein und einer infiniten Verbform am verb-en: (ich) bin am Abklären, (du) bist am Arbeiten, (sie) war am Einschlafen, (ich) bin am Telefonieren, mit der die Progressivität ausgedrückt wird. Unter Progressivität ist eine besondere grammatische Leistung der 7.4 Der am-Progressiv 155 <?page no="156"?> Verbalform zu verstehen, das Ereignis in seinem schrittweisen Verlauf darzustellen. Daher auch die Bezeichnung „Verlaufsform“. Progressive Verbalformen können: 1. einen bestimmten Moment, in dem die Handlung stattfindet, in den Fokus stellen (fokussierender Typ), z.-B. Ich war am Lesen, als das Telefon klingelte, 2. sich auf einen längeren, unbestimmten Zeitraum beziehen (durativer Typ; siehe Bertinetto, Ebert und de Groot 2009), z.-B. Ich bin die ganze Zeit nur am Telefonieren. Der am-Progressiv ermöglicht eine besondere grammatische Leistung des Verbs, das Ereignis in seinem schrittweisen Verlauf darzustellen. Progressive Verbalformen „zoomen“ in das Eregnis, das sich über längere Zeit hinzieht („verläuft“), „hinein“, weil sie über einen kurzen Zeitabschnitt (sog. Topikzeit in Abb. 18) eine Aussage machen und diesen in eine größere Ereigniszeit des Lesens einbetten (sog. Ereigniszeit in Abb. 18). In anderen Worten: Wir wissen, dass, wenn jemand zum Zeitpunkt des Klingelns eines Telefons liest (Topikzeit), die Person auch schon davor und danach gelesen hat (Ereigniszeit). Zeit danach Zeit davor Ereigniszeit lesen Referenzpunkt gerade Topikzeit Ich war am Lesen Abb. 18: Die Zeitrelation des am-Progressivs (nach Flick 2016: 167) Um Progressivität auszudrücken, gibt es im Deutschen mehrere Möglichkeiten. Damit steht der am-Progressiv in Konkurrenz zu anderen Formen, die dieselbe Information transportieren. Dies ist eine klassische Situation, die zum Zweifeln an der Richtigkeit führen kann. Abbildung 19 stellt die Formenvielfalt dar. Es ist gut sichtbar, dass neben dem Präsens wie Sie arbeitete gerade und der syntaktischen Umschreibung Sie war dabei, zu arbeiten drei gleich aufgebaute Konstruktionen am [Verb]-en sein, beim [Verb]-en sein und im [Verb]-en sein und eine erweiterte mitten im [Verb]-en sein zur Verfügung stehen. 156 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="157"?> am-Konstruktion: Er ist am Backen. beim-Konstruktion: Er ist beim Schwimmen. im-Konstruktion: Die Preise sind im Sinken (begriffen). mitten-im-Konstruktion: Er ist mitten im Arbeiten. Präsens: Er schwimmt gerade. dabei sein: Er ist dabei, ein Buch zu lesen. Abstraktes Progressivschema: sein + Präposition = Artikel + Infinitiv/ Substantiviertes Infinitiv Abb. 19: Konkurrierende Formen zum Ausdruck der Progressivität Für den Ausdruck der Progressivität gibt es im Deutschen mehrere konkurrie‐ rende Formen. 7.4.1.1 Die Lesarten der am-Form: Lokativ und progressiv Nicht bei jedem Ausdruck, dessen Form am und Infinitiv enthält, handelt es sich tatsächlich um einen am-Progressiv. Die Form kann mindestens drei Bedeutungen ausdrücken: die Lokativität, die Progressivität und die Absentivität. (27) Sie ist am Spielen - a. Lokativität: Bei lokativer Lesart steht die Information über die Verortung des Satzsubjektes im Vordergrund. - b. Progressivität: Die Form hat eine progressive Lesart, wenn sie die Handlung im Verlauf fokussiert. - c. Absentivität: Die absentive Lesart informiert vordergründig über die Abwe‐ senheit des Satzsubjektes. Die lokative Lesart (27a) kommt zum Zuge, wenn sie mit der am-Form eine Antwort auf die Frage Wo befindet sich jemand? bietet, z. B. Wo ist Anna? Hier steht die Verortung des Subjekts (hier: Anna) im Vordergrund. Der Aufenthaltsort (z. B. Spielplatz) kann aus der Information über die Tätigkeit ist am Spielen erschlossen werden. Die progressive 7.4 Der am-Progressiv 157 <?page no="158"?> Lesart (27b) ist im Zuge der Grammatikalisierung entstanden (s. Kap. 7.4.1.2). Diese am-Form antwortet auf die Frage Was macht jemand gerade? Die absentive Lesart (27c) wird aktiviert, wenn die Form auf die Frage antwortet Ist jemand gerade da? In dem Falle liefert die Form die Information, dass die Person abwesend ist, indem sie ihre Tätigkeit an einem anderen Ort benennt: Frage: Ist Anna da? , Antwort: Nein, sie ist am Spielen (Wöllstein 2013; Fortmann und Wöllstein 2013, 2019). Sie ist am Spielen. lokative Lesart Frage: „Wo ist sie? “ progressive Lesart Frage: „Was macht sie gerade? “ absentive Lesart Frage: „Ist sie gerade da? “ Abb. 20: Die am-Form und ihre Lesarten Die am-Form kann eine lokative, eine progressive oder eine absentive Lesart transportieren. Je nach Lesart hat die am-Form eine andere syntaktische Struktur. Die mit der lokativen Lesart korrespondierende Form besteht aus einem Existenzverb sein und einer Präpositionalphrase am + substantiviertem Infinitiv, d. h. einem Nomen, das von einem Verb wie spielen abgeleitet ist. Damit ist die syntaktische Struktur exakt dieselbe wie z. B. in Sie ist am Spielplatz, sie ist am Bahnhof, sie ist am Pult. Auch diese Sätze antworten auf die Frage Wo ist sie? (s. Tab. 37). Subjekt Verb Präpositionalphrase zur Bestimmung des Ortes Sie ist am Spielen - - am Spielplatz - - am Computer - - am Klavier Tabelle 37: Syntaktische Struktur bei der lokativen Lesart der am-Form Mit dem Verb sein ‚sich befinden‘ wird das Subjekt verortet. Die genauen Koordinaten zur Bestimmung des Ortes liefert die Präpositionalphrase. Diese besteht aus einer Präposition-Artikel-Verbindung (an + dem > am) und einem Nomen (Spielen, Spielplatz, Computer, Klavier). 158 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="159"?> Das Spielen ist in diesem Falle eine nominale Form, also ein Substantiv. Zu typischen Eigenschaften von Nomina gehören die (adjektivische) Attribuierung sowie die Ver‐ wendung von Artikeln: das laute Spielen. Nomina, und damit auch die substantivierten Infinitive, können als Subjekte, Objekte, Attribute, Adverbiale verwendet werden (vgl. Subjekt: Lautes Spielen ist hier nicht erlaubt; Objekt: Ich höre lautes Spielen; Attribut: Gründe für das Spielen von Musikinstrumenten sind vielfältig; Adverbial: Beim Spielen werden Glückshormone ausgeschüttet). Eine progressiv gebrauchte Form Sie ist gerade am Spielen ist das Ergebnis einer Reanalyse (Umdeutung) der ursprünglichen, lokativen Konstruktion. Sie bildet eine komplexe (periphrastische) Verbalform aus dem Hilfsverb sein und einer komplexen Infinitivform am spielen aus der Partikel am und der infiniten Verbalform spielen. Mit der progressiven Lesart korrespondiert die Tendenz zur Kleinschreibung des Infinitivs, z.-B. Sie ist am spielen (Rödel 2004b). Subjekt komplexe (periphrastische) Verbalform aus: - Hilfsverb Infinitivform Sie ist am Spielen/ spielen Tabelle 38: Syntaktische Struktur bei der progressiven Lesart der am-Form Der am-Progressiv enthält eine Verbalform aus dem Hilfsverb sein und einer um die Partikel am erweiterten Infinitivform. 7.4.1.2 Die fortschreitende Grammatikalisierung des am-Progressivs Der am-Progressiv ist eine verhältnismäßig junge grammatische Struktur, die im standardsprachlichen Gebrauch grammatische Restriktionen aufweist. Sie sind vor dem historischen Hintegrund ihrer Entstehung zu betrachten: Kurzer Abriss der Geschichte des am-Progressivs Der am-Progressiv hat sich im Zuge der Grammatikalisierung aus der ursprüng‐ lichen lokativen Phrase herausgebildet (van Pottelberge 2004, 2005; Szczepaniak 2 2011: 158-165; Flick 2016). Der erste historische Schriftbeleg des am-Progressivs ist relativ jung und gehört der frühneuhochdeutschen Sprachstufe (1350-1650) an. Er stammt aus dem Tagebuch eines Augsburger Kaufmanns, Lucas Rem, das er 1494 bis 1541 geführt hat. Seit dem 18. Jh. findet der am-Progressiv sporadisch Eingang in literarische Texte (Dramen und Romane; s. van Pottelberge 2004: 231-239 und 343-347; Rödel 2004a: 141). Er ist auch in privaten Briefen belegt, die im 19. Jh. von in die USA Ausgewanderten oder Auswandernden geschrieben wurden (Elspaß 2005: 268-275). 7.4 Der am-Progressiv 159 <?page no="160"?> Die historischen Belege stammen hauptsächlich aus dem Rheinland und der Schweiz. Auch der „Atlas zur deutschen Alltagssprache“, in dem der Sprachge‐ brauch dokumentiert wird, der nach Auskunft der Befragten im Ort gegenwärtig üblich ist, liefert ein klärendes Bild: Die am-Progressive sind v. a. im westlichen Streifen des deutschsprachigen Gebietes als „völlig üblich“ eingeschätzt worden. Ostwärts wird ihre Verwendung zunehmend als „neuerdings üblich“ oder schließ‐ lich „völlig unüblich“ eingeschätzt (Zweite Fragerunde). Dafür, dass der Ursprung des am-Progressivs in den westmitteldeutschen und alemannischen Dialekten zu suchen ist, sprechen weitere Fakten: So gelten für den am-Progressiv im ripuarischen, moselfränkischen und rheinfränkischen Dialektgebiet kaum Verwendungsrestriktionen (Ramelli 2012, 2015; Flick und Kuhmichel 2013; Kallenborn 2019). In dem benachbarten hessischen Dialektgebiet sind die am-Progressive nur im westlichen Teil belegt, sonstige hessische Dialekte bevorzugen - laut dem SyHD-Atlas zur Syntax hessischer Dialekte - andere Ausdrücke für Progressivität (darunter die tun-Periphrase, s. syhd.info/ apps/ atl as/ index.html#progressivkonstruktionen von Katrin Kuhmichel, zuletzt gesehen am 27.01.2022). Der Gebrauch des am-Progressivs in überregionalen Standardvarietäten markiert die jüngste Stufe in seiner Ausbreitung im Varietätenraum. Der am-Progressiv ist heutzutage Teil der gesprochenen und geschriebenen Standardsprache (Krause 2002, Flick 2016). Die grammatischen Restriktionen (Verwendungsbeschränkungen) beim am-Progres‐ siv betreffen v. a. zwei Eigenschaften des im Infinitiv stehenden Vollverbs. Durch die Überwindung dieser Restriktionen erhöht sich der Grammatikalisierungsgrad der Form: 1. Aktionsart des Verbs: Mit wachsendem Grammatikalisierungsgrad steigt die semantische Vielfalt der im Infinitiv stehenden Vollverben. In Verbindung mit atelischen Verben wie spielen und werkeln, die länger andau‐ ernde Aktivitäten bezeichnen (s. Kap. 3.1.1), ist der Grammatikalisierungsgrad vergleichsweise gering, denn solche nicht-grenzbezogenen Verben sind mit der progressiven Lesart der Gesamtform semantisch kompatibel. Geht der am-Pro‐ gressiv auch Verbindungen mit telischen (grenzbezogenen) Verben wie einschlafen oder untergehen und schließlich sogar mit Zustandsverben wie lieben ein, ist sein Grammatikalisierungsgrad höher (mehr zur Aktionsart s. Flick 2016). 2. Transitivität des Verbs: Der Einsatz von direkten Objekten wird mit wachsen‐ dem Grammatikalisierungsgrad möglich. Intransitive Verben wie schlafen, d. h. solche, die ohne Akkusativobjekte auftre‐ ten, bilden keine Hürden für den am-Progressiv und sind schon bei geringem Grammatikalisierungsgrad möglich. Transitive Verben hingegen, z. B. packen oder reparieren, können sehr gut als Messkriterium für den wachsenden Grammatika‐ lisierungsgrad des am-Progressivs genutzt werden. Das Akkusativobjekt Koffer 160 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="161"?> kann mit dem substantivierten Infinitiv des transitiven Verbs packen ein Rektions‐ kompositum bilden wie in Sie ist am Kofferpacken oder das Attribut dazu stellen: Sie ist am Packen des Koffers/ der Koffer. In beiden Fällen ist Packen als substantivierter Infinitiv der Kopf einer Nominalphrase. Ein höherer Grammatikalisierungsgrad ist erreicht, wenn das Akkusativobjekt vorgelagert wird, so dass der Infinitiv mit dem Hilfsverb eine Klammer bildet. Das Hilfsverb ist steht in der linken Verbklammer (LK), der Infinitiv in der rechten (RK): Sie [ist] LK Koffer am [Packen] RK , sie [ist] LK die Uhr am [Reparieren] RK . Der am-Progressiv unterliegt in den Varietäten des Deutschen, u. a. auch in der Standardsprache, grammatischen Restriktionen bezüglich der Eigenschaften des im Infinitiv stehenden Vollverbs. 7.4.2 Gebrauchsanalyse: Der Grammatikalisierungsgrad des am-Progressivs im Varietätenraum Die Verbwahl beim am-Progressiv ist ein wichtiges Kriterium, um seine Grammatika‐ lisierung zu bestimmen (Krause 2002, Szczepaniak 2 2011, Ramelli 2012, 2015, Flick 2016). Auf Basis der bisherigen Forschung lassen sich regionale Unterschiede in grammati‐ schen Restriktionen sowohl zwischen den Dialekten, in den regionalen Ausprägungen der Alltagssprache als auch in den nationalen Standardvarietäten finden. Der am-Progressiv ist im westmitteldeutschen, alemannischen und bayerischen hoch‐ deutschen Dialektraum und darüber hinaus auch in niederdeutschen Dialekten belegt (van Pottelberge 2004: 221-230). Im westmitteldeutschen Dialektraum, der vom Norden nach Süden vom ripuarischen, über das moselfränkische und den westlichen Teil des hessischen bis hin zum rheinfränkischen Dialekt reicht, nimmt der hohe Grammatikalisierungsgrad im Norden sukzessive Richtung Süden und Osten ab (Flick/ Kuhmichel 2013, Ramelli 2015, Kallenborn 2019). Ramelli (2015) zeigt in einem Akzeptabilitätstest, dass im Rhein‐ fränkischen sowohl atelische Verben (sog. activities wie lernen) als auch telische Verben (accomplishements wie untergehen und achievements wie einschlafen) fast unterschiedslos verwendet werden können. Die Akzeptanz von am-Progressivsätzen mit einem Objekt, z.-B. mit einem Akkusativobjekt eine Wohnung am suchen nimmt vom Westen Richtung Osten des untersuchten rheinfränkischen Dialektraumes ab. Interessanterweise ist der am-Progressiv in außereuropäischen, nicht durch die stardardsprachliche Normierung beeinflussten Deutschvarietäten stark grammatikalisiert, darunter im in den USA gespro‐ chenen Pennsylvania-Deutsch (Tomas 2018). Diese dialektalen Unterschiede schlagen sich in der regionalen Verbreitung des am-Progressivs in der Alltagssprache nieder. Die Umfragen im „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (https: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-2/ f18a-b/ ) ergeben, dass der Satz Sie ist noch am Schlafen am westlichen Streifen der Bundesrepublik Deutsch‐ land als sehr üblich im Alltag eingeschätzt wird. Je weiter Richtung Osten, umso 7.4 Der am-Progressiv 161 <?page no="162"?> häufiger wird die Form als „völlig unüblich“ bezeichnet. Im Vergleich dazu ist das Gebiet, in dem nach Auskunft der Befragten der Satz mit einem ausgelagerten Ak‐ kusativobjekt Ich bin gerade die Uhr am Reparieren „sehr üblich“ ist, etwas kleiner. Es zeigt sich also, dass auch in der regionalen Alltagssprache die Form mit dem geringeren Grammatikalisierungsgrad (ohne Objekt) weiter verbreitet ist als die Form mit direktem Objekt. Während der „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ die Reflexion über den ortsübli‐ chen Sprachgebrauch abbildet und damit mehr über die diskursive Konstruktion der Alltagssprache als über den tatsächlichen Sprachgebrauch aussagt, wird die tatsächliche Verwendung des am-Progressivs in der gesprochenen Sprache in Krause (2002) betrachtet. Das von ihm für diesen Zweck zusammengestellte Korpus in Tabelle 39 enthält verschie‐ dene Gesprächsarten in unterschiedlichen Regionen Deutschlands (s. Krause 2002: 9-10). Die einzelnen Korpora sind in Tabelle 39 so angeordnet, dass zum einen Korpora aus dem Norden Deutschlands, aus verschiedenen Regionen und aus dem Raum Köln gruppiert sind, zum anderen der Zeitraum von oben nach unten abnimmt. Korpus Gesprächsart Ort Zeit‐ raum Größe in Wortformen Arzt-Patien‐ ten-Gespräche von J. Hoppe Gespräche zwischen Arzt aus Hannover und Patienten Hannover 1995 ca. 42.000 Jugendsprache von P. Slobin‐ ski ungesteuerte Gesprä‐ che ( Jugendliche 14- 17 Jahre) Osnabrück 1990- 1991 ca. 108.000 Berlinisch: Er‐ zählungen von P. Slobinski ungesteuerte Gesprä‐ che Berlin Anfang 1980er Jahre ca. 15.000 Gesprochene Sprache von A. Redder und K. Ehlich ungesteuerte und teil‐ weise gesteuerte Ge‐ spräche verschiedene Re‐ gionen Deutsch‐ lands 1981- 1992 ca. 45.000 Beratungsge‐ spräche von P. Schröder Beratungsgespräche verschiedene Re‐ gionen Deutsch‐ lands 1979- 1983 ca. 25.000 Telefondialoge von R. Brons-Albert Telefongespräche ge‐ führt von einer Lingu‐ istin Kölner Raum 1977- 1978 ca. 45.000 Tabelle 39: Korpus der gesprochenen Sprache von Krause (2002) Krause (2002) zeigt, dass der am-Progressiv, der übrigens deutlich häufiger als der beim-Progressiv auftritt, im gesamten Korpus durchgehend niedrigfrequent ist. Der relativ höchste Anteil ist in den Gesprächen zwischen Jugendlichen in Osnabrück 162 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="163"?> (1990er Jahre) zu beobachten. Der Kölner Raum (aus den späten 1970er Jahren) sticht hingegen nicht hervor (s. Krause 2002: 88-89). Korpus am beim Anteil des am-Progressivs im Korpus Arzt-Patienten-Gespr. (Hannover) 3 - 3/ 42.000 = 0,007% Jugendsprache (Osnabrück) 29 2 29/ 108.000 = 0,027% Berlinisch: Erzählungen (Berlin) 2 - 2/ 15.000 = 0,013% Gesproch. Sprache (versch. Reg.) 2 1 2/ 45.000 = 0,004% Beratungsgespräche (versch. Reg.) 2 - 2/ 25.000 = 0,008% Telefondialoge (Kölner Raum) 6 1 6/ 45.000 = 0,013% Tabelle 40: Der am- und der beim-Progressiv in der gesprochenen Sprache und der Anteil von am-Pro‐ gressiv im jeweiligen Korpus nach Krause (2002) Flick (2016) untersucht den Gebrauch des am-Progressivs in deutschsprachigen Tages‐ zeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus dem Jahr 2008. Flicks Korpus stellt einen Teil des deutschen Referenzkorpus (DeReKo) dar. Da es sich um Zeitungstexte handelt, bietet die Untersuchung einen Einblick in den Gebrauch des am-Progressivs in der geschriebenen Standardsprache. In Tabelle 41 ist die Anzahl und der Anteil der am-Progressive an den Zeitungstexten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu sehen. Es fällt auf, dass der Anteil in der deutschen Presse am geringsten ist. Der Anteil ist mit 0,000131% auch vergleichweise geringer als in den von Krause (2002) untersuchten gesprochensprachlichen Korpora, wo er zwischen 0,004-0,027% liegt. Zeitungskorpus Anzahl der am-Progressive Wortformen im Korpus Anteil der am-Pro‐ gressive am Korpus Deutschland 182 138.740.000 0,000131% Österreich 120 39.370.000 0,000305% Schweiz 297 44.320.000 0,000670% Tabelle 41: Der am-Progressiv in der geschriebenen Standardsprache (Zeitungstexte) und der Anteil von am-Progressiv im jeweiligen Korpus nach Flick (2016) Den geringsten Grammatikalisierungsgrad des am-Progressivs ermittelt Flick (2016) in der österreichischen Zeitungssprache, wo die meisten am-Progressive mit einem atelischen Aktivitätsverb (wie lernen, lesen oder schlafen) verbunden sind. In der deutschen Presse kommt der am-Progressiv häufiger mit telischen Verben (v. a. mit accomplishments wie untergehen), in der Schweizer Presse sind sogar achievements gut 7.4 Der am-Progressiv 163 <?page no="164"?> belegt (s. Abb. 21), d. h. solche, die einen punktuellen Übergang aus einem Zustand in den anderen (wie einschlafen) bezeichnen. Belege mit direkten Objekten wie Kartoffeln in „Anna und Paul waren auf ihrem Feld die Kartoffeln am Ernten“ (ein Beleg aus der Rheinzeitung, DE-RHZ 08/ OKT) sind in der Pressesprache insgesamt sehr selten (Flick/ Kuhmichel 2013: 63-64). Activities States Achievements Accomplishments Angaben in % 0 20 40 60 80 100 Öst. Presse Dt. Presse Schw. Presse Abb. 21: Der Grammatikalisierungsgrad (gemessen an der verbalen Aktionsart) beim am-Progressiv in der deutschen, österreichischen und schweizer Presse (Flick 2016: 181) Der am-Progressiv zeigt sowohl in den Dialekten als auch in der Alltags- und geschriebenen Standardsprache eine regionale Steuerung von grammatischen Restriktionen, die Richtung Osten zunehmen. Dammel, Antje (2010). Konjugationsklassenwandel: Prinzipien des Ab-, Um- und Ausbaus verbalflexivischer Allomorphie in germanischen Sprachen. Berlin/ New York: de Gruyter. Flick, Johanna (2016). Der am-Progressiv und parallele am V-en sein-Konstruktionen. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 138(2), 163-196. Köpcke, Klaus-Michael (1995). Die Klassifikation der schwachen Maskulina in der deutschen Gegenwartssprache. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 14 (2), 159-180. Nowak, Jessica (2016). Die Ablautalternanz x-o-o als partielle Regularisierungsstrategie starker Verben im Deutschen. In: Bittner, Andreas/ Köpcke, Klaus-Michael (Hrsg.). Re‐ gularität und Irregularität in Phonologie und Morphologie. Berlin/ Boston: de Gruyter, 127-152 164 7 Grammatik und Sprachgebrauch <?page no="165"?> Nowak, Jessica (2021). Zweifelsfälle und die Sprachgeschichte. Muttersprache. Vierteljahres‐ schrift für deutsche Sprache 131 (4), 366-382. Pavlov, Vladimir (1995). Die Deklination der Substantive im Deutschen: Synchronie und Diachronie. Frankfurt a. M./ New York: P. Lang. Vieregge, Annika (2019). Die historische Entwicklung der Kasusrektion von Sekundärprä‐ positionen. Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 10 (1), 198-218. Wöllstein, Angelika (Hrsg.) (2022). Duden - Die Grammatik.: Struktur und Verwendung der deutschen Sprache. Sätze - Wortgruppen - Wörter. 10. Aufl. Berlin: Dudenverlag. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997). Grammatik der deutschen Spra‐ che. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. 7.4 Der am-Progressiv 165 <?page no="167"?> 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit Im Zentrum dieses Kapitels stehen Urteile von Sprachnutzerinnen, die den sprach‐ lichen Varianten der in Kap. 7 vorgestellten Phänomene gelten. Fokussiert werden unterschiedliche Aspekte der Bewertung: die Korrektheit, die Angemessenheit, die Bekanntheit und die Akzeptabilität, sowie die Diskrepanzen zwischen diesen Bewertungsebenen. Leitfragen des Kapitels sind: ● Wie werden Varianten des Rektionskasus bezüglich ihrer Korrektheit und Angemessenheit beurteilt? ● Werden schwache Flexionsformen von niedrig frequenten Verben häufig als bekannt bewertet? ● Wie stark beeinflusst die Prototypizität die Bekanntheitsbewertung starker Flexionsformen schwacher Maskulina? ● Wie akzeptabel ist der am-Progressiv im Vergleich zu anderen progressiven Ausdrücken? 8.1 Korrektheit und Angemessenheit von Genitiv und Dativ als Rektionskasus Im standardsprachlichen Gebrauch sind sowohl Genitiv als auch Dativ als Rektions‐ kasus von Präpositionen belegt (s. Kap. 7.1). Die historische Entwicklung ist dabei keinesfalls gradlinig, da manche Präpositionen wie laut die Genitivrektion zugunsten von Dativ aufgeben, während andere wie dank und während den umgekehrten Ent‐ wicklungspfad nehmen (Kap. 7.1.2). Zwar überwiegt im gegenwärtigen Gebrauch bei dank, während und wegen der Genitiv, die Produktionsstudie von Vieregge (2025) deckt jedoch auf, dass die Distribution beider Kasus vom Formalitätsgrad des Kontextes abhängig ist. In formellen Kontexten ist der Anteil des Genitivs höher als in informellen, woraus sich schließen lässt, dass der Genitiv als zum standardsprachlichen Repertoire zugehörig sozial registriert ist. Diese Annahme, die von Gebrauchsdaten abgeleitet ist, soll im Folgenden anhand von Bewertungen überprüft werden. Diesem Ziel widmet sich Vieregge (2025) in einer Teiluntersuchung, in der Ur‐ teile von Nutzerinnen und Nutzern bezüglich der Korrektheit und Angemessenheit beider Kasus bei vier Präpositionen analysiert werden. Dazu werden 397 Befragte unterschiedlichen Alters, Bildungsgrads und Berufs aus ganz Deutschland (zu den Befragtenprofilen s. Vieregge 2025: 135-147) aufgefordert, sprachliche Ausdrücke in einem formellen und informellen Setting zu bewerten. <?page no="168"?> Die Befragten geben ihr Urteil zum formellen Setting ab, nachdem sie wie in Abbildung 22 gebeten werden, sich in die Funktion eines Korrektors für einen guten Freund hineinzuversetzen und so Ausdrücke mit Dativrektion wegen dem Konto und während dem Vortrag sowie mit Genitivrektion dank oder gegenüber des Sachbearbeiters in einem Brief an ein Amt zu beurteilen. Das informelle Setting wird durch die Vorstellung evoziert, an einer Unterhaltung mit einem guten Freund teilzunehmen, der Ausdrücke mit Dativrektion wie wegen dem Urlaub und während dem Spiel sowie dank des Urlaubs und gegenüber des Schaffners gebraucht. Dabei sollen die Befragten den Ausdruck als korrekt/ falsch bewerten, d. h. die Grammatikalität des Ausdrucks einschätzen, und seine Angemessenheit in dem jeweiligen Kontext bestimmen. Jede befragte Person wird mit je einer Rektionsvariante von zwei unterschiedlichen Präpositionen in einem formellen oder informellen Kontext konfrontiert, z. B. gegen‐ über des im formellen Kontext und dank dem im informellen Kontext wie in der ersten Zeile in Tabelle 42. Jede Zeile der Tabelle bildet die abgefragten Kombinationen ab. Mit dieser Methode ermittelt Vieregge (2025) die Korrektheits- und Angemessenheits‐ bewertungen für die jeweils historisch jüngere Variante der Kasusrektion, d.-h. wegen und während + Dativ (wegen dem Konto/ Urlaub, während dem Vortrag/ Spiel), dank und gegenüber + Genitiv (dank des Sacharbeiters/ Urlaubs, gegenüber des Sacharbeiters/ Schaffners). Formeller Kontext Informeller Kontext Anzahl der Be‐ fragten gegenüber des Sachbearbeiters dank des Urlaubs 104 während dem Vortrag wegen dem Urlaub 96 dank des Sachbearbeiters gegenüber des Schaffners 96 wegen dem Konto während dem Spiel 101 Tabelle 42: Verteilung der zu bewerteten Rektionsvarianten auf Befragte (Vieregge 2025: 183) 168 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="169"?> Stellen Sie sich vor, Sie korrigieren einen förmlichen Brief an ein Amt, den ein guter Freund geschrieben hat. Wie würden Sie die sprachliche Form der folgenden Formulierungen bewerten? wegen dem Konto a) richtig b) falsch a) in einem förmlichen Brief angemessen b) in einem förmlichen Brief unangemessen Was stört Sie? (Pflichtangabe) a) würde ich selber schreiben b) würde ich selber nicht schreiben Wie sicher sind Sie sich bei Ihrer Antwort? ganz sicher ziemlich sicher etwas unsicher sehr unsicher Abb. 22: Ausschnitt aus der Befragung zur Bewertung von Korrektheit und Angemessenheit (hier: wegen dem Konto im formellen Setting, s. Vieregge 2025) In Tabelle 43 sind die Ergebnisse zusammengefasst. Sie enthält neben den prozentuellen Angaben auch die absolute Anzahl der Bewertungen in Klammern. Darüber hinaus sind in der Tabelle Produktionsdaten eingetragen, auf die weiter unten eingegangen wird. 8.1 Korrektheit und Angemessenheit von Genitiv und Dativ als Rektionskasus 169 <?page no="170"?> Präposition Bewertung formelles Setting informelles Setting -wegen dem Korrektheit 15% (15) 27% (26) Angemessenheit 8% (8) 70% (67) Produktion 13% (51) 29% (114) -während dem Korrektheit 18% (17) 24% (24) Angemessenheit 13% (12) 62% (63) Produktion 6% (25) 18-% (73) -dank des Korrektheit 91% (87) 93% (97) Angemessenheit 81% (78) 77% (80) Produktion 92% (36) 82% (32) -gegenüber des Korrektheit 38% (40) 32% (31) Angemessenheit 39% (41) 38% (36) Produktion 8% (32) 9% (37) Tabelle 43: Korrektheits- und Angemessenheitsurteile für Varianten der Kasusrektion von Präpositionen und ihre tatsächliche Produktion (Vieregge 2025) Generell variieren die Bewertungen der Korrektheit in Abhängigkeit vom Kontext. So beurteilen Befragte, die mit der Dativvariante von wegen im formellen Kontext konfrontiert werden, diese nur zu 15 % als richtig. Diejenigen, die diese Variante im informellen Kontext bewerten, entscheiden sich dafür fast doppelt so häufig (27 %). Ähnliche Korrektheitsurteile evoziert die Dativvariante von während. Der Umstand, dass Sprachnutzerinnen ihre Grammatikalitätsurteile nicht unabhängig vom Kontext abgeben, ist für die in Kap.-5.1 diskutierte Fehlerwahrnehmung von Bedeutung. Die Wahrscheinlichkeit, die Dativrektion als Fehler wahrzunehmen, ist in formellen Kontexten zwar höher, aber in informellen auch nicht auszuschließen. Dies steht im krassen Gegensatz zur Korrektheitsbeurteilung von Genitivvarianten. Befragte, die mit der Genitivvariante von dank im formellen Kontext konfrontiert werden, bewerten diese fast genauso häufig (zu 91 %) als richtig wie diejenigen, die diese Variante im informellen Kontext beurteilen (93 %). Die Wahrnehmung des Genitivs als Abweichung ist unabhängig vom Kontext sehr unwahrscheinlich. Sogar bei gegenüber wird die wenig gebräuchliche Genitivvariante zu fast 40 % als richtig in beiden Kontexten bewertet. Die Korrektheit der Dativvariante wegen/ während dem wird deutlich häufiger von Befragten aus süddeutschen Bundesländern bejaht. 170 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="171"?> Die Genitivrektion der Präposition dank wird mehrheitlich und dabei kaum vom Formalitätsgrad des Kontexts abhängig als korrekt eingeschätzt. Die Korrektheit der Dativrektion der Präpositionen wegen und während wird im formellen Kontext deutlich geringer eingeschätzt als im informellen Kontext. Die Beurteilung der Angemessenheit beider Rektionsvarianten weicht von den Kor‐ rektheitswerten ab (s. Tab. 43). Dieselben Befragten, die die Dativvariante von wegen und während im Brief an ein Amt als korrekt einschätzen, beurteilen diese Variante deutlich seltener als der Kommunikationssituation angemessen (8 % bzw. 13 %). Ein kleiner Anteil von Befragten bewertet zwar die Dativvariante als grammatisch, aber nicht dem formellen Kontext des Amtbriefs angemessen. Auch sind Befragte aus norddeutschen Bundesländern deutlich seltener bereit, diese Formen im informellen Setting als angemessen zu akzeptieren. Im informellen Gespräch mit einem guten Freund wird die Dativvariante zu 70 % bzw. 62 % als angemessen angesehen, auch wenn nur 24 % bzw. 27 % von ihnen die Variante als korrekt bewerten. Für einen nicht geringen Anteil der Befragten (ca. 35-40%) ist eine falsche (nicht-korrekte) Variante im informellen Kontext angemessen. Die Genitivrektion von dank wird zwar mehrheitlich als korrekt, aber etwas seltener als angemessen bewertet. Die Dativrektion der Präposition wegen und während wird häufig als nicht kor‐ rekt, aber dem informellen Kontext angemessen eingeschätzt. Die Genitivrek‐ tion von dank erreicht in Korrektheitsbewertungen sogar höhere Zustimmung als in Angemessenheitsurteilen. Die Diskrepanz zwischen den Urteilen zu beiden Rektionsvarianten deutet darauf hin, dass der Genitiv als Rektionskasus (hier bei dank) als dem standardsprachlichen Register zugehörig registriert ist. Bei der Einschätzung der kommunikativen Ange‐ messenheit schneidet die Genitivvariante in beiden Kontexten generell schlechter ab. Vermutlich sind nach Einschätzung mancher Befragter nicht alle Bedingungen der Kommunikationssituation erfüllt, um den Genitiv zu verwenden (s. Kap. 4.1.2). Zu diesen tragen u. a. soziale Charakteristika der Kommunikationsteilnehmerinnen wie Alter, Bildungsgrad, soziale Rolle, Thema, das kommunikative Ziel usw. bei. Die Ein‐ schätzung ist davon abhängig, welche Person sich Befragte unter einem guten Freund vorstellen. Unterspezifiziert ist in der Befragung auch das Thema des Gesprächs/ des Briefes sowie das kommunikative Ziel, z. B. Beschwerde oder Antrag, die ebenfalls den Formalitätsgrad beeinflussen. Die soziale Registrierung führt sogar dazu, dass die Genitivrektion bei gegenüber häufig als korrekt angesehen wird. Der Dativ ist als Rektionskasus offensichtlich nicht als Teil der Standardsprache registriert. Dafür sprechen hohe Angemessenheitswerte in informellen Kontexten. 8.1 Korrektheit und Angemessenheit von Genitiv und Dativ als Rektionskasus 171 <?page no="172"?> Tatsächliche Gebrauchsdaten von allen 397 Befragten weichen davon allerdings ab (s. auch Kap. 7.1.2). Sie sind in Tabelle 43 enthalten. Obwohl der Dativ nach wegen und während im informellen Kontext hohe Angemessenheitswerte hervorruft, wird er in nur 29 % resp. 18 % der möglichen Fälle im Produktionstest eingesetzt. Er wird in eigener schriftlicher Produktion in formellen Kontexten gemieden, auch wenn er in der schriftlichen Produktion anderer (hier des guten Freundes im Brief an ein Amt) häufiger als korrekt angesehen wird. Bei der Präposition gegenüber ist der Unterschied zwischen Produktion und Korrekt‐ heits-/ Angemessenheitsurteilen ganz besonders auffällig: In Verbindung mit Genitiv wird zwar im Produktionsexperiment kaum gebildet, aber von mehr als einem Drittel der Befragten als korrekt bzw. angemessen angesehen. Die Diskrepanz zwischen der geringen Bereitschaft, den Dativ als korrekt zu bewer‐ ten, und der höheren Bereitschaft, den Dativ im informellen Kontext als angemessen einzuschätzen, deutet auf eine sprachliche Unsicherheit hin (s. 4.3.1). Die starke Tendenz zur Vermeidung des Dativs in eigener schriftlicher Produktion, auch in informellem Kontext, kann aus dieser Perspektive als Eigenkorrektur interpretiert werden, die in Sprachproduktionstests häufig beobachtet wird (s. Becker 2011). Die Diskrepanz zwischen generell geringen Korrektheitswerten der Dativvariante als Rektionskasus bei wegen und während und hohen Angemessenheits‐ urteilen im informellen Kontext deutet auf sprachliche Unsicherheit hin. Diese äußert sich in der Vermeidung des Dativs in eigener schriftlicher Produktion. 8.2 Bekanntheit starker und schwacher Formen niedrig frequenter starker Verben Die Schwankungen zwischen starken und schwachen Flexionsvarianten ursprünglich starker Verben in Korpora korrelieren mit geringer Tokenfrequenz. Für niedrig frequ‐ ente (ursprünglich) starke Verben sind in Korpora neben starken (malk - gemolken) auch regularisierte starke (molk - gemolken) und schwache Flexionsformen (melkte - gemelkt) belegt (s. Kap. 7.2.2). Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie sich die Bekanntheit von schwachen Flexionsvarianten als Teil der prozeduralen Sprachkom‐ petenz in Abhängigkeit von Gebrauchsfrequenz gestaltet und welche Bedeutung sie für die Bestimmung der Grammatikalität hat. Die Rolle der Gebrauchsfrequenz bei der Bekanntheit von verbalen Flexionsvarian‐ ten untersucht Schmitt (2023). Sie führt eine sog. lexical-decision-Studie durch, in der 53 Befragte starke und schwache Partizip-II-Formen von insgesamt 24 Verben hinsichtlich ihrer Bekanntheit beurteilen. Die Aufgabe besteht darin, zu bejahen oder zu verneinen, ob das präsentierte Verbalpartizip den Befragten bekannt ist. 172 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="173"?> Die Verbalpartizipien in der Studie sind nach ihrer Gebrauchshäufigkeit in drei Gruppen eingeteilt. Tabelle 44 enthält in der dritten Spalte Informationen zur relativen Frequenz (abgekürzt zu RF) der getesteten Verben. Die relative Frequenz ist auf Basis des DWDS-Zeitungskorpus errechnet worden. Frequente Verben (Gruppe 1) haben eine relative Frequenz von über 13 Belegen für ein starkes Partizip-II pro eine Million Token, bei infrequenten Verben sind bis zu zwei Belege für ein starkes Partizip-II pro eine Million Token im selben Korpus verzeichnet. Die Einteilung der Verben in die drei Frequenzgruppen richtet sich nach der Ratio der starken zu den schwachen Flexionsformen im DeReKo. So ist die Ratio beim Verb sprechen 506.000 Belege für die starke Flexionsform gesprochen zu einer schwachen Flexionsform gesprecht (506.000/ 1). Bei allen Verben der Gruppe 1 kommen zwischen 506.000 und 28.000 starke auf eine schwache Flexionsform vor. Die infrequenten Verben werden nach der Ratio von starken zu schwachen Partizipformen in zwei Gruppen unterteilt. Infrequente Verben mit einer Ratio von über 100 starken zu einer schwachen Partizipform bilden Gruppe 2. Infrequente Verben mit einer Ratio von nur bis zu 100 starken zu einer schwachen Partizipform werden in der Studie als nachgewiesen schwankend (infrequent mit Schwankung) klassifiziert (Gruppe 3). Beispielsweise ergibt sich bei dreschen mit 2.967 Belegen für gedroschen zu 24 für gedrescht eine Ratio von 123 starken zu einer schwachen Form (kurz 123/ 1). Auch bei der Hälfte der Verben der Gruppe 3 überwiegen stark flektierte Partizipbelege. Tabelle 44 ist nach der Ratio stark/ schwach absteigend geordnet. - Verb RF stark Anzahl schwach An‐ zahl Ratio Gruppe 1: frequent sprechen 53 gesprochen 506.078 gesprecht 1 506.000/ 1 fahren 26 gefahren 308.377 gefahrt 0 308.000/ 0 tragen 21 getragen 283.025 getragt 1 283.000/ 1 ziehen 44 gezogen 481.702 gezieht 2 240.000/ 1 halten 46 gehalten 537.019 gehaltet 5 107.000/ 1 schreiben 61 geschrieben 664.701 geschreibt 10 66.000/ 1 sinken 22 gesunken 178.562 gesinkt 3 60.000/ 1 fliegen 13 geflogen 113.074 gefliegt 4 28.000/ 1 Gruppe 2: infr. ohne Schwank. flechten 0,4 geflochten 4.847 geflechtet 6 807/ 1 spinnen 0,38 gesponnen 5.712 gespinnt 11 519/ 1 schmelzen 0,93 geschmolzen 9.278 geschmelzt 19 488/ 1 anschwellen 0,69 angeschwollen 4.910 angeschwellt 11 446/ 1 kneifen 0,16 gekniffen 2.070 gekneift 6 345/ 1 8.2 Bekanntheit starker und schwacher Formen niedrig frequenter starker Verben 173 <?page no="174"?> fechten 0,23 gefochten 3.449 gefechtet 13 265/ 1 melken 0,34 gemolken 4.441 gemelkt 25 177/ 1 dreschen 0,16 gedroschen 2.967 gedrescht 24 123/ 1 Gruppe 3: infr. mit Schwank. salzen 0,31 gesalzen 2.955 gesalzt 49 60/ 1 hauen 1,45 gehauen 14.999 gehaut 593 25/ 1 quellen 0,03 gequollen 268 gequellt 29 9/ 1 einsaugen 0,11 eingesogen 1.012 eingesaugt 446 2,2/ 1 weben 0,16 gewoben 2.242 gewebt 2.946 0,8/ 1 sinnen 0,15 gesonnen 3.285 gesinnt 5.611 0,59/ 1 glimmen 0 geglommen 25 geglimmt 49 0,5/ 1 gären 0 gegoren 130 gegärt 280 0,46/ 1 Tabelle 44: Frequente und infrequente Partizipformen in der Studie von Schmitt (2023) Jede der 53 Befragten bewertet entweder eine starke oder eine schwache Partizipform von je vier Verben aus jeder Frequenzgruppe. Beispielsweise besteht ein Experiment‐ block aus getragen, gefahrt, geflechtet, gezogen, gesinnt, gegoren, gebringt, gequollen, gedroschen, gemelkt, angeschwollen, geschreibt und gewebt. Die aufgelisteten starken bzw. schwachen Flexionsformen werden in genau dieser Reihenfolge präsentiert, wobei zwischen ihnen andere Wörter als Distraktoren zur Bewertung stehen. Die Antworten der Befragten ergeben graduelle Unterschiede im Bekanntheitsgrad der starken und schwachen Partizipien, die deutlich die Abhängigkeit von der Ge‐ brauchsfrequenz spiegeln. Starke Partizipformen werden bis auf Verben der Gruppe 3 fast ausnahmslos als bekannt bewertet. In der Gruppe 3 der infrequenten Verben mit nachgewiesener starker Schwankung werden 7 % von starken Partizipien wie geglommen oder gesonnen als unbekannt beurteilt. Dies zeigt, dass starke Flexionsfor‐ men von diesen Verben nicht mehr gut im Gedächtnis gefestigt oder sogar schon in Vergessenheit geraten sind. Die starken Partizipformen sind bei allen (ursprünglich starken) Verben unab‐ hängig der ihrer Gebrauchsfrequenz fast ausnahmslos bekannt. Bei infrequenten Verben mit nachgewiesener Schwankung können sie unbekannt sein. Während schwache Partizipformen in der Gruppe 1 der frequenten Verben erwar‐ tungsgemäß als unbekannt abgelehnt werden, schwanken die Zustimmungsraten für schwache Formen in den beiden Gruppen der infrequenten Verben. Bei infrequenten Verben ohne Schwankung (Gruppe 2) rangieren die Anteile der Bekanntheit zwischen 174 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="175"?> 9 % bei geschmelzt und 35,8% bei geflechtet (s. Abb. 23). Die meisten schwachen Partizipformen werden zu etwa 25-% als bekannt ausgewiesen. Abb. 23: Bekanntheitsgrad von schwachen Partizipien der infrequenten starken Verben (Gruppe 2, nach Schmitt 2023: 235) In der Gruppe 3 der infrequenten Verben mit Schwankung liegen die Zustimmungs‐ anteile noch höher, und zwar zwischen 18,8% bei gehaut und 96,2% bei eingesaugt. In Abbildung 24 werden in einem waffle-Plot alle Antworten der Befragten zu Verben der Gruppe 3 abgebildet. Jedes Rechteck entspricht in der Abbildung einer Antwort. Ist das Rechteck dunkelgrau, hat die befragte Person die Flexionsform als bekannt bewertet. Helle Rechtecke geben verneindende Antworten wider. Bei Verben der Gruppe 3 fällt nicht nur der höhere Bekanntheitsgrad der schwachen Partizipien, sondern auch - 8.2 Bekanntheit starker und schwacher Formen niedrig frequenter starker Verben 175 <?page no="176"?> wie bereits kurz angesprochen - der ansetzende Verlust an Bekannheit von starken Partizipien, v. a. bei geglommen, aber auch gesonnen, gequollen etc. auf. Lediglich bei zwei Verben werden starke Partizipien von allen Befragten als bekannt bestätigt, dies sind gehauen und eingesogen. Abb. 24: Bekanntheitsgrad der starken und schwachen Partizipien der infrequenten starken Verben (Gruppe 3; Schmitt 2023: 236) Der Bekanntheisgrad von schwachen Partizipformen steigt mit abnehmender Gebrauchsfrequenz. 176 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="177"?> Die (durchaus beträchtlich) schwankenden Bekanntheitsgrade zeigen, dass in einer Gruppe von selten bis sehr selten gebrauchten, ursprünglich starken Verben die Existenz von zwei Flexionsformen zum Teil schon gut etabliert ist. Bei den Verben der Gruppe 3 kommt der ansetzende Verlust von Bekanntheit starker Flexionsformen zum Vorschein. Die Bekanntsheitsverhältnisse lassen vermuten, dass hier aus verschiedenen Grün‐ den Zweifel aufkommen können: Bei Verben wie einsaugen sind - so zeigt es die Studie - beide Partizipformen gut mental gefestigt, so dass zu vermuten ist, dass die sichere Wahl einer Form und die Ablehung einer anderen vielen Sprecherinnen schwerfallen dürfte. Bei gären, salzen und quellen - die Tendenz ist bei hauen schwächer ausgeprägt - sind schwache Flexionsformen für viele Befragte in der Studie eine Option, so dass auch bei diesen Verben ähnlich begründete Zweifel zu erwarten sind. In extremen Fällen wie geglommen/ geglimmt und gesonnen/ gesinnt zeigen wiederum beide Partizipformen, sowohl die starke als auch die schwache, Einbußen an Bekannheit, so dass das Zweifeln hier auf der Unsicherheit bei der Bestimmung der Grammatikalität basieren kann, da beide Formen mental nicht gut gefestigt sind. Das Zweifeln kann in hohen Bekanntheitswerten von schwachen Partizipfor‐ men der (ursprünglich starken) Verben begründet sein. In manchen Fällen ist aufgrund geringer Gebrauchsfrequenz keine Partizipform mental gefestigt, was die Bestimmung der Grammatikalität zusätzlich erschwert. 8.3 Bekanntheit starker Flexionsformen unprototypischer schwacher Maskulina Die im Gebrauch ermittelte Variation zwischen der starken und schwachen Flexion bei ursprünglich schwachen Maskulina lässt sich auf den Grad der Prototypizität des jeweiligen Substantivs zurückführen: Mehrsilbige, auf Schwa auslautende und Menschen bezeichnende Substantive wie Matrose oder Kurde, die den Prototyp I der schwachen Substantivflexion bilden, treten in den Korpora häufiger schwach als stark flektiert auf. Im Gegensatz dazu ist die Chance für starke Flexionsformen von einsilbigen Substantiven wie Held oder Zar wie dem Held oder dem Zar, die an der Peripherie der schwachen Flexion zu verorten sind, um ein Mehrfaches höher als für schwache wie dem Helden oder dem Zaren (s. Kap.-7.3.2). Die prototypische Organisation der schwachen Maskulina wirkt sich ebenfalls auf die Bewertung der Bekanntheit beider Formen aus. In Schmitt (2023: 285-293) beurtei‐ len 56 Personen in einer lexical-decision-Studie starke bzw. schwache Genitivformen von prototypisch schwachen (Kollege, Neffe, Schütze, Franzose und Geselle), peripher schwachen (Graf, Held, Zar, Fürst und Nachbar) und starken Maskulina (Dieb, Freund, Vogt, Kerl, Feind) als bekannt bzw. unbekannt. Die Aufgabe besteht darin, zu bejahen 8.3 Bekanntheit starker Flexionsformen unprototypischer schwacher Maskulina 177 <?page no="178"?> oder zu verneinen, dass ihnen starke Genitivformen wie des Kolleges, des Grafes oder des Diebes oder schwache wie des Kollegen, des Grafen oder des Dieben bekannt sind. Die Bewertung der Bekanntheit beider Formen ist von der Prototypizität des Sub‐ stantivs abhängig. Schwache Genitivformen von prototypisch schwachen Substantiven wie des Kollegen werden zu 95 % als bekannt bewertet, starke Genitivformen wie des Kolleges hingegen zu 90 % als unbekannt. Bei starken Substantiven wird die Bekanntheit von starken Genitivformen wie des Diebes zu 90,7% bestätigt, bei schwachen Formen wie des Dieben zu nur 6,8%. Für peripher schwache Maskulina ergibt sich hingegen ein ganz anderes Bild. Hier sind die schwachen Formen wie des Fürsten zwar zu 96,4% als bekannt bewertet. Lediglich bei des Zaren haben mit 91 % etwas weniger Personen die Bekanntheit bestätigt. Starke Formen von peripheren schwachen Maskulina werden zu 53,9% als bekannt und fast genauso häufig (46,1%) als unbekannt bewertet. Dabei schwanken die Bewertungen zur Bekanntheit der starken Formen bei einzelnen Substantiven zum Teil sehr stark, von 26,8% bei des Fürstes bis zu 73,2% bei des Zars, s. Tabelle 45. periphere schwache Maskulina schwach flektiert stark flektiert Fürst des Fürsten 98,2% des Fürstes 26,8% Graf des Grafen 98,2% des Grafes 62,5% Held des Helden 98,2% des Helds 41,1% Nachbar des Nachbarn 96,4% des Nachbars 66,1% Zar des Zaren 91% des Zars 73,2% Tabelle 45: Bekanntheitsurteile für periphere schwache Maskulina (Schmitt 2023: 290) Die schwachen Flexionsformen sind bei prototypischen und peripheren schwachen Maskulina, d. h. unabhängig des Prototypizitätsgrades, fast aus‐ nahmslos bekannt. Die Bekanntheitswerte stehen im starken Kontrast zur aktuellen Wahl einer sprachli‐ chen Variante. Dies zeigt die sog. sentence-maze-Studie von Schmitt (2023: 294-297), in der 132 Befragte eine Wahl zwischen beiden Formen treffen können, um einen Satz zu vervollständigen. Die sentence-maze-Studie ist so aufgebaut, dass die Befragten in mehreren Schritten einen Satz vervollständigen, indem sie zwischen zwei Versionen wählen. Wie das unten stehende Beispiel zeigt, wird zunächst der erste Teil des Satzes 178 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="179"?> präsentiert. Die Probanden können hier eine Version auswählen (Sie konnte nicht fassen oder Sie konnte nicht fasen), so dass sie anschließend den zweite Teil präsentiert bekommen, um den Satz im Auswahlverfahren Phrase für Phrase zu vervollständigen. Die Stellen, an denen die nächste Entscheidung getroffen wird, wird hier durch einen senkrechten Strich dargestellt. Die Befragten sehen den Satz nur bis zur jeweiligen Entscheidungsstelle: sentence-maze-Studie - ein Beispiel Teil 1: Sie konnte nicht fassen, Sie konnte nicht fasen, Teil 2: dass das Anwesen des Grafen so groß ist wie ein Schloss das das Burg des Grafs so glitzernd hat als ein Schloss Zur Vervollständigung des Satzes sind auch Entscheidungen zwischen schwachen und starken Genitivphrasen notwendig. Auf diese Weise mit zwei Formen konfrontiert, entscheiden sich Befragte bei prototypisch schwachen Maskulina mehrheitlich (zu 94,2%) für die schwache Genitivform (des Kollegen, des Neffen, des Schützen), bei starken Maskulina mehrheitlich (zu 96,2%) für starke Genitivform (des Diebes, des Freundes, des Vogtes). Das Antwortverhalten weicht bei peripher schwachen Maskulina nicht von den prototypisch schwachen ab. Hier werden insgesamt zu 91,7% schwache Genitiv‐ formen gewählt. In Tabelle 46 sind die Entscheidungen pro Substantiv aufgelistet. Im Umkehrschluss also werden nur zu etwa 10 % starke Genitivformen ausgewählt, wenn sie - wie in diesem Experiment - mit schwachen kontrastiert präsentiert werden. Substantiv schwache Flexionsform gewählt zu starke Flexionsform gewählt zu Graf 89% 11% Held 98% 2% Zar 89% 11% Tabelle 46: Anteil der Entscheidungen für schwache und starke Flexionsformen bei peripheren schwa‐ chen Maskulina (Schmitt 2023: 295) 8.3 Bekanntheit starker Flexionsformen unprototypischer schwacher Maskulina 179 <?page no="180"?> Der Bekanntheisgrad von starken Flexionsformen schwacher Maskulina steigt mit abnehmendem Prototypizitätsgrad. Ähnlich wie bei den Flexionsschwankungen starker Verben deutet der Vergleich zwischen den Ergebnissen beider Studien auf die sprachliche Unsicherheit hin: Zwar gibt etwa die Hälfte der Befragten an, die starken Formen zu kennen. Stehen sie jedoch vor der Wahl, entscheiden sie sich für die schwache Flexionsvariante. Bei des Zars ist die Bekanntheit von über 73 % der Befragten bestätigt, für die Wahl dieser Variante entscheiden sich nur 11-%. 8.4 Akzeptabilität des am-Progressivs Der am-Progressiv wird in standardsprachlichen Texten selten gebraucht. Dies ist zum einen damit zu erklären, dass er für die Aufgabe, Progressivität auszudrücken, mit anderen Formen konkurriert. Zum anderen hat die am-Form aber auch mehrere Lesarten (s. Kap. 7.4). Damit steht der am-Progressiv auf zweifache Weise in einem Konkurrenzverhältnis: 1) zu anderen Formen in der progressiven Lesart (Formkonkur‐ renz) und 2) in derselben Form zu anderen Lesarten (Lesartkonkurrenz) (s. Abb. 25). am -Konstruktion beim -Konstruktion im -Konstruktion Präsens mitten-im -Konstruktion Progressivität Lokativität Absentivität Formkonkurrenz Lesartkonkurrenz Abb. 25: Formale und inhaltliche Variantenkonkurrenz der am-Form Die Akzeptabilität der am-Form zum Ausdruck der unterschiedlichen Lesarten un‐ tersucht Szczepaniak i.Vorb. In der Studie werden 91 Befragten Situationen wie in Abbildung 26 auf einem Umfrageblatt präsentiert. In diesem Umfrageblatt wird durch 180 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="181"?> die in die Situation eingebettete Frage „Was machst du gerade? “ die Erwartung einer progressiven Lesart evoziert. Die Befragten können anschließend fünf verschiedene Ausdrücke auf die Akzeptabilität hin bewerten, indem sie die einzelnen Formen auf einer Skala von 1 „klingt für mich schlecht“ bis 4 „klingt für mich gut“ beurteilen. Dabei können mehrere Formen gleich bewertet werden. Befragte können sich auch dem Urteil durch die Wahl von „Kann ich nicht beurteilen“ entziehen. Ähnlich wird die Akzeptabilität der Formen bei lokativer Lesart (Frage: „Wo bist du denn? “) und nach absentiver Lesart (Frage: „Wo ist eigentlich dein Mitbewohner? “) elizitiert. Du musst dich auf eine wichtige Klausur vorbereiten. Deine kleine Schwester möchte aber gerne mit dir spielen und kommt ins Zimmer. Sie fragt dich: „Was machst du gerade? “ Du antwortest: „Stör mich nicht, ich bin beim Lernen.“ „Stör mich nicht, ich lerne.“ „Stör mich nicht, ich bin am Lernen.“ „Stör mich nicht, ich bin lernen.“ „Stör mich nicht, ich bin mitten im Lernen.“ klingt für klingt für mich schlecht mich gut Kann ich nicht beurteilen Abb. 26: Umfrageblatt zur progressiven Lesart beim Verb lernen Die höchsten Akzeptabilitätswerte teilen sich die einfache Präsensform und die am-Form, die etwas häufiger als schlecht bewertet wird (s. Abb. 27). 8.4 Akzeptabilität des am-Progressivs 181 <?page no="182"?> Abb. 27: Bewertung konkurrierender Formen für die progressive Lesart Für den Ausdruck der Progressivität werden das einfache Präsens und die am-Form häufiger akzeptiert als andere Konkurrenzformen. Die lokative Lesart wird durch Fragen zum Verbleibort stimuliert, z. B. während eines Telefongesprächs „Bei dir ist es so laut im Hintergrund. Wo bist du denn? “. Zum Ausdruck der Lokalität wird die am-Form und die Präsensform deutlich weniger akzeptiert. Im Gegensatz dazu steigt bei dieser Lesart die Akzeptablität der Formen ich bin [Verb]en und ich bin beim [Verb]en (s. Abb. 28). 182 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="183"?> Abb. 28: Bewertung konkurrierender Formen für die lokative Lesart Für die absentive Lesart, in der nach dem Verbleib einer abwesenden Person gefragt wird, werden x ist [Verb]en und x ist beim [Verb]en als die am besten passenden Formen bewertet, während x ist am [Verb]en als wenig akzeptabel gilt. Die Akzeptabilität der am-Form zum Ausdruck der Lokativität und der Absentivität ist geringer als der konkurrierenden Formen x ist [Verb]en und x ist beim [Verb]en. Die am-Form wird zum Ausdruck der Progressivität auf demselben Niveau akzeptiert wie die einfache Präsensform. In der Forschung fehlen zwar Gebrauchsdaten, die die Häufigkeit dieser zwei Formen zum Ausdruck der Progressivität ermitteln und vergleichen. Es ist aber anzunehmen, dass die Sprachnutzerinnen hierfür meist Präsens 8.4 Akzeptabilität des am-Progressivs 183 <?page no="184"?> verwenden (s. Kap. 7.4.2). Somit zeigt sich beim am-Progressiv eine Diskrepanz zwi‐ schen der geringen Gebrauchshäufigkeit und dem relativ hohen Akzeptabilitätswert. Schmitt, Eleonore (2023). Frequenz. Prototyp. Schema: Ein gebrauchsbasierter Ansatz zur Entstehung grammatischer Varianten. Berlin: Language Science Press. Vieregge, Annika (2025). Bewertung und Variation der Präpositionalkasus im Deutschen. Der Einfluss metapragmatischer Urteile auf die Rektion von Präpositionen. Berlin: Langage Science Press. 184 8 Grammatikalität, Akzeptabilität und Angemessenheit <?page no="185"?> 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle Im Zentrum dieses Kapitels stehen Diskurse über sprachliche Zweifelsfälle. Fokus‐ siert werden Diskursstränge und die darauf basierenden Bewertungen, die Topoi sowie die auf Bewertungen aufbauenden Registrierungsvorgänge. Leitfragen des Kapitels sind: ● Welche Diskurspositionen werden in den Diskursen über die Kasusrektion von Präpositionen eingenommen? ● Welche Topoi werden eingesetzt, um für die starke oder schwache Partizipform von winken zu argumentieren? ● Wie ist der am-Progressiv registriert? 9.1 Ist Genitiv oder Dativ die bessere Wahl? Um zu verstehen, warum bei der Kasuswahl von vielen Sekundärpräpositionen heute gezweifelt wird, reicht allein der Einblick in den (historisch gewachsenen) Sprachge‐ brauch nicht aus (s. Kap. 7.1). Die Diskrepanz zwischen geringen Korrektheitswerten und positiven Angemessenheitsurteilen deutet darauf hin, dass metapragmatische Dis‐ kurse, die gerade bezüglich der Kasusrektion eine lange Tradition haben (s. Kap. 4.3.1), zu beachten sind. Onlineforen gehören zu den Orten, in denen gegenwärtig laienlinguistische Ausein‐ andersetzungen mit dem Thema Kasuswahl bei Präpositionen stattfinden. Diese ver‐ folgt Vieregge (2015) im Rahmen ihrer unveröffentlichten Masterarbeit. Mit Hilfe von Google-Suchanfragen baut sie ein Korpus mit Beiträgen auf, in denen die Kasuswahl metapragmatisch ausgehandelt wird. Das Korpus umfasst insgesamt 20 Diskussions‐ verläufe mit 353 Beiträgen, die zwischen 2002 und 2015 verfasst wurden. Damit umfasst das Korpus von Vieregge (2015) eine Sammlung von Diskursfragmenten, die man dem Diskurs zur Kasuswahl bei Sekundärpräpositionen als Zweifelsfall zuordnen kann ( Jäger und Jäger 2007: 25-27). Die Autorschaft der Diskursfragmente ist anonym. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Person unter mehreren Pseudonymen handelt bzw. umgekehrt unter einem Pseudonym mehrere Personen agieren. Obwohl die Google-Suche zum Aufbau des Korpus acht verschiedene Präpositionen (gegenüber, ähnlich, wegen, anstatt, trotz, dank, während und kraft) umfasst, zeigen die Suchergebnisse, dass sich die Diskurse um bestimmte Präpositionen verdichten: So entfällt mehr als die Hälfte, d. h. 196 aller 353 untersuchten Beiträge auf die Präposition wegen. wegen scheint also die Präposition zu sein, die ein hohes diskursives Potential in sich birgt, während zu ähnlich und kraft zum Zeitpunkt der Suche gar keine Beiträge zu finden waren. <?page no="186"?> Die Diskurse über die Rektionsvarianten von Präpositionen werden von Äußerungen zur Präposition wegen dominiert. Ein Teilkorpus, das aus 116 Beiträgen (Fragen, Antworten oder Kommentaren) auf gut efrage.net besteht und drei Diskussionsverläufe zu wegen, einen zu während und einen zu trotz enthält, hat Vieregge (2015) auf drei Aspekte untersucht: die Haltung gegenüber der Varianz und den Rektionskasusvarianten, die Verweise auf Sprachautoritäten und die Verwendung von Argumentationstopoi. Bezüglich der Haltung gegenüber der Varianz und der Varianten kann Vieregge (2015) mehrere Diskursstränge, d. h. thematisch einheitliche Teile von Diskursen, isolieren, die miteinander aufs Engste verschränkt und mit weiteren Diskurssträngen, z. B. bezüglich der Autoritäten, verkettet sind. Nicht überraschend ist, dass die Haltung gegenüber der Varianz thematisch durch Überlegungen zur Richtigkeit sprachlicher Formen dominiert wird. Diesem Diskursstrang kann Vieregge (2015: 62) fast 40 % aller Aussagen zuordnen. Hierzu gehören nicht nur die (Initial-)Fragen nach der Richtigkeit wie in (28f), die nur einen kleinen Teil des Korpus ausmachen, sondern eben auch die Antworten. Unabhängig davon, welche Position genau eingenommen wird, lässt sich schon aus der Tatsache, dass über die Richtigkeit einer Variante und/ oder die Nichtkorrektheit einer anderen nachgedacht wird, schließen, dass dies ein wichtiges Denkparadigma bei sprachlichen Zweifelfsfällen ist, das der Annahme und Akzeptanz von Varianten entgegensteht. In (28) werden beispielhafte Diskursfragmente ange‐ führt. Der konkrete Kasusvorschlag (Beispiel wie wegen dem Hund/ wegen des Hundes oder Kasusnennung der Genitiv/ der Dativ) wird hier durch < KA S U S > ersetzt, da es hier primär um die Form der Argumentation geht: (28) Unterscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Form als Denkparadigma (beispielhafte Diskursfragmente) - a. „< K A S U S >ist korrekt und auch gängig. < K A S U S > ist zwar ebenso korrekt, klingt aber leicht angestaubt. < K A S U S > ist grammatikalisch für die Katzschlichtweg falsch.“ - b. „Die korrekte und ‚hochdeutsche‘ Formulierung ist < K A S U S > (auch die < K A S U S > ist ok).“ - c. „Zu ‚wegen‘ gehört < K A S U S >. Leider hört man es auch oft falsch: < K A S U S >, dabei heißt es: < K A S U S >.“ - d. „< K A S U S >, alles andere hört sich für mich scheiße an und mein Lehrer hat immer gesagt: Wenn es sich scheiße anhört, ist es meistens falsch“ - e. „HAbe aber gehört dass man heutzutage soagr der < K A S U S > erlaubt ist! ? ! ? “ - f. „Wie lautet die korrekte Formulierung? “ 186 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="187"?> In der Allgegenwärtigkeit dieser Haltung bestätigt sich zum einen die eingangs zitierte Definition von sprachlichen Zweifelsfällen nach Klein (2003) (auf S. 18): Die Diskursverläufe zeigen deutlich, dass zu bestimmten Variantenpaaren Zweifel über die Richtigkeit dazugehören. Der Zweifel hat also diskursive Realität und wird auf diese Weise in der Sprachgemeinschaft immer wieder aufs Neue verhandelt und tradiert. Zum anderen wird auch deutlich, wie diskursiv mächtig die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen grammatischen Formen ist. Dieses Denkparadigma ist mit weiteren standardsprachideologischen Annahmen, darunter mit der Annahme der Aufrechterhaltung, und mit einer präskriptiven Sicht auf die Standardsprache kompatibel, die mit der Annahme des Homogenismus zusammenhängt (s. Kap. 4.3.3). In den von Vieregge (2015) untersuchten Diskursverläufen finden auch weitere stan‐ dardsprachideologische Annahmen ihren Ausdruck. Auf ihnen basieren zwei weitere, (etwas weniger) intensiv bespielte Diskursstränge: einer zur schützenswerten Variante (20 % aller Aussagen) und ein anderer zur Varietätenzugehörigkeit von Varianten (18 % aller Aussagen). Der Diskursstrang zur schützenswerten Variante basiert auf dem standardsprachideologischen Imperativ, die Standardsprache in ihrer idealen Form aufrechzuerhalten, s. Belegbeispiele in (29). < KA S U S > steht auch hier stellvertretend für konkrete Beispiele oder Kasusnennung: (29) Diskursstrang zur schützenswerten Variante (Belegbeispiele) - a. „Rettet < K A S U S >! “ - b. „aber was wird dann aus unserer schönen sprache…könnte gruselig enden.“ - c. „Leider ist Deutsch zu einer Drei-Fall-Sprache verkommen, nämlich < K A S U S >, < K A S U S > und < K A S U S >. Der < K A S U S >ist aus der deutschen Sprache fast ver‐ schwunden.“ - d. „Defiitiv < K A S U S >, dem sonst das < K A S U S > der Tod ist! “ Der Diskursstrang zur Zugehörigkeit von Varianten zu bestimmten Varietäten folgt meist der standardsprachideologischen Annahme von Invarianz und Einheitlichkeit (Homogenismus), s. Belegbeispiele in (30). Dabei werden bestimmte Varianten als nicht der Standardsprache zugehörig präsentiert: (30) Diskursstrang zur Zugehörigkeit von Varianten zu bestimmten Varietäten (Belegbei‐ spiele) - a. „Nein. Den < K A S U S > kannst du allenfalls in der mündlichen Sprache unter Nichtakademikern verwenden.“ - b. „Umgangssprachlich wird ‚während‘ aber auch mit < K A S U S > gebraucht.“ - c. „Und deshalb ist in der Umgangssprache natürlich inzwischen oft der < K A S U S > zu hören: ‚< K A S U S >.‘“ 9.1 Ist Genitiv oder Dativ die bessere Wahl? 187 <?page no="188"?> Die Verwobenheit der drei genannten Diskursstränge kann die Aussage in (31) illus‐ trieren, die sowohl die Korrektheit als auch Varietätenzugehörigkeit von Varianten verhandelt: (31) Verschränkung von mehreren Diskurssträngen (Belegbeispiel) - „Die korrekte und ‚hochdeutsche‘ Formulierung ist < K A S U S > (auch die < K A S U S > ist ok).“ Wenig prominent ist hingegen der Diskursstrang zur Gleichwertigkeit von mehreren Varianten, die in lediglich 15-% aller Aussagen thematisiert wird: (32) Diskursstrang zur Gleichwertigkeit von mehreren Varianten zu bestimmten Varietä‐ ten (Belegbeispiele) - a. „Nope. Der < K A S U S > ist mind. genauso richtig.“ - b. „Beides ist laut Duden richtig. Meinetwegen und von mir aus auch.“ - c. „KAnn man jetzt beides sagen? “ - d. „du hast es intuitiv richtig getroffen… man sagt - < K A S U S "-man könnte aller‐ dings auch sagen, was auch grammatikalisch nicht falsch wäre, --- : < K A S U S >“ - e. „Ja, beides grammatikalisch richtig.“ Unter den Diskurssträngen bezüglich der Haltung gegenüber sprachlicher Varianz dominieren Überlegungen zur Richtigkeit von Varianten. An den bereits diskutierten Diskurssträngen sind bereits viele Diskurspositionen deut‐ lich geworden, die Bestandteile von Diskursen über sprachliche Zweifelsfälle sind. Als Diskursposition wird nach Tereick (2016: 37) eine im Diskurs geäußerte inhaltliche Feststellung verstanden, z.-B. „Es gibt zwei korrekte Varianten“ oder „Es gibt nur eine korrekte Variante“ bzw. „X ist korrekt“ oder „X ist nicht korrekt“. Diskurspositionen drücken damit Einstellungen aus (s. Kap. 4.3.2). Die Diskursposition muss sich nicht, wie Tereick (2016: 37) treffend beobachtet, mit der Einstellung und entsprechender Handlung eines Individuums decken. So kann jemand zwar die Position vertreten, dass nur eine Variante (im schriftlichen Standard) korrekt sei, jedoch beide Varianten verwenden (zur Diskursposition s. auch Jäger und Jäger 2007: 28-29, Spitzmüller und Warnke 2011: 177-187). Vieregge (2015) hat im gesamten Korpus aus 20 Diskussionsverläufen 105 Korrekt‐ heit bewertende Aussagen zu beiden Rektionskasusvarianten von Sekundärpräpositionen ermittelt. Die Aussagen enthalten 83 Bewertungen der Korrektheit von Genitiv und 92 von Dativ. Dabei wurde sowohl Genitiv als Dativ etwa gleich häufig (41 zu 38 Bewertungen) als die richtige Form bewertet. Die Diskursposition, dass eine Form nicht 188 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="189"?> richtig sei, wird doppelt so häufig in Bezug zum Dativ (31 „falsch“-Bewertungen) als zum Genitiv (15 „falsch“-Bewertungen) vertreten. Der Dativ wird als Präpositionalka‐ sus also fast genauso häufig als richtig wie als falsch bewertet (38 zu 31 Bewertungen von Dativ), wohingegen der Genitiv fast drei Mal so häufig als der richtige Kasus herausgestellt wird. Unter den Diskurspositionen bezogen auf die Richtigkeit überwiegt die An‐ nahme, dass eine bestimmte Variante korrekt sei. Die Tendenz, die sich in diesen Positionen herauskristallisiert, wird auf einer weiteren Bewertungsebene verstärkt, die mit Zuschreibung von posititiven oder negativen Merkmalen verbunden ist. In der Studie von Vieregge (2015) werden dem Genitiv fast ausschließlich positive Merkmale zugeschrieben („klingt schöner“, „wegen der Sprachschönheit“), nur selten wird er als „fremd“ oder „gestelzt“ attribuiert. Der Dativ hingegen wird mit ähnlicher Häufigkeit fast ausschließlich negativ beurteilt und dabei v. a. als Grund für den Schwund des Genitivs abgewertet. Daran ist schon zu erkennen, dass sprachlichen Formen unterschiedliche Merkmale zugeschrieben werden können. Die grammatische Korrektheit, die die Zugehörigkeit zur Standardsprache bewertet, ist eine unter vielen Bewertungskategorien. Generell kann man zwischen normativen, ästhetischen und sozialen Bewertungskategorien unterscheiden, die Assoziations‐ merkmale für die sprachlichen Formen liefern und miteinander häufig korrelieren. So gehört Korrektheit zu den mächstigsten normativen Bewertungskategorien, die die Sprachbewusstheit formen (Preston 1996: 54). Die ästhetischen Kategorien umfassen u. a. Bewertungen des Klangs („klingt schöner“). Die sozialen Bewertungskategorien beziehen sich hingegen nicht primär auf die Eigenschaften der Form, sondern auf ihre soziale Bedeutung. Dabei spielen stereotype Vorstellungen, d. h. verallgemeinernde Annahmen über eine Gruppe von Menschen, eine wichtige Rolle (s. Kap. 4.3.2). Diese bewirken eine gruppenbezogene Homogenisierung über tatsächliche Unterschiede zwischen den mit der Gruppe assoziierten Indviduen hinweg. Stereotype Vorstellungen über Sprecherinnen, die sich im Laufe der Sozialisation unter Einfluss des sozialen Umfelds, darunter auch über Medien vermittelt, herausbilden, werden mit sprachlichen Formen in Verbindung gebracht. Auf diese Weise werden mit den sprachlichen Formen Eigenschaften der Sprecherinnen assoziiert. Zu diesen gehören v. a. sog. Status- und Wärmekategorien (Plewnia und Rothe 2011: 182). Statuskategorien umfassen Kategorien wie Kompetenz und Bildung, wohingegen Freundlichkeit und Sympathie unter Wärmekategorien subsumiert werden. Vieregge (2025) hat die Assoziationen zu den Kasusvarianten bei Präpositionen mit einem zweistufigen Design erforscht (s. Abb. 29). Dabei wurden den Befragten jeweils zwei Beispielsätze präsentiert, die beide Kasusrektionsvarianten enthielten. Die Be‐ fragten haben in der ersten Stufe eine offene Frage bekommen „Welche Assoziationen haben Sie zu Variante 1 (Während dem Telefonat mache ich Notizen)? Bitte notieren 9.1 Ist Genitiv oder Dativ die bessere Wahl? 189 <?page no="190"?> Sie, was Ihnen spontan dazu einfällt.“. Der gewählte Ansatz war indirekt, d. h. es wurde nicht direkt gefragt, in etwa „Was denken Sie über den Dativ? “, so dass sich Befragte durchaus auch auf andere Aspekte der Sätze beziehen konnten. In einem offenen Feld ohne Zeichenbeschränkung konnten die Assoziationen niedergeschrieben werden. Im zweiten Schritt wurden semantische Differentiale angewandt, die ein geschlossenes Frageset darstellen (dazu mehr unten ab S.-192). Bitte bewerten Sie die beiden Varianten des folgenden Satzes. Variante 1: „Sie hat es gegenüber des Lehrers nicht erwähnt.“ Variante 2: „Sie hat es gegenüber dem Lehrer nicht erwähnt.“ - Welche Assoziationen haben Sie zu Variante 1 (Sie hat es gegenüber des Lehrers nicht erwähnt? ). Bitte notieren Sie, was Ihnen spontan dazu einfällt. Welche Eigenschaften verbinden Sie mit Personen, die Variante 1 (Sie hat es gegenüber des Lehrers nicht erwähnt.) verwenden? ungebildet gebildet unsympathisch sympathisch inkompetent kompetent unfreundlich freundlich Abb. 29: Ausschnitt aus der Befragung zu Assoziationen zu Kasusvarianten mit offener Frage und mit semantischen Differentialen (hier: während dem Telefonat, s. Vieregge 2025) Die von Vieregge (2025) durchgeführte Kategorisierung der rund 800 Antworten auf die offene Frage zeigt, dass die zu den normativen Kategorien zugehörige Korrektheit von den Befragten am häufigsten eingesetzt wird. 282 der insgesamt 1.080 Positionierungseinheiten entfallen auf diese Kategorie. Die 195 ästhetischen Bewertungspositionierungen und die zur sozialen Bewertungskategorie zugehörigen 191 Personenbewertungen gehören ebenfalls zu den frequentesten Bewertungskate‐ gorien. Diesen folgen weitere normative Positionierungen zu Verwendungskontexten: formell/ informell (Kategorie Formalität, 89 Positionierungen), Standard/ Regionalspra‐ che, Dialekt/ Umgangs-, Alltagssprache (Kategorie Varietät, 76 Positionierungen) und 190 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="191"?> schriftlich/ mündlich (Kategorie Medium, 45 Positionierungen). Einbeziehung des Sprachwandels und des eigenen Sprachgebrauchs sind noch seltener (31 resp. 23 Positionierungen). Nicht relevante, d. h. nicht die Rektionsvarianten betreffende Aussagen waren mit 27 Positionierungen selten. Abb. 30: Positionierungstypen zu Kasusvarianten im offenen Fragendesign (Vieregge 2025: 158) Folgende Positionierungen können bei normativen Kategorien beobachtet werden: ● zu Korrektheit: Fast ausnahmslos sprechen sich die Befragten dafür aus, dass die Genitivrektion bei dank, wegen und während richtig sei, die Dativrektion wird mehrheitlich als falsch eingeschätzt. Bei gegenüber sind die Verhältnisse umgekehrt. ● zu Formalität, Medium und Varietät: Die Dativvarianten werden ausschließlich mit Informalität, fast ausschließlich mit gesprochener Sprache und mit Umgangs‐ sprache/ Dialekt assoziiert. Die Genitivvarianten werden hingegen stark an die Formalität und geschriebene Sprache gekoppelt. Nur sie werden auch mit Stan‐ dardsprache assoziiert. Die Korrektheit als eine normative Bewertungskategorie dominiert die Einstel‐ lung zu den Rektionsvarianten. Die ästhetikbewertenden und die personenbewertenden Aussagen werden gemeinsam mit dem zweiten Schritt der Untersuchung betrachtet, in dem Vieregge (2025: 147-152) 9.1 Ist Genitiv oder Dativ die bessere Wahl? 191 <?page no="192"?> mit Hilfe von semantischen Differentialen (auch Polaritätsprofilen) Positionierun‐ gen anhand von Wärmekategorien, Freundlichkeit und Sympathie, Statuskategorien, Kompetenz und Bildung, erforscht. Die Befragten konnten ihre Einschätzung auf einer fünfstufigen Likertskala zum Ausdruck bringen, z. B. zwischen ungebildet (links) und gebildet (rechts) (s. unterer Teil der Abb. 29). Während die Befragten bezüglich der Präpositionen wegen und während indifferent reagieren und den Personen gleichermaßen eine gewisse Freund‐ lichkeit und Sympathie (eher freundlich und sympathisch) attestieren, zeigen sich bei den Präpositionen dank und gegenüber Bewertungsunterschiede: Bei der Präposition dank werden Personen, die Genitiv verwenden, als sympathischer und freundlicher bewertet, wohingegen der Genitivgebrauch bei gegenüber eine negative Bewertung hervorruft, so dass solche Personen eher als unsymphatisch zu gelten scheinen. Gerade dieser Ausschlag Richtung sympathisch bei dank und unsympathisch bei gegenüber könnte mit den Gebrauchstendenzen zusammenhängen, denn im Gegensatz zu dank, das tendenziell mit Genitiv gebraucht, wird gegenüber mehrheitlich mit Dativ (zu etwa 90 %) gebildet (s. Kap. 7.1.2). Wenn mit einer Präposition wie gegenüber verwendet, die meist mit Dativ gebraucht wird, wird der als Kasus der wissenschaftlichen und Zeitungstexte registrierte Genitiv als Abweichung wahrgenommen, die mit übermä‐ ßigem Gebrauch von Bildungssignalen assoziiert wird (dazu unten mehr). Dafür spricht auch die Vergabe der Statuskategorien: Für die Präpositionen we‐ gen, während und dank wird die Genitivvariante (während des Telefonats, wegen des Starkregens, dank des Brückentags) sehr einheitlich mit höherem Bildungs- und Kompetenzgrad verbunden (s. Abb. 31 für die Präposition während). Lediglich bei gegenüber zeigt sich eine abweichende Einstellung, denn hierbei wird die Dativvariante mit hohen Bildungs- und Kompetenzwerten verbunden. Abb. 31: Bewertung von Personeneigenschaften in Assoziation mit verwendeten Kasusvarianten bei während (Vieregge 2025: 149) 192 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="193"?> Die starke Tendenz, von den sprachlichen Formen auf Personentypen zu schließen, bestätigt sich in den Ergebnissen der offenen Frage im ersten Schritt. So entfallen die meisten Aussagen zu Person auf die Einschätzung von Charaktereigenschaften. Dabei werden Personen, die Genitiv verwenden, als präzise, professionell, vertrauenswürdig, seriös, streng, pedantisch, verkrampft, abgehoben, arrogant und besserwisserisch bezeichnet (s. Beispiel in 33a). Bei Dativgebrauch gelten sie hingegen als locker, unprätentiös, sympathisch, schlampig, nachlässig (s. Beispiel in 33b). (33) (Direkte und indirekte) Bewertung von Charaktereigeschaften - a. „Richtig, aber gestelzt“ (Grundschullehrerin, 69 Jahre alt, zu dank mit Genitiv) - b. „Hört sich einfach und plump an“ (Erzieher, 33, zu während mit Dativ) Es zeichnet sich weiterhin ab, dass Befragte Genitiv- und Dativvarianten mit hoher resp. mangelnder Sprachkompetenz verbinden. Lediglich bei der Präposition gegenüber wird die Genitivvariante mit mangelnder Sprachkompetenz konnotiert. Die Kopplung an die allgemeine Bildung ist noch stärker: Dativ wird fast ausschließlich als Indikator einer niedrigen Bildung angesehen, Genitiv als Indikator einer hohen. Gleichzeitig wird Dativ mit sozialer Nähe, Genitiv mit Distanz konnotiert. In vielen Fällen liefert auch die ästhetische Bewertung der Formen indirekte Aussagen über die sie gebrauchenden Personen. So werden Dativformen als plump und schlampig und Genitivformen (insbesonderen mit gegenüber) als gestelzt und abgehoben bewertet. Nach den sozialen Bewertungskategorien wird die Genitivvariante mit höhe‐ rem Bildungs- und Kompetenzgrad assoziert. Die ästhetische Bewertung einer Form als schön oder gut wird tendenziell den Geni‐ tivformen attestiert (Ausnahme bildet hier Dativ bei gegenüber). Nur Genitivformen werden als elegant angesehen. 9.2 Soll winken stark oder schwach flektiert werden? Die schwankenden Verbformen sorgen ebenfalls für diskursive Auseinandersetzungen. Diese betreffen u. a. das ursprünglich schwache Verb winken, dessen Schwankungen zwischen einem schwachen und einem starken Partizip bereits seit dem Mittelhoch‐ deutschen (1050-1350) belegt sind und früh zu grammatikographischen Stellungnah‐ men geführt haben (Theobald 1992: 230): Bereits im 17. Jh. wird das starke Partizip gewunken in den Wörterbüchern verzeichnet. Im 18. Jh. wird das Verb in den Gram‐ matiken und Wörterbüchern teils als auschließlich schwach, teils mit beiden Varianten 9.2 Soll winken stark oder schwach flektiert werden? 193 <?page no="194"?> und teils als auschließlich stark aufgeführt. Die starke Variante wird mancherorts auch als mundartlich beschrieben. Die schwankende Flexion von winken führt früh zu grammatikographischen Stellungnahmen. Vor dem Hintergrund, dass die Form gewunken in den standardsprachlichen Korpora des 20. Jhs. kein Randphänomen mehr ist, sondern sogar die häufiger gebrauchte Variante darstellt (s. Kap. 7.2.2.2), sollen in diesem Abschnitt die Diskurse betrachtet werden, in denen für bzw. gegen eine der beiden Varianten argumentiert wird. Der Schwerpunkt wird hier auf den argumentativen Topoi liegen, die in den Diskursbei‐ trägen benutzt werden (s. Kap.-4.3). Die Argumentation ist ein Alltagsverfahren, „in dem versucht wird, den Status der Unstrittigkeit auf etwas bislang Strittiges zu transferieren“ (Schröter 2021: 5). Der strittige Sachverhalt ist in diesem Fall die grammatische Richtigkeit/ Nicht-Richtigkeit einer der zwei bekannten Partizipvarianten von winken. Die Argumentation zielt auf die Überwindung oder mindestens Verringerung des erkannten grammatischen Zweifels und soll folglich zur Erkenntnis beitragen. Dem Zweifel an der grammatischen Richtigkeit wird mit bestimmten Argumenten (argumentativen Schlüssen) begegnet. Dies soll am Diskussionsbeitrag in (34) illustriert werden, in dem für die Umgangs‐ sprachlichkeit von gewunken argumentiert wird: (34) Exemplarischer Diskussionsbeitrag - KORREKT ist : GEWINKT ! ich winke, ich winkte, ich habe / hatte gewinkt ! GEWUNKEN ist nur umgangssprachlich verbreitet! Die argumentativen Schlüsse (auch: Argumente) enthalten generell zumindest eine unstrittige Prämisse und eine Konklusion, die in der Argumentation den Status der Unstrittigkeit erlangen soll. Beide sind in (35) für den obigen Diskussionsbeitrag rekonstruiert. Auf diese Weise wird das Strittige in der Konklusion auf eine unstrittige Prämisse zurückgeführt. Die Stütze für die Schlussfolgerung, dass man ausgehend von der Prämisse zur vorgeschlagenen Konklusion gelangen kann, liefert eine Schlussregel (Toulmin 1975: 89, Wengeler 2003: 179). Dabei stützen sich Schlussregeln meist auf allgemeine Einordnungs-, Vergleichs-, Gegensatz- und Kausalschemata, d. h. sie basieren auf solchen Konzepten wie der Teil-Ganzes-Relation, Gleichheit oder Verschiedenheit, dem Gegensatz oder der Ursache-Wirkung-Relation (Kienpointner 1992: 231-416, insb. 242-246). Dabei sind Schlussregeln auf musterhafte Art und Weise inhaltlich-thematisch gefüllt und bilden so die sog. argumentativen Topoi, die „gewohnheitsmäßig und kollektiv verbreitet und abrufbar“ sind und sowohl für 194 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="195"?> oder auch gegen eine Position eingesetzt werden können (Wengeler 2007: 167). In (35) enthält die Schlussregel den Umgangssprachlichkeitstopos. (35) Rekonstruktion des argumentativen Schlusses zur Korrektheit von gewinkt - Prämisse: Die Form gewinkt gehört dem Standard an. - Schlussregel (hier Umgangssprach‐ lichkeitstopos): Wenn es mehr als eine Form gibt, gehört eine davon nicht der Standardsprache an, sondern ist umgangssprachlich oder regional. - Konklusion: Die Form gewunken ist nicht standardsprachlich, sondern umgangssprachlich. Argumentative Schlüsse gehen von einer unstrittigen Prämisse aus und stützen sich auf Schlussregeln. Vieregge (2014) stellt in ihrer unveröffentlichen Hausarbeit mit Hilfe einer Suchanfrage bei Google „gewinkt oder gewunken? “ ein Korpus von Forenbeiträgen im Umfang von ca. 10.000 Wörtern zusammen. In diesem winken-Korpus ermittelt sie sechs verschiedene argumentative Topoi, die im Folgenden besprochen werden. Tabelle 47 gibt den Anteil der von Vieregge (2014) ermittelten Topoi an, die zur Stützung oder Ablehnung einer der beiden Flexionsformen eingesetzt werden. Argumentative Topoi Anzahl Anteil in % Autoritätstopos 39 32% Umgangssprachlichkeits-/ Regionalitätstopos 27 22% Analogietopos 21 17% Intuitionstopos 19 15% Häufigkeitstopos 14 11% Vergleichstopos 3 2% Tabelle 47: Argumentative Topoi im Diskurs über die (Nicht-) Richtigkeit von gewinkt/ gewunken (Vier‐ egge 2014) Im winken-Korpus ist die Anwendung des Autoritätstopos am häufigsten zu beobach‐ ten (s. Tab. 47). In einem Drittel der Fälle beziehen sich Diskutierende auf Autoritäten, um die Unstrittigkeit ihres Standpunktes zu belegen. Die Schlussregel kann wie folgt formuliert werden: 9.2 Soll winken stark oder schwach flektiert werden? 195 <?page no="196"?> (36) Schlussregel des Autoritätstopos - „Wenn Autorität X eine grammatische Form für richtig erklärt, ist diese Form richtig.“ Diese Regel wird häufig verwendet, um andere Schlussregeln zu bekräftigen. Als Autoritäten werden in den Beiträgen neben (nicht selten nicht näher spezifizierten) Grammatiken auch Lehrerinnen, populäre Veröffentlichungen von Bastian Sick, Wi‐ kipedia oder sogar einfach das Internet genannt. Der Autoritätstopos wird sowohl in den Argumentationen für gewinkt (gegen gewunken) wie in (37) als auch für gewunken (gegen gewinkt) wie in (38), seltener auch für beide Varianten wie in (39) angewendet. In den beispielhaft gewählten Beiträgen in (37) und (38), die den Autoritätstopos für beide, eindeutig widersprüchliche Positionen nutzen, ist zu sehen, dass sich der Verweis auf die Duden-Grammatik nicht selten auf einen eher angenommenen als überprüften Inhalt stützt: Während der Beitrag in (37) die Richtigkeit von gewinkt in jeder Duden-Grammatik gesichert sieht und diese zusätzlich durch den Bericht über eine dezidiert ablehnende Reaktion einer promovierten Lehrkraft unterstützt, wird in dem viel Platz einnehmenden Beitrag in (38) eine Zitation aus einer nicht näher spezifizierten Duden-Grammatik inszeniert. In (39) wird hingegen die aktuelle Auflage der Duden-Grammatik mit konkretem Seitenverweis zitiert. (37) Autoritätstopos für gewinkt (Duden und promovierte Lehrkraft) - Es ist eindeutig gewinkt.Man kann das im jeden Duden nachlesen.Wir haben einen Dr.Dr. Herr **** als Lehrer und er hasst es wenn die Leute sagen „gewunken“. (38) Autoritätstopos für gewunken (Duden) - Duden (Grammatik): -Infinitiv: winken, (das Winken) -Ich winke du winkst er sie es winkt sie winken wir winken ihr winket -Vergangenheit: habe gewunken, Zukunft: werde winken (39) Autoritätstopos für beide Varianten gewinkt und gewunken (Duden) - Ich kann nur immer wieder empfehlen, dass sich jeder Mensch einen Duden zulegen sollte. Aktuell gibt es die 25. Auflage. So wie es dort drinnen steht, ist es verbindlich. -Der Duden sagt dazu auf Seite 1180 in der mittleren Spalte: „winken; gewinkt (häufig auch gewunken)“ -Er hat mir gewunken. lt. Duden richtig - ohne zu. Er hat mir gewinkt. Auch möglich, klingt aber nicht so schön. 196 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="197"?> Der Autoritätstopos wird sehr häufig als Stütze für die Argumentation im Zweifelsfallsdiskurs eingesetzt. In fast einem Viertel der Fälle wird in den Beiträgen der Umgangssprachlichkeits-/ Re‐ gionalitätstopos eingesetzt, auch hier zur Unterstützung konträrer Positionen. Der Topos lässt sie so formulieren: (40) Umgangssprachlichkeis-/ Regionalitätstopos - „Wenn es mehr als eine Form gibt, gehört eine davon nicht der Standardsprache an, sondern ist umgangssprachlich oder regional.“ Der Umgangssprachlichkeits-/ Regionalitätstopos basiert auf der sprachideologischen Annahme der Einheitlichkeit und Invarianz der Standardsprache (s. Kap. 4.3.3). Wie andere Topoi wird auch dieser für konträre Meinungen eingesetzt: In (41) wird dem Topos der Umgangssprachlichkeit und Regionalität folgend die Form gewunken als mundartzugehörig, die Form gewinkt als standardsprachlich gewertet. In (42) wird wiederum gewinkt als regional und gewunken als überregional/ standardsprachlich richtig angesehen. (41) Umgangssprachlichkeits-/ Regionalitätstopos für gewinkt - Bei „gewunken“ handelt es sich um eine Mundart. Tatsächlich aber wird winken wie von dir beschrieben konjugiert. „gewinkt“ heisst es somit richtig. (42) Umgangssprachlichkeits-/ Regionalitätstopos für gewunken - Gewunken ist richtig.Man kann vielleicht in ein paar teilen deutschlands auch gewinkt sagen.Aber korrekt ist gewunken.Ich habedir zu GEWUNKEN Der Umgangssprachlicheits-/ Regionalitätstopos kann jedoch durch den Intui‐ tionstopos (s. u. in 47) entkräftet werden, bei dem das eigene Sprachgefühl befragt wird. So wird in (43) die Form gewunken zwar der standardsprachideologischen Annahme der Einheitlichkeit und Invarianz folgend als umgangssprachlich bewertet, jedoch auf Basis des eigenen Sprachgefühls dann doch bevorzugt: 9.2 Soll winken stark oder schwach flektiert werden? 197 <?page no="198"?> (43) Standardsprachideologische Annahme der Invarianz vs. das Sprachgefühl - Gewunken ist Umgangssprache. Mir gefällt es besser : -) Der Analogietopos beruht auf der Annahme, dass ähnlich lautende Verben ähnlich flektieren sollen: (44) Analogietopos - „Wenn Verben, die ähnlich klingen, stark/ schwach flektieren, dann flektiert winken auch so.“ Wie zu vermuten ist, ist auch der Analogietopos gut für beide Varianten einsetzbar. So wird in (45) die Analogie zum Verb hinken gesucht, in (46) hingegen zu trinken. (45) Analogietopos für gewinkt - „gewinkt“ natuerlich - nicht „gewunken“, ebenso, wie „gehinkt“ und nicht „gehun‐ ken“. Vielleicht kannst Du es an diesem Beispiel erklaeren. (46) Analogietopos für gewunken - es heisst aber auch <<<<<<< getrunken ! ! ! und nicht getrinkt ? ? ? ? Der bereits kurz angesprochene Intuitionstopos (47) und der Häufigkeitstopos (48) stützen sich nicht selten. Mit dem Intuitionstopos kann für die Form argumentiert werden, die nach eigenem Sprachgefühl bevorzugt wird. (47) Intuitionstopos - „Wenn das eigene Sprachgefühl eine Form bevorzugt, dann ist diese die richtige.“ (48) Häufigkeitstopos - „Wenn eine Form häufig vorkommt, dann ist sie richtig oder positiv zu bewerten.“ Da individuelle sprachliche Intuition meist als wenig stichhaltig angesehen werden kann, wird sie durch den Häufigkeitstopos gestützt, mit dem das eigene Sprachgefühl oder die eigene Bewertung einer Form gerechtfertigt wird (49). (49) Intuitionstopos gestützt durch den Häufigkeitstopos für gewunken - Bei uns in Sachsen wird wirklich oft gewunken gesagt und ich finde, es klingt echt gut und richtig. Beide Topoi können durch den Topos der Umgangssprachlichkeit abgeschwächt werden, der nur eine Form als standardsprachlich anerkennt. So auch in (50), wo 198 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="199"?> die Häufigkeit und das eigene Sprachverhalten in der Argumentation herabgestuft werden, gestützt durch den Topos der Umgangssprachlichkeit. In Bezug auf diesen Topos wird die Form gewunken als umgangssprachlich und die Form gewinkt als standardsprachlich korrekt bewertet. (50) Umgangssprachlichkeitstopos vs. Intuitions- und Häufigkeitstopos - winken -->winkte -->gewinkt Das ist grammatisch Korrekt! Viele Leute sagen gewunken was ich selber auch tuhe, aber ich weiß das es „gewinkt“ heißt. Sporadisch tritt im winken-Korpus auch der Vergleichtopos auf, bei dem zur Regelfin‐ dung Zusammenhänge aus anderen (sprachlichen oder nicht sprachlichen) Bereichen herangezogen werden. (51) Vergleichtopos - „Wenn in einem anderen Bereich bestimmte Zusammenhänge bestehen, dann bestehen sie auch in Bezug auf gewinkt/ gewunken.“ Auch dieser Topos ermöglicht konträre Argumentationen: In (52) wird unter Bezug auf regelverstoßendes Parkverhalten abgelehnt, eine häufige Form als richtig anzuerken‐ nen. In (53) wird die Variation im Englischen zur Argumentation herangezogen, um den Analogietopos zu unterstützen. (52) Vergleichstopos zur Abschwächung des Häufigkeitstopos - ES HEIßT GEWINKT! ! ! Auch wenn sich das für manche komisch anhört, ist es richtig und nur weil alle falsch sprechen, wird es noch lange nicht richtig. Das ist das gleiche wie mit den parkenden Autos, nur weil viele irgendwo parken, muß es noch lange nicht richtig sein. (53) Vergleichstopos zur Stärkung des Analogietopos - „gewunken“ ist eine Variante von „gewinkt“, zwar nicht Standard, aber trotzdem möglich. Es gibt z. B. in England auch Leute, die „throw, threw, thrown“ regelmässig konjugieren, also „throw, throwed, throwed“. Wahrscheinlich entstand die Form in Analogie mit Verben wie „sinken, sank, gesunken“. Argumentative Topoi können zur Unterstützung von konträren Konklusionen eingesetzt werden. 9.2 Soll winken stark oder schwach flektiert werden? 199 <?page no="200"?> 9.3 Gehört der am-Progressiv zur Standardsprache? In dem in (54) abgebildeten Thread vom 03.07.2008 auf forum.wordreference.com werden verschiedene Diskurspositionen zum am-Progressiv ausgetauscht. Die Aus‐ gangsfrage von T. (#1) deutet auf die Unsicherheit bezüglich der Grammatikalität des am-Progressivs hin. Die Antworten enthalten unterschiedliche Positionierungen: In #2 klassifiziert S. den am-Progressivs als umgangssprachlich und führt als Alternative die beim-Form auf. R. antwortet in #4 direkt darauf und schlägt als „gute“ Alternative die Präsensformulierung vor. In einer weiteren Antwort auf S. in #2 hinterfragt M. in #3 nicht nur die Standardsprachlichkeit der beim-Form, sondern auch die grammatikographische Autorität des Duden, was wiederum #5 und #6 nach sich zieht, die an der deskriptiven Aufgabe vom Duden festhalten und auf die Klassifikation des am-Progressivs als standardsprachlich in neueren Duden-Ausgaben hinweisen. (54) Thread zum am-Progressiv (vom 03.07.2008 auf forum.wordreference.com) - #1 Frage von T. „Er ist am Überlegen“, oder „Ich bin am Arbeiten“ - -Diese Konstruktion ist doch in der Umgangssprache üblich, um auszudrücken, was jemand gerade im Moment tut. -Meine Frage: Ist sie mittlerweile auch im Schrift-Deutsch korrekt und zulässig? Vor 30 Jahren war sie es noch nicht, aber das kann sich ja inzwischen geändert haben. -#2 Antwort von S. Nein. Diese Konstruktion ist Umgangssprache. Wenn es nicht gerade darum geht, Dialog wiederzugeben, wird sie schriftsprachlich nicht akzeptiert. Man kann stattdessen leicht „beim“ benutzen. -Ich bin noch beim Arbeiten/ Überlegen. -(vgl. Duden #9, Richtiges und gutes Deutsch, 2001) -#3 Antwort von M auf #2 Und „beim“ wird auch vom Duden anerkannt? ! Da sieht man mal wieder, wie hohl manche „Regeln“ sind… ; ) -#4 Antwort von R. #2 Also das erstaunt mich ja nun auch: Richtig meinetwegen, aber gut? ! Nee, da würde ich doch lieber „ich bin noch an der Arbeit/ ich arbeite noch bzw. ich überlege gerade noch“ sagen. -#5 Antwort von S auf #3 Duden stellt keine Regeln auf, sondern versucht festzuhalten, was von der Mehr‐ heit der Sprecher als standardsprachlich angesehen wird. Es wird immer Leute geben, die mit manchen dieser Schlussfolgerungen nicht übereinstimmen. Ich verstehe nicht, warum hier jeder sofort auf den Duden einprügelt. Das Werk ist als Hilfestellung gedacht für solche Leute, die aus bestimmtem Anlass Wert darauf legen, sich möglichst einwandfrei auszudrücken, z.-B. in Bewerbungsbriefen, als Schriftsteller/ Übersetzer, in Diplom-, Doktorarbeiten, … Wo kommt das Feindbild „Duden“ eigentlich her? 200 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="201"?> #6 Antwort von V Übrigens, der „böse“ ; -) Duden stellt in der neuesten Ausgabe des Bands (2007) fest, dass die Verlaufsform mit am inzwischen „teilweise schon als standardsprachlich angesehen“ wird (zitiert nach http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Verlaufsform). - Das beispielhafte Thread in (54) zeigt, dass in den Diskursen verschiedene Positionen bezüglich der Standardsprachlichkeit des am-Progressivs ausgehandelt werden. Die in diesem kurzen Austausch vertretenen Positionen spiegeln historische grammatiko‐ graphische Diskurse wider, die im Folgenden zunächst am Beispiel der Ausgaben der Duden-Grammatik der ersten Auflage von 1959 bis zur neunten Auflage von 2016 vorgestellt und analysiert werden. Anschließend folgt die Betrachtung historischer Grammatiken. In der 1. Auflage von 1959 wird der am-Progressiv nicht erwähnt, d. h. indirekt stigmatisiert (s. Kap. 4.3.1). In der 2. Auflage (1966) wird die Form im Teil „Das Verb“ in der Beschreibung von Aktionsarten des Verbs im letzten Punkt d) mehrfach direkt stigmatisiert: Duden-Grammatik (1966: 72): d) Kennzeichnung der Aktionsarten durch zusätzliche Wörter Eine Aktionsart wird häufig durch zusätzliche Wörter sichtbar gemacht: perfektiv: über den See schwimmen, imperfektiv: er ist am Schreiben 4 (landsch. für: er schreibt), iterativ: er trinkt ständig, intensiv: er irrt sich (statt: er irrt […]). _________ 4 „Am“, „beim“ und „im“ bilden in Verbindungen mit „sein“ und einem substantivierten Infi‐ nitiv die „Verlaufsform“, die den genannten Vorgang oder Zustand ohne zeitliche Begrenzung erscheinen läßt. Die Verwendung von „am“ ist landschaftlicher Gebrauch, die Verwendung von „beim“ und „im“ auch hochsprachlich: Landsch.: …das Gas strömte wieder, das Mittagessen sei am Kochen (V. Baum). Hier ist immer etwas am Wachsen (Gaiser). Hochspr.: Er ist beim Lesen. … zu glauben, daß das ptolemäische Weltsystem wieder im Kommen ist (Langgässer). Die erste Erwähnung des am-Progressivs in der 2. Auflage der Duden-Grammatik mar‐ kiert die Form als „landschaftlich“. Dabei wird sie zum einen dem standardsprachlichen Ausdruck im Präsens (er schreibt) gegenübergestellt. Zum anderen konstruiert Fußnote 4 einen weiteren Gegensatz zu den auch „hochsprachlichen“ Formen beim Lesen oder im Kommen. Dabei wird die am-Form mit Beispielen über alltägliche Verrichtungen und ländliche Thematik (am Kochen, am Wachsen) assoziiert, wohingegen die Formen beim Lesen und im Kommen in Bildungskontexte eingebettet sind (das ptolemäische Weltsystem). In der 3. Auflage von 1973 findet die Form im Teil „Das Substantiv“ Erwähnung und nicht als Verbalform. Im Abschnitt „Der Artikel und das Substantiv“ wird sie 9.3 Gehört der am-Progressiv zur Standardsprache? 201 <?page no="202"?> unter c) „Zur Verschmelzung des Artikels mit bestimmten Präpositionen“ erneut als landschaftlich markiert, wieder im Gegensatz zu beim und im: Duden-Grammatik (1973: 174): Am, beim und im bilden in Verbindung mit sein und einem substantivierten Infinitiv die ‚Verlaufsform‘. Die Verschmelzung ist hier nicht auflösbar: (Landsch.: ) Er ist am Arbeiten. (Hochspr.: ) Er ist beim Arbeiten. Die Zeit ist im Kommen […]. Die Duden-Grammatiken stellen den am-Progressiv bis zur Auflage 6. auf die hier beschriebene Art und Weise dar, markieren sie dabei ausdrücklich als landschaftlich und stellen auch durch die Wahl der suggestiven Beispiele den am-Formen Wendungen mit beim und im gegenüber, die als „hochsprachlich“ bzw. - ab der 4. Auflage - als „stan‐ dardsprachlich“ vorgestellt werden. Der Gegensatz zwischen dem landschaftlichen am [Verb]-en und dem hochsprachlichen/ standardsprachlichen beim und im [Verb]-en wird erst in der 7. Auflage von 2005 aufgegeben. Ab da werden beide Formen mit am und beim unter Verweis auf Unterschiede in der Gebrauchshäufigkeit beschrieben: Beiden Formen wird unter Bezug auf Forschungsliteratur häufigerer Gebrauch in der gesprochenen Sprache attestiert als in der Standardschriftsprache. Die Übersicht in Tabelle 48 zeigt den Verlauf der grammatikographischen Auseinandersetzung mit dem am-Progressiv und seinen Konkurrenzformen von der 1. bis zur 9. Auflage. Erscheinungs‐ jahr und Auflage Grammatische Zuordnung Bestimmung der Varietätszugehö‐ rigkeit 1959 (1. Auflage) [bleibt unerwähnt] - 1966 (2. Auflage) Aktionsart (Verbalform) landschaftlich; Beispiele mit alltäg‐ lich-ländlicher Thematik - 1973 (3. Auflage) Präposition-Artikel-Klise vor dem Substantiv + Erwähnung der „Verlaufsform“ landschaftlich 1984 (4. Auflage) [wie in der 3. Auflage] landschaftlich [Beispiele unverändert wie in der 3. Auflage] 1995 (5. Auflage) Aktionsart (Verbalform) [wie in der 2. Auflage] landschaftlich [Beispiele unverändert wie in der 2. Auflage] 1998 (6. Auflage) [wie in der 2. und 5. Auflage] landschaftlich [Beispiele unverändert wie in der 2. und 5. Auflage] 2005 (7. Auflage) Verben mit Spezialfunktion (sein als infinitivregierendes Verb) gesprochene Sprache (weiter verbrei‐ tet als in der Standardschriftsprache) 2009 (8. Auflage) [wie in der 7. Auflage] [wie in der 7. Auflage] 202 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="203"?> 2016 (9. Auflage) [wie in der 7. und 8. Auflage]; der Infinitiv wird nicht mehr als substantiviert bestimmt (höhe‐ rer Grammatikalisierungsgrad) [wie in der 7. und 8. Auflage] Tabelle 48: Der am-Progressiv in den Duden-Grammatiken (1959-2016) Die historische Grammatikographie kann mit Hilfe der Zweidat-Datenbank (http: / / ka llimachos.de/ zweidat/ index.php/ Hauptseite) untersucht werden. Die Suche nach dem Zweifelsfall „Verb: Verlaufsform“ ergibt zum Zeitpunkt der Recherche (17.01.2022) einen deutlichen Hinweis darauf, dass schon Anfang des 20. Jhs. eine ablehnende Haltung zum am-Progressiv propagiert wurde. Der folgende Ausschnitt aus dem bereits in der 6. Auflage 1929 erschienenen Werk „Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs“ von Theodor Matthias markiert den am-Progressiv als „mundartlich“, „fälschlich“ und „ein wahres Ungetüm gegen den einfachen, schlichten und doch genügenden Ausdruck“. Im selben Abschnitt wird der Fügung aber attestiert, dass sie „einen wirklichen Vorzug vor dem einfachen Verbum hat […], wenn sie […] die allmähliche unbemerkte Entwicklung bezeichnet“. Matthias (1929: 155): Im Abnehmen sein, am Geben sein u.ä. Mundartlich wird das Wörtchen in da, wo es mit dem Infinitiv und sein (auch begriffen sein) dazu dient, die Dauer oder allmähliche Entwicklung einer Handlung zu bezeichnen, fälschlich durch an verdrängt, zumal am Niederrhein und in Norddeutschland, wo es sogar in Zeitungen wie die Kölnische dringt: Die Feuerbrünste sind am (statt im) Abnehmen. Die Rechte ist fortwährend am (statt im) vorrücken. Damit soll aber durchaus nicht gesagt sein, daß diese Umschreibung mit in überhaupt immer nötig sei; im ersten Satze z. B. reichte, wie sehr oft, auch das bloße Verbum aus: Die Feuersbrünste nehmen beständig ab; ja ein Satz wie: Die Entlassungsgesuche der Präfekten sind heute schon dutzendweise am Eintreffen (v. Dürckheim), ist ein wahres Ungetüm gegen den einfachen, schlichten und doch genügenden Ausdruck: sie treffen schon dutzendweise ein. Einen wirklichen Vorzug vor dem einfachen Verbum hat diese Fügung dann, wenn sie, wie oben im zweiten Satze (Die Rechte usw.), die allmähliche unbemerkte Entwicklung bezeichnet. Etwas ganz anders bedeutet sein und an mit Infinitiv, nämlich soviel als an der Reihe sein, wie denn Spieler richtig sagen: N. ist am Geben; nur durfte ein Politiker nicht schreiben: Nach diesem Ausfall wäre das Zentrum am Stellen des ersten Präsidenten statt: daran, den Präsidenten zu stellen. In der Grammatikschreibung wandelt sich die Bewertung des am-Progressivs. Die indirekte Stigmatisierung geht über eine Phase der direkten Stigmatisierung zur objektiven Funktionsbeschreibung mit Gebrauchsbestimmung in medialen Standardvarietäten. 9.3 Gehört der am-Progressiv zur Standardsprache? 203 <?page no="204"?> In einer im Juli 2018 durchgeführten Umfrage, an der 95 Studierende teilgenommen haben (s. Szczepaniak i.Vorb.), wurden die Formen mit am und beim in zwei sonst identischen Sätzen gegenübergestellt. Die Sätze waren in eine Situationsbeschreibung eingebettet. Die Befragten wurden gebeten, zu beschreiben, welche Assoziationen beide Varianten in ihnen wecken. In Abbildung 32 ist die Umfrageseite abgebildet, in der die Familie Bauer in Szene gesetzt wird, die bei der Bank einen Kredit aufneh‐ men möchte. Die Stimulisätze (Variante 1 und Variante 2) sind in der schriftlichen Rückmeldung der Bank enthalten. Variante 1 enthält die Form wir sind am Prüfen, Variante 2 wir sind beim Prüfen. Im zweiten Teil geht es um deine Assoziationen. Bitte antworte ganz spontan und schreibe einfach direkt auf, was dir einfällt. Familie Bauer will bei der Bank einen Kredit aufnehmen. Auf Nachfrage erhalten sie eine schriftliche Rückmeldung. In dem Schreiben heißt es u.a.: Variante 1: Wir sind derzeit am Prüfen, ob wir Ihnen den gewünschten Kreditrahmen zusichern können. Variante 2: Wir sind derzeit beim Prüfen, ob wir Ihnen den gewünschten Kreditrahmen zusichern können. Welche Assoziationen weckt bei dir die sprachliche Variante 1? („Wir sind derzeit am Prüfen…“)? Welche Assoziationen weckt bei dir die sprachliche Variante 2? („Wir sind derzeit beim Prüfen…“)? Abb. 32: Assoziationstest zum am-Progressiv (Szczepaniak i.Vorb.) 30 Befragte nehmen eine Bewertung vor. In der Reaktion auf Variante 1 (wir sind am Prüfen) haben 25 Personen die Einschätzung zum Ausdruck gebracht, dass diese Variante umgangssprachlich (20 Personen), regional (1 Person), gesprochensprachlich (1 Person) oder gar dialektal (4 Personen) sei. Lediglich eine Person stufte den Satz als standardsprachlich ein, zwei schätzten ihn als formell ein. Variante 2 (wir sind beim Prüfen) veranlasste lediglich 13 Probandinnen dazu, die Form als umgangssprachlich (11 Personen), nicht hochsprachlich (1 Person) oder auch dialektal (1 Person) zu bezeichnen. Bei der Form wir sind am Prüfen haben sich also fast doppelt so viele Befragte veranlasst gesehen, die Form als nicht standardsprachlich zu markieren, als es bei der Form wir sind beim Prüfen der Fall war (25 : 13 Personen). Wenn eine Probandin die Form wir sind beim Prüfen als nicht standardsprachlich markiert hat, hat sie meist auch die Form wir sind am Prüfen ebenso eingeordnet. Nur vier Personen wichen davon 204 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="205"?> ab, indem sie den Satz mit der am-Form als formell (1 Person) oder standardsprachlich (1 Person) markierten oder diesbezüglich keinen Kommentar abgaben (2 Personen). Im starken Gegensatz dazu haben 16 Personen zwar die am-Form als umgangssprachlich, regional, dialektal oder mündlich bezeichnet, die beim-Form aber diesbeszüglich nicht kommentiert. Die Reaktionen auf beide Variante zeigen deutlich, dass die Befragten eher geneigt waren, die am-Form nicht als Teil der Standardsprache anzusehen als die beim-Form. Tabelle 49 zeigt, dass die Bewertung meist (bei 16 von 30 Personen) asymmetrisch ist, weil nur die am-Form als umgangssprachlich, regional oder mündlich eingestuft wird. Von weiteren 9 Personen werden beide Formen als umgangssprachlich bewertet (symmetrisch). 5 Personen bewerten nur die beim-Form als umgangssprachlich. Anzahl der Befragten Variante 1: wir sind am Prüfen Variante 2: wir sind beim Prüfen Bewertungs‐ symmetrie 12 umgangssprachlich [keine Bewertung] asymmetrisch: nur die am-Form als nicht-standard‐ sprachlich angesehen 4 regional/ dialektal/ münd‐ lich [keine Bewertung] 9 umgangssprachlich/ dia‐ lektal umgangssprachlich/ nicht hochsprachlich/ dialektal symmetrisch: beide Formen werden als nicht-standard‐ sprachlich angesehen 5 formell/ schriftsprach‐ lich/ [keine Bewertung] umgangssprachlich asymmetrisch: nur die beim-Form als nicht-standard‐ sprachlich angesehen Tabelle 49: Varietätenzuordung der Formen wir sind am Prüfen und wir sind beim Prüfen (s. Szczepaniak i.Vorb.) In der Grammatikographie zeigt sich ein deutlicher Wandel in der Bewertung der Va‐ rietätenzugehörigkeit des am-Progressivs sowie auch bezüglich seiner grammatischen Einordnung. Der Blick in den Stilratgeber von Matthias ( 6 1929) lässt vermuten, dass die Stigmatisierung des am-Progressivs und die asymmetrische Bewertung zugunsten der beim-Form und/ oder der im-Form bereits in den Diskursen des 19. Jhs. virulent war. Die Duden-Grammatik macht diesbezüglich einen Wandel durch, der die am-Form von einer landschaftlichen zu einer hebt, die in der gesprochenen Sprache weiter verbreitet ist als in der Standardschriftsprache. Die asymmetrische Bewertung des am-Progres‐ sivs (landschaftlich) und der beim-Form (standardsprachlich) wird aufgegeben. Beide Formen werden als gleichwertige Progressivitätsausdrücke dargestellt. Die 2018 durch‐ geführte Umfrage unter (vorwiegend Germanistik-)Studierenden zeigt jedoch, dass die Bewertung insgesamt deutlich negativer ist. Dabei wird der am-Progressiv häufiger als umgangssprachlich/ regional/ dialektal/ mündlich angesehen als die beim-Form. Viele 9.3 Gehört der am-Progressiv zur Standardsprache? 205 <?page no="206"?> Befragte (fast ein Drittel aller, die die Bewertung vornahmen) tendieren dazu, beide Formen nicht als standardsprachlich anzusehen. Sprachnutzerinnen tendieren zur asymmetrischen Bewertung der am-und beim-Form und zur direkten Stigmatisierung der am-Form als umgangssprach‐ lich. Schröter, Juliane (2021). Linguistische Argumentationsanalyse. Heidelberg: Winter. Spitzmüller, Jürgen/ Warnke, Ingo H. (2011). Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin/ Boston: de Gruyter. Vieregge, Annika (2025): Bewertung, Variation und Wandel der Präpositionalkasus im Deut‐ schen. Der Einfluss metapragmatischer Urteile auf die Rektion von Präpositionen. Berlin: Language Science Press. 206 9 Diskurse über grammatische Zweifelsfälle <?page no="207"?> 10 Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen Im Zentrum dieses Kapitels steht die Verarbeitung von sprachlichen Varianten. Betrachtet werden Elemente, die zum impliziten grammatischen Wissen von Varianten gehören und sich auf ihre Verarbeitung auswirken. Dabei wird auch der Verarbeitungsaufwand von Varianten thematisiert. Leitfragen des Kapitels sind: ● Wirkt sich der Formalitätsgrad des Kontextes auf die Verarbeitung von Rektionsvarianten von Sekundärpräpositionen aus? ● Wird für die schwachen Partizipvarianten starker Verben eine längere Verar‐ beitungszeit in Anspruch genommen? ● Werden starke Flexionsformen von unprototypischen Maskulina schneller verarbeitet als schwache? 10.1 Präpositionalkasus: Genitiv vs. Dativ In der mentalen Grammatik verfügen Deutschsprechende über zwei Rektionsvarian‐ ten. Die Elemente ihres impliziten Wissens über beide Varianten können mit Studien zum Prozessieren, also zum Verarbeiten von sprachlichen Varianten ermittelt werden (Höhle 2010: 11-22). Dabei stellt sich die Frage, ob und wie sich die Unterschiede im Gebrauch und in der diskursiven Bewertung (s. Kap. 7.1.2, 8.1 und 9.1) auf die Stellung der Varianten in der mentalen Grammatik auswirken. In einer Produktionsstudie zeigen Engel und Hanulíková (2020), dass der Formalitätsgrad einer Aussage tatsächlich direkte Auswirkungen auf die wahrgenommene Kasusrektionsvariante (Genitiv oder Dativ) bei zwei Präpositionen wegen und während hat. In der Studie werden Befragten zwei Personen vorgestellt, deren Sprachproduktion sich im Grad der Formalität unterscheidet: Die Person mit dem hochgradig formellen Sprachstil wird als Masterstudentin der Journalistik vorgestellt, die aktuell auf einem Erasmusjahr in Stockholm ist; die Person mit dem informellen Sprachstil als Bachelor‐ student der Betriebswirtschaftslehre. Die Formalitätsgrade werden v. a. phonetisch konstruiert. Die Autorinnen verzichten jedoch darauf, zu überprüfen, ob der von ihnen angenommene Formalitätsgrad tatsächlich mehrheitlich so wahrgenommen wird. In den von diesen zwei Personen geäußerten Sätzen werden Kasusmarker bei Präpositionen wegen und während durch Geräusche ersetzt. Die Befragten sollen die ihnen vorgespielten Sätze nachsprechen, wodurch sie die von ihnen angenommenen Kasusvarianten produzieren können, wie in (55). <?page no="208"?> (55) Mögliche Kasusvarianten in der Produktionsstudie von Engel und Hanulíková (2020) - a. Wir sind wegen des Regens ins Museum gegangen. - b. Wir sind wegen dem Regen ins Museum gegangen. Mit diesem Studiendesign (genannt Elicited Imitation Paradigm) können Engel und Hanulíková (2020) überprüfen, inwiefern ein formeller bzw. informeller Sprachstil bei den Befragten sprachliche Erwartungen weckt, die in den von ihnen nachgesprochenen Sätzen zum Ausdruck gebracht werden. Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass in solchen Wiederholungen das implizite grammatische Wissen der Befragten reflektiert wird. Die Studie zeigt, dass zu dem impliziten Wissen über grammatische Formen auch sozial-indexikalisches Wissen gehört (s. Kap. 4.1), d. h. in unserer mentalen Grammatik werden grammatische Formen mit (graduellem) Wissen über soziale Kontexte abge‐ speichert. So enthalten die von den Befragten nachgesprochenen Sätze zwar generell mehr Genitivvarianten wie in (55a), jedoch werden signifikant mehr Dativvarianten bei dem eher informellen Sprachstil des Betriebswirtschaftsstudenten angenommen. Dabei hören und wiederholen jüngere Befragte (zwischen 18 und 27 Jahre alt) den Dativ häufiger als ältere (zwischen 49 und 84 Jahre alt). Dativ Kasusvarianten: Genitiv Sprachstil formell formell informell informell jüngere Befragte ältere Befragte prozentueller Anteil Abb. 33: Auswirkung des Formalitätsgrades auf die Wahrnehmung der Kasusvariante (bei jüngeren und älteren Befragten; Engel und Hanulíková 2020: 9) Wird den Befragten zuerst die formeller sprechende Person präsentiert, tendierten sie dazu, auch beim informellen Sprecher mehr Genitiv zu hören. Bei der umgekehrten 208 10 Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen <?page no="209"?> Reihenfolge hingegen, d. h. wenn der informelle Sprecher zuerst präsentiert wird, hören die Befragten bei ihm deutlich mehr Dativ. Dies könnte dahingehend interpre‐ tiert werden, dass durch die sprachlichen Handlungen der formelleren Sprecherin bei Befragten normatives Wissen aktiviert wird, das sich auch auf die Wahrnehmung der Sprachhandlung des informellen Sprechers auswirkt. Weiterhin tendieren die Befragten dazu, der formelleren Sprecherin eine privile‐ gierte gesellschaftliche Stellung zu bescheinigen. Die jüngeren Befragten bescheiden der formelleren Sprecherin dabei auch ein höheres Maß an Höflichkeit, Seriosität und eine priviligierte gesellschaftliche Stellung (s. dazu Bewertungskategorien in Kap.-9). Schmitt (2019) widmet sich der Präposition wegen, um das Verhältnis zwischen der Akzeptabilität und dem Prozessieren der Kasusrektionsvarianten von wegen zu betrachten. Die Befragten werden zunächst gebeten, Stimulisätze wie in (56) bezüglich der Formalität zu bewerten. Dabei sollen sie bejahen oder verneinen, dass sie den Stimulussatz in einer E-Mail an einen Vorgesetzten oder eine Person, die sie siezen, schreiben (hoher Formalitätsgrad) oder in einem Gespräch mit Freunden oder der Fa‐ milie sagen würden (hoher Informalitätsgrad). Generell drücken die Befragten deutlich ihre Präferenz für Sätze mit hohem Formalitätsgrad als Bestandteil einer E-Mail an einen Vorgesetzten aus. Sätze mit geringem Formalitätsgrad wie in (56) schneiden hingegen in der Bewertung als mündliche Äußerung im Gespräch mit Freunden oder Familie besser ab. Hier werden aber auch Sätze mit hohem Formalitätsgrad breit akzeptiert. (56) Wie doof, ich hab gestern den Tatort wegen dem Stromausfall verpasst! In dem anschließenden Akzeptanztest wurden die Befragten aufgefordert, Stimulisätze mit der Dativ- und Genitivrektion und mit der ungrammatischen Form wegen + Nominativ wie in wegen der Stromausfall auf einer dreistufigen Skala zu bewerten (1 = der Satz klingt am besten, 2 = der Satz klingt schlechter als der erstplatzierte, aber besser als der drittplatzierte, 3 = der Satz klingt am schlechtesten). Ähnlich wie bei Engel und Hanulíková (2020) erreicht wegen mit Genitiv (wegen des Stromausfalls) höhere Akzeptanzwerte. Wegen mit Dativ (wegen dem Stromausfall) wird signifikant häufiger in Sätzen mit geringem Formalitätsgrad akzeptiert. Wegen + Nominativ wird fast komplett abgelehnt. In Tabelle 50 werden neben den prozentualen Werten in Klammern die Angaben zur Anzahl von Befragten angegeben. Die Abkürzung „form.“ steht für den Satz mit einem hohen Formalitätsgrad, „inf.“ für den mit einem geringen Formalitätsgrad. 10.1 Präpositionalkasus: Genitiv vs. Dativ 209 <?page no="210"?> Genitiv Dativ Nominativ Platzierung form. inf. form. inf. form. inf. 1 (=-Satz klingt am besten) 89% (98) 73% (73) 18% (20) 27% (27) 1% (1) 0% (0) 2 (-Satz klingt schlechter als der erst‐ platzierte) 11% (12) 26% (26) 78% (86) 68% (68) 2% (2) 0% (0) 3 (=-Satz klingt am schlechtesten) 0-% (0) 1% (1) 4% (4) 5% (5) 96% (106) 99% (99) Anzahl der Befragten 110 100 110 100 110 100 Tabelle 50: Akzeptanz der Stimulisätze mit wegen + Genitiv, Dativ und Nominativ (Schmitt 2019) Beide hier zitierten Studien, Schmitt (2019) und Engel und Hanulíková (2020), zeigen, dass das indexikalische Wissen Teil der mentalen Grammatik ist. Texte mit unter‐ schiedlichen Formalitätsgraden lösen unterschiedliche grammatische Formen aus. Sie aktivieren sowohl das implizite grammatische Wissen als auch das explizite Wissen über Kontextabhängigkeit von Kasusvarianten, wenn Befragte Statusbewertungen abgeben (s. Kap. 9.1). Allerdings sind beide Formen diesbezüglich nicht gleichwertig, da sowohl in der Produktion als auch in der Akzeptanz die Genitivvariante nicht nur bei hohem Formalitätsgrad, sondern auch im informelleren Kontext bevorzugt wird. Mentale Grammatik enthält Informationen zu sozialen Kontexten, mit denen die sprachlichen Varianten assoziiert sind. Umso erstaunlicher wirkt vor diesem Hintergrund die Tatsache, dass trotz der hier sichtbaren Unterschiede die Prozessierung beider Rektionsvarianten (Genitiv und Dativ) ähnlich ist. Schmitt (2019) misst die Verarbeitung mit Hilfe von Lesezeiten. Dafür wird Befragten in einem self-pace reading test ein Text präsentiert, den sie sich Schritt für Schritt durch Einblenden der Satzsequenzen erschließen können, indem sie durch einen Tastaturschlag die Reihe von Rauten entfernen. Sie sehen also zunächst nur Rauten wie in (57a), können dann den ersten Teil durch den Tastaturschlag aufdecken (57b), mit dem nächsten Tastaturschlag gelangen sie zum nächsten Teil (z. B. einer Präpositionalphrase) (57c). Gleichzeitig wird der Text davor wieder durch Rauten zugedeckt. (57) Vorgehen beim self-pace reading test (kurz: spr-Test) in Schmitt (2019) - a. ######################### - b. Es war ################### 210 10 Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen <?page no="211"?> c. ###### wegen dem Dachboden. Die Dauer der Lesezeit (vom Tastaturschlag bis zum nächsten Tastaturschlag) kann als die Zeit interpretiert werden, die nötig ist, um die Phrase zu prozessieren. Je schwieriger die Verarbeitung, umso länger die Lesezeit. Tatsächlich verweilen Befragte häufig sehr lange bei der ungrammatischen Form wegen + Nominativ (wegen der Dachboden), im Gegensatz dazu sind die Lesezeiten für wegen + Genitiv und wegen + Dativ (wegen des Dachbodens, wegen dem Dachboden) signifikant kürzer. Auch hier werden die Rektionsvarianten in einem formellen (Anwalt diskutiert mit dem Klienten einen Diebstahlsfall) und informellen Setting (Kinder planen, zum Strand zu gehen) präsentiert. Es zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Lesezeiten von Genitiv- und Dativphrasen. In Abbildung 34 wird mit grauen Punkten die jeweilige Lesezeit einer Person markiert. Die schwarzen Punkte markieren jeweils den Mittel‐ wert (Durchschnittswert). So kann man hier schon sehen, dass der Mittelwert der Lesezeiten für Genitiv und Dativ sehr ähnlich ist, wohingegen der Mittelwert für Nominativ stark und signifikant davon abweicht (Schmitt 2019: 116). Schließlich zeigt der Fehlerbalken an, wie weit durchschnittlich die Lesezeitwerte vom Mittelwert abweichen (sog. Standardabweichung): Während also die Standardabweichung bei Genitiv und Dativ ähnlich klein ist, d. h. die Lesezeiten der Einzelpersonen nicht stark voneinander abweichen, ist sie beim Nominativ sehr groß: Viele der Lesenden verweilen bei dieser Form sehr lange, viele aber auch sehr kurz. Kasus Reaktionszeiten in Millisekunden Abb. 34: Lesezeiten in Millisekunden von Phrasen mit wegen des Dachbodens (Genitiv), wegen dem Dachboden (Dativ) und wegen der Dachboden (Nominativ) aus Schmitt (2019: 116) Sowohl schnellere als auch langsamere Lesende benötigen für die Verarbeitung von wegen + Nominativ mehr Zeit (Schmitt 2019: 16-18). Der Formalitätsgrad beeinflusst 10.1 Präpositionalkasus: Genitiv vs. Dativ 211 <?page no="212"?> diesen generellen Befund nicht, d. h. die Verarbeitung von Genitiv und Dativ im formellen und informellen Setting vollzieht sich in etwa gleich schnell. Die Prozessierung der Rektionsvarianten mit Dativ und Genitiv gemessen an der Lesezeit vollzieht sich in etwa gleich schnell. Zwar umfasst implizites und explizites Wissen Informationen über die Kontextab‐ hängigkeit von Genitiv und Dativ als Rektionskasus, so dass der Formalitätsgrad Erwartungen weckt, welcher Kasus benutzt werden sollte. Diesen Erwartungen folgen Befragte bei sprachlichen Prozeduren (Sprachgebrauch) als auch bei sprachlicher Reflexion (s. Kap. 7.1.2, 8.1 und 9.1). Die Kontextabhängigkeit hat jedoch keinen Einfluss auf die Geschwindigkeit der Verarbeitung. Beide Rektionsvarianten werden als grammatisch wahrgenommen und schneller verarbeitet als die ungrammatische Nomi‐ nativvariante. Schmitt (2019: 120-122) geht davon aus, dass die Differenz zwischen den polarisierenden metapragmatischen Diskursen und der indifferenten Prozessierung einen definitorischen Kern der grammatischen Zweifelsfälle ausmacht. Sie werden als gleichermaßen grammatisch prozessiert, aber als kontextabhängig registriert. Für sprachliche Zweifelsfälle ist es typisch, dass die Varianten kontextabhän‐ gig registriert sind, obwohl sie sich in ihrer Grammatikalität nicht unterscheiden, d.-h. eine ähnliche Verarbeitungszeit benötigen. 10.2 Starke und schwache Verben Es ist bereits gezeigt worden, dass die Verbalflexion von der Gebrauchshäufigkeit der Verben abhängig ist. Bei starken Verben findet die Variation zwischen ihren ursprünglichen, starken und den neuen, schwachen Flexionsformen dann statt, wenn die Gebrauchshäufigkeit dieser Verben im Laufe der Sprachgeschichte abgenommen hat und heute gering ist oder weiter abnimmt (s. Kap. 7.2). Bei den wenig frequenten starken Verben sind die starken Flexionsformen zum Teil nicht mehr genug mental gefestigt, mit ihnen konkurrieren zum Teil recht stark mental gefestigte schwache Formen (s. Kap. 8.2). In diesem Kapitel geht es um die Frage, ob und wie die Gebrauchs‐ häufigkeit die Entscheidungen erleichtert bzw. erschwert, die Sprecherinnen bezüglich einer Flexionsform treffen. Schmitt (2023) bemisst die Reaktionszeiten, die Befragte benötigen, um eine starke oder schwache Flexionsform von ursprünglich starken Verben als bekannt oder unbekannt zu bewerten (zur Studie s. auch Kap. 8.2). In dem Experiment wird gemessen, wie viel Zeit eine Person braucht, um auf die Taste für die affirmative bzw. 212 10 Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen <?page no="213"?> verneinende Antwort zu drücken, nachdem die starke oder schwache Partizip-II-Form (z.-B. gesprochen oder gesprecht) präsentiert wurde. Durchschnittlich benötigen die Befragten für eine Antwort 1,40 Sekunden. Die schnellste Antwort liegt bei 0,52 Sekunden, die langsamste bei 7,52 Sekunden. Zur Illustration: Die drei schnellsten Antworten betreffen die starken Formen gefahren (0,52 und 0,56) und gehalten (0,56), die drei langsamsten die schwachen Formen geglimmt (7,53), gekneift (6,90) und gehaut (6,23). Tatsächlich werden Entscheidungen für starke Flexionsformen schneller gefällt (durchschnittlich in 1,22 Sekunden) als für schwache (durchschnittlich 1.58 Sekunden). Die Differenz zwischen der durchschnittlich benö‐ tigten Zeit für starke und für schwache Flexionsformen ist dabei tendenziell umso größer, je höher die Gebrauchsfrequenz eines Verbs ist. Die Differenz wird errechnet durch den Abzug der durchschnittlich benötigten Zeit für eine schwache Form, also geflechtet beim Verb flechten, die bei 2,00 Sekunden liegt, von der durchschnittlich benötigten Zeit von 1,14 Sekunden für eine starke Form (geflochten). Beim Verb flechten beträgt die Differenz -0,86 (1,14-2,00). In Tabelle 51 werden die Verben nach dieser Differenz geordnet. Das Verb flechten zeigt tatsächlich die höchste Differenz, d. h. die Befragten geben viel schneller die Antwort für eine starke Flexionsform (geflochten) ab als für die schwache (geflechtet). Generell ist die Differenz bei infrequenten Verben ohne Schwankung (Gruppe 2) und bei frequenten Verben (Gruppe 1) tendenziell höher als bei der Gruppe 3 der infrequenten Verben mit Schwankungen. Lediglich salzen und hauen aus Gruppe 3 weisen eine ähnlich hohe Differenz wie Verben der anderen Gruppen auf. Ein kurzer Blick auf Tabelle 45 (auf S. 178) verrät, dass beide Verben zwar von Schmitt (2023) der Gruppe 3 zugeordnet wurden, jedoch in dieser Gruppe die frequentesten sind und eine Ratio von weit über 10 starken auf eine schwache Flexionsform im DeReKo haben. Genau diese an der Grenze zwischen Gruppe 3 und Gruppe 2 stehenden Verben lösen in der Studie von Schmitt (2023) ein ähnliches Antwortverhalten aus wie Verben, die einer höheren Frequenzgruppe zugeordnet wurden. In Tabelle 51 werden sie mit „infrequent mit/ ohne Schwankung“ markiert, um ihren Grenzgängercharakter zu verdeutlichen. Dadurch wird noch deutlicher sichtbar, dass die Gebrauchshäufigkeit der Verben mit dem Antwortverhalten korreliert. Verb Frequenzgruppe Differenz in Sek. flechten infrequent ohne Schwankung -0,86 salzen infrequent mit/ ohne Schwankung -0,84 kneifen infrequent ohne Schwankung -0,64 melken infrequent ohne Schwankung -0,61 fahren frequent -0,54 spinnen infrequent ohne Schwankung -0,47 10.2 Starke und schwache Verben 213 <?page no="214"?> halten frequent -0,47 anschwellen infrequent ohne Schwankung -0,46 fechten infrequent ohne Schwankung -0,45 dreschen infrequent ohne Schwankung -0,39 sinken frequent -0,38 ziehen frequent -0,38 schmelzen infrequent ohne Schwankung -0,33 hauen infrequent mit/ ohne Schwankung -0,28 schreiben frequent -0,23 fliegen frequent -0,23 sprechen frequent -0,21 tragen frequent -0,20 sinnen infrequent mit Schwankung -0,19 gären infrequent mit Schwankung -0,19 quellen infrequent mit Schwankung -0,17 weben infrequent mit Schwankung -0,14 glimmen infrequent mit Schwankung -0,13 einsaugen infrequent mit Schwankung 0,06 Tabelle 51: Differenz zwischen der durchschnittlich benötigten Zeit für die Antwort auf eine starke und auf eine schwache Flexionsform Die Differenz in der Verarbeitungszeit von starken und schwachen Flexionsfor‐ men wird tendenziell größer, je höher die Gebrauchsfrequenz des Verbs ist. Dabei schwankt die individuell benötigte Zeit für die Antwort. Vergleicht man jedoch die individuell benötigte Zeit mit dem Durchschnitt, ergeben sich weitere wichtige Unterschiede. Abbildung 35 enthält die Informationen zu der durchschnittlich benö‐ tigten Zeit für die Antwort je nach Frequenzgruppe und je nach der präsentierten Form. Die Mittelwerte werden durch den Punkt markiert, vor dem Punkt steht der genaue Wert. Für die Gruppe 1 (frequente Verben) liegt die durchschnittliche Zeit für die Antwort, wenn eine starke Flexionsform präsentiert wird, bei 1,03 Sekunden, für die schwache Flexionsform bei 1,36. Die Länge der Fehlerbalken gibt die Stan‐ dardabweichung von dem Mittelwert ab. Bei den frequenten Verben der Gruppe 1 214 10 Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen <?page no="215"?> liegt die Standardabweichung bei 0,45 Sekunden bei starken Flexionsformen und bei 0,58 Sekunden bei schwachen Flexionsformen. Dadurch wird deutlich, dass die individuellen Unterschiede in der benötigten Zeit nicht stark voneinander abweichen. Bei den Verben der Gruppe 2 (infrequent ohne Schwankungen), hier v. a. für die schwache Flexionsform, und für die Verben der Gruppe 3 sind die Fehlerbalken deutlich länger und repräsentieren eine viel höhere Standardabweichung vom Mittelwert, die bei fast einer Sekunde (0,88 und mehr) liegt. Die Befragten benötigen für die Antwort in diesem Fall nicht nur im Durchschnitt länger, sondern verhalten sich sehr unterschiedlich. Abb. 35: Durchschnittliche Geschwindigkeit beim Antworten geordnet nach Frequenzgruppe der Verben und getrennt nach starken und schwachen Flexionsformen (nach Schmitt 2023) Bei frequenten Verben, die gut mental gefestigt sind, fällt den Befragten die Entschei‐ dung leicht, eine Flexionsform zu beurteilen. Entsprechend benötigen sie dafür nicht viel Zeit. Bei infrequenten Verben, die weniger mental gefestigt sind, weil man sie selbst selten gebraucht oder von anderen hört oder liest, sind Entscheidungen schwieriger. Es wird mehr Zeit benötigt. Am auffälligsten ist hierbei das Antwortverhalten bei den infrequenten Verben der Gruppe 3. Für die Bewertung einer starken Flexionsform benötigen die Befragten mehr Zeit als für die Bewertung einer schwachen Flexionsform der frequenten Verben der Gruppe 1. Bei den Verben der Gruppe 3 sind die Entschei‐ dungen am schwierigsten, es wird die meiste Zeit benötigt und die individuellen Unterschiede sind am stärksten ausgeprägt (langer Fehlerbalken). 10.2 Starke und schwache Verben 215 <?page no="216"?> Die Dauer der Verarbeitungszeit schwankt bei frequenten Verben überindivi‐ duell weniger als bei infrequenten Verben. Diese Studie macht deutlich, dass die Verarbeitung der frequenten Verben schneller verläuft, wohingegen bei infrequenten Verben die meiste Zeit benötigt und die Verar‐ beitung individuell sehr unterschiedlich ist. Die sprachlichen Zweifelsfälle finden sich also bei Varianten, die von vielen Nutzerinnen unter größerem Aufwand verarbeitet werden. Für sprachliche Zweifelsfälle ist es typisch, dass sprachliche Varianten von vielen Nutzerinnen größeren Verarbeitungsaufwand erfordern. 10.3 Schwache Maskulina Bei den schwachen Maskulina zeigt sich in den Gebrauchsdaten ein deutlicher Effekt der Prototypizität: Einsilbige schwache Maskulina wie Held oder Zar stehen in der Peripherie dieser Flexionsklasse und werden viel häufiger als prototypischere schwa‐ che Maskulina wie Kurde oder Matrose stark flektiert verwendet (s. Kap. 7.3.2). Bei der Beurteilung von Bekanntheit werden starke Genitivformen solcher unprototypischer schwacher Maskulina wie des Zars von 27 % bis zu 73 % als bekannt bejaht (s. Kap. 8.3). Schmitt (2023) untersucht, ob sich die Entscheidungen bei prototypisch schwachen (Kollege, Neffe, Schütze, Franzose, Geselle), unprototypisch schwachen (Graf, Held, Zar, Fürst, Nachbar) und starken Maskulina (Dieb, Freund, Vogt, Kerl, Feind) in der Verarbei‐ tungsdauer unterscheiden, indem sie die Reaktionszeiten in der bereits beschriebenen lexical-decision-Studie bemisst (s. Kap.-8.3). In der Studie liegen auf die Reaktionszeit bemessene Antworten von 56 Befragten pro Flexionsform jedes Substantivs vor (s. Tab. 52). Die durchschnittlichen Reaktionszeiten sind logarithmiert, d. h. die Zahlen in der 3. und 4. Spalte in Tabelle 52 geben den Logarithmuswert von der Reaktionszeit in Sekunden zur Basis e wider (natürlicher Logarithmus). Wenn die (durchschnittliche) Reaktionszeit 1,6989 Sekunden beträgt, ist der natürliche Logarithmus dieser (durchschnittlichen) Reaktionszeit der Exponent (0.53), mit dem die Basis e (die sog. Eulersche Zahl e ≈ 2,71828) potenziert werden muss, um die Zahl der Reaktionszeit (1,6989 Sek.) zu ergeben. Es gibt insgesamt 280 Antworten für starke und 280 für schwache Flexionsformen. Bei starken Substantiven (Dieb, Freund, Vogt, Kerl, Feind), deren schwache Formen in nur 19 (von 280) Fällen als bekannt bewertet wurden und deren starke Formen in nur 26 (von 280) Fällen als unbekannt bewertet wurden, reagieren Befragte insgesamt bei der Entscheidung zu starken Formen schneller, während sie bei schwachen Formen im Durchschnitt eine längere Verarbeitungszeiten benötigen. Bei den prototypisch schwachen Masku‐ 216 10 Verarbeitung von sprachlichen Zweifelsfällen <?page no="217"?> lina (Kollege, Neffe, Schütze, Franzose, Geselle) bejahen Befragte ebenso selten die Bekanntheit von starken (nur 28 von 280 Fällen) wie die Unbekanntheit von schwachen Formen (nur 14 von 280 Fällen). Die Daten von Schmitt (2023) zeigen auch, dass die Probanden mehr Zeit benötigen, um schwache Formen als unbekannt abzulehnen als ihre Bekanntheit zu bejahen. Am längsten dauert jedoch die Bejahung einer starken Form. Bei den unprototypisch schwachen Maskulina (Graf, Held, Zar, Fürst, Nachbar) hingegen werden starke Formen zu 54 % als bekannt bejaht. Durchschnittlich dauert die Reaktion auf starke Formen deutlich länger, aber ihre Bejahung findet schneller statt als die Ablehung. Bei starken Maskulina werden schwache Formen hingegen schneller abgelehnt als bejaht. -------Maskulina: schwache Form bekannt: unbe‐ kannt (Be‐ kanntheit in %) - starke Form be‐ kannt: unbe‐ kannt (Be‐ kanntheit in %) durchschnittli‐ che Reaktions‐ zeit bei schwa‐ cher Form (Standardab‐ weichung) durchschnittli‐ che Reaktions‐ zeit bei starker Form (Stan‐ dardabwei‐ chung) stark 19-: -261 (7-%) 254-: -26 (91-%) 0,53 (+/ -0,48) 0,27 (+/ -0,42) prototypisch schwach 266-: -14 (95-%) 28-: -252 (10-%) 0,28 (+/ -0,42) 0,48 (+/ -0,5) unprototypisch (peripher) schwach 270-: -10 (96-%) 151-: -129 (54-%) 0,21 (+/ -0,4) 0,5 (+/ -0,46) Tabelle 52: Verarbeitungszeit (logarithmiert) bei der Bekanntheitsbewertung von starken und schwa‐ chen Formen prototypisch schwacher, peripher schwacher und starker Maskulina (Schmitt 2023: 286, 306-307) Die Dauer der Verarbeitung von starken Flexionsformen, die als bekannt be‐ wertet werden, ist bei unprototypischen Maskulina kürzer als bei prototypischen. Starke Flexionsformen von unprototypischen Maskulina, z. B. des Heldes, werden anders verarbeitet als die der prototypischen Maskulina. Die Bejahung der Form des Heldes findet schneller statt als ihre Ablehnung. Dies spricht dafür, dass diese Form bereits im mentalen Lexikon vieler Sprecherinnen gefestigt ist. Dies ist bei der Fehlerbewertung zu berücksichtigen. Bei prototypischen Maskulina werden starke Formen schneller abgelehnt als bejaht. 10.3 Schwache Maskulina 217 <?page no="218"?> Bei der Fehlerbewertung ist zu berücksichtigen, dass neue sprachliche Varian‐ ten bereits Teil des mentalen Lexikons bei vielen Sprecherinnen sind. Engel, Alexandra/ Hanulíková, Adriana (2020). Speaking Style Modulates Morphosyntactic Expectations in Young and Older Adults: Evidence from a Sentence Repetition Task. Discourse Processes 57 (9), 749-769. Höhle, Barbara (Hrsg.) (2010). Psycholinguistik. Berlin: Akademie. Schmitt, Eleonore (2019): How do cases of doubt cause doubts? 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Introspektion-20, 99 Kernkodex-72 Kernpräposition-121 Kodexorientierung-83 kommunikative Absicht-66 Kompetenz- pragmatische-22 sprachspezifische-22 sprachsystemische-22 Konjugation-128 Kontext-51 Konvention-32 Korrektheit-191 Kotext-51 Leitvarietät-74, 95 linguistische Variable-43 Linguizismus-95 <?page no="239"?> Mehrsprachigkeit- äußere-93 innere-93 mentale Grammatik-32, 207 Mentalität-90 Message-26 Nation-68 onomasiologisch-27 Parakodex-72 plurinational-68 Polaritätsprofil-→ Differential Präposition- Primärpräposition-117 Sekundärpräposition-117 Tertiärpräposition-117 Präpositionalobjekt-116, 120 präskriptiv-92 Prestige-93 Protopizität-121 prototypisch-121 Prototypisierung-124 Prozessieren-207 Realisierungsform-47 Reanalyse-159 Regelkonflikt-34 Register-64 Registrierung-124 Regularisierung-139 Rektion-117 rekursiv-20 Restriktion- grammatische-160 Rückumlautverb-131 semasiologisch-27 sozial- bedeutsam-59 gedeutet-62 soziale Bedeutung-59 Spannungsfeld-130 Sprachbewertungssystem-95 Sprachbiographie-22, 24 Spracheinstellung-90 Sprachfertigkeit-19 Sprachgebrauch-38 Sprachideologie-91 Sprachkodex-72 Sprachkompetenz- prozedurale-19 reflexive, auch- deklarative-19 Sprachkorpus-33 Sprachliche Regel-32 Sprachliche Variante-43 sprachliche Zweifelsfälle-17f. Sprachrepertoire-24 Sprachsystem-38 Stammalternation-129 Standardabweichung-211 standardisiert-67 Standardsprachenideologie-91 Standardsprachenkultur-91 Standardvarietät-67 Superposition-26 Systemfehler-100 telisch-→ Verb Token-53 Tokenfrequenz-53, 118 Topos-92 Type-57 Typenfrequenz-57, 117 Unsicherheit- sprachliche-88 Ususorientierung-83 Variation- sprachliche-71 Variationskompetenz-22 Register 239 <?page no="240"?> Varietät-47 Varietätenarchitektur-24 Varietätenraum-48 Verb-34 atelisch-34 telisch-34 Vertikalisierung-95 Vollzentrum-73 Vorurteil-95 Wechselpräposition-120 Wissen- deklaratives-19 explizites-19, 100 implizites-19, 100 240 Register <?page no="241"?> ISBN 978-3-8233-8372-7 Das Buch widmet sich den sprachlichen Zweifelsfällen. Darunter fallen bspw. die schwankende Kasusrektion bei Präpositionen wie wegen oder dank oder auch Flexionsformen von Substantiven wie bei dem Helden und dem Held. Im Buch werden korpus-, sozio- und psycholinguistische Betrachtungsdimensionen diskutiert, mit denen sich Zweifelsfälle bezüglich ihrer Grammatikalität und Angemessenheit, ihres Gebrauchs, ihrer sozialen Bedeutsamkeit und ihrer Verarbeitung adäquat beschreiben und vom sprachlichen Fehler abgrenzen lassen. Das Buch wendet sich mit der Analyse konkreter Zweifelsfälle, in der die vielfältigen Forschungszugänge fruchtbar gemacht werden, auch an Lehramtsstudierende und schulische Lehrkräfte. Szczepaniak Sprachliche Zweifelsfälle Sprachliche Zweifelsfälle Definition, Betrachtungsdimensionen und Erforschung Renata Szczepaniak 18372_Umschlag Alle Seiten 18372_Umschlag Alle Seiten 05.06.2025 10: 10: 08 05.06.2025 10: 10: 08
