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Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

0321
2022
978-3-8233-9425-9
978-3-8233-8425-0
Gunter Narr Verlag 
Johanna Vocht
10.24053/9783823394259

Juan Carlos Onetti, eine der prägendsten Autorenfiguren der lateinamerikanischen Moderne, schuf ein selbstbezügliches literarisches Gesamtwerk, das fast gänzlich in der erfundenen Stadt Santa María verortet ist. Im Prozess der Stadtgründung, deren Verfall und Neugründung, entsteht ein machträumliches Spannungsfeld zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion.

<?page no="0"?> Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion Johanna Vocht <?page no="1"?> Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion <?page no="2"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 15 · 2022 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="3"?> Johanna Vocht Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion <?page no="4"?> DOI: 10.24053/ 9783823394259 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN: 2365-3094 ISBN: 978-3-8233-8425-0 (Print) ISBN: 978-3-8233-9425-9 (ePDF) ISBN: 978-3-8233-0251-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: Juan Carlos Onetti, © Suhrkamp Verlag Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2020 vom Fachbereich 05 - Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen und erfolgreich verteidigt. <?page no="5"?> 1 7 1.1 17 1.2 20 2 41 2.1 44 2.2 45 2.3 62 2.4 65 2.5 72 3 89 3.1 95 3.2 101 3.3 111 3.4 113 3.5 119 3.6 130 4 133 4.1 135 4.2 147 Inhalt Einleitung: Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Forschungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung . . . . . Grundlegende theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht der öffentlichen Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gendertheoretische Anschlüsse an Foucaults Gouvernementalitätsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hegemoniale Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt: Die diskursive Ausgestaltung Santa Marías innerhalb des Analysekorpus . . . . . . . . La vida breve (1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juntacadáveres (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „La novia robada“ (1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La muerte y la niña (1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dejemos hablar al viento (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenresümee: Santa María - zwischen Imaginationsraum und christlich-männlich hegemonialem Diskursraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . This is a man’s world: patriarchale Ordnung und spezifische Männlichkeiten bei Onetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht Die (All-)macht männlicher Erzählstimmen . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4.3 149 4.3.1 153 4.3.2 170 4.4 195 5 201 5.1 207 5.2 214 5.3 232 5.4 256 6 261 269 271 Männlichkeiten bei Onetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präsanmarianische Männlichkeiten: Macleod, Ernesto, Julio Stein, Juan María Brausen / Arce . . . . . . . . . . . . . . Sanmarianische Männlichkeiten: Díaz Grey, Antón Bergner, Marcos Bergner, Augusto Goerdel, die Malabias, Medina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenresümee: Männlichkeit / en zwischen Reproduktions- und Imaginationspotenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien weiblicher Selbstermächtigung innerhalb des männlich dominierten Diskursraums Santa María . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Frauenkörper als Kapital weiblicher Machttechnologien innerhalb einer männlich dominierten Ökonomie des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Las locas de Onetti oder Lüge und Fiktion als weibliche Adaption männlich konnotierter Machttechnologien . . . . . . „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt: Artikulationen weiblicher Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenresümee: Weibliche Widerständigkeiten und die Restitution der patriarchalen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee: It’s the patriarchy, stupid! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 https: / / genius.com/ Queen-39-lyrics, 22. 07. 2019. 2 Onettis Entschluss ins spanische Exil zu gehen, wurde durch eine dreimonatige Haft‐ strafe in Montevideo ausgelöst. Grund für seine Festnahme war die Verleihung eines Literaturpreises der Wochenzeitung Marcha, die Onetti als Jurymitglied mitverantwor‐ tete. Prämiert wurde die Erzählung „El guardaespaldas“ von Nelson Marra, die unter der Diktatur Juan María Bordaberrys als „escandalosamente pornográfico y grosero, una apología del crimen, calumnioso hacia las fuerzas de seguridad“ bezeichnet wurde, wie Fernando Curiel dokumentiert. Sowohl der Autor Marra als auch die Jury wurden daraufhin festgenommen. (Cf. Fernando Curiel: Onetti - obra y calculado infortunio (1980)) Für detaillierte Auskünfte zu Onettis Biographie cf. auch Carlos María Domín‐ guez: Construcción de la noche (2009), María Angélica Petit / Omar Prego: Juan Carlos Onetti o la salvación por la escritura (1981). Bezüglich der Einordnung seines Gesamt‐ werks orientiert sich diese Arbeit am Vorschlag der Herausgeber der deutschen Aus‐ gabe, Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg et. al. Demnach setzt Onettis Spät‐ werk mit dem Roman La muerte y la niña (1973) ein. (Cf. Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. IV“ (2015), pp. 603 sq.) 1 Einleitung: Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María In the year of '39 came a ship in from the blue the volunteers came home that day and they bring good news of a world so newly born though their hearts so heavily weigh for the earth is old and grey, little darlin' we'll away but my love this cannot be for so many years have gone though I'm older but a year your mother's eyes from your eyes cry to me 1 Brian May (1975) 1909 in Montevideo geboren, lebte, arbeitete und publizierte Juan Carlos Onetti bis zu seiner Exilierung 1975 wechselweise in Montevideo und Buenos Aires. Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in Madrid. Dort ver‐ fasste er den Großteil seines Spätwerks, erhielt 1980 den Premio Cervantes und starb 1994. 2 Lange Zeit war Onetti kaum über Uruguay und den La-Plata-Raum hinaus bekannt. Allein ein eingeschworener Kreis junger Schriftsteller*innen und Intellektueller aus dem Umfeld der linksliberalen Wochenzeitschrift Marcha (deren Redaktion Onetti von 1939 bis 1941 angehörte), die auch als „generación crítica“ oder „generación del 45“ in die Literaturgeschichtsschreibung eingingen, <?page no="8"?> 3 In seinem Vorwort zur ersten Onetti-Werkausgabe (1970) schreibt der Herausgeber Emir Rodríguez Monegal: „[…] ya circulaban por Montevideo algunos muchachos que habían descubierto por sí solos a Onetti. […] ya andaban por la principal avenida de Monte‐ video, entraban en los cafés de estudiantes e intelectuales, se paseaban por los claustros de la sección Preparatorios o por la Facultad de Derecho, con un ejemplar de El pozo bajo el brazo. Llegarían con el tiempo a ser diputados y ministros, abogados o histori‐ adores, narradores y dramaturgos, hasta críticos. Pero entonces solo eran adolescentes y hablaban sin cesar de Onetti, o imitaban sus escritos, sus desplantes personales, su aura.” (Emir Rodríguez Monegal: „Prólogo“ (1979 [1970]), p. 13) Bezüglich der sog. ge‐ neración crítica oder generación del 45 cf. Rocío Antúnez Olivera: Caprichos con ciudades (2014), p. 13 sowie María Angélica Petit / Omar Prego: Juan Carlos Onetti o la salvación por la escritura, pp. 31-35. Dieser Generation von Schriftsteller*innen gehörten u. a. Carlos Martínez Moreno, Emir Rodríguez Monegal, Ángel Rama, Carlos Maggi, Arturo Ardao, Armonía Somers, Idea Vilariño, Carlos Real de Azúa und Mario Benedetti an. Omar Prego und María Angélica Petit schreiben El pozo (1939) den Charakter eines Manifestes für diese Generation zu: „[…] el manifiesto de una generación que, en opo‐ sición a sus mayores, reasumirá la subjetividad, la soledad, la atención casi excluyente por el arte.“ (Ibid., p. 32, cf. außerdem pp. 31-35) Cf. außerdem Rocío Antúnez Olivera: Caprichos con ciudades, p. 13; den Manifestcharakter betonen auch Edmundo Gómez Mango: „Esta es la noche. Juan Carlos Onetti y el dolor de existir“ (2003), p. 101 oder Josefina Ludmer: Onetti. Los procesos de construcción del relato (2009 [1977]), p. 10. 4 Die ausführlichste Untersuchung zur poetologischen Bedeutung Santa Marías inner‐ halb des Gesamtwerks stammt von Roberto Ferro. In großer Detailgenauigkeit legt er in seiner Monographie Onetti / La fundación imaginada (2011) dar, wie Onetti vermittels Überschreibungen, intertextueller Referenzen, Verschiebungen, Zitate oder Wiederho‐ lungen ein offenes, im Sinne von endloses, Textgebilde erschafft: „[…] la textualidad onettiana se me aparece como una extensión de desajustes y contradicciones, cribada de agujeros que, sin embargo, se abren a una legibilidad no unívoca, que enfrenta la pluralidad, la heterogeneidad, respetando la fuga del sentido como una especificidad no sujeta a leyes.” (Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), pp. 17 sq.) 5 Den Ausdruck „Saga de Santa María“ begründete Rodríguez Monegal in seinem Vorwort zur ersten Gesamtausgabe der bis 1970 erschienenen Werke Onettis. Er subsummiert darunter die Romane La vida breve (1950), Para una tumba sin nombre (1959), El astillero pflegte bereits zu Beginn der 1940er Jahre einen regelrechten Kult um den spä‐ teren Cervantes-Preisträger. 3 Onetti verfasste und veröffentlichte zwischen 1933 und 1993 14 Romane, zahlreiche Kurzgeschichten sowie journalistische Bei‐ träge. Als Schlüsselwerk gilt bis heute der 1950 erschienene Roman La vida breve. Anhand der Genese einer fiktiven Kleinstadt namens Santa María exemplifiziert Onetti in diesem Roman die Mechanismen der Autofiktionserzeugung. Sein li‐ terarisches Schaffen lässt sich damit grob in zwei Perioden unterteilen: eine ‚präsanmarianische‘ und eine ‚sanmarianische‘, d. h. in Texte vor der Erfindung Santa Marías und in solche, die ebendarin verortet sind. 4 So konstatiert Roberto Ferro, dass mit Beginn der „Saga de Santa María“ 5 Onettis Erzählen in zuneh‐ mendem Maße selbstbezüglich werde: 8 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="9"?> (1961), Juntacadáveres (1964) sowie Jacob y el otro (1959): „A partir de La vida breve, Onetti ha hecho explícita su intención de componer una secuencia novelesca que tendría como centro geográfico a esa ciudad imaginaria y en la que se entrecruzarían las vidas y destinos de muchos personajes. Esa secuencia es una verdadera Saga de Santa María, para emplear una expresión tradicional.“ (Emir Rodríguez Monegal: „Prólogo“, p. 34) 6 Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 22. 7 Insofern der vorliegenden Arbeit eine monographische Lesart des Onetti’schen Ge‐ samtwerks zugrunde liegt, d. h. zwar einzeln veröffentlichte Werke behandelt, diese jedoch in einen großen, aufeinander bezogenen Sinnzusammenhang, namentlich Onettis Gesamtwerk, gestellt werden, soll hier in Anlehnung an Gérard Genettes Trans‐ textualitätstheorie und insbesondere sein Verständnis von Intertextualität der Begriff der ‚Intratextualität‘ verwendet werden. Mit Rückgriff auf Julia Kristeva definiert Ge‐ nette Intertextualität „als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, d. h. in den meisten Fällen, eidetisch gesprochen, als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text.“ (Cf. Gérard Genette: Palimpseste (1993 [1982 franz.]), pp. 10 sq.) Da sich im Falle Onettis die Einzeltexte seines Gesamtwerks aufeinander beziehen und als in‐ einander präsent zu bezeichnen sind, scheint in diesem Kontext eine Spezifizierung als Intratextualität angemessen. Zur Schematisierung intra- und intertextueller Referenzen in Onettis Erzählungen, insbesondere in Dejemos hablar al viento (1979), cf. auch Sonia Mattalia: La figura en el Tapiz (1990), pp. 187 sqq. 8 In der Erkenntnis über ihr eigene Metafiktionalität unterscheiden sich Onettis Figuren auch grundlegend von Faulkners Figuren in Yoknapatwpha County, wie Vargas Llosa herausarbeitet: „Yoknapatwpha County es un mundo inventado por la imaginación y la pluma de un escritor, pero eso lo saben los lectores […] no los personajes del condado que actúan y piensan como si fueran ‚reales’, hechos de carne y hueso y no de imagi‐ nación y de palabras. Los de Santa María saben, o por lo menos presienten, que son espejismos, embelecos de la fantasía y los deseos caprichosos del dios Brausen, un dios patético, de carne y hueso, perecedero como ellos mismos, y por eso actúan y sienten como seres hechizos, marcados por la irrealidad.“ (Mario Vargas Llosa: „Huellas de Faulkner y Borges en Juan Carlos Onetti“ (2009), p. 21). Hasta la aparición de La vida breve, la narrativa de Onetti remite a una constelación de escrituras que cita y reescribe, entre las que se inscriben de modo paradigmático, aunque no excluyente, las de Céline, Faulkner, Arlt, Joyce y la novela de aventuras: ese gesto se registra como un movimiento de apertura. A partir de La vida breve, la instancia citacional se hace endógena, las repeticiones autorreferenciales comienzan a constituirse en uno de los rasgos distintivos de su escritura, que exhibe la marca de un porvenir inscripto en la repetición. 6 Ferro zeichnet damit die Veränderung des Gesamtwerks von einem stark inter‐ textuell zu einem stark intratextuell geprägten Erzählwerk nach. 7 Das heißt, die narrativen Referenzen beschreiben eine räumliche Bewegung: von einem ‚text‐ lichen Außen‘ in den frühen Werken zu einem ‚textlichen Innen‘ in den san‐ marianischen Erzählungen. Einzelne, überwiegend männliche Figuren sind sich ihres Fiktionalitätscharakters bewusst und reflektieren diesen auch aktiv. 8 Ein 9 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="10"?> 9 Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 17. Erstmals findet sich die Lesart eines „único texto“ bei Juan Manuel Molina. In seiner Dissertation geht er davon aus, „que la obra de Juan Carlos Onetti constituye de hecho un texto único, una larga saga o un todo íntimamente unido, en cuya progresión se deja advertir lo que Walter Benjamin llamó ‚la idea de un plan en marcha’.“ ( Juan Manuel Molina: La dialectica de la identidad en la obra de Juan Carlos Onetti (1982), p. 8) 10 Einzig Eva Erdmann spielt in ihrem Aufsatz „Onettis Santa María“ verschiedene Les‐ arten des Namens durch, indem sie den Genus Santa Marías zunächst in Frage stellt und davon ausgehend die These von einer dem Textraum immanenten Unbestimmtheit vertritt, welche konstitutiv für Santa María sei. Sie konstatiert, dass eine Mehrzahl an Referenzen in diesem Fall gerade nicht zu einer Erkenntnissteigerung beiträgt: „Je mehr Bruchstücke, Nachrichten und Eigenschaften über Santa María der Leser in einer Col‐ lage seiner Lektüren zusammenzusetzen vermag, desto undeutlicher wird die Gesamt‐ gestalt eines Ortes. Vielmehr gerät Santa María zur Bezeichnung einer Ortlosigkeit und transición, die sich nicht in Terminologien des Raumes fassen lässt, da sie mehr auf solche der Bewegung, der Heterotopie und der Deterritorialisierung angewiesen ist.“ Außerdem verweist sie auf mehrere mögliche Analogien für die Namensgebung, so etwa auf eines der Schiffe der Kolumbusflotte, die aus der Niña, der Pinta sowie der Santa María bestand - wobei letztere Schiffbruch erlitt. (Cf. Eva Erdmann: „Onettis Santa María“ (2019), pp. 64 sq., cit. p. 64) poetologischer Effekt dieser starken Autoreferentialität besteht darin, dass die einzelnen Texte zum Teil erst innerhalb des Gesamtkontextes verständlich werden. Ferro plädiert in seiner Studie daher auch für eine Lesart, die Onettis literarisches Gesamtwerk als „único texto“ 9 fasst. Die vorliegende Arbeit folgt diesem Vorschlag, indem sie das ausgewählte Korpus als Teil des Gesamtwerks liest und immer wieder dazu in Beziehung setzt. Das zu untersuchende Textkorpus umfasst die Romane La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), La muerte y la niña (1973) und Dejemos hablar al viento (1979) sowie die Kurzgeschichte „La novia robada“ (1968). Allen genannten Texten ist gemein, dass sie sich in zahlreichen Anspielungen auf La vida breve (1950) als ‚Gründungstext‘ beziehen und überwiegend in dem darin erdachten Santa María verortet sind. Entscheidungsleitend bei der Auswahl der einzelnen Romane sowie der Kurzgeschichte waren die unterschiedlichen Darstellungen von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion respektive deren Negationen. Diese wiederum stehen, so die Grundannahme der vorliegenden Arbeit, stets in komplexen reziproken Abhängigkeitsverhältnissen zu den Pa‐ rametern Raum, Macht und Gender, welche in diesem Rahmen analysiert werden sollen. Die Hypothese basiert auf folgenden Vorüberlegungen: Mit Santa María wählt Onetti einen in Lateinamerika weit verbreiteten Städtenamen, der sich, wie Jorge Edwards exemplarisch für die bisherige Onetti-Forschung formuliert, auf eine fiktive, prototypische lateinamerikanische Provinzstadt bezieht: 10 10 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="11"?> 11 Jorge Edwards: „El imposible Onetti“ (1999). Implizit schwingt in dieser Lesart auch immer der Vergleich mit William Faulkners emblematischem Yoknapatawpha County mit, der sich, sicherlich befeuert durch Onettis zeitlebens öffentlich geäußerte Bewun‐ derung für den nordamerikanischen Kollegen, zu einer wichtigen Konstante des For‐ schungsdiskurses verfestigte. Es una ciudad provinciana, un espacio cerrado, ocupado por unos cuantos personajes novelescos, y es, en seguida, un mundo novelesco que se encuentra en las cercanías de lugares tan reales como Buenos Aires y Montevideo. […] Es la metáfora de cualquier ciudad de América del Sur, con su carácter provinciano, con su cercanía de algún puerto, con sus barrios de inmigrantes. 11 Während die Forschung sich bis dato also vor allem auf Santa María als Teil einer bekannten lateinamerikanischen Geographie bezogen hat, soll in vorlieg‐ ender Arbeit noch ein weiterer terminologischer Aspekt für die Analyse fruchtbar gemacht werden: So rekurriert der Name Santa María in der christli‐ chen Tradition auf die heilige Maria, die Muttergottes, die Gebärerin des christ‐ lichen Heilands; evoziert wird damit werkübergreifend die Figur der Mutter als traditionelles Symbol des Lebens, der Geburt und der Schöpfung. Allerdings spielen auf diegetischer Ebene Mutterfiguren nur eine sehr marginale Rolle. In weiterem starkem Kontrast zu dem christlichen Marienmythos steht, dass Fort‐ pflanzung und Elternschaft in Onettis Texten entweder offen problematisiert oder von den Figuren verweigert werden und damit als grundsätzlich dysfunk‐ tional und / oder konfliktbehaftet markiert sind. In Onettis Texten wird, so eine weitere Lektürebeobachtung, (biologische) Reproduktion vielmehr durch kin‐ derlose Frauenfiguren, die gleichzeitig mit Attributionen von Mütterlichkeit versehen werden, repräsentiert. Jegliche Art der Genealogie auf diegetischer Ebene erscheint damit unmöglich. Über all dem ‚schwebt‘ eine männliche Schöpferfigur, deren Erzählpotenz sich auf unterschiedliche männliche Erzäh‐ linstanzen aufteilt. Unter diesen Prämissen wird Santa María über seine Funktion als literarischer Handlungsort oder topographischer Referenzrahmen hinaus auch als metafik‐ tionales Produkt respektive Kunstwerk und metonymisch als grundlegendes Prinzip des stark vom Marienmythos geprägten Phänomen des Marianismo lesbar. In der vorliegenden Arbeit soll es folglich nicht nur um das eine, singuläre Santa María in Onettis Gesamtwerk gehen, sondern um eine Vielzahl von Santa Marías und innerhalb dieser um die genderbezogene Darstellung machträum‐ licher Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion. 11 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="12"?> 12 Cf. Henri Lefebvre: „Die Produktion des Raums“ (2006 [1974 franz.]), pp. 330-340, insb. p. 334. Den Ausgangspunkt seiner Raumtheorie bildet die Dreiteilung in wahrgenom‐ menen („espace perçu“), konzipierten („espace conçu“) und gelebten („espace vécu“) Raum. Dies entspricht der Trias aus „räumliche[r] Praxis“, „Raumrepräsentationen“ und „Repräsentationsräume[n]“. (Cf. Ibid., pp. 333-336, Hervorh. i. Orig.) Lefebvre geht davon aus, dass jede Gesellschaft ihre eigene Raumpraxis ausbildet. Ziel dieser Raum‐ praxis ist letztlich die soziale Reproduktion, d. h. der Fortbestand der Gesellschaft. Le‐ febvre assoziiert den materiellen, konzipierten Raum mit wissenschaftlicher und insti‐ tutioneller Raumbeschreibung, -planung und -gestaltung. Die Repräsentationsräume einer Gesellschaft verbinden das sinnlich, alltäglich Wahrgenommene mit institution‐ eller Gestaltung, Verboten und Geboten zu einem abstrakten, hochgradig symbolischen Raum. (Cf. Phil Hubbard ed.: Key thinkers on space and place (2004), p. 281) 13 Wolfgang Hallet / Birgit Neumann: „Raum und Bewegung in der Literatur“ (2009), p. 11. 14 Ibid., p. 11. 15 Ibid., p. 16. Nach den inhaltlichen Vorüberlegungen sollen nun kurz diejenigen Raum‐ theorien skizziert werden, die zu oben genannter Beobachtungen geführt und diese Arbeit geprägt haben. Grundlegend war zunächst die Orientierung an Henri Lefebvres Theorie des sozialen Raums, wonach Raum nicht nur als Pro‐ dukt, sondern gleichzeitig auch als Produzent sozialer Ordnungen zu verstehen ist. 12 In den Worten von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann heißt das: „Als Signatur sozialer und symbolischer Praktiken ist Raum kulturell produziert und kulturell produktiv: Der Raum selbst spiegelt demzufolge bestehende Macht‐ verhältnisse wider und verfestigt diese.” 13 Raum, und insbesondere der Raum in der Literatur, fungiert in dieser Lesart als „kultureller Bedeutungsträger“, der, so Hallet / Neumann weiter, „[k]ulturell vorherrschende Normen, Wertehierar‐ chien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem“ 14 konkret veranschaulicht. Diese kulturellen Wertehie‐ rarchien und -vorstellungen stehen sich mitunter widersprüchlich gegenüber und bilden dadurch Machtverhältnisse, kulturelle Konflikte oder Formen von Diskriminierung ab. Dementsprechend argumentieren Hallet / Neumann: Da in materiellen Räumen heterogene, sogar widersprüchliche Symbolisierungen zu‐ sammenlaufen können, ist ihnen stets eine (inter-)kulturelle Vielschichtigkeit einge‐ schrieben, die dazu geeignet ist, die vermeintliche Homogenität und Hierarchisierung kultureller Ordnungen in Frage zu stellen. 15 Die zitierte Betonung der Machtverhältnisse als Effekte räumlicher Praktiken rekurriert wiederum auf Michel Foucaults relationales Macht- und Raumver‐ ständnis. Allerdings fehlt in Foucaults Ausführungen zu raumabhängigen Machtrelationen ein expliziter Geschlechterbezug, sprich: Foucault verwendete in seinen Analysen das generische Maskulinum. Erst eine feministische Rezep‐ 12 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="13"?> 16 Die feministischen Anschlüsse an Foucault diskutieren Bargetz et al. Für eine weiter‐ führende Auseinandersetzung damit siehe Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 17 Doreen Massey: Space, place and gender (1994), p. 177. 18 Ibid., p. 186. 19 Die Soziologin Ilse Lenz definiert Intersektionalität als „ein Bündel theoretischer An‐ sätze […], die das Wechselverhältnis von Geschlecht und weiteren sozialen Ungleich‐ tion zeigte die gendersensible Anschlussfähigkeit seiner Texte auf und ebnete damit den theoretischen Weg für eine genderkritische Perspektive. Diese wie‐ derum korrespondiert mit einem Postulat der feministischen Humangeogra‐ phie, welches die Konstruktion von Raum als unbedingt genderabhängig be‐ schreibt. 16 Mit ihrem programmatischen Ansatz „geography matters to gender“ 17 prägte Doreen Massey, eine der wichtigsten Vertreterinnen der femi‐ nistischen Humangeographie, die wissenschaftliche Erforschung von Raum-, Macht- und Genderrelationen. Mit implizitem Rückgriff auf Lefebvre schreibt sie: The only point I want to make is that space and place, spaces and places, and our senses of them (and such related things as our degrees of mobility) are gendered through and through. Moreover they are gendered in a myriad different ways, which vary between cultures and over time. And this gendering of space and place both reflects and has effects back on the ways in which gender is constructed and understood in the societies in which we live. 18 Massey betont damit die Notwendigkeit, nicht nur Klassenzugehörigkeit, son‐ dern auch das soziale Geschlecht (gender) als feste Analysegrößen in der Hu‐ mangeographie zu etablieren. Sie verweist auf die Interdependenzen zwischen der sozialen Konstruktion von Geschlecht und unserer alltäglichen Raumwahr‐ nehmung und -gestaltung. Wie sehr die deiktische Funktion von Sprache genderspezifische räumliche Grenzen zu ziehen respektive zu reproduzieren vermag, und inwieweit Machtverhältnisse durch Sprechverbote in bestimmten räumlichen Kontexten geprägt werden, erläutert die britische Mediävistin Mary Beard in Women and Power (2017). Beide genannten feministischen Ansätze sind dem Prinzip der Intersektionalität verhaftet, das wiederum einer herrschafts- und machtkritischen Perspektive Rechnung trägt: Es wird nicht mehr von sin‐ gulärer (und damit ausschließlicher) Weiblichkeit respektive Männlichkeit aus‐ gegangen, sondern die Pluralität unterschiedlicher struktureller und gesellschaftlicher Abhängigkeiten und Diskriminierungserfahrungen abge‐ bildet, in die jede Person eingebunden ist bzw. die eine Person in einem be‐ stimmten kulturellen oder politischen Kontext erfährt. 19 Diesem intersektio‐ nalen Ansatz fühlt sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet. 13 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="14"?> heiten erfassen wollen“ (Ilse Lenz: „Intersektionalität - Zum Wechselverhältnis von Geschlecht und sozialer Ungleichheit“ (2010), p. 158). Connell betont die wissenschaft‐ liche Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive für die politisch orientierten Gender Studies: „To understand gender, then, we must contantly go beyond gender. The same applies in reverse. We cannot understand class, rice [sic] or global inequality without constantly moving towards gender. Gender relations are a major component of social structure as a whole, and gender politics are among the main determinants of our collective fate.“ (R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 76) Ein Beispiel: Um die un‐ terschiedlichen Formen von Diskriminierung oder Privilegierung zu analysieren, die schwarze und weiße Frauen - obschon beide als Frauen wahrgenommen werden und sich auch als solche darstellen - in einer Gesellschaft, allein aufgrund ihrer Hautfarbe erfahren, ist es notwendig, im Plural, d. h. von verschiedenen Weiblichkeiten zu spre‐ chen. Ähnlich, nur in Bezug auf Männlichkeit / en, argumentiert Michael Meuser in: „Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ‚doing masculinity‘“ (1999). Kritik erfuhr das Konzept der Intersektionalität hauptsächlich wegen der Unbestimmtheit und grund‐ sätzlichen Unbegrenztheit der Analysekategorien. So birgt diese Offenheit Raum für spezifische Vorverurteilungen, die Diskriminierungen nicht nur erläutern und analy‐ sieren, sondern diese im schlechtesten Fall auch begründen, im Sinne von hervorrufen, könnten. (Cf. Ilse Lenz: „Intersektionalität - Zum Wechselverhältnis von Geschlecht und sozialer Ungleichheit“, p. 160) Für eine weiterführende Diskussion des Intersekti‐ onalitätsbegriffs im Rahmen der Gender Studies cf. Andrea B. Bührmann: „Intersectio‐ nality - ein Forschungsfeld auf dem Weg zum Paradigma? “ (2009); Gudrun-Axeli Knapp: „‚Intersectionality‘ - ein neues Paradigma feministischer Theorie? “ (2005). 20 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Connell siehe Kapitel 2.4 dieser Arbeit. 21 Für eine fundierte literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Butlers diskurs‐ theoretischem Gender-Begriff cf. Christian Grünnagel: Von Kastraten, Hermaphroditen und anderen Grenzgängern lateinamerikanischer Männlichkeit in Literatur und Film (1967-2007) (2018), pp. 35-45. In einer kritischen Analyse der impliziten Connell’schen Kritik an Butlers Ansatz arbeitet Grünnagel heraus, dass „die weitere Entfaltung und Substantiierung ihrer [Butlers, eig. Anmk.] Positionen in Bodies That Matter wie eine direkte Vorwegnahme von Connells Postulat einer body-reflexive practice [klingt], nur dass diese Verschränkung von Körper und soziokultureller Praxis bei Butler als ‚Chi‐ asmus‘ von Materialität und Sprache erscheint: ‚Language and materiality are fully Dementsprechend lässt sich also konkretisieren: Raum ist in vorliegender Untersuchung als sozial geformtes, kulturell veränderliches Konstrukt zu ver‐ stehen, das Machtbeziehungen sowohl abbildet als auch hervorbringt. Die ein‐ zelnen Akteur*innen bzw. Figuren werden dabei nicht androzentrisch, d. h. ‚au‐ tomatisch‘ als männlich verstanden, sondern in Abhängigkeit von ihrem sozialen Geschlecht untersucht. Das in dieser Arbeit angewandte Ge‐ schlechter-Verständnis orientiert sich wiederum an R. W. Connells theoreti‐ schem Zugang auf dem Gebiet der Men’s Studies. 20 In Abgrenzung zu einem überwiegend diskursiv-semiotisch verstandenen Gender-Begriff, wie ihn ins‐ besondere Judith Butler prägte, spricht Connell einerseits von der sozialen Ge‐ machtheit von Geschlecht, betont jedoch gleichzeitig auch die Bedeutung kör‐ perreflexiver Praktiken für dessen Darstellung: 21 14 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="15"?> embedded in each other, chiasmic in their interdependency, but never fully collapsed into one another, i. e., reduced to one another, and yet neither fully ever exceeds the other. Already always implicated in each other, always already exceeding one another, language and materiality are never fully identical nor fully different.‘” (Ibid. p. 43, Her‐ vorh. i. Orig.) 22 R. W. Connell: Masculinities (2005), pp. 64 sq., Hervorh. i. Orig. 23 Cf. Ibid., p. 71. 24 Cf. Ibid. „Geschlechterverhältnisse bezeichnen”, so die Soziologin Paula-Irene Villa, “ge‐ sellschaftliche Organisationsformen, die die beiden Geschlechter strukturell zueinander in Beziehung setzen.“ (Paula-Irene Villa: Sexy Bodies (2000), p. 24) Through body-reflexive practices, bodies are addressed by social process and drawn into history, without ceasing to be bodies. They do not turn into symbols, signs or positions in discourse. Their materiality (including material capacities to engender, to give birth, to give milk, to menstruate, to open, to penetrate, to ejaculate) is not erased, it continues to matter. The social process of gender includes childbirth and child care, youth and aging, the pleasures of sport and sex, labour, injury, death from AIDS. 22 Unter körperreflexive Praxen fasst Connell dezidiert auch reproduktive Fähig‐ keiten und Vorgänge. Sie spricht von der „reproductive arena“ 23 als sozialem Ordnungsprinzip. Nach Connell strukturiere der Reproduktionsbereich, ein‐ schließlich körperreflexiver Praktiken wie sexueller Erregung oder Zeugung sowie der Organisation von Fürsorge-Aufgaben maßgeblich die Geschlechter‐ verhältnisse und konstituiere damit auch die spezifischen Machtrelationen zwi‐ schen Männern und Frauen. 24 Für die vorliegende Arbeit lässt sich aus diesen schlaglichtartig skizzierten Vorüberlegungen eine Reihe von Forschungsfragen formulieren: • Wie wirken die geschlechtsspezifischen, reproduktiven (Un-)Fähigkeiten der Figuren auf die gesellschaftliche und räumliche Ordnung Santa Ma‐ rías und • in welcher Weise prägt der Raum selbst das Feld der Reproduktion und • damit die Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse? • In welchem geschlechterspezifischen Verhältnis stehen biologische Re‐ produktion und künstlerische Produktion und • inwieweit spiegelt sich dieses Spannungsfeld in den dargestellten Männ‐ lichkeiten respektive Weiblichkeiten wider? • Wie verhält sich der durch den Namen Santa María evozierte Marienmy‐ thos in Bezug auf die dargestellten Geschlechterverhältnisse innerhalb des männlich dominierten Onetti’schen Erzählkosmos und • welche biopolitischen Diskurse lassen sich daraus für die analysierten Werke ableiten? 15 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="16"?> 25 Elena M. Martínez: „Construcciónes del género sexual en la obra de Juan Carlos Onetti“ (2002), p. 112. 26 Für eine ausführliche Darstellung des Forschungsdiskurses sowie diesbezügliche An‐ schlüsse und Abgrenzungen dieser Arbeit, siehe Kapitel 1.2. Diese Forschungsfragen implizieren, wie bereits im Titel der Arbeit anklingt, dass innerhalb des Onettti’schen Gesamtwerks und insbesondere innerhalb der ausgewählten Texte, eine konfliktive Beziehung zwischen Reproduktion und Produktion vorherrscht und dass dieses Spannungsverhältnis in genderspezifi‐ sche, machträumliche Parameter eingebunden ist. Mit dieser Arbeitshypothese begegnet die vorliegende Untersuchung einem im Folgenden noch näher aus‐ zuführenden Forschungsdesiderat, insofern der Analysefokus auf den schöp‐ ferischen, hervorbringenden Fähigkeiten der Frauenfiguren liegt und diese unter machträumlichen Implikationen und als selbstbestimmte Handlungen zu männlicher Schöpfungspotenz in Beziehung gesetzt werden. Die Forschungsarbeiten, die sich bislang unter dezidiert genderspezifischen Fragestellungen mit Onettis Texten auseinandergesetzt haben, reproduzieren einen heteronormativen Machtdiskurs, der Männern Handlungsmacht zuge‐ steht und Frauen als Katalysatoren dieser Handlungen begreift. So beschreibt etwa Elena M. Martínez den narrativen ‚Wert‘ der Frau hauptsächlich über deren Nutzen für die männlichen Figuren, sei es „en términos de la producción nar‐ rativa [o de] la gratificación sexual“ 25 . Die vorliegende Arbeit weist, wie bereits die oben formulierten Forschungsfragen verdeutlichen, weit über diesen For‐ schungsdiskurs hinaus, indem sie die Frauenfiguren in ein Machtverhältnis zu den Männerfiguren setzt und damit das bisherige Subjekt (männlich)-Objekt (weiblich)-Schema aufbricht. 26 Diese explizit feministische Lektüre will sich damit auch als Gegengewicht zu einem Forschungsdiskurs verstanden wissen, dessen Interesse überproportional auf die Analyse der männlichen Figuren ge‐ richtet ist und Frauenfiguren allein in Bezug auf ihre Objekthaftigkeit, in ein‐ dimensionaler Abhängigkeit zu den dargestellten Männerfiguren liest. So geht die vorliegende Untersuchung zwar auch davon aus, dass Onettis Erzählwelt klar androzentrisch markiert und patriarchal strukturiert ist, verweigert sich jedoch der im Forschungsdiskurs bislang daraus abgeleiteten Schlussfolgerung, dass weibliche Figuren per se einen passiven und alle männlichen Figuren einen aktiven Part besetzen. Die vorliegende Arbeit basiert vielmehr auf einem plu‐ ralistischen Patriarchatsbegriff, d. h. sie geht von einer grundsätzlichen Plura‐ lität unterschiedlich organisierter patriarchaler Systeme aus, deren terminolo‐ gisch verbindendes Merkmal auf der Tatsache beruht, dass die Systeme von Männern dominiert werden und Frauen darin eine untergeordnete Position zu‐ gewiesen ist. Patriarchal ist an dieser Stelle deskriptiv, als Ausdruck feministi‐ 16 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="17"?> 27 Verweise auf literarische Originaltexte von Onetti, d. h. alle Romane und Kurzge‐ schichten, werden in runden Klammern unter Nennung der entsprechenden Sigle sowie der Seitenzahl direkt im Text angegeben. Das Siglenverzeichnis findet sich am Ende der Arbeit. Verweise auf Onettis journalistische Arbeiten sowie alle weiteren bibliographi‐ schen Angaben werden in den Fußnoten aufgeführt. scher Systemkritik zu verstehen. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich ein pluralistischer Patriarchatsbegriff von der Denkschule des radikalen Femi‐ nismus distanziert, nach der ‚Männer‘ ‚Frauen‘ unterdrücken und nicht ein kul‐ turell etabliertes System Machtasymmetrien und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern reproduziert. In dieser Arbeit soll somit herausgearbeitet werden, dass Frauen in Onettis Texten, trotz systematischer männlicher Dominanz innerhalb des Diskursraums Santa María, im Bereich der Sexualität und Reproduktion Strategien der Ver‐ weigerung und Selbstermächtigung aufweisen, welche die in den ausgewählten Texten dargestellten patriarchalen Logiken aktiv zu unterlaufen vermögen. 1.1 Aufbau der Forschungsarbeit Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: 27 Das nachfolgende Un‐ terkapitel (1.2.) gibt einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Onetti und verortet sein Werk im literaturhistorischen Kontext. Aufgezeigt werden mögliche Anknüpfungspunkte und nötige Abgrenzungen der vorlie‐ genden Arbeit von bisherigen Forschungsarbeiten, auf die auch im Laufe der Untersuchungen immer wieder verwiesen wird. Kapitel 2 stellt den theoretischen Zugriff dieser Arbeit vor, der bereits teil‐ weise angerissen wurde und der für die anschließende Textanalyse in den Ka‐ piteln 3-5 grundlegend sein wird. So erläutert Kapitel 2.1 zunächst die ge‐ schlechterabhängigen, machträumlichen Implikationen von Sprache nach Mary Beard. In Kapitel 2.2 folgen Michel Foucaults Überlegungen zu Raum (insbe‐ sondere sein Heterotopie-Begriff) und Macht, außerdem sein theoretischer Zu‐ gang zu den Begriffen Diskurs, Biomacht respektive Biopolitik und Gouverne‐ mentalität. Kapitel 2.3 schlägt durch die Darstellung eines feministischen Anschlusses an Foucault die Brücke zu R. W. Connells gendertheoretischem Konzept der hegemonialen Männlichkeit. Letzteres wird in Kapitel 2.4 ausge‐ führt. Eine kulturräumliche Spezifizierung der hegemonialen Männlichkeit, sprich der Versuch, eine spezifisch lateinamerikanische hegemoniale Männlich‐ keit zu definieren, erfolgt in Kapitel 2.5. Mit Blick auf den Namen Santa María als Referenz auf den christlichen Marienmythos, wird dessen Niederschlag im 17 1.1 Aufbau der Forschungsarbeit <?page no="18"?> 28 Cf. Gérard Genette: Die Erzählung (1998 [1974 franz.]). Männlichkeitskonzept des Machismo sowie in dem komplementären Weiblich‐ keitskonzept des Marianismo beleuchtet und in den Analysekapiteln 4 und 5 mit der Darstellung spezifischer Männlichkeiten respektive Weiblichkeiten inner‐ halb des ausgewählten Textkorpus abgeglichen. Im Zentrum des dritten Kapitels steht das Textkorpus dieser Arbeit und ins‐ besondere das Stadtbild Santa Marías. Da sich Onettis Erzählungen, so eine Grundannahme der vorliegenden Untersuchung, weniger über ihre Handlung als über ihre diskursive Ausgestaltung konstituieren, erscheint eine Inhaltsan‐ gabe, die allein die (mitunter fragmentierte) Handlung der einzelnen Texte wie‐ dergibt, nur bedingt aufschlussreich. Die einzelnen Texte sollen daher über Santa María in ihrer Funktion als narratives Verbindungselement vorgestellt werden. Das schließt bereits eine Analyse spezifischer gesellschaftlicher Kon‐ fliktfelder und Machtdiskurse mit ein. Das Kapitel zeichnet nach, wie diese in‐ nerhalb des Gesamtwerks verortet werden und sich in dessen Verlauf auch ver‐ ändern. Die ausführliche Untersuchung der diskursiven Ausgestaltung Santa Marías ist bereits als Hinführung auf die Analysen spezifischer Männlichkeiten und Weiblichkeiten in den Kapiteln 4 und 5 zu verstehen. Nachgezeichnet wird darin die poetologische Funktion Santa Marías zwischen selbstreferentiellem Imaginationsraum und christlich-männlich hegemonialem Diskursraum. Neben der Analyse der diskursiven Ausgestaltung Santa Marías nach Andreas Mahler ist hier Foucaults Diskursbegriff untersuchungsleitend. Während Kapitel 3 also Santa María als veränderlichen kulturellen Bedeu‐ tungsträger betrachtet, untersucht Kapitel 4 mithilfe von Connells Theorie der hegemonialen Männlichkeit die Struktur und Wirkweise der patriarchalen Ord‐ nung in Santa María. Es wird analysiert, wie sich Androzentrismus und Phal‐ logozentrismus in Onettis Erzählwerk sowohl über die Ebene des Diskurses als auch über die der Diegese generieren und gegenseitig verstärken. Das Unter‐ kapitel 4.1 analysiert die poetologischen Mechanismen, die der Autofiktionser‐ zeugung in La vida breve (1950) als Ausgangspunkt zugrunde liegen, und geht insbesondere auf die künstlerische Produktivität der metafiktionalen Erzähler‐ figuren ein. Um die außergewöhnliche Komplexität und werkimmanente Ver‐ knüpfung der Erzählerfiguren offenzulegen und deren Geschlechterspezifik he‐ rauszuarbeiten, werden in Kapitel 4.2 anhand der Erzählanalyse nach Gérard Genette die unterschiedlichen Erzählhaltungen innerhalb des Analysekorpus aufgeführt. 28 Spezifische Männlichkeiten bei Onetti bilden den Untersuchungs‐ gegenstand von Kapitel 4.3. Entscheidend dabei ist die Unterscheidung der beiden Fiktionsebenen, d. h. in Abstimmung mit dem Forschungsdiskurs zu 18 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="19"?> Männlichkeiten in Lateinamerika, und insbesondere in der La-Plata-Region, wird untersucht, wie sich eine ‚präsanmarianische‘ hegemoniale Männlichkeit (Ursprungsfiktion) zu einer sanmarianischen hegemonialen Männlichkeit (Me‐ tafiktion) verhält. Unter der Prämisse, dass Frauen innerhalb der patriarchalen Ordnung Santa Marías räumlichen Disziplinierungsmaßnahmen sowie verschiedenen Mecha‐ nismen gesellschaftlicher Ausgrenzung ausgesetzt sind, analysiert Kapitel 5 weibliche Formen von Widerständigkeit und Selbstermächtigung und rückt dabei das Feld der Reproduktion als Aushandlungsort genderspezifischer Raum-Machtrelationen in den Fokus. Kapitel 5.1 behandelt den Frauenkörper als Kapital weiblicher Macht und Selbstbestimmung innerhalb einer männlichen Ökonomie des Begehrens. Kapitel 5.2 fokussiert auf Strategien weiblicher Wi‐ derständigkeit im privaten Raum des Hauses, der mit Foucault als Abwei‐ chungsheterotopie innerhalb des männlich dominierten öffentlichen Raumes gefasst wird. Weibliche Sprachmacht und die Artikulation der eigenen Bedürf‐ nisse im Verhältnis zu räumlichen Parametern stehen in Kapitel 5.3 im Zentrum der Untersuchung. Kapitel 6 resümiert die Forschungsergebnisse dieser Arbeit unter biopoliti‐ schen Fragestellungen und reflektiert dabei das Spannungsfeld zwischen meta‐ poetischer und christlicher Ordnung. Die patriarchale Ordnung Santa Marías sowie die Widerständigkeit der Figuren werden in Bezug zu einem spezifisch lateinamerikanischen Geschlechterverhältnis gesetzt. Mit der methodologischen Verknüpfung von Raum-, Macht- und Gender‐ theorien in Bezug auf „Onettis Santa Marías“ begegnet diese Arbeit also nicht nur einem grundlegenden Forschungsdesiderat, das die Untersuchung aktiver weiblicher Handlungsmuster innerhalb eines männlich dominierten Diskurs‐ raums betrifft, sondern folgt auch einer, den Onetti’schen Texten eigenen nar‐ rativen Logik, die nicht auf eine stringente Handlungsabfolge und entspre‐ chende handlungsauslösende Figuren hin ausgerichtet ist, sondern Santa María als kulturellen Bedeutungsträger und damit Kristallisationspunkt ideologischer, (bio-)politischer oder ethischer (die Reihung ließe sich fortführen) Diskurse in den Fokus rückt. 19 1.1 Aufbau der Forschungsarbeit <?page no="20"?> 29 Jorge Edwards: „El imposible Onetti“ (1999). 30 Ibid. 31 Cf. Victor A. Ferretti: „Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus‘“ (2019); Kurt Hahn: „Transatlantische Fiktionen der Fiktion“ (2019). 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung „El imposible Onetti“ 29 - so betitelt Jorge Edwards einen Zeitungsartikel über Onetti und spielt damit auf die paradoxe Position an, die Onettis Werk innerhalb der Literaturgeschichte einnimmt: So ist einerseits sein Einfluss auf den mo‐ dernen lateinamerikanischen Roman kaum zu überschätzen, wie zahlreiche Kri‐ tiker*innenstimmen belegen, und andererseits ist sein Werk bis heute keinem großen Publikum bekannt. Onetti gilt damit als klassischer writers‘ writer, über den Edwards weiter schreibt: Desde la perspectiva de hoy, Onetti, el imposible, el hirsuto, es una de las encarna‐ ciones válidas de la literatura entre nosotros, en nuestra región y nuestro tiempo. Es muy difícil estar con él, pero estar contra él es imposible, por más que les pese a los representantes del mercado librero. Onetti nos lleva a terrenos sucios, moralmente contaminados, inquietantes, pero imposibles de eludir. 30 Die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten zu Onettis enigmatischem Werk ist trotz (oder gerade wegen? ) seiner Außenseiterposition in Bezug auf den litera‐ rischen Mainstream mittlerweile beträchtlich. Dieses Kapitel konzentriert sich daher ausschließlich auf Forschungsarbeiten, die Onettis Werk unter Aspekten von Metafiktionalität, Räumlichkeit, Macht oder Gender analysieren sowie in einen kulturtheoretischen oder politischen Kontext stellen. Zwei aktuelle Beiträge, die eine gesellschaftskritische Interpretation an‐ klingen lassen, stammen von Victor A. Ferretti und Kurt Hahn. Beide themati‐ sieren aus einer medientheoretischen Perspektive heraus Problemfelder menschlichen Miteinanders, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben und damit auch eine spezifische Universalität und Zeitlosigkeit der Onetti‘schen Texte belegen: Ferretti untersucht xenophobe Dynamiken und ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit in der Kurzgeschichte „Historia del caballero de la rosa y de la virgen encinta que vino de Lilliput“ (1956) und Hahn arbeitet anhand der Kurzgeschichte „Matías el telegrafista“ (1970) die Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Kommunikation im Spannungsfeld moderner Kommu‐ nikationsmedien heraus. 31 Dezidiert politische Lektüren der Onetti’schen Texte liegen bis dato nur in zwei allegorischen Deutungen der Romane El astillero (1961) und Juntacadáveres (1964) vor. Einerseits im Aufsatz des chilenischen Autors Carlos Franz und an‐ 20 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="21"?> 32 Carlos Franz: „Latinoamérica, el astillero astillado“ (2008). 33 Cf. Ibid. 34 Christina Peri Rossi: „Literatura uruguaya contemporánea“ (1981), p. 90. dererseits im Beitrag der argentinischen Autorin Cristina Peri Rossi. Gemäß der allegorischen Lesart (bezogen auf Juntacadáveres und El astillero) von Franz wissen die Bewohner Lateinamerikas um die Aussichtslosigkeit jeglicher Un‐ ternehmung. Fortschritt ist nur um den Preis der Selbstausbeutung zu haben und Korruption dessen essentieller Bestandteil. En la Santa María de Onetti progresar es prostituirse. […] la ‚invasión’ de la modern‐ idad nos trae progreso, pero a la vez corrompe nuestras costumbres ancestrales, la tecnología extranjera cancela nuestros usos, el capital nos compra, la globalidad pincha nuestra burbuja. 32 Franz liest den Einzug der Moderne und den damit einhergehenden Fortschritt in den Onetti’schen Erzählungen als Überfall (invasión) und Bruch mit der ei‐ genen Tradition, europäische Technologien als Eingriff in altbekannte Abläufe und den Einzug des Kapitalismus als Grund für Korruption. Kurzum, er diag‐ nostiziert den Onetti’schen Figuren eine ausgeprägte Angst gegenüber ‚dem Fremden‘, Fortschritt und Neuerung. Diese Angst versieht Fortschrittlichkeit mit negativen Vorzeichen: progresar es prostituirse. So wie die marode Werft und ihre drei verbliebenen Mitarbeiter Larsen, Gálvez und Kunz in einem Kreislauf aus Korruption und Verfall gefangen sind, so entkommt, laut Franz, auch La‐ teinamerika diesem Zustand nicht. Die Angst vor dem Neuen, dem Fremden und Anderen, d. h. die Angst vor der Moderne, lähmt demnach die Bewohner*innen Santa Marías respektive Lateinamerikas. Selbsttäuschung wird damit zur allge‐ genwärtigen Überlebensstrategie. 33 Während Franz seine allegorische Lesart auf Lateinamerika als gemeinsamen Kulturraum richtet, liest Peri Rossi El astillero (1961) als politische Allegorie auf Uruguay. Die ruinöse fiktive Werft arbeitet sie in ihrem Aufsatz als Bild der nationalen Dekadenz Uruguays heraus: […] es una soberbia alegoría del proceso de decadencia de Uruguay, previsto, con notable lucidez por el escritor cuando recién se iniciaba. […] Ese astillero onettiano donde nada funciona, donde todo es símbolo, y las palabras son eufemismos, ese as‐ tillero que entre residuos, polvos y ventanas sin vidrios vive de su antiguo esplendor era la imagen más patética y simbólica de la realidad uruguaya. 34 Peri Rossi betrachtet El astillero (1961) als Werk literarischer Weitsichtigkeit bezüglich eines in den 1970er Jahren einsetzenden Niedergangs Uruguays, wel‐ cher seinen politischen Höhepunkt im Staatsstreich von 1973 fand. Die Funkti‐ 21 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="22"?> 35 Eduardo Dieleke: „Entrevista a Ricardo Piglia sobre Juan Carlos Onetti“ (2009), p. 122, eig. Hervorh. 36 Sonia Mattalia: Una ética de la angustia (2012), p. 150. onslosigkeit und marode Architektur der beschriebenen Werft werden dabei zum Bild für einen handlungsunfähigen Staatsapparat und ein Land in der De‐ kadenz. Der alte Glanz der Werft (respektive Uruguays) ist unter Staub und Euphemismen verborgen und verkommt zum reinen Symbol vergangener Blüte. Verweise auf ein grundsätzliches politisches Rezeptionspotential oder An‐ spielungen auf zeitgenössische politische Ereignisse und Diskurse finden sich bei Ricardo Piglia und Sonia Mattalia. Piglia deutet die hermeneutische Offen‐ heit in Onettis Texten insofern politisch, als er sie als moralisch ambivalent liest. In dieser fiktionalen Uneindeutigkeit erkennt Piglia, dass die Welt nicht in mo‐ ralische Dichotomien aufzuteilen ist oder klare Lösungen bereithält, sondern sich über eine ihr inhärente Ambivalenz oder vielmehr ‚Unabgeschlossenheit‘ konstituiert - und eben darüber ihre Brüche und Reibungspunkte artikuliert, wie sich ergänzen ließe: Porque él hace algo que es un gesto que yo lo vivo [sic] como políticamente muy decisivo, y es que Onetti no cierra la conclusión nunca. Es un lugar muy importante del análisis de las formas sociales e ideológicas. El final es el que decide del sentido. Y los de él son siempre indecisos. […] Entonces esas son las operaciones donde la lite‐ ratura interviene en la política. Experiencias construidas en el laboratorio de la cultura para hacer ver que las cosas no son tan sencillas ni tan claras.  35 Demnach vermag Literatur und insbesondere Onettis Erzählwerk mit den Mit‐ teln poetologischer Darstellung politische und ideologische Entstehungspro‐ zesse und auch deren Konfliktpotentiale offenzulegen, indem sie sich eben einer eindeutigen moralischen Haltung enthält. Mattalia hingegen vertritt die These, dass sich innerhalb des Onetti’schen Gesamtwerks eine Entwicklung heraus‐ lesen lässt: So schreibt sie dem im spanischen Exil verfassten Spätwerk und insbesondere Cuando ya no importe (1993) eine zunehmende weltpolitische Re‐ ferenzierbarkeit zu: También, y esto es novedoso en la narrativa del autor, algunos fragmentos hacen re‐ ferencias directas a hechos históricos en el Cono Sur, como los golpes militares en Uruguay y Argentina en la década del 70, la presencia de la CIA, historias breves de exiliados, la guerra de las Malvinas, entre otras, que señalan la necesidad ética de Onetti de denunciar directamente, desde el exilio, la violencia de los regímenes mili‐ tares. 36 22 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="23"?> 37 Ludmer etwa konstatiert, Onetti positioniere sich bereits mit seinem literarischen Ma‐ nifest El pozo (1939) als unpolitischer Autor, indem er die Inkarnation des politisch Engagierten, Linaceros kommunistischen Zimmergenossen Lázaro, als abwesend be‐ schreibt: „En la era Onetti, más o menos entre los años 1930 y 1980, no solo se discutía la relación de la literatura con la política o la economía. Había que optar entre formas nacionales o cosmopolitas, literatura rural o urbana, realismo o vanguardia, literatura pura o literatura social. Onetti entra en las guerras literarias y se define como urbano con el primer cuento ‚Avenida de Mayo-Diagonal-Avenida de Mayo’ (aparecido en La Prensa en 1933), como separado de la política en El pozo (1939, el manifiesto literario de Onetti: la cama de al lado en la pensión del que habla está ocupada por un militante ausente), y como experimental y moderno, faulkneriano en La vida breve (1950), donde cuenta cómo se escribe la novela en el interior de la novela.“ (Josefina Ludmer: Onetti. Los procesos de construcción del relato (2009 [1977]), p. 10).“ Millington erachtet grund‐ sätzlich eine postkoloniale Lesart der Onetti’schen Texte als wenig fruchtbar. Er kriti‐ siert das Fehlen eines heterogenen Identitätsdiskurses bei Onetti. Seiner Ansicht nach kommt die sozialpolitische Reibungskraft, die literarische Identitätsdiskurse potentiell entfalten könnten, bei Onetti nicht zum Tragen. Onettis Identitätsproblematik verharre in althergebrachten Mustern: „The novels approach a certain threshold but they turn back nostalgically; they struggle with critical questions of the self and identity but ultimately remain within the horizon of metaphysical formulations. The novels fall silent when radical, materialist reformulations of the notion of the individual subject are about to take shape, and this major silence is one of the key defining limits of Onetti’s writing.” (Mark I. Millington: Reading Onetti. Language, Narrative and the Subject (1985), p. 5) 38 Vor dem literaturhistorischen Kontext einer littérature engagée Sartre’scher Provenienz und eines dezidiert sozialkritischen Literaturansatzes, wie ihn etwa Onetti zeitgenös‐ sische Autoren wie Mario Benedetti oder José María Arguedas verfolgten, erscheint es gleichsam unangemessen, Onetti als politischen Autor zu bezeichnen. Denn wie Onetti mehrmalig versicherte, sah er sich selbst niemals entsprechenden Gruppierungen zu‐ gehörig oder entsprechenden Diskursen verpflichtet. In einem seiner journalistischen Kurzbeiträge etwa polemisiert er: „El que pretende dirigirse a la humanidad o es un tramposo o está equivocado. La pretendida comunicación se cumple o no; el autor no es responsable, ella se da o no por añadidura. El que quiera enviar un mensaje […] que encargue esta tarea a una mensajería.“ ( Juan Carlos Onetti: „La literatura: ida y vuelta“ (2009), p. 916) Wie das obige Zitat zeigt, interpretiert Mattalia vereinzelte direkte und indirekte Anspielungen auf zeitgenössische politische Diskurse als Kritik des Exilautors Onetti an politischen Umbrüchen in seiner Heimat. Vom Großteil der Forschung wird Onetti jedoch nach wie vor als ‚unpolitischer‘ Autor wahrgenommen. 37 Dass sich diese Lesart bis auf wenige Ausnahmen so hartnäckig im Forschungs‐ diskurs hält, ist, so darf vermutet werden, auch zu großen Teilen auf eine miss‐ verständliche und vor allem den frühen Forschungsdiskurs dominierende, aus aktueller Forschungsperspektive methodisch unsaubere biographistische Gleichsetzung von realem Autor und fiktiven Figuren zurückzuführen. 38 23 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="24"?> 39 Hervorzuheben sind in diesem Kontext die Arbeiten von Mark I. Millington: „No Wo‐ man’s Land“ (1987), Judy Maloof: Over her dead body (1995) oder Elena M. Martínez: „Espacio homosocial“ (2006), ferner von Lidia Grove: Joven, mujer y prostituta (1977) und Alicia Migdal: „Las locas de Onetti“ (1989). 40 Bei Millington sind es „the wife“, „the prostitute“, „the girl“ und „the mad woman“, vermittels derer die männlichen Subjekte ihre Lebenskrisen verarbeiten: „These […] women assist in the formulation of male desire for a renewed self - they are not objects of desire in themselves, they are not the ‚truth of man‘. These Women may suggest the possible attainment of another self, an imaginary fulfilment, and so they are vehicles of male desire rather than its object.“ (Cf. Mark I. Millington: „No Woman’s Land“ (1987), pp. 362, 364, 368, 372, cit. 359 sq.) Stephanie Merrim bezieht sich auf Fernando Aínsas Aufsatz : „Función del amor en la obra de Juan Carlos Onetti“ (1974) und arbeitet mit den Kategorien des jungen Mädchens, der Frau als begehrtes respektive verhasstes Ob‐ jekt sowie der Prostituierten. Ihre Erwähnung der Figur der Mutter ist marginal und wenig überzeugend, da sie ausschließlich Miriam/ ‘Mami‘ anführt, ohne überhaupt auf den Symbolcharakter von deren Mutterrolle einzugehen. (Cf. Stephanie Merrim: „La vida breve o la nostalgia de los orígenes“ (1986), p. 569) Die Forschungsarbeiten, die sich mit Macht- und Genderfragen innerhalb des Onetti’schen Gesamtwerks auseinandersetzen, argumentierten bislang über‐ wiegend mit einer asymmetrischen Machtverteilung zwischen Männern und Frauen, welche zu Ungunsten der Frauen ausfiel. Demnach gelten Männer als aktiv an der Handlung beteiligte Subjekte, Frauen als passive, indirekt hand‐ lungsauslösende Objekte. 39 Josefina Ludmer, Judy Maloof, Elena M. Martínez oder Mark Millington verweisen darauf, dass die Aushandlung der konfliktiven Identitäten, die ein für die Onetti’sche Textwelt typisches, marginalisiertes und entfremdetes männliches Subjekt in Onettis Texten kennzeichnet, nicht ohne die katalytische Funktion einer weiblichen Figur gedacht werden könne. Männ‐ liche Subjektivierungsprozesse stünden damit immer in Beziehung zu einem weiblichen Komplementärobjekt. ‚Die Frau‘ wird in dieser Lesart einem be‐ stimmten Typus zugeordnet und dadurch auch ihre Funktionalität für männ‐ liche Identitätsaushandlungen affirmiert. 40 Im Folgenden soll dieses diskursbes‐ timmende Postulat von aktiven Männlichkeiten und passiven Weiblichkeiten anhand einzelner Studien noch einmal detaillierter erläutert und vor allem in seiner Absolutheit in Frage gestellt werden. Ludmers 1977 verfasste kritische Studie Onetti. Los procesos de construcción del relato ist eine der ersten Arbeiten, die auf die weiblichen Figuren in Onettis Erzählungen fokussiert, und gilt mittlerweile als Standardwerk der Onetti-For‐ schung. Ludmer arbeitet für diese Studie mit den drei Texten La vida breve (1950), Para una tumba sin nombre (1959) sowie „La novia robada“ (1968), als deren Nexus sie den weiblichen Körper setzt und damit auch als erste eine nar‐ rative Verbindung von weiblichem Körper und poetologischer Genese bei Onetti 24 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="25"?> 41 Josefina Ludmer: Onetti. Los procesos de construcción del relato (2009 [1977]), p. 14. 42 Cf. Ibid., pp. 39 sqq., cit. p. 39. 43 Judy Maloof: Over her dead body (1995), p. 132. untersucht. Von der Psychoanalyse nach Jacques Lacan und der marxistischen Theorie beeinflusst, arbeitet Ludmer heraus, wie die narrative Ökonomie aller drei Texte an (Dys)funktionalitäten des weiblichen Körpers gebunden ist: Las tres partes trazan una travesía por un cuerpo femenino, algo así como un horror del cuerpo femenino: la teta cortada y la Queca, la matriz de Rita con el chivo y la concha inútil de Moncha. 41 In diesem Zitat verbindet Ludmer Frauenfiguren aus ihrem Untersuchungs‐ korpus mit paradigmatischen, dysfunktionalen primären und sekundären Ge‐ schlechtsmerkmalen: Gertrudis’ amputierte Brust mit Queca, Ritas Gebärmutter mit einem symbolischen Ziegenbock anstelle eines Fötus sowie Monchas ‚funk‐ tionslose‘ Vulva. Über ein enges semiotisches Zusammenspiel zwischen Text‐ körper und dysfunktionalem Frauenkörper leitet Ludmer in ihrer Studie eine Negation weiblicher Reproduktionsfähigkeit ab, welche sie wiederum einer männlichen Produktionspotenz gegenüberstellt. Anders ausgedrückt: In Lud‐ mers Lesart wird weibliche biologische Reproduktionsimpotenz durch männ‐ liche künstlerische Produktionspotenz ersetzt: „[E]n Onetti escribir es ge‐ star […].“ 42 Der Schaffensprozess verlagert sich demnach von einer biologischen auf eine künstlerische Ebene und damit von der Ebene der histoire auf die Ebene des discours. Weibliche Gebärfähigkeit wird durch männliche Imaginationsfä‐ higkeit substituiert. Während Ludmer eine Verschiebung der (Re)Produktionspotenz von der bi‐ ologischen / weiblichen auf die künstlerische / männliche Ebene postuliert, liest Maloof mit explizitem Rückgriff auf Elisabeth Bronfens komparatistische Studie Nur über ihre Leiche (2004 [1993 engl.]), den weiblichen toten Körper als fikti‐ onsgenerierend. Maloof rekurriert in ihrer Studie Over her dead body (1995) auf überwiegend stereotype Frauenfiguren. Bei Maloof haben diese die Funktion, den männlichen Protagonisten einen Ausweg aus ihren täglichen, frustrier‐ enden sozialen Kämpfen zu weisen: These idealized images of Woman (usually a very young woman, a madwoman, a prostitute, or a handicapped woman) help the narcissistic masculine character to es‐ cape from the drudgery and frustrations of his everyday life in a reified social envi‐ ronment. 43 Frauenfiguren werden von Maloof demnach rein über ihre Funktion wahrge‐ nommen, die den passiven, unterstützenden Gegenpart für den Narzissmus 25 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="26"?> 44 Cf. Ibid., pp. 79-92. 45 Mark I. Millington: „No Woman’s Land“ (1987), pp. 360, 373. 46 Der Begriff Phallozentrismus „bezeichnet die patriarchale Struktur […] der sprach‐ lich-kulturellen Ordnung, die den Phallus als Symbol und Quelle der Macht setzt.“ (Doris Feldmann / Sabine Schülting: „Phallozentrismus“, p. 503) Frauen haben innerhalb dieser männlich-phallischen Ordnung keinen Platz, sie fungieren als das ‚Andere‘ in Bezug auf männliches Begehren. Die Frau wird folglich per se als Mangel bzw. als Objekt wahrgenommen. Die feministische Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey beschreibt Phallozentrismus als paradoxes Phänomen, das darin bestehe, “dass er auf das Bild der kastrierten Frau angewiesen ist, um seiner Welt Ordnung und Sinn zu verleihen. Eine bestimmte Vorstellung von der Frau steht im Zentrum des Systems: Es ist ihr Mangel, männlicher Figuren bilden. Erst durch deren Tod, sprich Over her dead body, erfüllt sich männliche künstlerische Produktion, wie Maloof exemplarisch an den Leichen Quecas (La vida breve, 1950) und Ritas (Para una tumba sin nombre, 1959) und der damit verbundenen männlichen Autorschaft Brausens und Díaz Greys ausführt. Die künstlerische Selbstverwirklichung männlicher Figuren ba‐ siert demnach auf der (textlichen) Liquidation einer Frauenfigur. Für La vida breve (1950) weist Maloof etwa nach, dass sich allein die Beschreibung der beiden Frauenleichen Queca und Elena Sala aus männlicher Perspektive derart glei‐ chen, dass von einem Muster und einer Entindividualisierung der toten Frauen gesprochen werden kann. 44 Seine poetologische Ausarbeitung findet dieses Schema schließlich in Para una tumba sin nombre (1959), insofern die männli‐ chen Erzähler nicht einmal mehr der namentlichen Identität der Toten (sin nombre! ) Bedeutung beimessen. Was zählt, ist allein das künstlerisch-diskursive Ergebnis, d. h. wie die Geschichte erzählt wurde. Diese überwiegend männlich konnotierte künstlerische Schöpfungspotenz in Abhängigkeit zu einem passiven weiblichen Gegenpart beschreibt auch Mil‐ lingtons Lesart: So konstatiert er in seinen Untersuchungen zunächst eine grundsätzliche Dominanz männlicher Vorstellungen, Perspektiven und Belange in Onettis Texten. Daraus leitet er die Position ‚der Frau‘ als das dem Männlichen gegenüber ‚Andere‘ und infolgedessen deren ausschließlich katalytische Funk‐ tion für die fiktiven Biographien der Männerfiguren ab: Within this male discourse woman is different: she is positioned and given identity in relation to man […]; […] her gender is significant in that she is other […] it is not male, it is other. […] the female character is a function, a marker of the male situation. 45 Durch die Positionierung ‚der Frau‘ in Abhängigkeit zu männlichen Figuren, wird sie auf die Rolle ‚der Anderen‘ beschränkt. Millington spielt damit implizit auch auf einen konsistenten Phallogozentrismus 46 innerhalb der Onetti’schen 26 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="27"?> der den Phallus als symbolische Präsenz hervorbringt, und es ist ihr Wunsch, den Mangel auszugeleichen, den der Phallus bezeichnet. […] Die Frau fungiert in der patriarchalen Kultur als Signifikant des männlichen Anderen, an eine symbolische Ord‐ nung gebunden, in welcher der Mann seine Phantasien und Obsessionen über die Be‐ herrschung der Sprache ausleben kann, indem er sie dem schweigenden Bild der Frau auferlegt, die weiterhin an ihren Platz als Trägerin, nicht als Herstellerin von Sinn gefesselt ist.” (Laura Mulvey: „Visuelle Lust und narratives Kino“ (2016 [1973 engl.]), p. 46) „Phallogozentrismus verweist [demnach] auf die analoge Struktur von P[hallo‐ zentrismus] und Logozentrismus, die Privilegierung des Phallus als Ursprung und Zentrum aller Signifikanten.“ (Doris Feldmann / Sabine Schülting: „Phallozentrismus“ (2001), pp. 503 sq., cit. p. 504, eig. Hervorh.) 47 Mark I. Millington: „No Woman’s Land“ (1987), p. 359, eig. Hervorh. 48 Dass diese Bewegung in den wenigsten Fällen mit einem ‚Vorankommen‘, im Sinne einer fortlaufenden Handlung, gleichzusetzen ist, sondern im Gegenteil oft in einem metaphorischen auf-der-Stelle-Treten verharrt, beschreibt eine poetologische Kon‐ stante in Onettis Werk. Erzählungen an. Über eine Funktionalisierung als Marker für männliche Iden‐ titätsproblematiken weist die Rolle ‚der Frau‘ in seinen Ausführungen jedoch auch nicht hinaus. Aktive weibliche Handlung liest Millington in Onettis Texten nicht: Women never initiate action in Onetti’s fiction with a view to changing their situa‐ tions, but they frequently stimulate male characters to move, and it is that movement which creates the narrative dynamic of the fiction. 47 Frauenfiguren fungieren in Onettis Texten demnach exklusiv als indirekt hand‐ lungsauslösende Momente, indem sie die männlichen Figuren dazu anregen, ihre Situation zu ändern, sprich: sich zu bewegen (movement) 48 . Frauen sind nach Millington die statischen, aber gleichwohl impulsgebenden Elemente der Er‐ zählung, während Männer aktiv die Handlung gestalten. Während Millington die männliche Dominanz innerhalb der dargestellten Räume bei Onetti zwar konstatiert, aber deren räumliche Parameter nicht weiter analysiert, stellt Martínez sie in den Fokus ihrer Untersuchung. In ihren Aus‐ führungen arbeitet sie heraus, dass die Handlungsorte in Onettis Erzählwerk überwiegend männlich homosozial geprägt sind und diese omnipräsente Prä‐ gung wiederum bestimmte genderabhängige Machtverhältnisse prägt: La narrativa de Juan Carlos Onetti, desde El pozo (1939) hasta Cuando ya no importe (1993), articula y reproduce un espacio homosocial por excelencia. Por homosocial se entiende aquí el lugar privilegiado en que los personajes masculinos como sujetos del discurso, llevan a cabo entre ellos transacciones de poder social, económico, y narra‐ 27 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="28"?> 49 Elena M. Martínez: „Espacio homosocial“ (2006), p. 21. 50 Bei Martínez ist das etwa Inés, über die der Protagonist Bob und der namenlose auto‐ diegetische Erzähler sprechen - um miteinander in (homoerotische) Interaktion zu treten. (Cf. Ibid., pp. 22-25) 51 Auf den männlich-konstitutiven Blick, den so genannten ‚Male gaze‘ und die durchge‐ hend männliche Erzählperspektive wird in den Kapiteln 4.1 und 4.2 noch einmal zu‐ rückzukommen zu sein. tivo; mientras que los sujetos femeninos aparecen como objetos de cambio, inter‐ cambio o en palabras de Luce Irigaray, como ‚mercancía‘. 49 Unter homosozialen Räumen versteht Martínez solche, die durch einen hege‐ monial männlichen Diskurs geprägt sind - sei es in sozialem, wirtschaftlichem oder narrativem Sinne. Frauen fungieren dabei als Tauschobjekte oder Waren. Homosoziale Räume reproduzieren, wie Martínez weiter ausführt, die Sub‐ jekt-Objekt-Relation zwischen Männern und Frauen. In ihnen dominieren Ri‐ valitäten und Komplizenschaften zwischen Männern, Frauen dienen dagegen allein als Sache, über die gesprochen wird. 50 Wie Millington arbeitet auch Mar‐ tínez ‚die Frau‘ allein in ihrer Objekt-Funktion in Bezug auf die Aushandlung männlicher Selbstfindungsproblematiken heraus. Im Zentrum ihrer Analyse steht daher auch kaum die Frage nach heterosozialen Interaktionen, sondern vielmehr die nach homosozialen Beziehungen und insbesondere nach homo‐ erotischer Anziehung zwischen Männern. Für die vorliegende Arbeit ist dieser Aufsatz jedoch insofern von großem Interesse, als Martínez die männliche Dominanz durch das Konzept des homo‐ sozialen Raumes nicht nur diskursiv, sondern auch auf der Ebene der histoire, in physischen Räumen innerhalb der Erzählungen verortet. Sie zeigt auf, in welchem Umfang Frauen in Onettis Texten bereits dadurch, dass sich Handlung überwiegend in homosozial geprägten Settings (wie etwa Bar oder Nachtclub) vollzieht, aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. An Martínez anschließend, stellt sich für die Textanalyse in Kapitel 5 dieser Arbeit die Frage: Welche Räume bleiben den Frauen in Onettis Texten überhaupt, um aktiv zu handeln - zumal innerhalb eines Diskursraums, der durch den männlich-konstituierenden Blick der fiktiven Autorfigur Brausen erschaffen wurde und der kontinuierlich von männlichen Stimmen weitererzählt wird? 51 Während Ludmer, Maloof, Martínez und Millington in ihren Untersuchungen die diskursive Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen betonen, dekon‐ struieren Christopher F. Laferl, Roberto Echavarren, Sonia Mattalia und Teresa Porzecanski diese männliche Suprematie in ihren genderkritischen und queeren Interpretationsansätzen. Echavarren nimmt in seinem Aufsatz „Andrógino Onetti“ (2007) die Unbestimmtheit und Brüchigkeit von Geschlechterkonstruk‐ 28 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="29"?> 52 In der Kurzgeschichte „Jabón“ (1979) wird die Verhandlung geschlechterunspezifischen Begehrens zum handlungskonstituierenden Moment. Der Protagonist Saad erblickt darin eine unbekannte Person am Straßenrand: „[…] vio que la persona que le sonrió tenía una cabeza de mujer, joven, extraordinariamente hermosa, un suéter rojo que cubría el pecho sin la menor sospecha de senos; un pecho liso de varón; pantalones negros que no insinuaban el bulto de sexo. Hombre, mujer, efebo, hermafrodita, Saad lo necesitó de pronto, con fuerza y jadeando. […] la voz no había revelado nada. Era la de alguien que hubiera bebido y fumado mucho la noche anterior, hombre o mujer.” ( Ja 243) Letztlich wird das Ungewisse selbst zur Obsession. Das Begehren des Protagonisten verlagert sich vom Körper der Person auf den Reiz des Vagen oder des Nicht-Wissens: „A desear, más que la posesión física de Ello, la permanencia del secreto, de la duda.“ ( Ja 245) 53 Cf. Christopher F. Laferl: „Männer interessieren sich für Männer“ (2019), p. 113. 54 Sonia Mattalia: Una ética de la angustia (2012), p. 89. tionen bei Onetti in den Blick. 52 Laferl untersucht in seinem Beitrag „Männer interessieren sich für Männer” (2019) die Körperlichkeit und homoerotische Anziehungskraft dreier peripherer Männerfiguren, d. h. er betrachtet homoso‐ ziale Subjekt-Objekt-Abhängigkeiten: Erstens die zwischen dem jungen Prota‐ gonisten Bob und dem namenlosen männlichen Erzähler in der Kurzgeschichte „Bienvenido, Bob“ (1944), zweitens die zwischen dem schwerkranken ehema‐ ligen Spitzensportler und dem Besitzer des Krämerladens in Los adioses (1954) und drittens die Abhängigkeit zwischen dem abgehalfterten Ringer Jacob van Oppen und seinem Manager Orsini in Jacob y el otro (1959). Laferl gelangt zu dem Schluss, dass Onetti in seinen Texten Konzepte hegemonialer Männlichkeit durch eine „Erosion von Männlichkeit“ dezentriert und damit patriarchale Strukturen dekonstruiert. 53 Eine explizit feministische Perspektive nimmt Sonia Mattalia in ihrer Mono‐ graphie Una ética de la angustia (2012) ein. Ihre Studie bildet damit für die vor‐ liegende Arbeit einen wichtigen Anknüpfungspunkt in Bezug auf die Analyse weiblicher Handlungsmacht in Onettis Texten. Allerdings behandelt Mattalia drei Kurzgeschichten, die keine Verknüpfung zu Santa María aufweisen und wählt einen tiefenpsychologischen Interpretationsansatz: Ausgehend von der Freud‘schen Kernfrage „qué quiere la mujer“ 54 , fokussiert sie weibliches Be‐ gehren und dessen explizite Artikulation durch aktive Frauenfiguren, wie etwa die namenlose Protagonistin der Kurzgeschichte „Un sueño realizado“ (1941), Gracia in „El infierno tan temido“ (1957) oder Kirsten in „Esbjerg en la costa“ (1946). In Mattalias tiefenpsychologischer Lesart ruft das artikulierte weibliche Begehren auf Seiten der männlichen Protagonisten Langman („Un sueño reali‐ zado“, 1941) und Risso („El infierno tan temido“, 1957) Unverständnis und Un‐ sicherheit hervor. Während die besagten Protagonisten ohnmächtige Statisten bleiben, handeln die aktiven Frauenfiguren frei und selbstbestimmt. Die männ‐ 29 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="30"?> 55 Teresa Porzecanski: „Dilemas de identidad y construcción de lo ‚masculino‘ en ‚El po‐ sible Baldi‘“ (2012), p. 143. 56 Als problematisch an Badinters Ansatz ist deren Ausschließlichkeit bezüglich eines be‐ stimmten Männerbildes zu sehen. Ähnlich wie Robert Brannon (auf den sie sich auch bezieht) geht sie von einer ‚Master-Männlichkeit‘, einem einzigen Narrativ, wie ein Mann zu sein hätte, aus. Badinters Konzept des sog. ‚Marlboro-Man‘ übersieht damit den pluralen Charakter von Männlichkeiten, der essentiell für Connells Männlichkeits‐ studien ist. Genderspezifische und soziale Abhängigkeitsverhältnisse können bei Ba‐ dinter daher nur eindimensional zwischen Männern und Frauen untersucht werden. Connells Verdienst ist es, diese Eindimensionalität zugunsten multipler Abhängigkeits‐ verhältnisse innerhalb homo- und heterosozialer Kontexte aufgebrochen zu haben. 57 Cf. Teresa Porzecanski: „Dilemas de identidad y construcción de lo ‚masculino‘ en ‚El posible Baldi‘“ (2012), p. 141. lichen Figuren agieren in dieser Lesart passiv oder werden, wie Teresa Porze‐ canski auch mit Rückgriff auf Jean-Paul Sartre formuliert, zu einem „proyecto en construcción“ 55 . Am Beispiel Baldis, des Protagonisten der gleichnamigen Kurzgeschichte „El posible Baldi“ (1936), arbeitet Porzecanski eine ‚tragische‘, da von unlösbarer Konfliktivität behaftete Männlichkeit in Onettis Texten he‐ raus. Die größte Problematik der männlichen Identitätssuche liegt laut Porze‐ canski darin, dass ‚der Mann‘ vom Sartre‘schen Diktum, zur Freiheit und damit zur ständigen (Neu)erfindung seiner selbst verdammt zu sein, innerlich zerrissen wird und letztlich in einer unauflösbaren Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung verharrt. Porzecanski folgt in ihrer Untersuchung der es‐ sentialistischen Argumentationslinie der französischen Philosophin und Femi‐ nistin Elisabeth Badinter. In ihrer Monographie Die Identität des Mannes (1997 [1992 franz.]) stellt Badinter Männlichkeit 56 im 20. Jahrhundert als konfliktives und in letzter Konsequenz defizitäres Konstrukt dar. In Porzecanskis Lesart sind Baldis Identitätsentwürfe demnach grundsätzlich an die affektive Empathie ‚der Frau‘ gebunden. 57 Die bislang umfassendste Werkstudie zu Onetti, La fundación imaginada (2011) stammt jedoch von Ferro, auf dessen Ansatz, Onettis gesamtes Erzähl‐ werk als único texto zu lesen, bereits eingegangen wurde. Mit seiner struktura‐ listischen Interpretation im Anschluss an die Arbeiten von Ludmer (2009 [1977]), Millington (1985), und Martínez (1992) schreibt Ferro damit dezidiert gegen einen Forschungsdiskurs an, der das Düstere und Nihilistische in Onettis Werk als dessen entscheidende Merkmale herausstellte, es vorrangig existenti‐ alistisch las, und verwehrt sich damit auch gegen den oft gestellten Anspruch, einen stringenten, linearen Sinnzusammenhang zwischen Onettis Texten her‐ 30 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="31"?> 58 Die Gemeinsamkeiten der Arbeiten von Ludmer, Millington, Martínez und Ferro be‐ ziehen sich auf die strukturalistisch-kritische Herangehensweise. Ludmer betont vor allem die Offenheit der einzelnen Texte: „El texto no tiene un desenlace definitivo, no cierra los sentidos, no concluye; no establece ninguna ‚verdad’ o ‚falsedad’ de lo contado; desecha los hechos, lo que ocurrió ‚realmente’: se maneja sólo con la parte, el deseo, la reversión, la mentira. Niega el discurso narrativo como un todo cerrado y centrado; subvierte la economía del relato clásico, basada en el enigma y el develamiento; se sustrae a la antinomia ‚realidad’ - ‚ficción’; está hecho de equívocos, de respuestas parciales; bloquea constantemente toda reconstrucción: un gesto arbitrario cierra la serie indefinida de versiones y réplicas.“ ( Josefina Ludmer: „Contar el cuento“ (2009 [1977]), p. 750) Millington hebt zwar die ausgeprägte Selbstbezüglichkeit des Gesamt‐ werks hervor (cf. Mark I. Millington: Reading Onetti. Language, Narrative and the Subject (1985), pp. 4 sq.), liest jedoch jeden Roman als Einzeltext: „[…] one might say that his individual novels stand in a similar relationship with the whole of his corpus. Hence, very similar components are assembled repeatedly, but with varying emphases and different perspectives. […] The intertextual system is constituted by Onetti’s closely related novels, but each measures a clear distance from it.“ (Ibid., pp. 5 sq.) Martínez ist eine der ersten (abgesehen von Wolfgang Luchtings vielzitiertem Aufsatz „El lector como protagonista de la novela“ (1974), der Onettis Texte aus rezeptionsästhetischer Sicht untersucht und damit die literarische Kommunikation zwischen Autor, Text und (dem von Onetti als verzichtbar geschmähten) Leser fokussiert. 59 Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 26. zustellen. 58 Stattdessen plädiert Ferro für eine offene, Fragmentarität und Brüche zulassende (wenn nicht gar kalkulierende) Lektüre: Considero necesario, en este punto, hacer explícita una toma de distancia con cierta dirección de la crítica, bastante extendida y hasta institucionalizada, que lee la trama de las remisiones intertextuales como una garantía de la certeza de que la obra onet‐ tiana estaría construida bajo el signo del deterioro, que Onetti, con una tenacidad casi abusiva, reescribiría insistentemente la misma historia con algunas variaciones: fra‐ caso, vidas desgraciadas, droga, prostitución, miseria moral. 59 Ferro verwehrt sich in seiner Analyse gegen eine Lesart, die Onettis Texte als schematische Wiederholungen einer einzigen Geschichte begreift, die allein in der Fokussierung spezifischer Motive wie Scheitern, Drogen, Prostitution etc. variieren. Auf Ferros stattdessen vorgeschlagene Lesart, die Gesamtheit der Onetti’schen Romane und Kurzgeschichten als ein einziges, zusammenhän‐ gendes Textkonglomerat zu fassen, wurde bereits auf den ersten Seiten dieser Arbeit verwiesen. Dass an dieser Stelle noch einmal explizit Ferros ‚Ein-Text-Postulat‘ aufgerufen wird, soll die Relevanz dieser philologischen Per‐ spektive für diese Arbeit, verbunden auch mit einer Abgrenzung zum bis dato dominierenden Forschungsdiskurs verdeutlichen. So wird Santa María erst durch Ferros Zugang als metafiktionale Raumfigur in Abhängigkeit zum rio‐ 31 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="32"?> 60 Auch in darauffolgenden Werken wie Juntacadáveres (1964) oder Dejemos hablar al viento (1979) bleibt die Metropole als topographische Referenz explizit oder implizit erhalten. 61 „In Onetti’s early novels, the key thematic thread ist that of an isolated, male character in an urban environment (called Buenos Aires in Tierra de nadie [1941] and La vida breve [1950]). This character is repeatedly at odds with the self and with its social po‐ sitioning, though this latter feature is not heavily stressed. No explicit attention is paid to this character’s relation to the specific forms of a developing (capitalist) society - in other words, the roles, language and codes which the society makes available and the urban environment that it creates. The character’s difficulties are centred on and de‐ fined by the subject as a quasi-autonomous individual, even where the novels present more than one struggling character, as in Tierra de nadie.“ (Mark I. Millington: Reading Onetti. Language, Narrative and the Subject (1985), p. 4) platensischen Metropolenbild präsanmarianischer Texte lesbar. Anders formu‐ liert heißt das, Santa María wird im Text zuverlässig durch direkte Anspielungen auf Buenos Aires und Montevideo oder (im Laufe des Spätwerks indirekter wer‐ dende) Referentialisierung auf eine unbenannte Kapitale konstruiert. Bei der Untersuchung des Textraums Santa María ist es demnach hilfreich, sich auch mit der diskursiven Darstellung der Metropolen Buenos Aires und Montevideo in La vida breve (1950) vorgängigen Texten auseinanderzusetzen. Denn obschon sich das gewählte Textkorpus auf Santa María-Texte beschränkt, bleibt die la‐ teinamerikanische Metropole (exemplarisch dargestellt an Montevideo und Bu‐ enos Aires) über weite Strecken ein wichtiger Referenzpunkt für die Konstruk‐ tion des imaginären Santa María. Sprich: Das Großstadtbild, das die frühen Texte Onettis vermitteln, ist für diese Arbeit insofern von entscheidender Bedeutung, als die Erfindung Santa Marías sowohl auf diskursiver als auch auf diegetischer Ebene auf den Großstadt-Darstellungen vorangegangener Erzählungen auf‐ baut. 60 So wird in La vida breve (1950) selbst die großstädtische Unübersicht‐ lichkeit und Anonymität und damit einhergehend das Gefühl der Entfremdung, unter dem der fiktive Autor Brausen leidet, und das ihn letzten Endes auch zur Erfindung eines metafiktiven Gegenortes inspiriert, nur marginal oder wie Mil‐ lington konstatiert, vermittels narrativer Leerstellen dargestellt. 61 Diskursiv handelt es sich um räumliche Spiegelungen, welche Santa María als idyllischen Gegenort zu Buenos Aires / Montevideo konstruieren, inhaltlich um die Abkehr des Protagonisten von den Zumutungen der Großstadt und einer damit ver‐ bunden Flucht in eine vermeintliche Kleinstadtidylle. Die mimetisch-dystopische Metropolendarstellung in Onettis frühen Ro‐ manen und Kurzgeschichten wird in der Forschung oft mit dem Werk Roberto Arlts, dem Pionier des rioplatensischen Stadtromans, verglichen. Das ‚literari‐ sche Erbe‘, das Onetti von Arlt übernimmt, besteht demnach vornehmlich in der negativ konnotierten Darstellung der Großstadt als Ort der Feindseligkeit und 32 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="33"?> 62 Weitere Arbeiten, die sich komparatistisch mit Arlt und Onetti auseinandersetzen, je‐ doch nicht auf deren Stadtbild fokussieren, sind: Rose Corral: „Presencia de Juan Carlos Onetti“ (2012), Maryse Renaud: Hacia una búsqueda de la identidad (1993), Paul Jordan: „Trace and silence of Arlt in Onetti“ (1999), Noemí Ulla: Identidad riplatense (1990). 63 Rosalba Campra: „Buenos Aires infundada“ (1989), p. 113. 64 Cf. Juan Villoro: „El peligro obediente“ (2000), p. 48. Mit dem Begriff der éducation sen‐ timentale bezieht sich Villoro auf Flauberts gleichnamigen Roman. Dieser wird von der Kritik in Abgrenzung zum klassischen „Entwicklungsroman als Desillusionsroman“ gelesen. (Cf. Jürgen Grimm / Susanne Hartwig et al. edd.: Französische Literaturge‐ schichte (1999), p. 273). Wie schon bei Flauberts Frédéric Moreau enden demnach auch bei Arlts Silvio Astier die jugendlichen Lehrjahre in sexueller und sozialer Enttäu‐ schung. Flauberts Moreau verharrt schließlich „in dumpfer Anpassung” (ibid., p. 273). Bei Arlt hingegen radikalisiert sich der Protagonist und wird zum Verbrecher: „El ju‐ guete rabioso narra la educación sentimental de Silvio Astier. […] [L]a verdadera escuela moral de Astier es el crimen. Los cuatro episodios de la novela significan una explora‐ ción del mal como camino de trascendencia. Astier se convierte en delincuente como Selbstentfremdung des modernen Individuums. 62 In seiner Romantrilogie El ju‐ guete rabioso (1926), Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1931) entwirft Arlt die Großstadt (Buenos Aires) als Strudel, wie Rosalba Campra mit Bezug auf ein eigentlich konträres Konstrukt feststellt. So bezog sich dieser Begriff ursprünglich auf den Urwald als die alles verschlingende, zivilisationsfreie Hölle in Eustachio Riveras gleichnamigem Roman La vorágine (1924). Den Gegensatz dazu bildete die zivilisierte Stadt. Nach Campra erhält bei Arlt jedoch genau die ehemals zivilisierte, beherrschbare Stadt die menschenvernichtenden Züge des unkontrollierbaren Urwalds: La ciudad ya se ha transformado en una vorágine. Los críticos han insistido suficien‐ temente en el papel de Roberto Arlt respecto a la creación de esta imagen de una Buenos Aires sombría. En El juguete rabioso (1926), Los siete locos (1929), Los lanzal‐ lamas (1931), Arlt muestra cómo la ciudad forma, o más bien deforma a los personajes en su cuerpo y en su alma, obligándolos a actuar como seres despiadados y corruptos para poder sobrevivir. El espacio en que se mueven, coherentemente, es mezquino y oscuro: zaguanes, escaleras de caracol, sórdidas piezas amuebladas en las que estas criaturas resentidas rumian su venganza contra el mundo. 63 Die Großstadt wird bei Arlt damit zum düsteren (mezquino y oscuro) Dschungel, der die Menschen zwar nicht mehr ‚verschlingt‘ (wie der Dschungel die Prota‐ gonisten Arturo und Alicia in La vorágine), jedoch in ihrem täglichen Überle‐ benskampf moralisch deformiert und korrumpiert (wie etwa Silvio Astier, den Protagonisten von El juguete rabioso (1926), der im Laufe seiner éducation sen‐ timentale zum Verbrecher und Verräter an seinem Freund wird, wie Juan Villoro schreibt) 64 . Die Feindseligkeit der Großstadt geht dabei in den Körper der Fi‐ 33 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="34"?> quien entra a un club; poco a poco, el juego cambia de signo hasta llegar a un desenlace ruin […].“ ( Juan Villoro: „El peligro obediente“ (2000), pp. 48 sq.) 65 Bei Onetti ist der Prozess der emotionalen und sozialen Korrumpierung bereits ein unverrückbarer Bestandteil der Erwachsenenwelt (im Gegensatz zur Unschuld der Ju‐ gend), der sich durch die Figurenkonzeption seines Gesamtwerks zieht. Exemplarisch dafür sei die Figur des Bob in der frühen Kurzgeschichte „Bienvendio, Bob“ (1944) ge‐ nannt. 66 Cf. dazu auch Aldo Rossi: „La città analoga“ (1976). 67 Christina Komi: Recorridos urbanos (2009), p. 17. 68 Ibid., p. 18. guren über und deformiert deren Psyche. 65 Letzteres mündet in einen schmut‐ zigen, trotzigen Überlebenskampf der einzelnen Individuen. Die entsprechende Kulisse dafür bilden dunkle Flure, Wendeltreppen oder schäbige Pensions‐ zimmer. In Recorridos urbanos (2009) gelangt Christina Komi zu einem ähnlichen Schluss. Sie vergleicht die medial vermittelte Repräsentation der Großstadt Bu‐ enos Aires in Arlts Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1931) mit der Onettis in El pozo (1939), Tierra de nadie (1941) sowie einigen frühen Kurzge‐ schichten. Das Bild der Stadt, das Komi in ihrer Monographie herausarbeitet, setzt sich daraus zusammen, was die Stadt einerseits an Bedeutungen generiert und wodurch sie andererseits selbst geprägt und verändert wird. Dabei bezieht sich Komi auf das Konzept der analogen Stadt des italienischen Architekten Aldo Rossi. 66 Die Idee, die hinter Rossis Überlegungen stand, war, modernen Städ‐ tebau nicht nur an infrastrukturellen und ökonomischen Funktionen auszu‐ richten, sondern kulturelle Analogien und Verweise zwischen Architektur und Stadt herauszuarbeiten, um dementsprechend zukunftsweisend zu bauen. Komi transferiert diese originär urbanistische Betrachtungsweise für ihre Studie in die Literaturwissenschaft: La expresión señala el punto de encuentro entre los componentes materiales del es‐ pacio, la memoria y los elementos imaginativos que forjan, también a su manera, este espacio. 67 El lenguaje de la ficción percibe, representa e inventa la ciudad y sus lenguajes. 68 Sie beschreibt zunächst die Besonderheiten, die das Buenos Aires (bzw. die rio‐ platensische Großstadt) der Zwischenkriegsjahre von europäischen Metropolen wie Paris oder London unterscheiden. Da ist einerseits die immense Zahl an europäischen Migranten zu nennen, die Buenos Aires zu Beginn des 20. Jahr‐ hunderts in zwei mehr oder weniger parallel existierende Gesellschaften (die Norm-Gesellschaft sowie die davon abgespaltene randständige Gesellschaft der Einwanderer) teilt und andererseits die relative historische Unbeschriebenheit 34 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="35"?> 69 Ibid., p. 21. 70 Ibid. 71 Ibid., p. 249. der rioplatensischen Gesellschaft („un tipo de tabula rasa“ 69 ). Die industrialisie‐ rungsbedingte Verstädterung tut ihr übriges, um die rioplatensische Großstadt der Zwischenkriegsjahre zu dem zu machen, was Komi als reale Vorlage für deren literarischen Repräsentationen bei Arlt und Onetti beschreibt: La Buenos Aires de los años veinte surge como una ciudad de cemento que crece y se extiende a un ritmo desenfrenado, amenazando no sólo las tradiciones locales sino, más profundamente, la integridad psicológica del individuo que transforma de repente en hombre de masas dentro de una ciudad masificada, en una fracción de la sociedad o en pieza de máquina. 70 Der rapide Anstieg der urbanen Bevölkerung sowie die zunehmende Ökono‐ misierung und Prekarisierung des städtischen Lebens befeuern die Entfremdung des Individuums, wie Komi fortfährt. Das ungebremste physische Wachstum der Stadt bedroht laut Komi nicht nur die ursprünglichen Traditionen, sondern vor allem auch die menschliche Psyche. So leidet das moderne Individuum so‐ wohl in den Texten Arlts als auch in denen Onettis unter gesellschaftlicher Randständigkeit und Vereinsamung. Weiter verhandelt wird der Gegensatz zwi‐ schen einem Leben in Gesellschaft (Stadt) und einem Leben in Gemeinschaft (Peripherie, Land). Traum, Exzess und Gewalt sind laut Komi Strategien der städtischen Individuen, um den alltäglichen Entbehrungen und Feindseligkeit der Großstadt zu entfliehen bzw. um sich ihnen entgegenzustellen: Tanto en Arlt como en Onetti, la ciudad se vive como un mundo atroz, difícilmente tolerable y, a menudo, asociado a la marginación, deliberada o casual. La realidad de la megalópoli aplasta a los individuos y es urgente buscar alternativas. En este con‐ texto, la fabulación, el fraude y el ensueño son mecanismos que introducen en lo real partes de mundos alternativos, con el objeto de restituir lo que falta. 71 Während Arlts Protagonist*innen die Großstadt als hypertrophes Gebilde wahr‐ nehmen und sich vornehmlich in (sinnlose) Gewalt gegen sich selbst und andere stürzen, erfahren die Protagonist*innen in El pozo (1939) und Tierra de nadie (1941) die Stadt als fragmentierte Wirklichkeit, der sie sich nicht entgegen‐ stellen, sondern der sie versuchen zu entkommen: Onettis Protagonist*innen ziehen sich in die Privatheit schäbiger Pensionszimmer und Tagträume zurück. Ihre Beziehung zur feindseligen Außenwelt ist weniger durch subjektive Kon‐ frontation (wie etwa Erdosains Selbstmord bei Arlt) als vielmehr durch Kom‐ 35 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="36"?> 72 Ein weiteres Distinktionsmerkmal, das Komi herausgearbeitet hat, ist das Ludische. „Para Suaid y Baldi, los cambios de identidad resultan puro juego. Al final de sus paseos urbanos vuelven a la realidad, como lo haría un adulto razonable.“ (Ibid., p. 255) Bei Arlt inexistent, bildet die Metapher, das Leben (oder auch das Erzählen) als Spiel zu be‐ greifen, eine wiederkehrende Konstante in Onettis Gesamtwerk. 73 Antúnez schreibt dazu: „’Buenos Aires es una ciudad sin memoria’, reza uno de los muchos lugares comunes del imaginario colectivo de la época. El pampero y las sudes‐ tadas barren las calles del damero, mientras que las demoliciones de los intendentes modernizadores parecen haber borrado las huellas del tiempo.“ (Rocío Antúnez Olivera: Caprichos con ciudades (2014), p. 163) 74 Antúnez zitiert an dieser Stelle auch aus Ezequiel Martínez Estradas La cabeza de Goliat; microscopia de Buenos Aires (1947): „Para Martínez Estrada, donde hubo hogares, ahora hay cuartos de hotel. A esa ciudad-hotel, espacio por el que transitan habitantes sin arraigo, llama el santafesino ‚la ciudad de todos y de nadie’. La familia, la patria, los valores del patriciado se han mudado tierra adentro, a la provincia, mientras su paisaje metropolitano se puebla de figuras transeúntes.“ (Ibid., p. 168) munikationslosigkeit und Anonymität (sprechend ist in diesem Kontext bereits der Romantitel Tierra de nadie) gekennzeichnet. 72 Rocío Antúnez‘ Monographie Caprichos con ciudades (2014) untersucht, wie auch Komi, Texte Onettis vor 1950 (journalistische Arbeiten eingeschlossen) und klammert damit Santa María weitestgehend aus. Anders als Komi fokussiert Antúnez jedoch eine literaturhistorische und biographische Einordnung Onettis in die lateinamerikanische Großstadtliteratur (bezüglich Buenos Aires und Montevideo). Eine weitreichende Beobachtung bezieht sich dabei auf Buenos Aires als ‚Stadt ohne Gedächtnis‘ 73 . Das dadurch fehlende Identifikationspoten‐ tial (das jede Form von kollektiver Erinnerung eigentlich vermittelt) schlägt sich laut Antúnez auch auf Onettis Protagonisten in Tierra de nadie (1941) nieder und das städtebauliche Äquivalent dieser „ciudad de todos y de nadie“ 74 findet seine Entsprechung im Mikrokosmos des Hotel- oder Pensionszimmers. Die Domi‐ nanz dieser geschichtslosen, nomadischen Wohnform zieht sich leitmotivisch durch Onettis Gesamtwerk. Seine männlichen Protagonisten leben, um An‐ túnez‘ Überlegungen weiterzuführen, nicht nur in Buenos Aires und Monte‐ video, sondern auch in Santa María teilweise in Transiträumen, wie etwa Junta Larsen im Hotel Berna (El astillero, 1961). Eine weitere Forschungsarbeit, deren Ergebnisse für die vorliegende Unter‐ suchung fruchtbar gemacht werden können, ist Andrea Mahlendorffs kompa‐ ratistisch angelegte Raumstudie Literarische Geographie Lateinamerikas (2000). Mahlendorffs Analysekorpus ist breiter angelegt als das in Komis oder Capras Arbeiten. In ihrer Lektüre rekurriert sie auf Untersuchungen von Fernando Aínsa sowie auf Héctor Alvarez Murenas Essay El pecado original de América 36 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="37"?> 75 Wie auch Aínsa in “Sobre fugas y destierros” (1990) thematisiert Mahlendorff das Ver‐ hältnis zwischen Europa und Lateinamerika als kulturelles Ungleichheitsverhältnis von Alter gegenüber Neuer Welt. In dieser Lesart wird Europa nicht nur als geographisches, sondern auch als normatives Zentrum verstanden und Lateinamerika dementsprechend zur europäischen Peripherie degradiert. Diese räumliche Herabsetzung durch eine Zentrum-Peripherie-basierte Hierarchisierung führt in einer von europäischen Migrant*innen dominierten Großstadt-Gesellschaft zu einem tief sitzenden Gefühl von Entwurzelung, Abgehängt-Sein und kultureller Minderwertigkeit. (Cf. Andrea Mah‐ lendorff: Literarische Geographie Lateinamerikas (2000), pp. 236 sq.) Als paradigmatisch dafür wird Eladio Linaceros sarkastischer Ausspruch in El pozo (1939) gelesen: „¿Pero aquí? Detrás de nosotros no hay nada. Un gaucho, dos gauchos, treinta y tres gauchos.“ (PZ 26) Aínsa schreibt dazu: „Onetti no sólo constata la falta de un pasado perceptible, sino que niega la expresión de la cultura tradicional.“ (Fernando Aínsa: Las trampas de Onetti (1970), pp. 10 sq.) 76 Andrea Mahlendorff: Literarische Geographie Lateinamerikas (2000), p. 236. 77 Ibid., p. 246. 78 Ibid., p. 239. 79 „Pensó que estaba perdida la amistad del hombre con la tierra. Qué tenía de común con los colores del cielo, los árboles raquíticos de la ciudad, sus multitudes oscuras y alguna luz de ventana, sola en la noche. Qué tenía de común con nada de lo que integra la vida, (1954). 75 Ziel ihrer Analyse ist das Herausarbeiten eines lateinamerikanischen Raumbewusstseins, d. h. die Repräsentation der Stadt bildet nur eine Form von Räumlichkeit ab, die Mahlendorff untersucht. Ihre Lektüre von Tierra de nadie (1941) und La vida breve (ergänzt durch einen Vergleich mit Julio Cortázars Rayuela, 1963) deckt damit auch ein Forschungsdesiderat ab, das die kompara‐ tistischen Großstadtstudien von Campra, Komi und Antúnez bezüglich Santa María offenlassen. So zeichnet Mahlendorff in ihrer Untersuchung eine poeto‐ logische Genese anhand räumlicher Parameter auf. Santa María beschreibt in dieser Lesart den „Übertritt vom geographischen in den imaginären Raum“ 76 . Den Roman Tierra de nadie (1941) liest Mahlendorff als „Prolog auf den neun Jahre später erscheinenden Roman La vida breve“ 77 . Ähnlich wie Komi sieht auch Mahlendorff die urbanen Individuen in Tierra de nadie (1941) von Vereinsamung, Anonymität und gesellschaftlicher Ohnmacht geprägt: Aus den vereinsamten Individuen, die Onetti in den Blick nimmt, ergibt sich das be‐ drückende Bild der anonymen Massengesellschaft, in der es dem Einzelnen nicht ge‐ lingt, ein persönliches Profil zu entfalten. Die wesentlichen Kennzeichen dieser Gruppe von Personen, die Onetti in seinem Roman vorstellt, sind Einsamkeit und Gleichgültigkeit. Er entwirft in ihnen eine indifferente Generation, die sich ihrem Schicksal machtlos ausgeliefert sieht. 78 Die Entfremdung des modernen Individuums, die Mahlendorff paradigmatisch mit einem Ausspruch Diego Aránzurus 79 , einem der Protagonisten des Romans 37 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="38"?> con las mil cosas que la van haciendo y son ella misma, como las palabras hacen la frase.“ (TN 44) 80 Andrea Mahlendorff: Literarische Geographie Lateinamerikas (2000), p. 243. 81 Cf. Ibid., p. 241. Die Bedeutung der Imagination als Flucht aus dem beklemmenden Alltag stellen auch Mario Vargas Llosa: El viaje a la ficción (2008) und Hugo J. Verani: „Onetti y el palimpsesto de la memoria“ (1989) in ihren Arbeiten heraus. Letzterer schreibt: „Todos los personajes de Onetti se rebelan contra el mundo hostil construyendo espacios ilusorios, refugios contra la humillación diaria. […] inventan aventuras com‐ pensatorias, recogen los fragmentos de su vida y prosiguen por los territorios de la imaginación.“ (Ibid., p. 730) 82 Cf. Andrea Mahlendorff: Literarische Geographie Lateinamerikas (2000), p. 77. 83 Ibid., pp. 247, 251, 255. Tierra de nadie (1941), belegt, verweist auf das gestörte Verhältnis des vereins‐ amten Großstädters zu seinen kulturellen Ursprüngen. Ungelöste Identitäts‐ konflikte, die sich in einem Hin- und Hergeworfen-Sein „zwischen Metropole und gran aldea auf der Suche nach dem eigenen Profil“ 80 artikulieren, domi‐ nieren die bruchstückhaften Figuren-Dia- und Monologe, aus denen sich Tierra de nadie (1941) zusammensetzt. Laut Mahlendorff eint alle Figuren das Gefühl persönlicher Schuld und persönlichen Scheiterns. Eine alles umspannende Lan‐ geweile beherrsche die gesamte Romanhandlung. Die Stadt werde nicht nur als identitätslos, sondern auch als Gefängnis wahrgenommen, dem es zu entfliehen gelte. „Die Überforderung angesichts einer chaotischen Welt“, so resümiert Mahlendorff die Verfasstheit der Figuren, „macht den Menschen entscheidungs- und handlungsunfähig. Einzige Fluchtburg bleibt die Welt der Imagination.“ 81 In diesem Sinne deutet Mahlendorff Aránzuru als „Urform Brausens“ und damit als intertextuelle Verbindung zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950): 82 -En fin … Me voy a dedicar a inventarte. ¿Me entendés? Imaginar quién sos. Pensá un poco. Todos estos días juntos, piel con piel. Pero cada uno está preso en sí mismo y … Todo el resto es ilusión. (TN 221). Das laut Mahlendorff zweite offensichtliche Bindeglied zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950) bildet der Fluss, denn während „el río sucio, quieto, endurecido“ ( TN 228) den Text Tierra de nadie (1941) beschließt, bildet der Fluss in La vida breve (1950) eine erste topographische Referenz für die Si‐ tuierung Santa Marías. Das entsprechende Kapitel ist mit „Díaz Grey, la ciudad y el río“ ( VB 428) überschrieben. Mahlendorffs Analyse von La vida breve (1950) konzentriert sich auf drei Raummodelle. Sie unterscheidet den „Raum des Alltäglichen“, den „Raum des Nebenan“ und den „Raum der Imagination“ voneinander. 83 Der erste Raum ver‐ 38 1 Zum Verhältnis von Raum, Macht und Gender in Onettis Santa María <?page no="39"?> 84 Ibid., p. 255. 85 Ibid., p. 257. 86 Ibid., p. 260. weist auf Juan María Brausens Wohnung in Buenos Aires, die er zusammen mit seiner Ehefrau Gertrudis bewohnt. Den zweiten Raum bildet demnach die sym‐ metrisch gespiegelte Nachbarwohnung der Prostituierten Queca. Santa María, als der Raum der Imagination verstanden, konstituiert „die dritte räumliche Ein‐ heit, in der sich das Erzählen vollzieht. Im Vergleich zu den anderen beiden Räumen ist er nicht mehr in der konkreten Geographie Lateinamerikas verortet, sondern beschreibt sozusagen selbst einen Bereich imaginärer Geographie der Neuen Welt.“ 84 Mahlendorff liest Santa María zudem als „Ort der Erlösung“ 85 , dessen geographischer Mittelpunkt in dem Reiterstandbild Díaz Greys zusam‐ menläuft. Die Erlösung besteht vornehmlich darin, dass sie den Protagonisten Brausen von seiner aufreibenden Identitätsproblematik befreit. In Santa María kann er endlich sein, was er will. Identitäten werden nicht sozial oder gesell‐ schaftlich festgeschrieben, sie sind wandelbar. Hier sieht Mahlendorff auch eine Verbindung zur Existenzphilosophie Martin Heideggers und Jean-Paul Sartres, die postuliert, es obliege jedem Menschen selbst, sich täglich neu zu erfinden: Onettis Werk erscheint als eine literarische Illustration der Existenzphilosophie Hei‐ deggers und Sartres, die darin die absolute Freiheit des Menschen sahen, daß [sic] er nicht an eine vorherbestimmte Form des Daseins gebunden ist, sondern sein Leben auf eine Existenz hin entwirft. 86 Diesen Grundgedanken existentialistischer Selbstverantwortlichkeit verknüpft Mahlendorff mit dem Begriff der Ambiguität sowie dem titelgebenden Leitmotiv des kurzen Lebens. Sie konstatiert, dass Brausens Rettung in der Möglichkeit bestehe, kraft der eigenen Imagination mehrere Identitäten, die wiederum an mehrere kurze Leben gebunden seien, für sich zu erschaffen. Jeder dieser Iden‐ titäten wird in Mahlendorffs Lesart ein eigener Raum zugeschrieben. Diese Arbeit übernimmt die Begrifflichkeiten Mahlendorffs mit oben be‐ schriebenen theoretischen Implikationen. Um die Provenienz der Termini kenntlich zu machen, werden sie in der Textanalyse kursiv verwendet. 39 1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung <?page no="41"?> 87 Adrienne Rich: „Notes toward a politics of location“ (1986 [1984]), pp. 212, 226. 88 Michel Foucault: „Von anderen Räumen“ (2006 [1984 franz.]), p. 317. 89 Ibid., p. 318. 2 Grundlegende theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender You could see your own house as a tiny fleck on an ever-widening landscape, or as the center of it all from which the circles expanded into the infinite unknown. It is that question of feeling at the center that gnaws at me now. At the center of what? WE ARE HERE BECAUSE YOU WHERE THERE. 87 Adrienne Rich (1984) Ende der 1960er Jahre proklamierte Michel Foucault ein ‚Zeitalter des Raumes‘: „Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.“ 88 Und weiter: „Heute tritt die Lage an die Stelle der Ausdehnung, […]. Die Lage wird bestimmt durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen […].“ 89 Analog dazu lässt sich auch Onettis Gesamtwerk, in der monographischen Lesart Ferros, als ein textliches ‚Neben- und Ineinander‘, als eine Ansammlung stark selbstbezüglicher Äußerungen, Motive, Semantiken etc. begreifen, die in eine spezifisch Onetti’sche Poetologie mündet. Weiter verstärkt wird diese räumlich ausgerichtete Ordnung durch die raumbasierten Figuren der Repeti‐ tion, Metonymie, Fragmentierung oder Ellipse. Die fragmentierende Beschrei‐ bung wird in Onettis Texten vor allem an einer Deplatzierung von Objekten sichtbar. Durch grammatikalische Bedeutungsverschiebungen erscheinen Ge‐ fühle, Wahrnehmungen, Gesten oder Mimik im Wortsinne ‚wesentlich‘ und vom Körper abgekoppelt. Sie werden personifiziert und mit neuer Bedeutung aufge‐ laden: „[…] me voy levantando, estiro el dolor de las piernas.“ ( JC 384). Anstatt der Beine streckt die Person den Schmerz (in den Beinen) aus, d. h. Onetti ver‐ schiebt durch die Personifizierung des Schmerzes den Fokus vom Materiellen (Körper) auf die reine Wahrnehmung (Schmerz) und verstärkt diese dadurch. <?page no="42"?> 90 Cf. dazu auch Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. III“ (2005), p. 535. 91 Für einen Überblick über die Tradition raumtheoretischer Forschung cf. Jörg Dünne / Stephan Günzel edd.: Raumtheorie (2006). Ein Wiederaufleben oder Erstarken raumtheoretischer Ansätze wurde in der jüngeren Forschung mit dem Begriff des spa‐ tial turn, den der Humangeograph Edward W. Soja (Cf. Edward W. Soja: Postmodern Geographies (1989)) Ende der 1990er Jahre geprägt hatte, belegt. Für einen Überblick Schmerz (Empfindung) wird vom Körper separiert. 90 Besonders häufig wird der Typus der fragmentierenden Beschreibung im Zusammenhang mit der Perso‐ nifizierung von risa oder sonrisa angewendet: „La risa bailó un solo círculo sobre la mesa.“ ( TN 43) Das Lachen wird zu etwas Eigenständigem, in dieser Szene sogar zu einem Produzenten von szenischer (nicht wie zu vermuten, auditiv wahrnehmbarer) Kunst: Das Lachen tanzt. Bei der ersten Begegnung zwischen Junta Larsen und Angélica Inés in El astillero (1961) nimmt Larsen das Lachen der Frau als eine Art Korrespondenz zwischen ihr und dem Raum wahr: „[…] [Angélica Inés] reía a sacudidas, con la cara asombrada y atenta, como elimi‐ nando la risa, como viéndola separarse de ella, brillante y blanca, excesiva; ale‐ jarse y morir en un segundo, derretida, sin manchas ni ecos, sobre el mostrador, sobre los hombros del dueño, entre las telarañas que unían las botellas en el estante.“ ( AS 159) Ähnlich einem kubistischen Gemälde dekonstruiert Onetti dabei die Mimik einer Figur und setzt sie in neuer Anordnung, mit neuem Fokus wieder ins Bild. Das Lachen wird in diesem Fall nicht nur auditiv und optisch (als Gesichtsbewegung) wahrgenommen, sondern personifiziert (alejarse y morir). Es scheint sich zu materialisieren (derretida) und vom Körper zu lösen (sobre el mostrador, sobre los hombros del dueño, entre las telarañas). Durch die Figur der Hypallage (brillante y blanca als Charakterisierungen, die eigentlich mit den Zähnen, die sich beim Lachen zeigen, jedoch nicht mit dem Lachen selbst assoziiert werden) findet eine zusätzliche grammatikalische Verschiebung statt: von den Zähnen (die jedoch nicht im Text genannt sind, sondern allein durch die Kombination der beiden Adjektive brillante y blanca evoziert werden) zum Lachen. Die Logik mimetischer chrono- oder topographischer Deskriptionen gerät hingegen in den Hintergrund bzw. ist dieser autopoetischen Ordnung un‐ terworfen. Onettis Texte sind nicht über eine kartographisch nachvollziehbare Topographie oder eine urbane Genealogie strukturiert, sondern über die Bezie‐ hungen der Figuren untereinander und zudem in Wechselwirkung mit dem Raum. Entsprechend wird Raum in vorliegender Arbeit als Träger kultureller Einschreibungen, Differenzen, Machtrelationen, Hierarchisierungen etc. fassbar. Konzeptionell geht diese Raumbetrachtung auf eine Reihe einflussrei‐ cher deutscher Vordenker wie Walter Benjamin und Georg Simmel oder Fried‐ rich Ratzel zurück. 91 Doch erst auf ‚Umwegen‘ fand diese Perspektive wieder 42 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="43"?> über die vielschichtige wissenschaftstheoretische Kontroverse, die der Begriff des spa‐ tial turn in den deutschen Geisteswissenschaften mit Beginn des 21. Jahrhunderts aus‐ gelöst hat, cf. u. a. Verena Dolle / Uta Helfrich edd.: Zum ‚spatial turn‘ in der Romanistik (2009); Jörg Dünne: „Geschichten im Raum und Raumgeschichte, Topologie und Topo‐ graphie: Wohin geht die Wende zum Raum? “ (2009); Stephan Günzel: „Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn“ (2009); Sigrid Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“ (2002). Eine Zusammenführung der wichtigsten Diskursbeiträge versucht Jörg Döring ed.: Spatial Turn (2008). 92 Cf. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns (2010 [2006]), p. 286; Rudolf Maresch / Niels Werber edd.: Raum - Wissen - Macht (2002), p. 12. 93 Doreen Massey: Space, place and gender (1994), p. 179. Eingang in die aktuelle, deutschsprachige Raumtheorie: So zeichnete sich, wie u. a. Doris Bachmann-Medick feststellt, die deutsche Geisteswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst durch eine skeptisch-zurückhaltende Haltung gegenüber Raumfragen aus, die vor allem auf der historischen Erfahrung der imperialistischen Raum-Politik der Nationalsozialisten beruhte. Erst ab den 1970er Jahren griffen postkoloniale und soziologische Ansätze internationaler Forscher wie Edward Soja, Edward Said, Gayatri Spivak oder Homi Bhabha die analytische Verknüpfung von Raum- und Machtfragen wieder auf und leiteten damit eine (Re)Politisierung von Raum ein. 92 Diese fand durch die Rezeption von Soja et al. auch wieder Eingang in den deutschen Diskurs. Entsprechend wissen wir im 21. Jahrhundert nicht nur um die geopolitische Bedeutung von Kriegen oder der Folgen des Klimawandels, sondern auch um die symbolische Situierung von Macht an bestimmten Orten, wie etwa Regie‐ rungsvierteln oder Finanz-, Wirtschafts- und Technologiezentren. Massey hebt zudem hervor, dass die Situierung von gesellschaftlicher, politischer oder öko‐ nomischer Macht entscheidend von geschlechterspezifischen Prämissen ab‐ hängt und dadurch bis heute eine spezifische Machtverteilung zwischen Män‐ nern und Frauen manifestiert. Grundlegend dafür ist laut Massey eine bis in die Antike zurückreichende Aufteilung in öffentlichen und privaten Raum, der in der westlichen Tradition geschlechterspezifische Machtverteilungen einge‐ schrieben sind: One of the most evident aspects of this joint control of spatiality and identity has been in the West related to the culturally specific distinction between public and private. The attempt to confine women to the domestic sphere was both a specifically spatial control and, through that, a social control on identity. 93 So wurden und werden Frauen durch ihre Limitierung auf den Bereich des Hauses sowohl räumlich als auch in der Ausbildung ihrer Identität kontrolliert. Während Massey in ihren Untersuchungen insbesondere die wirtschaftlichen 43 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="44"?> 94 Mary Beard: Women & Power (2017), p. 4. Auswirkungen dieser geschlechterspezifischen Segregation untersucht, soll in vorliegender Arbeit analysiert werden, inwieweit diese machträumliche Dicho‐ tomie zwischen Männern und Frauen in Onettis Texten reproduziert respektive unterlaufen wird. Im Vordergrund soll dabei die Frage stehen, welche Strategien Frauen-Figuren bei Onetti anwenden, um sich innerhalb eines männlich domi‐ nierten Diskursraums zu behaupten. 2.1 Die Macht der öffentlichen Rede Bezogen auf eben beschriebene räumliche Aufteilung in öffentlichen und pri‐ vaten Bereich liegt ein wichtiger Machtaspekt in der (Un)Möglichkeit sich zu äußern und öffentlich Gehör zu finden. So analysiert die britische Historikerin Mary Beard unter dem Titel Women and Power (2018), wie sich die räumliche Dichotomie von öffentlichem und privatem Bereich auf das Sprechverhalten von Männern und Frauen auswirkt. Beard weist nach, dass Frauen einem seit der Antike immer wieder reproduzierten öffentlichen, d. h. außerhäuslichen Sprech‐ verbot unterliegen, und wie dadurch ein Machtgefälle zwischen Männern und Frauen entsteht. Diese öffentliche Sprach- und damit Machtlosigkeit von Frauen beruhe, so Beard, auf der Tatsache, dass öffentliche Rede und öffentlich Gehör finden Macht bedeuteten - und diese im Umkehrschluss durch Sprechverbote beschnitten werden könne. Als historisches Beispiel für ihre Untersuchungen wählt Beard eine emblematische Episode aus der Homer’schen Odyssee (und liefert damit nebenbei auch ein eindrucksvolles Beispiel feministischen Gegen-den-Strich-Lesens). Sie schildert eine Szene zwischen Penelope, der Frau des Odysseus, und ihrem Sohn Telemachos, in der Penelope einen Barden, der vor ihr und einer Schar Freier traurige Lieder singt, bittet, etwas Fröhlicheres anzustimmen. Ihr Sohn verbietet ihr daraufhin den Mund: ‘Mother’, he says, ‘go back up into your quarters, and take up your own work, the loom and the distaff … speech will be the business of men, all men, and of me most of all; for mine is the power in this household.’ 94 Penelope fügt sich dem Verbot ihres Sohnes und zieht sich zurück. Diese kurze Episode zeigt nicht nur, welche Macht sich Männer seit der Antike Frauen ge‐ genüber herausnehmen, wenn sie ihnen Sprechverbot erteilen, sondern auch die räumlichen Parameter, die starke Dichotomie zwischen öffentlichem und privatem Raum, die mit diesem Verbot verbunden und deren vielfältige sozio‐ 44 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="45"?> 95 Für das öffentliche Sprechverbot der Frauen führt Beard zwei Ausnahmen an. Öffentlich sprechen durften sie demnach entweder als Märtyrerinnen oder als Verteidigerinnen anderer Frauen, Kinder, ihrer Ehemänner oder ihres Haushaltes. Das heißt, Frauen durften kurz bevor sie starben öffentlich die Stimme erheben oder um Ungerechtig‐ keiten zu äußern, die wiederum mit dem Inneren des Hauses, seiner Bewohner*innen und den dortigen Vorkommnissen in enger Beziehung standen. (Cf. Mary Beard: Women & Power (2017), pp. 13, 16) 96 Ibid., p. 17, Hervorh. i. Orig. ökonomische Auswirkungen bis heute sichtbar sind. So verweist Telemachos seine Mutter ins Innere des Hauses (zur Erledigung ihrer eigenen Geschäfte vulgo Hausarbeiten), reklamiert also den öffentlichen Raum für sich und die anderen Männer. Eine Stimme zu haben (im wörtlichen, nicht nur im übertra‐ genen, politischen Sinn) und damit öffentlich Gehör zu finden, bedeutet damit Macht. Keine Stimme zu haben bzw. öffentlich kein Gehör zu finden, bedeutet hingegen Machtlosigkeit. Diese Macht respektive Machtlosigkeit sei, so Beard, klar geschlechterspezifisch organisiert, d. h. Frauen erhielten nicht nur klare Sprechverbote, sondern es galt schlichtweg als ‚unweiblich‘ öffentlich die Stimme zu erheben: 95 [P]ublic speaking and oratory were not merely things that ancient women didn’t do: they were exclusive practices and skills that defined masculinity as a gender. As we saw with Telemachus, to become a man (or at least an elite man) was to claim the right to speak. Public speech was a - if not the - defining attribute of maleness. 96 Das öffentliche Ergreifen des Wortes wurde somit zu einem kulturell konstru‐ ierten ‚männlichen Geschlechtsmerkmal‘ einer männlichen Elite. 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität Während Beards Untersuchungen gezielt auf sprachliche Äußerungen als Aus‐ weis von geschlechterspezifisch organisierter Macht bzw. Ohnmacht ausge‐ richtet sind und damit nur einen Teilaspekt der Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen fokussieren, ist Foucaults Denken einem lebenslangen In‐ teresse an der Beschreibung und Analyse von Wissensstrukturen in ihrer His‐ torizität sowie den daraus resultierenden gesellschaftlichen Macht-Effekten verbunden. Sprich: Foucault fasst sprachliche Äußerungen als einen von vielen Aspekten, die gesellschaftliche Machtbeziehungen abbilden und strukturieren - allerdings ohne expliziten gendertheoretischen Ansatz. Dass Foucaults relatio‐ naler Machtbegriff und in dessen Fortführung seine Konzepte von Biomacht, 45 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="46"?> 97 Die medizinischen Praktiken Bichats wiederum gründen auf der Wiederentdeckung der Untersuchungsmethoden des französischen Arztes Morgagni. Dieser öffnete bereits im 18. Jahrhundert Leichen zum Zweck der individuellen Krankheitsanalyse. Von der Me‐ dizingeschichte sei Morgagni nicht weiter beachtet worden, seine Wiederentdeckung sei „der Gipfel der paradoxen, nicht-linearen Geschichte der ‚Geburt‘ der Klinik […].“ (Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung (2005), p. 58) 98 Diese Annahme folge „dem Mythos des sprechenden Auges“. Foucault konstatiert „[d]ie Logik dieses Blicks, der nur sieht, was die Sprache ihm zu sehen ermöglicht“. Zitiert nach ibid., p. 57. Biopolitik und Gouvernementalität für diese Arbeit dennoch grundlegend sind, soll mit Rückgriff auf einen feministischen Anschluss an seine Schriften in Ka‐ pitel 2.3 nachgezeichnet werden. Es wird zu zeigen sein, dass die Unterteilung in öffentlichen und privaten Raum sowie damit verbundene genderspezifische Machtzuschreibungen auch für Foucaults Überlegungen zur historischen Ge‐ nese des Gouvernementalitätsbegriffs entscheidend sind, insofern dieser auf dem Konzept der Biopolitik oder Biomacht beruht und damit wiederum eng mit dem Aspekt der Reproduktion verknüpft ist. Bevor der Zusammenhang zwischen Biomacht, Biopolitik und Gouverne‐ mentalität näher erläutert wird, werden jedoch zunächst die von Foucault ge‐ prägten Termini Diskurs, Heterotopie und Macht konzeptionell entfaltet. Da‐ durch sollen die Zusammenhänge zwischen Raum und Macht in seinen Schriften sowie die Genese seines Gouvernementalitätsbegriffs deutlich werden. Diskurs Die Vorüberlegungen, die zu Foucaults Diskursbegriff geführt haben, gehen zu‐ rück auf die zeitgleiche Publikation zweier sehr unterschiedlicher Monogra‐ phien. Dies war einerseits die literaturwissenschaftliche Analyse des Gesamt‐ werks von Raymond Roussel (1963) und andererseits die Geburt der Klinik (1963). Was diese beiden, in Methodik und Wissenschaftsdisziplin so verschiedenen Publikationen eint, ist der Gedanke, eine Sache von ihrem Ende her zu be‐ trachten, sprich: den Tod nicht als Ende, sondern als Schlüssel zum Verständnis zu begreifen. In der Geburt der Klinik (1963) ist das der Blick des Mediziners Xavier Bichat auf den Leichnam. 97 Die Krankheit, und gleichsam auch das Leben, werden demnach erst im Stillstand des Todes sichtbar. Das Auge des Pathologen lasse sich dabei nicht von sprachlichen Vorgaben (d. h. von Dingen, die er bereits wissen muss, wenn er sie benennt) 98 , sondern vielmehr von einem Blick leiten, der die räumlichen Anordnungen der (gesunden wie kranken) Gewebe in einem Körper aufnimmt. Durch die Reihung und Vergleiche dieser Anordnungen und Muster gelange der Arzt zu einem Verstehen der Krankheit. Auch in der litera‐ turwissenschaftlichen Studie gelinge das Begreifen der Texte erst durch ein 46 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="47"?> 99 Ibid., p. 61. 100 Ibid., p. 69. 101 Michel Foucault: Archäologie des Wissens (2016 [1969 franz.]), p. 610. 102 Zu den engen thematischen Verschränkungen zwischen historischer Diskursanalyse und der Literatur sei auf Achim Geisenhanslükes Monographie Gegendiskurse (2008) verwiesen. Der Autor betrachtet die Thematik darin aus zwei Blickwinkeln: Einerseits untersucht er die Funktion, die Literatur im Laufe der Foucault’schen Theoriebildung im Kontext seiner Archäologie einnahm, und andererseits fragt er „nach der Bedeutung der Diskursanalyse für die Literaturwissenschaft“. (Achim Geisenhanslüke: Gegendis‐ kurse (2008), p. 8) Dabei erörtert er keine konkreten Anwendungsmöglichkeiten der Diskursanalyse für die literaturwissenschaftliche Arbeit, sondern sondiert vielmehr das Problemfeld, das sich aus der Annahme eröffnet, Literatur sei nicht als Gegenstand der Diskursanalyse, sondern per se bereits als „eine Art Gegendiskurs“ (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (2016 [1966 franz.]), p. 80) zu betrachten. (Cf. Achim Geisenhanslüke: Gegendiskurse (2008), pp. 7-9) posthum veröffentlichtes Supplement. Erst die Negation der Autorfigur und damit ein Stillstand, ein Abgeschlossen-Sein des Textes, öffneten dem / r Wis‐ senschaftler*in den Zugang zum Werk. Sarasin expliziert das Verhältnis dieser beiden „Todes-Figuren“ in Foucaults Arbeiten folgendermaßen: Das heißt nicht, dass dieser Tod bei Bichat und der Tod bei Roussel ein und dasselbe wären - aber es bedeutet, dass Foucault diese Figuren des Todes in seinen beiden am selben Tag erschienenen Büchern verdoppelt und analog setzt. Der Tod, das ist bei Roussel und bei Bichat ‚der einzige Schlüssel‘ […]. 99 Entscheidend für die Diskursanalyse ist also die Tatsache, dass eine Sache, die untersucht und verstanden werden soll, zum Zeitpunkt der Untersuchung dem zeitlichen Verlauf bereits entzogen wurde. „Die Diskursanalyse verlangt,“ so Sa‐ rasin, „[…] dass das Objekt der Analyse tot sei: Dass die Texte, die der Diskurs‐ analytiker vor sich hat, nicht mehr vom Sinn der Tradition beseelt werden, son‐ dern als kalte Formen vor ihm liegen und geöffnet werden können. Dann erst […] offenbaren sich die Bedingungen des Ereignisses […] der Aussage, zeigt sich das Individuelle, das, was […] historisch einzigartig ist.“ 100 Den „begrenzten Kommunikationsraum“ 101 , von dem Foucault in diesem Zusammenhang spricht, bildet in vorliegender Arbeit Santa María. Allerdings bleibt darauf hinzuweisen, dass Foucault seine Diskursanalyse zur Erforschung wissenschaftshistorischer Phänomene begründete und damit ein empirisch vermessbares Feld bearbeitete. Die Literatur durch ihre per se vermittelte Gestalt, gelte daher als Sonderform. 102 Sie bilde sozusagen selbst einen Diskurs ab - und die Metafiktion Santa María demnach einen weiteren, eigenen Diskurs. Denn (zumindest moderne) Literatur impliziere immer die Frage nach ihrem Ursprung, nach einer Autorschaft. So arbeitet Foucault in einem Vortrag aus dem Jahre 1969 heraus, dass die Figur des 47 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="48"?> 103 Cf. Michel Foucault: „Was ist ein Autor? “ (2003 [1969 franz.]), pp. 235-260. 104 Michel Foucault: Archäologie des Wissens (2016 [1969 franz.]), pp. 495 sq. 105 Ibid., p. 496. 106 Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung (2005), p. 107. 107 Cf. Ibid., p. 110. Autors ein Spezifikum der Moderne und damit historisch veränderlich sei. 103 Diese Vermittlungsebene, die Literatur überhaupt erst hervorbringe, sei dabei selbst schon in ein Netz unterschiedlicher Diskurse eingebettet, die sie einerseits generiere und die sich andererseits selbst bedingten: Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz. […] Das Buch gibt sich vergeblich als ein Gegenstand, den man in der Hand hat; vergeblich schrumpft es in das kleine Parallelepiped, das es einschließt: seine Einheit ist variabel und relativ. Sobald man sie hinterfragt, verliert sie ihre Evidenz; sie zeigt sich nicht selbst an, sie wird erst ausgehend von einem komplexen Feld des Diskurses konstru‐ iert. 104 Foucault spielt in obigem Zitat auf die Komplexität und grundsätzliche Unab‐ geschlossenheit narratologischer Deutungsansätze an. Komplizierter noch werde die oben genannte Eingrenzung, so Foucault, wenn man sich auf das Werk eines Autors zu beziehen versuche. Denn die scheinbar einfache denotative Verbindung, die der Name des Autors zwischen Text und Person generiert, be‐ dürfe zunächst einer interpretativen Praxis, wie er weiter ausführt. So gelte es genau zu definieren, welche Teile des „ganzen Gewimmel[s] sprachlicher Spuren […], die ein Individuum bei seinem Tod hinterläßt“ 105 nun tatsächlich als Werk zu bezeichnen seien. Foucault gibt keine abschließende Antwort auf diese dringliche Frage, was denn nun ein Werk sei. Die oben zitierte Passage ver‐ deutlicht jedoch noch einmal, wie entscheidend die zeitliche und räumliche Eingrenzung des zu untersuchenden Diskursfeldes ist. Gleichzeitig illustriert sie die Problematik der Subjektzentralität, welche die moderne Literatur durch die Figur des Autors aufweise. Laut Sarasin sei „der Diskurs eine Praxis, in der Sub‐ jekte zugleich ihre Welt gestalten, wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden.“ 106 Foucaults Diskursanalyse sei eine deskriptive Methode, um bestimmte Aussagen an die Oberfläche zu bringen und aus ihrer Reihung eine spezifische Logik abzuleiten. 107 Diskurse bilden demnach eine spezifische Wissensordnung ab. Dieses „im‐ mense[…] Gebiet“ konstituiere sich laut Foucault „durch die Gesamtheit aller 48 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="49"?> 108 Michel Foucault: Archäologie des Wissens (2016 [1969]), p. 500. 109 Eine Möglichkeit, einen Diskurs zu unterlaufen, bilden etwa die alltäglichen, räumli‐ chen Praktiken des Gehens, wie sie der französische Mystiker und Historiker Michel de Certeau (1925-1986) in der Kunst des Handelns beschreibt. De Certeau setzt die in‐ dividuelle Perspektive, die das gehende Subjekt einnimt (von unten), einer hegemo‐ nialen Perspektive (von oben) entgegen. So steht etwa das flaneurhafte Durchschreiten des Stadtraums konträr zu einer überwachenden, totalitären Architektur, wie sie sich in den New Yorker Twin Towers manifestierte. (Cf. Michel de Certeau: Kunst des Han‐ delns (1988 [1980 franz.]), pp. 179-182) 110 Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung (2005), p. 98. effektiven Aussagen (énonces) (ob sie gesprochen oder geschrieben worden sind, spielt dabei keine Rolle) in ihrer Dispersion von Ereignissen und in der Ein‐ dringlichkeit, die jedem eignet […]“ 108 . Diskurse bilden eine Ansammlung von Äußerungen, Verboten und Geboten und sind stets auf ein bestimmtes Wis‐ sensfeld bezogen, etwa die Medizin, die Ästhetik, die Gesellschaftspolitik etc. Foucaults Diskurs-Begriff ist also nicht auf die Sprache begrenzt, sondern weist darüber hinaus, d. h. er generiert sich ebenso aus dem Nicht-Gesagten, aus Handlungen und Verboten, die innerhalb einer bestimmten Gruppe oder inner‐ halb eines bestimmten Feldes praktiziert werden. Einzelne Diskurse können sich palimpsestartig überlagern, bestärken oder unterlaufen. 109 Das heißt auch, dass ein bestimmter Diskurs als hegemonial betrachtet werden kann, er also eine bestimmte Dominanz über andere Diskurse ausübt. Diskurse bilden damit auch ein bestimmtes Machtgefüge ab, das sich wiederum auch räumlich verorten lässt. Foucault verwendet dafür den Begriff der Heterotopie. Heterotopie Die Heterotopie bezeichnet nach Foucault eine Raumfigur, welche die Struk‐ turen von gesellschaftlichen Normen und insbesondere deren Grenzziehungen sichtbar mache, und wenn Sarasin in seiner Foucault-Einführung auf die „Pa‐ rallelität von Diskursstrukturen und Raumstrukturen“ hinweist, dementspre‐ chend die Heterotopie „ebenso die Ordnung bzw. eben Un-Ordnung eines Wis‐ sens bezeichnet wie auch eine räumliche Struktur, eine architektonische, eine topologische Anordnung“ 110 , spielt er damit auf die doppelte Verwendung des Heterotopie-Begriffs bei Foucault an. Dieser sei einerseits aus der Literatur ab‐ geleitet, wie Foucault mit Rückgriff auf Jorge Luis Borges‘ „Chinesische Enzyk‐ lopädie“ in der Einleitung zu Die Ordnung der Dinge (2016 [1966 franz.]) schreibt, und andererseits aus einem fundamental räumlich-soziologischen Denken, wie in seinem Aufsatz Von anderen Räumen (2006 [1984 franz.]) deutlich wird. Aus‐ gangsfrage für die Konzeption des Heterotopie-Begriffs sei die Frage nach der „zugrunde liegenden Ordnungsstruktur, d. h. d[er] Art und Weise, wie mögliche 49 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="50"?> 111 Ibid., p. 98. 112 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (2016 [1966 franz.]), p. 24, Hervorh. i. Orig. 113 Der Aufsatz beruht auf der erweiterten Niederschrift eines Radiovortrags (Michel Fou‐ cault: Die Heterotopien (2014 [1966 franz.]), pp. 7-22), den Foucault im März 1967 im Cercle d’études architecturales gehalten hatte. (Cf. Michel Foucault: „Von anderen Räumen“ (2006 [1984 franz.]), p. 328) 114 Ibid., p. 320. Elemente von Wissen klassifiziert, gruppiert, aufgereiht und miteinander in Be‐ ziehung gesetzt werden.“ 111 Am Beispiel der „Chinesischen Enzyklopädie“ von Borges weist Foucault einer Ordnung, die außerhalb unseres Wissens bzw. un‐ serer Erfahrung liegt, einen Ort zu. Er schreibt: Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich, weil sie heimlich die Sprache unter‐ minieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemein‐ samen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ‚Syntax‘ zerstören und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ‚zusammenhalten‘ läßt. 112 Dieser Grundgedanke der Nebeneinander-Reihung, der in obigem Zitat verba‐ lisiert wird, ist für die vorliegende Arbeit von immenser Bedeutung. Denn Onettis Texte verweisen, wenn auch nicht in gleichem Maße offensichtlich wie Borges‘ fiktive Enzyklopädie, so doch kontinuierlich auf eine spezifische (in diesem Fall patriarchale) Ordnungsstruktur, die in Kapitel 4 noch ausführlich erläutert und deren narrative Syntax nur im Kontext des Onetti’schen Gesamt‐ werks begreiflich wird. Innerhalb dieser Struktur wirken weibliche Widerstän‐ digkeiten als syntaktische ‚Störerinnen‘. Einige Jahre später transferiert Foucault seinen Heterotopie-Begriff in einen urbanistischen Kontext und weist diesen ‚Störerinnen‘ bzw. Störungen eigene Orte zu: In seinem programmatischen Aufsatz „Von anderen Räumen“ 113 defi‐ niert er Heterotopien als reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte […] zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. 114 Das heißt, Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm lassen sich im realen Raum verorten. Dies geschieht durch, je nach kulturellem Kontext verschiedene Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung. Im fünften Kapitel dieser Arbeit wird daher nicht nur zu untersuchen sein, in welcher Form sich weibliche Figuren 50 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="51"?> 115 Krisenheterotopien sind demnach „Orte, die solchen Menschen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in denen sie leben, in einem Krisenzustand befinden.“ (Ibid., p. 322) Als Beispiele führt er an: „[…] Heran‐ wachsende, Frauen während der Monatsblutung, Frauen im Kindbett, Greise usw.“ (Ibid., p. 322) 116 Cf. Ibid., p. 322. 117 Ibid., p. 322, eig. Hervorh. 118 In dem ursprünglichen Vortrag „Die Heterotopien“ fehlt das sechste Merkmal noch; es wurde erst für den Radiobeitrag im urbanistischen Kontext hinzuzugefügt. 119 Cf. Ibid., pp. 321 sq. 120 Cf. Ibid., pp. 322 sq. 121 Cf. Ibid., p. 324. Auf dieses Kriterium stützt sich grundlegend Cánovas’ Untersuchung des Bordells als heterotoper Ort bei Onetti im Vergleich zu Bordelldarstellungen in anderen literarischen Werken. (Cf. Rodrigo Cánovas: Sexualidad y cultura en la novela hispanoamericana (2003), insb. pp. 13-37) bei Onetti dem patriarchalen System widersetzen, sondern auch, an welchen Orten diese Handlungen lokalisiert - und in diesem Sinne dort (und nur dort! ) auch gesellschaftlich geduldet - sind. Die Heterotopie beschreibt damit eine Raumfigur, die eine gesellschaftliche Abweichung vom Inneren des Diskurses durch Abgrenzung in ein ‚Außen‘ verlagert. Je nachdem, unter welchen kulturellen Prämissen diese Grenzziehung voll‐ zogen wird, unterscheidet Foucault Krisen- und Abweichungsheterotopien. Ers‐ tere seien vor allem in Kulturen zu finden, die Raum dichotomisch organisieren, etwa über die Zuschreibungen ‚heilig‘ und ‚profan‘ oder ‚privilegiert‘ und ‚ver‐ boten‘ - oder, wie sich hinzufügen ließe, ‚privat‘ und ‚öffentlich‘. 115 In modernen Gesellschaften, so Foucault weiter, seien diese Formen der Raumaufteilung und damit die Krisenheterotopien jedoch „im Verschwinden begriffen“. 116 Abgelöst würden sie von Abweichungsheterotopien. Diese bezeichneten „Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“ 117 . Insgesamt führt Foucaults sechs Punkte an, um die Merkmale und Modali‐ täten, die eine Heterotopie konstituieren, zu beschreiben. 118 Zunächst bezeichnet er das Hervorbringen von Heterotopien als „eine Konstante aller menschlichen Gruppen“. 119 Deren potentielle Veränderlichkeit bezüglich ihrer Funktions- und Bedeutungsweise im Laufe der Zeit bilde den zweiten Grundsatz. 120 Für die vor‐ liegende Arbeit bedeutet das, zu zeigen, welche Orte in Onettis Texten überhaupt als ‚Gegenorte‘ wirksam werden. Der dritte Grundsatz handelt von der räumli‐ chen Vereinbarkeit eigentlich nicht vereinbarer Orte an einem einzigen Ort. 121 Ein viertes Charakteristikum stellt die zeitliche Komponente in Form einer He‐ terochronie dar. Jede Heterotopie funktioniere demnach über „einen absoluten 51 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="52"?> 122 Michel Foucault: „Von anderen Räumen“ (2006 [1984 franz.]), p. 324. 123 Cf. Michel Foucault: Die Heterotopien (2014 [1966 franz.]), pp. 16 sq.; Michel Foucault: „Von anderen Räumen“ (2006 [1984 franz.]), pp. 324 sq. 124 Ibid., pp. 325 sq. 125 Ibid., p. 326. 126 Ibid. Bruch mit der traditionellen Zeit“ 122 . Foucault unterscheidet dabei zwischen „ewigkeitsorientierten“ Heterotopien, wie etwa dem Friedhof oder der Biblio‐ thek einerseits, und „zeitweiligen“, d. h. temporär begrenzten bzw. repetitiven Heterotopien, wie etwa dem Jahrmarkt oder dem Theater andererseits. 123 In Ka‐ pitel 5.3 dieser Arbeit wird es jedoch weniger um die damit beschriebene ‚Ak‐ kumulation‘ von Zeit gehen, sondern vielmehr um die Frage, über welche Zeit‐ spanne genderspezifische Heterotopien bei Onetti wirksam sind bzw. ob sich überhaupt ein entsprechender ‚Wirkungszeitraum‘ definieren lässt. Der fünfte Grundsatz handelt von den praktischen Zugangsmodalitäten einer Heterotopie. Er setzt „ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie [die Hete‐ rotopie, eig. Anmk.] isoliert und zugleich den Zugang […] ermöglicht“ 124 . Mit anderen Worten: Eine Heterotopie ist kein willkürlich wählbarer Ort, sondern bestimmten gesellschaftlichen Mechanismen und Gesetzen der Abgrenzung un‐ terworfen, die den Zugang reglementieren - die Modalitäten dieser ‚Einlassbe‐ schränkungen‘ sind wiederum abhängig von der jeweiligen Bedeutungszu‐ schreibung und dem gesellschaftlichen Kontext, in dem eine Heterotopie zum Tragen kommt. Der sechste und letzte Grundsatz beschreibt das Verhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung - und rekurriert damit auch stärker als alle anderen Charakteristika auf hegemoniale Machtverhältnisse. So gibt es einerseits die Heterotopien, wie etwa die Bordelle, die „einen illusionären Raum schaffen, der den realen Raum […] als noch größere Illusion entlarvt“ 125 , d. h. einen Illusions‐ raum, der die Ordnung des realen Raums unterläuft. Das Gegenstück dazu bildet die „kompensatorische Heterotopie“, wie sie etwa in den Kolonien des 17. Jahr‐ hunderts verwirklicht wurde und die sich durch „vollkommene Ordnung“ im Gegensatz „zur wirren Unordnung“ des realen Raumes ausweist. 126 Über die Analyse weiblicher Widerständigkeiten in Kapitel 5 dieser Arbeit wird daher auch zu diskutieren sein, in welchem Verhältnis der fiktive Raum der Großstadt (Buenos Aires und Montevideo) und der metafiktive Raum Santa María zuei‐ nander stehen. 52 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="53"?> 127 Cf. auch Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung (2005), p. 122. 128 Cf. Michel Foucault: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (2002 [1971 franz.]), pp. 166-190. 129 Bezogen auf die Archäologie des Wissens konstatiert Sarasin, dass „Foucaults gesamte Analyse auf der Ablehnung des Subjekts als der den Sinn von Texten und Aussagen begründenden und garantierenden Instanz“ basiere. (Cf. Philipp Sarasin: Michel Fou‐ cault zur Einführung (2005), p. 106) 130 Michel Foucault: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (2002 [1971 franz.]), p. 176. 131 Ibid., p. 177. 132 Ibid. 133 Cf. Michel Foucault: Analytik der Macht (2005 [1994 franz.]), pp. 71, 81. Macht Wie bereits in den Ausführungen über die Heterotopien angeklungen, ist jede gesellschaftliche Ordnung von spezifischen Machtstrukturen geprägt. 127 So kon‐ stituiert sich nach Foucault ein Machtgefüge allein darüber, dass es Dinge gibt, die offen zirkulieren, und andere, die nicht offen zirkulieren, sondern vermittels der Diskursanalyse erst als Negation an die Oberfläche befördert werden müssen. Die Verknüpfung des Foucault’schen Diskursbegriffs mit seinem rela‐ tionalen Machtbegriff verläuft jedoch nicht geradlinig, sondern geht mit einem radikalen Umbruch in seinem Denken einher, sprich: Foucault wird vom Ar‐ chäologen zum Genealogen. Diese Ruptur lokalisiert Sarasin in einem Aufsatz, den Foucault 1971 über Friedrich Nietzsches programmatische Frage ‚Wer spricht? ‘ verfasst hatte. 128 Auch wenn Foucault einen normativen Subjektbegriff nach wie vor ablehnt und das Subjekt weiterhin als historisch Geformtes be‐ greift, kommt er nicht umhin, die Machtfrage auf das Subjekt bezogen neu zu stellen. 129 Er spricht dabei von einer Bühne, auf der dasselbe Stück immer wieder gespielt werde, „jenes Stück nämlich, das Herrscher und Beherrschte unablässig aufführen“ 130 . „Die Regel“ dafür sei, „die kalkulierte Lust am Gemetzel und die Hoffnung auf Blut“. 131 Letztendlich läuft diese Machtfrage auf ein Durchsetzen des Stärkeren hinaus: Das große Spiel der Geschichte dreht sich um die Frage, wer sich der Regeln bemäch‐ tigt; wer an die Stelle derer tritt, die sie für sich nutzen; wer sie am Ende pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt und gegen jene wendet, die sich einst durchsetzten […]. 132 Macht stellt bei Foucault demnach ein historisch veränderbares, relationales Konstrukt dar, das nur innerhalb eines bestimmten Diskurses betrachtet werden kann. Macht-Raum-Relationen bildeten gesellschaftliche Hierarchien ab und vice versa. Foucaults Machtbegriff ist damit relational und deskriptiv. 133 Anstatt nach Legitimierung, Ursprung oder Grenzen der Macht zu forschen, untersucht 53 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="54"?> 134 Ibid., p. 144. 135 Michel Foucault: Überwachen und Strafen (2016 [1975 franz.]), p. 907. 136 Demnach erscheinen in Onettis Dejemos hablar al viento (1979) zwei Lesarten bezüglich der fiktiven Autorschaft plausibel: Einerseits könnte der fiktive Autor des zweiten Teils weiterhin Brausen als omnipotente Schöpferfigur (später in Gestalt des Richters auch auf Ebene der Diegese sichtbar) sein. Andererseits lässt der Text auch die Lesart zu, dass das Santa María des zweiten Teils von Dejemos hablar al viento (1979) von Kommissar Medina erfunden wurde. Die Macht der Fiktionserzeugung ist damit nicht mehr an eine bestimmte Figur gebunden, gleichzeitig bleibt der Gegenstand, der zu erfinden und in diesem Sinne auch zu gestalten ist, gleich. Die Identität des Erzählers wird damit fluide und der Text lässt offen, welche Autorfigur für den zweiten Teil von Dejemos hablar al viento (1979) verantwortlich zeichnet. Weiter ausgeführt wird dieser Gedanke in Ka‐ pitel 3.5 dieser Arbeit. Foucault spezifische „Machttechniken“ 134 . Er fragt also nach dem WIE der Macht. Der Foucault’sche Machtbegriff eignet sich damit sehr gut für die Un‐ tersuchung genderspezifischer Machtstrukturen, wie diese Arbeit in den Kapi‐ teln 4 und 5 zeigen wird, insofern durch den relationalen Charakter von Macht nicht nur eindimensionale Strukturen, sondern auch machtbesetzte Wechsel‐ wirkungen innerhalb der Geschlechterverhältnisse bei Onetti herausgearbeitet werden. Ein weiterer Aspekt des Foucault’schen Machtverständnisses, der sich aus der Relationalität ergibt und eben dieses für die nachstehende Textanalyse so fruchtbar macht, ist die Frage nach der Verortung von Macht. So argumentiert Foucault aus einer historischen Perspektive, dass sich Macht im Laufe der Neu‐ zeit von einem ausübenden Subjekt gelöst und zu einem komplexen gesell‐ schaftlichen Konstrukt verändert hat. Demnach wird eine bis ins 17./ 18. Jahr‐ hundert gültige subjektabhängige Machtposition von einer relationalen abgelöst: Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur […] Folglich hat es wenig Bedeutung, wer die Macht ausübt. 135 Die alles erfassende Beobachterposition könne folglich von jeder beliebigen Person eingenommen werden und ist nicht mehr an einen bestimmten Herr‐ schaftskörper, wie etwa den des Königs gebunden. 136 Analog dazu lässt sich bei Onetti eine „Erzählmacht“ herausarbeiten, die insbesondere in den späten Texten nicht mehr zwingend einer Figur zugeordnet werden kann, sondern sich aus dem Textgeflecht selbst ableitet. Im vierten Kapitel wird dieser Gedanke weiter ausgeführt. Nach Foucault wird Macht also nicht mehr von einer bestimmten Person auf ein Objekt ausgeübt, wie etwa die Macht, die ein mittelalterlicher Herrscher durch das System der Leibeigenschaft auf einzelne Untertanen ausübte, sondern 54 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="55"?> 137 Cf. Michel Foucault: Analytik der Macht (2005 [1994 franz.]), p. 99. 138 Cf. Ibid., p. 93. 139 Ibid., p. 146. 140 Cf. Ibid., p. 78. 141 Ibid., p. 93. besteht aus einem Geflecht zwischen Personen und Institutionen. Grundlegend sei dabei die Freiheit aller Beteiligten sowie der Körper als (neben dem Raum) wichtigster Referenzpunkt der Macht. Da sie den Körper durchdringe, sei Macht ohne Körper grundsätzlich nicht denkbar. Sämtliche Maßnahmen zur Diszipli‐ nierung einer Gesellschaft oder Normierung von Subjekten adressierten den Körper. Dies wiederum führt Foucault auf Machttechniken zurück, die ab dem 17./ 18. Jahrhundert „Produktion und Leistung“ durch den Einsatz des Körpers zum Ziel hatten. 137 Diese Machttechniken beruhten, wie er weiter ausführt, auf einer Ansammlung von Wissen über den Körper. Eine entscheidende Verbin‐ dungsachse in der Foucault’schen Terminologie verläuft folglich zwischen den beiden Polen Macht und Wissen und verweist damit auch auf die von ihm stets als positiv herausgestellte Produktivität von Macht. 138 Das produktive Wechsel‐ spiel von Wissen und Macht fasst er folgendermaßen: Seit Plato weiß man, dass das Wissen nicht völlig unabhängig von der Macht existieren kann. […] Man kann den wissenschaftlichen Fortschritt nicht denken, ohne die Me‐ chanismen der Macht zu denken. 139 Damit grenzt er sich deutlich von einem negativen (paramarxistischen) Macht‐ begriff ab, der allein über Methoden der Unterdrückung, „der Zensur, der Aus‐ schließung, der Absperrung, der Verdrängung“, gefasst wird: 140 Dass die Macht Bestand hat, dass man sie annimmt, wird ganz einfach dadurch be‐ wirkt, dass sie nicht bloß wie eine Macht lastet, die Nein sagt, sondern dass sie in Wirklichkeit die Dinge durchläuft und hervorbringt, Lust verursacht, Wissen formt und einen Diskurs produziert; man muss sie als ein produktives Netz ansehen, das weit stärker durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurchgeht als eine negative Instanz, die die Funktion hat zu unterdrücken. 141 Er betont damit das hervorbringende, stabilisierende Wirkpotential von Macht. Denn je produktiver, d. h. je stärker gesellschaftlich vernetzt, desto beständiger sei Macht. Über die Betonung der Produktivität von Macht, die wiederum auf einem umfassenden Wissen über den Körper basiere, gelangt Foucault schließ‐ lich auch zur Ausarbeitung der Begriffe Biomacht, Biopolitik und Gouverne‐ mentalität, vermittels derer zum einen die Geschlechterverhältnisse innerhalb des Analysekorpus diskutiert und zum anderen im Schlusskapitel der vorlie‐ 55 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="56"?> 142 Wie sehr Foucault die Frage der Reproduktion innerhalb der gesellschaftlichen Ord‐ nung schon in frühen Schriften beschäftigt, zeigt folgendes Zitat aus seinem Aufsatz über die Heterotopien: „Noch konkreter stellt sich das Problem des Platzes oder der Lage für die Menschen auf dem Gebiet der Demographie. Und dabei geht es nicht nur um das - wahrhaftig sehr wichtige - Problem, ob die Menschen genug Platz auf der Erde haben, sondern auch um die Frage, welche Nachbarschaftsbeziehungen, welche Form der Speicherung, der Zirkulation, des Auffindens und der Klassifikation der menschlichen Elemente in bestimmten Situationen eingesetzt werden sollten, wenn man bestimmte Ziele erreichen will. Wir leben in einer Zeit, in der sich uns der Raum in Form von Relationen der Lage darbietet.“ (Michel Foucault: „Von anderen Räumen“ (2006 [1984 franz.]), p. 318.) Indem er auf die ‚Zielsetzungen‘ verweist, offenbart er seine implizite Suche nach einer ordnenden Staatsmacht, die sein anarchistisches, relationales Machtkonzept bereits von Beginn an brüchig erscheinen lässt. 143 Michel Foucault: Analytik der Macht (2005 [1994 franz.]), p. 78. genden Arbeit der dargestellte Reproduktionsdiskurs in Onettis Texten in einem außerliterarischen gesellschaftspolitischen Kontext verorten werden soll. Nach Foucault materialisierte sich Wissen an spezifischen institutionellen Orten einer Gesellschaft - und konstituiert damit kulturelle Hegemonien: 142 Ein Wissen über den Körper hat man erst über ein komplexes Ganzes von militär‐ ischen und schulischen Disziplinen ausbilden können. Erst von einer Macht über den Körper aus war ein physiologisches, organisches Wissen möglich. 143 Diese enge Beziehung zwischen Wissen über den Körper und Macht über den Körper wird in Onettis Erzählwerk insbesondere auf Frauenkörper bezogen dargestellt. Durch die Figur des Arztes in Verbindung mit der Thematisierung von Schwangerschaftsabbrüchen rückt der weibliche Körper als potentielles Reproduktionsinstrument in den Fokus. Der wissende medizinische Blick auf den weiblichen Körper konkurriert dabei mit einem christlichen Reprodukti‐ onsdogma, das die Figur des Pfarrers pars pro toto durch institutionelle Diszip‐ linierung des weiblichen Körpers und weiblicher Sexualität durchzusetzen ver‐ sucht. Die Wirkweise dieser Maßnahmen und entsprechende weibliche Gegenstrategien werden im fünften Kapitel näher analysiert. Biomacht, Biopolitik und Gouvernementalität Mithilfe der Begriffe Biomacht, Biopolitik und Gouvernementalität soll in vor‐ liegender Arbeit also untersucht werden, inwiefern die dysfunktionale Darstel‐ lung von Reproduktion und Elternschaft bei Onetti genderspezifischen Macht‐ technologien unterworfen ist und wie dieser literarische Diskurs letztlich in einen außerliterarischen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt werden kann. Oder als Forschungsfrage formuliert: Wer prägt die reproduktiven Normen in‐ nerhalb Santa Marías, welche Rolle spielt dabei das christliche Geschlechter‐ 56 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="57"?> 144 Cf. Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung (2005), pp. 153, 166 sq. 145 Ibid., p. 161. 146 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen (2016 [1976 franz.]), p. 1139. verständnis und an welchen Stellen wird der gesellschaftliche Reproduktions‐ diskurs unterlaufen? Der Weg von einem relationalen Machtverständnis in Foucaults frühen Texten zum Begriff der Biomacht in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität verläuft über die Sexualität. So wirkt Macht nach Foucault nicht nur produktiv in Bezug auf Wissen, sondern auch auf Sexualität und insofern potentiell auf Reproduktion. Macht bringe, wie Sarasin feststellt, nicht nur Wissen und spe‐ zifische Wissensdiskurse hervor, sondern bestimme etwa auch das Verhältnis zwischen Sexualpartner*innen - woraus sich wiederum ein grundlegendes (me‐ dizinisches) Wissen um Sexualität als solche ableiten lasse: 144 „Um seine - auch persönliche - Frage nach der Erotik der Macht zu klären, will Foucault zeigen, dass die Macht in der Moderne eine ‚Sexualität‘ erzeugt, um den Körper zu be‐ herrschen.“ 145 Unter dieser Prämisse soll im fünften Kapitel dieser Arbeit weib‐ liche Sexualität, deren Funktion innerhalb eines männlich dominierten Dis‐ kursraums sowie deren Verortung innerhalb des Stadtraums diskutiert werden, sprich: An welchen Orten in Santa María ist weibliche Sexualität überhaupt zugelassen und wo wirkt sie zudem subversiv? Diese Fragen geben wiederum Aufschluss über die Organisation des gesellschaftlichen Machtdiskurses inner‐ halb Santa Marías, insofern Sex und ein daraus abgeleitetes Sexualitätsdispositiv nach Foucault einerseits zu wichtigen Bezugspunkten für Subjektivierungspro‐ zesse und andererseits zu entscheidenden Faktoren einer so genannten Bio‐ macht oder Biopolitik werden: [D]er Sex […] bildet das Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der po‐ litischen Technologie des Lebens. Einerseits gehört er zu den Disziplinen des Körpers: Dressur, Intensivierung und Verteilung der Kräfte, Abstimmung und Ökonomie der Energien. Andererseits hängt er aufgrund seiner Globalwirkungen mit den Bevölke‐ rungsregulierungen zusammen. […] Er gibt […] Anlaß zu umfassenden Maßnahmen, zu statistischen Schätzungen, zu Eingriffen in ganze Gruppen oder in den gesamten Gesellschaftskörper. Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie [vermittels der Reproduktion, eig. Anmk.] zum Leben der Gattung. 146 Das Sexualitätsdispositiv hält Foucault damit nicht nur bezogen auf die ein‐ zelnen Körper und die vielfältigen Formen ihrer Disziplinierung (etwa durch Lehranstalten, Militärschulen etc.) für wichtig, sondern auch in Bezug auf ganze Gesellschaften. Sofern der einzelne Körper adressiert wird, handelt es sich dabei vor allem um sexuelle Identität und verschiedene Formen des Begehrens - ob‐ 57 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="58"?> 147 Ibid., p. 1029. 148 Ibid., p. 1135. schon Foucault sich mit der Ausbildung von sozialem Geschlecht nicht eingeh‐ ender befasst -, sofern der Gesellschaftskörper betroffen ist, liegt die Betonung auf der gattungserhaltenden Funktion der biologischen Reproduktion. In Der Wille zum Wissen (2016 [1976]) arbeitet Foucault etwa die bürgerliche Ehe als gesellschaftlich normierten Ort für die Sexualität heraus. Er konstatiert, dass Sexualität „von der Kleinfamilie konfisziert [werde] und […] ganz im Ernst der Fortpflanzung auf[gehe]“, und fährt fort: Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz. Es setzt sich als Modell durch, es stellt die Norm auf und verfügt über die Wahrheit […]. Im gesellschaftlichen Raum sowie im Innersten jeden Hauses gibt es nur einen Ort, an dem die Sexualität zuge‐ lassen ist - sofern sie nützlich und fruchtbar ist: das elterliche Schlafzimmer. […] Wo aber das Unfruchtbare weiterbestehen und sich zu offen zeigen sollte, erhält es den Status des Anormalen und unterliegt dessen Sanktionen. 147 Foucault ordnet damit sexuellen Praktiken nicht nur einen symbolischen Ort, die bürgerliche Ehe, zu, sondern auch einen physischen, das eheliche Bett. Das Bordell als Ort außerehelichen Geschlechtsverkehrs, der nicht auf Reproduktion ausgerichtet ist, sondern vielmehr auf dem ökonomischen Dienstleistungs‐ prinzip beruht, wird durch die Normierung der Ehe und des Ehebettes folglich zur Heterotopie. Außerdem impliziert das obige Zitat, dass gesellschaftlich nor‐ mierter Sex zwischen Männern und Frauen, also heteronormativ organisiert, stattzufinden habe, da er allein auf das Ziel biologischer Reproduktion ausge‐ richtet sei. Alle sexuellen Praktiken, die von dieser Norm abweichen, würden als ‚anormal‘ begriffen und dementsprechend staatlich sanktioniert. Die Nor‐ mierung der Sexualität zur Vermehrung und Sicherung der Ressource Bevölke‐ rung korreliere, wie Foucault feststellt, zudem mit der Entwicklung des Kapi‐ talismus: Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die An‐ passung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden auch durch die Ausübung der Bio-Macht in ihren viel‐ fältigen Formen und Verfahren ermöglicht. Die Besetzung und Bewertung des leb‐ enden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte waren unentbehrliche Voraussetzungen. 148 Die staatliche Macht, die Foucault in seinen Überlegungen zur Biomacht be‐ schreibt, sei damit zwar eine ‚von oben‘ ausgeführte Macht, allerdings generiere 58 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="59"?> 149 Cf. Ibid., insb. p. 1134. 150 Foucaults Verständnis von Gouvernementalität fragt nicht nach einer spezifischen Form des modernen Staates, sondern zeichnet die reziproke Entwicklung einer Staatsmacht nach, die nicht mehr das Territorium (wie das durch den Souverän repräsentierte Ge‐ setz) adressiert, sondern Strategien der Disziplinierung, die auf den einzelnen Körper ausgerichtet sind, sowie Sicherheitsdispositive, die auf den Erhalt der Bevölkerung zielen: „Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durch‐ dringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine ‚politische Anatomie‘, die auch eine ‚Mechanik der Macht‘ ist, ist im Entstehen. Sie definiert, wie man Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: […]. Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Dis‐ ziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen).“ (Cf. Michel Foucault: Überwachen und Strafen (2016 [1975 franz.]), pp. 837-844, cit. p. 840) 151 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen (2016 [franz. 1976]), p. 1131, Hervorh. i. Orig. sie sich diskursiv über verschiedene Dispositive des Lebendigen. Das heißt, eine Staatsmacht, welche die Verfasstheit der Bevölkerung als Richtschnur be‐ trachtet, werde auch von ökonomischen Dispositiven beeinflusst und vice versa. Diese seien wiederum nicht starr festgelegt, sondern historisch verän‐ derbar. Die Begriffe Biomacht und Biopolitik verwendet Foucault in seinen Ausfüh‐ rungen überwiegend synonym. 149 In Der Wille zum Wissen (2016 [1976 franz.]) beschreibt er den historischen Wandel von einer Souveränitätsmacht, die auf den Staatskörper als Ansammlung von Untertanen baut, und einer Biomacht oder Biopolitik, die den Gesellschaftskörper als biologische Einheit und vor allem Ressource begreift. Damit geht auch eine fundamentale Verschiebung in Bezug auf Leben und Tod einher, denn während die Souveränitätsmacht noch auf den Tod als Disziplinierungsmaßnahme einzelner Subjekte setzte, folgt die Biopolitik der Prämisse, Leben zu erhalten und vielmehr dessen Entstehen und Ausprägung mithilfe verschiedener Machttechniken zu disziplinieren. 150 Fou‐ cault schreibt dazu: Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt - oder zurückhält. Er offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu verlangen er imstande ist. Das sogenannte Recht ‚über Leben und Tod‘ ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen. Sein Symbol war ja das Schwert. 151 Die fundamentale Machttechnologie des Souveräns richtete sich folglich gegen die Körper Einzelner. Er entschied, ob ein Untertan sein Leben weiterführen durfte oder nicht. In letzterem Fall stehe das Schwert des Souveräns symbolisch 59 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="60"?> 152 Ibid., p. 1138. 153 Cf. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I (2017 [1978 franz.]), pp. 240 sqq., cit. p. 242. 154 Ibid., p. 151. 155 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen (2016 [1976 franz.]), p. 1134, Hervorh. i. Orig. für dessen physische Potenz, das Leben eines Untertanen zu beenden. Diese Macht des Souveräns markiert „die Grenzlinie […], die die gehorsamen Unter‐ tanen von den Feinden des Souveräns scheidet“ 152 . Im Gegensatz dazu richte sich Biopolitik auf den Fortbestand eines biologischen Gesellschaftskörpers, der sich aus vielen einzelnen Körpern zusammensetzt. Damit änderten sich auch die Techniken der Macht: Aus einer (mit dem Tod) strafenden wird eine leitende, führende Herrscherinstanz, die sich stark an der christlichen Pastoralmacht ori‐ entiert, die bei Onetti durch die Figur des Pfarrers Antón Bergner verkörpert wird und im 16./ 17. Jahrhundert als „eine Kunst, die Menschen zu regieren“ Eingang in das moderne Staatswesen fand. 153 Mit Rückgriff auf die Anti-Machi‐ avellistischen Schriften Guillaume de La Perrières betont Foucault, „daß der wahre Führer keinen Stachel brauche, das heißt kein Werkzeug, um zu töten, kein Schwert, um seine Regierung auszuüben. Er muß eher Geduld haben als Zorn, oder mehr noch: Nicht das Recht, zu töten, nicht das Recht, seine Stärke geltend zu machen darf das Wesentliche einer Führungsperson sein.“ 154 Die Bi‐ omacht des modernen Staates setzt damit weit früher an, indem sie sich grund‐ sätzlich um eine Vermehrung, Erhaltung und Verwaltung der eigenen gesell‐ schaftlichen ‚Biomasse‘ bemüht. Statt in Getreue und Staatsfeinde zu scheiden, normiere und ordne die Biomacht die einzelnen Gesellschaftskörper zu einem großen Ganzen: Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. […]. [Sie] charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist. Die alte Mäch‐ tigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, wird nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens. 155 Biomacht operiert damit vermittels eines Wissens über die Lebensumstände. Sie generiert ihre Wirkmächtigkeit über eine Verwaltung des Lebendigen - im Ge‐ gensatz zu einer Verfügungsgewalt über den Tod, wie sie der Souverän innehält. Brausen als fiktive Schöpferinstanz setzt genau dort an: Indem er seinen Figuren verbietet zu sterben, bestimmt er über ihr Leben. So besteht Brausens Macht‐ technologie, die er gegenüber Díaz Grey und den anderen Figuren anwendet, 60 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="61"?> 156 Cf. Brigitte Bargetz / Gundula Ludwig et al. edd.: Gouvernementalität und Geschlecht (2015), pp. 9-12. 157 Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung (2005), p. 154. 158 Cf. Brigitte Bargetz / Gundula Ludwig et al. edd.: Gouvernementalität und Geschlecht (2015), pp. 12-14. 159 Cf. auch Isabell Lorey: „Das Gefüge der Macht“ (2015), pp. 48 sq. eben gerade nicht darin, sie zu töten. Besonders ausgeprägt tritt diese Techno‐ logie in einem kategorischen Verbot von Abtreibungen zutage. Dies soll in Ka‐ pitel 4.3 näher ausgeführt werden. So gilt Selbstmord in Brausens moralischem Koordinatensystem als Todsünde und ‚Desertation‘, wie Díaz Grey in La muerte y la niña (1973) erläutert: „No le hablo de una destrucción total porque también eso sería pecado mortal. Y Brausen no perdona las deserciones.“ ( MN 587) Ein Regierungssystem, das laut Foucault auf Bevölkerung als strategische (oder, bezogen auf das Analysekorpus, wie Brausen als poetologische) Ressource baut, zielt also einerseits auf das Hervorbringen, Vermehren und die Pflege dieses Gesellschaftskörpers. Andererseits versucht es, dessen Produktion durch Regeln und Normen zu kontrollieren, d. h. staatlich zu lenken. Diesen Wechsel von einem Machtverständnis ‚von unten‘, d. h. der grundsätzlichen Negierung einer staatlichen Macht und der Betonung des anarchischen Moments von Macht, zu einer leitenden, führenden Staatsmacht, vollzieht Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität in den 1970er Jahren, wie Brigitte Bargetz, Gundula Ludwig und Brigit Sauer konstatieren. Sie stellen dar, dass Foucaults Verständnis von Macht in seinen frühen Schriften vor allem als Gegenentwurf zu einem rein staatlichen, juridischen Machtverständnis konzipiert war. Dieses sei vor allem durch eine umfassende Relationalität gekennzeichnet, die eine Herrscherinstanz ausschließe. Macht durchdringe damit bei Foucault sowohl gesellschaftliche als auch private Kontexte und sei unabhängig von einer über‐ geordneten Distanz, welche die Macht ‚innehalte‘. 156 Diese allumfassende Rela‐ tionalität wurde teilweise als Beliebigkeit, im Sinne eines „Kampfes ‚jeder gegen jeden‘“ 157 , interpretiert und bildet damit auch einen der drängendsten Kritik‐ punkte an Foucaults Machttheorie. Bargetz, Ludwig und Sauer arbeiten jedoch heraus, dass Foucaults Machtkonzeption das Dilemma der vorgeblich fehlenden Herrscherinstanz (welche sich aus einer Negierung staatlicher Hegemonie er‐ gibt) mit der Einführung des Begriffs der Gouvernementalität löst. 158 So definiere der moderne Staat beispielsweise, welches Leben grundsätzlich als schützens- und vermehrenswert anzusehen ist. Daraus ergebe sich, so Foucault, auch das Problem des Rassismus als Grundlage für eine Bevölkerungspolitik, die nicht mehr genealogisch, sondern genetisch argumentiert. 159 Das heißt, Foucaults Rassismus-Verständnis zielt auf eine Biopolitik, die innerhalb des biologischen 61 2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität <?page no="62"?> 160 Cf. Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung (2007), pp. 55-60; Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung (2005), pp. 172-175; Michel Foucault: Der Wille zum Wissen (2016 [1976 franz.]), pp. 1131 sq.; Id.: In Verteidigung der Gesellschaft (1999 [1976 franz.]), p. 294. 161 Eine grundlegende Kritik an seinen Theorien lautet, dass Foucault in seinen Ausfüh‐ rungen nur marginal auf genderspezifische Implikationen von Sexualität und damit von Machtrelationen eingehe. Cf. Brigitte Bargetz / Gundula Ludwig et al. edd.: Gouverne‐ mentalität und Geschlecht (2015), pp. 21, 23; Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Ein‐ führung (2005), p. 167. Gesellschaftskörpers ansetzt und in ihren Disziplinierungsmaßnahmen ‚das Ge‐ sunde‘ vom ‚Kranken‘ scheidet und diese Grenzen auch nach außen hin, d. h. im Krieg mit anderen, verteidigt. 160 Innergesellschaftlich manifestieren sich diese Unterscheidungen zwischen krank und gesund wiederum räumlich - etwa in den bereits angesprochenen Disziplinierungsarchitekturen, die er als Heteroto‐ pien beschreibt. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird zu zeigen sein, inwieweit die dichotomische Unterscheidung in ‚krank‘ und ‚gesund‘, ‚schmutzig‘ und ‚sauber‘ den Machtdiskurs innerhalb Santa Marías prägt und welche Auswir‐ kungen dies auf den Reproduktionsdiskurs hat. 2.3 Gendertheoretische Anschlüsse an Foucaults Gouvernementalitätsansatz Entgegen einer allgemeinen Kritik an Foucaults ‚Genderblindheit‘ skizzieren Bargetz, Ludwig und Sauer mehrere feministische Anschlussmöglichkeiten an Foucaults Macht- und Gouvernementalitätsverständnis: 161 Foucaults Theorem des Staates als Effekt von Praxen evoziert aus einer feministischen Perspektive die Frage, wie hegemoniale Konstruktionen von Geschlecht diese Praxen mitformen. Und das Theorem kann dazu dienen, Erklärungen für den androzentri‐ schen, weißen, heteronormativen, ability-zentrierten, bürgerlichen Charakter des mo‐ dernen westlichen Staates jenseits von essentialistischen Setzungen zu Geschlecht zu finden. Die androzentrische Ausgestaltung des Staates ist somit nicht Ausdruck von Männerherrschaft oder ein Spiegel des ideellen Gesamtpatriarchen, wie dies in frühen feministischen staatstheoretischen Arbeiten argumentiert wurde. Vielmehr wird die historisch-spezifische Rationalität des Staates durch in Praxen gelebte androzentri‐ sche, heteronormative, rassisierende, kapitalistische und ability-zentrierte Gouver‐ nementalität begründbar. Nicht zuletzt lassen sich darüber Debatten um (heteronor‐ mative) Familien- und Reproduktionspolitiken sowie (vergeschlechtlichte) 62 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="63"?> 162 Brigitte Bargetz / Gundula Ludwig et al. edd.: Gouvernementalität und Geschlecht (2015), pp. 21 sq., Hervorh. i. Orig. 163 Auf die Schwächen dieser Patriarchatstheorien sowie deren analytische Überwindung wird in Kapitel 2.4 im Zusammenhang mit dem soziologischen Ansatz der Hegemo‐ nialen Männlichkeit nach R. W. Connell noch einmal näher eingegangen. Sicherheitsdiskurse neu fassen, wenn diese mit Foucault als staatliche Praxen und Teil von Bevölkerungspolitik ausgewiesen werden […]. 162 Das Zitat adressiert zunächst die Bedeutung, die sozial konstruierte plurale Männlich- und Weiblichkeiten in Bezug auf Foucaults Machtbegriff haben, auch wenn er selbst dieses theoretische Potential nicht ausgeschöpft hat. Die Autor*innen verweisen auf die Möglichkeit, über Foucaults Gouvernementali‐ tätsverständnis geschlechtsspezifische Akkumulationen von Macht, wie sie ins‐ besondere patriarchale Strukturen aufweisen, aufzuschlüsseln. Ihr Anschluss‐ vorschlag richtet sich damit gegen feministische Patriarchatstheorien, die eine bestimmte Männlichkeit als eindimensional und alleinursächlich für die Unter‐ drückung der Frau gelesen haben. 163 Mit Foucault, so ihre Argumentation, ließen sich spezifisch androzentrische, heteronormative, rassisierende, kapitalistische und ability-zentrierte Strukturen und Verhaltensweisen als Effekte von Macht und nicht als konstitutiv für eine moderne westliche Regierungsform heraus‐ arbeiten. Der zweite Punkt, auf den das obige Zitat verweist, ist die geschlech‐ terspezifische Adressierung, die Bio- oder Bevölkerungspolitik beinhaltet und die über eine gendersensible Perspektive sichtbar gemacht werden kann. Das heißt, mit Foucaults deskriptiver Methode, Machtstrukturen offenzulegen, lassen sich genderspezifische Ungleichheiten und Asymmetrien ablesen. Aus‐ führlich erläutert wird dieser Anschluss von Isabell Lorey in ihrem Beitrag "Das Gefüge der Macht" (2015). Nach der Analyse der konzeptuellen Veränderungen, die der Begriff der Macht innerhalb des Foucault’schen Gesamtwerks erfahren hat, fokussiert Lorey genderabhängige Strategien von Gouvernementalität und insbesondere solche, die sich auf die Lenkung weiblicher Sexualität sowie weib‐ licher Gebär- und Erziehungsfähigkeit beziehen. Sie macht Foucaults Machtbe‐ griff damit für die Untersuchung weiblicher Widerständigkeit und Selbstbe‐ hauptung innerhalb eines, so eine der initialen Thesen dieser Arbeit, männlich dominierten Diskursraums Santa María fruchtbar. Als Hauptanknüpfungspunkt für ihre feministische Re-Lektüre der Foucault’schen Machtgefüge nennt Lorey die Verwendung des Wortes „sexe“. Sie übersetzt „sexe“, anders als die bei Suhr‐ kamp erschienene deutsche Übersetzung seines Gesamtwerks, als ‚Geschlecht‘ und leitet daraus eine bei Foucault zwar nicht explizit ausgeführte, jedoch 63 2.3 Gendertheoretische Anschlüsse an Foucaults Gouvernementalitätsansatz <?page no="64"?> 164 Isabell Lorey: „Das Gefüge der Macht“ (2015), p. 45, Fußnote 3. 165 Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I (2017 [1978 franz.]), p. 157. 166 Isabell Lorey: „Das Gefüge der Macht“ (2015), p. 54. 167 Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I (2017 [1978 franz.], p. 157. 168 Cf. Isabell Lorey: „Das Gefüge der Macht“ (2015), pp. 57 sqq. grundsätzliche Offenheit bezüglich gendertheoretischer Zugänge ab. Sie schreibt: Mit Geschlecht bezeichne ich im Folgenden jene identitäre Materialisierung biopoli‐ tischer Machtverhältnisse, die Foucault im Französischen als sexe bezeichnet und die in den deutschen Übersetzungen seiner Texte in der Regel missverständlich mit dem Wort ‚Sex‘ angegeben ist. Sexe/ ‚Geschlecht‘ umfasst hier die Konstruktion eines ver‐ eindeutigten und vereinheitlichten biologischen und sozialen Geschlechts mitsamt einer heteronormativen Sexualität. 164 Diese heteronormative Sexualität, die Lorey anspricht, thematisiert Foucault vor allem über ihre Normierung innerhalb der bürgerlichen Familie. Diese fungiere als „Element innerhalb der Bevölkerung und als grundlegendes Relais zu deren Regierung.“ 165 In seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität erläutere Foucault die Transformation der bürgerlichen Familien von einem „Modell zum Instru‐ ment der Regierung“ 166 folgendermaßen: [D]ie Regierungskunst konnte bis zum Aufkommen der Bevölkerungsproblematik nur vom Modell der Familie, von der als Verwaltung der Familie verstandenen Ökonomie her gedacht werden. Von dem Moment an, wo die Bevölkerung im Gegenteil als etwas auftaucht, das sich durchaus nicht auf die Familie reduzieren läßt, wechselt die Familie im Verhältnis zur Bevölkerung folglich auf eine niedrigere Ebene; […] Sie ist also kein Modell mehr, sie ist ein Segment, ein einfach deshalb privilegiertes Segment, weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muß. 167 Die bürgerliche Familie als symbolischer Ort biologischer Reproduktion, Erzie‐ hung und privater Fürsorge wurde somit zum wichtigsten Hebel biopolitischer Strategien. Über die Steuerung der bürgerlichen Familie ließen sich etwa medi‐ zinische Erkenntnisse zur Vermeidung von Kindersterblichkeit in den Gesell‐ schaftskörper einspeisen. Familienpolitik wurde damit zum Schlüsselelement der Biopolitik - wodurch letztere als immanent geschlechterspezifisch gekenn‐ zeichnet war. 168 Wie Massey und Beard verweist auch Lorey auf die vergeschlechtlichte Di‐ chotomie von privatem und öffentlichem Raum: So werde mit der von Foucault 64 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="65"?> 169 Ibid., p. 59. 170 Cf. R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 49. 171 Connell publiziert seit ihrer Geschlechtsangleichung unter dem weiblichen Namen Ra‐ ewyn Connell. Unter diesem Namen und sozialem Geschlecht soll Connell im Folgenden daher auch geführt werden. 172 Für eine kritische Neubewertung des Konzeptes der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ cf. R. W. Connell / James Messerschmidt: „Hegemonic Masculinity. Rethinking the Con‐ cept“ (2005); James W. Messerschmidt: Hegemonic Masculinity. Formulation, Reformula‐ tion and Amplification (2018). herausgearbeiteten Fokussierung der Familie als Kernelement biopolitischer Gouvernementalität der Gegensatz zwischen öffentlichem und privatem Be‐ reich weiter geschlechtsspezifisch aufgeladen. Daraus ergibt sich folgende ge‐ schlechterspezifische räumliche Segmentation: Der Haushalt und insbesondere das ‚Innere des Hauses‘ fallen in den Aufgabenbereich der Frau, der dem Hause ‚äußerliche‘ Bereich in den des Mannes. Mit Foucault gesprochen lässt sich die Zuordnung der Frau zum Bereich des Hauses als spezifische Machttechnologie begreifen. Diese zielten, wie Lorey weiter schreibt, auf die Normierung der Frau als „‚gute[…]‘, das heißt, ‚natürliche[…]‘ biopolitische[…] M[u]tter[…] und Ehe‐ frau[…]“. 169 Doch welche Position innerhalb der männlich dominierten Ordnung Santa Marías nimmt dann die Frau ein, die keine Mutter ist? In welchem Machtver‐ hältnis stehen sich kinderlose Frauen und Männer gegenüber, wenn Reproduk‐ tion und Elternschaft wie in den ausgewählten Texten Onettis als dysfunktional dargestellt werden? Diesen Fragen soll, mit Fokus auf die Frauen-Figuren, im fünften Kapitel dieser Arbeit nachgegangen werden. 2.4 Hegemoniale Männlichkeit Auch das Konzept der hegemonialen Männlichkeit entstand in Auseinander‐ setzung mit Foucaults Machtbegriff. 170 In den wissenschaftlichen Diskurs ein‐ geführt wurde es 1985 von den Soziologen Tim Carrigan, Robert Connell 171 und John Lee in dem Aufsatz „Toward a new sociology of masculinity“ (1985). Brei‐ tere wissenschaftliche Rezeption erlangte es jedoch erst durch Connells nach‐ folgende und mittlerweile vielfach neu aufgelegte Klassiker der Gender-Studies, die Monographien Gender and Power (1987) sowie Masculinities (1995). 172 Mit Rückgriff auf Antonio Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie definiert Connell hegemoniale Männlichkeit darin folgendermaßen: 65 2.4 Hegemoniale Männlichkeit <?page no="66"?> 173 R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 77. 174 Cf. James W. Messerschmidt: Hegemonic Masculinity. Formulation, Reformulation and Amplification (2018), pp. 1-23; Michael Meuser: „Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ‚doing masculinity‘“ (1999), pp. 51-54. Wenngleich der Begriff des Patriarchats als analytische Kategorie mittlerweile von Gender abgelöst wurde, ergibt er als deskriptiver Terminus weiterhin Sinn. Die ausschließliche Nennung des radikalen sowie des sozia‐ listischen Feminismus soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht nur zwei, son‐ dern eine Vielzahl, auch kontrovers diskutierter, heterogener Feminismen gibt. Die Aufführung dieser zwei Feminismen orientiert sich an dieser Stelle an den oben ge‐ nannten Publikationen von Messerschmidt und Meuser. 175 Männlichkeit / en sind damit laut Connell immer in Abhängigkeit zu bestimmten Weib‐ lichkeit / en konstruiert: „But the concept is also inherently relational. ‚Masculinity‘ does not exist except in contrast with ‚feminity‘. A culture which does not treat women and men as mearers of polarized character types, at least in principle, does not have a concept of masculinity in the sense of modern European / American culture.” (R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 68) The concept of ‚hegemony‘, deriving from Antonio Gramsci’s analysis of class rela‐ tions, refers to the cultural dynamic by which a group claims and sustains a leading position in social life. At any given time, one form of masculinity rather than others is culturally exalted. Hegemonic masculinity can be defined as the configuration of gender practice which embodies the currently accepted answer to the problem of the legitimacy of patriarchy, which guarantees (or is taken to guarantee) the dominant position of men and the subordination of women. 173 Hegemoniale Männlichkeit beschreibe demnach eine kulturell herausgehobene Position und fungiere als Legitimierung der aktuell herrschenden patriarchalen Ordnung einer Gesellschaft. Dies impliziere gleichsam die Unterordnung von Frauen. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit versteht sich damit auch als analytische Weiterentwicklung der lange den feministischen Diskurs be‐ stimmenden Patriarchatstheorien. Diese sollten die strukturelle Dominanz der Männer wissenschaftlich greifbar machen. Während beispielsweise der radikale Feminismus Männer in der Täter-, und Frauen in der Opferrolle festschrieb, argumentierte der sozialistische Feminismus zusätzlich mit dem kapitalistischen System als Mechanismus für die Unterdrückung der Frau. Beide Patriarchats‐ begriffe, sowohl der radikal-feministische als auch der sozialistisch-feministi‐ sche, ignorieren Gewalt-, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Geschlechter und betrachten allein die Frau als Opfer männlicher physischer, psychischer und systemischer Gewalt. 174 Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit sei hingegen nur pluralistisch und relational fassbar. 175 Zum einen beschreibe es ein Abbild von, je nach his‐ torischem und kulturellem Kontext veränderlichen gesellschaftlichen und so‐ 66 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="67"?> 176 Connell betont, dass sich das Muster der hegemonialen Männlichkeit als das in west‐ lichen Systemen am weitesten verbreitete herauskristallisiert habe, darüber hinaus je‐ doch keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit erhebe. So schreibt Connell: „I emphasize that terms such as ‚hegemonic masculinity‘ and ‚marginalized masculinities‘ name not fixed character types but configurations of practice generated in particular situations in a changing structure of relationships.“ (Ibid., p. 81) 177 R. W. Connell: Gender and Power (1987), p. 183. 178 Cf. R. W. Connell: Masculinities (2005), pp. 79 sq. 179 Ibid. zialen Realitäten. 176 Zum anderen basiere es auf der Annahme, dass nicht die eine, singuläre Männlichkeit existiere, sondern eine Vielzahl an Männlichkeiten. Daraus folge, dass (mitunter gewaltgeprägte) Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch unter Männern bestünden. Das heißt, das Konzept der hegemonialen Männlichkeit umfasst immer auch zusätzliche Männlich- und Weiblichkeiten und berücksichtigt nicht nur hete‐ rosoziale, sondern auch homosoziale Kontexte und Hierarchisierungen: ‚Hegemonic masculinity‘ is always constructed in relation to various subordinated masculinities as well as in relation to women. The interplay between different forms of masculinity is an important part of how a patriarchal social order works. 177 Daraus wiederum leitet Connell ab, dass alle Akteure eines gesellschaftlichen Systems an der (Re)Produktion dieser hegemonialen Männlichkeit teilhaben - sei es als die Person, die hegemoniale Männlichkeit verkörpert, als Komplize oder als Diskriminierte / r. Obschon nicht jede / r aktiv daran mitwirke, könne er / sie sich dem System nicht entziehen. Während der erste und der letzte Typus weitgehend selbsterklärend sind, insofern der eine dominiert und der / die an‐ dere untergeordnet ist, bedarf der Begriff der Komplizenschaft einer kurzen Er‐ läuterung. Connell definiert sie folgendermaßen: „Masculinities constructed in ways that realize the patriarchal dividend, without the tensions or risks of being the frontline troops of patriarchy, are complicit in this sense.“ 178 Die patriarchale Dividende wiederum beschreibt „the advantage men in general gain from the overall subordination of women“. 179 Nicht jeder Mann sei demnach aktiv und direkt an der physischen oder psychischen Unterdrückung und Abwertung von Frauen oder anderen Männern beteiligt - eine Annahme, die jedoch vor allem den radikalen Feminismus der 1960er und 1970er Jahre prägte und gegen die sich Connell wendet. Gleichwohl profitiere ein Mann als Angehöriger des he‐ gemonialen Geschlechts unter Umständen von diesen Strukturen. Allerdings zögen nicht alle Männer in gleicher Weise Vorteil aus dieser strukturellen He‐ gemonie, denn auch unter Männern, und das ist einer der entscheidenden 67 2.4 Hegemoniale Männlichkeit <?page no="68"?> 180 Diesen Aspekt betonen auch Michael Meuser und Ursula Müller in ihrer Einführung zur aktuellen deutschen Übersetzung von Connells Masculinities: „Hegemoniale Männ‐ lichkeit ist ein Konzept, das die gesellschaftliche Verknüpfung von Männlichkeit und Macht bzw. Herrschaft betont. Die Bedeutung, die dieses Konzept nicht nur in der Männlichkeits-, sondern in der Geschlechterforschung generell erlangt hat, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass es hegemoniale Männlichkeit im Sinne einer doppelten, die hetero- und homosoziale Dimension gleichermaßen bestimmenden Distinktions- und Dominanzlogik fasst: im Verhältnis von Männern gegenüber Frauen und von Män‐ nern untereinander. Die gesellschaftliche Dominanz von Männern gegenüber Frauen begreift Connell als eine strukturelle Tatsache. Diese bildet insofern auch die zentrale Basis der Beziehungen der Männer untereinander, als nur eine solche Männlichkeit hegemonial sein kann, welche die heterosoziale Dominanz der Männer stützt. In diesem Sinne sind die homosoziale und die heterosoziale Dimension hegemonialer Männlich‐ keit unauflöslich ineinander verwoben.“ (Michael Meuser / Ursula Müller: „Männlich‐ keiten in Gesellschaft“ (2015), p. 10) 181 Geschlechterdifferenz definiert Villa als „Einteilung von Menschen in zwei Ge‐ schlechter bzw. ‚Genus-Gruppen‘“. „Der Begriff der Geschlechterdifferenz knüpft,“ so Villa weiter, „an das Alltagswissen um die Zweigeschlechtlichkeit an, wonach Frauen und Männer natürlicherweise, d. h. biologisch, unterschieden sind.“ (Paula-Irene Villa: Sexy Bodies (2000), p. 24) 182 Der ethnomethodologische Theorieansatz des doing gender wurde Ende der 1980er Jahre von den angloamerikanischen Soziolog*innen Candace West und Don H. Zim‐ merman entwickelt. Er bezeichnet interferente Aktivitäten zwischen Gesellschaft und Individuum sowie zwischen einzelnen Individuen, die eine Zuordnung jeder Person zu einem von zwei Geschlechtern ermöglichen bzw. erzwingen. Das heißt, die Tatsache, dass wir von anderen Individuen als Mann oder Frau wahrgenommen werden, beruht nicht auf biologischen Merkmalen und auch nicht allein auf dem Verhalten der jewei‐ ligen Person, sondern vielmehr auf einem kontinuierlichen Schaffensprozess, der sich zwischen dem Verhalten eines Individuums und der rückgemeldeten Fremdwahrneh‐ mung abspielt: „When we view gender as an accomplishment, an achieved property of situated conduct, our attention shifts from matters internal to the individual and focuses on interactional and, ultimately, institutional arenas. In one sense, of course, it is indi‐ viduals who ‚do‘ gender. But it is a situated doing, carried out in the virtual or real Punkte an Connells Konzept, existieren Momente von Ab- und Ausgrenzung. 180 Die komplementären Prozesse, die eine Person oder Gruppe an das eine oder andere Ende der Hierarchie (also entweder in eine dominante oder untergeord‐ nete bzw. diskriminierte Position) rücken, bezeichnet Connell als Ermächtigung und Marginalisierung. Diese beiden Begriffe beschreiben die sozialen Vorgänge unter Männern und stehen in Relation zu anderen strukturellen Kategorisie‐ rungen wie Klasse, Alter oder Ethnie. Über das Konzept der hegemonialen Männlichkeit lässt sich also Geschlech‐ terdifferenz in spezifische Geschlechterverhältnisse übersetzen. 181 Oder anders formuliert: Männlich- und Weiblichkeiten bilden gesellschaftliche Effekte der im Prozess des doing gender reproduzierten Geschlechterdifferenz ab, indem sie eine bestimmte Hierarchisierung repräsentieren. 182 Geschlecht definiert Connell 68 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="69"?> presence of others who are presumed to be oriented to its production. Rather than as a property of individuals, we conceive of gender as an emergent feature of social situa‐ tions: both as an outcome of and a rationale for various social arrangements and as a means of legitimating one of the most fundamental divisions of society.“ (Candace West / Don H. Zimmerman: „Doing Gender“ (1987), p. 126) Die Zuordnungsprozesse des doing gender basieren auf dem Alltagswissen der Zweigeschlechtlichkeit oder Ge‐ schlechterdifferenz und bilden damit eine „Vollzugswirklichkeit“ ab, wie Villa konsta‐ tiert: „Durch die ethnomethodologische Brille betrachtet, sind Individuen nicht natür‐ licherweise ein Geschlecht, sondern müssen sich als einem Geschlecht angehörig ausweisen, d. h. sie müssen entsprechend handeln. Diese Zugehörigkeit ist nicht als bewußte oder willentliche Entscheidung einer einzelnen Person zu verstehen, sondern als eine Zugehörigkeit, die immer durch mehrere Personen interaktiv hergestellt wird.“ (Paula-Irene Villa: Sexy Bodies (2005), p. 75, Hervorh. i. Orig.) Stefan Hirschauer spricht von der „kulturellen Konstruktion von Geschlechtern“, welche „den Körper nicht als Basis, sondern als Effekt sozialer Prozesse sieht“ (Stefan Hirschauer: „Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit“ (1989), p. 102, Hervorh. i. Orig.), und un‐ terscheidet dabei zwei Perspektiven, über die sich der Prozess des doing gender gene‐ riert: einerseits über die des Individuums selbst (Geschlechtsdarstellung) und anderer‐ seits über die des Gegenübers (Geschlechtsattribution). (Cf. Ibid., insb. pp. 103-105) Das grundlegende Selbstverständnis ethnomethodologischer Forschung definiert Ale‐ xander Geimer folgendermaßen: „Die Prozesse der stetigen, interaktiven und lokalen Herstellung („ongoing accomplishment“, Garfinkel, 1967, S. 1) der Alltagswirklichkeit zu untersuchen, ist das Anliegen der Ethnomethodologie, die dem interpretativen Pa‐ radigma der Soziologie zugerechnet wird. Ihre leitende Frage lautet: Welcher Praktiken bedienen sich Gesellschaftsmitglieder, um die geordnete Struktur ihrer Alltagswelt in‐ teraktiv hervorzubringen (vgl. Garfinkel 1967, S. 4 & S. 11)? Geschlecht wird entspre‐ chend als ein interaktiv hergestelltes Merkmal sozialer Ordnung begriffen.“ (Alexander Geimer: „Ethnomethodologie und Geschlecht“, 2013) Zur wissenschaftlichen Relevanz des ethnomethodologischen Ansatzes cf. auch Michael Meuser: „Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ‚doing masculinity‘“ (1999), pp. 52-54. 183 R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 71. 184 Ibid. als „a way in which social practice is ordered“ 183 . Sie betont dabei die Prozess‐ haftigkeit, die auch für den sozialkonstruktivistischen Ansatz des doing gender essentiell ist. Während letztgenannter vor allem die wechselweise Verschrän‐ kung von Darstellung und Ansicht oder Erkennen fokussiert, hebt Connell zudem die körperliche, sprich reproduktive Interaktion zwischen den Ge‐ schlechtern als immanent für soziale Geschlechterkonstruktionen hervor: In gender processes, the everyday conduct of life is organized in relation to a repro‐ ductive arena, defined by the bodily structures and processes of human reproduction. This arena includes sexual arousal and intercourse, childbirth and infant care, bodily sex difference and similarity. 184 69 2.4 Hegemoniale Männlichkeit <?page no="70"?> 185 Connell weist bereits in Gender and Power (1987) darauf hin, dass korrekterweise nicht von einem spezifischen Geschlechterverhältnis, sondern vielmehr von Geschlechter‐ verhältnissen auszugehen sei und diese umso differenzierter zu betrachten seien, je weiter man sich auf die Mikroebene begebe. Gleichwohl plausibilisiert Connell ihr Konzept auf der Makroebene, die qua definitionem immer schon bestimmten Simplifi‐ zierungsmechanismen ausgesetzt ist: „The sheer complexity of relationships involving millions of people guarantees that ethnic differences and generational differences as well as class patterns come into play. But in key respects the organization of gender on the very large scale must be more skeletal and simplified than human relationships in face-to-face milieux. The forms of femininity and masculinity constituted at this level are stylized and impoverished. Their interrelation is centred on a single structural fact, the global dominance of men over women.“ (R. W. Connell: Gender and Power (1987), p. 183) 186 R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 60, Hervorh. i. Orig. 187 Anke Strüver merkt an, dass mit der sozialen Bedeutsamkeit auch eine raumkonstitutive Funktion der körperreflexiven Praxen einhergehe. Sie betont die Notwendigkeit, Sub‐ jekte nicht nur in Abhängigkeit von ihrer Diskursivität, sondern auch zu ihrer reinen Körperlichkeit, ihrer Materialisierung, Veränderlichkeit etc. im Raum zu analysieren und damit auch physische Prozesse wie das Altern, Krankheiten oder anatomische Normabweichungen zu untersuchen. (Cf. Anke Strüver: „KörperMachtRaum und RaumMachtKörper“ (2010), pp. 217-219) 188 R. W. Connell: Masculinities (2005), pp. 64 sq., Hervorh. i. Orig. Die Einbeziehung des Körpers als materialisierter Träger von Diskursivität versteht Connell auch als Kritik sowohl an rein sozialkonstruktivistischen wie auch an stark biologistisch geprägten Gender-Theorien. (Cf. Ibid., pp. 52-56; 67-71) 189 Am Beispiel eines australischen Surfprofis erläutert Connell die Abhängigkeit körper‐ reflexiver Praxen von sozialen Prozessen und gesellschaftlichen Normen. So verkörpert der Surfer für seine Peergroup, Sponsoren und Gesellschaft eine ausgeprägte, auf ‚easy-going‘, Sex, Strandleben und Alkohol basierende Männlichkeit. Tatsächlich sind Das Feld der Reproduktion wird damit zum Verhandlungsraum zwischen un‐ terschiedlichen Männlich- und Weiblichkeiten und Körperlichkeit zum be‐ stimmenden Faktor bei der Analyse von Geschlechterverhältnissen. 185 So fasst Connell den Körper als sozialen agens: „We need to assert the activity, literally the agency, of bodies in social processes.“ 186 Körperreflexive Praxen seien sozial bedeutsam, insofern sie den Körper in soziale Prozesse und historische Kontexte einbetteten, ohne ihn seiner Materialität zu berauben: 187 [B]odies […] do not turn into symbols, signs or positions in discourse. Their materiality (including material capacities to engender, to give birth, to give milk, to menstruate, to open, to penetrate, to ejaculate) is not erased, it continues to matter. The social process of gender includes childbirth and child care, youth an ageing, the pleasure of sport and sex, labour, injury, death from AIDS. 188 Körperreflexive Praxen schaffen demnach soziale Realitäten und gesellschaft‐ liche Strukturen. 189 In diesem Sinne wirken sie, wie Connell mit Rückgriff auf 70 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="71"?> ihm körperliche Aktivitäten, die nicht auf die Leistungsoptimierung als Surfer abzielen, jedoch verboten, da sie seiner Leistung abträglich sein könnten: „In other words, much of what was defined in his peer culture as masculine was forbidden him.“ Der durch‐ trainierte Körper wird von der Werbung als Symbol für einen ‚Sunny-boy‘ Lebens‐ wandel verkauft, die Realität erfordert indes eiserne Körperdisziplin, bis hin zum Nar‐ zissmus. (Cf. Ibid., pp. 63 sq.) 190 Cf. Ibid., pp. 64 sqq. 191 Ibid., p. 77. 192 Allerdings argumentiert Connell, dass patriarchale Strukturen, wenngleich sie sich nicht durch Gewalt legitimierten, ein erhöhtes Gewaltpotential seitens des hegemo‐ nialen Geschlechts aufwiesen, d. h. Frauen und untergeordnete Männlichkeiten seien in patriarchalen Systemen überproportional häufig Gewalterfahrungen ausgesetzt: „A structure of inequality on this scale, involving a massive dispossession of social re‐ sources, is hard to imagine without violence. It is, overwhelmingly, the dominant gender who hold and use the means of violence. Men are armed far more often than women. […] Domestic violence cases often find abused women, physically able to look after them‐ selves, who have accepted the abusers definitions of themthelves as incompetent and helpless.“ (Ibid., p. 83) Ähnlich konstatiert auch Michael Meuser: „Hegemoniale Männ‐ lichkeit manifestiert sich gewöhnlich nicht in physischer Gewalt. Das Konzept der He‐ gemonie akzentuiert das Einverständnis untergeordneter sozialer Gruppierungen mit ihrem Status. Der über Ideologien und kulturelle Deutungsmuster erzeugten Einwilli‐ gung in Verhältnisse, welche die eigene Unterlegenheit festschreiben, kommt mindes‐ tens soviel, wenn nicht mehr Gewicht zu als einer Erzwingung der Unterordnung durch Androhung oder gar Anwendung von Gewalt. Gewalt ist die ultima ratio, wenn kul‐ turelle Hegemonie versagt, allerdings eine ratio, die der Strukturlogik der hegemonialen Männlichkeit entspricht. Hegemoniale Männlichkeit ist vor allem ein effektives sym‐ bolisches Mittel zur Reproduktion gegebener Machtrelationen zwischen den Geschlech‐ tern.“ (Michael Meuser: „Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ‚doing masculinity‘“ (1999), p. 55, Hervorh. i. Orig.) den tschechischen Philosophen Karel Kosik feststellt, „onto-formative“ (d. h. weltgestaltend). 190 Gestützt wird hegemoniale Männlichkeit nicht von der Macht Einzelner, gegen die auch Foucault argumentiert, sondern von kollektiver, institutioneller Macht: „It is the successful claim to authority, more than direct violence, that is the mark of hegemony (though violence often underpins or supports autho‐ rity).“ 191 Das wiederum bedeute, dass hegemoniale Männlichkeit nicht (zwin‐ gend) auf Gewalt beruhe, diese jedoch strukturell begünstige. 192 Wie Connell weiter schreibt, besteht einer der wichtigsten Aspekte hegemo‐ nialer Männlichkeit in ihrer Fluidität und damit ihrer historischen Gebunden‐ heit. Für die vorliegende Arbeit bedeutet das, Connells Begriff konzeptuell zu verwenden, d. h. nicht nach den von ihr für die australische Gesellschaft er‐ forschten Ausprägungen hegemonialer Männlichkeit zu suchen, sondern viel‐ mehr herauszuarbeiten, inwiefern in Onettis Texte ein spezifischer hegemo‐ nialer Männlichkeitsdiskurs eingeschrieben ist. Dass dennoch eine australische 71 2.4 Hegemoniale Männlichkeit <?page no="72"?> 193 Die vorliegende Arbeit schließt sich damit der ausführlichen Begründung Christian Grünnagels zur Problematik einer eurozentristischen Untersuchungsperspektive an. (Cf. Christian Grünnagel: Von Kastraten, Hermaphroditen und anderen Grenzgängern lateinamerikanischer Männlichkeit in Literatur und Film (1967-2007) (2018), pp. 58-60) 194 Barbara Potthast: Von Müttern und Machos (2003), pp. 403 sq., Hervorh. i. Orig. Theoretikerin, die sich grundlegend auf eine angloamerikanisch-französische Forschungstradition (Michel Foucault, Judith Butler et al.) beruft, zur Untersu‐ chung lateinamerikanischer Männlichkeiten ins Feld geführt wird, ist der Tat‐ sache geschuldet, dass sich auch lateinamerikanische Wissenschaftler*innen auf diese Theorien berufen und den möglichen Vorwurf einer neokolonialen, okk‐ zidental-zentrierten Forschungsperspektive somit obsolet werden lassen. 193 In Auseinandersetzung mit bereits existierenden Forschungsarbeiten zu la‐ teinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten versucht die vorliegende Arbeit also zu bestimmen, welche Verhaltensweisen, Mimik, Gestik, welches sexuelle Begehren, welche soziale Stellung, welche körperreflexiven Praxen im kulturellen Kontext der La-Plata-Region, in dem Onetti seine Erzählungen ver‐ ortet, als hegemonial dargestellt werden und wie sich davon ausgehend die Ge‐ schlechterverhältnisse innerhalb des Analysekorpus lesen lassen. Die Haupt‐ untersuchungsachse verläuft dabei über das Feld der Reproduktion, männliche Disziplinierungsmaßnahmen über den weiblichen Körper sowie widerständige weibliche Sexualität. Die Frage, an welche Räumlichkeiten diese Mechanismen gebunden sind, schlägt den Bogen zurück zu Foucaults Machtbegriff. 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten Eine Arbeit, die sich mit lateinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten in Verbindung mit machträumlichen Aspekten befasst, kommt nicht umhin, sich mit den Phänomenen Machismo und Marianismo auseinanderzusetzen, insofern deren Komplementarität auf einer klaren räumlichen Dichotomie und ent‐ sprechenden genderspezifischen Machtzuschreibungen beruht. Oder anders ge‐ wendet: Machismo beschreibt eine Männlichkeit, die auf die Sphäre des Öffent‐ lichen gerichtet ist, Marianismo eine Weiblichkeit, welche die Frau in ihrer sozialen Funktion als Mutter fasst und exklusiv im Inneren des Hauses verortet. Die daraus resultierende machträumliche Ordnung weist der Frau die Herr‐ schaft über den häuslichen, dem Mann über den öffentlichen Bereich zu. „Ent‐ sprechend“, so Barbara Potthast, „verkündet die lateinamerikanische Frau: ‚la reina del hogar soy yo‘ […] oder ‚en la casa, mando yo‘ […].“ 194 Diese räumliche 72 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="73"?> 195 Bereits die erste veröffentlichte Kurzgeschichte „Avenida de Mayo-Diagonal-Avenida de Mayo“ (1933) verweist titelgebend auf eine der bekanntesten Straßen Buenos Aires‘. El pozo (1939) spielt in einem fiktiven Montevideo, La vida breve (1950) nimmt seinen Aus‐ gang in einem fiktiven Buenos Aires, Para una tumba sin nombre (1959) ist zumindest zum Teil in der argentinischen Kapitale verortet - um nur einige der offensichtlichsten Bei‐ spiele direkter Referentialisierung auf die Hauptstädte Argentiniens und Uruguays zu nennen. Innerhalb der Metropole spielt sich die Handlung überwiegend im Milieu der Nachtclubs und Künstlerbars ab. Weitere rekurrente Handlungsorte, die auch auf die so‐ ziokulturelle Verortung innerhalb eines rioplatensichen Tangodiskurses verweisen, sind heruntergekommene Pensionszimmer, Bordelle und zwielichtige Bars. Dieses urbane ri‐ oplatensische Setting zieht sich durch Onettis Gesamtkorpus und auch das imaginäre Santa María fügt sich in eben diesen soziokulturellen Kontext. 196 Wenngleich die Definitionen der Begriffe Machismo und Marianismo von Stevens aus den 1970er Jahren im aktuellen Diskurs teilweise überholt scheinen, da sie zu wenig bezüg‐ lich Klasse oder kultur- und sozialräumlichen Dimensionen differenzieren, muss die zeit‐ liche Kongruenz zwischen der Entstehung der Onetti’schen Texte und Stevens‘ For‐ schungen mitgedacht werden. So untersucht ein Großteil der aktuellen Forschungsarbeiten zu Männlich- und Weiblichkeiten in Lateinamerika ‚neue‘ Formen von Mutterschaft, Vaterschaft, Männlichkeiten und Weiblichkeiten, die zur Entstehungs‐ zeit der Onetti’schen Texte noch nicht existierten. Für die folgenden Ausführungen zu spezifisch lateinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten sollen daher Stevens‘ Ar‐ beiten mit dem aktuellen Forschungsdiskurs zu Onetti verschränkt und für die vorlie‐ gende Untersuchung fruchtbar gemacht werden. Segregation, die auch Foucault, Beard, Massey und Lorey als grundlegend für Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis konstatieren respektive kritisieren, bildet den Kern des Verhältnisses zwischen Machismo und Marianismo. Inwie‐ weit dieses reziproke Verhältnis auch in Onettis Texte eingeschrieben ist und für die Analyse genderbezogener machträumlicher Zusammenhänge innerhalb des Diskursraums Santa María fruchtbar gemacht werden kann, soll in den Ka‐ piteln 4 und 5 diskutiert werden. In einem ersten Schritt sollen nun die Implikationen dieser beiden Konzepte sowie deren wissenschaftliche Einbettung erläutert werden, in einem weiteren Schritt die soziologische Engführung auf die Darstellung spezifischer Geschlech‐ terverhältnisse innerhalb des Tangodiskurses, insofern ein Teil des Onetti‘schen Figurenkabinetts im Tango-Milieu verortet ist und dieses somit als außerliterari‐ sche Referenz für die Textanalyse herangezogen werden soll. 195 Während Ma‐ chismo keine exklusiv lateinamerikanische Männlichkeit beschreibt und auch in‐ nerhalb des Kontinents in seiner Ausprägung variiert, wird Marianismo ausschließlich zur Beschreibung einer spezifisch lateinamerikanischen Weiblich‐ keit verwendet. In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde der Ter‐ minus Anfang der 1970er Jahre von der US -amerikanischen Anthropologin Evelyn Stevens. 196 „Marianismo“, schreibt sie, „is the cult of feminine spiritual superiority, which teaches that women are semidivine, morally superior to and 73 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="74"?> 197 Cf. Evelyn P. Stevens: „Marianismo: The Other Face of Machismo“ (1994), p. 4. 198 Ibid., p. 3. 199 Cf. Ibid., p. 9. 200 „[M]en must be humored, for, after all, everyone knows that they are como niños (like little boys) whose intemperance, foolishness, and obstinacy must be forgiven because ‚they can’t help the way they are.‘“ (Ibid., p. 9, Hervorh. i. Orig.) 201 Die mater dolorosa, die schmerzerfüllte Muttergottes, ist die zentrale Figur des mittel‐ alterlichen stabat mater, eines Gebets, das die Trauer und den Schmerz Marias über den Tod ihres Sohnes lyrisch abbildet. 202 Cf. Evelyn P. Stevens: „Marianismo: The Other Face of Machismo“ (1994), pp. 9-11. 203 Evelyn P. Stevens: „Machismo and Marianismo“ (1973), p. 57. spiritually stronger than men.“ 197 In Analogie zur heiligen Maria verstehe sich die Frau im Marianismo als dem Mann moralisch und spirituell überlegen - und wird auch so wahrgenommen. Sie gelte als das Abbild der Muttergottes, deren passive Geschlechterrolle durch die unbefleckte Empfängnis festgeschrieben ist: In the patriarchal Catholic culture - where God was the father and only men could become priests - the Virgin Mary stood as the most prominent image of what an ideal woman should be. 198 Die ‚echte Frau‘ ist laut Stevens‘ Untersuchungen moralisch unfehlbar, bleibt keusch bis zur Ehe und betrachtet Geschlechtsverkehr als exklusiv eheliche Pflicht im Dienste Gottes. 199 Sie bete für die Vergebung der Sünden ihrer männ‐ lichen Verwandten, vor allem die des Ehemannes und der Söhne - wohlwissend, dass diese Gebete ob der grundsätzlichen männlichen Fehlbarkeit und deren kindlicher Unreife 200 weitestgehend wirkungslos blieben. Die wichtigste Fähig‐ keit dieser idealisierten Frauenfigur sei indes die Mutterschaft. Als solche er‐ lange ‚die Frau‘ einen halbheiligen (semidivine) Status innerhalb der Familie. Das Erdulden der Geburtsschmerzen und das Wissen um die moralischen Fehlbar‐ keiten des Ehemannes spiegle sich, wie Stevens fortfährt, im Bild der mater dolorosa  201 wider: Es steht für mütterliche Leidensfähigkeit, die Erduldung von Trauer und Schmerz. 202 Indem Stevens Marianismo in Abhängigkeit zum Begriff des Machismo setzt, argumentiert sie gegen ein als ungleich wahrgenommenes Machtverhältnis zwischen lateinamerikanischen Männern und Frauen: „It is time to set the record straight: from the Rio Bravo south to Patagonia it is at least 50 percent a woman’s world, even though the men don’t know it.“ 203 Machismo sei demnach kein Phä‐ nomen rein männlicher Alleinherrschaft, sondern könne seine Suprematie über die Frau erst im Zusammenspiel mit dem weiblichen Analogon, dem Maria‐ nismo, entfalten: „Our historical perspective enables us to see that far from being an oppressive norm dictated by tyrannical males, marianismo has received con‐ 74 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="75"?> 204 Evelyn P. Stevens: „Marianismo: The Other Face of Machismo“ (1994), p. 15. 205 Ibid. 206 Evelyn P. Stevens: „Machismo and Marianismo“ (1973), p. 63. 207 Evelyn P. Stevens: „Marianismo: The Other Face of Machismo“ (1994), p. 4.; cf. auch Ead.: „Machismo and Marianismo“ (1973), p. 58. siderable impetus from women themselves.“ 204 Sie betont damit die Reziprozität beider Phänomene oder anders gewendet: ‚Die marianistische Frau‘ begehre nicht gegen ihre Unterordnung auf, sondern stütze und reproduziere die Un‐ gleichheiten zwischen den Geschlechtern - da sie selbst, so Stevens weiter, in‐ nerhalb eines großfamiliären Verbundes von diesem Arrangement profitiere. Zugespitzt spricht Stevens in diesem Zusammenhang auch von „female chau‐ vinism“ 205 , denn Frauen seien innerhalb dieser stark christlich heteronormativ geprägten Geschlechterordnung keineswegs machtlos. Ihre gesellschaftliche Machtposition finde ihre Ausprägung insbesondere in der Erziehung (männli‐ cher) Kinder. Als Manifestationen der Muttergottes profitierten sie von der mo‐ ralischen und spirituellen Erhöhung, die ihnen durch die kulturelle Hegemonie des christlichen Glaubens in Lateinamerika zukomme - solange sie sich an die ihnen zugewiesene passive sexuelle Rolle hielten: For women do enjoy great power in Latin America, based on their acknowledged spiritual superiority. In the hierarchy of values of Latin American culture, matters of the spirit stand undisputedly above all others. […] A married woman can be lazy, bad tempered, improvident, but as long as she is not found to be sexually promiscuous, she will be regarded as a good wife and mother. 206 Entscheidend für eine positive gesellschaftliche Reputation seien demnach ihr Status als verheiratete Frau, sowie ihre Mutterfunktion. Das heißt, das maria‐ nistische Bild der ‚guten Frau‘ ist sowohl an eine erfüllte Reproduktion als auch an den rechtlichen Rahmen der Ehe gebunden, woraus sich wiederum eine Li‐ mitierung weiblicher Sexualität auf eben diese Institution, oder wie Foucault schreibt, eine exklusive räumliche Verortung im ehelichen Bett ergibt. Machismo definiert Stevens als ‚Männlichkeits-‘ oder ‚Virilitätskult‘, welcher tief im gesamten lateinamerikanischen Kulturraum verwurzelt, und je nach his‐ torischen Kulturkontakten der Bevölkerung stärker oder schwächer ausgeprägt sei: [T]he term Machismo will be used to designate a way of orientation which can be most succinctly described as the cult of virility. The chief characteristics of this cult are exaggerated aggressiveness and intransigence in male-to-male interpersonal re‐ lationships and arrogance and sexual aggression in male-to-female relationships. 207 75 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="76"?> 208 Ibid., p. 59. 209 Cf. Ibid., p. 60. 210 Cf. Ibid., pp. 59 sq. 211 Explizite wissenschaftliche Kritik am Phänomen des Marianismo ist der Autorin dieser Arbeit nicht bekannt, was vermutlich vor allem an der im Verhältnis zum Machismo Machismo zeichne sich demnach vor allem über einen hohen Grad an Aggression aus. In homosozialen Kontexten zeige sich dies in der Härte und Unnachgie‐ bigkeit gegenüber anderen Männern. In heterosozialen Kontexten finde diese Aggression ihren Ausdruck oftmals in sexualisierter Gewalt und einer grund‐ sätzlichen Abwertung der Frau. Die beschriebenen Aggressionen ließen sich daher nur in den wenigsten Fällen in „business or professional activities [that] can be nonphysical expressions“ 208 kanalisieren - in der Mehrzahl entlade sie sich in heterosozialen Konstellationen, sprich: gegen Frauen. Machistische Männlichkeit erfordere außerdem, die eigene sexuelle Potenz ständig unter Be‐ weis zu stellen - bestenfalls durch das Zeugen von Kindern, im Idealfall von Söhnen, oder zumindest durch das öffentliche Sich-Zeigen mit Geliebten. Diese stammten häufig aus sozial niedrigeren Schichten und profitierten ihrerseits von diesem gesellschaftlich akzeptierten Arrangement, indem sie für ihre Rolle als Geliebte materielle Zuwendungen erhielten. 209 Auffällig ist, dass die machisti‐ schen Codices überwiegend innerhalb eines homosozialen Referenzahmens ver‐ ortet sind; das bedeutet zum Beispiel, dass laut Stevens der Beweis sexueller Aktivität und Potenz, die in der Zeugung eines Kindes manifest werden, für eine ausschließlich männliche Peergroup außerhalb des eigenen Hauses erbracht werde. 210 Machistische Männlichkeit ist demnach mit einer kontinuierlichen ‚Beweispflicht‘ bezüglich der eigenen Potenz verbunden, marianistische Weib‐ lichkeit hingegen mit der Negierung der eigenen Sexualität. Innerhalb des Ma‐ chismo und Marianismo ist Sexualität damit stark kontrastiv markiert; der Mann als sexuell aktiver, die Frau als sexuell passiver Part. Was beide, männliche und weibliche Sexualität als reflexive Körperpraxis wiederum eint, ist die grund‐ sätzliche Ausrichtung auf Reproduktivität. Doch auch darin unterliegen sie einer starken Dichotomie: Männliche reproduktive Fähigkeiten gelten als Affirmation ihrer Potenz und sind nicht an den christlich-institutionellen Rahmen der Ehe gebunden, weibliche Reproduktionsfähigkeit ist hingegen exklusiv darauf be‐ schränkt. Die Rigidität dieser Dichotomie birgt ein starkes Subversionspotential, welches in Kapitel 5.3 am Beispiel mehrerer weiblicher Figuren in Onettis Texten analysiert werden soll. Kritik, die das Konzept des Machismo erfährt, zielt unter anderem auf die Tendenzen zu Generalisierung und Exotisierung, die einige Untersuchungen aufweisen. 211 So sieht etwa Rafael L. Ramírez Machismo als einen vielge‐ 76 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="77"?> geringen wissenschaftlichen Rezeption dieses Terminus liegt. Allerdings lässt sich die Kritik der Verallgemeinerung und Exotisierung durch den Machismo auch auf den Marianismo übertragen. 212 Cf. Rafael L. Ramírez: What It Means to Be a Man (1999 [1993 span.]), pp. 7 sqq. 213 Ibid., pp. 7 sq. 214 Cf. Robert Brannon: „The Male Sex Role“ (1975); Elisabeth Badinter: Die Identität des Mannes (1997 [1992 franz.]). 215 Cf. Rafael L. Ramírez: What It Means to Be a Man (1999 [1993 span.]), p. 25. 216 Cf. Norma Fuller: „Repensando el machismo latinoamericano“ (2012); Ead.: „Signifi‐ cados y prácticas de paternidad entre varones urbanos del Perú“ (2000) et al. 217 Norma Fuller: „Repensando el machismo latinoamericano“ (2012), p. 120. brauchten, medial überstrapazierten und damit als Beschimpfung in die All‐ tagssprache eingegangenen Begriff. Er kritisiert dessen konzeptuell schlechte Ausarbeitung, da durch dessen Singularität die Vielfalt lateinamerikanischer Männlichkeiten nicht abgebildet und in den meisten Fällen die positiv konno‐ tierten Eigenschaften des typischen ‚Macho‘ ausgespart würden: 212 Although many authors (Abad, Ramos, and Boyce 1974: Padilla and Ruiz 1973) pointed out some purportedly positive aspects of Machismo, such as courage, responsibility, and perseverance, the fact remains that the term is associated with male traits or behaviors to which negative qualities are attributed: ‚the sum total of simultaneous brutality, arrogance, and submissiveness (De Jesús Guerrero 1977, 37). 213 Ramírez‘ Kritik richtet sich damit gegen eine essentialistische Form von Rol‐ lenzuschreibung, wie sie etwa Robert Brannon und Elisabeth Badinter in den 1970er und 1990er Jahren formulierten. 214 Ramírez plädiert jedoch trotz seiner Kritik an den „conceptual limitations of studies on Machismo and their limited explanatory power“ für einen Erhalt von Machismo als wissenschaftlichem Ter‐ minus. Allerdings fordert er eine kritische Diskussion und stärkere Kontextua‐ lisierung des Begriffs in Bezug auf die grundsätzliche Pluralität von Männlich- und Weiblichkeiten. 215 Mit Fokussierung auf Männlichkeiten in Peru leistet dies Norma Fuller in ihren Forschungsarbeiten: 216 Uno de los objetivos que me propuse al iniciar mis investigaciones sobre las identid‐ ades masculinas fue criticar la identificación del llamado macho con la masculinidad típica en América Latina. Buscaba demostrar que este estereotipo nos impide com‐ prenderla bien y encontrar un camino alternativo para explicar por qué el discurso de sentido común -y en algunos casos el académico- lo aceptan como un hecho. 217 Fuller fasst Machismo nicht als die lateinamerikanische Männlichkeit, sondern als eine von vielen lateinamerikanischen Männlichkeiten. Gleichwohl weist sie 77 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="78"?> 218 Ibid., pp. 122 sq. 219 Ein Verharren in den Männlichkeitsmustern der Jugend (hypermaskulines Verhalten) führe indes zu Marginalisierung. Ähnlich verhalte es sich mit dem Verharren in Mustern des Häuslichen, sprich in weiblichen Mustern. Die daraus resultierende Effemination manifestiere sich in einer untergeordneten Männlichkeit. (Cf. Ibid., pp. 124 sq., 127) dem Machismo eine hegemoniale Position innerhalb der Geschlechterordnung zu. Allerdings verwendet sie den Begriff nicht in seiner populären, mitunter pejorativen Verwendung (gegen die sich eben auch Ramírez verwehrt). Statt‐ dessen betont sie die Ambivalenzen innerhalb der Konstruktion des lateiname‐ rikanischen Machos: A medida que avanzaba en mis investigaciones encontré que muchos rasgos atribuidos al macho eran parte integrante de la noción de masculinidad hegemónica pero con‐ vivían con otros que los contradecían. Así por ejemplo, la potencia sexual y la capa‐ cidad de seducir mujeres es una cualidad que en ciertos momentos o espacios puede ser festejada, en otras puede ser considerada como un rasgo de falta de hombría. […] Parecería, pues que no se trata de que el llamado Machismo no exista sino que la difusión de esta imagen ha distorsionado nuestra comprensión de las masculinidades en América Latina porque ha enfocado solo ciertos aspectos, los más llamativos, de ellas ignorando que éstas incluyen muchas facetas. 218 Sie differenziert in ihren Untersuchungen zu Männlichkeiten zwischen ver‐ schiedenen Lebensphasen und damit verbundenen unterschiedlichen Kon‐ zepten hegemonialer Männlichkeit. Grundlegend für Normas Forschung ist, wie schon bei Connell beschrieben, die heteronormative Abhängigkeit von (einer nicht näher spezifizierten) Weiblichkeit und damit verbunden die genderspezi‐ fisch dichotomische Unterscheidung zwischen häuslichem, also privatem, und öffentlichem Bereich. Der häusliche stehe unter der Verwaltung der Frauen (Mütter oder Ehefrauen! ), der öffentliche unter der der Männer. Letztgenannter teile sich wiederum in zwei Sphären auf, die jedoch beide homosozial organisiert seien: zum einen den Bereich der Arbeit und zum anderen den Bereich der männlichen Peergroups. Die drei Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachse‐ nenalter, für die Fuller jeweils bestimmte Kriterien hegemonialer Männlichkeit herausarbeitet, sind jede für sich an bestimmte Räumlichkeiten gebunden. Wäh‐ rend das männliche Kind auf den häuslichen Raum beschränkt und dort der mütterlichen Macht untergeordnet sei, habe der Jugendliche seine Virilität im öffentlichen Raum zu beweisen. Entscheidend sei dort das Urteil seiner homo‐ sozialen Peergroup. Ein wichtiger Teil des jugendlichen Virilitätskodex‘ sei das Brechen mit häuslichen Regeln, d. h. die Ablösung vom weiblich dominierten Raum des Hauses, von der Mutter und grundsätzlich von allem Weiblichen. 219 78 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="79"?> 220 Die Anforderungen der außerhäuslichen Sphäre beschreibt Fuller folgendermaßen: „El eje público está constituido por la política y, sobre todo, por el trabajo. Este último es el núcleo fundamental de la identidad masculina adulta. Ingresar al ámbito laboral sig‐ nifica alcanzar la condición de adulto, constituye una precondición para poder estab‐ lecer una familia y es la principal fuente de reconocimiento social para los hombres. […] Todo varón debe mantener sus relaciones con los varones de su grupo de edad a fin de obtener los bienes simbólicos y materiales que llevará a la familia: Ello implica que disponga de parte de los recursos que produce en gastos asociados a mantener su red de amigos o sus relaciones de trabajo. Así, el consumo de alcohol con los amigos y colegas es una forma de socialidad masculina indispensable para poder ganar y con‐ servar su lugar en este circuito.“ (Ibid., p. 127) Dass dieses dreifache ‚Anforderungsprofil‘ krisenanfällig ist („una fuente de constante tensiones“, wie Fuller, hier p. 127, fortfährt), liegt auf der Hand, soll jedoch nicht Thema dieser Arbeit sein. Zur Krisenanfälligkeit bestimmter Männlichkeiten siehe Mark I. Millington: Hombres In / Visibles (2007) oder R. W. Connell: Masculinities (2005). 221 Norma Fuller: „Repensando el machismo latinoamericano“ (2012), p. 125. In einem nächsten Entwicklungsschritt, dem Erwachsenwerden, gelte es, beide räumlichen Sphären zu vereinen und die jugendliche Virilität (virilidad) in ein Mannsein (hombría) zu überführen. So impliziert die von Fuller herausgearbei‐ tete hegemoniale Männlichkeit die Gründung einer Familie, d. h. das Schaffen eines eigenen häuslichen Bereichs, dem der Mann vorstehen kann, und gleich‐ zeitig bestehe sie darin, dass er seine außerhäusliche Reputation nicht vernach‐ lässige. Das wiederum bedeute, sowohl den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen als auch innerhalb der Peergroup zu reüssieren: 220 [L]a vida conyugal les proporciona una vida sexual plena y la oportunidad de de‐ mostrar a sus pares que son sexualmente activos. Al tener un hijo de una relación públicamente reconocida, el joven se convierte en padre y jefe de familia: el eje de un nuevo núcleo social. Se inaugura así un nuevo período del ciclo vital y, sobre todo significa el punto en que el varón se consagra como tal al obtener los símbolos de la hombría: comprueba que es potente sexualmente, es jefe de una unidad familiar y responde por ella ante el mundo exterior. Es decir confirma su virilidad y se inserta definitivamente en los ejes doméstico y público. 221 Dieses Anforderungsprofil sei jedoch, wie Fuller fortfährt, eng an eine hetero‐ normative Zweigeschlechtlichkeit sowie die Institution der Ehe gebunden. Re‐ produktion, die außerhalb der Ehe stattfinde, sei seitens des Mannes gesell‐ schaftlich geduldet, führe jedoch auf Seiten der ledigen Mutter und der entstandenen Kinder zu sozialer und ökonomischer Marginalisierung, da das oben beschriebene heteronormative ‚Ernährer-Gebärerinnen-Modell‘ mit den entsprechenden genderspezifischen machträumlichen Zuschreibungen dort nicht greife. Grundlegend dafür sei die ‚Möglichkeit‘ der Väter, die Vaterschaft 79 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="80"?> 222 Fuller assoziiert dies mit dem Begriff des „padre ausente“, des abwesenden Vaters. (Ibid., p. 126) 223 Cf. Ibid., pp. 121, 126. 224 Barbara Potthast: Von Müttern und Machos (2003), p. 404. zu verweigern bzw. nicht anzuerkennen, während die Mütter bei ihren Kindern blieben. 222 Dieses sozioökonomische Phänomen sei laut Fuller ein Klassen‐ problem, da die beschriebenen Väter oftmals der Mittel- oder Oberschicht, die entsprechenden Mütter niedrigeren Klassen zuzuordnen seien. 223 Die hegemoniale Männlichkeit, die Fuller in ihren Ausführungen beschreibt, ist damit zum einen an institutionalisierte Heteronormativität gekoppelt und bedingt andererseits ein räumlich stark segregiertes Geschlechterverhältnis. Durch die räumliche Zweiteilung werde auch, wie Potthast formuliert, Konkur‐ renz unter den Ehepartnern vermieden: Die Mütter bestimmen in Lateinamerika nicht nur über die Küche und das Haus [sic] sondern auch über die Erziehung der Kinder. […] Die Frauen erhalten somit eine starke Stellung innerhalb bestimmter Räume, und zwar in Familie und Haus. Dies bedeutet, dass keine Konkurrenz zu den männlichen Machtansprüchen entsteht. Die Geschlech‐ terrollen und -sphären sind derart deutlich voneinander abgegrenzt, dass sie einander kaum tangieren, zumal der weibliche Bereich als privat deklariert wurde und eine eventuelle Einschränkung männlicher Dominanz hier für die Männer nicht ehrenrü‐ chig ist. 224 Doch was, wenn diese genderspezifische Dichotomie nicht eingehalten wird? Oder was bedeutet es für das geschlechterspezifische Machtgeflecht, wenn Frauen zwar als mütterlich dargestellt werden, tatsächlich jedoch kinderlos, sprich keine Mütter sind? Beide Fälle bilden in Onettis Texten mehr die Regel denn die Ausnahme. Dementsprechend soll im fünften Kapitel dieser Arbeit auch der Frage nachgegangen werden, welche Macht- und Raumzuschrei‐ bungen mit kinderlosen Frauen verbunden sind - insofern durch die Kinderlo‐ sigkeit ja das christlich heteronormative Raum-Geschlechter-Verhältnis unter‐ laufen wird. Ebenfalls zu untersuchen sein werden die Männerfiguren, mit denen es sich ähnlich verhält: Denn auch sie werden bei Onetti überwiegend als kinderlos dargestellt - oder als solche, die kompensatorische Formen der bio‐ logischen Vaterschaft praktizieren, wie im vierten Kapitel noch ausführlich zu erläutern sein wird. Daraus wiederum lässt sich die Vermutung ableiten, dass ein Großteil der männlichen Figuren bei Onetti zwar Komplizen der hegemo‐ nialen Männlichkeit, wie sie Fuller expliziert, sind, zu dieser jedoch im Verhältnis als Marginalisierte oder Untergeordnete stehen. Eine Untersuchung, die sich diesen untergeordnetten Männlichkeiten im soziokulturellen Kontext des 80 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="81"?> 225 Cf. Eduardo P. Archetti: Masculinities. Football, Polo and the Tango in Argentina (1999). 226 Eduardo P. Archetti: „Multiple Masculinities. The Worlds of Tango and Football in Ar‐ gentina“ (1997), p. 201, Hervorh. i. Orig. 227 Ibid., p. 212, Hervorh. i. Orig. La-Plata-Raums und insbesondere in dem von Onetti vornehmlich dargestellten Milieu der Nachtclubs und Cabarets widmet, stammt von Eduardo P. Archetti und soll im Folgenden vorgestellt werden. 225 Ein detaillierter Abgleich dieser Männlichkeiten mit jenen in Onettis Texten erfolgt in Kapitel 4.3. Im Unterschied zu Stevens‘ anthropologischer und Ramírez‘ ethnographi‐ scher Herangehensweise basieren Archettis Untersuchungen auf der narrativen Analyse klassischer Tango-Texte: „The analysis of tango lyrics is rooted in the classical period of the tango-canción (tango-song) from 1917 to 1935. Most sig‐ nificant tango narratives were produced in that period […].” 226 Archetti setzt eine stereotypisierte, heterosexuelle Männlichkeit, die vor allem auf einer Unterord‐ nung der Frau basiert, als hegemonial für den rioplatensischen Kontext. In Ab‐ grenzung (Unterordnung oder Subversion) dazu, arbeitet er mehrere plurale Männlichkeiten innerhalb des Tango-Diskurses heraus: The comparative masculinities depicted in the universes of tango […] appear as fluid, ambiguous, on occasion contradictory, perhaps subversive of a dominant and hege‐ monic heterosexual Argentine masculinity based on the institutionalization of men’s dominance over women. The active men in the ritual arenas of […] tango are dispos‐ sessed of social power and wealth, and, therefore, less concerned with the reproduc‐ tion of the image of a dominating middle-class ‚pure‘ heterosexual male. 227 Wenngleich Archetti in seinen Ausführungen den Terminus Machismo ver‐ meidet, ist anzunehmen, dass er auf eben dieses Phänomen anspielt, wenn er in obigem Zitat die Schlüsselbegriffe ‚heterosexuell‘, ‚Ehe‘ (die er als institutiona‐ lisierte Herrschaft der Männer über die Frauen paraphrasiert) und ‚dominant‘ aufruft. Außerdem stellt er die verschiedenen Männlichkeiten in einen Klas‐ senkontext, indem er auf die Aspekte von sozialem und ökonomischem Kapital (social power and wealth) eingeht. Ein weiterer Punkt, den obiges Zitat addres‐ siert, ist die Fluidität der untersuchten Männlichkeiten. Sie stehen damit in einem mitunter gegensätzlichen, ambivalenten und konkurrierenden Verhältnis zueinander, da es laut Archetti mitnichten das eine gültige Tango-Narrativ gibt, sondern auch hier wieder von einer Pluralität, diesmal innerhalb der verschie‐ denen Texte ausgegangen werden muss. Eines der Hauptmotive, das Archetti innerhalb dieser heterogenen Narrative untersucht, ist das der unerfüllten, romantischen Liebe. Heterosexuelle, kinder‐ lose Paare ohne Trauschein konstituierten diese Form des ‚romantischen‘ Zu‐ 81 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="82"?> 228 Cf. Ibid., p. 201. 229 Ibid., pp. 202 sq., Hervorh. i. Orig. 230 Ibid., 205. 231 Ibid., p. 205. sammenlebens, wobei üblicherweise ‚die Männer‘ von ‚den Frauen‘ verlassen würden. Der Trennungsschmerz und der ob des Verlassen-Werdens erlittene Kontrollverlust stürze ‚die Männer‘ in eine Identitätskrise. 228 Anders als in den Konzepten von Machismo und Marianismo, in deren Zentrum Reproduktion und Familie stehen, fokussiert der Tango-Diskurs damit die freie, heterosexuelle Liebe als Gegenentwurf zur bürgerlichen, institutionalisierten Form von Ehe und Familie: [T]he basic elements in the cultural construction of romantic love are intimacy, com‐ panionship or friendship, the existence of mutual empathy, and the search for sexual pleasure. […] they are perceived as ‚subversive‘ to family life and ordered biological reproduction. 229 Der archetypische „‚man of the tango‘ is middle-aged, single, middle-class“ und auf der Suche nach ‚der Liebe‘ - und nicht nach einer devoten Ehefrau samt zugehörigem, konventionellem Familienleben, wie im Machismo/ Marianismo dargestellt. Gegenseitige Liebe, Loyalität und Freundschaft bestimmen die Be‐ ziehung, welche dieser so genannte „romantic lover“ 230 laut Archetti zum Ide‐ albild erhebt. Die zugehörige ‚ideale Frau‘ ordne sich ihm nicht mehr unter und verkörpere auch nicht mehr die für den zeitgenössischen Liebesroman proto‐ typischen Tugenden wie Jungfräulichkeit und Keuschheit, sondern agiere frei und selbstbestimmt. Treue basiere für den romantischen Liebhaber auf wahrer, ‚authentischer‘ Liebe und nicht auf ehelicher Übereinkunft oder als Folge auto‐ ritären männlichen Verhaltens. Das heißt, er erwartet, dass seine Geliebte ihm aus freien Stücken treu ist und nicht unter dem Druck gesellschaftlicher Kon‐ ventionen und männlicher Autorität agiert. Männliche Sexualität richte sich demnach nicht auf Reproduktion, sondern auf sexuelle Erfüllung und die wie‐ derum unerfüllbare Sehnsucht nach der ‚wahren‘, romantischen Liebe. Die spe‐ zifische Weiblichkeit, die auf der Suche nach der unerreichbaren ‚wahren‘ Liebe adressiert wird, sieht Archetti daher in der Figur der unabhängigen, selbstbes‐ timmten Liebhaberin verwirklicht: „In the discourse of romantic love women can decide for themselves whom to love. In such cases the chosen man is res‐ ponsible only for himself and not for her decisions and feelings.“ 231 Frauen er‐ reichten damit einen Grad an Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit, die jeg‐ liche bürgerliche, heteronormative Vorstellung von Weiblichkeiten, die immer in Bezug auf oder in Abhängigkeit von einem Mann konstruiert seien, unter‐ 82 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="83"?> 232 Cf. Ibid. 233 Ibid., p. 201. Die Bezeichnung milonguita ist angelehnt an eine Unterart des argentini‐ schen Tangos, die Milonga, und bezeichnet demnach eine Tango-Tänzerin. 234 Ibid., p. 202. 235 Ibid. 236 In La vida breve (1950) schildert Brausen Miriams Vergangenheit als Jugendliche, die von der eigenen Mutter als Prostituierte ausstaffiert und auf die Straße geschickt wurde: „[H]abía recorrido, pintada, adornada y alentada por su madre (nada más, la madre, que una enorme carreta enharinada, un vaho de pescado frito), las paradas de taxímetros alrededor de las plazas.“ (VB 442) liefen. 232 Das Dilemma dieser Beziehung liege in deren Umsetzung, wie der Ter‐ minus ‚romantisch‘, sofern er in seinem eurozentrischen Ursprungssinn erfasst wird, bereits impliziere. Denn Beständigkeit habe nach wie vor nur die gesell‐ schaftlich anerkannte Form der Ehe und damit die Erfüllung christlich-bürger‐ licher Rollenanforderungen an die Eheleute. Die ‚wahre‘ Liebe bleibe damit nur als Utopie oder unerreichbares kulturelles Konstrukt bestehen. Sobald die Lieb‐ enden zueinander gefunden haben, trete, wie Archetti fortfährt, die paradoxe Situation ein, dass die romantische Liebe durch den Weggang der Frau entweder unglücklich ende oder sich in die bürgerlichen Rollenbilder, die sie unterlaufen wollte, fügen müsse. Im Gegensatz dazu sei das materialistische Denken der „milonguita“ 233 in‐ nerhalb des Narrativs der romantischen Liebe als oberflächlich und letztlich zerstörerisch markiert - gleichwohl sei sie immer wieder ebenfalls Adressatin des romantischen Liebhabers. Allerdings nur in Form eines unerreichbaren Ob‐ jekts der Begierde, da dem romantic lover meist die finanziellen Mittel (wealth) fehlten, um ihr das bieten zu können, wonach sie strebe: nämlich einer Verbes‐ serung ihrer sozialen und materiellen Situation. Archetti beschreibt die Tangobzw. Cabaret-Tänzerin als „sensual and egoistic“; außerdem verfüge sie über „self-confidence that emanates from their beauty and elegance“: 234 The milonguita escapes from the barrio, from poverty perhaps, and from a future as a housewife, to the center […], to the excitement, luxury, and pleasure that the best cabarets offer to young, ambitious, and beautiful women. 235 Die Tango-Tänzerin versuche durch Weggehen aus dem eigenen, meist ärmli‐ chen Viertel den sozialen Aufstieg und einen Ausbruch aus dem gesellschaftlich vorgezeichneten Weg als Mutter und Hausfrau - oder, wie im Falle Miriams in La vida breve (1950), aus der elenden körperlichen Ausbeutung als prekäre Pros‐ tituierte. 236 Der Aufbruch der Tänzerin sei mit einem Streben nach ökonomi‐ scher Verbesserung und den aufregenden Vergnügungen, die das Nachtleben verheiße, verbunden. Der Nachtclub ist damit zugleich als Ort gesellschaftlicher 83 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="84"?> 237 Eduardo P. Archetti: „Multiple Masculinities. The Worlds of Tango and Football in Ar‐ gentina“ (1997), p. 202. 238 Ibid., p. 203. Die Bezeichnung bacán steht umgangssprachlich für einen ‚coolen Typen‘. Freiheit markiert: „[C]abaret can provide a space of ‚freedom‘.“ 237 Dabei ist das Leben als Tänzerin auch stark an Aspekte der Physis geknüpft, denn, wie Ar‐ chettis Zitat zeigt, ist dieser Weg jungen und schönen Frauen vorbehalten. Mit zunehmendem Alter verliert deren Körperkapital an Wert und führt in die Ein‐ samkeit der Verlassenen. Denn die oberflächlichen, materialistischen Ge‐ schenke, die ihnen reiche Männer, Archetti bezeichnet sie als „bacanes“ 238 , bieten, erhalten sie nur, solange sie dem reichen Mann einen körperlichen Ge‐ genwert in Form von Jugend und Schönheit bieten können. Der reiche bacán, der seinen Wohlstand zur Verführung junger milonguitas einsetzt, repräsentiert eine Männlichkeit, die innerhalb des Tango-Diskurses als hegemonial wahrgenommen wird. Sie verweist den romantischen Liebhaber auf eine untergeordnete Position. Ökonomische Potenz gilt demnach als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit. Der prototypische Macho nach Stevens bietet dem‐ nach einen Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen Männlichkeiten an - insofern Archetti den bacán allein in Relation zur milonguita schildert. Dessen soziokulturellen Hintergrund, z. B. den entscheidenden Umstand, ob er verhei‐ ratet ist oder Kinder hat, erwähnt Archetti nicht - auch nicht in der Negation. Er schildert ihn allein in seinen sozialen Interaktionen im öffentlichen Raum, d. h. dem Tango-Milieu. Neben den Archetypen des romantic lover und des bacán arbeitet Archetti jedoch noch eine dritte wichtige männliche Figur innerhalb des Tango-Dis‐ kurses heraus, die, wie das nächste Zitat verdeutlichen soll, vor allem in seiner Körperlichkeit und seinem Überlegenheitsstreben auf ‚den Macho‘ nach Stevens verweist. Der compadrito repräsentiert den Typus des ‚eleganten Verführers‘ (im Gegensatz zu dem hauptsächlich als reich dargestellten bacán). Archetti be‐ schreibt ihn als jemanden whom no woman is able to resist, and is admired because of his courage, physical strength, and capacity to cheat where necessary. [He] has a defiant and hostile attitude toward other men. In the code of honor defended by the compadrito, violence and fighting establish and reproduce social hierarchies. […] He is very concerned with women’s loyalty but in a context where men expect obedience and submission from their women. He is a character from the outskirts, not the center, of the city. […] In this context male honor is very dependent on female sexual behavior. In some cases the betrayal by the women is punished by death, but in most, the woman is described 84 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="85"?> 239 Ibid., p. 204, Hervorh. i. Orig. 240 Ibid., p. 205. 241 Cf. Ibid. as weak, unable to resist temptation. The ‚other man‘ takes advantage of her moral fragility, and, consequently, is punished. 239 Seine soziale Stellung erreiche und verteidige der compadrito mittels Gewalt. Interaktionen mit anderen Männern seien von Feindseligkeit und Konkurrenz‐ kampf geprägt. Durch Mut, körperliche Stärke und, wenn nötig Betrug, ver‐ schaffe er sich Respekt innerhalb homosozialer Kontexte. Seine männliche Ehre sei von der Treue seiner Geliebten abhängig. Das heißt im Umkehrschluss, er fordert ihre Treue als Beweis seiner Männlichkeit ein - in der romantischen Liebe beruhte diese, wie bereits erläutert, auf der freien Selbstbestimmung der Frau. Der compadrito hingegen ahnde den Betrug, sofern seine Geliebte es über‐ haupt wagt, ihn zu betrügen, mit körperlicher Bestrafung, die auch den Tod der Frau bedeuten könne. Außerdem räche er sich an dem Konkurrenten, der die weibliche Schwäche ausgenutzt und die Ehre des compadrito verletzt hat. Dass Frauen dieser Art von Männlichkeit nicht nur machtlos gegenüberstehen, son‐ dern ihr auch nicht widerstehen können, wird im Tango-Diskurs auf ihren schwachen Charakter zurückgeführt. Hauptmerkmale dieser spezifischen Weib‐ lichkeit seien Abhängigkeit von der brutalen Männlichkeit des compadrito sowie Verschlagenheit. Allerdings befinde sich der compadrito in vielen Tango-Texten in der Krise. Als Ausdruck dieser Krisenhaftigkeit führt Archetti die Tatsache an, dass der compadrito seine verletzte Ehre in einigen Fällen nicht mehr durch Tötung der untreuen Geliebten wiederherzustellen, sondern den Ehrverlust tränenreich be‐ trauere und die Frau zu vergessen versuche: Many tangos between 1917 and 1930 present the figure of the compadrito in a deep identity crisis. In ‚La he visto con otro‘ (I have seen her with another man) the betrayed man will not kill her: while crying, he will try to forget her. 240 In anderen Narrativen erfahre der betrogene compadrito vermittels der ‚trans‐ formativen Kraft der Liebe‘ Läuterung. Anstatt sein Leben durch die kontinu‐ ierliche Konkurrenz und körperliche Auseinandersetzung mit anderen Männern aufs Spiel zu setzen, nehme er den potentiellen Ehrverlust hin. 241 Das heißt, der Betrug kann für den compadrito nicht nur bedeuten, durch die Rache an seinem Konkurrenten das eigene Leben riskieren zu müssen, sondern er kann die Ehr‐ verletzung gleichsam als Katharsis nutzen. 85 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="86"?> 242 Ibid., p. 203. 243 Ibid. Die Konzeption der Mutter ist bei Archetti nur andeutungsweise ausgearbeitet, insofern er an dieser Stelle nicht zwischen romantischer Liebe und käuflicher Liebe unterscheidet. Es ist anzunehmen, dass diese Vermischung seinem Forschungsinteresse und damit einer grundsätzlichen Fokussierung auf Männlichkeiten sowie einer nur holzschnittartigen Analyse von Weiblichkeiten geschuldet ist. 244 Welche Räumlichkeiten die unabhängige Geliebte besetzt, geht aus Archettis Analyse nicht hervor. Teilweise verwendet er die Weiblichkeiten der unabhängigen Geliebten und der Tänzerin synonym, wobei eine normative Hierarchie zwischen beiden zu be‐ stehen scheint. Die milonguita gilt als materialistisch und oberflächlich, die unabhän‐ gige Geliebte als selbstbestimmt und unabhängig. 245 Cf. Eduardo P. Archetti: „Multiple Masculinities. The Worlds of Tango and Football in Argentina“ (1997), p. 203. Die letzte archetypische heterosoziale Konstellation, die Archetti anführt, ist die von Mutter und Sohn. Dabei werde, so Archetti, der männliche Protagonist der Tango-Narrative niemals als Vater, sondern immer als Sohn dargestellt. Das Bild der idealisierten Mutter werde mit Begriffen wie „purity, suffering, since‐ rity, generosity, and fidelity“ assoziiert: „The idealized mother is the source of boundless love and absolute self-sacrifice.“ 242 Reinheit, Leiden und Selbstaufop‐ ferung spielen wieder deutlich auf das weibliche Idealbild im Marianismo an, während Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Fröhlichkeit und grenzenlose Liebe eher auf charakterliche Aspekte und Verhaltensweisen deuten, die mit der spe‐ zifischen Weiblichkeit der unabhängigen Geliebten korrespondieren. Zwei Weiblichkeiten schlössen sich in Archettis Analyse jedoch aus. So be‐ sitze die klassische Mutterfigur zwar durchaus Charakteristika der unabhän‐ gigen Geliebten, mit der spezifischen Weiblichkeit der Tänzerin sowie dem frei‐ heitlichen Ideal einer romantischen Liebe sei sie jedoch komplett inkompatibel. Archetti argumentiert, dass aus einer freiheitsliebenden Tänzerin (und einer unabhängigen Geliebten) keine aufopferungsvolle Mutter werden könne und vice versa: The milonguita cannot be transformed into a ‚mother‘, and, conversely, the ‚mother’s‘ world excludes the nightlife of the public sphere. In other words, a milonguita will never be a wife, or a mother of many children. Hence, for the chaste mother, romantic love is impossible, just as motherhood is impossible for the milonguita. 243 Die Inkompatibilität dieser Weiblichkeiten ist nicht zuletzt an die spezifischen Räumlichkeiten gebunden, welche die jeweiligen Figuren besetzen: die Mutter das Haus als private Enklave, die Tänzerin die Cabarets im öffentlichen Raum. 244 Während Muttersein an den häuslichen Raum gebunden ist und heteronorma‐ tiven Zwängen unterliegt, verkörpert die Tänzerin Werte wie absolute Freiheit und Selbstbestimmtheit, die sie nur in der Öffentlichkeit ausleben kann. 245 86 2 Theoretische Implikationen zur Verknüpfung von Raum, Macht und Gender <?page no="87"?> Nach diesem Überblick über den theoretischen Grundstock dieser Arbeit, be‐ ginnt mit dem folgenden Kapitel die Textarbeit an ausgewählten Romanen und einer Kurzgeschichte Onettis. Doch zunächst einmal soll über die Analyse der diskursiven Darstellung Santa Marías das Untersuchungskorpus eingehend vor‐ gestellt werden. 87 2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten <?page no="89"?> 246 CI 950. 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt: Die diskursive Ausgestaltung Santa Marías innerhalb des Analysekorpus El profesor preguntó si el nombre de Santamaría me era conocido. Le dije que toda América del Sur del Centro estaba salpicada de ciudades o pueblos que llevaban ese nombre. -Ya lo sé. Pero nuestra Santamaría es cosa distinta. 246 Juan Carlos Onetti (1993) Mit La vida breve (1950) entsteht auch Santa María als einer der prägendsten imaginären Orte der lateinamerikanischen Literatur. Denn, wenngleich dieses scheinbar so vertraute und gleichzeitig so schwer greifbare fiktive Territorium stets mit den weitaus berühmter gewordenen Topographien Comala von Juan Rulfo oder Gabriel García Márquez’ weltbekanntem Macondo verglichen wird, so gerät dabei oftmals eines in Vergessenheit: Am Beginn dieser modernen li‐ terarischen Entwicklung Lateinamerikas, einen spezifischen Ort ins Zentrum einer oder mehrerer Erzählungen zu stellen, steht Santa María. Der Roman, in dem Juan María Brausen Santa María erstmals imaginierte, erschien 1950, von Comala erfuhren die Leser*innen 1955, von Macondo 1967. Santa María geht auf eine Drehbuchidee der Romanfigur Juan María Brausen in La vida breve (1950) zurück. Die Handlung dieses Drehbuchs situiert Brausen ebendort. Da dieses Drehbuch in der Fiktion jedoch nie über den Status des ‚Gedachtwerdens‘ hinausgeht, d. h. von der fiktiven Autorfigur Brausen niemals aufgeschrieben, geschweige denn verfilmt wird, gilt Santa María - zumindest als Drehort im Roman - als gescheitert: Yo ya había aceptado la muerte del argumento de cine, me burlaba de la posibilidad de conseguir dinero escribiéndolo; estaba seguro de que las vicisitudes que había proyectado con precisión y frialdad para Elena Sala, Díaz Grey y el marido no se cumplirían nunca. (VB 533) <?page no="90"?> 247 Die genderspezifischen Machtrelationen, in die diese beiden Problemfelder einge‐ bunden sind, werden in den Kapiteln 4 und 5 noch detailliert zu diskutieren sein. 248 Zyklisch insofern, als nach der angedeuteten physischen Zerstörung Santa Marías in Dejemos hablar al viento (1979), der Roman Cuando ya no importe (1993) auf den Ruinen Santa Marías aufbaut - sowohl auf diskursiver wie auch auf diegetischer Ebene. Eine anonyme Erzählstimme berichtet: „Pero sí el cura engalanado recordó una lluvia de fuego que ya insinuaba el repugnante calor que agobiaba la ciudad, comarca, provincia, país o reino llamado Santamaría.“ (CI 964) So ist nach der Feuersbrunst, die am Ende von Dejemos hablar al viento (1979) angedeutet und dessen Zerstörungskraft erst in der Rückblende in Cuando ya no importe (1993) offenbar wird, ebenda von Santamaría als Stadt, Comarca, Provinz, Land oder Königreich die Rede. Dieses ‚textuell neue‘ Santa‐ maría kann damit (fast) alles sein. Phonetisch bleibt der Name gleich, doch syntaktisch wird Santa María in Cuando ya no importe (1993) zu einem einzigen Wort zusammen‐ gezogen - und zugleich in Santamaría Vieja und Santamaría Nueva aufgeteilt. Als - von dem realen Autor Onetti zu Papier gebrachter - literarischer Dis‐ kursraum verbindet Santa María jedoch fast alle Texte, die Onetti nach La vida breve (1950) verfasst hat. La vida breve (1950) wird damit zum Gründungstext innerhalb des Gesamtwerks. Wie in der Einleitung bereits dargestellt, widmet sich vorliegende Arbeit insbesondere den Santa-Maria-Texten Onettis, die das Verhältnis von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion ab‐ bilden. In editionschronologischer Reihenfolge sind dies: La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968), La muerte y la niña (1973) sowie Dejemos hablar al viento (1979). Die fünf ausgewählten Erzählungen sind damit nicht nur durch Santa María als Diskursraum verbunden, sondern auch durch einen thematischen Schwerpunkt: Sie verhandeln allesamt Elternschaft und Re‐ produktion als dysfunktionale Systeme. 247 Dieser Dysfunktionalität steht die Darstellung künstlerische Produktion als herausgehobener Selbstzweck ent‐ gegen, wie im vierten Kapitel anhand männlicher Erzähler und männlich kon‐ notierter Erzählkunst herausgearbeitet werden soll. Inwieweit die Problemati‐ sierung von Elternschaft als Strategie weiblicher Selbstermächtigung gelesen werden kann, soll im fünften Kapitel untersucht werden. In diesem Kapitel soll jedoch zunächst einmal Santa María vermessen werden, einerseits als alle Er‐ zählungen umspannender Diskursraum, andererseits aber auch als Stadtraum, dessen räumliche Ausgestaltung wiederum in Wechselwirkung zur Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse innerhalb der Texte tritt. Gleichzeitig stellt dieses Kapitel einen inhaltlichen Überblick über die einzelnen unter‐ suchten Texte sowie deren Verknüpfung innerhalb des Analysekorpus dar. Im Sinne einer narrativen Rahmung können die beiden Romane La vida breve (1950) und Dejemos hablar al viento (1979) als Anfang und Endes eines möglichen Lebenszyklus‘ namens Santa Marías gelesen werden. 248 So schildert La vida breve (1950) die Erfindung Santa Marías sowie dessen metafiktionale Verortung im 90 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="91"?> 249 Verani bezeichnet den Roman in diesem Kontext auch als „palimpsesto de la memoria“: „De hecho, la novela absorbe y reescribe historias ya contadas y presupone un lector familiarizado con los relatos escritos por el autor desde la publicación de El pozo en 1939.“ (Hugo J. Verani: „Onetti y el palimpsesto de la memoria“, p. 725.) Elena M. Mar‐ tínez hingegen betont die Bedeutung des Karnevals für die Doppelung des Textraums. Demnach generiert Onetti mit Dejemos hablar al viento (1979) einen Paratext zu La vida breve (1950), welches damit wiederum zum Intertext wird: „El carnaval instaura una duplicidad, es el centro productor tanto de La vida breve como de Dejemos hablar al viento. El paratexto se abre con ‚Mundo loco’, una frase inconexa, que rompe las ex‐ pectativas del lector, frase que se refiere al carnaval: mundo al revés o mundo (loco) abreviado.“ (Elena M. Martínez: „Onetti lector de Onetti“ (1990), p. 214) 250 Eva Erdmann: „Onettis Santa María“ (2019), pp. 63 sq. 251 Es gibt zwar in den Texten Versuche einer Kartographierung, allerdings bleiben diese wenig aussagekräftig. So etwa in Jacob y el otro (1959). Dort heißt es über Santa María: „Era una ciudad alzada desde el río, […], a cinco centímetros más o menos al sur del Ecuador.“ (JO 141) Die einzig valide Aussage bezieht sich dabei auf ‚südlich des Äqua‐ tors‘, denn wieviel die angegebenen fünf Zentimeter auf der Landkarte realiter be‐ deuten, d. h. in welchem Maßstab die Karte (und welche Karte überhaupt) gezeichnet ist, bleibt offen. Poppenberg nennt diese Unbestimmtheit eine „absonderliche Topo‐ logie“, deren realistische Darstellung möglicherweise nicht in einem „euklidischen und Gesamtwerk. Dejemos hablar al viento (1979) deutet im letzten Kapitel die phy‐ sische Zerstörung Santa Marías an und wird gemeinhin als Replik auf alle vo‐ rangegangenen Romane, insbesondere La vida breve (1950), interpretiert. 249 Die Handlungen von Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968) und La muerte y la niña (1973) schreiben sich jeweils intratextuell in diesen Zyklus ein. Monographisch gelesen entwickelt sich das anfänglich als Drehort ersonnene Santa María in nachfolgenden Romanen zu einem eigenen metafiktiven Dis‐ kursuniversum, das, wie in Kapitel 4.1 zu zeigen sein wird, in unterschiedlich starker Ausprägung von seinem fiktiven Schöpfer Brausen dominiert wird. To‐ pographisch entzieht sich Santa María dabei jedoch jedweder Eindeutigkeit. Eva Erdmann veranschaulicht dies an folgenden Beispielen: Santa María ist kaum ein topographisch fassbarer Ort, da er aus der Beziehung, Nähe oder Ferne zu anderen Orten beschrieben wird. Er ist von Buenos Aires mit dem Zug erreichbar, dagegen liegt er unerreichbar zu ‚Esbjerg, en la costa’, dann ist die Strecke ein anderes Mal wieder auf einem Fußweg von der ‚Colonia Suiza’ aus zu bewäl‐ tigen […]. 250 Buchstäblich zum Scheitern verurteilt ist so der Versuch, eine Karte zu zeichnen, welche die wiederkehrenden Orte innerhalb Santa Marías (Kirche, diverse Ho‐ tels und Bordelle) und auch dessen Außentopographie (in Bezug auf Buenos Aires, Montevideo oder in späteren Werken Monte, Enduro oder Rosario sowie die Werft oder die Schweizer Kolonie) konzise abzubilden vermag. 251 Gleichwohl 91 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="92"?> geographischen Sinne real [sei]“, sondern stattdessen „variable Krümmungen auf‐ weis[e]“. (Cf. Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. III“, p. 521.) 252 Andreas Mahler: „Stadttexte - Textstädte“ (1999). 253 Cf. Ibid., p. 12. 254 Cf. Ibid., p. 13. 255 Direkt referentialisiert über das Aufrufen der Städtenamen sind etwa Buenos Aires in La vida breve (1950) oder Montevideo in El pozo (1939). lässt sich mithilfe strukturalistischer Kriterien die diskursive Darstellung Santa Marías in den verschiedenen Texten nachzeichnen, die, so die These, im Laufe des Gesamtwerks veränderlich ist. Dieses Kapitel soll daher zunächst anhand der diskursiven Darstellung Santa Marías die (stadt-)räumlichen Strukturen, Konfliktfelder und gesellschaftlichen Diskurse beleuchten, innerhalb derer sich die Problematiken dysfunktionaler Elternschaft und Reproduktion bei Onetti verorten lassen. Die folgende Analyse soll somit zeigen, dass Santa María in Onettis Texten nicht als starre räumliche Kulisse konstituiert ist, sondern viel‐ mehr eine veränderliche, mitunter kontingente Raumfigur darstellt, über welche die einzelnen Texte miteinander verbunden sind und vermittels derer gesell‐ schaftliche Diskurse abgebildet werden. Für die entsprechende Analyse der Darstellung Santa Marías in diesem Kapitel werden Andreas Mahlers Kriterien zur Untersuchung von „Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitu‐ tion“ 252 herangezogen. „Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“ nach Andreas Mahler In seinem Aufsatz „Stadttexte - Textstädte“ (1999) verwendet Mahler den Begriff Stadttext als Kategorie des Ausdrucks, als „Kette der Signifikanten“, den Begriff „‘Textstadt‘ als dazugehörige Seite des Inhalts, […] als […] die Seite des Signifi‐ kats.“ Um einen Stadttext und die dazugehörige Textstadt handelt es sich dann, wenn eine „thematische Gebundenheit“ an den Untersuchungsgegenstand Stadt klar erkennbar ist. Die sanmarianischen Texte Onettis fallen klar in diese Kate‐ gorie, insofern Santa María darin nicht allein als Hintergrund oder Schauplatz dient, sondern „unkürzbarer Bestandteil des Textes“ ist. 253 Mahlers Systemati‐ sierung zielt darauf, erstens „die Formen diskursiver Stadtkonstitution“, zwei‐ tens „die Gründe für die Produktion von Textstädten“ und drittens deren Funk‐ tion zu analysieren. 254 Die diskursive Darstellung einer Textstadt erfolgte laut Mahler über unter‐ schiedliche Konstitutionstechniken. Möglich sei dabei entweder eine direkte Referentialisierung, d. h. ein denominativer Verweis auf außerliterarisch ver‐ ortbare Städte oder Stadtteile, oder eine indirekte Referentialisierung bzw. se‐ mantische Stadtkonstitution. 255 Letzteres sei der Fall, wenn eine Textstadt über 92 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="93"?> 256 Cf. Andreas Mahler: „Stadttexte - Textstädte“ (1999), pp. 14-20. 257 Werner Schroeters Romanverfilmung Nuit de chien / Diese Nacht (2008) wählt das por‐ tugiesische Porto als realen Drehort. Durch panoramatische Außenaufnahmen wird Porto im Film eindeutig erkennbar. 258 Andreas Mahler: „Stadttexte - Textstädte“ (1999), p. 21. 259 Ibid. 260 Ibid. 261 Ibid., p. 22. bestimmte semantische Verweise, d. h. über die Bildung von Isotopien als städt‐ isches Diskursuniversum erkennbar werde. Dabei sei zwischen Konstitutions- und Spezifikationsisotopien zu unterscheiden. Während sich Konstitutionsiso‐ topien aus einzelnen Semantiken zusammensetzten, die den Begriff Stadt konstituieren, fächere die Verwendung spezifischer Semantiken den Begriff Stadt weiter auf bzw. verleihe ihm eine spezifische Qualität. 256 So etwa die na‐ menlose Stadt in Para esta noche (1943): Die dichte Beschreibung der Gescheh‐ nisse einer einzigen Nacht sind dort in einer Stadt verortet, deren isotope Be‐ schreibung einen urbanen Kriegsschauplatz evoziert, wie er im 20. Jahrhundert in vielen westlichen Städten zu finden war. 257 Bezüglich der Perspektive, aus der heraus die Stadt im Text artikuliert wird, unterscheidet Mahler zwischen interner (mit Bindung an eine Figur) und ex‐ terner Fokalisierung (ohne Bindung an eine Figur) der Wahrnehmungsinstanz. Darüber hinaus zeige die Distanz zwischen dem beschriebenen Objekt und der Wahrnehmungsinstanz (etwa Vogel- oder Froschperspektive) die „Lokalisierung des wahrnehmenden Subjekts“ 258 an. Die „Mobilität der Wahrnehmungsin‐ stanz“ 259 zeige sich hingegen in der Statik respektive Dynamik einer Perspektive. Ein dritter Aspekt der Modalisierung sei der „Grad [der] mentalen Synthesefä‐ higkeit“ 260 , d. h. handelt es sich um eine unkommentierte oder eine kommen‐ tierte Darstellung. Je nach Ausschlag der einzelnen Modalisierungstechniken unterscheidet Mahler zwischen einem „verfügungsmächtige[n] panoramati‐ sche[n] Blick auf die Stadt oder eine[r] zunehmend eingeschränkte[n], subjekt‐ gebundene[n] Stadtsicht“. 261 In einem nächsten Schritt erläutert Mahler textinterne und textexterne Funk‐ tionen diskursiver Stadtgestaltung. Erstere diene dazu, eine Erzählung und die zugehörigen Figuren an einem bestimmten Ort zu situieren. Für die Besonder‐ heit der Verortung in einem urbanen Szenario schlägt Mahler eine Skalierung der beschriebenen konstitutiven und modalisierenden Kriterien vor. Konkret differenziert er „den Grad der Universalität der Konstitutionsisotopie“, d. h. ruft ein Text semantisch eine ganze Stadt auf, handelt es sich um einen „globale[n] Typ“. Adressiert er eher Teilelemente davon, spricht Mahler von einem „par‐ tiale[n] Typ“. Der partiale Typ könne weiter hinsichtlich seiner Lage und seiner 93 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="94"?> 262 In einer detaillierten Studie zu Santa María geht Agustín Corti eben dieser Frage nach. Anhand von Archivmaterial vergleicht er die Originalmanuskripte mit den veröffent‐ lichten Texten. Dabei arbeitet er eine Verschiebung der Darstellung von Buenos Aires im Laufe der editorischen Genese von Juntacadáveres (1964) heraus: „[E]l texto meca‐ nografiado de dicha obra [Juntacadáveres, eig. Anmk.] decía originariamente: ‘Podemos ir al Rosario o a Buenos Aires’; Buenos Aires se encuentra tachado y sustituido por ‘la Capital’. […] La invisibilisación de Buenos Aires, por ejemplo, se lleva adelante también en la eliminación de nombres de calles. Si en Juntacadáveres dice que Junta ‘vivía en una pensión del centro’ (JC, cap. XIV, 460), en el manuscrito mecanografiado decía, antes de ser tachado, ‘vivía en una pensión de la calle Sarmiento, a la altura del Con‐ greso’; más adelante, cambia la calle Corrientes por ‘la gran avenida’.“ (Agustín Corti: „El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti“ (2019), p. 36) 263 Andreas Mahler: „Stadttexte - Textstädte“ (1999), p. 24. 264 Ibid. 265 Cf. Ibid., pp. 24 sq. Reichweite systematisiert werden. So sei zu untersuchen, inwiefern der Text eine Stadt nur über ein bestimmtes Viertel, das Zentrum oder das Industriegebiet abbildet und wie groß der dargestellte Ausschnitt ist, d. h. handelt es sich bei dem Ausschnitt um den gesamten Stadtraum oder etwa nur um eine einzelne Wohnung innerhalb eines Stadtraums? Weiter ausdifferenziert werde die Ein‐ teilung in global oder partial darüber, ob eher direkte Referenzen, wie etwa der Stadtname oder die Namen einzelner Stadtteile, als bekannt voraussetzbarer Monumente oder Sehenswürdigkeiten abgerufen, oder ob auf diese Prototypik eher verzichtet werde. 262 Hinsichtlich der Modalisierungsstrategien lasse ein panoramatischer, verfügungsmächtiger Blick auf einen globalen Typus schließen, eine eingeschränkte Wahrnehmungsperspektive eher auf einen par‐ tialen. Mahler leitet daraus ab, dass, „[j]e stärker konturiert die Konstitutions‐ isotopie, je präziser die Referenzen, desto geringer enthebbar [ist] die Stadt.“ 263 Analog dazu konstatiert er: „Je weniger prototypisch die Nennungen, je enger der Fokus, desto subjektiver, idiosynkratischer wird [die Stadt] sein.“ 264 Bezüg‐ lich ihrer semantischen Darstellung sei zwischen „homolog[…]“ und „wider‐ ständig[…]“ zu unterscheiden, d. h. stehen die verwendeten Spezifikationsiso‐ topien im Einklang oder im Widerspruch zueinander? Je nachdem vermittelten sie ein geschlossenes oder ein ambivalentes Abbild. 265 Die textexternen Funktionen diskursiver Stadtdarstellung gäben indes Auf‐ schluss darüber, inwieweit bestimmte Themen, Motive und Diskurse die Dar‐ stellung einer Stadt im Text prägen oder gar überlagern. Die künstlerische Ver‐ mittlungsebene wird dabei als gegeben vorausgesetzt, d. h. eine Textstadt ist per se ein medial vermitteltes Konstrukt. Je nachdem in welchem Umfang eine Text‐ stadt in der außerliterarischen Welt referentialisierbar ist, spricht Mahler von 94 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="95"?> 266 Cf. Ibid., p. 25. 267 Ibid. 268 Hugo J. Verani: Juan Carlos Onetti. El escritor y la crítica (1987), p. 227. „Städte[n] des Realen“, Imaginären oder Allegorischen. 266 Die Klassifizierung richte sich dabei nach der Ausprägung der jeweils verwendeten Konstitutions‐ techniken. „Städte des Realen“ wiesen sich durch einen hohen Referentialisie‐ rungsgrad aus, „Städte des Imaginären“ bestünden vornehmlich aus Konstitu‐ tionsisotopien und in „Städte[n] des Allegorischen“ überwögen die Spezifikationsisotopie. Letztgenannte begönnen „alles Städtische zu funktiona‐ lisieren […] zugunsten eines anderen Themas.“ 267 In der folgenden Analyse soll dementsprechend herausgearbeitet werden, welche textexterne Funktion Santa Marías in den einzelnen Text im Vorder‐ grund steht bzw. wie sich die verschiedenen Darstellungen überlagern: Verhan‐ delt Onetti Reproduktion und Elternschaft als dysfunktionale Systeme vor dem Hintergrund einer typisch lateinamerikanischen Provinzstadt oder werden be‐ reits durch die unterschiedlichen diskursiven Darstellungen Santa Marías be‐ stimmte Konflikte oder Themenfelder bezüglich Reproduktion und Elternschaft sichtbar? Auf diese Fragestellung hin sollen in diesem Kapitel die ausgewählten Texte in editionschronologischer Reihenfolge - die nicht zwingend eine erzählte Chronologie bedingt! - inhaltlich skizziert und in Bezug auf das Stadtmotiv untersucht werden. 3.1 La vida breve (1950) Der Roman La vida breve (1950) besteht aus zwei Teilen, wobei der erste in insgesamt 24, der zweite in 17 Kapitel unterteilt ist. Verani liest ihn als Schlüs‐ selroman, der mit der Erfindung des metafiktiven Santa Marías die erzählerische Basis für (fast) alle weiteren Erzählungen legt: La vida breve es otro ejemplo de lo que se ha dado en llamar la ‘novela de la novela’; […]. La ficción original sirve de punto de partida para la creación de otro mundo, absolu‐ tamente relativo, que sólo existe en la mente del protagonista-narrador. 268 La vida breve (1950) verhandelt demnach narrative Strategien der Autofiktions‐ erzeugung. Der Roman führt exemplarisch vor, wie Literatur auf unterschied‐ lichen Ebenen entsteht, und wie diese miteinander verbunden sind. La vida breve (1950) operiert mit zwei unterschiedlichen Fiktionsebenen, deren Plots sich im vorletzten Kapitel „Thalassa“ kreuzen. Handlungsort der Ursprungsfiktion (F1) ist Buenos Aires, deren Protagonist der erfolglose Werbetexter und Drehbuch‐ 95 3.1 La vida breve (1950) <?page no="96"?> 269 Ob Ernesto tatsächlich Quecas Geliebter ist, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor; möglich wäre auch, dass Ernesto Quecas Zuhälter ist. Das Verhältnis der beiden wird nicht näher definiert, deutlich wird allerdings, dass Queca sich vor Ernesto fürchtet und er durch einen eigenen Schlüssel ständigen Zugang zu ihrer Wohnung besitzt. 270 Dies ist auch der Moment, in dem Brausen / Arce von Kommissar Medina, der dem Leser aus der limitierten Erzählperspektive Brausens / Arces heraus nur als „el hombre” (VB 697) bekannt ist, als Brausen enttarnt wird: „-Usted es el otro -dijo el hombre-. Entonces, usted es Brausen.“ (VB 697) autor Juan María Brausen. Dessen Ehefrau Gertrudis leidet an Brustkrebs und muss sich zu Beginn des Romans einer Amputation der linken Brust unter‐ ziehen. Kurz darauf zerbricht die Ehe der beiden und Gertrudis zieht aus dem gemeinsamen Appartement aus. Brausen, der sich aufgrund seines beruflichen und privaten Scheiterns in einer tiefen Lebenskrise befindet, lässt sein altes Leben als treusorgender Ehemann „Juanicho“ ( VB 589) nominell hinter sich und agiert nun vermittels zweier zusätzlicher Alter Egos. Als Freier Juan María Arce führt er ein geheimes Doppelleben im Nachbarappartement, das von der Pros‐ tituierten Queca bewohnt wird. Er beginnt, die Prostituierte zu misshandeln und fasst schließlich den Plan, sie zu töten. Bei der Umsetzung kommt ihm jedoch Ernesto, Quecas Geliebter 269 , zuvor. Brausen ertappt Ernesto auf frischer Tat und agiert eigenmächtig als dessen Fluchthelfer, d. h. er nötigt Ernesto seine Hilfe auf. Gemeinsam flüchten Brausen und Ernesto in das metafiktive Santa María und stellen sich dort der Polizei. 270 Der zweite Handlungsstrang entfaltet sich in der Erfindung eines metafik‐ tiven Drehbuchs (F2), das Brausen in Santa María verortet. In dem Drehbuch‐ entwurf trifft der Arzt Díaz Grey auf die verheiratete Elena Sala; Díaz Grey versorgt Elena Sala mit Morphium, die beiden beginnen eine Affäre und auf der Suche nach einem jungen Engländer namens Owen - vermutlich einer ehema‐ ligen Affäre Elena Salas - verbringen die beiden gemeinsam Zeit in einem Hotel am Strand. Im Hotelzimmer stirbt Elena Sala an einer Überdosis und Owen er‐ schießt im weiteren Verlauf der Erzählung einen Polizisten. Díaz Grey wird indes immer tiefer in die Drogengeschäfte von Elena Salas Ehemann Lagos hi‐ neingezogen. Das letzte Kapitel schildert die Flucht eines kuriosen Quartetts: Als König, Ballerina, Hellebardier und Stierkämpfer verkleidet, versuchen Lagos, Díaz Greys junge Geliebte Molly, der Engländer Owen und Díaz Grey selbst, in den Turbulenzen des Karnevals einer Verhaftung wegen Mordes und Drogenhandels zu entkommen. Die Handlungsstränge der beiden Fiktionsebenen werden abwechselnd erzählt und kreuzen sich teilweise auf diskursiver Ebene innerhalb eines einzigen 96 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="97"?> 271 In folgendem Beispiel dient der Traum noch als verbindendes Element der beiden Fik‐ tionsebenen: „Sumergí en mi tristeza la figura alta y fuerte, secretamente averiada, de Gertrudis subiendo hacia mí en el ascensor a las ocho de la mañana, cerré los ojos en la oscuridad que comenzaba a debilitarse, para ver, en una hora próxima al mediodía, hacia el norte y junto a un río, en la sala de espera del consultorio de Díaz Grey, una mujer gruesa, con una inmóvil expresión de ofensa, que sostenía a un niño entre las rodillas.“ (VB 449 sq.) Die Szene beschreibt, wie Brausen im Bett liegt und an Gertrudis denkt, als er einschläft und sich unvermittelt in Santa María wiederfindet. So ist der Übertritt zwar durch die Raumfigur des Traums markiert, syntaktisch gehen die beiden Ebenen jedoch innerhalb eines einzigen Satzes ineinander über. Semantisch völlig un‐ markiert ist der Übergang zwischen den beiden Erzählebenen indes in diesem Beispiel: „Me incliné sobre el escritorio para anotar en la libreta un nombre y una suma de dinero; después el médico, Díaz Grey, se acercó con frialdad a la mujer que no había querido sentarse.“ (VB 450) Das Zitat ist eine Fortführung von Brausens Traum. Die Person, die sich an den Schreibtisch setzt, um Namen und Geldbetrag zu notieren, ist dabei dieselbe Person, die kühl auf die Frau, die sich nicht setzen wollte, zugeht. Das heißt, im ersten Teil des Satzes spricht Brausen als autodiegetischer Erzähler, im zweiten Teil übernimmt ein extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler mit Innenfokalisierung auf Díaz Grey. Das handelnde Subjekt beider Teilsätze bleibt dabei gleich. 272 Cf. Hugo J. Verani: El ritual de la impostura (2009 [1981]), pp. 83 sq. Auf die parallele Darstellung der Frauenleichen verweist auch Maloof. Sie arbeitet heraus, dass beide Frauenleichen eine fast wortgleiche Reaktion bei den männlichen Protagonisten Brausen / Arce und Díaz Grey hervorrufen und zieht daraus folgende drei Schlüsse: „First, the association of the death of Queca with that of Elena Sala is stressed; secondly, it calls attention to the literary, aesthetic quality of the female corpse seen from the vantage point of the male protagonist. And finally, it emphasizes the necrophilia inhe‐ (Ab)satzes. 271 Erst im vorletzten Kapitel „Thalassa“ führt Onetti diese beiden Ebenen auch diegetisch zusammen: Brausen, der Protagonist von Ebene 1 (F1) und geistige Schöpfer von Ebene 2 (F2) tritt in den Handlungsraum von Ebene 2 (F2), Santa María, ein - und trifft dort auf seine eigenen, d. h. die von ihm erdachten Figuren. Mit Brausens Eintritt in die Metafiktion ist auch ein grund‐ legender Wechsel in der Erzählperspektive verbunden: Sowohl Brausens Ge‐ schichte in Buenos Aires und Montevideo als auch der Drehbuchentwurf werden von Brausen erzählt. Mit seiner Festnahme - einem Akt autopoetischen Erkennens - und der Flucht Díaz Greys aus Santa María übernimmt der Arzt als autodiegetischer Erzähler. Hugo Verani verweist in diesem Kontext auch auf parallele Strukturen, die sich innerhalb des Romans nachzeichnen lassen und die formale Geschlossen‐ heit der beiden Fiktionsebenen belegen. So konstatiert er einerseits die fast wortgleiche Beschreibung der beiden Frauenleichen Elena Salas und Quecas (beide ihrerseits Wiedergängerinnen von Brausens Ehefrau Gertrudis) und an‐ dererseits die Parallele, die zwischen der Flucht Brausens und Ernestos und der Díaz Greys, Lagos, Oscar Owens und Mollys besteht. 272 Der einzige Unterschied 97 3.1 La vida breve (1950) <?page no="98"?> rent in the narrative perspective. Only a dead woman ‘who abstains from voicing her experiences’ can be tolerated. If having a voice is the hallmark of subjectivity, the death is the supreme example of the erasure of subjectivity.“ (Cf. Judy Maloof: Over her dead body (1995), pp. 90 sq.) der beiden dargestellten Fluchten liegt in deren gegenläufiger Richtung: Die erste Gruppe flieht nach Santa María, zweitere aus Santa María. Mit dem Wechsel der Erzählperspektive wird demnach auch die Bedeutung Santa Marías von einem Sehnsuchtszu einem dystopischen Ort umkodiert. Das Santa María, das Brausen als Handlungsort seines Drehbuchs imaginiert und in das er später zusammen mit Ernesto flieht, ist geprägt von semantischen Referenzen und Isotopien, die eine Kleinstadt an einem Fluss konstituieren: So befindet Brausen: „El médico vive en Santa María, junto al río.“ ( VB 429) Au‐ ßerdem liegt die Stadt in Brausens Fantasie in direkter Nachbarschaft zu einer Schweizer Kolonie: „Sé que hay junto a la ciudad una colonia suiza.“ ( VB 429) Díaz Grey wird als „médico de pueblo“ ( VB 455) beschrieben, Santa María selbst mehrmals als „ciudad de provincias“ ( VB 431, 621) oder „pequeña ciudad“ ( VB 430). Es gibt eine unauffällige Kirche und einen provinziell-öde anmutenden Stadtplatz („una iglesia que equivalía a cualquier otra, una plaza desierta y pro‐ vinciana“ VB 688), außerdem Geschäfte des täglichen Bedarfs („la cooperativa, la farmacia, la confitería“ VB 689) und mit dem Club („el club“ VB 689) und dem Konservatorium zwei Institutionen, die auf ein gemeinschaftliches, kulturelles Stadtleben schließen lassen. Hotels („[e]l hotel […] en la esquina“, „la Pensión para Viajeros“ VB 687) und Restaurants („‘Berna-Cervecería‘“ VB 691) komplet‐ tieren das Erscheinungsbild einer durchschnittlichen Kleinstadt. Schweizer Stadtnamen wie ‚Berna‘ verweisen auf eine starke Präsenz europäischer Ein‐ wanderer. Außerhalb Santa Marías liegt eine Konservenfabrik: […] fuera de la ciudad, […], en un barrio poblado por pescadores y por obreros de una fábrica de conservas, entre casuchas de madera y zinc, pintarrajeadas, con mástiles de tablas unidas por alambres y redes remendadas en los techos, con niños sucios y feos, hombres taciturnos, mujeres que cambiaban sus ropas al atardecer […], el pelo crespo aún goteante, […]. (VB 683) Die Siedlung um die Konservenfabrik herum besteht aus ärmlichen Hütten und beherbergt Fischer und Fabrikarbeiter mit ihren Familien. Die Frauen werden phänotypisch durch ihr krauses Haar (pelo crespo) als Indigene erkennbar. Die Kinder dieser Bewohner*innen werden als schmutzig und hässlich (niños sucios y feos), die Männer als wortkarg beschrieben. Insgesamt vermittelt der Aus‐ schnitt damit das Bild eines tristen, heruntergekommenen Arbeiterviertels am Stadtrand von Santa María. 98 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="99"?> 273 So bezieht sich etwa Fernando Curiel auf ein Interview, das Jorge Ruffinelli mit Onetti führte und in dem dieser die Provenienz seines metafiktiven Santa María folgender‐ maßen beschreibt: „Santa María, sí, podría intentar explicar, sin estar seguro de decir la verdad; que surgió justamente cuando por el gobierno peronista yo no podía venir a Montevideo. Entonces me busqué una ciudad imparcial, digamos, a la que bauticé Santa María y que tiene mucho parecido - geográfico, físico - con la ciudad de Paraná, en Entre Ríos … No olvidemos también que Entre Ríos fue artiguista, ¿no? Pertenecía a la confederación de Artigas, junto con Corrientes y no recuerdo con qué otras provincias Der Fluss trennt Santa María von Buenos Aires: […] el río, ni ancho ni angosto, rara vez agitado; un río con enérgicas corrientes que no se mostraban en la superficie, atravesado por pequeños botes de remo, pequeños barcos de vela, pequeñas lanchas de motor y, según un horario invariable, por la lenta embarcación que llamaban balsa y que se desprendía por las mañanas de una costa con ombúes y sauces, para ir metiendo la proa en las aguas sin espuma y acercarse, balanceándose, al doctor Díaz Grey y a la ciudad donde vivía. Una balsa cargada de pasajeros, con un par de automóviles sujetos con cables, trayendo los matutinos de Buenos Aires, transportando tal vez canastas de uvas, damajuanas rodeadas de paja, maquinarias agrícolas. (VB 435) Die Kombination der Ufervegetation aus Weiden und Ombú-Bäumen verdichten die Isotopie einer Kleinstadt an einem Fluss zu einer südamerikanischen Klein‐ stadt. Der Fluss selbst, an dessen Ufer Santa María liegt, wird vornehmlich in seiner touristischen, erholungsbietenden und infrastrukturellen Funktion be‐ schrieben. Denn auch wenn sich einige starke Strömungen unter der Oberfläche verbergen, verkehren auf ihm kleine Ruder-, Segel- und Motorboote und er dient als verlässlicher Wasserweg für die Auto- und Transportfähre zwischen Santa María und Buenos Aires. Dadurch wird auch die Trennung zwischen den zwei Städten, die durch den Fluss zunächst hervorgerufen wurde, abgeschwächt. Der Wasserweg bestimmt durch die Richtung der Transporte zudem eine klare Zentrum-Peripherie-Beziehung zwischen Buenos Aires und Santa María: Die Tageszeitung stammt aus Buenos Aires und wird nach Santa María, also von der Hauptstadt in die Provinz, geliefert. Außerdem erwägt Brausen (tal vez), den Transport von landwirtschaftlichem Gerät, Trauben und Weinballons in seine Drehbuchidee einzubauen. Die Kleinstadt-Isotopie wird damit um eine land‐ wirtschaftliche Komponente zusätzlich spezifiziert. Der im südamerikanischen Kontext weit verbreitete Stadtname Santa María, der Verweis auf eine Schweizer Kolonie, deutsche und schweizer Namensge‐ bungen sowie die Lokalisierung Santa Marías auf der Buenos Aires gegenüber‐ liegenden Flussseite werden in mehreren Forschungsarbeiten als Referenz auf eine typische Kleinstadt im La-Plata-Raum gelesen. 273 In Ferros Lesart wird der 99 3.1 La vida breve (1950) <?page no="100"?> contábamos en aquel tiempo“ (Fernando Curiel: Onetti - obra y calculado infortunio (1980), pp. 215 sq.) 274 Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 79. 275 Mahlendorff liest den Fluss in La vida breve (1950) als Grenzfluss Acheron. In der grie‐ chischen Mythologie teilt dieser die Welt in Jenseits und Diesseits. Santa María wird in dieser Lesart zum Ort der Verbannung. Gleichzeitig verweist Mahlendorff jedoch auch auf die intertextuelle Verknüpfung, die der Fluss zwischen den beiden Romanen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950) herstelle. (Cf. Andrea Mahlendorff: Literarische Geographie Lateinamerikas, (2000), pp. 256 sq.) 276 So etwa: „veo una mujer que aparece de golpe“ (VB 429, eig. Hervorh.) „sintiendo mi necesidad creciente de imaginar“, „Yo veía“ (VB 430, eig. Hervorh.); „que fuera tan fácil distinguir una nueva Santa María en la noche de primavera“ (VB 432, eig. Hervorh.). Fluss indes zur narrativen Achse, entlang derer sich Brausen in der Figur Díaz Greys, und Buenos Aires in der metafiktiven Provinzstadt Santa María spiegeln. Wobei das Spiegelbild im Fall der beiden Städte kein Abbild meint, sondern vielmehr Santa María als ländlichen Gegenentwurf zu Buenos Aires markiert und analog dazu Fiktion 2 als Gegengewicht zu Fiktion 1 setzt: Ese giro se puede exponer en torno de las siguientes notas distintivas: -La transfigu‐ ración de Buenos Aires y Montevideo, espacios referenciales privilegiados para el desarrollo de las historias que narran sus relatos; los que, tras la emergencia ficcional de Santa María, pasan a constituirse en lugares alternativos de una topología que tiene a esa ciudad imaginaria como núcleo dominante. 274 Ferro liest La vida breve (1950) demnach nicht nur als narrativen, sondern im doppelten Sinn auch als topographischen Wendepunkt im Gesamtwerk Onettis. Der Fluss fungiert in seiner Argumentation nicht als Grenzfluss - wie etwa in Mahlendorffs Lesart 275 - sondern vielmehr als Verbindung zwischen den beiden narrativen Ebenen und wird somit zum movens des metafiktiven Erzählens über Santa María. Der Text verweist damit kontinuierlich auf Santa María als imaginäres Kon‐ strukt Brausens. Der Charakter des Imaginären wird durch Verben des Erfin‐ dens, Vorstellens und Sehens gestützt. 276 Auch der Gebrauch des Konjunktivs verweist auf diesen Prozess, so z. B. „debía poseer un pasado“ ( VB 430) oder „estaría mirando“ ( VB 435). Weiter verstärkt wird dieser Eindruck durch Poten‐ tialität markierende Einschübe wie „tal vez“ ( VB 435) oder „[n]o estoy seguro todavía, pero creo que lo tengo, una idea apenas“ ( VB 429). Außerdem verweist Brausen mehrmals auf seine fiktive Autorschaft: „Tenía ahora la ciudad de pro‐ vincia […].“ ( VB 432) oder: „Ahora la ciudad es mía, junto con el río […].“ ( VB 100 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="101"?> 277 Der diskursive Prozess der Fiktionserzeugung wird in Kapitel 4.1 noch einmal detailliert analysiert. An dieser Stelle soll es genügen, auf den durchgängig als imaginär mar‐ kierten Charakter Santa Marías hinzuweisen. Auch auf die Bedeutung des Verbs nacer und eine damit verbundene Elternschaft wird im vierten Kapitel dieser Arbeit noch einmal zurückzukommen sein. 278 Diese Perspektive schließt auch diejenigen Passagen ein, welche mit Innenfokalisierung auf Díaz Grey oder Elena Sala geschildert werden; denn Brausens Autorschaft und sub‐ jektive Perspektivierung wird immer wieder metafiktional reflektiert. 435) Über die Bewohner*innen des imaginären Santa Marías befindet er: „Todos eran míos, nacidos de mí […].“ ( VB 687) 277 Als Autorinstanz verfügt Brausen über einen panoramatischen Blick auf Santa María. Er beschreibt die angrenzenden Fischerviertel und lässt seinen Blick über den Fluss schweifen. Gleichwohl fokussiert er einzelne Teilräume, wenn er etwa Díaz Greys Arbeitszimmer detailliert beschreibt. (Cf. VB 430 sq., 450-458) Brausens Blick wechselt demnach zwischen panoramatisch-verfü‐ gungsmächtig und einer engen Fokussierung auf einen speziellen Ort. Die Per‐ spektive ist dabei immer an seine, Juan María Brausens Subjektposition ge‐ bunden und vermittelt somit einen homogenen, subjektiven Blick auf Santa María. 278 Solange Brausen als Autor und Erzähler der Santa-María-Geschichten fungiert, dominieren also die Charakteristika der Stadt des Imaginären die text‐ externe Funktion diskursiver Stadtdarstellung Santa Marías. 3.2 Juntacadáveres (1964) Im Gegensatz zu La vida breve (1950) spielt Juntacadáveres (1964) auf einer ein‐ zigen narrativen Ebene, d. h. Santa María wird von Beginn an als Handlungsort der Geschichte gesetzt. Inhaltlich beschreibt der Roman die Gründung und das Scheitern eines Bordells in Santa María. Das Bordell, ein gemeinsames Projekt des Apothekers Barthé und des Verlagsangestellten und späteren Zuhälters Junta Larsen alias „Junta Cadáveres“ ( JC 364), spaltet die Stadtgesellschaft in Gegner und (stille) Verbündete des Bordells und seiner Bewohner*innen. Auf Druck des Pfarrers Antón Bergner wird das Bordell bereits nach einem Viertel‐ jahr wieder geschlossen und der Roman endet mit der Ausweisung Larsens und seiner Prostituierten aus Santa María. Ein Großteil der Erzählung ist diesem gesellschaftlichen Machtkampf gewidmet, dessen Mechanismen und stadträum‐ liche Verortungen in diesem Unterkapitel nachgezeichnet werden. Ein zweiter Erzählstrang behandelt die (Liebes)Beziehung zwischen Jorge Malabia und seiner Schwägerin Julita Bergner. Sie ist die Witwe des verstor‐ benen Federico Malabia, die Schwester von Marcos Bergner und Nichte von 101 3.2 Juntacadáveres (1964) <?page no="102"?> Pfarrer Antón Bergner. Ihr Selbstmord hält Jorge, der drauf und dran war, die Stadt zusammen mit den Prostituierten und ihrem Zuhälter Larsen zu verlassen, in Santa María zurück. Als direktes Bindeglied zwischen den beiden Romanen La vida breve (1950) und Juntacadáveres (1964) fungiert das jeweils vorletzte Kapitel. Die darin be‐ schriebene Szene ereignet sich am Vorabend des Karnevals und spielt im Res‐ taurant Berna in Santa María. In der unteren Wirtsstube wartet, durch einen Vorhang vom Rest des Raums abgetrennt, eine scheinbar bunt zusammenge‐ würfelte Truppe auf die Abfahrt des Zuges in die namentlich nicht benannte Hauptstadt: „A mi [ Jorges, eig. Anmk.] izquierda, abajo, separado del salón por una cortina de flecos, había un comedor independiente que se ocupó después de nuestra llegada.“ ( JC 691) In Juntacadáveres (1964) sind die Wartenden Jorge Malabia, Díaz Grey, Kommissar Medina, Junta Larsen, María Bonita, Nelly und Irene sowie der alte Lanza den Leser*innen bekannt, Brausen und Ernesto finden indes keine Erwähnung. Jorge Malabia erinnert in Juntacadáveres (1964) die Warte- und Abschiedsszene folgendermaßen: Estábamos agolpados en el reservado, comiendo los postres, aguardando la hora im‐ precisa en que llegaría el tren para recoger la peste que emporcaba a Santa María y devolverla a la Capital. […] Esperábamos con risas y silencios, respirando el aire es‐ peso, el humo y los perfumes insolentes de las mujeres. (JC 570 sq.) In Jorges Beschreibung wird offensichtlich, dass die Personen im Raum darauf warten, dass ein Zug das ‚verdammte Übel‘ (la peste que emporcaba) aus Santa María entfernt und in die Hauptstadt zurücktransportiert. Die Luft in dem engen Warteraum ist drückend, es wird gelacht, dann wieder geschwiegen, geraucht, und die Frauen verströmen einen aufreizenden Parfumduft. Der Zigaretten‐ rauch und das immer wieder unterbrochenen Lachen der Wartenden schafft die narrative Verbindung zwischen beiden Romanen; denn in La vida breve (1950) wurde dieselbe Szene bereits aus der Sicht Brausens erzählt. Brausen und Er‐ nesto sitzen dabei im oberen Gastraum, von wo aus sie die Gruppe zunächst nur akustisch und olfaktorisch wahrnehmen. Brausen erinnert sich: „A mi izquierda, del comedor reservado subía con lentitud el humo de los cigarrillos, sonaban monólogos susurrados, algunas risas espaciadas y breves.“ ( VB 691 sq., eig. Her‐ vorh.) Um die unbekannte Gruppe hinter dem Vorhang besser beobachten (und auch belauschen) zu können, rückt er seinen Stuhl näher an die Brüstung. Aus seiner Sitzposition kann er Junta Larsen, María Bonita und Jorge relativ gut sehen, Díaz Grey nur direkt von oben und Medina entzieht sich ganz seinem 102 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="103"?> 279 Folgendes Bild bietet sich Brausen in La vida breve (1950); in eckigen Klammern sind die Namen der Personen angegeben, die erst durch die Lektüre von Juntacadáveres (1964) identifizierbar werden: „Había una mujer [María Bonita, eig. Anmk.] vestida con un traje sastre gris, corpulenta pero no gorda, morena, de unos treinta y cinco años; […] la otra mano estaba sobre la mesa, sujeta por un muchachito rubio [ Jorge Malabia, eig. Anmk.] que miraba sin pausa las demás caras, serio y en guardia, muy erguido contra el respaldo de la silla. […]. A su izquierda estaba sentado un hombre pequeño y grueso [ Junta Larsen, eig. Anmk.], con la boca abierta, estremeciendo el labio inferior al respirar; la luz caía amarilla sobre su cráneo redondo, casi calvo, hacía brillar la pelusa oscura, el mechón solitario aplastado contra la ceja. Más hacia mí, exactamente debajo de mi silla, se movían un par de manos flacas, unos hombros débiles cubiertos por una tela azul oscuro; la cabeza de este hombre [Díaz Grey, eig. Anmk.] era pequeña y el pelo estaba húmedo y en orden.“ (VB 692) 280 Brausen: „Otro, invisible, debía estar de pie junto a la cortina de separación, detrás del hombre del traje azul; oí su risa, vi las miradas de los demás vueltas hacia él.“ (VB 692) 281 Brausen: „Había otro hombre junto a la cortina de la entrada, un viejo que avanzó renqueando y con el sombrero puesto.“ (VB 693) 282 Dieses formalästhetische Konzept kann als Teil einer spezifisch Onetti’schen Poetologie verstanden werden. So bemerkt etwa Eladio Linacero in Onettis erstem Roman El pozo (1939): „Porque los hechos son siempre vacíos, son recipientes que tomarán la forma del sentimiento que los llene.“ (PZ 19) Wiederaufgegriffen wird dieses Konzept in der Kurzgeschichte „Matías el telegrafista“ (1970): „Para mí, ya lo saben, los hechos des‐ nudos no significan nada. Lo que importa es lo que contienen o lo que cargan; y después averiguar qué hay detrás de esto, y detrás, hasta el fondo definitivo que no tocaremos nunca.“ (Mte 200) Blick. 279 Brausen kann ihn lediglich hören. 280 Kurz läuft auch Lanza durch die Szenerie 281 , Nelly und Irene werden nicht erwähnt. Von seinem exponierten Be‐ obachterposten aus nimmt Brausen in La vida breve (1950) also bereits die Ab‐ schlussszene aus einem 14 Jahre später publizierten (und zumindest nach Fer‐ tigstellung von La vida breve (1950) geschriebenen) Roman vorweg. Allerdings erfüllt die Szene in La vida breve (1950) keine handlungsrelevante Funktion. Vielmehr ruft die detaillierte Wiedergabe der Zusammenkunft ohne weitere Handlungseinbindung oder Erläuterung ein gewisses Unverständnis bei den Leser*innen hervor, insofern diese kurze Sequenz erst durch die nachträgliche Lektüre von Juntacadáveres (1964) mit Bedeutung aufgeladen wird und sich im Sinne einer monographischen Lesart in den Gesamtkontext des Onetti’schen Santa María einfügt. 282 Die gesamte Romanhandlung aus Juntacadáveres (1964) lässt sich demnach auch als Ausformulierung einer in La vida breve (1950) bereits angelegten narrativen Leerstelle lesen. Der subjektive Blick Brausens, der den Roman La vida breve (1950) dominiert, wird durch die erneute Schilderung der Wirtshaus-Episode in Juntacadáveres (1964) perspektivisch aufgebrochen, indem die in La vida breve (1950) aus Brausens Sicht geschilderte Szene in Jun‐ 103 3.2 Juntacadáveres (1964) <?page no="104"?> 283 In der Forschung wurde, soweit der Autorin dieser Arbeit bekannt, explizit diese intratextuelle Verbindung zwischen La vida breve (1950) und Juntacadáveres (1964) bis‐ lang nicht berücksichtigt. 284 Pejorative Attribuierungen sind etwa: „Pueblo jodido, pueblo de ratas“ (JC 427), „pueblo inmudo“ (JC 393), „preguntarme qué estaba haciendo en este pueblito“ (JC 407). Auf die Ernennung zur Stadt verweisen folgende Textstellen: „[…] Santa María, declarada ciudad unos meses atrás.“ (JC 365) oder „este poblacho que ahora llaman ciudad“ (JC 407) Die Statusänderung vom Dorf zur Stadt lässt implizit auch auf eine gewisse Bevölke‐ rungszunahme rückschließen. Dies ist insofern interessant, da außer diesem anfängli‐ chen expliziten Hinweis das Thema Bevölkerungsanstieg im Text nicht thematisiert wird, ja Kinderfiguren innerhalb Santa Marías kaum vorkommen und Familienstruk‐ turen und Elternschaft überwiegend in ihrer Dysfunktionalität abgebildet werden. Erst in La muerte y la niña (1973) wird das Anwachsen Santa Marías in der historischen Rückschau zur Sprache gebracht. In welcher Relation dieser Aspekt mit der Hypothese einer dysfunktionalen biologischen Reproduktion steht, wird im Schlusskapitel dieser Arbeit noch zu diskutieren sein. 285 Der Hinweis auf Hochzeiten als Stadtgespräch verweist auch auf die ökonomische und gesellschaftliche Funktion der Eheschließung. In La muerte y la niña (1973) wird die Hochzeitspolitik des Pfarrers Antón Bergner explizit thematisiert. tacadáveres (1964) von Jorge Malabia als intradiegetisch-homodiegetischem Er‐ zähler wiedergegeben wird. 283 Der dystopische Charakter Santa Marías, der die letzten zwei Kapitel von La vida breve (1950) prägt und vor allem durch die Erzählperspektive Díaz Greys vermittelt ist, wird in Juntacadáveres (1964) fortgeführt. Eine ‚verdammte Drecksstadt‘ („cochina ciudad“ JC 394) nennt Junta Larsen sie bei seiner An‐ kunft. Das Kernlexem <pueblo> ( JC 401, 419, 421, 422, 426), oftmals mit pejo‐ rativer Attribution versehen und verbunden mit dem mehrmaligen expliziten Verweis auf den erst kürzlich erlangten verwaltungstechnischen Status einer Stadt, verdichtet sich gleich zu Beginn des Romans zu einer Isotopie der negativ konnotierten <Kleinstadt>. 284 Verstärkt wird der Kleinstadtcharakter über das Aufrufen allgemeiner Gesprächsthemen unter den Sanmarianer*innen: […] un noviembre normal, reconocible, con precios y cifras de las cosechas, con re‐ novadas discusiones sobre puentes, caminos y tarifas de transportes, con noticias de casamiento y muertes. (JC 426) Gesprochen wird über die Ernte, städtebauliche Projekte oder Transportwege und -preise genauso wie über soziale Ereignisse wie Hochzeiten 285 und Todes‐ fälle. Diese gegenseitige Nähe der Bewohner*innen steht auch in direktem Ge‐ gensatz zur Anonymität der Groß- oder Hauptstadt. Weiter ausdifferenziert wird die Kleinstadt-Isotopie durch die Lexeme <campo> ( JC 362), <campos de avena>, <bolsas de maíz> ( JC 363), <cosechas>, <precios> oder „los subsidios fijados por el gobierno al trigo y al maíz“ ( JC 453). Bei ihrem Blick aus dem 104 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="105"?> 286 So etwa durch Larsens Blick aus dem Zugfenster: „El verde de los campos próximos al río apoyaba una débil frescura contra los ventanillas polvorientas.“ (JC 361) 287 „A cal y canto“ (JC 363) 288 „el silencio de las calles vacías, de la plaza desierta“ (JC 363); „calles solitarias y ventanas y puertas clausuradas“ (JC 363) Zugfenster zeigt sich den Ankommenden die Szenerie karger, farbloser Land‐ wirtschaftsflächen: „[V]io un arco iris de pasto reseco, de plantíos, de distancia gris, verde y ocre caldeada […]“ ( JC 362) Die textuellen Hinweise verdichten sich damit zu einer Isotopie der landwirtschaftlich geprägten Kleinstadt, die über den Schienenweg mit einer namenlosen Hauptstadt verbunden ist. Der Fluss, der in La vida breve (1950) diese Funktion übernimmt und als wichtigste infrastruktu‐ relle Verbindung zu Buenos Aires markiert ist, findet in Juntacadáveres (1964) nur marginale Erwähnung. 286 Oder anders gewendet: Wenn in La vida breve (1950) die Verbindung zwischen Hauptstadt und Santa María über den Was‐ serweg verläuft, so wird dieser in Juntacadáveres (1964) auf die Schiene verla‐ gert. Der „Geisterzug“ („ese tren sin horario, fantasmal“ JC 571), der die Prosti‐ tuierten und Junta Larsen befördert, steht für den endgültigen Ausschluss seiner Insassen aus der gesellschaftlichen Ordnung Santa Marías. Wie sich diese Ord‐ nung im Laufe des Romans konstituiert, welche gesellschaftlichen Kräfte diesen Diskurs prägen und wie er sich im Stadtbild niederschlägt, soll im Folgenden näher ausgeführt werden. So wird Santa María, neben den Isotopien und Referenzen, die es als land‐ wirtschaftlich geprägte Kleinstadt konstituieren, mithilfe dezidiert militärischer Rhetorik und Bildsprache als Stadt im Belagerungszustand dargestellt. Dem‐ entsprechend treffen Junta Larsen und die drei Prostituierten bei ihrer Ankunft in Santa María auf eine Stadt, die sich ihnen gegenüber felsenfest verschlossen präsentiert. 287 Straßen und Plätze sind menschenleer. 288 Die Leere des öffentli‐ chen Raums und die Verriegelung der Gebäude lassen die Stadt als Bollwerk erscheinen, welches die Bürger gegen das Bordell errichtet haben: „-Cerraremos la ciudad a cal y canto -recitó el ferretero-. Quiero que mi casa permanezca cerrada a cal y canto“ ( JC 364). Wie der Eisenwarenhändler warten die Be‐ wohner*innen hinter verschlossenen Türen auf die Ankunft der Prostituierten, die sich ihrerseits „a la defensa“ ( JC 365), sprich, in Verteidigungshaltung be‐ geben. Abwarten und Ablehnung haben die Stadt und ihre Bewohner*innen im Griff: „La puerca espera y el rechazo ocupaban la ciudad […].“ ( JC 363) Das Verb <ocupar> deutet dabei an, dass nicht erst die Ankunft der Prostituierten, sondern bereits das Warten auf die vorgestellten Schweinereien, welche als präsugge‐ stives Adjektiv beigefügt werden, sowie die antizipierte Ablehnung derselben, die Stadt besetzt halten. Der Belagerungszustand hat also, wenn auch nur in den 105 3.2 Juntacadáveres (1964) <?page no="106"?> 289 So etwa: „Hacía calor“ (JC 363), „calor de tormenta“ (JC 366), „el aire estaba húmedo y sin sol“ (JC 363). 290 Rodrigo Cánovas betont hingegen mehr den subversiven Charakter des Bordells, indem er auf dessen Funktion als gesellschaftlicher Gegenort verweist: „La literatura reinventa el burdel convirtiéndolo tanto en un espacio de sumisión, habitado por seres grotescos que actúan una erótica letal; como en un lugar de rebeldía, dramático o farsesco, donde se juega a cambias el orden de las cosas. Así, el escritor hispanoamericano disena un artefacto que nomina prostíbulo, el cual es confeccionado como una heterotopía; es decir -siguiendo a Michel Foucault-, como un lugar que tiene la virtud de incluir todos los demás espacios recreados por la cultura, de confrontarlos, deformarlos, invertirlos y finalmente, anularlos.“ (Rodrigo Cánovas: Sexualidad y cultura en la novela hispanoa‐ mericana (2003), pp. 5 sq.) Köpfen der Sanmarianer*innen, schon vor der Ankunft Junta Larsens und seiner Prostituierten begonnen. Die bedrückende, abwartende Atmosphäre wird durch die detaillierten meteorologischen Deskriptionen eines aufziehenden Gewitters verstärkt. 289 So wie sich die Furcht vor der durch die Prostitution für Jedermann zugän‐ glichen Sünde in Form von verschlossenen Türen und Fenstern im Stadtbild manifestiert, materialisiert sich die Ablehnung des Bordells und seiner Be‐ wohner*innen in der Topographie Santa Marías. Denn das Bordell liegt am äu‐ ßersten Stadtrand: „[I]maginamos el paso del estremecido cochecito negro por las calles de alrededor de la plaza […] hacia la casa aislada […].“ ( JC 366 sq.) Die Beschreibung offenbart so zum einen die physische Distanz, die zwischen Stadt‐ zentrum (la plaza) und Bordell (casa aislada) liegt. Zum anderen symbolisiert sie die soziale und moralische Distanz zwischen den Prostituierten und den Be‐ wohnern*innen Santa Marías. Oder anders gewendet: Die topographische Mar‐ ginalisierung wirkt als Emphase der gesellschaftlichen Ausgrenzung. 290 Die Lexeme <hostilidad>, <ausencia>, <puertas cerradas>, <ventanas y bal‐ cones ciegos y oscurecidos>, <la soledad de las calles>, <despoblada>, <nega‐ tivas> ( JC 366 sq.) verstärken die feindliche Stimmung weiter. In die Beschrei‐ bung mischen sich jedoch zwei zusätzliche semantische Felder. Zum einen das der Lüge, das über die Lexeme <falsamente>, <disimulando>, <inverosímiles> ( JC 364-366) nicht nur die anonymen Briefe als Teil der Bergner’schen Kriegs‐ führung gegen das Bordell vorwegnehmen, sondern auch die spätere Haltung der Sanmarianer zur Prostitution. Diese Haltung wird durch die Lexeme <des‐ interesado> und <dormida> ( JC 366 sq.) zusätzlich als träge und desinteressiert gekennzeichnet. Denn die anfängliche, abwartende Feindseligkeit, die sich vor allem durch die Dichotomie von Sichtbarkeit (verriegelte Fenster und Türen) und Nicht-Sichtbarkeit (der Bewohner*innen, menschenleere Straßen) im Stadt‐ bild manifestierte, weicht einer allgemeinen Gleichgültigkeit, mit der eine still‐ 106 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="107"?> 291 Paradigmatisch dafür steht die Schilderung der „paseo[s] del lunes“ (JC 423), der wö‐ chentlichen Ausflüge, die Nelly und Irene in die Stadt unternehmen. Aus Angst vor der ablehnenden Haltung der Bürger*innen, gehen die beiden Prostuierten mit gesenktem Blick durch die Stadt. In ihrer Wahrhnehmung entsteht ein psychotisches Bild frag‐ mentierter Körper: „El miedo les había hecho recorrer Santa María sin mirar a sus ha‐ bitantes; sólo habían visto manos y pedazos de piernas, una humanidad sin ojos que podía ser olvidada enseguida. De modo que al regresar […] llevaban hacia la casa la imagen, increíble como un sueño, de un pueblo sin gente, de negocios que funcionaban sin empleados, de ómnibus vacíos y veloces que se abrían paso con las bocinas en calles desiertas. Algunos distraídos insultos que no habían salido de ninguna boca les sonaban aún en los oídos […].“ (JC 424) Die öffentliche Ächtung der Prostituierten ruft ein de‐ rartiges Unbehagen bei diesen hervor, dass sie die Menschen auf der Straße nur noch als gesichtslose Masse und letztlich als inexistent wahrnehmen. schweigende Akzeptanz der Prostitution in Santa María einhergeht. Diese Gleichgültigkeit, die auf den anfänglichen Skandal folgt, wird im Text als Prozess einer langsam einsetzenden Ermüdung der Stadtbewohner*innen dargestellt. So folgt auf die offen ablehnende Haltung, welche die Stadtgesellschaft, einerseits physisch durch Verriegelung des materiellen Stadtraums und andererseits psy‐ chisch durch soziale Ächtung der Bordell-Protagonist*innen Euclides Barthé, Junta Larsen, María Bonita, Nelly und Irene, eingenommen hatte, zunächst eine Phase der Ridikülisierung: 291 El prostíbulo había sido comentado como una gracia obscena. Como todas las bromas que duran demasiado, sólo provocaba ahora la voluntad del olvido, una ignorancia exagerada, cortas sonrisas en las caras de los hombres que desde los negocios que rodeaban la plaza veían pasar, especialmente en las noches de los sábados, grupos o automóviles hacia el lugar despoblado donde estaba la casa. (JC 426) Das Wissen um die Nutzung der sexuellen Dienstleistungen im Bordell wird in der Öffentlichkeit mit einem kurzen Grinsen quittiert, darüber hinaus wird in der Stadt nicht über das Bordell gesprochen. Allmählich formiert sich aus der heimlichen Nutzung, den obszönen Witzen, dem wissenden Grinsen und geheuchelten Nichtwissen auch eine gewisse Akzeptanz: Así, después del revuelo, del escándalo, después de marchita la novedad de los chismes que llegaban desde la costa, nos convencimos de que el prostíbulo era nuestro y an‐ tiguo y aprendimos, poco a poco, a mencionarlo sin sonrisas. Volvimos a saludar a Barthé y a comprarle remedios y perfumes, consideramos fatigoso y absurdo cambiar de vereda para no cruzarnos con Junta o abandonar el Berna cuando él entraba. (JC 453) 107 3.2 Juntacadáveres (1964) <?page no="108"?> 292 Bergner selbst nimmt innerhalb dieses Diskurses die Funktion als Sprachrohr Gottes ein: „La voz del cura había resonado durante el sermón y la misa con una tonalidad seca y despojada, con una perceptible resolución de no ser otra cosa que instrumento de las frases, incapaz de expresar emociones que alteraran, vigorizándolos o aplacándolos, los sentidos de que estaban cargadas las palabras. El cura había querido ser -cuerpo, ade‐ manes, voz y la mirada recta que no deseaba detenerse y reconocer, que no deseaba ser recogida- un medio imprescindible y anónimo para que fueran dichos y expresados el repudio, la condenación, la imprecisa amenaza.“ (JC 536, eig. Hervorh.) So wie sich auch der Umgang mit Barthé oder Junta Larsen, den beiden männ‐ lichen Bordellgründern bzw. -betreibern allmählich normalisiert, so geht auch das Bordell in das Stadtbild Santa Marías über: Parecía, pues, que todo el mundo, todos nosotros, habíamos dicho que sí y que el prostíbulo había pasado a confundirse con las tantas cosas que formaban la fisonomía de la ciudad: la rambla, los puestos de frutas y verduras que cubrían la plaza en las mañanas de los domingos, las líneas de ómnibus que unían la ciudad con la Colonia y con el barrio que se iba extendiendo alrededor de la fábrica de conservas. (JC 452 sq.) Durch die in obigem Zitat geschilderte stillschweigende Aufnahme des Bordells wird gleichsam dessen topographische Deterritorialisierung in seiner ausgrenz‐ enden Symbolik abgeschwächt. So scheint das Bordell nach einiger Zeit genauso Teil Santa Marías zu sein wie die Marktstände mit Obst und Gemüse, die Infra‐ struktur, die Kolonie und die Konservenfabrik. In starkem Kontrast zu dieser Indifferenz, in welche die anfängliche Ableh‐ nung der Sanmarianer*innen übergeht, steht jedoch ein christlich geprägter biopolitischer Diskurs, innerhalb dessen Prostitution als das Böse schlechthin, sowie als gesundheitliche und moralische Bedrohung für die Gläubigen markiert ist. Bestimmt wird dieser Diskurs maßgeblich von Pfarrer Antón Bergner 292 , der seine Gläubigen - überwiegend Bewohner*innen der Schweizer Kolonie, d. h. eingewanderte Europäer*innen - zum Kreuzzug („una Santa Cruzada“ JC 479) gegen die Prostitution aufruft: No estamos luchando contra él [ Junta Larsen, eig. Anmk.], ni contra Barthé, ni contra esas mujeres. No luchamos contra nadie en particular; luchamos contra el mal. […] Siempre me parece bueno aclarar que no queremos perseguir a nadie. Queremos que Santa María despierte, que el pueblo mismo quiera salvar sus almas. (JC 549) So liege es allein in der Macht der Gläubigen, den Zorn Gottes durch die Be‐ kämpfung des Bordells von Santa María abzuhalten. Unterstützung in seinem Kampf gegen die Prostitution erhält Pfarrer Bergner außerdem von der „Liga de Caballeros Católicos de Santa María“ ( JC 500), einem christlichen Männerverein: 108 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="109"?> 293 Diese Formulierung vereint das Bild der Krankheit mit dem des Schweins als unreinem, Krankheiten übertragendem Tier. 294 Bergners Ausspruch kann auch als intertextueller Verweis auf einen rhetorischen Ge‐ meinplatz totalitärer Regime von Mussolini bis Fidel Castro gelesen werden. „Dentro Es indudable que la Liga de Caballeros fue resucitada por el padre Bergner y que él la organizó, la puso en marcha, llegó a convertirla -si tenemos en cuenta la mediocridad general de los caballeros de que disponíaen un arma eficaz, disciplinada, casi siempre a la altura de las operaciones que debía cumplir. (JC 504, eig. Hervorh.) In unverhohlener Kriegsrhetorik wird aus einem eher mittelmäßigen christli‐ chen Männerverein eine ‚effiziente, disziplinierte Waffe‘. Die Caballeros Cató‐ licos arbeiten in enger Abstimmung mit dem Verein christlicher junger Mädchen („muchachas de la Acción Cooperadora“ JC 498) an der Denunziation der Bor‐ dellgänger: Sie liefern den jungen Frauen die Namen der Freier, woraufhin die muchachas anonyme Denunziationsbriefe an deren Ehefrauen und Verlobte versenden. Die Darstellung der jungen Frauen und ihres Anliegens bedient sich einer Rhetorik der Reinheit und der Säuberung, welche auch an anderer Stelle von Marcos Bergner, dem Neffen des Pfarrers wieder aufgegriffen wird. Über die Autorinnen der anonymen Briefe und deren Bestreben heißt es entspre‐ chend: Ante todo, eran sinceras y actuaron con limpieza; no quisieron provocar más sufri‐ mientos, más riñas y separaciones que los que creían imprescindibles para terminar con el prostíbulo, para limpiar a Santa María de aquella inmundicia, aquella desgracia que le había nacido en la costa y que subía, incesante, llena de indolencia, para arañar con sus antenas las casas de la ciudad. (JC 467 sq., eig. Hervorh.) Demnach sind allein die reinen, im Sinne von unbefleckten oder jungfräulichen Mädchen in der Lage, die Stadt durch ihre anonym verfassten Denunziations‐ briefe von der Schande und dem moralischen Schmutz zu reinigen. In starkem Kontrast dazu werden die Prostituierten als lebende Kadaver beschrieben, wie Larsens Spottname „Junta Cadáveres“ ( JC 364), ‚Leichensammler‘, impliziert. Diese Darstellung wird durch Semantiken des Schmutzes und des Abschaums, oftmals auch in Verbindung mit <Schwein-> oder <schweinisch> weiter ver‐ stärkt. Prostitution wird als Krankheit dargestellt, welche die Stadt verseucht, „la peste que emporcaba“ 293 ( JC 571), und in zwei Lager spaltet: Gesunde und Kranke oder Gute und Schlechte, Freund*innen und Feind*innen, Gegner*innen und Befürworter*innen des Bordells. Dementsprechend postuliert auch Marcos Bergner: „Dividir así, a la gente, en amigos y enemigos. Los prostibularios de un lado, las personas bien del otro“ ( JC 432). 294 Außerdem rekurriert er mit den 109 3.2 Juntacadáveres (1964) <?page no="110"?> de la revolución todo, contra la revolución nada.“ Cf. https: / / www.cubanet.org/ colabor adores/ dentro-de-la-revolucion-todo/ , 16. 04. 2018. Lexemen <limpieza> ( JC 431), „limpieza general“ ( JC 432) auf Semantiken von Rassenerhaltungs- und politischen Säuberungsprozessen, wie sie nicht nur im spanischen Siglo de Oro in Form der limpieza de sangre, sondern auch in vielen neuzeitlichen Regimen praktiziert wurden und immer noch werden. Am Tresen des Berna beschimpft Marcos Bergner Junta Larsen als geldgierigen Juden und Euklides Barthé als dessen Komplizen, deren schweinischem Treiben er ein Ende setzen werde: „[V]amos a terminar con la casita, con las mujeres, con toda la porquería.“ ( JC 431, eig. Hervorh.) Die konträr dazu konstruierte Emphase weiblicher Keuschheit und Reinheit manifestiert sich durch einen Umzug der muchachas auch im öffentlichen Raum, genauer gesagt: im Zentrum Santa Marías, dem Kirchenvorplatz. Musikalisch begleitet von der Liga de Caballeros, formiert sich dort das „batallón de mucha‐ chas“ ( JC 568, eig. Hervorh.) zu einem Protestzug, der einmal um den Vorplatz führt. Dabei schwenken die Mädchen Banner mit der Forderung nach ‚reinen Verlobten‘ und ‚gesunden Ehemännern‘: „‘Queremos novios castos y maridos sanos‘“ ( JC 569). Lautlich untermalt wird der Aufzug durch das Lied „Oh María“, außerdem läuten während des gesamten Auftritts die Kirchenglocken. In der Szene verschmelzen militarisierte Sprache und Inszenierung mit christlicher Marien-Symbolik. Während in La vida breve (1950) noch über weite Teile des Romans der Cha‐ rakter des Imaginären die diskursive Darstellung Santa Marías dominiert und erst in den letzten beiden Kapiteln in ein dystopisches Stadtbild umschlägt, tritt in Juntacadáveres (1964) das Motiv der ländlich-bäuerlichen Kleinstadt zu‐ gunsten der allegorischen Darstellung eines christlich-moralistisch geprägten Glaubenskrieges zurück, welcher paradigmatisch über den weiblichen Körper, sprich: die sexualisierte körperliche Arbeit der Prostituierten in starkem Kon‐ trast zur körperlosen geistig-keuschen Schreibarbeit der muchachas ausge‐ tragen wird. Der von Pfarrer Bergner geführte Kreuzzug steht damit für einen biopolitischen Diskurs, der die weibliche Sexualität in den Dienst der ehelichen Fortpflanzung stellt, respektive durch christliche Keuschheitsgebote gänzlich eliminiert. Der weibliche Körper dient in diesem christlich geprägten biopliti‐ schen Diskurs nicht als ökonomische, sondern als bevölkerungspolitische Res‐ source, insofern er der Vermehrung der Gläubigen und damit der christlichen Gemeinschaft dienen soll und nicht der monetären Bereicherung eines Ein‐ zelnen (Larsen). Unverheiratete Frauen, die muchachas, haben demnach bis zur Ehe keusch und rein, im Sinne christlicher Unbeflecktheit, zu bleiben. Der Dis‐ 110 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="111"?> 295 Die Unkenntnis des Erzählers über die genaue Schreibweise des Nachnamens kratzt an der Vertrauenswürdigkeit der Erzählinstanz und kann als Hinweis auf die schlechte Quellenlage gelesen werden - oder aber, wie Lanza in Juntacadáveres (1964) ironisch anmerkt, als Hinweis auf Monchas Metafiktionalität. So ginge im Prozess der Fiktio‐ nalisierung gerne einmal ein Buchstabe verloren, was aber nicht weiter wichtig sei: „[E]staba la chica Insurralde, casi compatriota mía. Tengo para mí que el verdadero apellido debe ser Insaurralde. Pero no importa demasiado. Todo trasplante a Santa María se marchita y degenera. No vamos a preocuparnos por una perdida.“ (JC 473) kurs basiert auf den Dichotomien von krank und gesund, verdorben und rein. Prostitution wird durch die Assoziierung mit Krankheit und Verderbtheit ab‐ gewertet, ehelicher Geschlechtsverkehr als rein und gesund normiert. Freier werden innerhalb dieses Diskurses öffentlich denunziert und junge Mädchen in den Dienst gestellt, öffentlich novios castos y maridos sanos ( JC 569) zu fordern. Die beschriebene Dualität innerhalb des bioplitischen Diskurses der katholi‐ schen Kirche spiegelt sich auch in der gesellschaftlichen Spaltung wider: So separiert der Kreuzzug, der die Prostitution in Santa María beenden und die Ordnung wiederherstellen soll, Santa María in Bordell-Gegner*innen und Bor‐ dell-Unterstützer*innen. Unterschiedliche Erzählinstanzen ( Jorge Malabia, ein unbekanntes ‚Wir‘, das als nicht näher bestimmter ‚Chor‘ einen Teil der Sanmarianer*innen abbildet, das nicht näher bestimmte ‚Ich‘, hinter dem Brausen stehen könnte, sowie die inneren Monologe Díaz Greys) münden in einer polyphonen Darstellung Santa Marías. Dadurch wird ein konfliktives, heterogenes Bild von Santa María ent‐ worfen und es entsteht der Eindruck einer disparaten, zerrissenen Gesellschaft. Santa María ist in Juntacadáveres (1964) demnach kein Ort des angenehmen Verweilens, geschweige denn ein Fluchtort, wie in La vida breve (1950) über‐ wiegend vermittelt, sondern ein dystopischer Ort, dem es zu entfliehen gilt. Die räumliche Figurendynamik strebt von Santa María weg. So resümiert Díaz Grey am Ende auch: „Felices los que se van“ ( JC 572). 3.3 „La novia robada“ (1968) Die Kurzgeschichte „La novia robada“ (1968) schildert posthum die Geschichte einer jungen Frau, der Baskin Moncha Ins(a)urralde 295 . Moncha war, wie die Leser*innen aus einer Erinnerung des alten Verlagsmitarbeiters Lanza in Jun‐ tacadáveres (1964) erfahren, Marcos Bergners Geliebte, bis sie überstürzt aus Santa María floh. In „La novia robada“ (1968) geht es nun um Monchas Rückkehr nach Santa María, ihre geplante Hochzeit mit Marcos Bergner sowie Monchas tragisches Ende: Denn Marcos ist zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr bereits ver‐ 111 3.3 „La novia robada“ (1968) <?page no="112"?> 296 Als Heterotopie wird Monchas Wohnhaus in Kap. 5.2 noch ausführlicher besprochen, an dieser Stelle soll es zunächst rein um die diskursive Ausgestaltung dieser ‚inner‐ städtischen Festung‘ im Sinne Mahlers gehen. storben, ebenso Pfarrer Bergner, der die beiden trauen sollte. Trotzdem insze‐ niert sich Moncha als Braut: Sie tut so, als lebte Marcos noch, plant die gemein‐ same Hochzeit, spielt die Trauzeremonie als somnambule Braut in ihrem Garten und nimmt sich schließlich selbst das Leben. Erzählt wird die gesamte Episode von Díaz Grey in Form eines posthumen Briefes an die tote Moncha. Während in Juntacadáveres (1964) noch von einer ländlich geprägten Klein‐ stadt die Rede ist, wird Santa María in „La novia robada“ (1968) als beliebige „gran ciudad“ ( NR o 182) beschrieben. Im Gegensatz zu Juntacadáveres (1964), dessen Hauptthematik kriegsähnliche Strategien der Vertreibung Ortsfremder aus Santa María waren, verhandelt „La novia robada“ (1968) den gesellschaftli‐ chen Ausschluss respektive Einschluss einer jungen, nach Santa María zurück‐ gekehrten Frau, innerhalb der Stadt, genauer gesagt, innerhalb ihres eigenen Grundstücks. Wie in Juntacadáveres (1964) dominieren auch hier verschiedene Semantiken des Schließens und Einsperrens. Im Gegensatz zur oben beschrie‐ benen Festung, als die sich Santa María in Juntacadáveres (1964) nach außen hin abschottet („cerraremos la ciudad a cal y canto“ JC 364), drängen die Sanmari‐ aner*innen Moncha durch ihre Ignoranz in die Isolation der eigenen vier Wände: 296 „Se encerró, con llave, en su casa, no quiso recibir a nadie, por tres meses la olvidamos.“ ( NR o 182, eig. Hervorh.) Schweigen und Vergessen als he‐ rausgehobene gesellschaftliche Praktiken verstärken die oben genannten Se‐ mantiken des Einsperrens und Einschließens. Ergänzt wird dieser Diskurs durch die schuldbeladene Indifferenz der Sanmarianer*innen. Diese konstituiert sich über die Lexeme <ignorancia> ( NR o 183), <mentira>, <silencio> ( NR o 186), <hipocresía> ( NR o 187), <culpa inverosímil> ( NR o 188). Die Bewohner*innen werden als „tranquilos e irónicos, capaces de no creer“ ( NR o 183) charakterisiert. Als schuldbeladen gelten sie insofern, als Díaz Grey sie für Monchas Selbstmord mitverantwortlich macht: „Estado o enfermedad causante de la muerte: Brausen, Santa María, todos ustedes, yo mismo.“ ( NR o 199) Während Santa María in Juntacadáveres (1964) multiperspektivisch geschil‐ dert wird und sich daraus ein heterogenes, konfliktives Gesellschaftsbild ergibt, zeichnet Díaz Grey als einziger Erzähler in „La novia robada“ (1968) ein ein‐ deutiges, homogenes Gesellschaftsporträt von Santa María. Díaz Greys Blick ist dabei partiell auf einige wenige Orte gerichtet: sein Behandlungszimmer, Bar‐ thés Apotheke sowie Monchas Wohnhaus - wenngleich er in die beiden letzten Räume keinen tatsächlichen Einblick hat, sondern seine Schilderungen allein von Vermutungen und Gerüchten gestützt werden. 112 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="113"?> 297 Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. IV“ (2015), p. 604. 298 Ibid. 299 Ibid., p. 605. Ein Detail, das laut Poppenberg „eine neue Phase der künstlerischen Selbstre‐ flexion und der Erkundung der selbstreflexiven Verfassung der fiktionalen Texte“ 297 einleitet, ist die Instanz, an welche die Sanmarianer*innen glauben. „Brausen“, argumentiert Poppenberg, „ist die Gestalt der künstlerischen Schöp‐ fung. Er ist der Gründer-Erfinder von Santa María; […] Die Bewohner der Stadt können ihn anrufen oder lästern.“ 298 Mit dieser Aussage bezieht sich Poppenberg zwar auf den Roman La muerte y la niña (1973), sie klingt jedoch bereits in der fünf Jahre zuvor veröffentlichten Kurzgeschichte „La novia robada“ (1968) an; denn während in Juntacadáveres (1964) der allgemeinen Heuchelei und Indiffe‐ renz noch ein christlicher Diskurs zugrunde lag, Pfarrer Bergner sich in seinem Kreuzzug gegen das Bordell auf Gott berief, so wird in „La novia robada“ (1968) der Glaube per se selbstreferentiell und Brausen damit zum „Schöpfer der Welt“ 299 . Der Glaube selbst verlöre, so Poppenberg weiter, dadurch seinen spi‐ rituellen Gehalt und werde zur sinnentleerten, zynischen Attitüde. In La muerte y la niña (1973) resümiert Díaz Grey dementsprechend: [M]i [Díaz Greys, eig. Anmk.] indiferencia inicial se había convertido en falsa cordi‐ alidad, en labios siempre abiertos para la sonrisa, en una sonrisa desvergonzada y aplacadora que significaba: Brausen está en los cielos, el mundo es perfecto, usted y yo tenemos que ser felices. (MN 602) Diese falsche Herzlichkeit, die Díaz Grey in La muerte y la niña (1973) beschreibt und die im folgenden Unterkapitel auch noch näher ausgeführt werden soll, ist in „La novia robada“ (1968) bereits spürbar. So vermittelt die indifferente Hal‐ tung der Bürger*innen keine latente Aggressivität wie in Juntacadáveres (1964), sondern vielmehr eine falsche Freundlichkeit, ein immerwährendes Lächeln - das letztlich nicht weniger zerstörerisch wirkt als das abweisende Verhalten der Sanmarianer*innen in Juntacadáveres (1964). 3.4 La muerte y la niña (1973) La muerte y la niña (1973) bildet rein editionschronologisch das Bindeglied zwi‐ schen Juntacadáveres (1964) und Dejemos hablar al viento (1979). Der Roman wurde kurz vor Onettis Verhaftung und seiner darauffolgenden Exilierung nach Spanien veröffentlicht. Er handelt davon, wie vier Männer posthum ihre Schuld respektive Unschuld am Tod einer Frau verhandeln: Helga Hauser, die Tote, um 113 3.4 La muerte y la niña (1973) <?page no="114"?> 300 Die Tatsache, dass Helga Hauser ein Mädchen („la hija asesina“, MN 626) erwartete, legt die Lesart nahe, den weiblichen Fötus als titelgebende niña zu lesen. 301 Das erotisch aufgeladene Motiv des männlichen Todes, der als Verführer eine junge Frau überrascht, geht auf die Renaissance zurück. Der Motivkomplex „Der Tod und das Mädchen“ rekurriert, wie Karl Guthke schreibt, auf christliche Traditionen und führt „die beiden Konsequenzen des Sündenfalls […] ikonographisch [zusammen]: Tod und Sexualität“. (Karl S. Guthke: Ist der Tod eine Frau? (1998), p. 111) Zu den bekanntesten Interpretationen dieses Motivs zählt Franz Schuberts Vertonung (1817) eines Gedichts von Matthias Claudius (1775). Dieses Stück führt auch leitmotivisch durch die Handlung von Ariel Dorfmans Theaterstück „La muerte y la doncella“ (Uraufführung 1991). In der Bildenden Kunst wird das Motiv „Der Tod und das Mädchen“ bereits im 16. Jahrhundert von Hans Baldung Grien (1517), später von Adolf Hering (1900) oder Egon Schiele („Tod und Mädchen“, 1915) bearbeitet (https: / / artinwords.de/ wally-neuzil-ihr-leben-mit-ego n-schiele/ , 09. 05. 2018). Eine Zeichnung Joseph Beyus‘ wird posthum mit dem Titel „Der Tod und das Mädchen“ (1955-1958) versehen (https: / / rp-online.de/ nrw/ staedte/ kleve/ b euys-und-der-tod_aid-12534371; http: / / www.artnet.de/ künstler/ joseph-beuys/ der-tod -und-das-mädchen-lmj9RKlbDZZKbjPm7uuCOQ2, 09. 05. 2018). Wie Ruffinelli heraus‐ gearbeitet hat, tritt die Auseinandersetzung mit dem Motiv ‚Der Tod und das Mädchen‘ die es in diesem Roman geht, starb an einer Schwangerschaft, die ihr mehrere Ärzte im Voraus als ihr Todesurteil voraus- und daher untersagt hatten. Helga Hauser war die Ehefrau von Augusto Goerdel. Jorge Malabia, mittlerweile dem Jugendalter entwachsen und als konservativer Herausgeber der sanmariani‐ schen Tageszeitung El Liberal an die Stelle seines Vaters getreten, sowie Helgas Bruder Patricio, machen Goerdel für Helgas Tod verantwortlich und schwören Rache. Goerdel bestreitet diesen Vorwurf jedoch, flüchtet umgehend aus Santa María und beginnt ein neues Leben als Johannes Schmidt in Europa, konkret in der ehemaligen DDR . Jahre später kehrt er zurück, um seine Ehre zu retten. Zu seiner Entlastung führt er einen Brief an, der von einer unbekannten Person an Helga Hauser gerichtet worden ist und eindeutig belegen soll, dass Helga Hauser zur Zeit der Empfängnis der todbringenden niña  300 ein außereheliches Ver‐ hältnis hatte. Goerdel, der zu dieser Zeit überdies nicht in Santa María weilte, käme folglich als Erzeuger des Kindes und somit auch als ‚Mörder‘ Helga Hau‐ sers nicht in Betracht. Der gesamte Roman wird aus zwei unterschiedlichen Perspektiven geschil‐ dert: Der Díaz Greys und der eines unbekannten extradiegetisch-heterodiege‐ tischen Erzählers. Die sprechenden oder zitierten Figuren sind allesamt männ‐ lich (Augusto Goerdel, Jorge Malabia, Antón Bergner, Díaz Grey). Weibliche Charaktere treten allein als Abwesende in Erscheinung (Helga Hauser sowie ihr ungeborenes Kind; Díaz Greys namenlose Tochter, seine Frau Angélica Inés, die Tochter der Familie Insauberry). So suggeriert zwar der Titel La muerte y la niña (1973), der zudem intertextuell auf ein bekanntes Motiv aus der Bildenden Kunst und Musik rekurriert, eine weibliche Figur in den Mittelpunkt zu stellen. 301 In 114 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="115"?> nicht erst durch den gleichnamigen Roman in Onettis Schreiben hervor, sondern be‐ gleitet dessen literarisches Schaffen seit Anbeginn, konkretisiert in der Frage nach dem Ursprung des Menschen - und dessen Negierung. Die christliche Konstruktion der Va‐ terschaft dekonstruiert Ruffinelli als Mythos und das Motiv der unerreichbaren Tochter (die, so sei hinzugefügt, an das Motiv des padre ausente geknüpft ist) beschreibt er als ein Lebensthema Onettis. (Cf. Jorge Ruffinelli: „En busca del origen perdido“ (2009 [1974]), pp. 743 sqq.) 302 Dieses Schema arbeitet Elisabeth Bronfen in ihrer kulturwissenschaftlichen Studie Nur über ihre Leiche - Tod, Weiblichkeit und Ästhetik (2004) als grundlegend heraus. In Ka‐ pitel 5.2 sollen die Wirkweisen der Ästhetisierung einer weiblichen Leiche am Beispiel Monchas (Juntacadáveres und „La novia robada“) und Julitas (Juntacadáveres) ausführ‐ licher untersucht werden. 303 Zur Deutung der Schuldfrage schreibt Ruffinelli: “[L]a primera pregunta que plantea el relato implícitamente: ¿es esa muerte asesinato (culpable: la niña), suicidio (culpable: la mujer), uxoricidio (culpable: el padre)? La pregunta queda abierta hasta el final del libro y a ella se sucederán otras y otras, en una serie interminable.” ( Jorge Ruffinelli: „En busca del origen perdido“ (2009 [1974]), p. 745) 304 Michelle Clayton verbindet diese Lesart mit der bei Onetti rekurrenten Flucht-The‐ matik: Sie deutet Díaz Greys Zerstreuungen (Schachspiel, Patiencen, Erzählen) als Stra‐ tegieen, um (sich) von den eigenen existentiellen Problemen abzulenken: “Juega para hacer pasar el tiempo, para no tener que leer otra cosa -ni las cartas que le manda su Onettis La muerte y la niña (1973) wird das titelgebende Motiv jedoch nur mar‐ ginal verhandelt, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen allein männliche Fi‐ guren sowie deren Handlungsmuster: Das im Titel angekündigte tote Mädchen generiert eine narrative Leerstelle, die der Text über die Aushandlung eines christlich-medizinischen Reproduktionsdiskurses füllt. Dabei wird zwar der weibliche Körper als ‚Austragungsort‘ eines biopolitischen Konfliktes zwischen Kirche und Medizin adressiert, im Zentrum der Erzählung stehen jedoch die männlichen Figuren und die verschiedenen Motive, die sie mit der toten Helga Hauser und ihrem ebenfalls toten ungeborenen Kind verbinden. In dieser Argumentation ästhetisiert der Erzähler Díaz Grey den weiblichen Leichnam, indem er dessen Geschichte narrativiert. 302 Allerdings steht dabei nicht das Schicksal der toten Frau und ihrer Tochter im Fokus der Erzählung, sondern seine Rolle als Arzt innerhalb eines biopolitischen Diskurses. Der Tod selbst sowie die Schuldfrage, d. h. wer für die Schwangerschaft und damit für den Tod von Mutter und Tochter verantwortlich ist, werden damit unwichtig. 303 Viel entscheidender erscheint hingegen, dass Díaz Grey durch das Erzählen der Geschichte für eine gewisse Zeit von seinen eigenen Problemen (und vor allem seiner eigenen problematischen Rolle als abwesender Vater) abgelenkt wird. Den Roman beschließt er daher auch mit den Worten: „Era ya de mañana cuando dejamos de jugar al ajedrez. Me levanté para entreabrir las ventanas y silenciar el andante de Bach.“ ( MN 631) 304 115 3.4 La muerte y la niña (1973) <?page no="116"?> hija ni los libros que lo rodean (ya no es el ‚lector ideal que sufre de un insomnio ideal‘ que imaginara Joyce, sino un pobre solitario que padece un insomnio real que no alivian la lectura de Ibsen ni el acceso a drogas)-. Juega a solas, sin poder compartir plenamente la experiencia con los que lo rodean; lo acompaña un concierto de Bach -en este caso un andante, pero que igualmente podría ser una fuga.” (Michelle Clayton: „Paciencia y barajar“ (2009), p. 608, Hervorh. i. Orig) In Claytons Lesart wird damit aus Bachs An‐ dante eine potentielle Fuge, im Sinne einer (Realitäts)Flucht. Allerdings spielt Díaz Grey in der letzten Szene des Romans nicht alleine (das tut er an anderer Stelle, als er Pati‐ encen legt), sondern gegen Jorge Malabia. So spielen die beiden Schach, während sie sich über Goerdel, dessen mögliche Mitschuld am Tod Helga Hausers sowie die Be‐ weislast der vorgelegten Liebesbriefe unterhalten. 305 Cf. Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. IV“ (2015), p. 607. 306 So konstatiert Ruffinelli: „[E]l relato mismo avanza en saltos, cortes abruptos e inter‐ polaciones misteriosas, como el curso intermitente y desparejo de un río entre mon‐ tañas. La muerte y la niña es la novela más arbitraria de Onetti, la menos concesiva o respetuosa de las leyes de la inteligibilidad literaria. “ ( Jorge Ruffinelli: „En busca del origen perdido“ (2009 [1974]), p. 744) 307 So gerät diese in La muerte y la niña (1973) zunehmend unbestimmter. Es ist nicht mehr, wie in La vida breve (1950) oder Juntacadáveres (1964), von Santa María als einer Stadt zwischen Fluss und Schweizer Kolonie („[U]na pequeña ciudad colocada entre un río y Der Reproduktionsdiskurs, der auf diegetischer Ebene zutage tritt, wird neben Díaz Grey vor allem von Pfarrer Bergner bestimmt. Dieser agiert, wie schon in Juntacadáveres (1964), unter der Prämisse einer christlichen Biopolitik: er stiftet Ehen innerhalb seiner Gemeinde, um durch ein Anwachsen der Gläubigen - sprich: durch Vermehrung der Ressource Mensch - auch den Einfluss der Kirche in Santa María zu stärken: „[T]iene que seguir el monótono ejemplo de los in‐ numerables demiurgos anteriores y ordenar vida y reproducción […].“ ( MN 590) Wie Poppenberg herausgearbeitet hat, verweist Bergners biopolitische Strategie intertextuell auf die päpstliche Enzyklika Humanae vitae aus dem Jahr 1968, die den ehelichen Geschlechtsverkehr unter das Gebot der Fortpflanzung stellte. Zudem untersage sie katholischen Gläubigen „jegliche Form künstlicher Geburtenregelung oder den Abbruch einer Schwangerschaft - ‚auch wenn zu Heilzwecken vorgenommen‘.“ 305 Die Schwangerschaft, die Helga Hauser letzt‐ lich das Leben kostete, geht demnach mit dem christlichen Fortpflanzungsgebot konform - auch wenn dadurch Bergners biopolitische Ziel, die Gemeinschaft der Gläubigen in Santa María zu vermehren, fehlschlägt. Helga Hauser fällt somit der Paradoxie dieses christlichen Reproduktionsdiskurses zum Opfer. Gleichzeitig lässt sich Hausers Tod jedoch auch als Hinweis auf das innere Konfliktpotential dieses Diskurses lesen, das sich auch in einer inhaltlichen und kompositorischen Zerrissenheit des Romans 306 widerspiegelt. Auch die diskur‐ sive Darstellung Santa Marías greift die Komplexität dieses moralischen Di‐ lemmas auf, indem sie sich einer klaren Einordnung widersetzt 307 : Die geo-ad‐ 116 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="117"?> una colonia de labradores suizos.“ VB 430) die Rede, sondern von einer Vielzahl an Santa Marías mit unterschiedlich großer territorialer Ausdehnung: „[…] un ciento o miles de Santa Marías, enormes en gente y territorio, o pequeñas y provinciales […]” (MN 625). Auch die topographischen Referenzen haben in dieser Schilderung wenig mit denen gemein, die in La vida breve (1950) oder in Juntacadáveres (1964) aufgerufen werden. So setzt Goerdel / Schmidt Santa María nicht als Klein- oder Großstadt zu Buenos Aires oder einer unbenannten Kapitale in Bezug, sondern als eigenes Land innerhalb Latein‐ amerikas zum Rest der von ihm bereits bereisten Welt: „[E]n todo esto diré que es casi el prototipo nacional del sanmariano, porque he estado muchos días en este lugar, y puedo decir honestamente que en los 49 países de 4 continentes que conozco […], no conozco otro país menos hospitalario que éste.“ (MN 623) Vollends topographisch un‐ bestimmt wird Santa María schließlich in Onettis letztem Roman Cuando ya no importe (1993). Gemäß Poppenbergs Feststellung, dass Onettis Spätwerk „sich so gut wie gar nicht mehr um den roten Faden einer zusammenhängenden Geschichte [kümmere]“ und damit „inhaltlich, formal und zeitlich zunehmend parataktisch [werde]“ (Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. IV“ (2015), pp. 605 sq.), gerät auch die administrative, se‐ mantische und topographische Form Santa Marías zunehmend unbestimmt. In Cuando ya no importe (1993) heißt es: „[…] la ciudad, comarca, provincia, país o reino llamado Santamaría.“ (CI 964) 308 Durch diese geo-administrative Unbestimmtheit weist die Darstellung Santa Marías in La muerte y la niña (1973) auch über die Kategorien Mahlers hinaus. 309 Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. IV“ (2015), p. 611, Hervorh. i. Orig. Die Wurzeln dieses Schöpfertypus erklärt Poppenberg mit einer Denkfigur aus der spätantiken Gnosis, wonach „[a]us der wahrhaft göttlichen Sphäre […] ein Element in die materielle und böse Welt gefallen und […] als göttlicher Funke im menschlichen Körper einge‐ sperrt [sei].“ (Ibid.) ministrative Darstellung Santa Marías, sprich ihre textexterne Funktionalisierung als Stadt 308 wird, wie auch in Juntacadáveres (1964) und „La novia robada“ (1968), von einer allegorischen Ebene überlagert. Die Allegorie einer gesellschaftlichen Dystopie ist in La muerte y la niña (1973) auf einen zynischen, bedeutungsleeren, durch und durch kapitalistischen Glauben zu‐ rückzuführen. Der Gott, an den die Sanmarianer glauben, ist zwar eindeutig noch vom Katholizismus geprägt, wird jedoch durch die „innumerables demi‐ urgos anteriores“ ( MN 590) austauschbar und damit nichtig. „Der Schöpfer von Santa María ist als Vater-Brausen-der-Du-bist-im-Nichts ein Wesen, das im Nichts verortet wird. Seine Schöpfung ist dann im Wortsinne eine creatio ex nihilio“ 309 , schreibt Poppenberg. In dieser Schöpfung, die auf keinerlei moral‐ ischer Verbindlichkeit beruht, wird selbst das Paradies zur Hölle: „-El paraíso será un infierno común para nosotros. No busques pecados porque, en realidad, no existen. Ni siquiera nos dio Brausen oportunidad para inventarlos.“ ( MN 606) - und zwar zu einer von Brausen kontrollierten Hölle: „Con permiso de Brausen, naturalmente.“ ( MN 610). So geschieht Gutes in Santa María allein im Verborgenen und der Umgang untereinander fußt auf Täuschung und Lügen. 117 3.4 La muerte y la niña (1973) <?page no="118"?> 310 Ibid., p. 610. 311 Cf. Ibid. 312 Raúl Crisafio: „La muerte y la niña de Juan Carlos Onetti“ (2009 [1983]), p. 828. 313 Ibid. 314 Der Lesart, dass der ontologische Wert von Brausen als Schöpferfigur durch die Wäh‐ rung ‚Brausens‘ eine Verschiebung hin zu einem ökonomischen Wert erfährt, folgt auch Ferro. So interpretiert er mit Rückgriff auf die Psychoanalyse Lacans die dargestellte Inflation, d. h. die stetige Wertminderung der sanmarianischen Währung als Indikator für eine zunehmende Bedeutungsentleerung der Wörter und damit gleichsam für den schwindenden Einfluss Brausens als Erzählinstanz: „[L]os pesos se han convertido en brausens, han perdido valor de cambio; los habitantes de Santa María atraviesan por un proceso inflacionario […]. Ese vaciamiento del dinero y de las palabras tiene una causa, el deslizamiento del nombre del Fundador a la denominación de la unidad monetaria, lo que implica una condensación y un señalamiento de la especificidad de tésera del dinero. El paralelo entre el deterioro general por el que atraviesa la ciudad imaginada por Brausen y la inflación del dinero que lleva su nombre, se articula en la imposibilidad Santa María ist damit „una ciudad donde sólo transcurren en secreto las buenas acciones“ ( MN 617) Exemplarisch für das narrative Konstrukt aus gegenseitiger Täuschung steht die „gran farsa mutua“ ( MN 596) zwischen Bergner und Goerdel, die Poppenberg als „Pakt der Fiktion“ 310 bezeichnet. Dieser bestehe darin, dass zwar beide wissen, dass sie selbst und der jeweils andere lügen, sie sich mit dieser Täuschung jedoch arrangiert haben - und sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen. Der christliche Glaube werde dadurch zum Scheinglauben. 311 Auch Raúl Crisafio arbeitet diesbezüglich eine Verschiebung heraus: La mu‐ erte y la niña (1973) stehe paradigmatisch für die Transformation des Glaubens von einem ontologischen zu einem ökonomischen Wert, wie er an der Auflösung der „gran farsa mutua“ ( MN 596) zwischen Bergner und Goerdel festmacht: „Cae el telón sobre el simulado destino del sacerdocio y comienza la secularización de la persona de Augusto Goerdel, escribano, pieza económica del poder ecle‐ siástico.“ 312 So bilde Pfarrer Bergner seinen geistigen Ziehsohn Goerdel nicht mehr als zukünftigen Priester, sondern als ‚Geldeintreiber‘ für die Kirche aus: „Sin hábitos, claro, porque nunca quisiste, de verdad, llevarlos. Pero útil, con cualquier título, para servir a la Iglesia […].“ ( MN 599) Weiter spricht Crisafio von einer Bedeutungsverschiebung im Rahmen des religiösen Mythos: „[E]l sa‐ cerdote quiebra el mito de la pasión religiosa e inaugura el mito del poder eco‐ nómico.” 313 Folglich regiert in Santa María nicht mehr die religiöse Verehrung, sondern das Geld. Die Anbetung des omnipotenten Schöpfergottes Brausen wird damit optional, denn Brausens Macht manifestiert sich stattdessen auf ökono‐ mischer Ebene und explizit in der Währung ‚Brausens‘, wie in Dejemos hablar al viento (1979) deutlich werden wird: „El Colorado miró las cortas pilas de brausens dispuestas sobre la mesa.“ ( DV 875, eig. Hervorh.) 314 118 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="119"?> de imaginar a partir de esos valores. Las palabras han dejado de tener el poder de pro‐ ducir imágenes, han dejado de valer cómo metáforas, ahora se han desgastado, su an‐ verso y su reverso están borrados, todos dicen lo mismo […].“ (Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 457, Hervorh. i. Orig.) 315 Hugo J. Verani: „Onetti y el palimpsesto de la memoria“ (1989), p. 725. Mattalia hebt die „paciente montaje, el fascinante juego de intra e intertextualidad“ hervor, „con el que Onetti compone su texto como un ‚puzzle’ de referencias literarias, culturales y, sobre todo, autocitas que remiten a su propia obra, transformando a Dejemos hablar al viento en una especie de membrana porosa, atravesada por los humores que provienen de toda la obra del autor.“ (Sonia Mattalia: „Dejemos hablar al viento: Cita, Autocita, Autofagia“ (1990), p. 189) „[…] por medio de la circulación de citas y referencias culturales De‐ jemos … se convierte en una especie de novela caníbal que deglute citas, personajes, espacios, textos propios y ajenos que vienen de la obra anterior de Onetti y sus escritores favoritos, hasta agotarlos.“ (Sonia Mattalia: Una ética de la angustia (2012), p. 147) Julio Premat weist Dejemos hablar al viento (1979) gar eine Schlüsselfunktion im Gesamtwerk Onettis zu. So liest er den Roman einerseits als Zäsur in den Santa-María-Texten und andererseits als Auftakt zu einer Madrider Exil-Trilogie - bestehend aus den letzten drei Romanen Dejemos hablar al viento (1979), Cuando entonces (1987) sowie Cuando ya no importe (1993): „Dejemos hablar al viento, terminando el ciclo abierto por La vida breve, supone una destrucción de Santa María en medio de la tormenta de Santa Rosa, así como supone un exilio del otro lado, en la vecina orilla, en el espacio especular de Lavanda.“ ( Julio Premat: „Cuando nombre, entonces relato“ (2002), p. 193) 316 Brausen beschreibt etwa das Betreten der Nachbarwohnung in Verbindung mit seiner selbsterschaffenen Zweitidentität als Freier Arce als repetierte Wiederauferstehung und Wiedergeburt: „Resucitaba diariamente […]. […] Yo renacía al respirar los olores cam‐ biantes del cuarto […].“ (VB 546, eig. Hervorh.) In Anspielung auf den Titel La vida breve konstatiert Brausen: „Se puede vivir muchas veces, muchas vidas más o menos largas.“ (VB 589) Diese Möglichkeit, mehrere Leben zu leben bzw. verschiedene Identitäten an‐ zunehmen, assoziiert Maloof mit der rahmenden Funktion des Karnevals: „The carnival motif in La vida breve acts as a metaphor for life. Nevertheless, the possibilites [sic] for change and renewal that are provided by carnival, according to the grim perspective inscribed in this novel, prove to be nothing more than an endless multiplying of the self and of the past which oppresses it.“ (Judy Maloof: Over her dead body (1995), p. 65) 3.5 Dejemos hablar al viento (1979) Der vierte Roman, der in dieser Arbeit näher untersucht werden soll, bildet ein vorläufiges Ende Santa Marías ab und setzt damit einen narrativen Kontrapunkt zu dessen Erfindung in La vida breve (1950). „Dejemos hablar al viento (1979) es“, wie Hugo Verani feststellt, „la consecuencia lógica del mundo onettiano, el libro destinado a cerrar la Saga de Santa María, reelaboración autoconciente y paró‐ dica de las convenciones de su propia narrativa.“ 315 Denn während La vida breve (1950) rekurrent die Themen Schöpfung, Anfang, Neubeginn, Auferstehung und nicht zuletzt die Möglichkeit der titelgebenden kurzen Leben durchspielt 316 , steht Dejemos hablar al viento (1979) im Zeichen des Niedergangs und schließt 119 3.5 Dejemos hablar al viento (1979) <?page no="120"?> 317 Einige Kritiker lesen Lavanda in Dejemos hablar al viento (1979) als Anspielung auf Montevideo. So wird Lavanda von Petit / Prego als phonologischer Verweis auf „La Banda (Oriental)“ verstanden; „La Banda Oriental“ hieß der südlichste Teil des Vizekö‐ nigreichs Rio de la Plata und umfasste in etwa das Gebiet des heutigen Uruguay. (Cf. María Angélica Petit / Omar Prego: „El juicio final“ (1987), p. 378) Verani spricht von „Lavanda montevideana“ und bezieht sich dabei auf die direkten topographischen Re‐ ferenzen im Text: „Lavanda está descrita para que se reconozca a Montevideo. Nombres de lugares (El Cementerio Central, la playa Ramírez, el Parque Hotel) y de calles (Isla de Flores, Carlos Gardel) de los alrededores del Barrio Sur, donde vivía Onetti, u otros lugares típicos de la ciudad (el Buceo, el restorán Morini, la Plazoleta del Gaucho, la óptica Ferrando, la Avenida Agraciada, el Teatro Solís), están impregnados de la nos‐ talgia de la patria perdida.“ (Cf. Hugo J. Verani: „Onetti y el palimpsesto de la memoria“ (1989), pp. 730, 732) Ein weiterer Hinweis, dass Lavanda auf das außerliterarische Mon‐ tevideo rekurriert, findet sich in der Kurzgeschichte „Justo el treintaiuno“ (1964); diese ist als eigenes Kapitel „Justo el 31“ (DV 688-694) fast wörtlich in den Roman über‐ nommen. Spricht der autodiegetische Erzähler in der Kurzgeschichte noch von Mon‐ tevideo, wird genau dieselbe Ortsreferenz im Roman zu Lavanda: „Ya se habían olvidado en Montevideo de la medianoche.“ (JTr 175); „Ya se habían olvidado en Lavanda de la medianoche.“ (DV 690, eig. Hervorh.) Petit liest Lavanda vor dem Hintergrund des span. Exils als Referenz des Autors Onetti an seine Geburtsstadt Montevideo: „[Lavanda] es un eufemismo para aludir, en la distancia determinada por el exilio en Madrid, a Mon‐ tevideo, la ciudad natal del escritor.“ (María Angélica Petit: „Cuando entonces. El lenguaje y el tango son protagonistas de una nouvelle rioplatense“ (2009), p. 614) mit der angedeuteten Schilderung einer verheerenden Feuerfront, die auf Santa María zukommt: La luz, siempre a la izquierda, comenzó a moverse y crecer. Ya muy alta fue avanzando sobre la ciudad, apartando con violencia la sombra nocturna, agachándose un poco para volver a alzarse, ya, ahora, con un ruido de grandes telas que sacudiera el vi‐ ento. / Medina sentía la cara iluminada y el aumento del calor en el vidrio, casi inso‐ portable. (DV 878) Wie La vida breve (1950) besteht auch Dejemos hablar al viento (1979) aus zwei Teilen, wobei der erste in Lavanda 317 , der zweite in Santa María verortet ist. Protagonist des Romans ist Kommissar Medina, sozusagen ein Mann der ersten Stunde. Sein Debüt gibt er in La vida breve (1950) als der Mann, der Brausen / Arce als Brausen enttarnt und bei dem Versuch, Brausen festzu‐ nehmen, von Ernesto niedergeschlagen wird. In Dejemos hablar al viento (1979) schildert Medina im ersten Teil die Geschichte seines Exils in Lavanda. Er schlägt sich dort als ungelernter Krankenpfleger und Maler durch, lebt jedoch über‐ wiegend vom Geld seiner Geliebten Frieda von Kliestein, einer bisexuellen Bo‐ hémienne, die wie er aus Santa María vertrieben wurde bzw. geflüchtet ist. Die gesamte Handlung des ersten Teils thematisiert einerseits das Heimweh der Exilierten Medina und Frieda nach Santa María und andererseits deren gemein‐ 120 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="121"?> 318 Zur Täterschaft gibt es verschiedene Lesarten in der Forschung. Am plausibelsten er‐ scheint jedoch, wie Verani konstatiert, dass Medina Frieda ermordet hat und Julián Seoane auf der Polizeiwache an einer Überdosis Drogen stirbt. (Cf. Hugo J. Verani: „Onetti y el palimpsesto de la memoria“ (1989), p. 731) 319 „-Porque estaba harto, porque me asfixiaba, porque odiaba a Brausen.“ (DV 766) 320 Er flüchtete mit dem Schmuggler Manfredo über den Fluss nach Lavanda: „Huido de Santa María en la lancha de Manfredo, tránsfuga sin pasaporte ni permiso.“ (DV 751) same amouröse und emotionale Verstrickungen mit Olga (Gurisa) und Juanina sowie Julián Seoane. Letztgenannter ist möglicherweise Medinas Sohn aus einer früheren Beziehung mit María Seoane. Allerdings leugnet Medina seine Vater‐ schaft vor Gericht. Während die ménage a trois zwischen Medina, Frieda und Juanina haupt‐ sächlich auf den ersten Teil beschränkt bleibt, prägen die emotionalen Bin‐ dungen zwischen Medina, Julián Seoane und Frieda sowie die zwischen Gurisa, Medina und Frieda die Handlungen beider Romanteile. Die ungewöhnliche, schwierige Beziehung Medinas zu Julián wird im ersten Teil nur marginal be‐ leuchtet und dominiert die gesamte Handlung des zweiten Teils. Medina ver‐ waltet darin als korrupter Kommissar den polizeilichen Alltag in Santa María und versucht, Julián Seoane von seiner Drogensucht zu kurieren sowie von seiner selbstzerstörerischen Beziehung zu Frieda abzubringen. Frieda und Me‐ dina hingegen haben sich seit ihrer Rückkehr nach Santa María nichts mehr zu sagen. Am Ende wird Frieda ermordet und Julian tot in seiner Gefängniszelle aufgefunden; die genauen Todesumstände bleiben den Spekulationen der Leser*innen vorbehalten. 318 Obwohl Medina aus Überdruss und Hass auf Brausen Santa María auf ille‐ galem Wege verlassen hat 319 , sehnt er sich wieder an seinen Geburtsort zurück: „[…] ahora extraño. Yo nací allá.“ ( DV 766). Lavanda befindet sich, wie Buenos Aires in La vida breve (1950), scheinbar nur auf der Santa María gegenüberlie‐ genden Flussseite 320 . Tatsächlich muss Medina bei seiner Rückkehr jedoch nicht nur ein geographisches Hindernis, sondern mit dem Fluss auch eine Fiktions‐ ebene überwinden, wie Frieda feststellt: A lo mejor trotaste por las veredas con sombra, […] buscando […] una pared rota, una puerta entornada, una grieta cualquiera para dar el gran salto y volver a esa Santa María que te inventaste con la ayuda de los otros vagos. (DV 736, eig. Hervorh.) Wie das Zitat noch einmal verdeutlicht, stellt sich Santa María im ersten Teil von Dejemos hablar al viento (1979) als imaginäres, erdachtes Konstrukt dar, dessen Metafiktionalität im Text angezeigt wird (siehe Hervorhebungen). Analog zu Brausen in La vida breve (1950) versucht auch Medina, an den Ort 121 3.5 Dejemos hablar al viento (1979) <?page no="122"?> 321 Der Verfolgung durch die Polizei zu entkommen, ist ein Motiv, das eigentlich nur Er‐ nesto als der tatsächliche Mörder der Prostituierten Queca hätte - Brausen hat sich dieses Fluchtmotiv lediglich angeeignet. Letztlich versucht er, in Santa María ein neues ‚kurzes Leben‘ zu beginnen. 322 Anspielungen auf Medinas ausgeprägten Spürsinn finden sich auch an anderen Stellen im ersten Teil des Romans. So vergleicht etwa Frieda ihn mit einem Hund, der versucht, die Fährte nach Santa María aufzunehmen (Cf. DV 736) und auch er selbst verwendet diesen Vergleich: „Y confiaba en que alguno de mis cinco sentidos me sirviera para descubrir lo que perseguía, me ayudara como un confidente, una nariz de perro, en mi tarea de espionaje.“ (DV 676) Analog dazu lässt sich die Verwendung einer Semantik des Visuellen in La vida breve (1950) lesen. Dort erschafft sich Brausen einen imaginären Ort namens Santa María, indem er sich die Stadt vor seinem inneren Auge ausmalt. 323 „[…] Ese olor detenido de improviso, apenas amenazante, de los orines en el muladar.“ (DV 681 sq.), „El olor de las doncellas […].“ (DV 682) 324 So etwa das Harz, das beim Verbrennen von Holz austritt („las fogatas que hacen bur‐ bujear la resina“ DV 681), Kuhfladen („La bosta“ DV 681), schmierige, abgegriffene Geldscheine („los billetes de banco […] imponiendo la mugre inconfundible del ma‐ noseo“ DV 682), Tabak und frisch gebrühter Kaffee („El tabaco y el café humeando“ DV 682), Säure und Formalin im örtlichen Labor und Leichenschauhaus („los ácidos en el pequeño laboratorio, el formol y la muerte en la Morgue“ DV 682), Orangenblüten („azahares“ DV 682), ein Stück über dem offenen Feuer gebratenes Fleisch („un costillar seiner Imagination überzusiedeln. Während Brausen mit Ernesto nach Santa María flieht  321 , versucht Medina im zweiten Teil von Dejemos hablar al viento (1979) jedoch nach Santa María zurückzukehren. Aus dem lavandischen Exil sehnt er sich in die verlorene Stadt („ciudad perdida“ DV 682, 740) zurück. Seine Erinnerungen beziehen sich vor allem auf das bäuerlich geprägte Umland, den Weg Richtung Schweizer Kolonie, den Obstanbau, die Fischerei, die Werft und „Villa Petrus“, die Sommerhaussiedlung entlang der Küste. Die Stadt selbst wird nur partiell in zwei Ausschnitten, in Form der Kommandantur, die Medinas Dienstzimmer, das Labor und die Leichenhalle umfasst, sowie in Form des Wohnzimmers eines Hauses am alten Hauptplatz beschrieben. Seine visuellen Eindrücke ergänzt Medina durch Erinnerungen an seine unermüdliche Arbeit als Kommissar: „[…] Medina, el hombre que nunca se cansa, haciendo pausas para lavarme, afeitarme, resucitar con perfume en las mejillas y frescas mentiras cautelosas.“ ( DV 682). Auf diskursiver Ebene wird dieses Bild noch durch die Betonung seiner ‚feinen Nase‘ als Ermittler verstärkt: So liegt die Emphase von Medinas Exil-Erinnerungen an Santa María nicht auf den visuell („árboles invi‐ sibles“ DV 682), sondern auf den olfaktorisch wahrnehmbaren Details der Be‐ schreibung und bildet damit diskursiv Medinas kriminalistischen Spürsinn ab. 322 Das erfolgt entweder explizit über das Lexem <olor> 323 oder implizit über die Beschreibung von Gegenständen und Vorgängen, die einen spezifischen Geruch absondern. 324 Medinas olfaktorische Erinnerungen an Santa María generieren 122 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="123"?> asándose“ DV 682), große Lagerhallen mit Obst („Los grandes almacenes frutales“ DV 682), frisch gestrichene Sommerhäuser, Boote und Kähne („Los crédulos y perseverantes repintando […] casitas, botes y lanchas“ DV 682), heißer Teer zum Kalfatern („calen‐ tando alquitrán para el calafateo“ DV 682), ein schwach duftendes Lavendelsäckchen („un sobre de lavanda sin fuerzas“ DV 682), toter Fisch („pescado muerto“ DV 682) oder abgestandene, nach Phosphor und Schweiß riechende Raumluft („en mi oficina, el aire tibio, disgustante, inconfundible, tan parecido al fósforo, que rodeaba el sudor de los interrogantes“ DV 682). 325 Die Zerstörung dieses Paradieses wird bereits in dem Motto zu Dejemos hablar al viento (1979) vorweggenommen. Es handelt sich dabei um drei Zeilen aus Ezra Pounds Ge‐ dichtfragment „Canto CXX“ (1969). Deren erste, bei Onetti nicht abgedruckte Zeile, „I have tried to write Paradise” (Ezra Pound: The Cantos, p. 803), verweist als Leerstelle auf Brausen als Schöpfer seines eigenen Paradieses. Genannt werden lediglich die mitt‐ leren drei Zeilen: „Do not move / Let the wind speak / That is paradise” (DV 637). Die letzten Zeilen des Gedichts „Let the Gods forgive what I / Have made. / Let those I love try to forgive / What I have made.“ (Ezra Pound: The Cantos, p. 803) werden lesbar als vorausgenommene Entschuldigung für das eigene Tun und als Hinweis auf eine Schöp‐ ferfigur, die im Begriff ist, ihr eigenes Werk zu zerstören. Den Wind als unwägbare Naturgewalt hypostasiert Onetti bereits im Titel Dejemos hablar al viento (eig. Her‐ vorh.). Der Wind wird damit zum Erzähler, in dessen Macht der Fortgang der Geschichte ein konfliktives Bild. Santa María, die Stadt, steht darin für Schmutz, Tod und Angst. Im Gegensatz dazu konstituiert sich das Umland als Naturidyll. Der Fluss dient dabei als Grenze, die gleichermaßen bereits als zum Menschen und damit zur Stadt gehörig, negativ konnotiert ist: Y por encima del paisaje apenas quebrado y de nuestras horas de dicha, desgracia o lucidez, el conflicto, exactamente en mitad del cielo, de los verdes que llegaban de las chacras y los plomos violentos del río, parvas y pescado muerto. (DV 682, eig. Her‐ vorh.) Die Passage verbildlicht einen dichotomisch strukturierten Konflikt zwischen dem Naturidyll des Umlands („paisaje apenas quebrado […] los verdes que lle‐ gaban de las chacras […] parvas“) und der durch den Fischfang am Fluss zerstörten Natur („nuestras horas de dicha, desgracia o lucidez […] de los plomos violentos del río […] pescado muerto“). Trotz dieser Ambivalenz bleibt Santa María der Ort, an den sich Medina, „loco de ganas de volver“ ( DV 766), zurück‐ sehnt. Denn in Lavanda fühlt er sich fremd: „Nada tenía que ver yo con los lavandianos.“ ( DV 662 sq.) Seine sanmarianische Herkunft trennt ihn von den Bewohner*innen Lavandas. In seinem Heimweh überhöht er die ‚verlorene Stadt‘ zu einem Lebensgefühl: „Existe un lugar, una cosa, un pensamiento que se llama Santa María para todos nosotros.“ ( DV 751) Santa María wird damit zu einem selbstreferentiellen Topos innerhalb des Onetti’schen Gesamtwerks und zur universellen Raumfigur des verlorenen Paradieses. 325 123 3.5 Dejemos hablar al viento (1979) <?page no="124"?> steht. So legt in Onettis Roman zwar ‚der Rote‘ - angestiftet von Medina - das ab‐ schließende Feuer, das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung bestimmt jedoch der Wind. Je nachdem wie stark und aus welcher Richtung dieser bläst, wird Santa María ver‐ nichtet oder nur beschädigt: „Mientras reventamos de calor se acerca Santa Rosa con su tormenta. […]. Pero ¿quién adivina para qué lado soplará el viento? “ (DV 876) Die Figur des „Colorado“ und seine Rolle für die Romanhandlung werden in zwei eigenen Kapiteln näher erläutert. (cf. „El Colorado“, VB 791-802 und „El Colorado II“, VB 854-856) Darüber hinaus ist ‚der Rote‘ Protagonist der Kurzgeschichte „La casa en la arena“ (1949). 326 Cf. VB 432 und DV 766 sq. 327 Die labyrinthische Anmutung des Bordells „Carreño House“ (DV 764), die Spiegel und heimliche Überwachung in den Zimmern sowie der von Würmern zerfressene tote Junta Larsen („[E]ra un hombre con sombrero, con un agradable olor salvaje a tierra húmeda […]. […] Lo vi manotear los gusanos que le resbalaban de nariz a boca […].“ DV 764 sq.) vermitteln eine beklemmende, gespenstische Stimmung und können als inter‐ textuelle Referenz an das Genre der phantastischen Literatur gelesen werden. Larsen erklärt Medina zunächst seine metapoetische Historie: „Y a mí Brausen me echó de mala manera.“ (DV 766). Anschließend beschreibt er die geheimen Einbauten, die aus den Zimmern wohlüberwachte Kammern machen: „Y con espejos falsos en cada habitación. También con micros.“ (DV 766) Der darauffolgende Satz enthält eine doppelte Bedeu‐ tung insofern er sich einerseits auf das in den Zimmern heimlich beobachtete Treiben der Gäste bezogen oder als Meta-Kommentar des Autors Onetti bezüglich seiner inter‐ textuellen Referenz an die Phantastik gelesen werden kann: „Pero ya me aburrí. Fíjese que todos hacen lo mismo, aunque crean estar inventando.“ (DV 766) Denn alle machen dasselbe und glauben dabei, etwas Neues zu erfinden - sei es als Freier / Prostituierte oder als Autor*innen. Bevor Medina im zweiten Teil des Romans überhaupt nach Santa María zurück‐ kehrt, trifft er im letzten Kapitel des ersten Teils, „La tentación“, auf Junta Larsen, der ihm, wie schon Frieda einige Kapitel vorher, erklärt, Santa María sei ein per se imaginärer Ort, den jede*r in sich trüge und den jede*r nach seinen Vorstel‐ lungen gestalten könne: -Brausen. Se estiró como para dormir la siesta y estuvo inventando Santa María y todas las historias. […] -Está escrito, nada más. Pruebas no hay. Así que repito: haga lo mismo. Tírese en la cama, invente usted también. Fabríquese la Santa María que más le guste, mienta, sueñe personas y cosas, sucedidos. (DV 767) Verstärkt wird die Intertextualität zwischen La vida breve (1950) und Dejemos hablar al viento (1979) an dieser Stelle durch ein fast wörtliches Zitat über Santa María. 326 Der Text lässt offen, ob Medina die Szene zwischen ihm und Larsen nur einem Alkoholrausch zu verdanken hat („Yo estaba borracho y aquel hombre había muerto años atrás.“ DV 765) oder ob die Szene eine intertextuelle Referenz an das Genre der Phantastik darstellt. 327 Ebenfalls ambivalent bleibt die daran anschließende Frage nach dem fiktiven Autor des zweiten Teils. Ist es Brausen - 124 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="125"?> 328 Die potentielle Lesart, Medina als fiktiven Autor des zweiten Teils zu setzen, spielt Florian Baranyi durch. (Cf. Florian Baranyi: „La ‚profesión de la mentira‘“ (2019), pp. 149-156) 329 Cf. Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), pp. 455 sq. wie der angesprochene ‚Untertitel‘ „ ESCRITO POR BRAUSEN “ ( DV 771) uns glauben machen will - oder lesen wir in Teil II über ein Santa María, das Medina selbst erdacht hat. Die Frage ist nicht abschließend zu beantworten, da der Text beide Interpretationen zulässt. 328 Vorliegende Arbeit folgt jedoch Ferro, der Brausen, wenn auch als geschwächten, so doch als fortgeführten demiurgischen Schöpfergott interpretiert. 329 Während also, wie oben zu sehen war, Medina Santa María aus dem lavan‐ dischen Exil als Sehnsuchtsort über die Evokation eines idyllischen, Santa María umgebenden Naturraums sowie einzelner geschlossener Orte innerhalb der Stadt (die Kommandantur, ein Wohnhaus) erinnert, beginnt der zweite Teil des Romans mit der Schilderung eines Stadtviertels. So schlagen Medina bei seinem ersten Rundgang über den alten Markt vor allem Armut und Tristesse entgegen: „Casi pisando manos de mendigos y ladrones, Medina entró en la sombra de los arcos del Mercado viejo de Santa María […].“ ( DV 771). Der alte Markt liegt in einem ärmlichen, abgelegenen Viertel Santa Marías, das nur über eine schlecht beleuchtete Straße zu erreichen ist: „[I]ban por una calle mal iluminada que desembocaba casi junto al mercado. Era una calle de casas sucias y frentes de muros altos y viejos […]; de negocios pobres y macilentos […].“ ( DV 792) Auf der Fahrt dorthin, durch dunkle Straßen und vorbei an heruntergekommen Häusern und zwielichtigen Bars, bemerkt Medina die Veränderungen, die Santa María in seiner Abwesenheit erfahren hat. Die ursprüngliche Schönheit der Stadt ist einer neureichen Architektur der Abschottung und Abgrenzung gewi‐ chen: [A]quella parte de la ciudad donde los restos de quintas arboladas, abatidas y mus‐ gosas, con solitarios y empecinados símbolos de riqueza y orgullo, iban siendo sitiados e invadidos por malezas o casas de comercio blancas, nuevas, de frentes lisos y seme‐ jantes o residencias nuevas y presuntuosas, con grandes e innecesarias puertas de hierro pintadas de negro e innecesarias ventanas nunca abiertas, detrás de los monó‐ tonos garabatos metálicos. Puertas cocheras para nuevos ricos que guardaban los au‐ tomóviles en el garaje de Shell y entraban en sus casas por aberturas modestas, ver‐ gonzantes, defendidas por planchas de madera barata. (DV 791) Modernisierung und eine aufstrebende neureiche Bürgerschicht überlagern mit billiger, geschmack- und nutzloser Architektur die urbane Ästhetik eines ver‐ 125 3.5 Dejemos hablar al viento (1979) <?page no="126"?> 330 Von der Schönheit Santa Marías ist auch im ersten Teil, Medinas Exil-Erinnerungen, nichts zu lesen. Die verblichene Grandezza, die Medina der Stadt hier zuschreibt, ist Teil einer nachträglich konstruierten Verklärung der Vergangenheit. 331 „[…]¿y la mujer dónde está? -En la cocina grande. No hay otro sitio donde meterla. Le pusimos el sillón de paja. Usted sabe, comisario, que seguimos sin muebles, a pesar de los mil pedidos que hemos elevado. -Ya sé. Voy a tomar un vaso y enseguida la interrogo. […] Pero sáquela; que se siente en el banco del potrero ese que llamamos jardín.“ (DV 866) gangenen Santa Marías. 330 Besonders eindringlich dargestellt wird der äußer‐ liche Verfall des Stadtbildes am Beispiel der Kommandantur: […] el despacho del comisario. Grande y sucio, con las paredes húmedas y sus jirones de empapelado, contaba su historia de ex sala de recibo de familia rica. Días de recibo, mujeres adornadas que mezclaban perfumes vendidos por Barthé, la mesa del té en el centro, con el siempre flamante juego de loza y la gran torta preparada por la dueña de casa. Y el parloteo incesante: abortos y adulterios, verdaderos o no, predicciones malignas, el costo de los alimentos, novedades de la moda y el tricoteo. (DV 818, eig. Hervorh.) Medinas Arbeitsort befindet sich in einer alten Villa, dessen glorreiche Zeiten den Sanmarianer*innen zwar noch im Gedächtnis sind, dessen äußerer Verfall jedoch unübersehbar ist. Raum wird dabei nicht nur als passiver Träger von Vergangenem inszeniert, sondern metaphorisch als aktiv Zeugnis ablegender Part: Medinas Dienstzimmer erzählt seine Geschichte. Die Beschreibung der so‐ zialen Zusammenkünfte rekurriert auf Passagen aus (editionschronologisch) vorangegangenen Romanen, insbesondere Juntacadáveres (1964). Die Anspie‐ lung auf den Apotheker Barthé, der Austausch von dörflichem Klatsch und Tratsch, sowie die regelmäßigen Gespräche über Getreidepreise und Mode. Die palimpsestartige Bestimmungsüberlagerung der alten, verfallenen Villa nimmt parodistische Züge an, als bei der Aufklärung des Mordes an Frieda eine Zeugin in der Küche untergebracht und im Hinterhof verhört wird. 331 Die Dekadenz der Kommandantur wird dabei offensichtlich. Fehlende räumliche Infrastruktur zur Verwahrung Verdächtiger führt die Polizeiarbeit in Santa María ad absurdum und zu einer de facto Handlungsunfähigkeit des Kommissars. Ähnlich skurril wie die eben zitierte Verhörszene, in der die Verdächtige erst in die Küche und später in einen engen Hinterhof, den die Polizisten als ‚Garten‘ bezeichnen, ge‐ beten wird, mutet Friedas Autopsie an. Bereits in der Kapitelüberschrift „Frieda en el pasto, en el asilo y en la escuela“ ( DV 857) werden die Orte aufgezählt, an denen Díaz Grey in Ermangelung eines eigenen Krankenhauses und zugehö‐ riger Pathologie versucht, Friedas Leiche zu obduzieren. Die Leichenschau 126 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="127"?> 332 „-En la escuela […]. Aparte de la iglesia es el único lugar donde podremos encontrar una mesa grande. La del comedor; en realidad son unas cuantas mesas chicas, pero se pueden juntar.“ (DV 862) findet schließlich auf mehreren zusammengeschobenen Tischen im Speisesaal der Grundschule von Santa María statt. 332 Die Exekutive gerät damit zur Farce. Mangelnde finanzielle Ausstattung geht mit einer ins Lächerliche überhöhten mangelhaften räumlichen Infrastruktur einher, die Bezahlung des Personals er‐ folgt vermittels Korruption. Doch mit dem Niedergang der Exekutive, sowohl deren äußerlich sichtbarer Manifestation im Stadtbild, als auch deren internem Verfall, geht auch ein Bedeutungsverlust Brausens einher: Lo que seguían llamando Destacamento desde que el verdadero, tan blanco al principio de la historia, con los colores rojo y negro de Brausen en la bandera desafiando y humillado cualquier tono de azul o gris que mostrara la semiesfera del cielo sanma‐ riano. (DV 865) So zeugte die alte Kommandantur in ihrer farbenfrohen Pracht nicht nur von den Hochzeiten Santa Marías, sondern vor allem auch von Brausens hervorge‐ hobenem Stand als Schöpfergott ‚zu Beginn der Geschichte‘. Mittlerweile ist, wie folgende Passage illustriert, die gesamte ursprüngliche Stadtarchitektur von Dekadenz und Ruin gekennzeichnet: No eran los restos de una ciudad arrasada por la tropa de un invasor. Era la carcoma, la pobreza, la irónica herencia de una generación perdida en coches sin recuerdo, en la nada. Quedaban vestigios: el polvo encima de un sillón de cuero, arrinconado y rengo; es‐ pejos manchados de cal, incrustados en madera crema; pequeñas rosas de yeso espar‐ cidas, desordenadas, en las paredes. (DV 820) So koexistieren im Stadtbild Symbole moderner, kapitalistischer Lebensart („Pu‐ ertas cocheras […] que guardaban los automóviles en el garaje de Shell“ DV 791) und Reliquien eines landwirtschaftlich geprägten Santa Marías („de despa‐ chos de bebidas que conservaban algunos la horca enana y torcida de un pa‐ lenque“ DV 792). Allerdings ist, wie in Juntacadáveres (1964) sehr ausgeprägt, in Dejemos hablar al viento (1979) dezidiert nicht von einem feindlichen Über‐ griff, einem Angriff von außen, die Rede. Auch die damit verbundene Kriegsse‐ mantik, wie sie in Juntacadáveres (1964) evident ist, wird in Dejemos hablar al viento (1979) von einer Semantik der Dekadenz und des beginnenden Chaos überlagert. Die Isotopie der Dekadenz konstituiert sich über die Lexeme <restos>, <vestigios>, <carcoma> und <polvo> und wird verstärkt durch die Adjektive und Partizipien <perdida>, <rengo>, <manchados>, <incrustados>, 127 3.5 Dejemos hablar al viento (1979) <?page no="128"?> 333 In Juntacadáveres (1964) ist es das Bild der Pest, die Santa María heimsucht: „[…] la peste que emporcaba a Santa María […].“ (JC 571) In La muerte y la niña (1973) bezeichnet Augusto Goerdel alias Johannes Schmidt Machismo als typisch lateinamerikanische Krankheit. (Cf. MN 624) <esparcidas> und <desordenadas>. Die Lexeme <herencia> und <generación> oder der Staub auf einem der Möbelstücke sowie das Verb <quedar> verweisen auf den zeitlichen Verlauf des Niedergangs. Der Verfall ist demnach nicht nur ein äußerlich wahrnehmbarer, sondern gleichsam auch ein Verfall der Sitten einer Generation, welche die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft verloren hat (coches sin recuerdo) und der nur eine ironische Attitüde oder buch‐ stäbliche Leere (la nada) bleiben. Diese kollektive Identitätskrise wird durch das Eindringen eines kulturell ‚Anderen‘ befördert: Ein Kapitalismus nordamerika‐ nischer und europäischer Provenienz nimmt das ursprüngliche Santa María in Besitz. Verschwunden sind die emblematischen Figuren vorangegangener Er‐ zählungen, Jorge Malabia oder die nicht näher benannten Mitglieder des Her‐ renclubs. An ihrer statt bestimmen Mr. Wright (als Pensionär der Eisenbahnge‐ sellschaft steht er pars pro toto für eine kapitalistische Invasion nordamerikanischer Investoren*innen) und Aldo Campisciano (als neuer Be‐ sitzer des Hotel Plaza) den Alltag und die Architektur Santa Marías. So beklagen Díaz Grey und Medina als einzig verbliebene ‚Ur-Sanmarianer‘: Hablaron del calor, del ferry, de la decadencia del Plaza. -Todo en esta ciudad -dijo el médico, tenía la voz opaca y ablandada-. Sufrimos de dermatitis, cada día se nos cae un pedazo de piel, o un recuerdo. O también una cornisa. Cada día nos sentimos más solos, como en exilio. Y cada día los gringos de la Colonia sombran un nuevo pedazo de la ciudad. Casi no queda un comercio que no sea pro‐ piedad de ellos. El mismo Campisciano, a pesar del apellido, no es más que un delegado de ellos. A veces pienso que le dieron o prestaron el dinero para que comprase el Plaza. Y para que lo fuera destruyendo y afeando a fuerza de tabiques. Hoy es una casa de pensión. Este mismo salón, si usted recuerda cómo era. (DV 821, eig. Hervorh.) Díaz Grey verwendet dabei Krankheit als Metapher 333 für den aktuellen Zustand Santa Marías. Die Stadt und ihre Bewohner erscheinen in diesem Bild als ein einziger Körper, der sich durch die Entzündung seiner äußersten Schicht, der Haut, stückweise auflöst. Wie bei einer Dermatitis, schälen sich auch in Santa María einzelne immaterielle (eine Erinnerung) und materielle (ein Gesims) Teile von dem Ganzen ab. Die Überreste des ehemaligen Plaza sind von der Kultur der europäischen, in diesem Fall, italienischen Immigrant*innen, wie der Ver‐ weis auf die italienische Küche nahelegt, ‚infiziert‘ worden: „los vestigios del Plaza, infectos ahora por el olor generoso de la cocina italiana” ( DV 820). Die 128 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="129"?> 334 Auf welche Nationalitäten sich die Bezeichnung gringos bezieht, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor. So meint der Zusatz „gringos de la Colonia“ zwar mutmaßlich europäische Einwanderer, zwei Sätze weiter werden diese am Beispiel Campiscianos jedoch nur als Spielbälle „de ellos“ bezeichnet: „El mismo Campisciano, a pesar del apellido, no es más que un delegado de ellos. A veces pienso que le dieron o prestaron el dinero para que comprase el Plaza.” Eine Lesart wäre, den Begriff „gringo“ bei Onetti als Sammelbegriff für ‚das Andere‘, das nicht-sanmarianische, d. h. für alle Figuren, die nicht explizit von Brausen nach Santa María gebracht wurden und sich ihrer Metapo‐ etizität bewusst sind, zu verwenden. Passage über die Transformation des Plaza illustriert auch, wie sich das Ver‐ hältnis zwischen Santa María und der Schweizer Kolonie umgekehrt hat. Denn während in Juntacadáveres (1964) und La muerte y la niña (1973) noch eine klare ökonomische Hierarchie zwischen der Stadt und der angrenzenden Kolonie be‐ stand, d. h. die Bewohner*innen Santa Marías vermögend, die der Kolonie arm waren, fungieren die europäischen Immigrant*innen („Los gringos 334 de la Co‐ lonia“) in Dejemos hablar al viento (1979) als Heuschrecken-Investoren*innen. Stück für Stück kaufen sie die Stadt auf und verändern deren äußeres Erschei‐ nungsbild und kulturelles Selbstverständnis. So wird durch Umbauten aus dem Hotel Plaza, einstmals ein nach Weltgewandtheit klingender salón, eine einfache casa de pensión. Die Krankheitsmetaphorik und die Isotopie der Dekadenz be‐ stimmten die Beschreibung einzelner Orte, über die Medina ein Bild Santa Ma‐ rías generiert. So wird auch der Nachtclub, den Frieda alias Margot in Santa María überlegt zu übernehmen, als alt und schäbig skizziert: El letrero, ‚Casanova‘, con las dos últimas letras apagadas, con ese azul casi violeta, a la vez resignado y exasperante, de las muestras de las cocherías fúnebres, titilaba en‐ fermo y susurrante como una luciérnaga atrapada, vertical, a la vereda angosta y hú‐ meda. (DV 831, eig. Hervorh.) Allein der doppeldeutige Name Casanova, der nicht nur als Reminiszenz an die literarische Figur des italienischen Lebemanns Casanova gelesen werden kann, sondern auch in seiner wortwörtlichen Bedeutung als ‚neues Haus‘, wirkt gro‐ tesk angesichts des heruntergekommenen Etablissements, dessen Leuchtre‐ klame nur noch eingeschränkt funktioniert und dessen Schriftzug an den eines Beerdigungsinstituts erinnert. Die Lexeme <apagadas>, <resignado>, <coche‐ rías fúnebres>, <enfermo>, <atrapada>, <angosta> und <húmeda> formieren sich zu einer Isotopie des körperlichen Verfalls und des Todes. Der Brand, den der Rote im Auftrag Medinas und mit monetärer Unterstüt‐ zung Díaz Greys legt, enthält damit kathartisches Potential. Er soll die Stadt von Schmutz, Krankheit und Verderbtheit reinigen. Bei der Geldübergabe für die ge‐ plante Brandstiftung erklärt Medina: „[…] dije que se trataba de una operación 129 3.5 Dejemos hablar al viento (1979) <?page no="130"?> de limpieza. Beneficiosa para todos.“ ( DV 875) Wie bereits in Juntacadáveres (1964), operiert der Text auch hier mit der semantischen Dichotomie von Schmutz und Reinheit. Während es in Juntacadáveres (1964) noch genügte, die Prostitution aus der Stadt zu verbannen, um die ursprüngliche Reinheit Santa Marías bzw. der Sanmarianer*innen wiederherzustellen, haben sich Schmutz und Krankheit in Dejemos hablar al viento (1979) bereits soweit in den Stadt‐ körper (die Kommandantur, das äußere Erscheinungsbild einzelner Häuser und Gebäude) und den Gesellschaftskörper (exemplarisch dargestellt am Beispiel der korrupten Exekutive und der neureichen Investor*innen) eingeschrieben, dass eine ‚Säuberung‘ nur durch die komplette Auslöschung Santa Marías möglich scheint. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Dejemos hablar al viento (1979) zwei Arten der diskursiven Darstellung Santa Marías koexistieren. Eine davon, die den imaginären Charakter Santa Marías hervorhebt, verweist intra‐ textuell auf den Gründungstext La vida breve (1950). Die andere Darstellung lässt Santa María als Allegorie urbaner und gesellschaftlicher Dekadenz lesbar werden. Bilder von Krankheit und Verfall dominieren den gesellschaftlichen Diskurs Santa Marías. 3.6 Zwischenresümee: Santa María - zwischen Imaginationsraum und christlich-männlich hegemonialem Diskursraum Aus der Analyse der diskursiven Darstellung Santa Marías in allen ausgewählten Texte Onettis ergibt sich nun folgendes Bild: Über Verben des Erfindens, sich Vorstellens oder Ausdenkens konstituiert Brausen Santa María in La vida breve (1950) als imaginäres Konstrukt. Santa María erscheint darin als idyllische Kleinstadt an einem Fluss. Eine nicht näher beschriebene Schweizer Kolonie vervollständigt das Bild. Brausen ist die alleinige Wahrnehmungsinstanz, wobei Distanz und Perspektive, aus der heraus er auf die Stadt blickt, veränderlich sind. Brausen wechselt zwischen einer unmittelbaren panoramatischen Draufsicht und einem durch die Figur seines metafiktiven Alter Egos Díaz Grey vermit‐ telten partialen Blick. Letzterer fokussiert mit dem Sprechzimmer des Arztes bzw. dem Blick von dort auf den Hauptplatz immer nur einen räumlichen Teil‐ aspekt der Stadt. Der imaginäre Charakter Santa Marías bleibt dabei jedoch stets im Vordergrund. Erst mit dem Erkennen des Autors Brausen durch seine Dreh‐ buchfiguren und einen dadurch evozierten Wechsel der Erzählinstanz wird Santa María zu einem Ort des Chaos‘, der Vorspiegelung und der illegalen Dro‐ 130 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="131"?> gengeschäfte, dem es zu entfliehen gilt. Diese Wahrnehmung beruht auf der strikt subjektgebundenen Perspektive des autodiegetischen Erzählers Díaz Grey. In Juntacadáveres (1964) wird zu Beginn das Bild einer wachsenden ländli‐ chen Kleinstadt gezeichnet, die sich gegen das moralische Übel der Prostitution abschottet. Als der Pfarrer, unterstützt von verschiedenen christlichen Institu‐ tionen sowie den Gläubigen aus der Schweizer Kolonie, einen Kreuzzug gegen die Prostitution initiiert, werden dabei nicht nur Freier denunziert, sondern auch persönliche Rachefeldzüge unternommen. Die Stadtdarstellung wird zuneh‐ mend von Kreuzzugs- und Kriegseinerseits sowie von Krankheits- und Schmutz-Semantiken andererseits überlagert. Innerhalb dieser städtischen Fes‐ tung spielt sich ein glaubenskriegsähnlicher Konflikt zwischen Borde‐ llgegner*innen und -befürworter*innen ab. Bergners Kreuzzug dient der Um‐ setzung bevölkerungspolitischer Ziele der katholischen Kirche und beruht auf einem christlich geprägten biopolitischen Diskurs. Dieser richtet sich auf die Disziplinierung des weiblichen Körpers, insbesondere die Limitierung der wei‐ blichen Sexualität auf die Ehe, und konstituiert sich über die Dichotomien von Schmutz und Reinheit, krank und gesund, Feind*in und Freund*in. In dem darauffolgenden Text „La novia robada“ (1968) verlagert sich die Ab‐ schottung Santa Marías gegen die von außen kommenden Prostituierten kom‐ plett ins Innere. Santa María isoliert die junge Moncha innerhalb der Gesell‐ schaft. Die Stadt erscheint allein in der partialen Wahrnehmung Díaz Greys, die sich auf das Wohnhaus Moncha Insaurraldes fokussiert und nur in einigen kurzen Rückblenden die Geschäftsräume des Apothekers Barthé oder sein Sprechzimmer in den Blick nimmt. Santa María wird darin als Allegorie der Lüge und des Schweigens dargestellt. In La muerte y la niña (1973) findet diese allegorische Darstellung seine Fort‐ führung. Die wechselseitig offensichtliche Lüge steht paradigmatisch für diesen Roman und wird zum Pakt der Fiktion. Gleichwohl bleibt der metafiktive Cha‐ rakter der Stadt über die Schöpferfigur Brausen erhalten, d. h. Santa María ist auch in diesem Text als imaginäres Konstrukt erkennbar. Die topographische Gestalt Santa Marías wird insgesamt offener und unbestimmter, erkennbare städtische Referentialisierungen zunehmend unbedeutend. So ist nicht mehr notwendigerweise von einer Stadt, sondern teilweise von einem Land oder einer Nation namens Santa María die Rede. Während in Juntacadáveres (1964) die Beschränkung weiblicher Sexualität auf die Ehe im Mittelpunkt stand, werden in La muerte y la niña (1973) die mitunter tödlichen Folgen dieses ehelichen Reproduktionsgebots offensichtlich. Der christliche Machtdiskurs beginnt zu erodieren. 131 3.6 Zwischenresümee <?page no="132"?> Der Bedeutungsverlust städtischer Referentialisierbarkeit, der sich in La muerte y la niña (1973) bereits ankündigt, wird in Dejemos hablar al viento (1979) weiter fortgeführt. Kurz vor seiner angedeuteten Zerstörung gerinnt Santa María somit zum spezifischen Topos des Onetti’schen Gesamtwerks. Der imaginäre Cha‐ rakter der Stadt-, oder vielmehr Raumdarstellung bleibt als intratextuelle Refe‐ renz an La vida breve (1950) erhalten. Zugleich wird Santa María als Allegorie des Verfalls, der Krankheit und der Dekadenz lesbar. Die Metapher der Haut‐ krankheit steht für den ruinösen Zustand des Stadt- und des Gesellschaftskör‐ pers. 132 3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt <?page no="133"?> 335 https: / / www.songtexte.com/ songtext/ james-brown/ its-a-mans-mans-world-33d6449d. html, 22. 07. 2019. 336 Die Kausalzusammenhänge zwischen patriarchalen Systemen und Gewalt gegen Frauen sind Gegenstand aktueller sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung. So bildet die enge Verschränkung von Macht und Gender sowie daraus resultierende Gewalt gegen Frauen eine der Kernaussagen der Forschungen der argentinischen Anthropologin Rita Segato. In einem 2018 erschienen Interview konstatiert sie: „El punto es cómo educamos a la sociedad para entender el problema de la violencia sexual como un problema político y no moral. Cómo mostramos el orden patriarcal, que es un orden político escondido por detrás de una moralidad. El problema es que está siendo mostrado en términos de moralidad. Y es insuficiente mostrarlo así por varias razones […].“ (http : / / www.eldesconcierto.cl/ 2018/ 12/ 17/ rita-segato-el-feminismo-no-puede-y-no-debe-c onstruir-a-los-hombres-como-sus-enemigos-naturales/ , 24. 12. 2018) Ähnlich argumen‐ tiert Ramírez: „Masculine ideologies are cognitive and discursive constructions that prevail in societies structured on the basis asymmetrical relationships between genders. These constructions are articulated in shows of strength and games of power that dis‐ play a multiplicity of manifestation - a product of the human species‘ cultural plurality.“ (Rafael L. Ramírez: What It Means to Be a Man (1999 [1993 span.]), p. 26) 4 This is a man’s world: patriarchale Ordnung und spezifische Männlichkeiten bei Onetti This is a man's world But it wouldn't be nothing, nothing Not one little thing without a woman or a girl He's lost in the wilderness He's lost in bitterness He's lost, lost 335 James Brown (1966) This is a man’s world - hat James Brown Mitte der 1960er Jahre gesungen, und damit ähnlich wie der Großteil des Forschungsdiskurses es für das Geschlech‐ terverhältnis in Onettis Erzählungen formuliert, „den Mann“ als Fixpunkt und die Figur „der Frau“ oder „des Mädchens“ als Supplement dargestellt. 336 Arbeiten, die sich tatsächlich mit den komplexen gendertheoretischen Implikationen und narrativen Strategien dieses offensichtlichen Androzentrismus auseinander‐ setzen und nicht allein das Diktum von männlicher Subjekt- und weiblicher Objekthaftigkeit repetieren, sind jedoch noch in der Unterzahl, wie ein Über‐ blick über den Forschungsdiskurs zu Onetti in Kapitel 1.2 gezeigt hat. Die vor‐ <?page no="134"?> 337 Cf. Christian Grünnagel: Von Kastraten, Hermaphroditen und anderen Grenzgängern la‐ teinamerikanischer Männlichkeit in Literatur und Film (1967-2007) (2019), pp. 106 sq.; Mark I. Millington: Hombres In / Visibles (2007), p. 15. liegende Arbeit begegnet diesem Forschungsdesiderat, indem sie Geschlechter‐ verhältnisse und Figurenhandlung in Abhängigkeit von machträumlichen Diskursen und mit Blick auf die geschlechterspezifischen Implikationen von biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion untersucht. Christian Grünnagel wie auch Mark Millington weisen in ihren Untersu‐ chungen zur Darstellung von Männlichkeiten in der lateinamerikanischen Li‐ teratur darauf hin, dass die Erhebung des Männlichen zur Norm bedeuten könne, diese zu neutralisieren bzw. unsichtbar zu machen. Betont werde dadurch au‐ tomatisch das als ‚Abweichung von der Norm‘ markierte Weibliche. Das Männ‐ liche als Norm zu benennen, impliziere demnach immer auch, es zu problema‐ tisieren. 337 Allerdings ließe sich die Frage aus einem machtkritischen Ansatz heraus auch doppeldeutig formulieren: Sind Männer durch ihre normative Om‐ nipräsenz ‚die unsichtbare Macht‘ oder werden sie dadurch diskursiv ‚un‐ sichtbar gemacht‘? Für die diskursive Macht in Onettis Texten darf von ersterem ausgegangen werden. Denn allein das eingangs beschriebene Geschlechterver‐ hältnis, das innerhalb Santa Marías durch die namentliche Analogie zur Mut‐ tergottes hervorgerufen wird und auf eine patriarchal-christliche Ordnung ver‐ weist, entstammt der Phantasie eines Mannes. Brausen nennt die Stadt an einem Fluss, die er als Spielort für ein zukünftiges Drehbuch erdacht hat Santa María - und stellt mit dem ersten Satz eine männliche Figur ins Zentrum der Erzählung: „El médico vive en Santa María, […].“ ( VB 429) Die Stadt ist also nach der christ‐ lichen Mutterfigur Maria benannt, erdacht von einem Mann namens Juan María Brausen, d. h. durch die Namensgebung wird zusätzlich ein Anspruch auf Zu‐ gehörigkeit bzw. Abstammung erhoben, und die Geschichte beginnt mit einem Arzt als Protagonisten. Mit diesem Setting deutet sich bereits eine spezifische hegemoniale Männlichkeit innerhalb Santa Marías an. Was hier zunächst schlaglichtartig skizziert wurde, der Androzentrismus, der alle Santa María-Erzählungen auf diskursiver Ebene prägt, soll in den folgenden beiden Unterkapiteln (4.1 und 4.2) ausführlich nachgezeichnet werden. Es soll dargestellt werden, wie Brausen durch explizit visuelle Eindrücke, durch seinen male gaze, Santa María in seiner Vorstellung entstehen lässt und diesen Prozess dabei kontinuierlich metapoetisch reflektiert. Der Terminus male gaze geht auf Laura Mulvey zurück. Mitte der 1970er Jahre hielt sie einen Vortrag über die Mechanismen des männlichen Blicks und insbesondere die damit verbundene Fetischisierung des weiblichen Körpers im Hollywoodkino des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von der Psychoanalyse nach Freud und Lacan stellte sie die Frage “in 134 4 This is a man’s world <?page no="135"?> 338 Laura Mulvey: „Visuelle Lust und narratives Kino“ (2016 [1973 engl.]), p. 45. 339 Cf. Ibid., p. 53. welcher Art und Weise der Film das einfache, gesellschaftlich etablierte Ver‐ ständnis der Geschlechterdifferenz widerspiegelt, sichtbar und sich sogar zu‐ nutze macht, durch das Bilder, erotische Sehweisen und Spektakel kontrolliert werden” 338 . Über ihre Filmanalysen zeichnete sie nach, inwieweit ein patriar‐ chales Unterbewusstsein, welches auf der doppeldeutigen Inszenierung des männlichen Blicks, einerseits auf den weiblichen Körper als fetischisiertes Ob‐ jekt, und andererseits als Ausdruck männlicher Selbstvergewisserung in Hollywoodproduktionen eingeschrieben ist. Als grundlegend dafür arbeitete Mulvey eine “heterosexuelle Arbeitsteilung in aktiv / passiv” heraus. Demnach be‐ schreibt sie “die Rolle des Mannes als aktiven Part, der die Geschichte voran‐ treibt, etwas bewegt.” Ein zusätzlicher männlicher Machteffekt zeige sich darin, dass der männliche Protagonist auf der Leinwand als Repräsentation des Zu‐ schauerblicks fungiere, d. h. eine Identifikation der Zuschauenden mit dem me‐ dial vermittelten männlichen Blick erfolge. 339 Zwar beziehen sich Mulveys Bei‐ spiele allesamt auf filmische und nicht auf literarische Vermittlung, allerdings agiert Brausen in Onettis La vida breve (1950) als Drehbuchautor, d. h. er entwirft seinen Text für ein visuelles Vermittlungsszenario. Die imaginäre Kamerafüh‐ rung wird dabei von Semantiken des Sehens repräsentiert, wie im folgenden Unterkapitel näher ausgeführt werden soll. Anschließend daran untersucht Ka‐ pitel 4.2 die Fortführung der männlichen Erzählmacht innerhalb der Metafik‐ tion. Kapitel 4.3 erkundet schließlich die Ausprägung spezifisch sanmariani‐ scher Männlichkeiten und geht damit der männlich hegemonialen Macht nach, die sich auf diegetischer Ebene manifestiert. Inwiefern diese männlichen Macht‐ strukturen von aktiv handelnden Frauenfiguren durchbrochen werden und wo die Grenzen weiblicher Selbstermächtigung verlaufen, wird im fünften Kapitel zu untersuchen sein. 4.1 Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht Santa María ist das geistige Produkt des fiktiven Werbefachmanns und Dreh‐ buchautors Juan María Brausen. „Todo tiene que partir […] de él“ ( VB 429, eig. Hervorh.), räsoniert Brausen, als er Díaz Grey, él, ins Zentrum und an den An‐ fang seines fiktiven Drehbuchs stellt. Díaz Grey wird somit zum topologischen Nullpunkt und zur männlich konnotierten Hauptreferenz, über die sich die ge‐ 135 4.1 Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht <?page no="136"?> 340 So hieß etwa Chemnitz zeitweise Karl-Marx-Stadt. Die Überlegung, dass Onetti sozia‐ listische Regime aus Kontinentaleuropa parodiert, rührt von zwei weiteren Anspie‐ lungen in seinem Werk auf ebendiese Staaten. Erstens der Figur des gescheiterten samte Santa María-Handlung generiert. Der Diskursraum Santa María ist damit bereits in seiner Entstehung klar phallogozentrisch markiert: Ein fiktiver männ‐ licher Autor denkt sich ein Drehbuch aus, das wiederum um eine männliche Figur herum aufgebaut ist - alle weiblichen Figuren, wie etwa Elena Sala, werden in Abhängigkeit von einer männlichen Figur und folglich als ‚das An‐ dere‘ konstruiert. Im zweiten Teil des Romans überhöht Brausen Díaz Greys Omnipräsenz und spricht zeitweilig nicht mehr von Santa María, sondern stattdessen von ‚Díaz-Grey-Stadt‘, „pensando en la ciudad de Díaz Grey“ ( VB 662). Von der ein‐ fachen Straße über die großen Hauptverkehrsadern bis zu Konditorei benennt er die gesamte Stadttopographie nach dem Arzt. Um die fiktive Isotopie <Díaz Grey-Stadt> sichtbar zu machen, soll im Folgenden eine längere Passage aus dem zweiten Teil von La vida breve (1950) zitiert werden. Die Szene wird von Brausen geschildert. Zur Veranschaulichung sind alle Nennungen des Namens Díaz Grey oder direkte Referenzen an die Figur, etwa in Form seiner Funktion als Arzt, unterstrichen. Empecé a dibujar el nombre de Díaz Grey, a copiarlo con letras de imprenta y precedido por las palabras calle, avenida, parque, paseo; [Hervorh. i. Orig.] levanté el plano de la ciudad que había ido construyendo alrededor del médico, alimentado con su pequeño cuerpo inmóvil junto a la ventana del consultorio; […] tracé […] las calles que […] se perdían detrás de Díaz Grey, en el aún ignorado paisaje campesino interpuesto entre la ciudad y la colonia suiza. Luché por la perspectiva a vuelo de pájaro de la estatua ecuestre que se alzaba en el centro de la plaza principal […], la estatua levantada por la contribución gustosa y la memoria agradecida de sus conciudadanos al general Díaz Grey, no inferior a nadie en las proezas de la guerra o en las batallas fecundas de la paz. […]; veía la estatua de Díaz Grey apuntando con la espada hacia los campos del partido de San Martín, el pedestal verdoso y manchado, la sobria y justiciera leyenda oculta a medias por la siempre renovada corona de flores; veía […] la avenida Díaz Grey, […] los enormes árboles del parque Díaz Grey, […]; veía los hombres salir de la confitería Díaz Grey […]; veía los coches […] trasladar […] una redonda nube de polvo por la carretera Díaz Grey. (VB 668, eig. Hervorh.) Das erste, das bei der Lektüre dieser Passage ins Auge springt, ist die überzeich‐ nete Anspielung auf politische Namensgebungen, wie sie vor allem von sozia‐ listisch-kommunistischen Systemen in der Zeit des Kalten Krieges vorge‐ nommen wurden. 340 Die Benennung sämtlicher Infrastruktur (über Straßen und 136 4 This is a man’s world <?page no="137"?> Kommunisten Lázaro, dessen osteuropäischer Akzent Linacero in El pozo (1939) zu Hasstiraden hinreißt: „Hay un acento extranjero -Checoslovaquia, Lituania, cualquier cosa por el estilo-, un acento extranjero que me hace comprender cabalmento lo que puede ser el odio racial.“ (Cf. PZ 22-26, cit. p. 24) Die zweite Anspielung ist direkter Art: in La muerte y la niña (1973) flüchtet sich Augusto Goerdel nach dem Tod seiner Frau Helga Hauser in die ehemalige DDR. Dort lebt er unter dem Pseudonym Johannes Schmidt. (Cf. MN 622-624) 341 Explizit Brausen zugeordnet wird das Reiterstandbild etwa in Jacob y el otro (1959): „El hombre movedizo y simpático y el gigante moribundo atravesaron en diagonal la plaza y el primer sol amarillento de la primavera. El más pequeño llevaba una corona de flores, una coronita de pariente lejano para un velorio modesto. […]; sin apresurarse pero resuelto, el movedizo marchaba con una irrenunciable dignidad, con una levantada sonrisa diplomática, como flanqueado por soldados de gala, como si alguien, un palco con banderas y hombres graves y mujeres viejas, lo esperaba en alguna parte. Se supo que dejaron la coronita, entre bromas de niños y alguna pedrada, al pie del monumento de Brausen.“ (JO 112, eig. Hervorh.) Wie schon die Darstellung der Díaz-Grey-Statue in La vida breve (1950), sind auch hier, in einer Szene aus Jacob y el otro (1959), das Standbild und die Huldigung des Verewigten als Parodie zu lesen. Denn die Kranzniederlegung verharrt in einer sinnentleerten, theatralen Bewegung. Das Signifikat (das Standbild) wird durch die mangelnde Prominenz und Wichtigkeit derer, die huldigen, seiner Be‐ deutung (der Heldenverehrung) beraubt. Es bleibt ein parodistischer Akt: ein unge‐ lenker Riese und sein Begleiter legen unter dem Gespött der Kinder einen lächerlich kleinen Kranz vor dem Standbild ab und imitieren damit lediglich die diplomatische Geste würdevoller Kranzniederlegungen hochrangiger Politiker auf Staatsbesuch. Erholungsorte bis hin zum Einzelhandel) nach Díaz Grey lässt diese mögliche Anspielung jedoch ins Parodistische kippen. Die gesamte Stadttopographie ist in diesem Einschub nach Díaz Grey benannt. Dem zukünftigen Erzähler aller weiteren Santa María-Geschichten wird damit im Vorausgriff auf spätere Er‐ zählungen bereits im Gründungsroman La vida breve (1950) ein Denkmal ge‐ setzt - sowohl im übertragenen Sinne, wie eben beschrieben, als auch direkt innerhalb der Erzählung. Denn Brausens gesamte Stadtschilderung kreist um das zentrale Reiterstandbild des Generals Díaz Grey. Das Standbild zeigt einen heroischen Krieger, der mit hoch erhobenem Degen, der an Phallussymbolik kaum zu überbieten ist, in Richtung Schlachtfeld weist und zu dessen Füßen regelmäßig frische Blumenkränze abgelegt werden: [L]a estatua de Díaz Grey apuntando con la espada hacia los campos del partido de San Martín, el pedestal verdoso y manchado, la sobria y justiciera leyenda oculta a medias por la siempre renovada corona de flores. (VB 662) Im Laufe des Onetti’schen Gesamtwerks ändert sich jedoch die Identität des Reiters. So ist die Statue in allen nachfolgenden Romanen nicht mehr Díaz Grey, sondern Brausen selbst gewidmet. 341 Diese Verschiebung verweist zudem auf eine historische Veränderung, auf die Foucault in seinen Untersuchungen zur 137 4.1 Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht <?page no="138"?> 342 So formuliert Foucault: „[D]er Übergang von einer Kunst des Regierens zu einer poli‐ tischen Wissenschaft, der Übergang von einem Regime, das durch die Strukturen der Souveränität beherrscht ist, zu einem Regime, das durch die Techniken des Regierens beherrscht ist, tritt im 18. Jahrhundert im Kontext der Bevölkerung ein und folglich im Kontext der Geburt der politischen Ökonomie.“ (Cf. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I (2017 [1978 franz.]), pp. 150-159, cit. p. 159) 343 Möglicherweise stellt die ‚Kuhköpfigkeit‘ der beschriebenen Statue auch eine Referenz an die historische Figur des Alvar Núñez Cabeza de Vaca dar; dieser war, wie Potthast schreibt, eine Abgesandter Karls V., der 1542 in seiner Mission, „die Sierra de la Plata über den unwirtlichen Chaco zu erreichen […] scheiterte, […] nach Spanien zurückge‐ sandt und dort schließlich verurteilt [wurde].“ (Cf. Barbara Potthast: Von Müttern und Machos (2003), p. 44) Der Verweis auf die historische Referenz würde damit auch das Scheitern Brausens (zu dessen Ehren das Standbild ja errichtet wurde) bzw. seine Be‐ deutung als ‚gescheiterter Künstler‘ (siehe dazu Kapitel 4.3) noch einmal verstärken. Genese der Gouvernementalität aufmerksam machte: aus dem mit dem Schwert über seine Untertanen herrschenden Souverän wird eine biopolitisch ausge‐ richtete Staatsmacht, deren Disziplinierungsstrategien nicht mehr auf die Ent‐ ziehung des Lebens (symbolisiert durch das Schwert des Souveräns), sondern auf das Leben der Bevölkerung als staatspolitische Ressource ausgelegt ist. 342 Das Reiterstandbild wird damit als Allegorie einer historischen Machtverschie‐ bung lesbar: So gebührt im Laufe der Santa María-Erzählungen nicht mehr dem ein Reiterstandbild, der mit dem Schwert richtet, sondern dem, der erfindet. Doch das Reiterstandbild erfährt im weiteren Verlauf noch eine weitere Be‐ deutungsverschiebung: So steht die Statue bzw. deren verändertes Aussehen im Laufe des Gesamtwerks nicht nur für eine Veränderung im Bezug auf Diszipli‐ nierungsstrategien, sondern auch für eine Veränderung der fiktiven Autorität, d. h. für eine Veränderung von Brausens Macht. So berichtet Díaz Grey in La muerte y la niña (1973) über das Reiterstandbild, das zu Ehren Brausens aufge‐ stellt worden war, folgendes: [L]a cara del jinete de la estatua dedicada a Juan María Brausen había comenzado a insinuar rasgos vacunos. […] La dureza del bronce no mostraba signo alguno de for‐ mación de cuernos; sólo una placidez de vaca solitaria y rumiante. (MN 600) Die Gesichtszüge des Reiters nehmen in dieser Schilderung die Züge eines Rindes an, allerdings eines ohne Hörner, d. h. einer einsamen, gemütlich wie‐ derkäuenden Kuh. 343 Das fehlende Horn und das stupide Wiederkäuen vermit‐ teln den Eindruck von Wehr- und Arglosigkeit. Díaz Greys Gefühl, dass sich die Statue verändere, wird von Pfarrer Bergners Beobachtungen bestätigt. Dieser meint folgendes bemerkt zu haben: „[A]l atardecer, la cabeza del caballo de la estatua tiene rasgos más de vaca que de esquino.” ( MN 616) Im Gegensatz zu Díaz Grey bezieht Bergner die Veränderung jedoch auf das Reittier. So meint er 138 4 This is a man’s world <?page no="139"?> eher eine Kuh als ein Pferd in dem bronzenen Tier zu erkennen. Darauf erwidert Díaz Grey: -Puede ser, nunca me fijé […]. -Pero el jinete. Sí, siempre le sospeché equívocos. En cuanto a la montura, creo que ciertas noches la cornamenta parece surgir […]. (MN 616) Der Reiter sei ihm schon immer merkwürdig vorgekommen und das Reittier scheine in manchen Nächten Hörner auszubilden. Er fährt fort: […] el caballo tiraba a vaca mansa y la figura de arriba tenía rasgos de potro, de bestia indomable. […] deben haber seguido el proceso. La vaca mansa y el jinete bigotudo. Pero no olvide que la vaca da leche pero también sabe cornear. (MN 616, eig. Hervorh.) Obiges Zitat verweist zudem auf das weibliche Geschlecht des Reittiers, dessen Fähigkeit zu nähren sowie sich gleichsam zu wehren. In Dejemos hablar al viento (1979) erscheint dieselbe Statue als „maturrango de bronce que siempre amenaza irse al trote y no cumple“ ( DV 776). Die Statue dieses ungeschickten Reiters, der ständig davon zu traben droht, es dann allerdings doch nicht tut, hat nicht mehr viel mit dem heroischen Reiterstandbild in La vida breve (1950) und Jacob y el otro (1959) gemein. Die lächerliche Bronzefigur erscheint als Gestalt gewordene Darstellung der allgemeinen sanmarianischen Dekadenz und insbesondere des Bedeutungsverlusts der polizeilichen Exekutive, die Santa María in Dejemos hablar al viento (1979) prägt. Doch nicht nur über die Veränderungen, die Díaz Grey und Pfarrer Bergner an der Statue wahrnehmen, sondern auch, und in noch viel stärkerem Maße, wird Brausens Machtposition innerhalb der Metafiktion Santa Marías auf dis‐ kursiver Ebene verhandelt. So ist Brausen zunächst als Autor, später als demi‐ urgische Schöpfergott-Figur in allen ausgewählten Werken implizit oder explizit präsent. Dass ein Teil der Figuren Brausens Metapoetizität reflektiert, zeigt etwa Jorge Malabias Bemerkung in La muerte y la niña (1973): „Todos sabemos que sigue en las nubes, manejándonos desde el cielo.“ ( MN 623) Diese räumliche Position des Oben, die Brausen die Möglichkeit gibt, auf Santa María und seine Bewohner herabzuschauen und alles zu überblicken, wird bereits in Juntacadá‐ veres (1964) antizipiert. Eine extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz mit Nullfokalisierung leitet die Passage mit folgenden Worten ein: „Era, en re‐ alidad, como si una fuerza superior demostrara a los culpables y a los otros que no era posible defenderse con la hipocresía de las consecuencias del pecado.“ ( JC 502, eig. Hervorh.) Im darauffolgenden Abschnitt wechselt die Erzählhaltung und ein intradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler berichtet über Santa 139 4.1 Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht <?page no="140"?> 344 Die inquit-Formel imagino, die in La vida breve (1950) von Anfang an Brausen zuge‐ ordnet ist, legt nahe, dass es sich bei dem unbekannten Sprecher um Brausen als fuerza superior handelt. 345 Gleichzeitig wird die Deutung profanisiert und damit ambivalent, denn die humilde altura, die als Indiz für die Göttlichkeit Brausens, seine Verortung im Himmel gelesen werden kann, könnte genauso gut der Blick aus einem Flugzeug sein, wie folgende Aussage belegt: „[L]a ciudad, la Colonia, el paisaje total que puede descubrirse desde un avión.“ (JC 503) Diese fiktionale Ambivalenz ist typisch für Onettis Texte und ver‐ stärkt die Erosion (scheinbar) mimetischer Beschreibungen und diegetischer Gewiss‐ heiten. María: 344 „También imagino a Santa María, desde mi humilde altura, como una ciudad de juguete, una candorosa construcción de cubos blancos y conos verdes, transcurrida por insectos tardos e incansables.“ ( JC 503, eig. Hervorh.) 345 In De‐ jemos hablar al viento (1979) erscheint die ambivalente Schöpferfigur schließlich als deus ex machina in Santa María, um den Tod Julián Seoanes aufzuklären: „- Soy lo que quieran, pero por ahora soy el juez […].“ ( DV 871) Die Herkunft des Richters wird an keiner Stelle erwähnt, stattdessen lässt der Text seine Identität (ein drittes Alter Ego Brausens? ) bewusst offen. Obwohl Santa María formal nicht in seine juridische Zuständigkeit fällt, erklärt er es kurzerhand dazu: „Y alguien contestó que Santa María no estaba en mi jurisdicción. Pero no importa; ahora está, por decreto mío.“ ( DV 872) Der Richter beschließt also qua münd‐ lichem Dekret, d. h. qua seiner Stimme, dass Santa María nun in seinen juridi‐ schen Einflussbereich falle und demonstriert damit, wie auch im folgenden Zitat, seine Sprachmacht: El cuerpo [de Julián Seoane, eig. Anmk.] lo mandan al hospital de Colón. Ya me parece leer: sobredosis de cualquier porquería. Con alguna excepción, tal vez, todos estos que llaman drogadictos tendrían que terminar así, y canto antes, mejor. (DV 874) Die kurze Anweisung zeigt, dass sich die Macht des Richters einerseits auf in‐ haltlicher Ebene manifestiert, insofern er die Untersuchung des Leichnams von Santa María nach Colón verlagert und damit dem Einflussbereich Medinas ent‐ zieht. Andererseits zeigt das Zitat auch, wie die Sprachmacht des Richters in eine diskursive Macht übergeht. So nimmt er das Untersuchungsergebnis vorweg und verschriftlicht es gedanklich: Ya me parece leer. Ein dritter Punkt, den dieses Zitat impliziert, ist die biopolitische Aufteilung in Dichotomien, die in diesem Fall zwischen drogenabhängig / krank und gesund, sprich, nicht le‐ benswert und lebenswert unterscheidet. Semantisch ist der kurze Einschub an die Wutausbrüche Marcos Bergners in Juntacadáveres (1964) angelehnt. So wie dieser Prostitution als Schweinerei bezeichnete, spricht auch der Richter von Drogen als von cualquier porquería. Während Marcos den Prostituierten und 140 4 This is a man’s world <?page no="141"?> 346 Díaz Grey, der an mehreren Stellen als morphinabhängig beschrieben wird, nimmt der Richter implizit von dieser Forderung aus: “Con alguna excepción, tal vez, todos estos que llaman drogadictos tendrían que terminar así [gemeint ist wie der tote Seoane, eig. Anmk.], y cuanto antes, mejor. El doctor Díaz Grey no quiere saber nada más de estas cosas.” (DV 874) 347 In seinen plastischen, bildhaften Beschreibungen rekurriert Onetti immer wieder auf die Malerei des 20. Jahrhunderts. Verani untersucht diese Referenzen unter der Kapi‐ telüberschrift „Hacia una teoría de la ficción: literatura y pintura“. (Hugo J. Verani: El ritual de la impostura (2009 [1981]), pp. 9-22) 348 Der Fensterblick steht paradigmatisch für die Konstitution von Santa María. So schildert etwa der Erzähler Díaz Grey in Jacob y el otro (1959) die Ankunft der Protagonisten Jacob van Oppen und Fürst Orsini ebenfalls vermittels des Fensterblicks - mit dem einzigen Unterschied, dass Díaz Grey in Jacob y el otro (1959) nicht aus dem Fenster seines Behandlungszimmers, sondern aus einem Hotelfenster auf den Hauptplatz blickt: „[T]odo aquello había empezado a mostrárseme casi una semana antes, […], mientras miraba el ir y venir en la plaza desde una ventana del bar del hotel.“ (JO 112, eig. Hervorh.) ihrem Zuhälter allein den sozialen Tod durch Vertreibung aus der Stadt wünschte, sollten laut Aussage des Richters in Dejemos hablar al viento (1979) am besten (fast) alle Drogenabhängigen an einer Überdosis sterben. 346 Während der Richter in Dejemos hablar al viento (1979) vermittels seiner Stimme fiktive Tatsachen schafft, erfindet Brausen in La vida breve (1950) Santa María hauptsächlich über seinen Blick. So basiert der Plot des Drehbuchs, den Brausen in La vida breve (1950) gedanklich ausarbeitet, vornehmlich auf visu‐ ellen Eindrücken. Brausen denkt in Bildern 347 und der männliche Blick zieht sich damit als raum- und fiktionskonstituierend durch den gesamten Roman. In enger semantischer Anlehnung an das visuelle Medium des Films sieht Brausen die erdachten Szenen buchstäblich vor seinem inneren Auge entstehen. So etwa die erste Interaktion zwischen Díaz Grey und Elena Sala, die Brausen als extra‐ diegetisch-heterodiegetischer Erzähler mit Innenfokalisierung auf Díaz Grey beobachtet bzw. wiedergibt: „Veo una mujer que aparece de golpe en el consul‐ torio del médico.“ ( VB 429, eig. Hervorh.) Einige Seiten weiter heißt es: „La vi avanzar en el consultorio […].“ ( VB 431, eig. Hervorh.) Auch die erste detaillierte Darstellung Santa Marías beschreibt Brausen als visuellen Eindruck, vermittelt durch die Perspektive des Fensterblicks: 348 Yo veía, definitivamente, las dos grandes ventanas sobre la plaza: coches, iglesia, club, cooperativa, farmacia, confitería, estatua, árboles, niños oscuros y descalzos, hombres rubios apresurados […].” (VB 430 sq., eig. Hervorh.) Das Zitat beschreibt im Stil einer Regieanweisung einen ersten, groben Über‐ blick über das Setting des Drehbuchs. Insofern die Perspektive des wahrnehm‐ enden Erzählers (Yo veía) in die technischen Abläufe der Filmproduktion über‐ 141 4.1 Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht <?page no="142"?> 349 Auf die ästhetische Nähe der Onetti’schen Texte zum Medium des Films verweist u. a. Pablo Rocca: „[E]l cine […] le ofrece un repertorio técnico que se traduce en recortes, montajes, múltiples manejos del punto de vista.“ (Pablo Rocca: „Prólogo“ (2009), p. XVII) 350 Analog zu dieser Blickachse (durch ein großes Fenster aus dem Behandlungszimmer des Arztes auf den Hauptplatz) kann auch die von Díaz Grey in Jacob y el otro (1959) erinnerte Ankunftsszene von Jacob van Oppen und seinem Manager Orsini gelesen werden. Díaz Grey erinnert sich „que todo aquello había empezado a mostrárseme casi una semana antes, […], mientras miraba el ir y venir en la plaza desde una ventana del bar del hotel. El hombre movedizo y simpático y el gigante moribundo atravesaron en diagonal la plaza y el primer sol amarillento de la primavera.“ (JO 112) setzt wird, lässt sich der kurze Überblick auch als direkte Anweisung für den Kameramann lesen: Der sehende Erzähler steht für das Kamera-Auge. 349 Der umherschweifende Blick (dessen Wahrnehmungsinstanz im Inneren eines Hauses mit Blick auf den Hauptplatz lokalisiert ist) konstituiert Santa María als Drehbuchsetting. Einige Buchseiten weiter verändert sich Brausens Blick; er wird mittelbarer und damit auch subjektiver. In nachstehendem Zitat betrachtet Brausen die Stadt vermittels seiner Hauptfigur, d. h. er stellt sich nicht mehr vor, was er selbst sähe bzw. was ein / e potentielle Zuschauer*in des späteren Films zu sehen bekäme, sondern wie Díaz Grey seinen Blick vom Behandlungszimmer aus über die Stadt und den Fluss schweifen ließe: 350 Díaz Grey estaría mirando, a través de los vidrios de la ventana y de sus anteojos, un mediodía de sol poderoso, disuelto en las calles sinuosas de Santa María. Con la frente apoyada y a veces resbalando en la suavidad del cristal de la ventana […]. Miraba el río […]. (VB 435, eig. Hervorh.) Mit Innenfokalisierung auf den Arzt Díaz Grey wird also ein erster Mikroraum - das Behandlungszimmer - konstruiert. Durch dessen Fenster leitet der Blick des Erzählers den ‚Blick‘ der Leser*innen auf die Stadt. Die Innenperspektive des Arztes, seine Brille sowie das Fenster selbst, verstärken dabei den Vermittlungs‐ effekt, d. h. die Distanz zwischen Brausen und seiner Sicht auf die Stadt und in diesem Sinne auf die eigene Fiktion. Das Fenster gibt dabei den Ausschnitt vor, den Brausen durch die Innenfokalisierung auf Díaz Grey von der Stadt wahr‐ nimmt: Er blickt auf die Stadt und seine Bewohner oder vielmehr auf einen Teil davon, den Hauptplatz. Wenn Brausen im zweiten Teil von La vida breve (1950) auf der Flucht mit Ernesto in die eigene Fiktion eintritt, verschiebt sich seine vermittelte hetero‐ diegetische Erzählhaltung zu einer homodiegetischen Perspektive: Als Teil der eigenen Metafiktion blickt er auf Santa María. Das heißt, auf der Flucht mit Ernesto tritt er Schritt für Schritt in die eigene Geschichte ein: 142 4 This is a man’s world <?page no="143"?> 351 Der Begriff ‚fictioformativ‘ soll an dieser Stelle in Analogie zu dem Begriff ‚ontofor‐ mativ‘ verwendet und damit im Sinne von ‚fiktionsbildend‘ verstanden werden. [Y]o podía […] mirar hacia Santa María, volver a pensar que todos los hombres que la habitaban habían nacido de mí […]; que, en último caso, era capaz de proporcionar a cada uno de ellos una agonía lúcida y sin dolor para que comprendieran el sentido de lo que habían vivido. (VB 683, eig. Hervorh.). Als homodiegetische Figur sieht er die Stadt, als heterodiegetischer Erzähler gleicht er ab und gestaltet, indem er die Geschichte ihrer Bewohner imaginiert. Brausen blickt als Flüchtender zusammen mit Ernesto auf die Stadt und gleich‐ zeitig diktiert er den Sanmarianer*innen als ihr Schöpfer den Sinn des Lebens - und damit seine Weltsicht. Im letzten Kapitel von La vida breve (1950) findet schließlich der grundlegende Erzählerwechsel zwischen Brausen und Díaz Grey statt, der für alle folgenden Santa María-Texte konstitutiv ist und sich durch die beschriebene Innenfokali‐ sierung auf Díaz Grey ankündigt: Brausen wird von Díaz Grey, dem Protago‐ nisten seiner Geschichte abgelöst. Im Moment des Erkennens seiner metafikti‐ onalen Verfasstheit erlöst Díaz Grey Brausen von dem existentiellen Druck, sich die Geschicke Santa Marías und ihrer Bewohner weiter auszudenken. Brausen ist damit frei: ‘Esto era lo que yo buscaba desde el principio, desde la muerte del hombre que vivió cinco años con Gertrudis; ser libre, ser irresponsable ante los demás, conquistarme sin esfuerzo en una verdadera soledad.‘ (VB 697, eig. Hervorh.) Im letzten Kapitel von La vida breve (1950) übernimmt Díaz Grey Brausens Funktion als Erzähler und behält diese in fast allen nachfolgenden Santa María-Texten bei, wie im nachfolgenden Kapitel dargestellt wird. Zunächst soll jedoch noch eine zweite narrative Funktion erläutert werden, die der männliche Blick Brausens in La vida breve (1950) erfüllt. So gibt es neben dem eben skizzierten ‚fictioformativen‘ Blick Brausens, der Santa María räum‐ lich und topographisch konstituiert und durch die zentrale Position Díaz Grey als androzentrischen Erzählraum markiert, den normierenden männlichen Blick Brausens auf den weiblichen Körper. 351 Dieser setzt, einer textstrukturellen Logik folgend, die narrative Dynamik der Metafiktion Santa María überhaupt erst in Gang. Über die Auseinandersetzung mit Ludmers Forschungsergebnissen soll diese Behauptung weiter ausgeführt werden. So liest Ludmer Gertrudis‘ Brustamputation, die bereits zu Beginn des Romans thematisiert wird, als „in‐ 143 4.1 Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht <?page no="144"?> 352 Josefina Ludmer: Onetti. Los procesos de construcción del relato (2009 [1977]), p. 33, Her‐ vorh. i. Orig. 353 Ähnlich wie Ludmer rekurriert auch Ferro in seinen Ausführungen auf die narrations‐ initiierende Bedeutung der Brust-Amputation, wobei er dabei vor allem die Naht der Wunde (die später als Narbe im Körper manifest wird) weniger als Grenze denn als verbindendes Element zwischen zwei Entitäten fokussiert: „El corte, topos privilegiado de la novela, es trabajado en todos los niveles del texto, pero este corte es un gesto marcado insistentemente por la escritura, a veces, sin exhibirlo en la letra.“ (Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 225) Als fiktionsbildend liest er nicht das Füllen einer narrativen Leerstelle und damit das Ausgleichen eines textstrukturellen Ungleichgewichts, sondern vielmehr den Vorgang der Fragmentierung und darauffol‐ gend einer Neukombination unterschiedlicher Entitäten. „Para poder comenzar es ne‐ cesario fragmentar“ (Ibid., p. 222), schreibt er und bezieht sich dabei auf Brausens pa‐ radigmatischen Gründungsgedanken: „Todo tiene que partir de ahí, de él“ (VB 429, eig. Hervorh.). Ferro zufolge ist der gesamte Romanbeginn dichotomisch organisiert. Para‐ digmatisch teilt der Text das anfängliche Geschehen in zwei Orte, einerseits die Woh‐ nung Brausens, andererseits Quecas Appartement. Die dünne Wand dazwischen scheint aus Papier und verweist damit auf das Medium Buch (Brausens Drehbuch), wie Ferro weiter konstatiert. Die fiktionsgenerierende Substitutionsargumentation, die Ludmer in ihrer Analyse stark macht, erwähnt Ferro dabei nur am Rande (und ohne Verweis auf Ludmers Vorarbeit): „Además, Brausen / Díaz Grey escribe en una ‚libreta‘, ana‐ grama y cifra en el significante de la producción narrativa que viene, ‚libro y teta‘, condensación entre lo que falta y lo que ocupa su lugar.“ (Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 229) Die zweite entscheidende Trennbzw. Verbin‐ dungslinie, die durch den medizinischen Schnitt erzeugt wird, verläuft zwischen zwei narrativen Ebenen: Der Ebene der (fiktiven) Realität Brausens und der seiner Imagina‐ tion: „El corte, asiento de toda segmentación posible, es el lugar de confluencia, de articulación que organiza los posibles narrativos; es en la incisión donde se producen los movimientos de conversión: habla / escritura, realidad / ficción, pasado / presente.” (Ibid., p. 227, eig. Hervorh.) 354 Josefina Ludmer: Onetti. Los procesos de construcción del relato (2009 [1977]), pp. 33 sq. 355 Cf. Ibid., pp. 25-34. cipit“ 352 und narratives movens der gesamten Romanhandlung und deren Ver‐ zweigungen: 353 Se escribe a partir del corte y de lo que falta; se escribe porque hay algo que falta. El incipit de La vida breve manifiesta que no hay relato sin amputación y sin algún objeto desaparecido; manifiesta, a la vez, que no hay relato sin algún tipo de irrupción o advenimiento; que es necesario encontrar otro ‚objeto’ (signo) que sustituya (signi‐ fique) al perdido […]. 354 Ludmer argumentiert aus einem strukturalistisch-tiefenpsychologischen An‐ satz heraus, dass die Entstehung von Fiktion immer die Folge eines Mangels sei, der ausgeglichen werden müsse. In diesem Fall markiere die fehlende Brust diesen Mangel. 355 Der Ausgleich dieses Ungleichgewichts erfolge über das Er‐ 144 4 This is a man’s world <?page no="145"?> 356 Ähnlich wie Ludmer argumentiert auch Stephanie Merrim. Sie setzt das grundsätzliche Fehlen, im Sinne einer narrativen Leerstelle, die durch die amputierte Brust hervorge‐ rufen wird und sich im Verlust der Paarbeziehung fortsetzt, als Ausgangspunkt der fiktionalen Welterschaffung in La vida breve (1950). Cf. Stephanie Merrim: „La vida breve o la nostalgia de los orígenes“ (1986). 357 Judy Maloof: Over her dead body (1995), p. 71. finden, die visuelle Imagination, eines bzw. zweier unversehrter Frauenkörper - den der Prostituierten Queca und den Elena Salas. So wird die Amputation zum Ausgangspunkt des metafiktiven Drehbuchs. 356 Was Ludmer allerdings nicht erläutert, ist die Tatsache, dass das Defizitäre des weiblichen Körpers allein durch Brausens begehrenden und damit normierenden Blick als solches mar‐ kiert wird; denn wenngleich Gertrudis zunächst mit ihrer Brustamputation ha‐ dert, so akzeptiert sie doch nach einiger Zeit der Trauer ihren von der Krankheit gezeichneten Körper. Sie findet ihre ursprüngliche Lebensfreude nicht nur ohne ihre linke Brust, sondern auch ohne ihren Ehemann wieder. So muss Brausen feststellen, [que] Gertrudis empezó a buscar la dicha aparte y antes de mí. Revivía los días juve‐ niles anteriores a nuestro casamiento, recordaba y copiaba a la muchacha de cabeza y mandíbula orgullosas, la de la despreocupación y los largos pasos. (VB 477) Brausen hingegen nimmt den Körper seiner Frau weiterhin als versehrt und damit als nicht mehr begehrenswert wahr. Nicht Gertrudis, deren Körper, wie Ludmer argumentiert, von einer Leerstelle markiert ist, versucht also einen Mangel auszugleichen, sondern Brausen. Letztlich findet damit eine Aneignung der entstandenen Leerstelle in Gertrudis‘ Körperraum durch Brausen statt. Das Scheitern seiner Ehe wird durch die sich anbahnende Affäre zwischen Díaz Grey und Elena Sala auf Ebene der Metafiktion ersetzt. Sein mangelndes Begehren substituiert Brausen demnach durch eine narrative Verschiebung: Er imaginiert ein Alter Ego (Díaz Grey), dessen sexuelles Begehren durch eine metafiktive Wiedergängerin seiner Frau Gertrudis (Elena Sala) geweckt wird. Das heißt, der Mangel in Form der amputierten Brust wird als handlungsauslösendes Moment, als incipit, erst durch Brausens Blick als solches wirkmächtig. Die Brustampu‐ tation ist in dieser Lesart also nur indirekt handlungsauslösend, indem sie das eigentliche incipit der Romanhandlung(en), Brausens nicht mehr existentes Be‐ gehren gegenüber Gertrudis, evoziert. Maloof schreibt dazu: For this narcissistic male subject, the loss of Gertrudis’s breast - an erotic fetish that had brought him sexual satisfaction - is associated with his own loss of virility and a crisis in his sexual identity. 357 145 4.1 Die Entstehung Santa Marías oder wie Brausen die Welt sieht <?page no="146"?> 358 Cf. VB 466 sq. 359 Florian Baranyi ordnet Brausens Flucht bzw. Ausbruchsbewegungen die Doppelstra‐ tegie von einerseits Lüge ( Juan María Arce) und andererseits Fiktionalisierung (Díaz Grey) zu. (Cf. Florian Baranyi: „La ‚profesión de la mentira“, 2019) Brausen selbst stürzt die Verstümmelung eines ehemals begehrten Objektes demnach zunächst in eine sexuelle Krise. Zusammen mit seinen Geldsorgen und seiner Entfremdung von seinem einzigen Freund Julio Stein wird diese zu einer existentiellen Krise, der er auf doppeltem Wege zu entkommen versucht: 358 ei‐ nerseits durch den Ausbruch aus seiner bürgerlichen Welt und die Flucht in den Raum des Nebenan. Dieser Weg ist an die Erfindung seines Alter Egos Juan María Arce gebunden. Die als zunehmend unerträglich empfundene Enge des gemein‐ samen ‚ehelichen‘ Appartements kann dabei metaphorisch für die Enge seiner scheiternden Ehe und damit auch die Enge der bürgerlichen Welt gelesen werden, der er zu entfliehen versucht: „[L]a habitación, una vez más y peor que nunca, iba a resultar demasiado pequeña para contenernos a los dos y a la tristeza suspirante de Gertrudis […].“ ( VB 445) Brausens zweiter Fluchtweg führt ihn in seine Phantasie-Welt, in den Raum der Imagination. Den entsprechenden Wie‐ dergänger für seine Flucht in das imaginierte Santa María verkörpert Díaz Grey: 359 [E]ra Arce en las regulares borracheras con la Queca, en el creciente placer de gol‐ pearla, en el asombro de que me fuera fácil y necesario hacerlo; era Díaz Grey, escri‐ biéndolo o pensándolo, asombrado aquí de mi poder y de la riqueza de la vida. (VB 559) Beide Fluchtversuche haben, um noch einmal auf Ludmer zurückzukommen, ihren Ursprung im narrativen Ausgleich eines textstrukturellen Ungleichge‐ wichts. Dies ist jedoch nicht die Substitution eines versehrten (Gertrudis) durch zwei äußerlich unversehrte Frauenkörper (Queca, Elena Sala), sondern vielmehr die Substitution von deren Spiegeleffekten, d. h. des männlichen Begehrens und der damit verbundenen sexuellen Potenz. Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass Brausens male gaze in Bezug auf die Erfindung Santa Marías in La vida breve (1950) eine Doppelfunk‐ tion erfüllt. So wirkt Brausens imaginierender Blick auf einen männlichen Körper (Díaz Grey) und durch dessen Perspektive fiktionskonstituierend. Als indirekt fiktionsinitiierend fungiert indes sein normierender Blick auf einen weiblichen Körper (Gertrudis). Nach Foucault ist „[d]er Autor […] dasjenige, was der be‐ unruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre 146 4 This is a man’s world <?page no="147"?> 360 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (2014 [1972 franz.]), p. 21. 361 Als Sohn einer einflussreichen konservativen Verlegerfamilie, und durch Julitas Heirat mit seinem verstorbenen Bruder Federico auch mit der Familie Bergner verwandt, zählt Jorge qua Abstammung zu den Bordellgegnern. Verzweifelt auf der Suche nach sexu‐ eller Initiation, wird der 16-Jährige jedoch von den Verheißungen des Bordells in Bann gezogen. Durch seine Erzählstimme nimmt er damit eine Scharnierfunktion zwischen Bordellgegnern und -befürwortern ein. Neutral ist Jorge vor allem ob seines jugendli‐ chen Alters. Als 16-Jähriger auf der Suche nach ersten sexuellen Abenteuern und dem Sinn des Lebens, ist er noch zu jung, um in Erwachsenen-Angelegenheiten Stellung beziehen zu können. Seine Mutter behandelt ihn noch wie ein Kind („No te quedes escribiendo. No fumes mucho. No te acuestas tarde.“, „[…] Tres manías infantiles que hacen reír a mi madre; […]“ JC 521) und auch seine versuchte Flucht in die Hauptstadt wird von den männlichen Erwachsenen nicht ernst genommen („¿Cree que me dedico a robar menores? “, „Es un mocoso […].“, „El nenito consentido“ JC 573 sq.). Juntacadá‐ veres (1964) ist damit gleichzeitig auch die Coming-of-age-Erzählung des jungen Jorge Malabia. In La muerte y la niña (1973) gehört Jorge bereits zum männlichen Establish‐ ment der Stadt und vertritt eine aktive Position. Er leitet die Zeitung seines Vaters und ist aktiv in die kommunalpolitische Ökonomie eingebunden: „Él, Jorge Malabia, había cambiado. Ya no sufría por cuñadas suicidas ni por poemas imposibles. Vigilaba capri‐ Einfügung in das Wirkliche gibt“ 360 . Durch seine Autorschaft verfügt Brausen über die Gestaltungsmacht bezüglich der Diskurse der Metafiktion. 4.2 Die (All-)macht männlicher Erzählstimmen Während im vorherigen Unterkapitel Brausens fiktive Autorfunktion und damit seine diskursive Machtposition untersucht wurden, werden im Folgenden die einzelnen männlichen Erzählinstanzen skizziert, durch die der männlich hege‐ moniale Diskurs in den ausgewählten Texten weiter verstärkt wird. So wird in allen La vida breve (1950) nachfolgenden Santa María-Texten diese rein männ‐ liche Perspektive des Gründungstextes durch die Erzähler Díaz Grey, ein nicht näher bestimmtes ‚Wir‘, Jorge Malabia, Lanza und Kommissar Medina immer wieder aufs Neue reproduziert. Erkennbar als Erzähler und damit als diskursive Deutungsmacht ist Díaz Grey zumindest in vier der fünf ausgewählten Texte präsent: In La vida breve (1950) geht durch die karnevaleske Inversion im letzten Kapitel die Erzählstimme von Brausen auf Díaz Grey über. Juntacadáveres (1964) ist, wie bereits Tierra de nadie (1941) durch eine männliche Polyphonie geprägt. Die verschiedenen Handlungsstränge werden größtenteils von drei unter‐ schiedlichen Erzählinstanzen wiedergegeben: Erstens einer unbekannten ext‐ radiegetisch-heterodiegetischen Erzählerstimme, zweitens Jorge Malabia als intradiegetisch-homodiegetischem Erzähler sowie drittens, einem ebenfalls int‐ radiegetisch-homodiegetischen ‚Wir‘: 361 „En aquel entonces empezamos a 147 4.2 Die (All-)macht männlicher Erzählstimmen <?page no="148"?> chosamente El Liberal, compraba tierras y casas, vendía tierras y casas. Ahora era un hombre abandonado por los problemas metafísicos, por la necesidad de atrapar la belleza con un poema o un libro.“ (MN 602) „Es probable que por aquel tiempo hubiera renun‐ ciado a los poemas y sólo escribiese los editoriales de El Liberal, dictados de ultratumba por su padre, tímidamente adornados con frases populistas, casi demagógicas.“ (MN 622) 362 Dieses „Wir“, das metonymisch für die diskursbildenden, alteingesessenen Herren Santa Marías steht, tritt in Onettis Texten immer wieder auf. Die poetologische Funktion dieses pluralisierten ICHs verstärkt den Eindruck eines starken Herrschaftsdiskurses, der von den ‚grauen Eminenzen‘, einer männlichen Herrschaftselite Santa Marías ge‐ prägt wird und deren topographisches Zentrum das Clubhaus bildet. sentir […]. […] No podíamos ya creer […].“ ( JC 563) Hinter diesem choralen ‚Wir‘ lässt sich mit Rückgriff auf den Beginn von Para una tumba sin nombre (1959) Díaz Grey als pars pro toto für die männlich-hegemoniale Bürgerschaft Santa Marías verorten. 362 So beginnt Para una tumba sin nombre (1959) mit folgenden Worten: „Todos nosotros, los notables, los que tenemos derecho a jugar al póker en el Club Progreso y a dibujar iniciales con entumecida vanidad al pie de las cuentas por copas o comidas en el Plaza.“ ( TN 5, eig. Hervorh.) In „La novia robada“ (1968) findet sich schließlich ein expliziter metapoetischer Hinweis auf die Identität dieses ‚Wir‘: Díaz Grey, der alleinige Erzähler dieser Kurzge‐ schichte, räumt ein, sich völlig berechnend, aus Mitleid und Ordnungsliebe hinter diesem Plural zu verbergen: „Por astucia, recurso, humildad, amor a lo cierto, deseo de ser claro y poner orden, dejo el yo y simulo perderme en el nosotros.“ ( NR 181) Außerdem vermutet Jorge Malabia in Juntacadáveres (1964) hinter Díaz Grey den eigentlichen Erfinder, d. h. den metafiktiven Autor der Bordellgeschichte: El doctor Díaz Grey tenía ropas flamantes, azules, y era el único con aire de divertirse sinceramente. Hablaba poco y sonreía como si la historia del prostíbulo y el último capítulo que contemplaba fueran obra suya. (JC 571, eig. Hervorh.) Wie dem Zitat zu entnehmen ist, erheitert die Schlussszene des Romans, das gemeinsame Warten auf den Zug, der die Prostituierten zurück in die Hauptstadt befördert, Díaz Grey dergestalt, dass es für Jorge den Anschein macht, als hätte der Arzt sich die ganze Geschichte (zu seinem eigenen Amüsement) ausgedacht. Dessen stilles Lächeln und seine scheinbare Freude über die Situation, die er als einziger unterhaltsam findet, korrespondieren mit der Genugtuung, die er als Erzähler in Para una tumba sin nombre (1959) und in La muerte y la niña (1973) 148 4 This is a man’s world <?page no="149"?> 363 Cf. PT 67 und MN 631. Für ausführlichere Erläuterungen zu Díaz Greys Schlussbemer‐ kungen über die Freuden des Erzählens in Para una tumba sin nombre (1959) und La muerte y la niña (1973) cf. Kapitel 3.4 dieser Arbeit. 364 Die fiktive Identität dieser Erzählinstanz lässt sich, je nach Lesart, entweder Brausen und als dessen Doppelung Díaz Grey oder Medina zuordnen. Entscheidend dafür ist das Kapitel XXIII „La tentación“, welches als ‚narratives Scharnier‘ zwischen beiden Teilen des Romans fungiert. Für eine detaillierte Darstellung dieses Kapitels und seiner nar‐ rativen Funktion siehe Kapitel 3.5 dieser Arbeit. über die Ablenkung und Zerstreuung artikuliert, die ihm das Geschichtener‐ zählen verschafft. 363 La muerte y la niña (1973) wird im Wechsel von einer extradiegetisch-homo‐ diegetischen Stimme und Díaz Grey als intradiegetisch-homodiegetischem Er‐ zähler geschildert. Von den fünf ausgewählten Analysetexten findet sich dem‐ nach nur in Dejemos hablar al viento (1979) kein Hinweis auf Díaz Grey als Erzähler. So wird der erste, in Lavanda situierte Teil von dem autodiegetischen Erzähler Medina, der zweite, in Santa María lokalisierte Teil von einer extra‐ diegetisch-heterodiegetischen Erzählinstanz geschildert. 364 Wird Díaz Grey da‐ gegen konsequent als fiktionale Doppelung Brausens und nicht nur als intra‐ diegetischer Erzähler gesehen, der sich mitunter an Brausen als symbolische Allmacht wendet, repräsentiert er auch die extradiegetische Erzählinstanz aller ausgewählten Texte, die wiederum zwischen homodiegetischer und heterodie‐ getischer Haltung variiert. 4.3 Männlichkeiten bei Onetti Wie in den letzten beiden Unterkapiteln dargestellt, wird die diskursive Deu‐ tungsmacht, sei es als Autor oder als Erzähler, in den ausgewählten Texten aus‐ schließlich von männlichen Figuren verkörpert. Connell argumentiert, dass es einer hegemonialen Männlichkeit bedarf, um eine patriarchale Ordnung immer wieder aufs Neue zu legitimieren. Außerdem betont sie die historische und kul‐ turelle Veränderlichkeit hegemonialer Männlichkeit. Es gilt demnach heraus‐ zuarbeiten, welche Merkmale die hegemoniale Männlichkeit in der fiktiven patriarchalen Ordnung der Onetti’schen Erzählwelt ausmachen. Da Onettis Texte auf narrativen Schachtelungen aufbauen (der Ursprungsfiktion F1, verortet in einem fiktiven Buenos Aires, sowie der Metafiktion Santa María F2), gilt es, die Merkmale auf beiden Ebenen zu bestimmen und miteinander in Beziehung zu setzen. So befasst sich diese Arbeit zwar vordergründig mit den Darstellungen und Funktionsweisen hegemonialer Männlichkeit innerhalb des metafiktiven Diskursraums Santa María, eine umfassende Analyse der Geschlechterverhält‐ 149 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="150"?> 365 Zur Aushandlung der konfliktbehafteten männlichen Identitäten in Onettis Erzäh‐ lungen cf. u.a. Wolfgang Matzat: „Juan Carlos Onetti: El astillero“ (1992) oder Juan Ma‐ nuel Molina: La dialectica de la identidad en la obra de Juan Carlos Onetti (1982). 366 Mario Vargas Llosa: „Huellas de Faulkner y Borges en Juan Carlos Onetti“ (2009), p. 19. nisse innerhalb Santa Marías schließt jedoch implizit immer auch das Weltbild und das Alltagswissen des fiktiven, nach Foucault diskursbestimmenden Autors Brausen mit ein. Das heißt, die Männlichkeiten, welche die patriarchale Ord‐ nung auf Fiktionsebene 1 strukturieren, wirken diskursbildend auf Fiktions‐ ebene 2. So bleibt Brausen als Schöpferfigur in allen Santa María-Texten implizit oder explizit präsent, das heißt, er projiziert seine fiktiven Lebenswirklichkeiten auf das Drehbuch und damit auf Santa María. Darüber hinaus ist Brausen über sein Alter Ego Díaz Grey Teil der Figurenkonstellation. Brausen transferiert demnach nicht nur sein fiktives Weltwissen auf die eigene Metafiktion, sondern agiert über sein Alter Ego Díaz Grey auch als intradiegetische Figur in den ei‐ genen Erzählungen. Die hegemoniale Männlichkeit innerhalb des metafiktiven Santa María muss folglich immer auch relational, d. h. als Reproduktion oder Adaption derer in Betracht gezogen werden, welche die alltäglichen Geschlech‐ terverhältnisse im Leben der fiktiven Autorfigur Juan María Brausen und die seines Doppelgängers Juan María Arce in La vida breve (1950) sowie die des späteren Demiurgen Brausen in La muerte y la niña (1973) oder Dejemos hablar al viento (1979) prägen. Die unterschiedlichen Männlichkeiten, mit denen Brausen auf Fiktionsebene 1 konfrontiert ist, sollen dementsprechend als ‚prä‐ sanmarianisch’ bezeichnet werden. Inwieweit es sich dabei um reine Repro‐ duktion handelt oder sich Unterschiede zwischen den auf beiden Ebenen dar‐ gestellten hegemonialen Männlichkeiten ausmachen lassen, wird die Analyse zeigen. Zunächst soll jedoch, mit Blick auf die von Laferl konstatierte Dezentrierung von Männlichkeiten darauf aufmerksam gemacht werden, dass bei Onetti kaum strahlende oder auch geläuterte Heldenfiguren zu finden sind, sondern seine Erzählungen viel eher auf dem Typus des modernen Anti-Helden aufbauen - also auf einem grundsätzlich gescheiterten, oftmals entfremdeten und margi‐ nalisierten männlichen Individuum. 365 Gesellschaftlich stehen die Protagonisten damit am Rand, als erzählte Figuren hingegen im Zentrum der Texte, wie Vargas Llosa konstatiert: […] los héroes onettianos son anti héroes, hombres y mujeres pasivos, auto derrotados, cuyas iniciativas suelen ser la huida hacia lo imaginario, por medio de la fantasía, el sexo o el alcohol. 366 150 4 This is a man’s world <?page no="151"?> 367 In einem Interview mit Jorge Ruffinelli Anfang der 1970er Jahre erklärte Onetti: „Larsen […] es un artista fracasado, nada más. […] Porque Larsen tenía el sueño del prostíbulo perfecto, que nunca pudo realizar. […] Pero por razones económicas tuvo que restringirse a lo que fue. […] quería hacer lo mejor que pudiera. Ahora bien, fíjese señor repórter, que Larsen no estaba en París, sino hundido en un pueblucho de mierda, como él mismo dice. La ‚perfección’ también es relativa.” ( Juan Carlos Onetti: „Con‐ versaciones con Jorge Ruffinelli (1971-1974)“ (2009), pp. 986 sq.) Für die Bedeutung des ‚gescheiterten Künstlers‘ im Forschungsdiskurs zu Onetti cf. Hugo J. Verani: El ritual de la impostura (2009 [1981]), pp. 131-147; Id.: „Onetti y el palimpsesto de la memoria“ (1989), p. 729. Juan Manuel Molina spricht in einer vorgängigen Studie zwar von einem „artista no realizado“ rekurriert damit jedoch bereits auf die von Verani 1981 ausfor‐ mulierte Figur des artista fracasado: „Linacero no es un simple soñador, sino un artista. Más exactamente: es el artista no realizado, el hombre que lleva en sí un mundo literario al que no logra imprimirle una forma adecuada. En este punto el problema de la comu‐ nicación en El pozo es ante todo el problema de la comunicación artística. Las fantasías de Linacero representan un atisbo en el estado embrionario de una obra literaria: surgen de su insatisfacción vital, pero apuntan a una dimensión poética, la cual no llega a cumplirse. […] De la imposibilidad de comunicar sus fábulas literarias, y no de aspectos como la pérdida del trabajo o el rompimiento de su matrimonio, es de donde surge la sensación de fracaso que domina a Linacero.” ( Juan Manuel Molina: La dialectica de la identidad en la obra de Juan Carlos Onetti (1982), pp. 36 sq.) Vargas Llosa beschreibt Onettis Figuren als passive Anti-Helden, die sich über verschiedene Strategien der Realitätsflucht - durch das Ausdenken von Ge‐ schichten, Sex oder Alkoholkonsum - ihrem Alltag entziehen. Ihr Scheitern be‐ zeichnet er als selbstverschuldet, d. h. Onettis Figuren scheitern nicht pathetisch an einer von außen an sie gestellten Aufgabe oder Herausforderung, sondern schlicht an sich selbst und ihrem alltäglichen Leben. Persönliches Scheitern be‐ schreibt in Onettis Erzählungen damit nicht die Ausnahme, sondern die Regel menschlicher Existenz. Das Scheitern wird dabei auch nicht kathartisch be‐ griffen, sondern vielmehr als permanenter Seinszustand. Die existentielle Be‐ deutung, die das Wort fracasado für die Figuren in Onettis Gesamtwerk hat, deutet sich bereits in El pozo (1939) an. Der Protagonist Eladio Lincaceros erin‐ nert sich darin an die erbitterten ideologischen Diskussionen, die er mit seinem kommunistischen Zimmergenossen Lázaro führte. Dieser vermochte Linacero mit einem einzigen Wort bis ins Mark zu treffen. Der so Geschmähte erinnert sich: „Digo otra vez que me da mucha lástima. Pero el animal sabe también defenderse. Sabe llenarse la boca con una palabra y la hace sonar como si escu‐ piera. -¡Fraa … casado! “ ( PZ 24) Paradigmatisch dafür hat sich im Forschungs‐ diskurs der Begriff des ‚gescheiterten Künstlers‘ etabliert. Erstmals metasprach‐ lich verwendet wurde der Ausdruck in den 1970er Jahren von Onetti selbst, Hugo Verani führte ihn schließlich als spezifisches Motiv der Onetti’schen Er‐ zähltexte in die Forschungsliteratur ein. 367 Er liest den gescheiterten Künstler 151 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="152"?> 368 Hier ließe sich auch konkretisieren ‚männliche‘ Tätigkeit, da Verani ausschließlich männliche Figuren als gescheiterte Künstlerfiguren liest. 369 Hugo J. Verani: El ritual de la impostura (2009 [1981]), pp. 132 sq. 370 Ibid., p. 140. als Figur, die unentwegt nach Unerreichbarem strebt. So etwa Junta Larsen in dem Versuch, das perfekte Bordell zu verwirklichen (Juntacadáveres, 1964) oder Kommissar Medina in seinen Bemühungen, als Künstler die perfekte Welle zu malen (Dejemos hablar al viento, 1979). Jede ambitionierte menschliche 368 Tätig‐ keit, deren Umsetzung auf einen Zustand von Vollkommenheit und Perfektion zielt, dient einzig einer existentiellen Selbstvergewisserung, der jedoch ihr ei‐ genes Scheitern, im Sinne einer Unmöglichkeit zur Vollendung, immanent ist, wie Verani formuliert: […] puede observarse que varias figuras onettianas, sea cual fuere su actividad u oficio, representan actividades artísticas. […] son metáforas de la creación artística en el sentido de que más que el resultado o la meta a que puedan conducir las acciones, interesa la reiteración del instante creador, la consciente preocupación por el acto inventivo con un fin en sí mismo. 369 Jedes menschliche Streben bleibt damit sich selbst verhaftet, d. h. über diesen Selbstzweck hinaus gibt es kein Ziel, an dem es sich orientiert. In dieser exis‐ tentiellen Repetition sind sich alle (männlichen) Figuren gleich. Das Streben des einzelnen nach Perfektion und existentieller Selbstvergewisserung schafft, wie Verani weiter argumentiert, eine Verbindung zu anderen: „El mismo impuso, la necesidad de descubrir un motivo que justifique su existencia, vincula a los demás personajes.“ 370 Eine ähnliche Lesart bietet auch Rodrigo Cánovas in seiner Vergleichsstudie Sexualidad y cultura en la novela hispanoamericana (2003) an. Das Bordell aus Juntacadáveres (1964) fungierte demnach als Kaleidoskop, das disparate Per‐ sonen (deren Gemeinsamkeit in ihrem notwendigen Scheitern liegt) und Orte miteinander verbindet und in immer neue Beziehungen zueinander setze. Der Figur des gescheiterten Künstlers kommt in dieser Lesart insofern höchste Be‐ deutung zu, als Cánovas einerseits den Begriff des Künstlers sehr weit fasst und damit fast alle Figuren aus Juntacadáveres (1964) als Künstler bezeichnet und andererseits das Scheitern als grundlegenden Teil der conditio humana be‐ trachtet. Erst in ihrem Scheitern werde die heterogene Figurenzusammenset‐ zung überhaupt vergleichbar. Das Scheitern generiere sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den vereint die Figuren zueinander in Beziehung ge‐ setzt werden können: 152 4 This is a man’s world <?page no="153"?> 371 Rodrigo Cánovas: Sexualidad y cultura en la novela hispanoamericana (2003), p. 71. Esta lectura permite establecer relaciones de íntimo parentesco entre personajes con‐ cebidos como antitéticos o no comparables: un macró y un sacerdote, una cabrona vieja y una viuda joven, una loca y un cronista. 371 Bemerkenswert an Cánovas‘ Beitrag ist, dass er nicht nur männliche Figuren (wie in Veranis und Molinas Beiträgen), sondern auch weibliche in seine Argu‐ mentation integriert. Aufgrund einer sehr kontrovers geführten gesellschaftli‐ chen und sozialwissenschaftlichen Debatte zur Prostitution, die den Umfang dieser Arbeit sprengen würde, soll der gesellschaftliche und politische Diskurs zur Prostitution hier nicht weiter ausgeführt werden. Stattdessen gilt es in den folgenden beiden Unterkapiteln den Diskurs Santa Marías auf Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit und einzelne Figuren engzuführen. 4.3.1 Präsanmarianische Männlichkeiten: Macleod, Ernesto, Julio Stein, Juan María Brausen / Arce Hegemoniale Männlichkeit besetzt nach Connell die Position des höchsten ge‐ sellschaftlichen Einflusses. Oftmals korreliere dieser mit wirtschaftlichem Er‐ folg. Markiert sei diese hegemoniale Position durch eine Reihe von untergeord‐ neten Männlichkeiten sowie der grundsätzlichen Unterordnung von Weiblichkeit / en. Für die Untersuchung unterschiedlicher Männlichkeiten auf Ebene der Ursprungsfiktion, d. h. innerhalb eines rioplatensischen Großstadtszenarios (Buenos Aires und Montevideo), soll auf die in Kapitel 2.5 skizzierten Forschungsergebnisse (Archetti, Fuller, Potthast, Stevens) zurückgegriffen werden. Demnach basiert lateinamerikanische hegemoniale Männlichkeit auf den ambivalenten Positionen einer machistischen Männlichkeit. Der mit dieser Männlichkeit verbundene gesellschaftliche Einfluss generiert sich über gesell‐ schaftliches Ansehen und männliche Potenz, als deren offensichtlichster ‚Be‐ weis‘ eigene, und im besten Fall männliche, Nachkommen gelten. Die hegemo‐ niale Männlichkeit der Ursprungsfiktion steht folglich in engem Zusammenhang mit Vaterschaft und Familie. Die (christliche) Ehe gilt, wie Ste‐ vens explizit und Archetti implizit herausarbeiten, als Norm. Körperliche Gewalt gegenüber Frauen wird als legitimes Mittel männlicher Überlegenheitsdemonstration angesehen. Allerdings gilt es hier klassenspezifisch zu unterscheiden: sozial höher gestellte Männer würden ihre Überlegenheit weniger körperlich ausleben als sozial niedrig gestellt Männer. Körperliche Gewalt wird somit auch als Ausdruck von Ohnmacht begreifbar. Inwieweit einzelne Figuren aus La vida breve (1950) Merkmale dieser hegemonialen Männlichkeit aufweisen, ihr un‐ 153 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="154"?> 372 Eine exakte Zuordnung wird dadurch erschwert, dass Archetti in seiner Arbeit die he‐ terosozialen Implikationen von Männlichkeiten im Tango-Diskurs untersucht hat, während das Kapitel und die kurzen Ausschnitte, die Macleod in La vida breve (1950) darstellen, diesen in rein homosozialer Interaktion abbilden. Macleod wird ausschließ‐ lich im Gespräch mit Brausen und Julio Stein, sowie weiteren männlichen Barbesuchern geschildert. Ein direkter Transfer der Männlichkeitsdarstellung des bacán bei Archetti zu der in Onettis Texten ist daher problematisch und muss durch eigene Analysen er‐ weitert werden. tergeordnet sind oder davon in eine marginalisierte Position gedrängt werden, soll im Folgenden für einzelne Figuren herausgearbeitet werden. Macleod Macleod ist der Chef der Werbeagentur, für die sowohl Brausen als auch Julio Stein arbeiten. Bezeichnenderweise ist das Kapitel, in dem Macleod beschrieben wird, mit „Los Macleod“ ( VB 565) betitelt und setzt damit die Macleods metony‐ misch für wirtschaftlich erfolgreiche Geschäftsmänner, wie an späterer Stelle noch ausgeführt werden soll. In mehreren Punkten verweist die Darstellung Macleods auf die Männlichkeit des bacán. 372 Wie auf den bacán wartet auch auf Macleod zuhause keine ‚echte‘ Ehefrau. Stattdessen unterhält er eine eheähnliche Affäre mit einer nicht näher beschriebenen „hembra, casi conyugal“ ( VB 567, eig. Hervorh.). Frauen sind in dieser männlich dominierten Welt der Macleods, deren Suprematie sich unter anderem durch physische Präsenz im Raum der Bar materialisiert, kaum ver‐ treten - und wenn doch, so als umherirrende oder als abwesende Objekte, über die beiläufig und abfällig gesprochen wird. Artikuliert wird dieser geschlech‐ terspezifische Unterschied auch über Situierungen und Bewegungen im Raum. Während die Männer selbstsicher am Tresen lehnen und dabei bemüht sind, sich in der Plauderei mit den Barkeepern als natürlichen Teil ihrer Umgebung zu inszenieren, wirken Frauen in der Bar fehl am Platz: [E]l bar empezaba a llenarse de macleods ruidosos y seguros, apenas despectivos. Se fueron acomodando en fila inquieta contra el mostrador, piafantes sobre la barra do‐ rada, tocándose con hombros y caderas, ofreciéndose rápidas excusas, exagerando la intimidad con el barman, mascando granos de maní, haciendo sonar entre los dientes el apio que vigoriza, ayuda y conserva. Hablando de política, de negocios, de familias, de mujeres, tan seguros de la inmortalidad como del momento que estaban ocupando en el tiempo. […] lentas y en apariencia erráticas bajo la luz del neón pocas mujeres iban de la cerveza al tocador, de la copa dulce y frutal al teléfono. (VB 567) Während das Gebaren der Männer einer spezifischen Choreographie zu folgen scheint, in der sie sich laut und raumgreifend verhalten, sich gegenseitig be‐ 154 4 This is a man’s world <?page no="155"?> 373 Seine Kündigung wurde Brausen indirekt über Julio Stein zugetragen: „Chupando su pipa vacía, el viejo Macleod había susurrado a Stein que me echaría a la calle a fin de mes; había transado con un cheque de cinco mil.“ (VB 559) rühren und dabei Erdnüsse kauen, bewegen sich die wenigen überhaupt anwe‐ senden Frauen ziellos zwischen Toilette (vermutlich, um sich zu schminken und ihr Äußeres frisch zu halten) und Telefon (um Verabredungen mit Männern, evtl. potentiellen Freiern, entgegenzunehmen) hin und her. Mit der Kreation eines nach ihm benannten Drinks schafft sich Macleod eine besondere Stellung in‐ nerhalb dieses - nach Martínez - männlich-homosozialen Raums par excel‐ lence. Durch die Geheimhaltung des Cocktailrezeptes (Verschweigen), wird das Produkt als einzigartig aufgewertet: „-Cuidadito, mucho cuidado -dijo el viejo-. Top secret. A nadie la receta. Pueden tomar si pagan; pero a nadie la receta.“ ( VB 566) Diese Wertsteigerung wiederum wirkt sich auf Macleods Ansehen inner‐ halb der homosozialen Gemeinschaft aus. Die Bar wird damit auch zum Ort männlicher Aufmerksamkeitsökonomie. Doch auch geschäftliche Entscheidungen werden dort getroffen. Die Bar wird damit zur informellen räumlichen Ergänzung oder Ausweitung des formellen Büroraums. So findet auch das Kündigungsgespräch zwischen Macleod und Brausen nicht im Büro, sondern im informellen Rahmen einer Bar statt. Die Modalitäten der Kündigung passen sich an die spezifische, Verbindlichkeiten vermeidende Gesprächskultur des ‚Bar-Raums‘ an. So wird die Kündigung selbst während des gesamten Gesprächs nicht ausgesprochen 373 , sondern zum einen über die Wahl des Tempus und zum anderen die Erwähnung eines Abfindungs‐ schecks deutlich gemacht. Das heißt, Macleod umschmeichelt den ihm gegen‐ übersitzenden Brausen mit bereits in der Vergangenheit liegenden, potentiellen Freundschaftsbezeugungen: „Un viejo amigo al que me hubiera gustado conocer más, conversar.“ ( VB 656) Damit behandelt er die Kündigung, die Brausen bereits seit geraumer Zeit fürchtet, als Tatsache, ohne sie direkt ausgesprochen zu haben. Im informellen Rahmen der Bar versucht Macleod eine fingierte Ver‐ traulichkeit zwischen sich und Brausen herzustellen. Gemeinsamer Alkohol‐ konsum sowie falsche Schmeicheleien erfüllen die impliziten ‚Regeln‘ dieses männlichen Machtraums. Macleod kennt und nutzt die Regeln dieses Diskurses, um Brausens Kündigung nicht zu seinem eigenen Makel als Agenturchef werden zu lassen: -No me era agradable hablarle en la oficina. Tampoco, de esto, aquí. Usted comprende que me es difícil. Pero aquí … -señaló el mostrador, el par de copas empañadas con la base envuelta en papel de seda-. Ha sido necesario. Como le dije a Stein, Brausen es distinto, you are my friend. Un viejo amigo al que me hubiera gustado conocer más, 155 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="156"?> 374 Dass die Lüge bei Onetti nicht nur eine Funktion innerhalb der Handlung einnimmt, sondern auch auf diskursiver Ebene wirkmächtig ist, zeigt Florian Baranyi in seinem Beitrag zur Funktion der Lüge als poetologische Strategie. Cf. Florian Baranyi: „La ‚profesión de la mentira‘“ (2019). conversar. Pero, usted sabe, ésta es mi vida. Estoy atado a las cuentas como … […] Atado a las cuentas, un viejo caballo y el carro. (VB 565) Die fingierte emotionale Verbindung bildet den Rahmen für das Gespräch, das hauptsächlich der Demonstration von Macleods wirtschaftlicher Machtposition dient und in dem er gleichzeitig jegliche persönliche Verantwortung für Brau‐ sens Kündigung von sich weist: „No tengo ninguna queja contra usted; no es‐ taríamos aquí, entonces.” ( VB 568) Macleod stellt sich damit als erfolgreichen Agenturleiter und gleichzeitig als machtlosen Angestellten eines internatio‐ nalen Großkonzerns dar. Kapitalistische Interessen und Erfolge werden dadurch sowohl personalisiert als auch entpersonalisiert - je nachdem, wie es für die eigene Selbstdarstellung passt. So erklärt er Brausen: „En el fondo este trabajo me gusta. Buenos Aires, la rama B. A. estaba muerta, la convertí en lo que es. Que comparen en New York las cuentas de hace tres, cuatro años con las de ahora.“ ( VB 568) Außerdem klagt er über den existentiellen Erfolgsdruck, den das Mutterunternehmen auf ihn ausübt: „Nueve alrededor de una mesa, cinco minutos para Buenos Aires, para that fellow Macleod. Economías. Y si no, sale este Macleod y viene otro.“ ( VB 568) Zwar zeigen die beiden Zitate, dass Macleod selbst noch von einer höheren Instanz, dem nordamerikanischen Mutterkon‐ zern, abhängig ist, innerhalb dieser Strukturen jedoch sehr eigenständig erfolg‐ reich agiert. Um die vorgegebenen Ziele zu erfüllen und seine Position innerhalb des Konzerns zu erhalten oder noch weiter auszubauen, kündigt er Brausen. Macleod stellt Brausen damit einerseits als unschuldiges Opfer dieser ‚von oben‘ verordneten Einsparvorgaben dar, andererseits weist er jede persönliche Ver‐ antwortung für die Entlassung von sich, vielmehr betont er seinen großen, aber letztlich wirkungslosen Einsatz für seinen Mitarbeiter: „Yo soy lo que resuelva New York. Puede pelear, sí […]: por usted estuve luchando más de dos meses. Hasta el ultimátum. Economías y economías.“ ( VB 568) Macleod ist demnach komplett von der Firmenzentrale in New York abhängig, er ist, was der Konzern entscheidet. Innerhalb dieser Rahmung versucht er den größtmöglichen wirt‐ schaftlichen und beruflichen Erfolg zu erzielen. Dafür setzt er auf unterschied‐ liche Machtpraktiken, wie Ausbeutung von Arbeitskräften, Opportunismus und (Ver)Schweigen bzw. Lügen 374 und profitiert damit von der patriarchalen Divi‐ dende einer hegemonialen Männlichkeit, die sich über wirtschaftlichen Erfolg, 156 4 This is a man’s world <?page no="157"?> 375 Das Spannungsfeld zwischen kapitalistischer Verwertungslogik von Kunst und Intel‐ lektualität kondensiert sich in der Figur des Protagonisten aus Alejo Carpentiers Roman Los pasos perdidos (1953). Die Frage nach der Rolle der Künstler*innen und Intellektu‐ ellen in einem kapitalistischen System war prägend für die politisch-ästhetischen De‐ batten der Nachkriegszeit in Europa (insb. Paris) und Lateinamerika. 376 Dass diese Spannung bzw. deren Auflösung zugunsten kapitalistischer Interessen bei Onetti auch an das Alter des männlichen Protagonisten gebunden ist, zeigt das Beispiel Jorge Malabias. In Juntacadáveres (1964) noch als jugendlicher Schöngeist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens dargestellt, hat er in La muerte y la niña (1973) die Nachfolge seines konservativen Vaters angetreten. Aus dem ehemaligen, feinfühligen Dichter ist ein machistischer, erfolgreicher Geschäftsmann ohne ästhetische Ambitionen ge‐ worden: „Ya no sufría por cuñadas suicidas ni por poemas imposibles. Vigilaba capri‐ chosamente El Liberal, compraba tierras y casas, vendía tierras y casas. Ahora era un hombre abandonado por los problemas metafísicos, por la necesidad de atrapar la belleza con un poema o un libro.“ (MN 602) Sein langes Haar gilt als „símbolo, el santo y seña del Machismo sanmariano“ (MN 602). Opportunismus und, wenn nötig, Abwertung und Unterwerfung anderer defi‐ nieren lässt. Auf einen bourgeoisen Hintergrund Macleods verweist das klassisch-huma‐ nistische Bildungsideal, das Brausen in inneren Monologen karikiert - und sich durch die Kenntnis dieses Diskurses selbst als Bildungsbürger ausweist. Die Spannungen, die zwischen Macleods rücksichtslosem kapitalistischem Streben und seinem klassischen Bildungsideal entstehen, können als sinnbildlich für die Werbebranche gelesen werden 375 , als „fórmula infalible de Platón Carnegie, Sóc‐ rates Rockefeller, Aristóteles Ford, Kant Morgan, Schopenhauer Vanderbilt“ ( VB 568). In der Kombination aus den Namen klassischer Denker und denen zeitge‐ nössischer nordamerikanischer Wirtschaftsmogule, liegt Macleods Erfolg als Werbetexter begründet. Kapitalismus und humanistische Bildung gehen in diesem Bild eine wirksame Allianz ein. Gleichzeitig spiegelt diese Darstellung aber auch die Spannung wider, die sich zwischen kulturellem Kapital und ober‐ flächlichem Konsum und Kommerz aufbaut. 376 Als Macleod nach der Kündi‐ gungsszene in ein Taxi steigt, konstatiert Brausen zynisch: […] lo vi alejarse, en el comienzo de la noche, hacia el mundo poético, musical y plástico del mañana, hacia nuestro común destino de más automóviles, más dentíf‐ ricos, más laxantes, más toallitas, más heladeras, más relojes, más radios; hacia el pálido, silencioso frenesí de la gusanería. (VB 569) Die (Werbungs)Kunst der Zukunft steht damit ganz im Zeichen eines auf ma‐ ximalem Konsum fußenden Kapitalismus („la farsa de la agencia de publicidad“, VB 618). Dass diese ‚Kunst‘ nichtig ist, zeigt der letzte Satz, in dem Brausen auf die Vergänglichkeit alles Materiellen verweist: hacia el pálido, silencioso frenesí 157 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="158"?> 377 Eduardo P. Archetti: „Multiple Masculinities. The Worlds of Tango and Football in Ar‐ gentina“ (1997), p. 202. 378 Cf. R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 58. 379 Norma Fuller: „Repensando el machismo latinoamericano“ (2012), p. 127. Die gesund‐ heitlichen Risiken, die körperlicher Raubbau im Leistungssport oder sozial legitimierter Alkoholmissbrauch in der Wirtschaft mit sich bringen, werden auch unter dem popu‐ lärwissenschaftlichen Begriff der ‚toxischen Männlichkeit‘ gefasst. Gemeint sind damit erhöhte Gesundheitsrisiken von Männern, eine erhöhte Selbstmordrate unter Männern oder die erhöhte Gefahr, als Mann Opfer von männlichen Gewalt- und Tötungsdelikten de la gusanería. Die oberflächliche Welt der Werbung korrespondiert mit den schnelllebigen Konsumgütern, die der bacán zur Verführung der milonguita einsetzt. Archetti spricht von der „milonguita who is seduced by material gains and immediate pleasures, and […] the bacán (rich man) who promises the world and uses his money to seduce women.“ 377 Und auch die kapitalistische Logik der Werbung, der ‚die Macleods‘ folgen, ist nicht auf Langlebigkeit ausgerichtet, sondern konzentriert sich auf die Gegenwart und insbesondere den weiblichen Körper als Projektionsfläche und Ware. In diesem Punkt verweist Macleods Männlichkeit wieder auf die des bacán bzw. vielmehr auf die von ihm begehrte Weiblichkeit in Form der milonguita, insofern deren Erfolg an ihre Schönheit und Jugendlichkeit geknüpft und damit vergänglich ist. Für Macleod gilt diese körperökonomische Prämisse hingegen nicht, sein ‚Marktwert‘ bemisst sich an dem Umsatz, den er für das Unternehmen erwirt‐ schaftet. Mitarbeiter*innen, welche die Zielvorgaben nicht erfüllen, werden umgehend ersetzt: „Y si no, sale este Macleod y viene otro. ¿Eh? Es así.“ ( VB 568) Macleod ist um die sechzig Jahre alt und von übermäßigem Alkoholkonsum gezeichnet. Seinem wirtschaftlichen Erfolg steht diese sichtbare körperliche In‐ suffizienz nicht im Wege. Allerdings erinnern die selbstzerstörerischen körper‐ reflexiven Praktiken des Alkoholmissbrauchs an die physische Selbstausbeu‐ tung, der sich US -amerikanischer Leistungssportler in ihrem täglichen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung unterwerfen, wie bei Connell beschrieben. 378 Für Macleod bedeutet gesellschaftliche Anerkennung, um in Connells Beispiel zu bleiben, jedoch nicht, körperliche Bestleistungen innerhalb einer homosozi‐ alen Gruppe von Sportlern zu erbringen, sondern sich innerhalb einer männlich dominierten Geschäftswelt durchzusetzen, deren Erfolgsstrukturen eng mit der Anerkennung in informellen, homosozialen Räumen, wie etwa der Bar ver‐ knüpft sind. Die körperliche Performance, über die sich homosoziale Dominanz hier artikuliert, ist der gemeinsame Alkoholkonsum, auf den auch Fuller noch einmal explizit verweist: „[E]l consumo de alcohol con los amigos y colegas es una forma de socialidad masculina indispensable para poder ganar y conservar su lugar en este circuito.“ 379 158 4 This is a man’s world <?page no="159"?> zu werden. Cf. dazu u. a. https: / / www.vice.com/ en_us/ article/ jmbnp7/ a-stiff-upper-lip-i s-killing-british-men-344; https: / / pinkstinks.de/ das-ende-der-maennlichkeit/ ; https: / / mensstudies.eu/ wp-content/ uploads/ 2018/ 07/ toxische-männlichkeit-das-gefährliche-s chweigen-der-männer-standard-mensstudies-männerforscher-christoph-may-kritisch e-männlichkeit-masculinity-mann.pdf, 03. 01. 2019; https: / / www.sueddeutsche.de/ kult ur/ maennlichkeit-in-der-krise-warum-viele-maenner-sich-heute-als-opfer-fuehlen-ei n-schwerpunkt-1.3476657-2, 21. 01. 2019. 380 Wie am Beispiel Jorge Malabias zu sehen ist, kippt diese literarische Referenz an die Figur des Gaucho im Laufe des Gesamtwerks ins Parodistische. In Para una tumba sin nombre (1959) versucht Jorge Malabia sich während der Semesterferien von den anderen jungen Männern in Santa María abzuheben, indem er sich demonstrativ als Gaucho gibt - anstatt wie seine Schulfreunde mit schnellen Autos ihre moderne Weltläufigkeit unter Beweis zu stellen: „Porque todos ellos, los amigos de su niñez, tenían o usaban automóviles, jeeps y motocicletas; “ (PT 45) Jorges Gaucho-Kleidung, Pferd und Revolver sind als Verkleidung erkennbar; er trägt „[u]nas botas demasiado nuevas, en todo caso, para el disfraz campesino que usó aquellas vacaciones.“ (PT 47, eig. Hervorh.) Jorges Verhalten und Äußeres stehen damit in einem grotesken Ungleichgewicht: „Parecía más alto, arbitrario, dudoso, y la actividad de la mañana transformó de golpe su vestimenta campesina en un disfraz.“ (PT 65, eig. Hervorh.) Noch weiter ins Groteske und Karne‐ valeske gleitet Jorges Gaucho-Verkleidung in La muerte y la niña (1973) ab. Diese wirkt Ernesto Ernestos Männlichkeit basiert zu großen Teilen auf physischer Potenz und Do‐ minanz über andere, wobei der Körper durch diese starke Betonung nicht nur im Zentrum der Selbstbehauptung steht, sondern auch ständiger Gewalt und letztlich Todesgefahr ausgesetzt ist. Anders als Macleods Männlichkeit folgt die Ernestos keiner kapitalistischen Logik, sondern orientiert sich am Recht des körperlich Stärkeren. Während Macleod für ein gebildetes urbanes Bürgertum zwischen klassischem europäischem Bildungskanon und einem Kapitalismus nordamerikanischer Prägung steht, verkörpert Ernesto, Quecas Liebhaber und späterer Mörder die Männlichkeit des compadrito, dessen ländlich-gaucheske Wurzeln auch in seinem äußeren Erscheinungsbild sichtbar werden: Ernesto ist groß, jung, hat schwarzbraunes Haar („pelo retinto“, VB 510) und seinen Hut trägt er nach Art der Gauchos im Nacken. Er setzt ihn auch in geschlossenen Räumen nicht ab, wie folgende Beschreibung durch Brausen nahelegt: „Era más alto que yo, más joven, huesudo; llevaba el sombrero echado hacia la nuca y era imposible suponer que lo usara nunca de otro modo […].“ ( VB 510) Die Betonung der weißen Haut (im Gegensatz zur sonnengebräunten Haut der Landarbeiter) verweist jedoch auf eine Tätigkeit, die nicht im Freien ausgeübt wird und schließt damit die traditionelle Feld- und Vieharbeit der Gauchos aus. Die Gaucho-Tradition, auf die Ernestos Erscheinung rekurriert, hat ihre identitäts‐ stiftende Funktion durch den Transfer in einen urbanen Kontext verloren und existiert allein noch als Inszenierung. 380 Die Betonung der Körperlichkeit bleibt 159 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="160"?> umso grotesker je arrivierter und konservativer sein Lebensstil wird: „Ahora tenía dos automóviles pero insistía en el uso del caballo semiárabe, en la evidencia del revólver, para transmitir las noticias que juzgaba importantes. Tal vez se sentía, así, más gaucho y nacional.“ (MN 601) Jorges Verkleidung reicht zwar vom Scheitel bis zur Sohle, ist jedoch als solche erkennbar - und damit dekonstruierbar, wie Díaz Greys Kommentar belegt: „[V]as a encontrar un espejo conveniente para tu disfraz. Desde las botas hasta la melena. Sin hablar de la camisa y el cómico revólver.“ (MN 607, eig. Hervorh.) 381 Diese ‚Falle‘, die Brausen / Arce Ernesto stellt und sich damit als kognitiv überlegen zeigt, wird im Zusammenhang mit der Männlichkeit Juan María Brausens in diesem Kapitel noch einmal expliziert. 382 Der Begriff Femizid wird seit einiger Zeit auch in der deutschen Debatte zur Gewalt gegen Frauen gebraucht. International und vor allem in Bezug auf Gewaltphänomene in Lateinamerika findet er seit einigen Jahren Anwendung. Die WHO schreibt: „Femi‐ cide is generally understood to involve intentional murder of women because they are jedoch erhalten. Weniger als wirtschaftlicher Erfolg spielt hier körperliche, ins‐ besondere sexuelle Potenz, Jugendlichkeit und damit verbunden die physische Dominanz über andere eine wichtige Rolle. Als Ernesto den ‚anderen Mann‘, Brausen / Arce, der - in der machistischen Logik - die moralische Schwäche seiner Geliebten Queca ausnutzte, in deren Wohnung vorfindet, befördert er ihn mit mehreren Faustschlägen aus dem Appartement. Brausen erscheint Ernestos Schönheit, Jugendlichkeit, körperliche und explizit auch sexuelle Potenz unbe‐ stritten - auch wenn er letztere allein aus den vorherigen Attributen ableitet, wie nachstehendes Zitat zeigen soll: [E]s más hermoso que yo, más joven, más imbécil, más inocente. […] el recuerdo de su imaginada furia en la cama, de su potencia para convertirla en una mujer desco‐ nocida para mí y que me sería negada aunque ella continuara viva. (VB 645) Intellektuell fühlt sich Brausen Ernesto jedoch überlegen. Das eindrücklichste Beispiel für diese Überlegenheit ist eine kurze handschriftliche Notiz Ernestos, die Brausen aufbewahrt hat und vorsätzlich am Tatort deponiert. 381 Ernestos physische Überlegenheit wird im Text an Quecas devot-ängstlicher Haltung deutlich gemacht. Wie der compadrito nach Archetti erwartet Ernesto Unter‐ würfigkeit und Gehorsam von seiner Geliebten. Sein Eintreten versetzt Queca in eben diesen Zustand, ihre Miene zeigt eine buchstäblich von Angst zerlö‐ cherte Fratze: [H]izo retroceder y caer las manos y repitió hacia el sonido dorado en la puerta la máscara de terror y decisión cobarde […]. […] mostró la cara enflaquecida, tres veces agujereada por el miedo […]. (VB 510) Letztlich führt Ernestos Einschüchterung und seine im Text weder explizit ge‐ schilderte noch begründete offene Brutalität gegen Frauen zum Femizid 382 an 160 4 This is a man’s world <?page no="161"?> women, but broader definitions include any killings of women or girls. […] focuses on the narrower definition commonly used in policies, laws and research: intentional murder of women. Femicide is usually perpetrated by men, but sometimes female family members may be involved. Femicide differs from male homicide in specific ways. For example, most cases of femicide are committed by partners or ex-partners, and involve ongoing abuse in the home, threats or intimidation, sexual violence or situations where women have less power or fewer resources than their partner.“ (https: / / apps.who.int/ ir is/ bitstream/ handle/ 10665/ 77421/ WHO_RHR_12.38_eng.pdf; jsessionid=88D9BC00AF CE8EFEEE248F76E885ED2B? sequence=1, 22. 07. 2019) Von Femizid in Verbindung mit Tötungsdelikten ist demnach die Rede, wenn eine Frau oder ein Mädchen aufgrund ihrer weiblichen Geschlechtszugehörigkeit getötet wird. Viele dieser Femizide finden, wie Untersuchungen belegen, im direkten persönlichen Umfeld statt. Queca. Warum er die Frau erwürgt, geht aus dem Text indes nicht hervor. Er selbst nennt keine Motive, zeigt keine Reue und auch der Akt des Tötens wird nicht geschildert. Erst nach dem Femizid, auf der Flucht mit Brausen, lässt sich eine Veränderung an Ernesto ausmachen. Er nimmt Brausen / Arce nicht mehr als Widersacher und damit potentiellen körperlichen Herausforderer wahr, son‐ dern liefert sich ihm auf der gemeinsamen Flucht völlig aus. Darüber hinaus bemüht er sich (erfolglos) um dessen Freundschaft, indem er sich für die Faust‐ schläge in Quecas Appartement entschuldigt: No tengo nada contra vos, te pido otra vez que me perdones lo de aquella noche. […] [E]s como si fuéramos amigos de toda vida; pero cuando me pongo a pensar sé que no te voy a conocer nunca, que no puedo tocar fondo. A veces pienso que me querés y otras que me tenés odio. (VB 686) Doch Brausen / Arce bleibt für Ernesto auch während der gemeinsamen Flucht ein Rätsel. Ernesto findet keine Motive, die ihn Brausens / Arces unvermutete Fluchthilfe in sein Weltbild einordnen ließen. So folgt er seinen homosozialen Mechanismen und behandelt Brausen / Arce nicht mehr als Konkurrenten - die weibliche Buhlschaft ist ja eliminiert -, sondern als Komplizen. Zuletzt versucht er ihn sogar vor der Festnahme zu bewahren. „Estáte tranquilo, que te voy a dejar afuera de esto“ ( VB 696). Auch bei ihrer schlussendlich doch gemeinsamen Festnahme verteidigt er den vermeintlichen Freund gewaltsam gegenüber einem Polizisten: Ernesto golpeó la cara del hombre y lo hizo chocar contra el árbol; volvió a golpearlo cuando caía y el cuerpo quedó inmóvil sobre el barro, de cara a la llovizna y boquia‐ bierto, el diario doblado encima de la garganta. (VB 698) Ernesto nimmt aufgrund fehlender wirtschaftlicher Mittel und seiner Verortung im Milieu des Lumpenproletariats eine dezentrierte, untergeordnete Position 161 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="162"?> gegenüber der hegemonialen Männlichkeit ein. Weder kann er mit Statussymb‐ olen wie Familie noch mit wirtschaftlichem Erfolg aufwarten. Diesen Mangel versucht er durch physische Überlegenheit zu kompensieren, sprich, er versucht durch diese, seinen Platz in der homosozialen, patriarchalen Ordnung zu be‐ haupten. Ein entscheidender Unterschied zwischen der Männlichkeit, die an wirtschaft‐ lichen Erfolg, gesellschaftlichen Einfluss und die Figur des Vaters gebunden ist, und der marginalisierten Männlichkeit des urban-proletarischen compadrito, zeigt sich damit in der Praxis der Machtausübung. Während Macleod, der zwar keine Nachkommen vorweisen kann, davon abgesehen jedoch unter den Prä‐ missen der hegemonialen Männlichkeit agiert, seine Machtposition gegenüber Brausen rein symbolisch geltend macht, d. h. diskursive Gewalt anwendet, indem er ihn in einem demütigenden Gespräch feuert, wird Ernesto sowohl gegen Brausen / Arce als auch gegen Queca gewalttätig. Sein Auftreten ist selbstsicher, wortkarg und brutal. Sein späteres Bedürfnis, sich mit Arce auf der Flucht zu unterhalten, etwas von dessen Lebensumständen und Handlungsmotiven zu er‐ fahren, ist Ausdruck einer persönlichen Läuterung, die durch Quecas Tod ausgelöst wird. Wobei er, um das noch einmal zu betonen, nicht den Tod der Frau bereut, sondern allein sein Verhalten gegenüber Brausen / Arce. Macleod zeigt sich ebenfalls selbstsicher und überlegen, indes wortreich (je‐ doch ohne Inhalt) und ohne körperliche Aggression. Ernestos Wortkargheit und Macleods beredtes Schweigen erzielen dabei den gleichen Effekt: Beide verwei‐ gern ihrem Gegenüber den sprachlichen Austausch und schaffen auf ihre Art Fakten - Macleod geschult in einer Rhetorik leerer Worthülsen und Ernesto durch Anwendung körperlicher Gewalt. Beiden gemein ist außerdem, dass sie keine Familien haben, ihre sexuelle Potenz sich demnach nicht in der Vaterschaft materialisiert. Macleods und Ernestos heterosexuelle Handlungen manifes‐ tieren sich entweder als ökonomische Überlegenheit (Macleod) oder sind Aus‐ druck männlicher Unterwerfungspraktiken (Ernesto), zielen jedoch nicht da‐ rauf, den Fortbestand der Gesellschaft durch Zeugung von Nachkommen zu sichern. Julio Stein Julio Stein ist Brausens einziger Freund. Seine Beziehung zu Miriam, einer ehe‐ maligen französischen Prostituierten und Nachtclubtänzerin, changiert zwi‐ schen dem Ideal romantischer Liebe, ökonomischer Ausbeutung und machisti‐ scher Herabsetzung der Frau durch Untreue, denn neben seiner Beziehung zu Miriam unterhält er noch zahlreiche Affären. Mit Miriam hingegen steht Stein 162 4 This is a man’s world <?page no="163"?> 383 Dieses Mutter-Sohn-Verhältnis wird mit Fokussierung auf Miriam in Kapitel 5.3 noch einmal näher erläutert. 384 Brausen gegenüber meint Stein: „Es que no puedo, por ahora, aceptar la idea de tener empleados, de explotar gente. Fui sincero todo el tiempo que viví en Montevideo, y lo sigo siendo aunque trate de olvidar mi fe. Plusvalía sigue siendo mucho más que una palabra. Es tolerable ser sólo una ruedita de la máquina, puedo tranquilizar mi con‐ ciencia cuando el viejo Macleod me estafa una comisión.“ (VB 525) Solange Macleod Stein über Sonderzahlungen am wirtschaftlichen Erfolg der Agentur beteiligt, kann dieser die, im marxistischen Sinne, Ausbeutung seiner Arbeitskraft gut ertragen. Steins marxistische Überzeugungen werden folglich von der ökonomischen Logik des Kapi‐ talismus korrumpiert. Statt sich über den Verlust seiner ehemaligen Prinzipien zu är‐ gern, kann Stein nur darüber lachen: „‚¿Ves cómo me explotan? ‘ […] ‚¿No te das cuenta de que toda esta organización social es monstruosa? ‘ […] Stein reía a carcajadas.“ (VB 525) Durch die ironische Brechung stellt Stein sich selbst als Teil des kapitalistischen Systems dar. in einem symbolischen Mutter-Sohn-Verhältnis. 383 Obwohl er mit dem konti‐ nuierlichen Zur-Schau-Stellen seiner Virilität, d. h. seiner notorischen Untreue, spezifisch machistische Verhaltensweisen repräsentiert, nimmt Stein innerhalb eines symbolischen Familiensystems durch die Sohn-Rolle immer schon eine untergeordnete Position ein. Julio Stein wird in La vida breve (1950) als Lebemann und findiger Werbetexter dargestellt. Durch seine jüdische Abstammung und die Zugehörigkeit zu einem antibürgerlichen, intellektuellen Milieu verkörpert Stein eine marginalisierte, da von der bourgeoisen Norm abweichende Männlichkeit. Stein ironisiert diese soziale Marginalisierung. So kokettiert er damit, dass ihm Geld nicht wichtig sei, andererseits hat er, im Gegensatz zu Brausen, keine Geldsorgen. Als er be‐ merkt, dass Brausen zwar Macleod, nicht aber ihm, seinem Freund und Kollegen von Gertrudis‘ Erkrankung erzählt hat, bemerkt er selbstironisch: „-Es justo que abras tu corazón al viejo. El judío Stein sólo entiende de ganar plata.“ ( VB 437) Seine Anstellung in der Werbeagentur ist, im Gegensatz zu der Brausens, gesichert, allerdings ist Stein nicht sonderlich ehrgeizig. Steins gutes Aus‐ kommen mit Macleod wird seiner Fähigkeit zu Selbstverleugnung zuge‐ schrieben. Diese wiederum betrachtet Macleod als grundlegend für wirtschaft‐ lichen Erfolg: „Un hombre no hará nada si no se olvida de sí mismo.“ ( VB 568) So verfügt Stein über genug Schläue und Opportunismus, um die Anstellung zu seinen Gunsten zu nutzen. Die Ausbeutung der eigenen Arbeitskraft durch Macleod und die Agentur, die seinen politischen Überzeugungen aus Studen‐ tentagen entgegensteht, reflektiert er zwar, gleichzeitig akzeptiert er sie jedoch auch, d. h. er ordnet sich Macleods wirtschaftlichem Erfolg unter. 384 Er spielt das kapitalistische Spiel der Selbstverleugnung mit und profitiert dadurch von Mac‐ leods wirtschaftlichem Erfolg. Die Spielregeln des Kapitalismus, die in Onettis 163 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="164"?> Texten insbesondere durch die Figur der wechselseitig ausgetauschten Lüge (‚Pakt der Fiktion‘) repräsentiert werden, beherrscht Stein perfekt. Die Codes der Werbewelt und vor allem die seines Chefs Macleod weiß er zu seinem Vorteil zu nutzen. So wartet Brausen eines Tages darauf, dass sein Freund und Kollege aufhört „de discutir y cambiar mentiras con el viejo Macleod“ ( VB 441). Macleods Eitelkeit macht sich Julio zunutze, um seine eigenen Ziele durchzusetzen. Ist Macleod mit einem von Julio Steins Vorschlägen für eine Kampagne nicht zu‐ frieden („-¡Flojo, muy flojo! Y gastado.“ VB 436), schickt er ihn in eine Bar, um seiner Kreativität mit Alkohol auf die Sprünge zu helfen. Nach ein paar Tagen, die er vor allem mit verschiedenen Frauen verbracht hat, taucht Stein wieder auf und bringt Macleod dazu, seinen ersten Vorschlag nicht nur zu akzeptieren, sondern auch noch zu glauben, es sei sein eigener gewesen. Die Fähigkeit der Täuschung wird bei Archetti grundsätzlich der Figur des compadrito zuge‐ schrieben. Gleichzeitig erinnert Stein durch seine Schläue und seine starke Selbstbezogenheit jedoch auch an die Figur des pícaro. Juan María Brausen / Juan María Arce In den folgenden Abschnitten soll nun dargestellt werden, wie sich Juan María Brausen zu diesen unterschiedlichen Männlichkeiten ins Verhältnis setzen lässt. Der ursprüngliche Juan María Brausen, von Gertrudis liebevoll „Juanicho“ ( VB 589) genannt, repräsentiert eine untergeordnete Männlichkeit - sowohl im bür‐ gerlich-kapitalistischen als zunächst auch im Milieu des Lumpenproletariats: Statt zu handeln und anderen seine symbolische oder körperliche Überlegenheit aufzuzwingen, agiert er verständnisvoll, zugewandt und respektvoll. Während Julio Stein mitunter klare machistische Verhaltensweisen in Bezug auf das ‚Sam‐ meln‘ möglichst vieler Frauen zeigt und damit von der patriarchalen Dividende einer machistischen hegemonialen Männlichkeit profitiert, steht Brausen als verheirateter Mann vordergründig für eine bürgerliche Männlichkeit - die er jedoch in der Logik des Machismo durch mangelnde Dominanz gegenüber seiner Frau unterläuft. Außerdem hat Brausen keine Nachkommen gezeugt und es fehlt ihm an Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen. Somit fehlen ihm zwei wichtige Merkmale der machistischen hegemonialen Männlichkeit. Stein stellt ihn spöt‐ tisch als „Brausen, el puro, el estilita [sic] que mezquina a la columna por co‐ bardía, por simple miedo al remordimiento del mañana. Casto, ascético“ ( VB 541) vor und betont damit Brausens ausgeprägte Empathie und Loyalität ge‐ genüber Gertrudis. Allerdings ist Brausen mit seiner Haltung gegenüber Gertrudis keineswegs im Reinen. So befindet sich Brausen zu Beginn von La vida breve (1950) ökono‐ misch wie auch sexuell in einer Krisensituation: Die sexuelle Impotenz, die Ger‐ 164 4 This is a man’s world <?page no="165"?> trudis‘ amputierte Brust in ihm auslöst bzw. die er fürchtet, versucht er durch die Erinnerung an ihren unversehrten Körper zu kompensieren. Während Ger‐ trudis noch im Krankenhaus liegt, imaginiert er ihre erste erotische Wiederbe‐ gegnung: „Habría llegado entonces el momento de mi mano derecha, la hora de la farsa de apretar en el aire, exactamente, una forma y una resistencia que no estaban y que no habían sido olvidadas aún por mis dedos.“ ( VB 426) Doch die Erinnerung allein hilft nicht; die Berührung der Brust, die er sich vorstellt, wird zur Farce, denn seine rechte Hand wird voraussichtlich ins Leere greifen. Wut, Enttäuschung und Trauer über die Amputation und sein dadurch erloschenes Begehren äußern sich jedoch nicht in aktiver Gewaltanwendung gegenüber Gertrudis, sondern verdichten sich zu einer passiven „tristeza repentinamente perfecta“ ( VB 449). Im Gegensatz zu seinem opportunistischen Ex-Chef Macleod und dem ebenso vor allem auf seinen eigenen Vorteil bedachten Julio Stein, verhält sich Brausen passiv-rücksichtsvoll. Erst mit seinem Entschluss, in der Rolle des Arce die zunächst noch fremde Nachbarin Queca zu besuchen, lässt er die bürgerlichen Normen, die sein gemeinsames Leben mit Gertrudis be‐ stimmten, hinter sich. Damit folgt er indirekt Macleods Ratschlag, dass (wirt‐ schaftlicher) Erfolg nur durch Selbstverleugnung zu erreichen sei. Außerdem realisiert er damit das Motto der möglichen kurzen Leben, das den Roman ti‐ telgebend prägt. Als Arce verleugnet Brausen nicht nur seine bürgerlichen Werte und Prinzipien, sondern erhält mit dem Eintreten in den Raum des Ne‐ benan, die Wohnung seiner Nachbarin Queca, auch Zugang zu deren sozialem Milieu. Während Brausens Bürgerlichkeit, seine Ehe mit Gertrudis sowie die gemeinsame Wohnung den Normalzustand beschreiben, wird die anti-bürger‐ liche Welt, der Queca und Ernesto angehören, als Abweichung davon, als „otro lado“ ( VB 426) semantisiert. Quecas Appartement bildet Brausens Wohnung spiegelbildlich ab. Die Nachbarwohnung sowie Quecas Leben bilden damit das ‚Andere‘ in Bezug auf Brausens räumliches und soziales Umfeld. Er beginnt, die im Raum des Nebenan dominierende Männlichkeit des compadrito zu imitieren. Die Abwendung von der gemeinsamen Bürgerlichkeit mit Gertrudis empfindet er dabei zunächst als eine Art Fahnenflucht, wie das folgende Zitat verdeutlichen soll: […] meditar un rápido adiós a Gertrudis, como el saludo a una bandera, símbolo del país del que me expatriaba. (VB 490); Me alejaba -loco, despavorido, guiado- del re‐ fugio y de la conservación […]. (VB 490 sq., eig. Hervorh.) Der räumliche Wechsel von seiner ‚normalen‘ bürgerlichen in die ‚andere‘ Welt, die der Prostitution und der männlichen Gewalt, vollzieht er demzufolge in einem Zustand der Verrücktheit. Mit seinem von Entsetzen getriebenen Eintritt 165 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="166"?> in die ‚andere Welt‘ gibt er auch seinen stabilen Rückzugsort, als den er seine Ehe vor Gertrudis‘ Brust-Amputation stets begriffen hatte, auf. Die endgültige Loslösung von seiner bürgerlichen Welt erfolgt jedoch erst mit der Trennung von Gertrudis: „Yo había desaparecido el día impreciso en que se concluyó mi amor por Gertrudis; subsistía en la doble vida secreta de Arce y del médico de provincias.“ ( VB 546) Wie das Zitat anzeigt, geht Brausens Identität als Juanicho komplett in seinen doppelten Alter Egos Juan María Arce und Díaz Grey auf. So lebt er nach der Trennung von seiner Frau einerseits in der erlogenen Identität Brausens / Arces und andererseits in der erfundenen Díaz Greys weiter. Brau‐ sens räumlicher Wechsel spiegelt sich folglich auch in den veränderten Männ‐ lichkeiten wider, die er als Brausen / Arce bzw. Díaz Grey verkörpert. Im Schutz seiner Zweitidentität als Arce strebt Brausen nach der von Ernesto verkörperten Männlichkeit des compadrito. Brausen / Arce beginnt dafür Al‐ kohol zu trinken und muss erst lernen, wie er sich in Ernestos männlicher Logik einer Prostituierten gegenüber zu verhalten hat; nämlich respektlos und brutal: „[I]gnoraba cómo perder el respeto a una prostituta.“ ( VB 493) Zum Beweis und Erhalt seiner männlichen Überlegenheit kauft er sich einen Revolver. Die un‐ verhohlene Phallussymbolik der Waffe, deren physischer Präsenz er sich immer wieder versichert, verändert sein gesamtes Auftreten, denn mit dem Revolver in der Hosentasche bewegt er sich selbstbewusster durch den Raum des Ne‐ benan: „Me acerqué lentamente, el sombrero en la cabeza, el revólver pesándome en el pantalón; […].“ ( VB 575) Auffallend ist dabei auch die Imitation von Er‐ nestos Garderobe. Wie Ernesto bei ihrer ersten, für Brausen sehr schmerzhaften Begegnung, trägt nun auch Brausen / Arce einen Hut. Queca unterwirft er mit Hilfe physischer wie psychischer Gewalt, die, wie folgendes Zitat belegt, mehr als Ausdruck männlicher Ohnmacht denn von tatsächlicher Macht zu lesen ist: Yo fracasaba cada vez que me proponía mezclarla con todo lo que había escuchado a través de la pared. […] Y de la imposibilidad de confundir a la mujer de carne y hueso con la imagen formada por las voces y los ruidos, de la imposibilidad de conseguir la excitación que necesitaba extraer de ella, surgía hasta invadirme un creciente rencor, el deseo de vengar en ella y de una sola vez todos los agravios que me ara posible recordar. Y los agravios que habían existido aunque yo no los recordara, los que habían formado a este hombre pequeño, ya no joven […]. (VB 493) Diese Szene, als Brausen Queca zum ersten Mal direkt gegenübersteht und fest‐ stellt, dass sein Bild, das er sich aus den aufgeschnappten Gesprächsfetzen und Geräuschen aus der Nachbarwohnung von Queca gemacht hatte, nicht mit der wahrhaftigen Queca übereinstimmt, beschreibt die Wut und die narzisstische Kränkung, die er durch dieses Scheitern erfährt und die ihn zunächst hand‐ 166 4 This is a man’s world <?page no="167"?> 385 Cf. Judy Maloof: Over her dead body (1995), p. 92. 386 Wie so viele homosoziale Bindungen in Onettis Erzählungen ist auch die Beziehung zwischen Brausen / Arce und Ernesto von Lügen geprägt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um offene Lügen, im Sinne eines Fiktionspaktes nach Poppenberg, sondern vielmehr um tatsächliche Lügen. Diese Lügen implizieren ein Ungleichheitsverhältnis zwischen Brausen / Arce und Ernesto. Während Ernesto sich um Brausen / Arces Freundschaft bemüht und ihn gegenüber der Polizei zu schützen versucht, stellt Brausen Ernesto eine Falle - für den Fall, dass die gemeinsame Flucht misslingen sollte. Für Ernesto scheint klar, dass, obschon er nicht nachvollziehen kann, warum Brausen / Arce ihm hilft, er ihn als seinen Freund zu verteidigen hat. Was er nicht ahnt: Brausen hat ihm zwar zur Flucht verholfen, gleichzeitig jedoch auch der Polizei eine wichtige Fährte (Ernestos schriftliche Nachricht an Queca: „’Te voy a telefonear o venir a las nueve’“ VB 696) in Quecas Wohnung hinterlassen. Brausen indes begreift Ernesto nicht als lungsunfähig macht: „[N]o sólo ignorando cómo tratarla, sino realmente inti‐ midado […].“ ( VB 493) Im weiteren Verlauf der Handlung bricht sich diese Ohn‐ macht jedoch in körperlichen Misshandlungen gegenüber Queca Bahn. Er schlägt sie und nimmt ungefragt einen Anruf von ihrem Apparat entgegen, wobei er sie gegen ihren Willen vor dem Anrufer verleugnet. Dieses Verleugnen kommt einem Sprechverbot und damit sozialer Elimination gleich. Die körper‐ lichen Misshandlungen, „los golpes metódicos y desanimados“ ( VB 624), werden für Brausen / Arce zur Routine in seiner Interaktion mit Queca und steigern sich sogar bis zu dem Vorsatz, diese zu töten. Den Femizid malt er sich als Vollendung seines ‚Meisterwerks‘ aus. Minutiös plant er den Tag, an dem er die Tat begehen will, doch Ernesto kommt ihm als Mörder zuvor. Gemeinsam treten die beiden Männer die Flucht nach Santa María an. Zwei Wendepunkte lassen sich in der Entwicklung Brausens / Arces ausma‐ chen. Der erste ist durch sein Zusammentreffen mit Ernesto markiert, das ihm auf schmerzhafte Weise die Regeln dessen sozialer Hierarchie vermittelt - und Brausen / Arce veranlasst, sich innerhalb dieser sozialen Ordnung durch Imita‐ tion seinen Platz zu suchen. Der zweite wichtige Punkt ist die Szene, als Arce Ernesto im Appartement der toten Queca überrascht und sich in der Folge so verhält, als hätte er selbst Queca getötet. Die homosoziale Beziehung zwischen Ernesto und Arce ändert sich dadurch grundlegend. Die tote Frau macht aus den ehemaligen Rivalen Ernesto und Brausen / Arce Komplizen, wie Maloof fest‐ stellt. 385 Diese Argumentation trägt jedoch nur vordergründig, da sich das Un‐ gleichheitsverhältnis zwischen Brausen / Arce und Ernesto durch Quecas Tod nicht neutralisiert, sondern umkehrt. So ist Brausen / Arce nicht mehr der ‚an‐ dere Mann‘, der Konkurrent, den Ernesto bei seiner Geliebten erwischt, sondern umgekehrt: Brausen / Arce ertappt Ernesto als Mörder - und hat ihn durch dieses Wissen in der Hand. 386 Dabei spielt er seine intellektuelle Überlegenheit gegen‐ über Ernesto aus. Während in Quecas Appartement Ernestos soziale ‚Spielre‐ 167 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="168"?> Freund oder Komplizen, sondern vielmehr als Figur, in dem von ihm erdachten Spiel ‚Flucht nach Santa María‘. 387 Judy Maloof: Over her dead body (1995), p. 92. 388 Cf. Ibid., insb. pp. 79-92. 389 In El astillero (1961) baut Onetti das Thema der unternehmerischen Farce zum Haupt‐ handlungsstrang aus. Die stillgelegte Werft wird darin von dem erfolglosen Zuhälter Junta Larsen (cf. Juntacadáveres, 1964) so lange zum Schein weitergeführt, bis auch die geln‘ galten, die sich über physische Überlegenheit (Ernesto gegenüber Brausen / Arce) und sexuelle Unterwerfung (Brausen / Arce gegenüber Queca) generierten, besitzen außerhalb des Appartements Brausens Regeln Gültigkeit. Diese basieren auf intellektueller und auf diskursiver Überlegenheit - allerdings gilt das nur für homosoziale Interaktionen. Heterosoziale Relationen sind eben‐ falls an männliche Gewaltakte gebunden bzw. bilden überhaupt erst die Basis dafür, wie im Folgenden erläutert werden soll. So konstituiert sich nach Maloof Brausens Eintritt in die Metafiktion und damit seine „identity as a male narrating subject“ 387 über Quecas Tod. Die Kon‐ stitution Brausens als erzählendes Subjekt werde demnach allein dadurch er‐ möglicht, dass Frauen zum Schweigen gebracht werden - und zwar nicht nur im Sinne Beards durch einen räumlichen Verweis ins Innere des Hauses oder, wie oben angemerkt, durch Verleugnen, sondern endgültig. Männliche Schöp‐ fungspotenz beruhe demnach auf der Eliminierung des Weiblichen. 388 In abgeschwächter Form lässt sich diese Argumentation auch schon auf die regelmäßigen Misshandlungen, die den Femizid vorwegnehmen, anwenden. So führt Brausens Sadismus zur Gründung oder vielmehr Erfindung seiner eigenen Werbeagentur namens „Brausen Publicidad“ ( VB 603): Entonces -y ya había algo de Arce en mí- inventé la Brausen Publicidad, alquilé la mitad de una oficina en la calle Victoria, encargué tarjetas y papel de cartas, le robé a la Queca una fotografía donde trataban de sonreír con gracia tres sobrinos cordobeses. Puse la foto en un marco y la coloqué encima del escritorio que me cedieron y ni un solo día olvidé mirarla con orgullo y con la seguridad de la muerte vencida por mi triple prolongación en el tiempo. […] Imaginaba citas, comidas de negocios […]. (VB 603 sq., eig. Hervorh.) Wie das Zitat mit Vorgriff auf den Roman El astillero (1961) belegt, unterhält Brausen seine eigene Werbeagentur, ohne jedoch tatsächliche Umsätze damit zu erwirtschaften. Er mietet sich ein Büro, druckt Visitenkarten und Briefpapier, erfindet Termine und Geschäftsessen, gleichzeitig weiß er jedoch, dass seine Agentur nur existiert, solange er sich das Spiel leisten kann, d. h. so lange sein Erspartes ausreicht, die Farce aufrechtzuerhalten. 389 Brausens erfundene 168 4 This is a man’s world <?page no="169"?> letzte Schraube zu Geld gemacht wurde und mit dem Ende des Kapitals auch das Ende des Romans erreicht ist. 390 Ausführlich dargestellt wird dieses Verhältnis aus Sicht der ‚Mutterfiguren‘ Queca und Gertrudis in Kapitel 5 dieser Arbeit. Agentur ist damit von seinem finanziellen Kapital abhängig, das unweigerlich zur Neige geht, auch wenn er versucht, das Spiel durch das Sammeln von ent‐ sprechend wertlosem ‚Spielgeld‘, „tuercas y bulones, deslumbrantes pedazos de botellas“ ( VB 604), weiter hinauszuzögern: „El dinero disminuía y los hierros y vidrios viejos que depositaba en la caja no bastaban para tranquilizarme […].“ ( VB 605) Ein weiterer Aspekt, der in obigem längerem Zitat adressiert wird, ist die zeitgleiche Erfindung einer imaginären Familie, d. h. Brausen inszeniert sich nicht nur als Chef seiner eigenen Agentur, sondern auch als Familienvater. Dafür entwendet er aus Quecas Appartement ein Bild, das deren drei Neffen zeigt, und stellt es auf seinen Schreibtisch. Jeden Tag blickt er, erfüllt von fungiertem vä‐ terlichem Stolz die fremden Kinder auf dem Bild an und wartet, dass ihn sein Vermieter, der mit ihm das Büro teilt, auf seine Familie anspricht. Als Arce ori‐ entiert sich Brausen folglich nicht nur an der Männlichkeit des compadrito, son‐ dern auch an der hegemonialen Männlichkeit. Die beiden daraus resultierenden Inszenierungen, einerseits als sadistischer Freier und andererseits als erfolgrei‐ cher Geschäftsmann und stolzer Vater, sind jeweils an verschiedene Klassen und damit auch Räume gebunden - einerseits Quecas Appartement und andererseits an das angemietete Büro. Durch die Betonung der räumlichen Gebundenheit im Sinne unterschiedlicher Kulissen, tritt der ludische Charakter der verschiedenen Inszenierungen noch deutlicher zutage. Als Juanicho, der er vor seiner ‚Aufspaltung‘ in Arce und Díaz Grey war, verkörpert Brausen eine passive, bereits durch die Anrede diminuierte Männ‐ lichkeit, die einerseits durch die Zuschreibung mütterlicher Attribute wie Für‐ sorglichkeit und Verständnis effeminiert wird und damit innerhalb der patriar‐ chalen Ordnung eine untergeordnete Position einnimmt. Verstärkt wird diese Weiblichkeitszuschreibung durch Brausens / Arces weiblichen Zweitnamen. So fragt Queca bei ihrem ersten Zusammentreffen: „¿Arce te llamás? Me gusta, pero Juan María es nombre de mujer.“ ( VB 509, eig. Hervorh.). Andererseits verfällt er sowohl gegenüber Gertrudis als auch gegenüber Queca in die Rolle des Kindes, nimmt also auch in diesem Sinne eine untergeordnete Stellung ein. 390 Gleichzeitig jedoch beneidet Brausen Julio Stein um dessen ausschweifendes Liebesleben, während er selbst sich durch die Heirat mit Gertrudis gefangen und dem demütigenden Prozess des Alterns ausgeliefert fühlt. Besonders schwer verwindet Brausen daher auch die Tatsache, dass Gertrudis ihn zu Studienzeiten mit Stein betrogen hatte, beziehungsweise dass Stein von Gertrudis Körper se‐ 169 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="170"?> xuell Besitz ergriffen hatte ohne sich in der Konsequenz auch sozial an sie binden zu lassen: „[E]nvidiaba a Stein por haber penetrado en Gertrudis sin quedar prisionero.“ (485) Allerdings leidet er still an dieser Demütigung, er konfrontiert weder Gertrudis noch Stein mit seiner Wut. Brausens Schweigen ist daher auch nicht mit Macleods Verschweigen gleichzusetzen. So ist das eine passiv, insofern es Gefühle unterdrückt, das andere zielt auf die Affirmation einer homosozialen Machtposition. Macleod schweigt nicht aus Schüchternheit oder um jemanden zu schützen, sondern allein aus dem Grund, dass seine hierarchische Stellung es ihm erlaubt und deren Erhalt es auch erfordert, Informationen zu verschweigen. Macleods Schweigen symbolisiert Suprematie über andere, Brausens Schweigen weiblich konnotierte Passivität. 4.3.2 Sanmarianische Männlichkeiten: Díaz Grey, Antón Bergner, Marcos Bergner, Augusto Goerdel, die Malabias, Medina Während auf den vorausgegangenen Seiten die Männlichkeiten der Ursprungs‐ fiktion, d. h. die präsanmarianischen, mit denen der Forschungsliteratur abge‐ glichen wurden, sollen im Fokus dieses Unterkapitels nun die spezifisch san‐ marianischen Männlichkeiten stehen. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit Brausens diskursive Gestaltungsmacht als fiktiver Autor das Geschlechterver‐ hältnis innerhalb der Metafiktion Santa Marías prägt. Die dahinterstehende These lautet, dass sich durch die Metafiktion nicht nur der Ort (aus Buenos Aires wird Santa María), sondern auch der Referenzrahmen bezüglich der Geschlech‐ terdarstellungen verschiebt, d. h. Brausens, auf Ebene der Ursprungsfiktion noch untergeordnete Männlichkeit nimmt in Bezug auf das Geschlechterverhältnis innerhalb des metafiktiven Santa Marías die hegemoniale Position ein. Wie in Kapitel 4.1 ausführliche dargestellt, stellt Brausen in La vida breve (1950) die Figur des Díaz Grey an den Beginn und ins Zentrum der Metafiktion. Durch ein metaleptisch eingeschobenes Gründungsnarrativ wird dessen Posi‐ tion als metafiktionale männliche Norm affirmiert. So setzt Brausen Díaz Grey ein Denkmal und benennt die gesamte Stadt nach dem Arzt. In nachfolgenden Erzählungen wird dieses Standbild jedoch Brausen selbst zugeschrieben, d. h. der Reiter verkörpert nicht mehr Díaz Grey, sondern Brausen. Die hegemoniale Männlichkeit innerhalb der metafiktionalen patriarchalen Ordnung Santa Ma‐ rías konstituiert sich folglich über die Männlichkeit der figurativen Doppelung Brausen / Díaz Grey. Die Merkmale dieser hegemonialen Männlichkeit sollen im Folgenden nun herausgearbeitet werden. Alle anderen Männlichkeiten werden in Abhängigkeit davon lesbar. 170 4 This is a man’s world <?page no="171"?> 391 Die eindrücklichsten Beispiele dafür sind die Romanenden von Para una tumba sin nombre (1959) und La muerte y la niña (1973). Díaz Grey Díaz Grey stellt innerhalb des Korpus (und auch bezogen auf das Gesamtwerk Onettis) die charakterlich komplexeste Figur dar. Durch die fiktionale Doppe‐ lung Brausen-Díaz Grey wird dessen Machtposition sowohl auf diskursiver wie auch auf diegetischer Ebene sichtbar. Diskursiv scheint Díaz Greys Männlichkeit zunächst allein dadurch hegemonial, dass er als Doppelung der fiktiven Autor‐ figur sowie als selbstreflexiver Erzähler den Diskursraum Santa María gestaltet. Gleichzeitig ist er als metafiktive Figur auch von Brausen abhängig und damit diskursiv untergeordnet. Auf der Ebene der Diegese erscheint Díaz Grey als hochgradig ambivalente Figur. In Juntacadáveres (1964) wird er als um die vierzig Jahre alt beschrieben und leidet an körperlicher Gebrechlichkeit sowie an Schlaflosigkeit. Trotz seines noch relativ jungen Alters ist er in dieser Erzählung auf einen Stock als Gehhilfe angewiesen: Camino más lentamente, me demoro apoyándome en el bastón. […] [L]a pierna me duele, realmente y rengueo y me apoyo en el bastón sin exagerar demasiado, y el sufrimiento que vuelve a nacer en la rodilla me conforta como una compañía […]. (JC 439 sq.) Dieses Bein-Leiden wird jedoch allein in Juntacadáveres (1964) thematisiert, in anderen Erzählungen, wie etwa La muerte y la niña (1973) quält ihn ein Lebens‐ überdruss, wodurch er sich fühlt als wäre er „muerto por el ocio, la vejez y la riqueza no buscada“ ( MN 585). Diesen Lebensüberdruss versucht er entweder durch Drogenkonsum oder durch Ablenkung, die vor allem im Erfinden von Geschichten zu bestehen 391 scheint, zu überdecken. In La vida breve (1950) und Juntacadáveres (1964) wird er als Junggeselle dargestellt, in „La novia robada“ (1968), La muerte y la niña (1973) und Dejemos hablar al viento (1979) ist er mit Angélica Inés, der geistig zurückgebliebenen Tochter des Großindustriellen Je‐ remias Petrus, verheiratet. Nach der Hochzeit machte er sie sich durch Gewalt‐ anwendung sexuell gefügig, wie er im letzten Roman, Cuando ya no importe (1993) andeutet: „Hace mucho tiempo que nos casamos, que luché para conseguir que fuera mi mujer en la cama. […] Es posible que haya tenido que violarla […]. La convencí que éramos padre severo y hija traviesa. […] vivimos en pleno in‐ cesto.“ ( CI 973) Die Beziehung deutet auch pädophile Neigungen Díaz Greys an, wobei die Inzest-implizierende Vater-Tochter-Beziehung als Erfindung Díaz Greys semantisiert wird und damit der zitierte Inzest imaginär bleibt, also eine 171 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="172"?> 392 Mark I. Millington: Fictions of desire (1993), p. 157. sexuelle Phantasie Díaz Greys darstellt. In La muerte y la niña (1973) ist zudem von einer nicht näher benannten Tochter die Rede, die er zuletzt als kleines Kind gesehen hatte. Diese erscheint allerdings rein als Abwesende, als „hija ausente, sólo conocida por malas fotografías“ ( MN 589). Auf Ebene der Diegese wird Vaterschaft bezogen auf Díaz Grey somit als durchgängig dysfunktional be‐ schrieben. Als Arzt übt Díaz Grey eine Profession aus, die mit hohem gesellschaftlichem Ansehen verbunden ist, gleichzeitig wird er als drogenabhängig und kriminell dargestellt. Er steht damit für eine gebrochene Männlichkeit, deren Identitäts‐ problematik für mehrere Figuren in Onettis Werk symptomatisch ist und in ihren Grundzügen auf Brausens Identitätsproblematik in La vida breve (1950) rekurriert. Díaz Greys gesellschaftliche Position wird in vielen Erzählungen als gehoben beschrieben. Als Arzt gehört er der männlichen Elite Santa Marías an, die sich als kollektives Wir in den Text einschreibt: „Todos nosotros, los nota‐ bles, los que tenemos derecho a jugar al póker en el Club Progreso y a dibujar iniciales con entumecida vanidad al pie de las cuentas por copas o comidas en el Plaza.“ ( TN 5, eig. Hervorh.) Das Zitat, das den Roman Para una tumba sin nombre (1959) einleitet, verweist auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Privilegien, welche dieser Männergruppe um Díaz Grey, die Millington als „col‐ lective voice of Santa María“ 392 ausmacht, zukommen: Neben dem Recht auf il‐ legales Glücksspiel im sogenannten Fortschrittsclub, erhalten sie allein durch ihre Unterschrift Kredit in Santa María. Eine ähnlich herausgehobene, autoritätsstarke Position nimmt Díaz Grey in Juntacadáveres (1964) ein. Er agiert darin als politisch neutraler Vermittler im Stadtrat. Er schlägt Barthé einen Kuhhandel mit dem Gemeinderat vor und überbringt die Nachrichten zwischen beiden Streitparteien. In La vida breve (1950) ist er hingegen in illegalen Drogenhandel verstrickt. So ist er nicht nur für den Tod Elena Salas mitverantwortlich, der er das Mor‐ phium verschafft hat, mit dem sie sich umbringt, sondern befindet sich im letzten Kapitel auch mit einem bizarren Quartett von Drogendealern und -abhängigen auf der Flucht vor der Polizei. Im Schutz des Karnevaltreibens versuchen die fünf Flüchtigen mit einem Geigenkoffer voll Morphium zu entkommen. Die Ambivalenz zwischen Arzt und Kriminellem deutet sich bereits zu Beginn von La vida breve (1950) an, denn Brausen imaginiert die zentrale Figur seines Drehbuchs darin zunächst über eine Morphium-Ampulle. Die Ambivalenz Díaz Greys liegt folglich in der Doppeldeutigkeit des Morphiums als Medikament und Droge begründet. Gertrudis‘ behandelnder Arzt, der auf Ebene der Ursprungs‐ 172 4 This is a man’s world <?page no="173"?> fiktion (F1) zum Vorbild für die erdachte Figur des Díaz Grey auf Ebene der Metafiktion (F2) wird, verkörpert das Bild des Arztes als Lebensretter und Heiler. Das Morphium, das Brausen Gertrudis (stellvertretend für den Arzt im Kran‐ kenhaus) spritzt, bildet das narrative Vehikel zwischen beiden Arztentwürfen, denn während Brausen gedankenverloren mit der Ampulle spielt, denkt er sich die metafiktive Figur Díaz Grey aus. In dessen Sprechzimmer tritt eine Frau - genauso wie Gertrudis in das Sprechzimmer ihres Arztes getreten war, um ihm den blauen Fleck und den Knoten in ihrer Brust zu zeigen. (Cf. VB 429 sq.) Der Transfer des Morphiums von Fiktionsebene I auf II transportiert indes eine Dä‐ monisierung des ursprünglich schmerzlindernden Medikamentes: La ampolla se movía entre mi índice y mi pulgar y yo imaginaba para el líquido una cualidad perversa, insinuada en su color, en su capacidad de movimiento, en su facilidad para inmovilizarse […] (VB 430, eig. Hervorh.) Die Flüssigkeit pervertiert sich im Akt der Imagination und aus dem heilenden Arzt, der Gertrudis‘ Schmerzen mit Morphium zu stillen versucht, wird in der Metafiktion ein „médico, que vende morfina“ ( VB 429). Die Dämonisierung lässt sich folglich auch auf den Arzt übertragen. Das Medikament wird zur Droge, im Sinne eines Rauschmittels und so auch zum illegalen, wertvollen Tauschobjekt, das den Grundstein für Díaz Greys immer wieder angedeutetes Vermögen legt. Die Figur des Arztes changiert damit zu Beginn von La vida breve (1950) zwi‐ schen Hippokratischem Eid einerseits und ökonomisch-kapitalistischen Inte‐ ressen andererseits, wobei eine Tendenz zu den Maximen einer kapitalistischen Ökonomie zu beobachten ist. Statt Leben zu retten, zerstört er sie gewinnbrin‐ gend durch den Verkauf von Morphium. Für Geld geht er über Leichen. Diese Priorisierung spiegelt sich zunächst in der Darstellung seines äußeren Erschei‐ nungsbildes wider. So trägt er anstelle eines neutralen Arztkittels teure Klei‐ dung, die auf einen gewissen materiellen Wohlstand schließen lässt und damit den anfänglichen Hinweis auf seine illegalen Drogengeschäfte beziehungsweise seinen dadurch erwirtschafteten ökonomischen Gewinn verstärkt: „[T]enía un traje gris, nuevo, y se estiraba los calcetines de seda negra sobre los huesos de los tobillos mientras esperaba que la mujer saliera de atrás del biombo.“ ( VB 431) Er wird in einem neuen grauen Anzug mit Seidenstrümpfen dargestellt - nicht in seiner Berufskleidung. Auch sonst verhält sich Díaz Grey völlig unty‐ pisch für einen Arzt. Er stellt seiner Patientin Elena Sala keine Fragen und macht auch keine Anstalten sie zu untersuchen. Stattdessen taxiert er die entblößte Brust der Frau und eine auffällige Kette, welche diese trägt. In La muerte y la niña (1973) tritt Díaz Greys unprofessionelles Verhalten noch deutlicher zutage. Dort wird das Stethoskop zum reinen Hexenwerkzeug, Rezepte stellt er will‐ 173 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="174"?> 393 Die einzige Ausnahme bildet Jacob y el otro (1959). Darin gelingt Díaz Grey eine spek‐ takuläre Operation. Er rettet dem Herausforderer Jacob van Oppens das Leben - einem, ob der Verletzungen durch Jacobs regelwidrigen Wurf bereits Totgesagten. 394 In Dejemos hablar al viento (1979) wird die Beschaffenheit des ärztlichen Behandlungs‐ zimmers gar ins Absurde gewendet, als Medina sich an eine erfundene illegale Abtrei‐ bung erinnert: „Con más facilidad que las piernas sangrientas, que la mandíbula torcida de la adolescente que yo acababa de matar perforándole el útero, recordaba mi grave lentitud al desprenderme la túnica en casa de la partera, en el extraño consultorio con canarios y begonias.“ (DV 648) 395 Roberto Ferro verweist auch auf die einander ergänzende, chiastisch erzählte Hand‐ lungsweise von Autor (Brausen) und Arzt (Díaz Grey). Morphium-Ampulle und Füll‐ federhalter werden dabei analog betrachtet: „la ampolla y la lapicera pueden ser con‐ sideradas análogas: por su forma, por su contenido líquido, por su remate en una punta aguda. […] Díaz Grey escribe recetas que permiten comprar morfina, cobra por ello y kürlich aus: „[U]sé el estetoscopio como una solemne maniobra de brujo, llené recetas de porvenir incierto, […].“ ( MN 624) Dass die Bezeichnung Arzt, die Brausen Díaz Grey in La vida breve (1950) zuschreibt, allein eine gesellschaftliche Position markiert und keine heilenden Fähigkeiten impliziert 393 , zeigt auch die anfängliche Darstellung des Sprechzim‐ mers. Die wenigen medizinischen Instrumentarien nehmen nur einen unterge‐ ordneten Platz im Raum ein und scheinen neu und unberührt: [E]ste médico debía moverse en un consultorio donde las vitrinas, los instrumentos y los frascos opacos ocupaban un lugar subalterno. Un consultorio que tenía un rincón cubierto por un biombo; detrás de este biombo, un espejo de calidad asombrosamente buena y una percha niquelada que daba a los pacientes la impresión de no haber sido usado nunca. (VB 430, eig. Hervorh.) Durch die augenscheinliche Unbenutztheit erstarrt das Behandlungszimmer, das Brausen für die Hauptfigur seines Drehbuchs ersinnt, zur reinen Kulisse. 394 Als solche betrachtet, impliziert das räumliche Setting immer auch Wandelbarkeit, d. h. es vermittelt einen doppeldeutigen Nutzungsmodus. So suggeriert ein Büh‐ nenbild zwar eine mögliche Benutzungsweise, diese kann jedoch immer wieder an das jeweilige Stück und die jeweiligen Figuren angepasst und ausgetauscht werden. Dabei bleibt es bloße Attrappe. So eröffnet der beschriebene Inhalt von Díaz Greys Bücherregal „con un millar de libros sobre medicina, psicología, marxismo y filatelia“ ( VB 430) den Leser*innen bereits die Möglichkeit, beim Lesen statt eines Arztes einen Schriftsteller hinter dem großen, unaufgeräumten Schreibtisch Platz nehmen zu lassen. Auch die großen Fenster „sobre la plaza“ ( VB 431) und der damit verbundene Überblick über das Zentrum Santa Marías können als Verweis auf die spätere Erzählerfunktion oder den Dopplungscha‐ rakter Díaz Greys gelesen werden. 395 174 4 This is a man’s world <?page no="175"?> no aplica inyecciones. Brausen debe escribir un argumento de cine para poder poner dinero entre él y sus problemas. El aplica inyecciones de morfina a su mujer. La morfina sirve para adormecer y producir una ilusioria sensación de goce; el argumento que Stein le pide a Brausen cumple en otro circuito el mismo objetivo.“ (Roberto Ferro: Onetti / La fundación imaginada (2011), p. 239) 396 Cf. „Capítulo XXXVIII - Frieda en el pasto, en el asilo y en la escuela“ (DV 857-864). Im Laufe des Gesamtwerks verlagert sich indes die Ubikation des Sprechzim‐ mers: Lenkte der Erzähler den Blick der Leser*innen in La vida breve (1950) von Díaz Greys Arbeitsplatz noch auf den Fluss und den Hauptplatz und damit das Geschehen im Stadtzentrum, so residiert Díaz Grey in La muerte y la niña (1973) bereits in Jeremías Petrus‘ Industriellenvilla am Stadtrand. Der Arzt und damit sein beobachtender Blick sind vom Zentrum in die Peripherie verschoben worden. Auf diskursiver Ebene, bezogen auf seine Perspektive als Erzähler, be‐ deutet dies einen Abstieg, wohingegen er auf diegetischer Ebene, d. h. als Bürger Santa Marías durch die Heirat mit der Industriellentochter sozial aufsteigt. Gleichzeitig scheinen Díaz Greys kriminelle Machenschaften zuzunehmen und mit dem in Dejemos hablar al viento (1979) beschriebenen gesamtgesell‐ schaftlichen Niedergang bzw. einer Umkehr des ökonomischen Kräfteverhält‐ nisses zwischen Kolonie und Santa María zu korrespondieren. So befindet sich in dieser Erzählung das Krankenhaus nicht mehr in Santa María (im einstigen Zentrum), sondern in der Schweizer Kolonie (der einstigen Peripherie) und so nimmt Díaz Grey die Autopsie der strangulierten Frieda mangels medizinischer oder pathologischer Räumlichkeiten auf den zusammengeschobenen Tischen der Grundschule vor. 396 Eine Erosion seiner Autorität als Arzt wird dabei ledig‐ lich in La muerte y la niña (1973) angedeutet, insofern die gesamte Geschichte, ausgehend von Helga Hausers Tod, auf einer Missachtung seines ärztlichen Verbotes beruht - und damit gleichzeitig dem christlichen Fortpflanzungsgebot folgt. Für Díaz Grey ergibt sich daraus eine folgenreiche Situation: Denn erst die Missachtung seines Wortes als Arzt lässt ihn als Erzähler in Erscheinung treten. So stirbt Helga Hauser an einer Schwangerschaft, die Díaz Grey aus ärztlicher Sicht untersagt hat - und auch nicht durch Abtreibung verhindert. Aus dem Tod der schwangeren Frau oder, mit Bronfens und Ludmers Worten over her dead body, entspinnt sich folglich die Geschichte, die Díaz Grey erzählt, um seiner Schlaflosigkeit und den eigenen Problemen zu entkommen. Seine strikt ablehnende Haltung gegenüber Abtreibungen impliziert eine ärztliche Verpflichtung zum Schutz allen Lebens - wobei eben diese restriktive Auffassung von Lebensschutz in La muerte y la niña (1973) paradoxerweise so‐ wohl Helga Hauser als auch ihr ungeborenes Kind das Leben kostet. In La vida breve (1950) dichtet Brausen Díaz Grey eine nicht näher beschriebene Vergan‐ 175 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="176"?> 397 Der gesellschaftliche Einfluss Díaz Greys, der sich auf diegetischer Ebene manifestiert, verhält sich damit diametral zu seinem diskursiven Einfluss als Erzählinstanz, insofern Dejemos hablar al viento (1979) einer der wenigen Texte ist, die nicht von Díaz Grey erzählt werden. 398 Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. IV“ (2015), p. 622. genheit an, die dessen „resolución fanática, no basada en moral ni dogma, de cortarse una mano antes de provocar un aborto“ ( VB 430) erklären könnte. Überraschenderweise wird jedoch der gesellschaftliche Einfluss des Arztes in Dejemos hablar al viento (1979) durch die zunehmende Kriminalität nicht abge‐ schwächt, sondern im Gegenteil, als stärker denn je herausgestellt. 397 Explizit wird dieser Einfluss durch die Nähe zur omnipotenten Figur des namenlosen Richters, einer weiteren metafiktionalen Inkarnation Brausens. Dieser taucht in Dejemos hablar al viento (1979), einem deus ex machina gleich auf und bezeichnet Díaz Grey als seinen treuen Sohn: „No recuerdo qué edad tiene. Pero lo sigo queriendo como si fuera mi hijo. Un hijo fiel.“ ( DV 874) Diese Stelle ist die einzige im Gesamtwerk, die Díaz Grey als Sohn adressiert. Díaz Grey wird dadurch in Dejemos hablar al viento (1979) eng an Brausen bzw. dessen fiktionale Personi‐ fizierung als Richter und damit an die Gouvernementalität, welche die Richter‐ figur verkörpert, herangerückt. Letztlich haben wir es in Dejemos hablar al viento (1979) also mit drei männlichen Figuren zu tun, die in kaum auflösbaren Vater-Sohn- und Alter Ego-Beziehungen zueinander in Verbindung stehen. Lo‐ gisch fassen lässt sich diese genealogische Doppelungsproblematik allein durch die Denkfigur der christlichen Trinität: Vater, Sohn und heiliger Geist. Der Name Brausen wird dadurch als christliche Referenz auf die Schöpfungsgeschichte lesbar, wie Poppenberg anmerkt: Wenn der sprechende Wind das Paradies ist, erhält er eine eigene religiöse Konnota‐ tion. Es ist der pfingstliche Wind, der mit der Sprache in Verbindung steht. Der Geist kommt, so Luther in seiner Übersetzung, in einem ‚Brausen‘ als Wind und zugleich als Feuer vom Himmel und fährt in die Apostel, die daraufhin ‚in anderen Zungen reden‘ (Apg. 2). Die pfingstliche Gabe der Sprache hebt die babylonische Sprachver‐ wirrung auf. 398 Mit dieser Lesart fällt (dem) Brausen zusätzliche Gestaltungsmacht zu: In der Bibel befähigt es die Apostel, sich untereinander zu verständigen, in Onettis Erzählungen wird Brausen zum a priori für sprachliche Kommunikation über‐ haupt. Die von Brausen respektive Díaz Grey in der Metafiktion als hegemonial gesetzte Männlichkeit konstituiert sich demnach über künstlerische und insbe‐ sondere sprachlich-literarische Gestaltungsmacht. Kinderlosigkeit wird durch Formen imaginierter Vaterschaft substituiert und gesellschaftliches Ansehen 176 4 This is a man’s world <?page no="177"?> generiert sich mehr über Schein, denn über Sein - beruht also auf gesellschaft‐ lichen und kulturellen Übereinkünften und nicht auf genealogischen Regeln. So muss Díaz Grey als Arzt nicht erfolgreich sein (im Gegenteil betont der Text immer wieder seine professionelle Mediokrität, wenn nicht gar Unfähigkeit), es reicht aus, dass er qua gesellschaftlichen Ansehens seines Berufs als Arzt Zu‐ gang zur männlichen Elite Santa Marías und damit Einfluss in Santa María hat. Kriminalität ist Teil des patriarchalen Systems. So schmälert es Díaz Greys An‐ sehen keineswegs, wenn er sich als pädophil zu erkennen gibt, drogenabhängig ist oder ein Großteil seines Reichtums auf Korruption basiert, d. h. aus seinen ‚Einnahmen‘ aus Schmuggelgeschäften stammt. Antón Bergner Als zeitweiliger Gegenspieler zu Díaz Grey agiert die Figur des Pfarrers Antón Bergner. In La muerte y la niña (1973) führt Bergner einen langen Disput mit dem Arzt bezüglich der Rechtmäßigkeit von Empfängnisverhütung. Bergner vertritt die strikte Position der Kirche, die weder Verhütung noch Abbruch er‐ laubt, Díaz Grey steht für eine gemäßigtere, medizinisch begründete Haltung, die zwar auch den Abbruch einer Schwangerschaft ausschließt, jedoch be‐ stimmte Mittel der Empfängnisverhütung zulässt. Als Arzt und Seelsorger haben beide oftmals mit ähnlichen menschlichen Problemfällen zu tun. Eine extradie‐ getisch-homodiegetische Erzählinstanz schildert die Beziehung zwischen beiden folgendermaßen: „Los veo saludándose con la corta efusión que corre‐ sponde a dos enemigos que hubieran preferido no serlo, con el respeto profundo y frío de los pares.“ ( MN 592) Arzt und Pfarrer begegnen sich demnach auf Au‐ genhöhe. Den Streitpunkt, der sie in La muerte y la niña (1973) zu Gegnern macht, haben sie sich nicht ausgesucht - er wurde ihnen, so ist anzunehmen, von der Instanz auferlegt, die auch für ihre fiktive Existenz überhaupt verant‐ wortlich zeichnet: Juan María Brausen. Insgesamt ist Antón Bergner nur in zwei Werken, nämlich in Juntacadáveres (1964) und in La muerte y la niña (1973) präsent. In ‚La novia robada‘ wird er als abwesende Figur erzählt. Er wird durchgängig über seinen Beruf oder in diesem Fall seine Berufung als Pfarrer wahrgenommen. Der große gesellschaftliche Einfluss der Kirche spiegelt sich in Juntacadáveres (1964) in der Beschreibung des Pfarrers wider: „[E]l cura Bergner, es todo un tipo. Y no le falta razón, debe ser inteligente. […] Debe medir como dos metros ese hombre.“ ( JC 449) So wie Bergner der Kirche durch seine imposante Erscheinung nicht nur ein Gesicht gibt, sondern auch als deren einflussreichster Vertreter kommunalpolitisch tätig wird, so verleiht auch umgekehrt das Amt seinen Worten Gewicht. Profession und Person verstärken sich damit wechselseitig in ihrem gesellschaftlichen 177 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="178"?> 399 „[Q]ué significado tenía para ella la iglesia en ruinas, rodeada de andamios, con la marca de una bala de cañón en la torre.“ (VB 452) 400 Auslöser für die Gründung des Männervereins, der ursprünglich als „Liga de Decencia“ (JC 499) firmierte, war Jahre zuvor die öffentliche Vorführung einer Dokumentation, die sowohl den Geburtsvorgang als auch die Durchführung eines Kaiserschnittes zeigen sollte. Da der Schweizer Kinobetreiber rechtlich nicht von der Vorführung abgehalten werden konnte, gründete der damalige Pfarrer einen Verein, der den Kinobetreiber vermittels einer ökonomischen Entschädigung dazu brachte, den Film nicht zu zeigen. Bergner erkannte die gesellschaftliche und ökonomische Macht dieses Vereins und wusste ihn für seine Zwecke zu nutzen. Er benannte ihn in „Liga de Caballeros Católicos de Santa María“ (JC 500) um und formte aus dem Zusammenschluss eher einfach ge‐ strickter Moralaposteln seinen persönlichen Beraterstab, der die Finanzierung für den Wiederaufbau der Kirche sowie für Stipendien für Priesteranwärter verwaltete. Zudem prägte der Verein unter Bergner die örtliche Zeitungslandschaft durch „admoniciones y juicios sobre libros, revistas, películas, modas y costumbres“. (JC 500) Wirken. Eindringlich und strategisch führt er als Prediger von der Kanzel die öffentliche Rede und besetzt damit eine nach Beard machtvolle Position im öf‐ fentlichen Diskurs. In einer dieser Predigten dankt Bergner den Gläubigen für ihren großen finanziellen Einsatz für die Gemeinde: Esta iglesia ha sido construida por la piedad, por la generosidad de vosotros. Esta iglesia ha sido hecha, ladrillo por ladrillo, con vuestro dinero, con el dinero de los fieles de Santa María. Nunca he recurrido en vano a vuestra piedad. Cuando llegué aquí, muchos de vosotros debéis recordarlo, oficiábamos misa en un templo que no era más que un galpón. Pedí una iglesia y la tuve; pedí una contribución al Colegio y anual‐ mente estamos enviando muchos miles de pesos al Colegio. (JC 456) Pfarrer Bergners gesellschaftliche Macht schlägt sich, wie das Zitat zeigt, in ökonomischer Macht nieder, denn jedes Mal, wenn er die Gemeinde um einen materiellen Beitrag bittet, erhält er diesen auch. So hat er mithilfe seiner An‐ hänger*innen nicht nur die Kirche, die in La vida breve (1950) noch als Ruine beschrieben wird 399 , (wieder)aufgebaut, sondern auch das Bildungssystem unter seine Kontrolle gebracht. Der strategische Ausbau seiner Machtposition wird in Juntacadáveres (1964) eindrücklich beschrieben. Um sein Ziel, die Vertreibung der Prostituierten aus Santa María, durchzusetzen, schart er zunächst eine Gruppe alteingesessener Sanmarianer, die so genannte „Liga de Caballeros“ 400 um sich. Zusätzlich initiiert er eine verleumderische Hetzjagd auf alle Bordell‐ gänger. Für den finalen Showdown auf dem Kirchplatz, der die Schließung des Bordells und die Vertreibung der Prostituierten buchstäblich einläutet, insze‐ niert er zudem ein Defilée junger Mädchen, das vom Männerchor und dem Klang der Kirchenglocken begleitet wird. Seine Strategie geht schließlich auf: „Empe‐ 178 4 This is a man’s world <?page no="179"?> 401 “[…] que ahora era una gran casa abandonada por peligro de ruina y que alguno de estos días que estamos viviendo con permiso de las más altas instancias será comprado por alguno de los nuevos riquísimos de la Colonia para derribarla y elevar otro palacete exótico para nuestra arquitectura blanquirrosa […]. […] En el nuevo tan viejo edificio del Destacamento aún alzan y bajan la bandera, desteñida ya por soles y lluvias, por el tiempo que algunos creyeron inmóvil, todavía no convertida en trapo, pero sí desgar‐ rada por furiosas y muy aisladas tormentas que fueron batallas sin pólvora. El negro es ahora azul marino, el rojo una rosa fuerte.” (DV 865) Die alten Gebäude, vor allem die Kommandantur, als Repräsentanzen eines alteingesessenen sanmarianer Bürgertums, werden von einer neuen Architektur überlagert. Die ehemals leuchtend rot-schwarze Beflaggung zu Ehren des Nationalheiligen Brausen an der Kommandantur verblasst mit den Jahren zu blau-rosa. Das Gebäude selbst ist derart baufällig, dass es gemeinhin nur auf einen neureichen Investor aus der Kolonie zu warten scheint, der die Ruine abreißt und an deren Stelle einen herausragenden Palast erbaut, dessen Architektur als ‚exo‐ tisch‘ bezeichnet wird und damit auf die kulturelle Differenz zwischen den eingewan‐ derten europäischen Kolonialist*innen und den alteingesessenen Sanmarianer*innen verweist. Ausführlicher dazu cf. Kapitel 3.5. dieser Arbeit. 402 Jorge Ruffinelli: „En busca del origen perdido“ (2009 [1974]), pp. 746 sq. cinado y astuto, el padre Bergner había ganado la corta o larga batalla.“ ( JC 571) Zudem verschiebt sich durch die von ihm strategisch geführte Heiratspolitik innerhalb der Kirchengemeinde das ökonomische Ungleichgewicht zwischen Santa María und der Schweizer Kolonie: seine Landsleute, die eingewanderten Fremden aus der Kolonie, zunächst abhängig von Santa María, arbeiten sich unter seiner Führung und klandestinen Vermittlung zur dominanten Wirt‐ schaftsmacht Santa Marías hoch. Während zunächst nur der Kirchenneubau die gesellschaftliche Macht und das Ansehen der Kirche untermauert, kommt es in La muerte y la niña (1973) zur Umkehr der sozialen Verhältnisse. Diese Ver‐ schiebung der ökonomischen Potenz zwischen Santa María und der angrenz‐ enden Schweizer Kolonie wird auch im Stadtbild sichtbar. 401 Antón Bergners Vaterrolle beschränkt sich indes auf seine Profession und ist daher symbolischer Natur. So nimmt er in La muerte y la niña (1973) Augusto Goerdel als „hijo en dios“ ( MN 617) unter seine Fittiche. Diese Konstellation ist jedoch nicht elterlicher Zuneigung oder christlicher Nächstenliebe geschuldet, sondern folgt - wie auch seine Heiratspolitik - klaren strategischen Überle‐ gungen. Ruffinelli beschreibt diese Form der Vaterschaft ob dieser Berechnung auch als despiadada, feroz y desoladora, ejemplo de un anticlericalismo que las anteriores no‐ velas y cuentos no habían mostrado tan claro. Esta es la imagen del Padre modelando al hijo para su utilidad como un instrumento de servicio, del Padre-tirano const‐ ruyendo un monstruo […]. 402 179 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="180"?> 403 Bezüglich der charakterlichen Disposition Goerdels cf. MN 593. So erkennt Bergner frühzeitig Goerdels charakterliche Härte und Unerbittlich‐ keit, seinen Ehrgeiz und seine Intelligenz, seine Fähigkeit zu erahnen, wer ihm zukünftig dienlich sein könnte und auf wessen Seite er sich schlagen muss, um Erfolg zu haben. 403 Diese charakterlichen Dispositionen machen ihn zu einem perfekten Werkzeug für Pfarrer Bergners Pläne zum Machtausbau der Kirche. Bergner nimmt Goerdel daher bereits als Kind in seine geistliche Obhut und betrachtet ihn als sein ‚Instrument‘: „Del muchacho tosco […] tenía que nacer su instrumento, su fanático servidor de la Iglesia.“ ( MN 593) So ist sich Bergner bewusst, dass in einer Welt der vielfältigen Demiurgen auch andere Glaubens‐ strömungen das Territorium der Kolonie für sich beanspruchen könnten und er daher die katholische Hegemonie durch geschickte Überzeugungsarbeit und ökonomische Potenz verteidigen muss: „[S]ospecho de las incursiones que están haciendo los herejes del Séptimo Día, los apareados Testigos de Jehová, los mor‐ mones, los coroneles del Ejército de Salvación.“ ( MN 613). Dafür benötigt er die finanzielle Unterstützung der Gläubigen sowie jemanden, der diese durch Intrigen und Korruption einfordert. Er bildet Goerdel daher in dem eigens dafür geschaffenen Seminar nicht zum Pfarrer, sondern vielmehr zu einem Erfül‐ lungsgehilfen seiner christlich-ökonomischen Expansionspläne aus. Bergner ermöglicht Goerdel zunächst den sozialen Aufstieg und verhilft ihm zu einem ansehnlichen Vermögen, denn Bergner weiß, dass Goerdel alles daransetzt, dem Elend der eigenen Herkunft für immer zu entkommen. Goerdel seinerseits ist sich der Pläne des Pfarrers bewusst und spielt dessen Spiel zu seinem eigenen Nutzen mit. So wissen beide, dass sie sich in ihren vorgespielten Motiven ge‐ genseitig belügen. Bergner erklärt Goerdel: -Tú y yo jugamos a lo mismo durante años. Tú y yo nos respetamos, supimos fingir; cada uno aceptó la relación como verdadera, la actitud tramposa y siempre egoísta del otro. En resumen, tú y yo aceptamos mentir, aceptamos la mentira que amparaba el silencio. (MN 598) Dabei profitieren beide von dem wechselseitig bekannten Lügenkonstrukt. Goerdel entkommt der Armut der eingewanderten Kolonialist*innen und Bergner nutzt dessen unbedingten Aufstiegswillen für seine eigenen hegemo‐ nialen Expansionspläne. In abgeschwächter Form lassen sich die machtstrategischen Motive Bergners auch im Verhältnis zu seinem Neffen Marcos nachzeichnen, den er während seines Kreuzzugs ebenfalls als Erfüllungsgehilfen instrumentalisiert. So schickt 180 4 This is a man’s world <?page no="181"?> 404 Wobei die Exklusivität des ehelichen Geschlechtsverkehrs mit dem Ziel der Reproduk‐ tion in Santa María nur für die Frau volle Gültigkeit besitzt, denn Marcos Bergner ist es mit priesterlichem placet gestattet, auch außerehelichen Geschlechtsverkehr zu praktizieren. 405 Cf. Gerhard Poppenberg: „Nachwort Bd. IV“ (2015), p. 607; außerdem auf der Seite des Vatikans die Enzyklika Humanae Vitae. Über die Weitergabe des Lebens (1968) im Wort‐ laut: https: / / w2.vatican.va/ content/ paul-vi/ de/ encyclicals/ documents/ hf_p-vi_enc_250 71968_humanae-vitae.html, 23. 07. 2019. er in Juntacadáveres (1964) Marcos zum Bordell, um dort Junta Larsen und die drei Prostituierten zu observieren: -Para mayor gloria de Dios, Marcos Bergner, te bendigo. Quiero pedirte algo muy importante. Te pido que vuelvas al prostíbulo. Qué te quedes allí, por lo menos, hasta la noche del domingo. (JC 557) Pfarrer Bergner selbst kümmert sich in der Zwischenzeit um die reibungslose Durchführung seiner ausgeklügelten Vertreibungschoreographie. (cf. JC 565-570) Während Díaz Grey physische Gewalt anwendet, um sich Frauen, so etwa seine junge Ehefrau Angélica Inés, sexuell unterzuordnen, beschränkt sich Pfarrer Bergners Machtausübung über Frauen auf Verbote und Gebote, die deren Körper adressieren. Pfarrer Bergners christlicher Hegemonialanspruch beruht damit auf diskursiven Zwängen. Die Frau (und übrigens auch der Mann 404 ) wird innerhalb der bürgerlich-katholischen Ehe zur Reproduktion verpflichtet, um die Hegemonie der katholischen Kirche durch Zuwachs der Gemeinde zu stärken. Poppenberg hat in diesem Zusammenhang auf die starken intertextu‐ ellen Bezüge zur Enzyklika Humanae Vitae. Über die Weitergabe des menschlichen Lebens (1968) Papst Pauls VI . verwiesen, welche den exklusiv ehelichen Ge‐ schlechtsverkehr zum Zwecke der Zeugung vorschreibt. Die Eheleute werden darin als Werkzeug beschrieben, die einen göttlichen Plan zu erfüllen hätten. Dieser sehe den Erhalt und die Vermehrung der Glaubensgemeinschaft vor. Jeg‐ liche Art der künstlichen Empfängnisverhütung stünden der Erfüllung des gött‐ lichen Plans entgegen und seien daher zu unterlassen. 405 Die Enzyklika Humanae Vitae ist damit eines der nachdrücklichsten offiziellen Papiere der biopolitischen Strategie der katholischen Kirche, deren verheerende Auswirkungen auf die weltweiten Bevölkerungsentwicklung mittlerweile wissenschaftlich belegt sind. In Onettis Erzählwerk konkretisiert sich diese christliche Disziplinierungs‐ strategie des Reproduktionszwangs in der Erzählung La muerte y la niña (1973): dort verhandeln, wie rückblickend geschildert wird, ausschließlich Männer (Arzt, Pfarrer, Ehemann) über eine weitere, zum sicheren Tod Helga Hausers führende Schwangerschaft, wobei sich Pfarrer Bergners Stimme durchzusetzen 181 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="182"?> 406 Die Idee des Phalanstère geht konzeptuell auf die Theorie des französischen Utopisten Charles Fourier (1772-1836) zurück. Dieser verschrieb sich mit seiner Sozialutopie den Idealen von Gleicheit und freier Liebe. In Juntacadáveres (1964) erfahren die Leser*innen über das Phalanstère rein aus den Erzählungen des alten Lanza, einer durchweg sub‐ jektiven Rückschau, die unter dem ironischen Titel „Introducción a la Verdadera His‐ toria del Primer Falansterio Sanmariano“ veröffentlich werden soll. (Cf. JC 475-479, cit. p. 477) scheint, die gemäß der Enzyklika Humanae Vitae jegliche Art der ehelichen Empfängnisverhütung verbietet und damit Helga Hausers Tod besiegelt. Pfarrer Bergner verkörpert damit eine Männlichkeit, die der hegemonialen Männlichkeit zumindest sehr nahekommt. In welches hierarchische Verhältnis Anton Bergners Männlichkeit durch die Erosion des gesellschaftlichen Anse‐ hens der Kirche gerückt wird, soll am Ende dieses Kapitels resümiert werden. Marcos Bergner Marcos Bergner ist der Neffe von Pfarrer Bergner und Bruder von Julita Bergner. Die Eltern der beiden finden keine Erwähnung im Text, Pfarrer Bergner wird als Vaterersatz für seine Nichte und seinen Neffen dargestellt. Marcos strebte in seiner Jugend mit dem Phalanstère nach einer Sozialform, die zwar ursprünglich auf sozialistischen Idealen des Teilens und der Gemeinschaft beruhte, letztlich jedoch auf wirtschaftliche Gewinnmaximierung abzielte. 406 Das Geschlechter‐ verhältnis innerhalb der Heterotopie, die das Phalanstère nach Foucault be‐ schreibt, basiert auf der Idee einer antibürgerlichen und ursprünglich sozialis‐ tisch-anti-kapitalistischen Form von ‚freier Liebe‘. Geschlechtsverkehr ist nicht mehr an die bürgerliche Institution der zweigeschlechtlichen Ehe gebunden, sondern an die räumliche und soziale Gemeinschaft des Phalanstère. Das Pha‐ lanstère sollte auf der freien Ausübung der Sexualität gründen, scheitert jedoch an den patriarchalen Strukturen, in die es eingebettet war. So wird, um die Un‐ beständigkeit von Emotionen zu vermeiden, der Geschlechtsverkehr unter den Bewohnern des Phalanstère ökonomisiert (nicht monetarisiert! ). Dafür werden die jeweiligen Paarungen immer wieder neu ausgelost. Allerdings losen die Männer eine Frau oder metonymisch den Schlüssel als Zugang zum Schlaf‐ zimmer einer bestimmten Frau. Die Frauen selbst werden damit zum Objekt einer ritualisierten Aufteilung unter Männern und letztlich zur Ware - jedoch ohne monetären Gegenwert, was sie wiederum von Junta Larsens Prostituierten unterscheidet. Eine weitere Form der kapitalistischen Ausbeutung, die das Pha‐ lanstère trotz seines sozialistischen Grundgedankens impliziert, betrifft die klas‐ senspezifische Ausbeutung, auf welcher der wirtschaftliche Erfolg des Unter‐ nehmens beruht. Denn Marcos Bergner und die anderen Bewohner*innen des 182 4 This is a man’s world <?page no="183"?> Phalanstère gehören einer bürgerlichen Oberschicht an und für den wirtschaft‐ lichen Erfolg ihres sozialen Zusammenschlusses, der vor allem auf Ackerbau und Viehzucht beruht, benötigen sie billige Arbeitskräfte: Habría peones, por supuesto, para que los hombres pudieran concentrarse en la tarea intelectual de dirigir y planear. Chinitas humildes para que los niños no molestaran demasiado y para que día a día las comidas estuvieran a punto y hora […]. (JC 475 sq.) Das postulierte Geschlechterverhältnis, das sich in freier Objektwahl der Männer ausdrückt und damit eine klare heterosoziale Hierarchisierung mar‐ kiert, ist nur realisierbar, wenn die post-reproduktiven Aufgaben der Kinderer‐ ziehung sowie die der Nahrungsversorgung aller Bewohner*innen nicht von den Mitgliedern der Gemeinschaft selbst übernommen werden müssen. Die männlichen Oberschichtenbewohner des Phalanstère müssen, wie es obiges Zitat verdeutlicht, den Kopf für intellektuelle Aufgaben freihaben: Sie leiten und planen (dirigir y planear). Doch das Funktionieren dieser, nach Foucault klassi‐ schen Kompensationsheterotopie, scheitert laut Lanza am Widerstand einer Frau: Mit Monchas überstürzter Flucht beginnt der Niedergang der Gemein‐ schaft, welcher auch als persönliches Scheitern Marcos Bergners gelesen werden kann: dieser bleibt in der ‚Stum und Drang-Phase‘ seiner Adoleszenz hängen. Allerdings hat dies keine Auswirkungen auf seine soziale Stellung, da ihm ob seiner Klassenzugehörigkeit Reichtum und gesellschaftliche Macht garantiert sind. So fielen, wie sein Onkel, Pfarrer Bergner einmal feststellte, die Reichen immer weich: „Y en este mundo los muy ricos sólo sufren un escándalo inicial y breve. Fuegos artificiales.“ ( MN 617) Seine Überlegenheit artikuliert er einerseits in der Abwertung von Männ‐ lichkeiten, die aufgrund von Klassen- oder Religionszugehörigkeit (Lumpen‐ proletariat und Juden) marginalisiert werden und andererseits über die sexuelle Ausbeutung und Misshandlung (sozial schlechter gestellter) Frauen. Junta Larsen beschimpft er antisemitisch: „-Judío de mierda -dijo.“ ( JC 547). Er wirft dem Zuhälter Geldgier und unlautere Geschäfte vor: [H]acer trampas. Es el viejo juego de los judíos. […] En el fondo de cualquier porquería siempre hay un judío. El proxeneta que da la cara, Juntacadáveres, estoy seguro que es judío. […] [U]n judío es un judío y todos sabemos que hacen cualquier cosa por dinero. (JC 430) Larsens Bordell, das erst nach jahrelangem politischem Taxieren des Apothekers Barthé eine Mehrheit im Stadtrat findet, bezeichnet er als Schweinerei. Larsens Jüdisch-Sein leitet er allein aus einer ‚den Juden‘ grundsätzlich unterstellten Geldgier ab, die er auch dem Zuhälter zuschreibt. Dieser offen ausgesprochene 183 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="184"?> 407 Eine Ausnahme bildet die Tracht Prügel, die er Jorge verpasst und die dieser umgehend mit Marcos‘ überbordender Körperlichkeit herunterzuspielen versucht: „Bueno, no hay culpa. Lo que pasa es que tenés demasiado cuerpo.“ (JC 494) Antisemitismus wird in den ausgewählten Texten in einem weiteren, ins Ab‐ surde kippenden Sinn als grundsätzliche Verunglimpfung untergeordneter Männlichkeiten verwendet: „[E]se asesino judío“ ( MN 606), „El sucio judío ase‐ sino” ( MN 606), beschimpft Jorge Malabia Augusto Goerdel in La muerte y la niña (1973). Díaz Grey entgegnet darauf: -Goerdel es más ario, probablemente, que tú y yo. No debe haber un solo judío pro‐ cedente de la Colonia. Arios, suizos, católicos, alemanes. Pero aquí, en Santa María, ninguna de esas palabras sirven para insultar. Entonces, el judío Goerdel. (MN 606) Díaz Grey stellt somit einerseits klar, dass Goerdel, wie auch die anderen Nach‐ kommen der ersten Kolonialist*innen, nicht jüdischer Abstammung seien und erläutert andererseits, dass Jude als Beleidigung eine kulturelle Kategorisierung sei, die ohne den historisch-politischen Hintergrund des Antisemitismus keinen Sinn ergebe. Trotz dieser kulturellen Dekontextualisierung bleibt Jude ein viel gebrauchtes Schimpfwort in Santa María. In Dejemos hablar al viento (1979) be‐ reut María Seoane entsprechend die Namensgebung ihres Sohnes: „Para des‐ gracia lo bauticé Julián y años después me dijeron que era nombre yeta.“ ( DV 656) Während Marcos‘ Aggressionen gegen andere Männer überwiegend auf Drohgebärden, wie etwa den vorgehaltenen Revolver mit eindeutiger Phallus‐ symbolik, und diskursive Gewalt beschränkt bleiben 407 , spielt explizite Körper‐ lichkeit, sei es in Form sexuellen Zwangs oder physischer Gewalt, vor allem in heterosozialen Kontexten eine entscheidende Rolle. Rita, das Dienstmädchen seiner Schwester Julita, hat Marcos sexuell zu Diensten zu sein. Er schläft mit ihr, anschließend misshandelt und erniedrigt er sie: Marcos dio un paso y pateó la cama, hizo golpear el cuerpo desnudo de la muchacha contra la pared de la ventana. […] No me contestes [habla Marcos, eig. Anmk.], vas a decir una estupidez, siempre decís estupideces. (JC 530 sq.) Nachdem er die nackte Rita gegen die Wand gestoßen hat, beschimpft er sie als dumm und verbietet ihr den Mund. Die Frage, die er ihr zuvor eigentlich gestellt hat, wird damit zur rhetorischen Frage, das weibliche Gegenüber als Gesprächs‐ partner*in eliminiert. Ähnlich wie sich Ernestos einschüchterndes Verhalten gegenüber Queca rein an deren Reaktion auf seine Anwesenheit zeigt, wird auch Marcos‘ Brutalität gegenüber Ana María hauptsächlich über deren angstvolles, unterwürfiges Ver‐ 184 4 This is a man’s world <?page no="185"?> halten transportiert. Als Díaz Grey ihr an der Bar des Hotels Plaza eine Zigarette anbietet, entgegnet sie: „-¿Yo? Gracias, doctor. No quiero fumar más. / Estaba blanca de miedo pero no miró a Marcos.“ ( JC 432) Sie steht dabei zwischen Marcos und ‚dem anderen Mann‘, Díaz Grey, und versucht mit ihrem Körper die Präsenz des Arztes vor Marcos zu verbergen: Estaba nerviosa, envejecida, suponía que su charla y los balanceos del cuerpo en el taburete bastaban, o podrían bastar, para separar a Marcos del médico, para que no oyera, no viera, no se enterara de la presencia del otro. (JC 433) Dabei fürchtet Ana María weniger die tatsächlichen Konsequenzen, d. h. die körperlichen Misshandlungen, die sie ob der Unterhaltung mit Díaz Grey bereits erahnt; vielmehr leidet sie unter der permanenten Angst vor möglichen Konse‐ quenzen. Marcos‘ Macht über Ana María wirkt daher, wie mit Foucault deutlich wird, allein über das diffuse Gefühl der Bedrohung, die Marcos auf ihren Körper projiziert: Ana María examinaba crecer y atenuarse una repentina gana de vomitar; imaginaba el resto de la noche con Marcos, las probabilidades de ser golpeada, los orígenes po‐ sibles de aquel impulso […]. Los golpes significaban un final, una pausa, un anona‐ damiento […].“ (JC 434 sq.) Die tatsächlichen Schläge wirken folglich als zeitweise Erleichterung von der ständigen Anspannung, im Voraus zu erahnen, wofür sie als nächstes bestraft werden könnte. Anstatt sich gegen Marcos‘ Gewalt zu wehren bzw. ihr zu ent‐ fliehen, flüchtet sich Ana María in marianistische Rollenmuster, denn aushalten lässt sich die Gewalt, die Marcos physisch und psychisch auf ihren Körper ausübt, allein in der Rolle der Märtyrerin: Las lágrimas y la respiración se extendían, en la oscuridad, sobre la piel del hombre, su olor, su temperatura. Suavemente, la piedad dejaba dirigirse hacia ella misma, y descendía de su pecho, de los recuerdos que estaba amparando, y comenzaba a cubrir, como una manta, como una caricia perfecta, el pesado cuerpo del hombre y su sentido. (JC 435, eig. Hervorh.) Ana Marías Leiden, die aus Marcos‘ Aggression und Physis, d. h. seiner Haut, seinem Geruch, der Wärme und Schwere seines gesamten Körpers, erwachsen, werden erträglich durch die piedad, die göttliche Gnade, die sie schützt und tröstet. Diese gleichzeitige und damit paradox erscheinende Unterordnung und Überhöhung des Weiblichen zu einer Märtyrer*innen-Figur, der die göttliche Gnade zuteil wird, bildet ein Kernelement marianistischer Weiblichkeit ab. Am Beispiel von Marcos und Ana María lassen sich damit auch die Interferenzen 185 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="186"?> zwischen und gegenseitige Affirmation von Machismo und Marianismo in Onettis Texten nachzeichnen. Eine weitere Form männlicher Dominanz über den weiblichen Körper bildet die Bergner’sche Abwandlung des altertümlichen jus primae noctis, das einem Herrscher sozusagen das ‚Entjungferungsrespektive Vorzeugungsrecht‘ bei allen ihm untergebenen Frauen einräumte - Marcos wendet es in Juntacadáveres (1964) auf die Prostituierten im blauen Häuschen an der Küste an: -Como a un Bergner, padre. Fui, vi y vencí. […] [N]o tengo otro remedio que abusar del derecho de pernada. Un tanto modificado, es cierto. Pero, mal o bien, es necesario respetar las tradiciones. (JC 556) Er sieht es gar als seine Pflicht an, im Rahmen der patriarchalen Tradition Santa Marías als einer der vermögendsten Männer Santa Marías und mit Anspielung auf den cäsarischen Dreiklang veni, vidi, vici, die weibliche ‚Ware‘, die Larsen den Bewohnern anbietet, als erster zu ‚testen‘. Das jus primae noctis, welches ursprünglich dem männlichen Herrscher das Recht auf die Zeugung des ersten Kindes einer jeden Frau in seinem Reich, und damit eine große Nachkommen‐ schaft zusichern sollte, erfährt hier eine Verschiebung. Der reproduktive Zweck und damit die Machtsicherung durch eigene Nachkommen wird ersetzt durch die merkantile Praxis der Warenprüfung. Aus der physisch-genealogischen Machtsicherung wird damit eine symbolische Machtdemonstration. Marcos verkörpert eine Männlichkeit, die auf Reichtum, gesellschaftlichem Ansehen und der körperlichen Suprematie über andere Männer sowie Frauen beruht und erfüllt damit die Hauptkriterien des von Stevens beschriebenen la‐ teinamerikanischen Machos. Die größte patriarchale Dividende zieht er aus seiner Zugehörigkeit zu einer sanmarianischen Wirtschaftselite und sein despektierliches, brutales Verhalten gegenüber Frauen, marginalisierten und un‐ tergeordneten Männlichkeiten ist im Rahmen seiner gesellschaftlichen Position als reichem Großgrundbesitzer und Neffe des einflussreichen Pfarrers Bergner geduldet. Reichtum und eine ausgeprägte Körperlichkeit bilden die Fundamente von Marcos‘ Männlichkeit: Lo más importante es el cuerpo; y que tenés dinero. Tenés ese cuerpo, fuerza, energía y no te sirve para nada. Para mujeres, claro, y para pelearte en Santa María. Tenés fuerza y no hacés nada que te importe con ella; esto te envenena. […] Y como tenés dinero, no estás obligado a gastar tu energía en nada. Sos generoso; pero creo que es otra forma de exhibir tu fuerza. […] Sos contradictorio porque querés eso aparte, porque tenés conciencia de que tu fuerza no te sirve para nada. Entonces, porque sos inferior a tu fuerza, inferior a los que a primera vista podrías ser, por eso resultas débil. (JC 497) 186 4 This is a man’s world <?page no="187"?> Allerdings, so deutet Jorge Marcos‘ Männlichkeit, fehle dieser ein Ziel. Santa María könne Marcos keine Perspektive bieten: „Entonces, tenés que vivir pi‐ diendo más. Y en Santa María no hay más.“ ( JC 497) Nachdem das Phalanstère, in dem Marcos geistige Führungs-, Planungs- und Lenkungsaufgaben über‐ nommen hätte, gescheitert sei, würden sowohl Reichtum als auch Marcos‘ un‐ verhältnismäßige Physis nichtig. Sein Körper werde vom Verbündeten zum Gegner. Durch übermäßigen Alkoholkonsum, der ursprünglich Marcos‘ Supre‐ matie in homosozialen Kontexten, vor allem der Bar, bedingte, degeneriert seine Physis und ohne die nötige institutionelle Einbettung in die Ehe, bleibt auch seine sexuelle Potenz ohne Zeugnis. Das heißt, Marcos zeugt keine Nach‐ kommen und stirbt als noch junger Mann: „[H]abía muerto seis meses atrás, después de comida y alcohol, encima de una mujer.“ ( NR o 186) Augusto Goerdel Anders als Marcos Bergner, der qua Genealogie zur männlichen Elite Santa Ma‐ rías zählt - oder der zumindest von seiner engen Beziehung zu Antón Bergner von deren Macht profitiert, stammt Augusto Goerdel aus armen Verhältnissen. Er erwirtschaftet sich seinen monetären Reichtum mit Unterstützung des Pfar‐ rers. Gesellschaftliches Ansehen bringt ihm sein Reichtum jedoch nicht ein. Goerdel ist neben Díaz Grey, Pfarrer Bergner und Jorge Malabia einer der vier männlichen Protagonisten, die in La muerte y la niña (1973) die Schuld an Helga Hausers Tod diskutieren und neben Jorges Vater die einzige Männerfigur in‐ nerhalb der Metafiktion, die tatsächlich biologischer Vater ist. Exemplarisch wird damit über die Figur des Augusto Goerdel das Spannungsfeld christlicher Reproduktionsdogmatik abgebildet. So ist Goerdel einerseits selbst Vater meh‐ rerer Kinder, andererseits versucht er seinen reproduktiven Anteil an der töd‐ lichen Schwangerschaft seiner Frau, d. h. die Vaterschaft für das ungeborene Kind, abzustreiten. Ob er nun tatsächlich für die Schwangerschaft, an der Helga Hauser starb, mitverantwortlich ist, spielt jedoch nur eine marginale Rolle, da allein Goerdels Ansage, sich dem christlichen Fortpflanzungsgebot zu unter‐ werfen und sich damit dem ärztlichen Verbot zu widersetzen, ihn als potentiellen Vater in Frage kommen lässt. Es geht also vielmehr um die Tatsache, dass Goerdel ankündigte, den Tod seiner Frau in Kauf zu nehmen, um seine Rolle im göttlichen Schöpfungsplan zu erfüllen und darüber hinaus seine Machtposition als pater familias weiter auszubauen. Gleichzeitig folgt Goerdel damit der Logik einer nach Fuller hegemonialen Männlichkeit, laut der die Zeugung von ehelich legitimierten Nachkommen als höchster Beweis erwachsener Virilität gilt. Goerdel wird jedoch nicht nur als Vaterfigur dargestellt, sondern tritt auch in seiner Beziehung zu Pfarrer Bergner als Sohn in Erscheinung, d. h. für die 187 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="188"?> 408 Johannes Schmidt hieß auch ein ehemaliger Präses der Freien Evangelischen Kirche Deutschlands. Die Website des Bundes Freier Evangelischer Gemeinden Deutschlands listet ihn als Präses der FeG in der DDR, 1975-1990. (Cf. https: / / feg.de/ wir-bieten/ bund esbereiche/ praeses/ , 22. 07. 2019) Weitere Hinweise darauf, dass es eine historische Figur namens Johannes Schmidt in der DDR gab, die zwar nicht als katholischer Priester, wie in La muerte y la niña (1973), aber doch als evangelischer Geistlicher in der DDR tätig war, finden sich in folgenden Publikationen: Johannes Schmidt: Herr, wohin sollen wir gehen? Lebenserinnerungen des letzten Bundesvorstehers der FEGs in der DDR (2008); Lothar Beaupain: Eine Freikirche sucht ihren Weg (2001). Darstellung der spezifischen Männlichkeit, die Goerdel repräsentiert, ist das gegenseitige homosoziale Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihm und Pfarrer Bergner konstitutiv. Bergner und Goerdel bilden ein eingeschworenes Team, das überlegt und strategisch vorgeht, wobei beide Parteien stets den eigenen Vorteil im Auge behalten: Goerdel den sozialen Aufstieg und Bergner den Machtausbau der katholischen Kirche in Santa María. Beide Ziele basieren auf einer ökono‐ mischen Maxime. So wie Bergner den Kreuzzug gegen das Bordell in Juntaca‐ dáveres (1964) qua Einfluss seines Amtes und Gewicht seiner Worte als Pfarrer, sowie durchdachter Denunziation und öffentlicher Propaganda-Auftritte ge‐ wonnen hat, so agiert auch Goerdel. Er handelt mit strategischem Gespür, Wissen über die Lebensumstände der Sanmarianer*innen sowie einer Zähigkeit, die ihn Jahre nach dem Tod seiner Frau nach Santa María zurückkehren lässt, um eine öffentliche Kampagne zum Beweis der eigenen Unschuld zu initiieren. In keiner Beschreibung erscheint Goerdel als physisch gewalttätig, und als ihm während der Totenwache für Helga Hauser körperliche Gewalt von deren Bruder und Jorge Malabia angedroht wird, flieht er aus Santa María. Goerdels Männlichkeit steht damit konträr zu der Marcos Bergners, den Pfarrer Bergner ebenfalls wie einen Sohn behandelt. Während Marcos im Falle einer Entschei‐ dung gemäß der Dichotomie ‚flight or fight‘ immer für den Kampf, das direkte körperliche Kräftemessen optiert, sucht Goerdel sein Heil in der Flucht. Seine stärkste Waffe in homosozialen Auseinandersetzungen ist sein Verstand. So schmäht er seine sanmarianischen Gegner in Form eines Briefes an den Leiter der Bibliotheken der ehemaligen DDR , wohin er sich als katholischer Priester unter dem Namen Johannes Schmidt geflüchtet hat. 408 Er bezeichnet die San‐ marianer darin als überheblich, machtbesessen und durchweg machistisch: Obviamente, lo que quieren es solamente el poder, para sentirse poderosos. Pura va‐ nidad. Puro ejercicio del ‚Machismo‘, la enfermedad sui generis de América Latina, todo sexualmente arraigado, y muy primitivo. Al nivel de las sociedades más primi‐ tivas de la selva. Los estudiantes universitarios son un asco. Tienen envidia de la 188 4 This is a man’s world <?page no="189"?> Primera Dama porque ella tiene 18 hijos. […] todo lo que sea sanmariano es superior a los demás. Y ni siquiera existen en la América Latina. (MN 624) In dem zitierten Ausschnitt definiert Goerdel / Schmidt Machismo als spezifisch lateinamerikanische ‚Krankheit‘, die sich in einer Überbetonung alles Sexuellen und damit auch in einer Emphase der biologischen Reproduktion manifestiert, wie die beachtliche Zahl von 18 Nachkommen der Primera Dama belege. In einem rassistischen Nachsatz schreibt er diese Charakteristika primitiven Ur‐ waldgesellschaften zu. Allerdings assoziiert er die Kinderschar nicht mit einem männlichen Familien- oder Staatsoberhaupt, sondern einer Primera Dama. Das heißt, Santa María ist in Goerdels / Schmidts Beschreibung ein Matriarchat. Auf die Spitze treibt er seinen Spott mit dem abschließenden Verweis auf die Inexis‐ tenz der Sanmarianer, d. h. ihren metafiktiven Charakter. Eine Kopie dieses wirren Beleidigungsbriefes überreicht er Jorge Malabia. Goerdels / Schmidts Konfliktverhalten in homosozialen Kontexten erinnert damit an das von Pfarrer Bergner und insbesondere an dessen Kreuzzug gegen die Prostitution in Santa María. Wie der Pfarrer, so versucht auch Goerdel / Schmidt seinen Einfluss über die öffentlich geäußerte Rede geltend zu machen, und nicht, wie etwa Marcos in Juntacadáveres (1964) - oder später auch Jorge Malabia in La muerte y la niña (1973) - über Androhung oder Ausübung physischer Gewalt. Goerdel profitiert damit von einem hegemonial männlichen System, dessen Machtpraktiken nicht physisch gegen den Körper gerichtet sind, sondern diesen diskursiv adressieren und reglementieren. Die Macht der Worte und der öffentlichen Rede steht hie‐ rarchisch damit über der physischen Machtausübung, die sich etwa in der von Marcos (oder Ernesto) praktizierten Anwendung des Rechts des Stärkeren - sei es durch psychische Einschüchterung oder auch durch physische Gewaltan‐ wendung - manifestiert. Die Malabias Hier soll bewusst von ‚den Malabias‘ die Rede sein, denn während ein Großteil der männlichen Figuren den Leser*innen über einen eigenen Rufnamen bekannt ist, wird Jorges Vater nur als Vater von … beschrieben und definiert sich selbst dadurch immer in Abhängigkeit zu seinem eigenen Vater - auch einem Malabia. Damit steht er symbolisch für die patriarchal organisierte Genealogie der Ma‐ labias. Er ist in zweiter Generation Herausgeber der sanmarianischen Tageszei‐ tung El Liberal, d. h. er hat das Unternehmen bereits von seinem Vater, Jorges Großvater übernommen. Federico, der älteste Sohn und potentielle Nachfolger hatte das verlegerische Erbe ausgeschlagen, stattdessen Julita geheiratet und in der Landwirtschaft, d. h. körperlich, gearbeitet: „[…] Federico dejó la administ‐ ración del diario y dijo que quería casarse y trabajar en el campo.“ ( JC 519) Mit 189 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="190"?> 409 Dass diese diskursive Macht mitunter auch von anderen Männern unterlaufen wird, zeigt sich in La muerte y la niña (1973). Jorge führt darin als Nachfolger seines Vaters die örtliche Tageszeitung, in der er auf Bitten Augusto Goerdels dessen Version von der der Weigerung, als Erstgeborener das (groß)väterliche Erbe weiterzuführen, stellte sich Federico gegen die Familientradition: […] Federico era el primogénito, debía encajar en la tradición periodística de los Ma‐ labia, escribir editoriales sobre el precio del girasol y sobre Santa María, baluarte de las más puras tradiciones, y Santa María, audaz abanderada del progreso. (JC 519) Als zukünftiger Leitartikelschreiber hätte Federico demnach nicht nur die Auf‐ gabe gehabt, über Lebensmittelpreise zu informieren, sondern auch die Ver‐ pflichtung, Santa María in der Presse als Stadt darzustellen, die den Traditionen verbunden und gleichzeitig hochfortschrittlich ist. Dass sich Federico dieser ge‐ nealogischen wie ‚vaterländischen‘ Verpflichtung entzieht, gilt als familienin‐ ternes Sakrileg und führt zur sozialen Liquidation. Die angeordnete Trauer‐ woche nimmt bereits Federicos tatsächlichen Tod vorweg, denn durch einen Unfall auf dem Feld stirbt er kurz darauf tatsächlich. Jorge erinnert sich: „Así que él, mi padre, decretó una semana de duelo, añoranza y desagravio, en home‐ naje al abuelo y a él mismo, el continuador.“ ( JC 519) Sein Tod restituiert damit die verweigerte Fortführung der verlegerischen Genealogie und Jorge soll als Zweitgeborener nun diese männliche Familientradition des Zeitungsmachens eines Tages fortsetzen. In einem abendlichen Gespräch bereitet ihn sein Vater darauf vor: Espero dejarte una empresa, El Liberal, un diario que, hay que decirlo, es un título de orgullo para la ciudad y fuera de la ciudad. Y no es por obra mía; lo encontré todo hecho, me limité a interpretar una voluntad, una sabiduría ajenas. Tal vez tú puedas con otra educación, hijo de otra época … (JC 519) Wie schon in obigem Zitat über die Verpflichtungen des Leitartikel-Schreibers, verweist auch dieses Zitat auf die enge Verbindung der Malabias mit Santa María. So wie sich einerseits die Zeitung dem Städtelob verpflichtet sieht und dadurch diskursive Macht ausübt, so gilt El Liberal als Aushängeschild eben dieser Stadt. Die starke Wechselwirkung zwischen Presse / Familie Malabia und Stadt vermittelt den Eindruck eines in sich geschlossenen, sich gegenseitig ver‐ stärkenden patriarchalen Diskurses, der auch eine spezifische Männlichkeit be‐ fördert. Jorges Vater erklärt daher: „[…] yo […] podría ser feliz si me quitaran todo. Todo menos ustedes dos [Ehefrau und Sohn, eig. Anmk.] y una máquina de escribir.“ ( JC 520) Bis auf seine Familie und seine Schreibmaschine könne er auf alles verzichten - und er bliebe dabei immer noch glücklich. 409 Diese Em‐ 190 4 This is a man’s world <?page no="191"?> Schuld am Tod seiner Frau Helga Hauser abdrucken und damit Goerdels Ruf rehabili‐ tieren soll. Da Jorge Malabia sich weigert, an Goerdels öffentlicher Rehabilitation mit‐ zuwirken, speist dieser seine Version der Ereignisse in die ‚stille Post‘ Santa Marías ein und unterläuft damit Jorges diskursive Macht als Herausgeber der Tagespresse. phase von Familie einerseits und andererseits von Schreiben als Berufung, was auch als Machtinstrument im gesellschaftlichen Diskurs interpretiert werden kann, skizziert eine Männlichkeit, die sich zwar über das Zeugen von Nach‐ kommen definiert, gleichzeitig jedoch keiner körperlichen Brutalität und Un‐ terwerfungsmechanismen bedarf. Die Machtposition des Vaters innerhalb der Familie generiert sich vielmehr über Sprache und biologische Bande. Oder an‐ ders gewendet: Jorges Vater steht einerseits als pater familias dem Inneren des Hauses vor, andererseits reüssiert er in der Öffentlichkeit über die erfolgreiche Ausübung seines Berufs - und erfüllt damit das Bild der von Fuller gezeichneten lateinamerikanischen hegemonialen Männlichkeit. So reiht sich auch Jorge in die männliche Genealogie der Malabias ein: „Yo vengo de él, de ese cuerpo, de ese andar, de las cosas en que cree, del movimiento con que se mete las manos en los bolsillos del pantalón y se acaricia, sopesa, la barriga.“ ( JC 519) Obwohl die Mutter während des Gesprächs mit am Tisch sitzt, schweigend und strickend, wie in Kapitel 5 noch weiter auszuführen sein wird, leitet Jorge seine Abstammung ausschließlich über den väterlichen Teil ab. Er beruft sich nicht nur auf ererbte oder übernommene Gesten und Bewegungs‐ abläufe des Vaters, sondern bezieht sich explizit auf den männlichen Körper als genuinen Abstammungsort. Der weibliche Körper mit seinen reproduktiven Fähigkeiten des Austragens, Gebärens, und Nährens wird negiert. Die Emphase liegt damit nicht nur auf der immateriellen, symbolischen Funktion von Vater‐ schaft, sondern schreibt ihr auch eine reproduktive Körperlichkeit zu. Durch die Weitergabe der eigenen Gene, d. h. der körperlichen Komponente, einerseits und andererseits des immateriellen Lebenswerks, d. h. des Zeitungsverlags, wird Jorges Vater unsterblich: „-Heredarás algún dinero -vuelve a decir mi padre; […] quiero expresar que […] mi padre es inmortal. […] -Te dejaré … […].“ ( JC 518 sq., eig. Hervorh.) Die Männlichkeit, die über die Semantiken der <Unsterblichkeit>, des <Hin‐ terlassens> und <Überdauerns> konstituiert wird, basiert auf der genealogi‐ schen Ordnung der Familie. Der pater familias bildet das Oberhaupt, wobei die Sprache allein den männlichen Mitgliedern als Machtinstrument dient. Weib‐ liche Mitglieder, d. h. Jorges Mutter, schweigen. Im Falle der Malabias ist die familiäre Genealogie an eine Firmengenealogie und in diesem Sinn an die Wei‐ tergabe diskursiver Macht innerhalb Santa Marías gebunden. Temporär wird diese Ordnung durch Federicos Entscheidung den Verlag zu verlassen, gestört. 191 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="192"?> Durch seinen Tod findet jedoch letztlich eine Restitution der familiär-patriar‐ chalen Ordnung statt. Medina Die letzte Männerfigur, die in diesem Kontext untersucht werden soll, ist Me‐ dina. Als Kommissar tritt er bereits in La vida breve (1950) kurz in Erscheinung, in Juntacadáveres (1964) führt er den Befehl des Gouverneurs zur Schließung des Bordells aus und überwacht die Abreise Junta Larsens und seiner drei Pros‐ tituierten. In beiden Romanen tritt er jedoch nur marginal in Erscheinung, seinen großen Auftritt hat er erst in Dejemos hablar al viento (1979) - im ersten Teil als autodiegetischer Erzähler, im zweiten Teil als korrupter Kommissar in einem heruntergekommenen Santa María. Medina übt in Lavanda, im ersten Teil des Romans, unterschiedliche Berufe und Aufgaben aus, mit denen auch jeweils spezifische Darstellungen von Männlichkeit verbunden sind. Innerhalb Santa Marías bleibt seine Funktion jedoch gleich, denn dort arbeitet Medina in allen Erzählungen als Kommissar - sowohl vor seinem Gang ins als auch nach seiner Rückkehr aus dem Lavandischen Exil. Es soll im Folgenden also nachgezeichnet werden, welche Männlichkeit Medina als Kommissar verkörpert beziehungs‐ weise an welchen Vorstellungen von Männlichkeit er sich orientiert. Der Wirt Barrientos beschreibt Medina in Dejemos hablar al viento (1979) als jovial, alt und gleichzeitig jung geblieben, wobei sich letzteres insbesondere auf sein un‐ natürlich schwarzes Haar bezieht, das auch als intratextuelle Referenz auf die Beschreibung Ernestos aus La vida breve (1950) gelesen werden kann. Medina erscheint in Barrientos‘ Wahrnehmung als „joven y viejo“, er ist von großer Statur („largo cuerpo“ DV 778), und sein Haar ist „duro, corto y renegrido […], anacrónicamente joven e invencible“ ( DV 773). Ernestos Haar wird in La vida breve (1950) mit „retinto“ ( VB 510) beschrieben, er selbst als jung und großge‐ wachsen. Außerdem erwähnt die Beschreibung Ernestos „blancura“ ( VB 511). Medina wird ebenfalls als „blanco“ ( DV 777) bezeichnet. Auch bezüglich seines Verhaltens gegenüber anderen Personen weist Medinas Parallelen zu Ernesto auf. Beide verhalten sich auffällig brutal sowohl gegenüber anderen Männern als auch gegenüber Frauen. Allerdings wird Gewalt in heterosexuellen Kon‐ texten kaum in direkten Schilderungen wiedergegeben, innerhalb homosozialer Kontexte indes schon. Die Darstellung von Gewalt von Männern gegen Frauen erfolgt überwiegend in der Schilderung potentieller Szenarien, die gleichwohl eine verheerende Wirkung auf die betroffenen Frauen ausüben, wie bereits an den Beispielen Quecas oder Ana Marías dargelegt wurde. Detailliert gibt der Text indes Medinas brutale Machtdemonstration gegenüber Julián Seoane wieder. So schlägt er ihn, kurz bevor er nach einem Besuch dessen herunterge‐ 192 4 This is a man’s world <?page no="193"?> 410 Dieser Vorfall wird zum Auslöser für Friedas Rache, die unterschiedlichen, teils demü‐ tigenden „trabajos y […] castigos“ (DV 641), die sie sich für Medina im ersten Teil von Dejemos hablar al viento (1979) ausdenkt. kommene Kammer verlässt, ohne Ankündigung und wortlos nieder: „Todavía esperó un momento: después, sin mover el cuerpo, golpeó con el puño la man‐ díbula alzada del muchacho, oyó el ruido y vio caer despatarrado y quieto.“ ( DV 783) Der Schlag ist ein unerwarteter, unangekündigter Gewaltausbruch, er dient allein der Demonstration von Medinas Macht. Während Ernesto ausschließlich auf seine körperliche Überlegenheit bauen kann, um sich in der sozialen Hie‐ rarchie des Lumpenproletariats möglichst weit oben zu platzieren, wendet Me‐ dina physische Gewalt ausschließlich in privaten Kontexten an. Sein sozialer Status wird maßgeblich durch sein Amt als Kommissar geprägt - wobei er diesen Status mitunter wieder für sein Privatleben missbraucht. So etwa in der Kon‐ kurrenz mit der bisexuellen Frieda um eine junge Frau, die beide begehrten. Medina erinnert sich: Ella y yo preferíamos acostarnos con mujeres y alguna noche sin recuerdo chocamos en Santa María y yo no gané por merecerlo sino porque la mujercita en juego tuvo más miedo de carnet de comisario que avidez por lo que ella, Frieda, le estaba ofre‐ ciendo en el restaurante de la costa […]. (DV 641) Eingeschüchtert von der Amtsgewalt, die von Medinas Polizeiausweis ausgeht, ‚entscheidet‘ sich die Frau an diesem Abend für Medina und gegen Frieda. 410 Medinas Verhalten gegenüber Frauen zeigt sich demnach als eigennützig und besitzergreifend. Seinen Urlaub etwa beginnt er mit einer Prostituierten, die er sich in einem Café ‚aussucht‘: „Entró en un par de cafetines y eligió en el segundo una mujer flaca que le sonreía desde el mostrador […].“ ( DV 829) Die Frau exis‐ tiert damit allein als Ware, was durch die Ellipse des ‚a‘, das im Spanischen für die grammatische Objektivierung von Personen steht, verstärkt wird. Medinas Bestechlichkeit kursiert indes als offenes Geheimnis in Santa María. Im Gegenzug dafür, dass er die geschmuggelten Flaschen in Barrientos‘ Spe‐ lunke ignoriert, trinkt er dort ohne zu bezahlen: „Después de servir, Medina se inclinó para mirar la etiqueta y la acarició con la uña. -Para mí es gratis. ¿Pero vale la pena el riesgo? “ ( DV 773 sq.) Die Flasche ohne gültige Zollmarkierung reicht Barrientos ihm jedoch nur auf explizite Nachfrage, denn als Medina die Schmuggelware an einem der Tische entdeckt, verlangt er nach eben dieser Fla‐ sche. Durch das genüssliche Betrachten des unverzollten Etiketts demonstriert Medina sein Wissen um die illegalen Geschäfte und damit seine exekutive Machtposition gegenüber Barrientos. Denn qua seines Amtes könnte Medina Barrientos wegen Schmuggels belangen. Stattdessen nutzt er seine Position, um 193 4.3 Männlichkeiten bei Onetti <?page no="194"?> 411 Julián Seoane ist der Sohn, den Medina bei dessen Geburt vor Gericht verleugnete. Die Beziehung zwischen Julián Seoane und Medina wird in Kapitel 5.3 in Zusammenhang mit der Mutter, María Seoane, noch einmal detaillierter geschildert. sich bestechen zu lassen. Auch von der Gegenseite, sprich den Schmugglern, lässt er sich bezahlen. So fragt Julián nach einer Flasche, die er in Medinas Fe‐ rienhaus findet: „¿Es la misma que Barrientos compra de contrabando y vende en el mercado? -La misma -dijo Medina […]. -Pero yo no la pago.“ ( DV 804) Die Macht, die ihm sein Beruf in Santa María verschafft, verschafft ihm eine Aura der Überheblichkeit. „[D]ebe sentirse Dios“ ( DV 772), vermutet Barrientos entsprechend und Julián Seoane spottet: „El comisario que quiso ser Dios.“ ( DV 801) Als Kommissar besitzt er die amtliche Befugnis, jede*n in Santa María, je‐ derzeit zu kontrollieren, wie Barrientos feststellt: „[E]s sabido; usted es el co‐ misario y puede venir aunque no lo inviten.“ ( DV 795) Das heißt, als Kommissar hat er Zugang zu allen Orten der Stadt. Sein Dienstausweis verschafft ihm eine gesellschaftliche Machtposition, die nur von Díaz Grey und dem Richter, also zwei weiteren Versionen Brausens, überboten wird. Medinas Männlichkeit manifestiert sich außerdem in seinem Wunsch, Vater zu sein. Nachdem er Julián, seinen ‚potentiellen Sohn‘ 411 , in der ganzen Stadt gesucht und schließlich gefunden hat, nimmt er ihn mit in sein Wochenendhaus, um ihn dort von seiner Drogensucht und seiner Hörigkeit zu Frieda zu kurieren. Die Pistole, die Julián ihm gestohlen hat, nur um sich damit sicher zu fühlen, holt er sich zurück. Als Ersatz schlägt er vor, ihm eine Spielzeugpistole zu be‐ sorgen: „Era la seguridad […]. Era como un seguro de vida, un seguro de muerte. Me bastaba con verla y tocarla; nunca podría irme del todo mal. -Eso no -dijo Medina. Pero puedo conseguirte otra. De juguete.“ ( DV 804, eig. Hervorh.) Gleichzeitig weist er ihn darauf hin, dass sein Raub durch die aktuelle Inflation nichts mehr wert und die ganze Aktion damit nicht mehr als eine Kinderei sei: „-La inflación como elemento deformador de la tragedia -dijo Medina boste‐ zando […] Convierte tu robo en una simple travesura infantil.“ ( DV 806, eig. Hervorh.) Julián für seinen Teil gibt sich von Medinas Erziehungsvorträgen mehr genervt als er dessen körperliche Züchtigung fürchtet: „No tengo miedo a los golpes. […] No. Tengo miedo a los sermones.“ ( DV 798) Seoane benimmt sich damit wie ein pubertierender Sohn, gleichzeitig nennt er Medina ironisch Kommissar: „-No más sermones, habías prometido, comisario -dijo por fin-. Me voy a la cama. No voy a escuchar más que un último sermón.“ ( DV 806) Die beiden beschriebenen Szenen verdeutlichen die Eltern-Kind-Hierarchie, die beide durch ihr jeweiliges Verhalten generieren. Medina lässt Seoane durch dessen Infantilisierung spüren, dass er ihm unterlegen ist, Seoane benimmt sich trotzig-pubertär, indem er Medinas Belehrungen zurückweist, außerdem wird 194 4 This is a man’s world <?page no="195"?> diskursive über körperliche Gewalt gestellt. Die konfliktive Vater-Sohn-Bezie‐ hung konstituiert sich, ähnlich wie die zwischen Pfarrer Bergner und Goerdel, nicht über genealogische Bande, sondern rein diskursiv und insbesondere über die Figur der wechselseitigen Lüge: ‘¿Cuál es la mentira entre él y yo‘, pensaba Medina, ‚lo que me obliga a seguir quer‐ iéndolo y a intentar imponerle una felicidad distinta a la que disfruta ahora […]? […].‘ Y tal vez el muchacho hubiera pensado en lo mismo. (DV 807) Keiner von beiden weiß schlussendlich, ob sie biologisch miteinander verwandt sind, durch die wechselseitige Lüge, ein so-tun-als-ob, agieren sie jedoch wie Vater und Sohn. Zusätzlich imaginiert Medina unterschiedliche Kindheiten für seinen poten‐ tiellen Sohn. Medinas selbst gewählte Vaterrolle (sowohl in Bezug auf einen imaginären als auch in Bezug auf einen metafiktiv-realen Sohn) stellt sich damit stark konfliktbehaftet und dysfunktional dar. 4.4 Zwischenresümee: Männlichkeit / en zwischen Reproduktions- und Imaginationspotenz In einem ersten Schritt wurde die poetologische Genese der Metafiktion in Bezug auf eine fiktive männliche Autorfigur untersucht. Es konnte herausge‐ arbeitet werden, dass sich der männlich dominierte Diskursraum Santa María in doppelter Hinsicht über den männlichen Blick Juan María Brausens konsti‐ tuiert. Die Doppelung besteht einerseits aus Brausens fictioformativem Blick, über den er die Topographie Santa Marías entwickelt. Im Zentrum dieses me‐ tafiktionalen Schaffensprozesses steht Díaz Grey, ein Alter Ego Brausens. Der gesamte Diskursraum ist durch dieses männliche Gründungsnarrativ bereits entsprechend konnotiert. Andererseits richtet sich Brausens Blick auf den wei‐ blichen Körper. Die daraus abgeleitete Normierung setzt indirekt die Handlung der Metafiktion in Gang. Der (aus Brausens Perspektive versehrte) weibliche Körper wird damit zum indirekt narrationsauslösenden Moment. Auf diegetischer Ebene wurde die Konstruktion verschiedener Männlich‐ keiten sowie deren strukturelles Zusammenspiel untersucht. Grundlegend dafür waren die Untersuchungsergebnisse Archettis, Fullers, Potthasts und Stevens‘, die für den lateinamerikanischen Kulturraum eine am Machismo orientierte Männlichkeit als hegemonial herausarbeiteten. Gesellschaftliches Ansehen und eine eigene Familie, d. h. die Zeugung von Nachkommen, sind grundlegend für diese Männlichkeit, die keine der Onetti’schen Figuren auf der Ebene der Ur‐ 195 4.4 Zwischenresümee <?page no="196"?> sprungsfiktion verkörpert. So weist die Figur des Macleod durch seinen beruf‐ lichen und sozialen Erfolg in seiner männlich homosozialen Peergroup, d. h. sein gesellschaftliches Ansehen im außerhäuslichen Bereich, noch die meisten Über‐ schneidungen mit der von Fuller beschriebenen lateinamerikanischen hegemo‐ nialen Männlichkeit auf. Oberhaupt einer eigenen Familie ist jedoch auch Mac‐ leod nicht. Macleod reiht sich damit in die narrative ‚Männlichkeits-Logik‘ La vida breves (1950) ein: diese ist von einer Absenz von Vaterfiguren und der Ab‐ wesenheit familiärer Systeme gekennzeichnet. So treten Julio Stein und Brausen / Arce nicht als Väter, sondern als Söhne in Erscheinung - allerdings auch hier nicht in Beziehung zu einer potenten Vaterfigur, sondern in Bezug auf eine Mutterfigur. Diese Beobachtung wird aus Sicht der entsprechenden Frau‐ enfiguren im fünften Kapitel noch weiter ausgeführt. Biopolitisch lässt sich diese augenscheinliche Absenz jedoch bereits als Verweis auf ausbleibende Repro‐ duktion interpretieren, d. h. die analysierten Männlichkeiten sind allesamt nicht auf gesellschaftlichen Fortbestand ausgelegt. Männliche Dominanz und Sexua‐ lität sind folglich nicht zukunftsorientiert, sondern werden stattdessen einer kurzfristigen kapitalistischen Logik untergeordnet (Macleod) oder verlieren sich in der Aushandlung männlicher Identitätskonflikte (Brausen) und sozialer Hie‐ rarchien (Ernesto) sowie der Erfüllung narzisstischer Bedürfnisse (Stein). Von einer Komplizenschaft mit der hegemonialen Männlichkeit profitieren indes alle untersuchten Männerfiguren. Sie alle haben in unterschiedlich starker Ausprägung an dem System der Unterordnung und Ausbeutung teil, die das patriarchale Muster festschreibt: Macleod beutet die wirtschaftliche Arbeits‐ kraft anderer Männer (Brausen, Stein) aus, Stein befriedigt seine Libido durch zahlreiche Affären sowie Bordellbesuche. Stein profitiert damit von der Tat‐ sache, dass zahlreiche heterosexuelle Kontakte als Beweis von Virilität und damit als Statussymbol innerhalb dieser patriarchalen Logik verstanden werden - wenngleich dies vor allem für den adoleszenten Mann gilt. Ebenso profitieren Brausen und Ernesto von Quecas sexueller Unterwürfigkeit und Verfügbarkeit. Ernestos Männlichkeit erfährt durch seine Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozialen Klasse eine grundsätzliche Marginalisierung und auch Steins jüdische Abstammung bewirkt, dass er marginalisiert wird. Brausen indes scheitert in La vida breve (1950) gleich in dreifacher Hinsicht an den Erfolgskriterien der hegemonialen Männlichkeit: Zum einen zeugt er keine Nachkommen und wird überdies von seiner Ehefrau verlassen, d. h. er hat durch seine Heirat zwar den Schritt zum Erwachsenwerden unternommen, schafft es jedoch nicht, eine ei‐ gene Familie zu gründen. Zum anderen scheitert er im Bereich des Öffentlichen, sowohl beruflich (durch seine Kündigung) als auch innerhalb seiner homoso- 196 4 This is a man’s world <?page no="197"?> zialen Peergroup (durch Askese). Brausens Männlichkeit nimmt damit innerhalb der Ursprungsfiktion eine untergeordnete Rolle in Bezug auf die hegemoniale Männlichkeit ein. Allerdings verändert sich Brausens Männlichkeit im Laufe des Romans. Seine Libido wird in La vida breve (1950) auf diegetischer Ebene durch den Anblick von Gertrudis amputierter Brust eingeschränkt und verlagert sich auf die dis‐ kursive Ebene. Absente biologische Vaterschaft wird demnach durch künstler‐ ische Vaterschaft substituiert. So reflektiert Brausen über die metafiktiven Be‐ wohner*innen Santa Marías: „Todos eran míos, nacidos de mí […].“ ( VB 687, eig. Hervorh.) Diese Verlagerung korrespondiert wiederum mit der christlichen Re‐ ferenz, die der von Brausen (! ) gewählte Name Santa María bezüglich eines christlichen Geschlechterverhältnisses aufruft: Frauen gebären, Männer kre‐ ieren. Die Imaginationspotenz spiegelt sich im christlichen Glauben an männlich symbolisch-kreative Fähigkeiten wider, die körperreflexiven Praktiken des Ge‐ bärens, Nährens und Aufziehens sind in der christlichen Symbolik hingegen der weiblichen Mutterfigur zugeordnet. Werden beide Fähigkeits- und Tätigkeits‐ felder nun in eine hierarchische Beziehung zueinander gesetzt und auf das Ge‐ schlechterverhältnis innerhalb Santa Marías bezogen, zeigt sich, dass darin die geistige Schöpfung die kreatürliche Reproduktion dominiert; denn Santa María wurde nicht von einem Stammvater und einer Stammmutter über das gemein‐ same Zeugen und Gebären von Nachkommen gegründet, sondern von einer männlichen Figur erdacht. In diesem Sinne dominiert in der Metafiktion auch nicht die auf beruflichen Erfolg, biologische Reproduktion und kontinuierlichen Beweis der eigenen Zeugungspotenz angelegte, am Machismo orientierte hege‐ moniale Männlichkeit der Ursprungsfiktion, sondern die einer qua Diskurs als hegemonial konstituierte Männlichkeit, wie sie Brausen als Schöpfergott sowie Díaz Grey in seiner Funktion als Erzähler repräsentieren. Aus dieser christlichen Assoziation in Verbindung mit der Männlichkeit, die Díaz Grey, Brausens Alter Ego und normativer Nullpunkt der Metafiktion, ver‐ körpert, ließ sich in der weiteren Analyse die hegemoniale Männlichkeit inner‐ halb Santa Marías weiter spezifizieren. Deren Hauptmerkmale sind symbo‐ lisch-geistige Vaterschaft und damit diskursive Suprematie, ökonomische Potenz sowie die Unterordnung der Frau bzw. deren Reduzierung auf ihren Körper. Lüge, Gewalt und Korruption gelten innerhalb des Diskursraums Santa María als anerkannte Mechanismen zur Behauptung der eigenen gesellschaft‐ lichen und sozialen Machtposition. Von letztgenanntem Punkt profitiert, im Sinne der patriarchalen Dividende, vor allem Medina als korrupter Kommissar in Dejemos hablar al viento (1979): Er nutzt seine gesellschaftliche Machtposition als oberster Ordnungshüter Santa 197 4.4 Zwischenresümee <?page no="198"?> Marías, um sich sexuelle Vorteile oder kostenlosen Alkohol zu beschafften. Eine erfundene Vaterschaft zieht er zudem einer biologischen und den damit einher‐ gehenden Verpflichtungen gegenüber der Kindsmutter vor. Dieser Teil der sanmarianischen hegemonialen Männlichkeit, die ihre Schöp‐ fungspotenz nicht durch biologische, sondern durch geistige Vaterschaft affir‐ miert, wird auch von Pfarrer Antón Bergner erfüllt. Allerdings beruht dessen Kinderlosigkeit auf dem katholischen Zölibat, der ihn als geistliches Oberhaupt Santa Marías allein aufgrund seines Amtes der Pflicht zur Erfüllung des göttli‐ chen Schöpfungsplans und damit der biologischen Reproduktion enthebt. So‐ wohl Medina als auch Pfarrer Bergner werden in den untersuchten Texten teils als Komplizen, teils als Gegenspieler Díaz Greys dargestellt - in jedem Fall ran‐ gieren sie jedoch in derselben sozialen Klasse wie Díaz Grey. Zu Diskrepanzen zwischen Arzt und Pfarrer kommt es in La muerte y la niña (1973). Der Disput entzündet sich am Tod Helga Hausers und dem christlichen Fortpflanzungs‐ gebot, das der tödlichen Schwangerschaft vorausgeht. Wenn sich hegemoniale Männlichkeit in derart starkem Maße wie be‐ schrieben über symbolische Vaterschaft definiert, wird die Gründung einer ei‐ genen Familie zum Merkmal sozial untergeordneter Männlichkeit. So beruht Augusto Goerdels Männlichkeit auf den Prinzipien verwirklichter Vaterschaft, d. h. der Gründung einer Familie, sowie selbst erarbeitetem Reichtum. Dass sein gesellschaftliches Ansehen trotz seines beruflichen Erfolgs und des damit ver‐ bundenen pekuniären Vermögens gering ist, lässt sich also einerseits auf die Tatsache, dass er eine Familie gründete und andererseits auf seine Klassenzu‐ gehörigkeit und eine starke Undurchlässigkeit innerhalb der sozialen Klassen Santa Marías zurückführen. Als Sohn armer Einwanderer und Bewohner*innen der Kolonie ist Goerdels Männlichkeit der hegemonialen Männlichkeit qua Ab‐ stammung sozial untergeordnet. Marcos Bergner repräsentiert eine Männlichkeit, die sozusagen von einer ‚Überpotenz‘ an pekuniärem und körperlichem Vermögen gekennzeichnet ist - die gleichwohl nicht in eine biologische Vaterschaft oder Familiengründung mündet. In Fullers Kategorien bliebe Marcos auch als erwachsener Mann den Männlichkeitsmustern der Adoleszenz verhaftet. Allerdings profitiert er von der Nähe zur katholischen Machtelite: Er stammt aus einer reichen Einwanderer‐ familie und ist der Neffe des angesehenen Pfarrers Bergner. Dadurch, dass die Eltern als Leerstelle im Text markiert sind, wird eine genealogische Ordnung vermieden und durch ein symbolisches Vater-Sohn-Verhältnis zu seinem Onkel ersetzt. Seine gesellschaftliche Machtposition generiert sich demnach über seine Abstammung und in direkter Konsequenz daraus über seine ererbte ökonomi‐ sche Potenz. Zwar profitiert Marcos Bergner von der Unterordnung der Frau, 198 4 This is a man’s world <?page no="199"?> welche einen Teilaspekt der hegemonialen Männlichkeit Santa Marías definiert, allerdings stehen seine Körperlichkeit und sein Reichtum in einem derartigen Missverhältnis zu seinen geistigen Optionen, dass ihm beides zur existentiellen Last wird. Die Option, sich qua seiner Imagination aus Santa María wegzu‐ denken oder sich selbst neu zu erfinden (eine diskursive Schlüsselqualifikation Brausens), ist ihm nicht gegeben. Existentiell bedrohlich wird diese geistig-dis‐ kursive Schwäche jedoch erst durch das Wissen darum. Das heißt, Marcos er‐ kennt, dass es keinen Ausweg aus der existentiellen sanmarianischen Lange‐ weile für ihn gibt. Sein körperlicher Verfall wird demnach als Dekonstruktion einer auf übermäßiger Physis beruhenden Männlichkeit lesbar. Wie hoch der gesellschaftliche Stellenwert geistiger Fähigkeiten ist, zeigt auch der Fall von Jorges Vater, dessen Männlichkeit sich über zwei grundlegende Aspekte generiert: Einerseits über seinen Platz innerhalb einer männlichen Ge‐ nealogie, d. h. als Vater und als Sohn; andererseits über den gesellschaftlichen Einfluss, den ererbtes Vermögen und sein Beruf als Verleger ihm innerhalb Santa Marías garantieren. Die gesellschaftliche Anerkennung, die ihm aufgrund geis‐ tiger Fähigkeiten zukommt, basiert auf dem hohen Wert, der diesen innerhalb des metafiktionalen patriarchalen Systems zugeschrieben wird. Familie und Va‐ terschaft bewirken indes das Gegenteil. Sie ziehen eine Abwertung seiner Männlichkeit gegenüber der hegemonialen Männlichkeit nach sich. Generell lässt sich also festhalten, dass biologische Reproduktion innerhalb des sanmarianischen Männlichkeitsdiskurses in zweifacher Hinsicht unterge‐ ordnet wird: einerseits auf Ebene des Geschlechterverhältnisses als genuine Aufgabe der Frau, wie durch die Figur der Muttergottes symbolisiert wird. An‐ dererseits wird Reproduktion innerhalb Santa Marías zur Klassenfrage. Sie wird als Pflicht einer, durch sozialen Status untergeordneten ‚physischen‘ Männlich‐ keit formuliert, die der als hegemonial angesehenen ‚geistlich-schöpferischen‘ Männlichkeit untergeordnet ist. Oder anders gewendet: Die biologische Repro‐ duktion (von der Zeugung über das Austragen, Gebären und Aufziehen der Nachkommen) ist Aufgabe sozial Untergeordneter, während das Führen und Lenken einer geistigen männlichen Elite vorbehalten sind. Die hegemoniale Männlichkeit Santa Marías konstituiert sich demnach zu einem Großteil über Technologien der Macht, die den Körper der Frau adressieren. Diese manifes‐ tieren sich einerseits in der Reproduktionsdogmatik der Kirche, andererseits in einem medizinischen Anti-Abtreibungsdiskurs. Beide Diskurse, der religiöse wie der medizinische, formulieren ein striktes Abtreibungsverbot und zielen damit letztlich auf einen Gebärzwang, der sich jedoch, wie oben beschrieben, auf spezifische, sozial untergeordnete Schichten richtet. Die männlichen Eliten reproduzieren sich geistig-symbolisch. 199 4.4 Zwischenresümee <?page no="200"?> Im folgenden Kapitel soll nun untersucht werden, wie sich die Frauenfiguren bei Onetti in diesen männlich dominierten Machtdiskurs einschreiben, inner‐ halb dessen geistig-diskursive Fähigkeiten als hegemonial gesetzt und Frauen überwiegend über ihre Körper adressiert werden. 200 4 This is a man’s world <?page no="201"?> 412 Erica Fischer: Feminismus Revisited (2019), pp. 307 sq. 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung innerhalb des männlich dominierten Diskursraums Santa María Wie könnte eine feministische Revolution aussehen? Gewiss wäre sie kein Sturm auf das Winterpalais, keine schlagartige gewaltsame Machtübernahme. Schon eher eine schleichende Destabilisierung, eine lauernde Subversion, von der Männeröffentlichkeit nur als leichte Irritation wahrgenommen, eine kaum merkliche Verschiebung der vertrauten Reaktionsmuster von Frauen, ein Paradigmenwechsel, der wie ein Juckreiz stört, im nächsten Augenblick aber nirgends zu orten ist. […] Eine, zwei, drei, viele Adrienne Goehlers, die, gestützt auf die Solidarität der Frauen, mit Frechheit und Klugheit Räume besetzen, die nicht für sie vorgesehen sind. 412 Erica Fischer (1989) Die folgenden Untersuchungen beruhen auf der Annahme, dass es innerhalb des männlich dominierten Diskursraums Santa María zwei grundsätzliche Strate‐ gien zur Disziplinierung ‚der Frau‘ gibt. Die eine Disziplinierungsmaßnahme beruht demnach auf ihrer Normierung als Ehefrau und Mutter, die andere auf ihrer diskursiven Funktionalisierung als Objekt männlicher Selbstvergewisse‐ rung und Selbstverwirklichung. Diese wiederum besteht im Prozess des Erzäh‐ lens selbst. Frauen werden dabei zum passiven Teil ‚männlicher‘ Geschichten, zum Objekt, über das erzählt wird. Ein durchgängiger Phallogozentrismus mar‐ kiert folglich ‚die Frauen‘ in Onettis Erzählungen als ‚die Anderen‘ in Bezug zur männlichen Norm. <?page no="202"?> 413 Ähnlich verhält es sich auch mit dem Schluss von Para una tumba sin nombre (1959), einer Erzählung, in deren Handlungsverlauf nicht einmal mehr der Körper und die Identität der Toten als gesichert gelten dürfen. So ist der Sarg möglicherweise leer und die ungewisse Identität der Toten, sin nombre, manifestiert sich bereits im Titel. Die handlungsauslösende Tote wird hier zum bedeutungsentleerten Zeichen. Die Erzählung beendet Díaz Grey mit folgenden Worten: „Lo único que cuenta es que al terminar de escribirla me sentí en paz, seguro de haber logrado lo más importante que puede espe‐ rarse de esta clase de tarea: había aceptado un desafío, había convertido en victoria por lo menos una de las derrotas cotidianas.“ (PT 67) Ludmer liest den anfänglich geschil‐ derten Tod Ritas in der Schilderung Díaz Greys und Jorge Malabias als chronologischen Beginn der Erzählung. Die ‚Ur-Erzählerin‘ des Romans sei eben diese Rita, wenn sie am Bahnhof in Buenos Aires den Reisenden Geschichten erzählt, um damit Geld zu ver‐ dienen. Die Erzählung baut demnach auf der narrativen Leerstelle auf, welche die Ab‐ wesenheit der eigentlichen Erzählerin bedeute: „Rita cuenta un cuento; […]. Pero el relato se abre con la muerte de Rita; la cuentista ya ‚no cuenta el cuento‘. A partir de allí Para una tumba sin nombre cuenta indefinidamente cuentos; reitera cuentos (men‐ tiras, versiones) que intentan conjurar el vacío inicial.“ ( Josefina Ludmer: „Contar el cuento“ (2009 [1977]), p. 760) Maloof schreibt: „Significantly, none of the stories told by the male characters in this text tells the reader anything at all about Rita’s point of view. Since the novella begins with this woman’s burial, the impossibility of her version of the story ever being heard is made clear from the outset. The silencing of Rita’s voice, that is to say, the denial of her autonomous subjectivity, is the cornerstone upon which Para una tumba sin nombre is constructed. […] Para una tumba sin nombre […] is about the formation of the male narrating subject over the dead body of a Woman. It deals with the intricate connection between masculine desire, the silencing of women, and male literary / aesthetic practice.“ ( Judy Maloof: Over her dead body (1995), p. 97) Die‐ selbe narrative Struktur analysiert Maloof auch in den Romanen El pozo (1939), La vida breve (1950) und El astillero (1961). (Cf. Ibid., pp. 31, 62 sq.) Die Objekt-Funktion des Weiblichen für die Handlungsgenese wurde bereits in Kapitel 4.1 an der indirekt narrationsauslösenden Funktion des weiblichen Kör‐ pers dargestellt. Dieses Muster setzt sich auch in nachfolgenden Erzählungen wie „La novia robada“ (1968) oder La muerte y la niña (1973) fort. In beiden Erzählungen narrativieren Díaz Grey und Jorge Malabia in längeren Zwiege‐ sprächen den Tod einer Frau und eine damit verbundene männliche Schuldfrage posthum. Beide Erzählungen führen ihre weibliche Hauptperson im Titel, dis‐ kursiv ist deren Geschichte jedoch dem subjektiven Urteil und Sprechen der männlichen Erzählfiguren über sie unterworfen. Denn im Mittelpunkt dieser Texte stehen nicht etwa die beiden titelgebenden Frauen, sondern die aus‐ schließlich unter Männern verhandelte Frage nach der Schuld an deren Tod sowie die künstlerische Gestaltung der Begleit- und äußeren Umstände als Stra‐ tegie männlicher Selbstvergewisserung, sprich: Es findet eine diskursive Inbe‐ sitznahme des weiblichen Körpers durch männliche Erzählstimmen statt. 413 Während die eben beispielhaft skizzierte Funktionalisierung der Frau als Er‐ zählobjekt von der Forschung bereits bearbeitet wurde, beschreibt die männ‐ 202 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="203"?> 414 Zur Darstellung ‚der Frau‘ als funktionalisiertes Objekt männlicher Erzählkunst im Forschungsdiskurs cf. Kapitel 1.2 dieser Arbeit. 415 Cf. dazu Mark I. Millington: „No Woman’s Land“ (1987); Alicia Migdal: „Las locas de Onetti“ (1989); Lidia Grove: Joven, mujer y prostituta (1977) et al. 416 Die Figur der kinderlosen Mutter enthält mit der politischen Bewegung der Madres de la Plaza de Mayo in Argentinien auch eine starke politische Konnotation. Diese ist eng mit einer räumlichen Verschiebung verbunden, d. h. die Frauen verlassen den ihnen traditionell zugeschriebenen Bereich des (Inner-)Häuslichen, um sich öffentlich Gehör für ihr Anliegen zu verschaffen, d. h. die Suche nach den verschwundenen Kindern. Mabel Bellucci schreibt: „[…] women began coming out of their homes and into public life, opening the way for new forms of civic participation.“ (Mabel Bellucci: „Childless Motherhood“ (May, 1999), p. 84) Während traditionell eine Limitierung der weiblichen Macht auf den häuslichen Raum stattfand, verlagert sich die Macht der Mütter mit der politischen Forderung, das Verschwinden ihrer Kinder aufzuklären, mit der Plaza de Mayo ins Zentrum des öffentlichen Raums - und damit auch der öffentlichen Wahr‐ nehmung. Mutterschaft zieht in diesem Fall keine räumliche Limitierung mehr nach sich, sondern wird zum movens politischer, weiblicher Selbstermächtigung: Die Mütter auf der Plaza de Mayo demonstrieren nicht obwohl sie Mütter sind, sondern gerade WEIL sie Mütter sind. Zynisch daran ist, dass sie ihre politische Kraft aus der Tatsache liche Machtstrategie der Normierung der Frau als Ehefrau und Mutter, die wie‐ derum eng mit räumlichen Disziplinierungsstrategien verbunden ist, ein Forschungsdesiderat: 414 So wurde die Figur der Mutter in der Onetti-Forschung als Leerstelle deklariert, wohingegen die weiblichen Stereotype Hure, Verrückte und junges Mädchen einen festen Platz im Forschungsdiskurs einnehmen. 415 In Onettis Texten wird jedoch, so eine der Ausgangsthesen dieser Arbeit, das Thema Mutterschaft in vielfältiger und sogar leitmotivischer Form thematisiert. So wird etwa Mütterlichkeit als essentialistische weibliche Eigenschaft auch kinderlosen Frauen, wie Gertrudis, Queca, Miriam, Julita Bergner oder Frieda von Kliestein zugeschrieben. Ähnlich verhält es sich mit ‚hausfraulichen‘ oder ‚ehefraulichen‘ Attributionen. So erzeugt die weitgehende Absenz biologischer Mutterschaft gemeinsam mit der durchgängigen Emphase attribuierter Mütter‐ lichkeit ein Spannungsfeld, das von der Forschung bislang ignoriert wurde. In diesem Kapitel werden nun die aus diesem Spannungsverhältnis erwachsenden Fragen untersucht: erstens inwieweit Darstellungen und Zuschreibungen von Mütterlichkeit ein idealisiertes marianistisches Mutter- und Ehefrauenbild un‐ terlaufen, zweitens welche Auswirkungen das auf den Reproduktionsbereich hat und drittens in welchem Zusammenhang dies alles mit weiblichen Macht‐ strategien (Widerständigkeit, Selbstermächtigung) steht. Der vom Forschungs‐ diskurs gemeinhin als Abwesende gelesenen Figur der Mutter wird in dieser Arbeit damit besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die idealisierte Norm, eine säkulare Reinkarnation der Muttergottes, mit der durch die Darstellung von ‚kinderlosen Müttern‘ 416 oder ‚ledigen Ehefrauen‘ in 203 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="204"?> ziehen, dass ihnen der Grund ihrer Mutterschaft, sprich, ihre Kinder genommen wurden. den ausgewählten Texten gebrochen wird, verkörpert Jorge Malabias Mutter. Neben Gertrudis‘ Mutter in La vida breve (1950) ist sie die Einzige, die, im Sinne des marianistischen Weiblichkeitsideals, dem Bild einer ‚guten Frau‘ entspricht. Alles, was die Leser*innen über sie erfahren, geht auf wenige Szenen aus Jun‐ tacadáveres (1964) zurück, die durchweg aus der Perspektive ihres Sohnes Jorge Malabia erzählt werden. Darüber hinaus bleibt sie - gemäß der ihr kulturell durch den Marianismo zugewiesenen passiven Rolle - weitestgehend ‚un‐ sichtbar‘. Exemplarisch dafür steht ihre ‚passive Teilnahme‘ an den abendlichen Tischgesprächen über Jorges Zukunft. Während der Vater dem Sohn seinen zu‐ künftigen Platz in der männlichen Hierarchie des familieneigenen Zeitungsver‐ lags erläutert, sitzt die Mutter strickend und schweigend daneben: „Suspira para mostrar que participa y vuelve a mover las agujas.“ ( JC 518) Als einziges Zeichen ihrer Anwesenheit ist ein Seufzen zu vernehmen und bis auf das suggerierte Klappern ihrer Stricknadeln ist sonst kein Laut von ihr zu hören. Mit dem fol‐ genden Zitat soll diese Haltung, ihre sprachliche Abwesenheit und Passivität, noch einmal verdeutlicht und das Verhalten einer, im marianistischen Sinne, ‚guten Ehefrau und Mutter‘ herausgearbeitet werden. Folgendermaßen schildert Jorge Malabia die abendliche Szene mit seinen Eltern: Mi madre teje con la cabeza caída, tal vez cuente los puntos o esté rezando. No sé por qué tiene una flor amarilla colgándole del prendedor del pecho. Sabe, desde hace mucho tiempo, que es esposa y madre; yo siempre la he conocido con la cara correspondiente, la mirada dulce e impersonal, la boca bondadosa y amargada, variando las proporciones según los días. Creo recordar que en un tiempo traté de suponer cómo sería su cara si no fuera madre bendita y esposa fiel, si no fuera nada más que una mujer. Pero, desde la muerte de Federico, supe que la máscara era definitiva, que se le iría estropeando con el tiempo sin cambios verdaderos ya. Me mira atenta, suplicán‐ dome que sea dócil; mira con cariño y un poco de admiración a mi padre; no sé lo que piensa, tal vez no piense en nada. (JC 518, eig. Hervorh.) Von der ‚frommen‘ Körperhaltung, die sich in dem wie zum Gebet gesenkten Kopf manifestiert (la cabeza caída […] rezando), bis zur passiven, angepassten Mimik (la cara correspondiente, la mirada dulce e impersonal), verkörpert Jorges Mutter die perfekte marianistische Ehefrau und Mutter (madre bendita y esposa fiel). Ihrem Ehemann gegenüber verhält sie sich entsprechend devot. Sie blickt ihn zärtlich-bewundernd an. Seit dem Tod ihres Sohnes Federico verharrt die Mutter in der Trauerhaltung, welche die marianistischen Konventionen von ihr 204 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="205"?> 417 So ist Gott im Neuen Testament als Vaterfigur eindeutig männlich konnotiert, die Mut‐ tergottes Maria hingegen weiblich. Im Lukas-Evangelium wird die unbefleckte Emp‐ fängnis als symbolischer Akt, Marias Schwangerschaft und Jesu‘ Geburt hingegen als biologisch-kreatürlicher Prozess beschrieben. Cf. Die Bibel (1985), Lk 1,2. verlangen. Ihr Gesicht wird zur Maske. Sie wird zur ewig am Tod ihres Sohnes leidenden Mutter, zum Inbegriff der mater dolorosa. In Jorges Augen existiert seine Mutter allein noch in ihrer Funktion als solche: „No es una persona, una mujer, pienso; es mi madre, no tiene cara; la nariz, la frente, la boca, la estatura sólo son medidas para ser mi madre.“ ( JC 520 sq.) Ihre Persönlichkeit und Weib‐ lichkeit werden in der Wahrnehmung ihres Sohnes negiert und ihre gesamte Physiognomie und Mimik sind auf ihr Dasein als Mutter ausgerichtet. Die Person verschwindet hinter der sozialen Funktion. Das Verrichten einer typisch häuslichen Handarbeit betont außerdem ihre Verortung im ‚Inneren des Hauses‘. Diese Immobilität steht in starkem Kontrast zu Jorges Mobilität; denn direkt an die oben zitierte Szene anschließend, verlässt er wie jede Nacht das Haus, um heimlich seine Schwägerin Julita zu besuchen oder sich mit Lanza in der örtlichen Bar zu treffen - dem männlich homosozialen Ort par excellence bei Onetti. Die Familienkonstellation stellt die Mobilität und geistig-schöpferische Tätigkeit der Männer der Immobilität und kreatürlich-sorgenden Tätigkeit der Frau diametral entgegen. Damit verweist diese Struktur auf eine patriar‐ chal-christliche Geschlechterordnung, in der Frauen gebären und Männer kre‐ ieren: 417 Gebären und weibliche Fürsorgearbeit sind auf den häuslichen Bereich begrenzt, männlich-diskursiver und gesellschaftlicher Einfluss wird öffentlich manifest. An dieser idealisierten, um eine säkulare ‚Santa María‘ gruppierten Kleinfamilie orientieren sich die männlichen Machttechniken zur Disziplinie‐ rung von Frauenkörpern, welche wiederum von einigen Frauen durch verschie‐ dene Formen des Widerstands unterlaufen oder konterkariert wird. Um auf die Ausgangsthese dieser Arbeit zurückzukommen, lassen sich drei verschiedene Technologien weiblicher (Widerstands)Macht herausarbeiten, die jeweils in engem Bezug zu reproduktionsrelevanten, körperreflexiven Praxen oder sprachlichen Äußerungen stehen und in den folgenden drei Unterkapiteln analysiert werden sollen: Weibliche Figuren agieren selbstmächtig, indem sie erstens ihren Körper als erotisches Kapitel innerhalb einer männlich geprägten Ökonomie des Begehrens einsetzen (Kapitel 5.1), zweitens indem sie männlich konnotierte diskursive Machttechniken adaptieren und für sich nutzen (Ka‐ pitel 5.2) und drittens indem sie aktiv sexuelles Begehren respektive Nichtbe‐ gehren artikulieren und sich damit auch selbstbestimmt zu ihrer Reprodukti‐ onsfähigkeit verhalten (Kapitel 5.3). Durch alle drei Machttechnologien werden die Frauenfiguren, um in der Argumentation Foucaults zu bleiben, als aktiver 205 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="206"?> 418 West und Zimmerman postulieren eine Irritation auf Seiten der ‚wahrnehmenden‘ Person, sobald die Erwartung von außen von der tatsächlichen Darstellung abweicht. So basiere doing gender, wie in Fußnote 182 in Kapitel 2.4 ausgeführt, auf einer nor‐ mierten Zweigeschlechtlichkeit, die neben bestimmten Erwartungen an das äußere Er‐ scheinungsbild wie Kleidung, Frisur etc. oder körperlicher Merkmale wie u. a. Stimm‐ höhe oder Sichtbarkeit sekundärer Geschlechtsmerkmale (Brüste, Bartwuchs etc.) auch ein gendertypisches Verhalten bezüglich Dominanz und Unterordnung impliziere. Das heißt, jede heteronormativ organisierte Gesellschaft hat erstens eine Vorstellung davon, wie sich Männer und Frauen grundsätzlich verhalten und zweitens, wie sich Männer gegenüber Frauen verhalten und umgekehrt. Daraus lasse sich ableiten, wer wen zu dominieren habe, d. h. wie die grundlegenden Machtverhältnisse zwischen den beiden Geschlechtern beschaffen sind oder sein sollten. Erfüllt eine der Personen die Erwar‐ tungen, die mit einer Geschlechtsdarstellung als Mann oder Frau verbunden sind, nicht, komme es im Normalfall auf Seiten der Person, die durch ihr Erkennen oder ihre An‐ erkennung die Performance der ‚angeschauten‘ Person affirmieren muss, zu Irritati‐ onen, Umdeutungen oder Diskriminierungen. (Cf. Stefan Hirschauer: „Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit“ (1989), pp. 103-116) Teil eines umfassenden, produktiven und dynamischen Machtnetzes lesbar. Be‐ züglich des zweiten Punktes, der Adaption männlicher Machttechnologien gilt es außerdem zu hinterfragen, inwieweit diese das doing gender der Frauen be‐ einflusst: Ändert sich die Außenwahrnehmung von einer Person als Frau, wenn sie sich ‚männlich‘ verhält oder wird ihr Verhalten geschlechtertypisch bewertet und unter Umständen anders kontextualisiert? 418 Wie bereits in den Ausführungen zu den verschiedenen Männlichkeiten in Onettis Texten, gilt es auch in diesem Kapitel, gemäß La vida breve (1950) die Unterscheidung in präsanmarianisch, d. h. Fiktionsebene I, und sanmarianisch, Fiktionsebene II , im Auge zu behalten, denn die spezifische Ordnung dieser beiden Machtdiskurse lässt Schlüsse über die intratextuelle Ordnung innerhalb des Analysekorpus zu. Es stellt sich dabei die Frage, welche diskursive Norm Fiktionsebene I in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse impliziert und wie sich der entsprechende Diskurs der Fiktionsebene II dazu verhält. Oder anders gewendet: Unterläuft der sanmarianische den präsanmarianischen / bonarensi‐ schen Machtdiskurs, affirmiert er ihn oder restituiert er gar eine temporäre Umkehr der Geschlechterverhältnisse? Auch diese Fragen sollen auf den fol‐ genden Seiten beantwortet werden. 206 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="207"?> 419 Cf. Kapitel 1.2 dieser Arbeit. 5.1 Der Frauenkörper als Kapital weiblicher Machttechnologien innerhalb einer männlich dominierten Ökonomie des Begehrens Der weibliche Körper wird bei Onetti immer wieder zum (indirekt) narrations‐ auslösenden Moment. So entspinnt sich etwa die verzweigte Handlung von La vida breve (1950) über Brausens Suche nach einem ‚intakten‘, unversehrten Frauenkörper. Der unversehrte weibliche Körper besitzt laut Forschungsdiskurs die Funktion, männliches Begehren (wieder) zu wecken und ‚den Mann‘, in diesem Fall Brausen, in seiner heterosexuellen Männlichkeit zu bestärken. 419 Brausen (er)findet den begehrenswerten weiblichen Körper in doppelter Form, einerseits durch seine Nachbarin Queca und andererseits durch die metafiktive Drehbuchfigur Elena Sala. Als begehrenswert markiert werden die beiden Frau‐ enkörper dabei erst durch den männlichen Blick Brausens / Arces respektive Díaz Greys. Daraus wiederum ergibt sich ein klares Subjekt-Objekt-Schema. ‚Die Männer‘ machen ‚die Frauen‘ durch ihren normierenden Blick zu Objekten männlichen Begehrens. Allerdings, so die Arbeitsthese dieses Unterkapitels, ist auch diese Geschlechterbeziehung ambivalent aufgebaut und damit nicht nur das Ergebnis männlicher Aktivität (dem Anschauen und Bewerten eines an‐ deren Körpers), sondern wird auch von Seiten der Frauen gesteuert: Aus der Macht männlichen Begehrens erwüchse somit die Ohnmacht des männlichen Begehrenden. Wie sich männlicher und weiblicher Blick in oben genannten Beispielen zueinander verhalten und was daraus bezüglich des Machtverhält‐ nisses zwischen Brausen / Arce und Queca sowie zwischen Díaz Grey und Elena Sala abgeleitet werden kann, soll im Folgenden nun näher untersucht werden. Elena Sala Die Frauenfigur, die in La vida breve (1950) in Díaz Greys Sprechzimmer tritt und im Laufe des Romans als Elena Sala erkennbar wird, ist zunächst eine ima‐ ginäre Doppelgängerin Gertrudis‘, wie Brausen phantasiert: Ella, la remota Gertrudis de Montevideo, terminaría por entrar en el consultorio de Díaz Grey; y yo mantendría el cuerpo débil del médico, […], para poder esconderme en él, abrir la puerta del consultorio a la Gertrudis de la fotografía. […] Entraría son‐ riente en el consultorio de Díaz Grey-Brausen esta Gertrudis-Elena Sala […]. (VB 447) 207 5.1 Der Frauenkörper als Kapital weiblicher Machttechnologien <?page no="208"?> Die Fotografie, auf die Brausen sich hier bezieht, zeigt eine unversehrte, junge Gertrudis und stammt aus der Zeit ihres Kennenlernens zu Studienzeiten in Montevideo. Dieses Bild der gesunden Gertrudis beschwört Brausen, als er ver‐ sucht, sich einen begehrenswerten Frauenkörper vorzustellen. Er selbst schlüpft in seinem Tagtraum in die Rolle des Arztes, der einer jungen Frau (Elena Sala) die Tür zu seinem Behandlungszimmer öffnet: „- Señora … -invitó con voz cansada. Ella sonrió francamente, buscó los ojos del médico, lo fue mirando de arriba abajo.“ ( VB 450 sq.) Der Arzt, Brausens Alias, wird als müde beschrieben, die Frau hingegen geht aktiv auf ihn zu, sucht Blickkontakt und mustert ihn von oben bis unten. Im Gegensatz zu Jorges Mutter, die ihren Kopf demütig gesenkt hält, steht Elena Sala aufgerichtet und wendet ihren Blick während der Begeg‐ nung mit dem Arzt nicht von diesem ab. Mehrmals wird das Selbstbewusstsein betont, das sie durch ihre Körperhaltung vermittelt. So etwa in folgendem Zitat: „[A]unque no lo miraba, tampoco escondía los ojos.“ ( VB 452) Auch wenn sie dem Arzt nicht direkt in die Augen sieht, senkt sie ihren Blick nicht. Stattdessen sucht sie immer wieder Blickkontakt: „[S]us ojos estaban decididos, buscaban los del médico, los esperaban sin impaciencia, los enfrentaron por fin.“ ( VB 456) Elena Sala genügt ein kurzer Moment zu Beginn der Konsultation, um zu erfassen, dass Díaz Grey von ihrem Auftreten eingeschüchtert ist. So wünscht sich Díaz Grey, nachdem er Elena Salas große entblößte (und unversehrte! ) Brüste gesehen hat und offensichtlich von ihrer Nacktheit angezogen wird, dieser Frau nie begegnet zu sein: ‚Ojalá no hubiera venido, ojalá yo no la hubiera conocido nunca. Ahora sé que tuve miedo desde el primer momento, comprendo que voy a llegar a necesitarla y que estaré dispuesto a pagar cualquier precio. Y ella lo supo con la primera mirada, esta seguridad estaba dentro de ella aun antes de que realmente lo supiera.‘ (VB 453) Díaz Grey fühlt sich Elena Sala gegenüber vom ersten Augenblick an ohn‐ mächtig, da sie den begehrenden Blick des Arztes als solchen erkannt hat, noch bevor dieser selbst sich dessen bewusst war. Das Zeigen ihrer nackten Brüste, welche Díaz Greys Begehren auslösen, setzt Elena Sala damit als Machttechnik gegen den Arzt ein: Dieser realisiert, dass er Elena Sala ob seines Begehrens ausgeliefert ist und alles für sie in Kauf nehmen würde. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird dann auch deutlich, dass Elena Sala Díaz Grey bewusst aufgesucht hat, um Morphium von ihm zu erhalten. Er wird zu ihrem semilegalen Drogen‐ dealer und Geliebten - und letztlich ist er als verlässlicher Morphiumlieferant auch für ihren Selbstmord mitverantwortlich. Frauen sind folglich über ihre Körper nicht nur bestimmten Disziplinierungs‐ maßnahmen ausgesetzt, sondern setzen diesen, so Brausens Phantasie, auch 208 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="209"?> aktiv zum Erreichen ihrer Ziele ein. In diesem Fall wird der weibliche Körper für den männlichen Begehrenden zur Bedrohung. Die patriarchale Ordnung wird damit unterlaufen, denn Elena Sala dominiert den Arzt vermittels dessen Begehren durch das Zeigen ihres Körpers und explizit durch das Zeigen ihrer gesunden, unversehrten Brüste. Da die geschilderte Szene durchweg der Vor‐ stellungskraft einer männlichen Autorfigur entspringt, liegt es nahe, dieses genderspezifische Abhängigkeitsverhältnis zwischen Elena Sala und Díaz Grey als männlichen Masochismus, d. h. den (insgeheimen) Wunsch dominiert zu werden, zu lesen. Verstärkt wird die Hierarchie, die Elena Sala durch das manipulative Zur-Schau-Stellen ihres entblößten Körpers zwischen sich und Díaz Grey, d. h. zwischen der begehrten und der begehrenden Person evoziert, indes noch durch eine weitere Abhängigkeitsebene: Die zwischen Mutter und Kind. Dieses hie‐ rarchische Verhältnis wird im Marianismo als Teilaspekt in der Beziehung zwi‐ schen Mann und Frau beschrieben, insofern die ‚gute‘ marianistische Frau ihrem Ehemann moralisch und spirituell derart überlegen ist, dass sie ihn wie ein Kind behandelt. Das heißt, als moralisch unfehlbare, gütige Ehefrau sieht sie ihm, dem Fehlbaren, seine Laster und Verfehlungen nach. In der Begegnung zwischen Díaz Grey und Elena Sala wird diese Hierarchieebene doppelt dargestellt: Ei‐ nerseits in einer expliziten als-ob-Beziehung und andererseits indirekt über das assoziative Aufrufen mütterlicher Attribute. So behandelt Elena Sala den Arzt wie ein Kind: „Desde el sillón, más alta, ella sonrió con paciencia como si mirara a un niño. […] Ella asintió con excesivo entusiasmo, en un acuerdo demasiado fácil, casi despectivo.“ ( VB 454) Sie pflichtet ihm überschnell und mit übertrie‐ benem Eifer bei und drückt dadurch Desinteresse, wenn nicht gar Geringschät‐ zung für seine Ausführungen aus. Räumlich verstärkt wird Elena Salas so zum Ausdruck gebrachte Überlegenheit gegenüber dem Arzt durch ihre erhöhte Sitzposition. Ihre „suave mueca de piedad“ ( VB 456), die sanfte, mitleidvolle Miene, die sie Díaz Grey zwischenzeitlich zeigt, beschreibt eines der Hauptcha‐ rakteristika der marianistischen Mutterfigur. Zudem verweist die völlig kont‐ räre Beschreibung ihrer Brüste, einmal sind sie als füllig mit großen Brust‐ warzen, „los grandes pechos […] con puntas demasiado abultadas“ ( VB 452), an anderer Stelle als klein und dafür auffallend weiß beschrieben, in doppelter Hinsicht auf die nährende Attribution der Muttergottes: … El torso y los pequeños pechos, inmóviles en la marcha, que la mujer mostró a Díaz Grey eran excesivamente blancos; sólo en relación a ellos y a su recuerdo de leche y papel satinado resultaba chillona la corbata del médico. Muy blancos, asombrosamente blancos, y contrastando con el color del rostro y el cuello de la mujer. (VB 432, eig. Hervorh.) 209 5.1 Der Frauenkörper als Kapital weiblicher Machttechnologien <?page no="210"?> 420 Cf. Donna J. Guy: „Mothers Alive and Dead“ (1997), pp. 155 sq., cit. p. 156. 421 Cf. Ibid., pp. 155 sq. Im ersten Beispiel verweisen die Üppigkeit der Brüste und die großen Brust‐ warzen auf ihre nährend-stillende Funktion, in der gerade zitierten Darstellung ist es die Betonung der Farbe Weiß, die eine direkte Assoziation mit (Mutter-)Milch nahelegt. Symbolisch korrespondieren beide Darstellungen mit dem spezifisch argentinischen Marienmythos der Difunta Correa, dessen Ur‐ sprünge ins 19. Jahrhundert zurück reichen, wie Donna J. Guy herausgearbeitet hat: Dalinda Antonia Correa, so der bürgerliche Name der Toten, wurde in der Provinz San Juan am Straßenrand gefunden. Sie selbst war wohl, so die Über‐ lieferung, verdurstet, hatte jedoch ihr Kind noch an der Brust. Ihre Aufopfe‐ rungsbereitschaft als Mutter reichte demnach über den Tod hinaus. Ihr Körper produzierte der Legende nach also auch post mortem noch Milch, um den (männ‐ lichen) Säugling zu nähren (der wohl kurz darauf ebenfalls starb). Sie wurde daher auch als „submissive and self denying“ beschrieben. 420 Die Analogie zur Muttergottes, die auf ikonographischen Abbildungen oft mit dem Säugling an der Brust dargestellt ist, wird hier offensichtlich. Die Difunta Correa wurde, ob des Fundorts ihrer Leiche an einer Landstraße zur Schutzheiligen der Fernfahrer erhoben und gilt, obschon die Katholische Kirche ihren Heiligenstatus bis dato nicht offiziell anerkennt, als eine der meistverehrten Heiligenfiguren Argenti‐ niens. 421 Guy stellt den Mythos der Difunta Correa in einen explizit biopoliti‐ schen Kontext. Sie erläutert, wie durch die ideologische Vereinnahmung dieses Mythos‘ der stillenden Mutter die Position einer Märtyrerin zugewiesen wurde. Die dadurch evozierte Verklärung des Stillens wurde demnach bewusst für staatliche Gesundheitsprogramme gegen Säuglingssterblichkeit in Stellung ge‐ bracht. Der stillenden Mutter wurde damit nicht nur symbolisch-religiöse Macht zugeschrieben, sondern auch biopolitische Macht: Durch ihr Stillen half sie dem Staat aktiv, den Staatskörper zu vermehren. So ist die weibliche ‚Nährfähigkeit‘ und damit die weibliche Brust durch den argentinischen Marien-Mythos sym‐ bolisch ambivalent belegt; einerseits impliziert das Stillen mütterliche Aufopfe‐ rungsbereitschaft, andererseits wird der weibliche Körper durch seine nährende Funktion in den Dienst staatlicher Biopolitik gestellt. Ob Elena Sala in beschrie‐ bener Szene mit Díaz Grey aktuell ein Kind stillen könnte oder nicht, d. h. ob sie gerade Mutter geworden ist und ihr Kind vielleicht weggegeben hat, oder dieses gestorben ist, lässt der Text bewusst offen. Die symbolische Machtzuschreibung wird allein durch die Beschreibung und damit die Potentialität des Stillens wirksam. 210 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="211"?> 422 Welche Rolle das Zeigen der weiblichen Brust als Symbol von Widerständigkeit oder Kampfbereitschaft spielt, zeigt der politische Kampf der griechischen Amazonen im Kampf um Troja sowie aktuell der von russischen Frauen initiierten und international agierenden Gruppe Femen. 423 Der namenlose bacán, der Queca zu einer Reise nach Montevideo einlädt, spielt in der Erzählung auf Queca bezogen nur eine nebengeordnete Rolle. 424 Maloof liest die Ehe zwischen Gertrudis und Brausen als „inversion of traditional gender roles“, insofern Gertrudis den aktiven, ‚starken‘ Part einnimmt, während Brausen „the Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Das zielgerichtete, erotisch kon‐ notierte Zeigen der Brüste, „la exhibición de los pechos“ ( VB 456), ihr ‚Einsatz‘ als Machtmittel, kehrt das heteronormative Subjekt-Objekt-Schema zwischen Díaz Grey und Elena Sala um. 422 Díaz Greys Macht wird durch Elena Salas of‐ fensive Körperlichkeit zur Ohnmacht. Verstärkt wird das Macht-Ungleichge‐ wicht zwischen den beiden durch die als mütterlich markierte Überlegenheit Elena Salas, die auf den spezifisch argentinischen Mythos der Difunta Correa verweist und sich in einen marianistisch-machistischen Machtdiskurs ein‐ schreibt. Queca Während Elena Salas ‚Körpereinsatz‘, im Sinne eines manipulativen Entblößens ihrer Brüste, darauf ausgerichtet war, sich den Arzt als Drogendealer gefügig zu machen, ist die erste Begegnung zwischen Brausen / Arce und Queca von deren Seite aus keineswegs zielgerichtet, insofern die Initiative für ein Zusammen‐ treffen von Brausen / Arce ausgeht. Die sich daraus entwickelnde Interaktion verweist jedoch ebenfalls auf eine Umkehr der geschlechterspezifischen Macht‐ verteilung. Queca, die, wie der Roman am Beispiel Ernestos zeigt, als Prostitu‐ ierte vor allem mit Männlichkeiten vom Typ des compadrito interagiert, akzep‐ tiert die gewaltsame Unterordnung der Frau. 423 Sie selbst verkörpert eine Weiblichkeit, die, um in Archettis Typologie zu bleiben, wohl am ehesten als die der milonguita zu beschreiben ist. Als Prostituierte ist sie zwar finanziell unab‐ hängig, fügt sich jedoch in die Geschlechterhierarchie des compadrito. Ihr ‚Män‐ nerbild‘ ist von einer gewaltsamen, dominanten Männlichkeit geprägt. Da sie selbst von dieser Gewalt betroffen ist, führt das zu einer paradoxen Situation: Einerseits erwartet Queca, dass ein Mann sich ihr gegenüber brutal und abwer‐ tend verhält, sozusagen als Legitimierung seiner Männlichkeit, andererseits hasst sie ‚die Männer‘ genau für dieses Verhalten: „Son un asco los hombres“ ( VB 495). Brausen hingegen zeigt keine Ambitionen, sich andere Personen unterzu‐ ordnen, er respektiert sowohl andere Männer als auch Frauen. Seine Ehefrau Gertrudis behandelt er gleichwertig 424 und das sexuelle Begehren, das deren jüngere Schwester Raquel in ihm hervorruft, unterdrückt er aus Respekt vor 211 5.1 Der Frauenkörper als Kapital weiblicher Machttechnologien <?page no="212"?> passive, dependent, ‚feminine‘ position in the marriage“ besetzt. (Cf. Judy Maloof: Over her dead body (1995), pp. 74 sq.) 425 Zum heterotopen Charakter des Nachbarappartements in La vida breve (1950) cf. Jo‐ hanna Vocht: „Frauen in Zimmern leben gefährlich“ (2019). Über die paradigmatische Funktion des Bordells in Onettis Erzählungen schreibt Martínez: „Lugar paradigmático en el universo onettiano, el prostíbulo, igual que el bar, manifiesta la dinámica de lo femenino y lo masculino que responde a construcciones culturales de género, sostenidas por el poder económico y social del hombre. En este espacio, el deseo sexual masculino se privilegia y el femenino queda al servicio del hombre.“ (Elena M. Martínez: „Const‐ rucciónes del género sexual en la obra de Juan Carlos Onetti“ (2002), p. 122) Das Bordell als Ort männlicher ökonomischer Potenz und einer Privilegierung männlichen Begeh‐ rens bildet eine Inversion des Geschlechterverhältnisses, das Brausen in seiner Ehe mit Gertrudis lebt. (Cf. Kapitel 5.3) Um sich den ‚Konsum‘ des weiblichen Körpers im Raum des Nebenan leisten zu können, opfert Brausen folglich auch seine gesamten Erspar‐ nisse. 426 Martínez beschreibt den Archetypus der Prostituierten dementsprechend als „encar‐ nación de la sexualidad, pero entendida, no en función del placer sexual femenino sino en términos del goce masculino y como resultado de un sistema de poder y de violencia masculina.“ (Elena M. Martínez: „Construcciónes del género sexual en la obra de Juan Carlos Onetti“, p. 117) beiden Frauen - und aus Schüchternheit. Damit verhält er sich in seiner Ge‐ schlechterdarstellung vollkommen konträr zu Quecas Erwartungen an die Ge‐ schlechterdarstellung des fordernden, gewaltbereiten compadrito. Gleichzeitig hadert Brausen jedoch mit dem ‚versehrten‘ Körper seiner Ehefrau. Quecas un‐ versehrter Körper und insbesondere ihre intakten Brüste rufen folglich ein Be‐ gehren in ihm hervor, das seine Libido restituiert. Da er sie durch die dünne Wand hindurch belauscht hat, weiß er, dass Queca als Prostituierte arbeitet. So wird Quecas Appartement zum räumlichen Gegenentwurf seines ehelichen Ap‐ partements: Quecas Wohnung wird durch deren Profession zum Bordell und damit zum heterotopen Gegenort in Bezug auf das Appartement, das er mit Gertrudis bewohnt und das symbolisch für seine bürgerlichen Ehe steht. 425 An‐ ders als in den Darstellungen einer machistischen Männlichkeit, die zwar auch innerhalb der bürgerlichen Ehe verortet ist, dabei jedoch nur einseitige Mono‐ gamie bzw. die Negation der weiblichen Sexualität impliziert, bezieht Brausen die Monogamie auf beide Ehepartner. Mit dem Betreten des Raums des Ne‐ benan, unterläuft Brausen also auch seine Treue-Prinzipien. Bei seiner ersten Begegnung mit Queca, bei der er sich erstmals als Arce ausgibt, führt die Di‐ vergenz zwischen dem, was Queca von einer männlichen Geschlechterperfor‐ mance erwartet und dem, was Brausen / Arce tatsächlich darstellt, folglich zu einer Umkehr der Machtverhältnisse. Die Prostituierte Queca, für Brausen ei‐ nerseits ob ihrer obszönen Sprache eine „asquerosa bestia“ ( VB 427) und ande‐ rerseits der Inbegriff der Erfüllung männlichen Begehrens, verspottet ihn: 426 „- 212 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="213"?> 427 Auf das erste Belauschen folgt ein voyeuristisches ‚Ansehen‘. Durch den Türspion be‐ obachtet Brausen Queca zunächst heimlich, bevor er, ebenfalls heimlich, in ihr offen stehendes Appartement eindringt, um über ihre Wohnung das ‚Bild‘, das er von ihr hat, weiter zu formen, bis er sich schließlich traut, an ihrer Tür zu klingeln und ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. 428 Doreen Massey: Space, place and gender (1994), p. 180. Siga -dijo riendo-. Creo que me voy a reír. ¿No se animaba a verme? “ ( VB 495) Sie kann nicht glauben, dass Brausen / Arce sich nicht getraut hatte, zu ihr zu kommen; denn innerhalb des Geschlechterverhältnisses zwischen compadrito und milonguita dominiert der Mann die Frau sexuell - und das Aufsuchen einer Prostituierten ist demnach Teil dieses männlichen Selbstverständnisses. Indem sie anschließend in Brausens / Arces Beisein von den Männern als ‚den Anderen‘ spricht, ihn folglich davon ausnimmt, negiert sie seine männliche Geschlechts‐ identität: „Son un asco los hombres. - Con una sonrisa breve y resplandeciente me apartó del resto de los hombres […]- .“ ( VB 495). Letztlich demonstriert dieses Zitat auch, dass Queca Brausens Darstellung als Mann nicht ernst nimmt. So bildet zwar Brausens Blick auf der Suche nach einem ‚unversehrten‘ weiblichen Körper den Auslöser für das Erfinden seiner Zweitidentität als Arce und damit überhaupt erst die Voraussetzung für die Begegnung zwischen Brausen / Arce und Queca, allerdings ist deren Blick in diesem Moment nicht weniger machtvoll: 427 denn Brausens Anblick evoziert eine hierarchische Mutter-Kind-Relation zwischen beiden. Als sie sich gegenüberstehen, fällt er in die Rolle eines schüchternen, unbeholfenen Jungen zurück. Dieser reflektiert sich selbst als „realmente intimidado como un niño, temiendo que se vuelva demasiado audaz.“ ( VB 493) Allerdings ist die Zuschreibung von Mütterlichkeit, die durch Brausens Reaktion auf ihren erkennenden Blick verstärkt wird, nicht gleichzusetzen mit Mutterschaft, denn diese verweigert Queca aktiv, wie in Ka‐ pitel 5.3 noch einmal näher erläutert werden soll. Quecas Mütterlichkeit wirkt, wie im Falle Elena Salas, einschüchternd und herablassend und steht damit in klarem Kontrast zum marianistischen Bild der aufopferungsvollen, duldsamen Mutter oder auch den Stabilität und Sicherheit versprechenden Eigenschaften, die Massey der Mutter in Verbindung mit ihrer räumlichen Limitierung auf das Innere des Hauses zuschreibt. Demnach fungiert die Mutter als „a stable sym‐ bolic centre - functioning as an anchor for others“ 428 : The construction of ‚home‘ as a woman’s place has, moreover, carried through into those views of place itself as a source of stability, reliability and authenticity. Such views of place, which reverberate with nostalgia for something lost, are coded female. 213 5.1 Der Frauenkörper als Kapital weiblicher Machttechnologien <?page no="214"?> 429 Ibid. 430 Mit der Kapitelüberschrift soll implizit auf die gleichnamige Publikation von Alicia Migdal Bezug genommen werden, die damit einen Forschungsdiskurs verbalisiert, der die Frauenfiguren in unterschiedliche Stereotype einteilt und in Bezug zu den männlichen Protagonisten liest. Alicia Migdal: „Las locas de Onetti“ (1989). Detailliert dazu cf. Kapitel 1.2. Home is where the heart is (if you happen to have the spatial mobility to have left) and where the woman (mother, lover-to-whom-you-will-one-day-return) is also. 429 Durch die Figur der sorgenden Mutter erhält der ihr kulturell zugeordnete häus‐ liche Raum seine Stabilität und Sicherheit und vice versa. Die Geborgenheit des Heims ist demnach an die Weiblichkeit der ‚guten Ehefrau und Mutter‘ gekop‐ pelt. Ihre Liebe und Fürsorge und vor allem die Sicherheit, die sie durch ihre Immobilität und damit Stabilität garantiert, konfiguriert den häuslichen Bereich als sicheren, unveränderlichen Rückzugsort. In den Wohnungen der kinderlosen Frauen Queca und Gertrudis herrscht hingegen Gewalt, Streit und Instabilität: Queca wird in ihrem Appartement von Brausen / Arce körperlich misshandelt und letztlich auch dort von Ernesto getötet, und Gertrudis erlebt in der gemein‐ samen Wohnung mit Brausen das Scheitern ihrer Liebesbeziehung. Die im Folgenden zu beschreibenden Mechanismen weiblicher Widerstän‐ digkeit knüpfen an diese Unbeständigkeit und Unsicherheit an: Sie zeigen, wie das Innere des Hauses zum ‚Gefängnis‘ kinderloser und / oder nicht-verheira‐ teter Frauen werden kann und mit welchen Strategien diese Frauen sich dort ihre eigenen (Flucht-)Welten erfinden. 5.2 Las locas de Onetti  430 oder Lüge und Fiktion als weibliche Adaption männlich konnotierter Machttechnologien Wie im vierten Kapitel dargestellt, besteht die wichtigste männliche Macht‐ technologie innerhalb Santa Marías in der diskursiven Fähigkeit zu erfinden respektive zu (er)lügen - seien es Geschichten, fiktive Biographien oder Zweit‐ identitäten, sprich: ‚kurze Leben‘. Lügen und Erfinden sind folglich nicht nur die poetologischen Schlüssel zu Brausens Doppelgängern Arce und Díaz Grey, sondern auch zu dessen fiktionaler Autorpotenz, die sich bezogen auf den Dis‐ kursraum Santa María mit Foucault als Gouvernementalität deuten lässt, sowie zu der damit verbundenen sanmarianischen hegemonialen Männlichkeit. Wenn sich nun also Frauen dieser diskursiven Strategien bedienen, findet eine Aneig‐ nung männlich konnotierter Machttechnologien durch Frauen statt. Frauen nehmen damit einen aktiven (Wider-)Part innerhalb des Machtgefüges ein. 214 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="215"?> 431 In Ludmers Argumentation hingegen füllen Ellos, wie Queca ihre eingebildeten Wesen, für die Brausen sie bewundert, nennt, textstrukturell die Leerstelle, die durch Gertrudis’ Brustamputation hervorgerufen wurde. Sie kompensieren den Mangel, der durch die amputierte Brust im Raum des Alltäglichen entstand, im Raum des Nebenan durch ihre Pluralität: „[U]n lugar, que reintroduce un par de iguales ‚llenos‘, y un aire saturado de formas (‚personas‘, objetos y ‚personajes‘ -los ‚ellos‘-).“ ( Josefina Ludmer: Onetti. Los procesos de construcción del relato (2009 [1977]), p. 31) Dabei gelten diese Frauen gemeinhin, d. h. innerhalb einer von männlichen Fi‐ guren geprägten und aus deren Perspektive geschilderten Erzählung als wahn‐ sinnig oder verrückt, wie an den Beispielen von Julita Bergner in Juntacadáveres (1964) und Moncha Insaurralde in „La novia robada“ (1968) in diesem Unterka‐ pitel nachgezeichnet werden soll. Allerdings zeigt sich, dass die innerhalb Santa Marías männlich konnotierte, da von Brausen als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit geprägte Machttech‐ nologie des Phantasierens und Erfindens in La vida breve (1950) ursprünglich auf eine Frauengestalt zurück geht. So erfindet sich die Prostituierte Queca in ihrem Appartement ihre eigene Welt. Sie gesteht Brausen, dass sie unerklärliche Stimmen höre, die zu ihr sprächen. Der Austausch über diese Phantasiewesen wird zum ausgleichenden kommunikativen Nexus zwischen Brausen / Arce und Queca, denn während Brausen / Arce Queca zunehmend körperlich dominiert und erniedrigt, imponiert ihm gleichzeitig ihre Imaginationspotenz: [A]dmiré su capacidad de ser dios para cada intrascendente, sucio momento de su vida; envidié aquel don que la condenaba a crear y dirigir cada circunstancia mediante seres míticos, recuerdos fabulosos, personajes que se convertirían en polvo ante el amago de cualquier mirada. (VB 552) Er bewundert Quecas Gabe, vermittels ihrer Phantasie jeden noch so ‚schmut‐ zigen Moment‘ des eigenen Lebens als Schöpferin, dios, zu verantworten. Er begreift ihre ‚Hirngespinste‘, die nur für sie selbst sichtbar sind, als Überlebens‐ strategie. 431 Brausen selbst wird erst nachfolgend zum Schöpfer des metafiktiven Santa Marías. Es zeigt sich also, dass im präsanmarianischen Machtdiskurs die Techniken des Erfindens und (Er)Lügens noch nicht eindeutig männlich kon‐ notiert sind, sondern erst im Prozess der Autofiktionserzeugung umgedeutet werden. Auf den folgenden Seiten soll nun untersucht werden, welche Positionen sanmarianische Frauen, die lügen und erfinden, innerhalb des männlich domi‐ nierten Machtdiskurses einnehmen und wie sie sich zur idealisierten Mutter‐ figur, der ‚Santa María‘ in Beziehung setzen lassen. Mit Julita Bergner und Moncha Insaurralde stehen zwei Frauenfiguren im Fokus, deren fiktionsgene‐ 215 5.2 Las locas de Onetti <?page no="216"?> 432 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche (2004 [1993 engl.]), pp. III sq. 433 Cf. Ibid., p. 29. 434 Ibid., p. 31. 435 Cf. Ibid. rierende Strategien in Juntacadáveres (1964) und „La novia robada“ (1968) ein‐ gehend dargestellt werden. Inhaltlich verbunden sind sie durch die Figur des Marcos Bergner: Moncha ist dessen Geliebte und Julita dessen Schwester. Beiden Frauenfiguren ist außerdem gemein, dass sie Selbstmord begehen, d. h. ihre Leben aktiv beenden, und ihre Todesumstände der Deutungsmacht männlicher Erzählstimmen ausgeliefert sind. Dieses Schema rekurriert auf ein in der Kunst immer wiederkehrendes Gestaltungsmotiv, das Elisabeth Bronfen, sozusagen als ‚schönen Leiche‘, eingehend untersucht hat und das, um es für die Textanalysen in diesem Unterkapitel fruchtbar zu machen, hier nun kurz skizziert wird. Die Ästhetisierung der weiblichen Leiche nach Elisabeth Bronfen Bronfens kulturwissenschaftliche Studie zur Ästhetisierung der weiblichen Leiche zählt zum Standardwerk einer gendertheoretisch fundierten Literatur‐ wissenschaft. Ausgangspunkt ihrer Forschung bildete eine gewisse Verwunde‐ rung über die große Zahl weiblicher Leichen oder vielmehr ihrer von Männern betriebenen Ästhetisierung in Literatur, Bildender und Angewandter Kunst. Gleich zu Beginn ihrer Ausführungen skizziert Bronfen einen Kernwider‐ spruch zwischen einem kulturell tradierten Faszinosum der weiblichen Leiche und der Tatsache, „dass Weiblichkeit im Alltag dem Bereich des Lebens, der Mütterlichkeit und der Ernährung zugeschrieben wird und der Tod von Frauen deshalb umgangssprachlich zumindest das Ende der Fortpflanzung bedeutet.“ 432 Bei näherem Hinsehen liege in der weiblich konnotierten Lebensfülle und der Faszination für deren eliminierte Form jedoch kein Widerspruch, sondern viel‐ mehr eine Emphase. So argumentiert Bronfen, dass der affektive Eindruck, den der Anblick eines weiblichen Leichnams auf den / die Betrachter*in ausübt, darin wurzele, dass der Tod immer nur im Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit gedacht werden könne. Der Anblick einer toten Frau, insofern der Frauenkörper auch den Ursprung des eigenen Lebens symbolisiere, werfe uns demnach wie kein anderes Ereignis auf den eigenen, unausweichlichen Tod zurück und verursache somit eine narzisstische Kränkung. 433 „Über den Tod zu schreiben“, so Bronfen daher weiter, „scheint ein Mittel zu sein, um nach der Erfahrung des Todes wieder Stabilität zu erlangen, um Kontinuität angesichts von Diskontinuität zu sichern, um mit der Abwesenheit […] fertig zu werden.“ 434 Die Ästhetisierung des Todes erfülle damit einen therapeutischen Zweck. Sie könne als Strategie männlicher Trauerbewältigung gelesen werden. 435 216 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="217"?> 436 Ibid., p. XIII. 437 Cf. Ibid. 438 Cf. Ibid., p. 73. Bronfen arbeitet jedoch auch eine ästhetische Produktivität heraus, die männ‐ liche Künstler aus der Betrachtung toter Frauenkörper schöpften und die da‐ durch über den Aspekt der Trauerbewältigung hinausweise. Ausgangspunkt dieser Betrachtung ist wieder die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit durch die weibliche Leiche. Durch die Ästhetisierung der Leiche werde nach Bronfen eine „Logik der Verneinung“ in Gang gesetzt. Diese Denkfigur besagt, dass „[d]ie Anerkennung der eigenen Versehrtheit […] erfolgreich dadurch ab‐ gewendet [wird], dass man den Anderen in eine Figur transformiert, dessen Funktion darin besteht, eine Illusion der Selbstermächtigung aufrechtzuer‐ halten.“ 436 Die Angst und Verstörung, welche die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit auslösten, würden durch eine Ästhetisierung des ursächlichen An‐ blicks, d. h. der weiblichen Leiche, gebannt. Dadurch werde folglich auch die existentielle Unsicherheit, im Sinne eines Zweifelns an der Welt, ausgeräumt und die männliche Ordnung restituiert. 437 Durch die Schilderung oder bildliche Darstellung des weiblichen Leichnams werde dieser zur Allegorie des Todes. Die Realität des Todes werde damit fikti‐ onalisiert und der (lebende) Künstler nehme folglich eine Subjekt-Position in Bezug auf das zu beschreibende (tote) Objekt ein. 438 In Onettis Texten werden alle weiblichen Leichen von männlichen Figuren narrativiert. Der / die Leser*in ‚sieht‘ die toten weiblichen Körper also durchgängig aus einer männlichen Perspektive. Allerdings bildet der weibliche Freitod in Onettis Erzählungen unter der Fragestellung weiblicher Widerständigkeit nur den Schlusspunkt hinter einer Reihe von selbstbestimmten Handlungen. An den ausgewählten Bei‐ spielen ( Julita Bergner und Moncha Insaurralde) soll also zunächst nachge‐ zeichnet werden, welche Handlungen dem Selbstmord und der männlichen äs‐ thetisierenden Inbesitznahme des toten weiblichen Körpers vorausgehen. Julita Bergner Julita Bergner ist nicht nur die Schwester von Marcos Bergner und damit die Nichte von Pfarrer Antón Bergner, sondern auch die Witwe von Federico Ma‐ labia, dem älteren Bruder Jorge Malabias. Ihre Geschichte wird in Juntacadáveres (1964) ausschließlich von Jorge und parallel zur Geschichte des Bordells in Santa María erzählt. Nach dem Tod ihres Mannes Federico zieht sich Julita in das Häuschen, das sie im Garten der Malabias mit ihrem Ehemann Federico bewohnt hatte, zurück und verlässt diesen Ort während der gesamten Romanhandlung kein einziges Mal. Julita bleibt also statisch an den häuslichen Raum gebunden, 217 5.2 Las locas de Onetti <?page no="218"?> 439 Sollte sich eine Frau jedoch, entgegen der von ihr durch den Marianismo erwarteten Keuschheit oder sexuellen Passivität, sexuell selbstbestimmt verhalten, gelte sie als „bad woman“. (Cf. Evelyn P. Stevens: „Marianismo: The Other Face of Machismo“ (1994), p. 11) der ihr als verheiratete Frau kulturell zugewiesen war. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich nicht in der Gesellschaft Santa Marías bewegt. Ihre ‚gesell‐ schaftlichen Bewegungen‘ gehen allerdings indirekt vonstatten. So verläuft ihre Verbindung zur sanmarianischen Gesellschaft einerseits über Jorge und ande‐ rerseits über die Mädchen der so genannten „Acción Cooperadora“ ( JC 466), die in Pfarrer Bergners ausgeklügelter Kreuzzugsstrategie die Funktion der ano‐ nymen Briefeschreiberinnen übernehmen. Die jungen Frauen, die meisten von ihnen Schülerinnen, fühlen sich berufen, Santa María vom Übel der Prostitution zu befreien, da sie diese als Bedrohung ihrer eigenen Reinheit wahrnehmen: [B]uscaban […] defenderse de un enemigo que amenazaba sus principios y sus proyectos […]. No querían la promiscuidad, no podían soportar la idea de que la pro‐ miscuidad fuera posible, fuera fácil, invitara desde la casa de la costa. […]. [E]scribían los anónimos para defender la pureza ciudadana y para que los hombres no pudieran intuir la clave de su personalidad, descifrar su único enigma, cubierto celosamente por absurdos, por astucias, por malentendidos seculares y renovados. (JC 468) So fürchten die jungen Frauen, dass ihre potentiellen Ehemänner durch ihre Erfahrungen im Bordell auch die Sexualität ihrer Ehefrauen entdecken und damit ihre Reinheit beschmutzen könnten, indem sie sie zur Promiskuität ver‐ leiteten. Damit würden die zukünftigen Ehefrauen ihren theoretischen An‐ spruch auf Unbeflecktheit verwirken, denn im marianistisch-machistischen Ge‐ schlechterverständnis hat Geschlechtsverkehr seitens der Frau allein zum Zweck der Fortpflanzung zu erfolgen. Lustempfinden würde sie, so Stevens, mit den ‚schlechten Frauen‘ gemein machen. 439 Um sich vor dieser Gefahr zu schützen und Santa María von der gefürchteten Lasterhaftigkeit zu ‚säubern‘, denunzieren die muchachas de la Acción Cooperadora die Bordellbesucher in akkurat geschriebenen Briefen, die sie an die jeweiligen Ehefrauen, Verlobten, Mütter oder Schwestern der Freier richten. Zum Verfassen dieser Denunziationen treffen sie sich zweimal pro Woche in Julitas Häuschen. Dabei präpariert diese ihr Zimmer so, als wäre Federico soeben erst zur Tür hinaus gegangen - und nicht bereits vor einigen Monaten verstorben. A veces encontraban pantalones y camisas de Federico desparramadas en los muebles, tirados en el suelo, y olían un resto de agua de colonia y de tabaco habano; era como si un hombre hubiera estado allí unos minutos antes de que llegaran ellas, para tomar 218 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="219"?> un baño y cambiarse la ropa, indolente en el calor, charlar con Julita, mientras fumaba algunos de los gruesos cigarros cuya ceniza blanqueaba en el único cenicero de la habitación. Pero ellas sabían que las ropas eran de Federico, así como el olor del tabaco y la colonia […]. (JC 469) Wie das Zitat belegt, bezieht Julita den gesamten Raum in ihre ‚Federico-Insze‐ nierung‘ mit ein. Sie schafft eine künstliche Unordnung, welche die Besuche‐ rinnen glauben lassen soll, der Verstorbene sei eben noch im Raum gewesen, da sowohl seine Kleidung im Zimmer verstreut, als auch der Duft seiner Zigarren und seines Rasierwassers noch in der Luft liegen. Obwohl die Mädchen um Fe‐ dericos Tod wissen, akzeptieren sie Julitas Spiel. Sie versuchen, die vermeintli‐ chen Spuren Federicos geflissentlich zu übersehen und tauschen lediglich un‐ verfängliche Höflichkeiten mit Julita aus. So wie die briefeschreibenden Mädchen der Acción Cooperadora zu Zuschau‐ erinnen von Julitas ‚Federico-Inszenierungen‘ werden, wird auch Jorge wahl‐ weise zum Statisten oder Zeugen ihrer Inszenierung als schwangere Witwe, denn eine weitere Strategie Julitas, um mit dem Verlust Federicos umzugehen, be‐ steht darin, ihn durch seinen jüngeren Bruder Jorge zu ersetzen. „[M]e trans‐ forma en Federico“ ( JC 447), „Freddy“ ( JC 447), erinnert dieser sich. Auch diese Transformation ist an eine für die literarische Existenz Santa Marías grundle‐ gende Technik angelehnt. Julita adaptiert damit in Juntacadáveres (1964) die dis‐ kursiven Strategien, vermittels derer Brausen in La vida breve (1950) Santa María erschaffen hat: Einerseits das Erfinden von Geschichten und andererseits die Transformation respektive Dopplung von Figuren. So wie Brausen sich selbst, Juan María Brausen, symbolisch für tot erklärt und in den Figuren Díaz Grey und Juan María Arce weiterlebt, so lässt Julita ihren toten Ehemann in dessen Bruder weiterleben - und erhält sich damit die Deutungshoheit über ihre Trauer. In Santa María gilt Julita damit jedoch als ‚Verrückte‘ und als solche wird Julita von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Unterbringung in einer Psychiatrie ver‐ bietet ihr Bruder Marcos allerdings auch: „-Está loca. Loca desde siempre. Lo tengo observado. Ya era rara antes de la viudez, desde antes de conocer a tu hermano.“ Auf Jorges Frage, „por qué no la encierran, no la cuidan, no la vi‐ gilan? “, antwortet Marcos: „-Porque yo no quiero. La veo muy pocas veces pero necesito saber que la tengo ahí.“ ( JC 543) Ihr Häuschen wird somit zum indivi‐ duellen Irrenhaus und im Sinne Foucaults zur Abweichungsheterotopie. Das heißt, Julita wird zwar von der Öffentlichkeit ferngehalten, jedoch nicht in der institutionalisierten Form einer Anstalt, sondern innerhalb der familiären Struk‐ turen. Ihr Bruder bestimmt nach dem Tod ihres Mannes über ihren Aufent‐ haltsort. Dieses Einsperren beschreibt eine räumliche Disziplinierungsmaß‐ nahme innerhalb eines männlich dominierten Machtdiskurses. Julitas öffentliche 219 5.2 Las locas de Onetti <?page no="220"?> 440 So beschreibt Stevens an einer Stelle die strikten Trauerrituale, die lateinamerikani‐ schen Frauen - je nach Verwandtschaftsgrad der oder des Verstorbenen - durch den Marianismo auferlegt werden und welche die Frauen teilweise schon in jungen Jahren durch Verbote (z. B. von Kinobesuchen, allgemeinen Vergnügungen) und Gebote (das Tragen schwarzer Trauergewänder) vom gesellschaftlichen Leben ausschließen. (Cf. Ibid., pp. 9 sqq.) Abwesenheit fügt sich damit auch in die Erwartungen, welche die sanmariani‐ sche Gesellschaft und ihr Bruder Marcos an eine, im marianistischen Sinne ‚gute Witwe‘ stellen. So erfüllt die Beschränkung auf das Häuschen die spezifische Räumlichkeit, die der ‚guten Ehefrau und Mutter‘ in ihrer Rolle als Trauernde zugeschrieben wird. 440 Als junge, kinderlose Witwe dekonstruiert Julita die Er‐ wartung an diese spezifische Weiblichkeit jedoch, indem sie ein Kind mit dem toten Federico imaginiert und sich damit selbst symbolisch zur ‚Santa María‘ stilisiert. Einziger Zuschauer dieser Inszenierung ist Jorge: -¿Pero te das cuenta? -murmuró [ Julita, eig. Anmk.]-. Un hijo. Nadie lo sabe, sólo te lo dije a ti. Lo voy a esconder mientras sea posible. ¿Te das cuenta? […] Un hijo de Federico -completó […]. (JC 399) Allerdings besetzt Julita dabei eine Doppelrolle, insofern sie einerseits die schwangere Jungfrau versucht zu verkörpern und sich andererseits selbst als Schöpferin betätigt, indem sie sich diese Inszenierung ausdenkt. Das heißt, sie bedient sich der männlich konnotierten Technologie des Erfindens, um die er‐ wartete Rolle der ‚guten Mutter und Ehefrau‘ einerseits zu erfüllen und durch deren rein imaginären Charakter gleichsam zu unterlaufen. Sie bricht folglich mit den gesellschaftlichen Erwartungen, die an eine ‚gute‘ Witwe oder trauernde Frau gestellt werden und die etwa Jorges Mutter in ihrer augenscheinlichen Passivität erfüllt. Julita hingegen bleibt zwar, wie die trauernde Schwieger‐ mutter auch, in ihrem Häuschen, d. h. rein räumlich fügt sie sich den Konven‐ tionen, andererseits dominiert sie die Personen, die sie in diesem Raum besu‐ chen, indem sie diese zu reinen Objekten ihrer Trauerarbeit macht. Im öffentlichen (männlichen) Diskurs Santa Marías gilt Julita damit als verrückt: So werden, wie oben beschrieben, die Mädchen der Acción Cooperadora zu un‐ freiwilligen Zeuginnen ihrer kunstvollen ‚Federico-Inszenierungen‘, ihrer un‐ endlichen „novela Federico“ ( JC 543) und Jorge zu ihrem Zuhörer, Zuschauer und Liebhaber. Allerdings sind Julitas selbstbestimmte Handlungen, das Ausleben ihrer Se‐ xualität, die in Kapitel 5.3 analysiert werden, die erfundene Schwangerschaft sowie ihre ‚Federico-Inszenierungen‘, räumlich begrenzt und nur mit still‐ schweigender Billigung ihres Bruders möglich. Das wiederum bedeutet, dass 220 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="221"?> 441 So wird etwa eine Szene beschrieben, in der sie sich um ihren betrunkenen Bruder kümmert, indem sie ihm hilft, sich zu übergeben: „[…] Julita ayudando y su hermano a vomitar en el baño.“ (JC 397) In dieser Geste der Fürsorge scheint eine Mutter-Kind-Be‐ ziehung zwischen Julita und ihrem Bruder durch. Julitas Unabhängigkeit auch eine Art ‚Narrenfreiheit‘ ist, die ihr Marcos zuge‐ steht, da er sie für verrückt hält, sie aber gleichzeitig in seiner Nähe und zu seiner Verfügung wissen will. 441 Den ultimativen Akt der Selbstbestimmung vollzieht sie damit erst durch ihren Selbstmord. Als Jorge das Zimmer der Toten betritt, erinnert er sich an folgende Szene: La miré. […] Colgada de una viga, posiblemente con las vértebras rotas, la cabeza torcida asomaba la punta burbujeante de la lengua. Se había amortajado con una túnica blanca de colegial, severa y tiesa por el almidón; se había adornado con un gran moño de corbata azul. Usaba, para mí, unas medias negras que llegaban, tirantes, hasta el final de las pantorrillas. Supo lo que hizo. Ninguna maestra hubiera podido hacerle un reproche, así en la tierra como en los cielos. (JC 577, eig. Hervorh.) Julita hat sich an einem Balken in ihrem Zimmer erhängt und baumelt noch von der Decke, als Jorge den Raum betritt. Der Anblick, der sich Jorge bietet, rekur‐ riert auf das Motiv der ‚schönen Leiche‘, d. h. des ästhetisierten toten weiblichen Körpers nach Bronfen. Julita trägt eine untadelige weiße Schuluniform, eine große blaue Schleife und schwarze Kniestrümpfe. Während Jorge zu Julitas Lebzeiten nie gänzlich zu ihr vordringen, sie ‚besitzen‘ konnte, ermöglicht ihm der Anblick ihrer Leiche nun eben dieses Gefühl des ‚Besitzens‘. Ein Triumph, der ihm weder durch die sexuelle Penetration ihres Körpers noch durch den Versuch, Julitas Gedanken nachzuvollziehen und Verständnis für ihre Trauer aufzubringen, gegeben war. Indem ihr toter Körper dem Leben und damit der Veränderung entzogen ist, kann Jorge ihn über seinen (männlichen) Blick für sich reklamieren. Der wehrlos von der Decke hängende Körper ‚gehört‘ zum ersten Mal ihm ganz allein: „[…] muerta era por fin mía, amiga sin límites.“ ( JC 578) Verstärkt wird dieses Gefühl des endgültigen Besitzens dadurch, dass er mit der Toten allein ist und folglich die einzige Blickachse zwischen Jorge und dem Leichnam verläuft - ohne beobachtende Blicke anderer Trauernder. Außerdem beschreibt Jorge eine makabre Kommunikation, ein Einverständnis post mortem, zwischen ihm und der Toten: Estábamos entendiéndonos, se iba formando un pacto indestructible, cierta compli‐ cidad en la broma. Se movía lenta y aburrida mientras yo le rezaba una vieja canción: Las marionetas dan, dan dan tres vueltas y se van. (JC 578) 221 5.2 Las locas de Onetti <?page no="222"?> Ihren Tod erträgt er nur mithilfe der von Julita, seines Empfindens nach, ironi‐ schen Inszenierung ihres eigenen Todes („Ayudado por la ironía de la mujer muerta“ JC 675) und so deutet er das langsame Hin- und Herschaukeln der Er‐ hängten nicht als Folge eines Windstoßes, sondern als Reaktion auf das Kin‐ derlied von den tanzenden und nach drei Drehungen verschwindenden Puppen. Anders als die lebende Julita, die stets die Choreographie der gemeinsamen Be‐ ziehung steuerte, ist es nun Jorge, der Julita ‚tanzen lässt‘ und damit die Sub‐ jekt-Objekt-Beziehung zwischen beiden wieder in das traditionelle Muster zu‐ rückversetzt, d. h. die patriarchale Ordnung wiederherstellt. Allerdings basiert die Exposition ihres Körpers auf einer Reihe aktiver weib‐ licher Handlungen, insbesondere der emblematischen Verkleidung und Insze‐ nierung als Schulmädchen und ihrem Selbstmord. Damit hat sich Julita ihre Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit erhalten. So liest Jorge Details ihrer Verkleidung als letzten Gruß an ihn („Usaba, para mí, unas medias negras […].“ JC 578). Durch die Performanz ihres Suizids weist Julitas Wille über den Tod hinaus: „Supo lo que hizo.“ ( JC 577) Indem sie sich im Tod als Inkarnation männ‐ lichen Begehrens inszeniert, entzieht sie das Objekt des Begehrens, ihren lebenden Körper, dem physischen männlichen Zugriff. In ihrer letzten zynischen Inszenierung als adrettes Schulmädchen widersetzt sie sich folglich dem männlich hegemonialen Machtdiskurs Santa Marías. Sie beendet eigenmächtig ihre innergesellschaftliche Ausgrenzung, d. h. die Disziplinierung ihres Körpers, indem sie diesen den männlichen Machttechniken der Ausgrenzung und des Einsperrens entzieht. Diese Disziplinierung, d. h. die räumliche Limitierung auf den häuslichen Raum, von der sie sich durch ihren Suizid befreit, erfolgt sowohl über die Erwartungen, die eine machistisch-ma‐ rianistische Gesellschaft an verwitwete Frauen hat, als auch über den machis‐ tischen Besitzanspruch, den ihr Bruder Marcos auf sie richtet. Jorge interpretiert Julitas suizidale Inszenierung damit als einen Abschiedsgruß, „un adiós a un mundo hecho, administrado por hombrecitos imbéciles.“ ( JC 578) Beim Verlassen des Zimmers reflektiert er seine Rückkehr in eine ‚normale Welt‘, der er durch seine nächtlichen Besuche bei Julita zeitweise entkommen war, denn Jorge ist der Einzige, der Julita nicht für verrückt, sondern für verzweifelt hält und ihren Suizid bereits vorausahnt. Allerdings besitzt Jorge als Heranwachsender noch keinen gesellschaftlichen Einfluss und, anders als Marcos, auch keine öffentliche Stimme in Santa María. Mit Julitas Tod endet auch die Abweichungsheterotopie des Gartenhäuschens als innergesellschaftlich abgegrenzter Raum ihrer Verrücktheit: Ohne die trau‐ ernde respektive verrückte Julita erfüllt das Häuschen im Garten der Malabias 222 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="223"?> 442 Mehrmals betont Lanza seine aufrichtige Suche nach der Wahrheit, gesteht jedoch ein, dass etwa die Vorkommnisse aus dem Phalanstère, über die er berichtet, allein auf Aus‐ sagen Dritter, der ungebildeten Angestellten des Phalanstère, beruhen und Geschichts‐ schreibung immer auch zu einem Teil aus dazu-erfinden bestehe: „A esto, a la escoria documental que se obstina con frecuencia en no dejarse separar del oro refulgente de la verdad, puede añadirse, como simple curiosidad, algún aumentativo. La poderosa imaginación novelística de los analfabetos agrega que […].“ (JC 478, eig. Hervorh.) Was damals tatsächlich im Phalanstère vorgefallen ist und Auslöser für Monchas Flucht war, könne indes kein Außenstehender berichten: „[Q]uedaba ignorada la verdad y todos nosotros intentamos rellenar con honradez y decoro la cáscara vacía.“ (JC 476) Lanzas Geschichte beruht demnach nicht nur auf Aussagen Dritter, sondern ist zum Großteil auch dazu erfunden. Zudem kommentiert Lanza immer wieder die Wahrscheinlichkeit der Gerüchte um das Phalanstère: „Ahora que, en mi persecución de la verdad, debo señalarle dos puntos de mi historia que no resultan del todo convincentes.“ (JC 478) Er versteht sich sozusagen als dilletantischen Autor einer „Introducción a la Verdadera Historia del Primer Falansterio Sanmariano“, der auch die emotional verfälschten Aus‐ sagen von Tagelöhnern und Gauchos in seine Erzählung mit aufnimmt: „Los decires de los destripaterrones y de los jinetes cuidadores de rebaños pueden ser, claro está, hijos de la maledicencia. Un investigador severo creerá, acaso, en ellos. Pero no debe usar la chismographía resentida, tan propia de las clases bajas, para escribir y legar una ‚Int‐ roducción a la Verdadera Historia del Primer Falansterio Sanmariano‘. Yo lo hice.“ (JC 477, eig. Hervorh.) keine gesellschaftlich ausgrenzende, den abweichenden Körper einschließende Funktion mehr. Moncha Insurralde Wie über Helga Hauser, die titelgebende Frauenfigur aus La muerte y la niña (1973), wird auch über Moncha Insurralde ausschließlich als Abwesende und in der Vergangenheit gesprochen. Die Texte vermitteln damit immer schon ein Abbild Monchas, d. h. die tote oder zumindest abwesende Frauenfigur inspiriert einerseits, um mit Bronfen zu sprechen, die Imaginationsfähigkeit der männli‐ chen Figuren, insofern sie Monchas Geschichte erzählen. Andererseits geht sie durch ihre Abwesenheit symbolisch, in Form ihres Abbildes respektive ihrer Geschichte, ‚in den Besitz‘ der Erzähler über. Die Leser*innen erfahren von Moncha Insurralde zuerst aus Juntacadáveres (1964). Der alte Lanza schildert dort ihr Zusammenleben mit Marcos Bergner im Phalanstère, sowie die überstürzte Flucht in ihre alte Heimat Europa. Seine Schilderungen und das Bild, das er von Moncha zeichnet, beruhen zum Großteil auf Informationen Dritter sowie seiner eigenen Imaginationsfähigkeit („La ima‐ gino […].“ JC 476, eig. Hervorh.). 442 Ein altes, vergilbtes Zeitungsbild ist die Grundlage, auf der Lanza seine Version der Geschichte erzählt: „[M]i versión de la foto.“ ( JC 474, eig. Hervorh.) So besieht er sich zwar nicht Monchas Leiche, 223 5.2 Las locas de Onetti <?page no="224"?> 443 Die implizierte Zeitlichkeit ist an dieser Stelle editionschronologisch zu verstehen. symbolisch ist Monchas Körper, als er über sie spricht, durch das (Ab)Bild jedoch bereits dem Leben entzogen. Während Monchas Schicksal zu dem Zeitpunkt, als Lanza ihre Geschichte erzählt, unklar ist, bezieht sich Díaz Greys Geschichte, 1968 in einem separaten Text unter dem Titel „La novia robada“ (1968) veröffentlicht, auf eine tatsächlich tote Frau, deren Geschichte bereits einmal erzählt wurde: „[E]sta historia ya había sido escrita […].“ ( NR o 179) 443 Konkretisiert wird diese selbstreferentielle Anspielung auf Juntacadáveres (1964) mit einem unverbürgten Verweis auf den Erzähler dieser früheren Version: „[S]egún dijo el viejo Lanza o algún irrespon‐ sable nos dijo que informó de ella [Moncha, eig. Anmk.] […]. ( NR o 181) Mit Blick auf Monchas frischen Leichnam, denn wie Julita in Juntacadáveres (1964) ist auch Moncha noch nicht gewaschen und für die Aufbahrung zurechtgemacht, resümiert Díaz Grey: Ahora eres inmortal y, atravesando tantos años que tal vez recuerdes, conseguiste esquivar las arrugas, los caprichosos dibujos varicosos en las piernas hinchadas, la torpeza lamentable de tu pequeño cerebro, la vejez. (NRo 179) Durch ihren frühen Tod umgeht sie die aus männlicher Sicht Unzumutbarkeiten des Alters, sprich Falten oder durch Krampfadern entstellte Beine, aber auch eine gewisse Geisteslahmheit. Den männlichen Erzählern bleibt sie somit als junge und damit begehrenswerte Frau in Erinnerung. Soweit schreibt sich die Figur der Moncha exemplarisch in den Forschungsdiskurs weiblicher Objekt‐ haftigkeit, wie er in Kapitel 1.2 dieser Arbeit entfaltet wurde, ein: „las palabras son más poderosas que los hechos“ ( NR o 180). Der Inhalt der Erzählung, die Geschichte der jungen Moncha Insurralde, gerät im Vergleich zu den Umständen und Strategien des (männlichen) Erzählens in den Hintergrund. Die vorliegende Arbeit postuliert jedoch eine Lesart, die über die Analyse des selbstreflexiven männlichen Schreib- und Erzählprozesses und dessen Implika‐ tionen hinausweist, indem sie die Geschichten über Moncha in den Blick nimmt, d. h. die Ebene der Diegese untersucht: Im Folgenden wird also nicht das dis‐ kursive WIE des männlichen künstlerischen Produktionsprozesses analysiert, sondern das inhaltliche WAS , die retrospektiv beschriebene Frauenfigur und ihre Handlungen. In Lanzas Beschreibung ist Moncha Insurralde eine junge, volljährige Frau, die allein mit ihrem Vater, „madre ya no había“ ( JC 475), aus Europa emigriert ist. Die Mutter ist als Leerstelle markiert und eine weibliche Genealogie wird damit negiert. Das heißt auch, dass eine emotionale Stabilität, wie sie etwa Ger‐ 224 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="225"?> 444 Für eine ausführliche Darstellung der stabilisierenden und schützenden Funktion des mütterlichen Heims cf. die Analyse zu Gertrudis in Kapitel 5.3 dieser Arbeit. 445 In „La novia robada“ (1968) nimmt der Erzähler Díaz Grey, verborgen hinter einem choralen Wir, explizit Bezug auf diese Beschreibung und schafft damit auch eine intratextuelle Verbindung zwischen Juntacadáveres (1964) und „La novia robada“ (1968): „[S]egún dijo el viejo Lanza o algún irresponsable nos dijo que informó de ella: una mirada desafiante, una boca sensual y desdeñosa, la fuerza de la mandíbula. Ya se hizo una vez.“ (NRo 181, eig. Hervorh.) 446 Wie stark Monchas Auflehnen gegen die patriarchale Ordnung wiegt, verdeutlicht Lanzas Kommentar am Ende des folgenden Zitats: „[E]l viejo Insurralde, […], no tuvo más remedio que meter violín en bolsa y aceptar. Aceptó el Falansterio, que ya es mucho, trudis durch ihre Mutter (und vor allem die Rückkehr in das mütterliche Heim) erfährt, Moncha verwehrt ist. 444 Ökonomisch ist Moncha jedoch abgesichert: „[L]os dos tercios de la fortuna de los Insurralde pertenecían a la muchacha.“ ( JC 476) Lanza beschreibt sie als selbstbewusst, außerdem größer und älter als Marcos: „[E]ra mayor que Marcos y mayor de edad.“ ( JC 475) Auf der alten, vergilbten Fotografie sind laut Lanza noch „la mirada desafiante, la boca sensual y desdeñosa, la fuerza de la mandíbula [de Moncha, eig. Anmk.]“ ( JC 475) zu sehen. 445 Beide Zitate beschreiben Moncha über ihr Äußeres, ihre Gesichtszüge, die ausgeprägte Kinnpartie, ihren herausfordernden Blick und ihre Statur als groß und durchsetzungsstark. Der sinnliche Mund verweist auf sexuelle At‐ traktivität, der Zusatz ‚verächtlich‘ suggeriert Überlegenheit. Die direkte Ge‐ genüberstellung mit Marcos, sie ist nicht nur größer, sondern auch älter als er, außerdem durch ihr Erbe finanziell unabhängig, beschreibt eine selbstbestimmte Frauenfigur. Gestützt wird dieses Bild von der Schilderung der männlichen Machtlosigkeit, mit der ihr Vater die Entscheidungen seiner Tochter zur Kenntnis nimmt, wie etwa die, zu Marcos ins Phalanstère zu ziehen und dort ohne Trauschein mit ihm zusammenzuleben. Die entsprechende Ankündigung stellt sich Lanza folgendermaßen vor: Me imagino a la vasquita, única soltera del Falansterio, enfrentando al viejo Insurralde que sólo podía suplicar o decir malas palabras. […] La imagino impasible y resuelta, con esa cara de periódico que ya traté de describirle, dando, una vez, su respuesta: ‚- Quiero conocer de veras a Marcos. Necesito saber quién es antes de casarme. (JC 476, eig. Hervorh.) Monchas Vater symbolisiert demnach nicht die Macht des traditionellen pater familias, der vor der Hochzeit über das Leben der Tochter bestimmt, sondern steht den Entscheidungen seiner Tochter fluchend und flehend, aber letztlich machtlos gegenüber. Moncha bestimmt allein über ihr Leben und unterläuft damit grundlegend die patriarchale Ordnung. 446 Fortgesetzt wird dieser Bruch 225 5.2 Las locas de Onetti <?page no="226"?> si recordamos fechas y situaciones geográficas.“ (JC 475) So spielt Lanza mit dem Ver‐ weis auf die historische und geographische Verortung auf die machistischen Normen des hispanischen Kulturraums an, denen sich Moncha durch ihre Entscheidung, mit Marcos ohne Trauschein zusammenzuleben, widersetzt. durch ihre Ankündigung, sie wolle Marcos zunächst kennenlernen, bevor sie ihn heirate. Eine Aussage, die in Gegenüberstellung mit einem Absatz aus De‐ jemos hablar al viento (1979) geradezu aufrührerisch anmutet: „Porque una chica, una mujer, no es una persona, no llega, no pasa de un cuerpo o una cosa. Hasta que consigue marido y empieza de vuelta la historia […].“ ( DV 661, eig. Hervorh.) Dieser Satz, einem wütenden Monolog María Seoanes entnommen, beschreibt marianistische Abhängigkeitsverhältnisse, demnach eine unverheiratete Frau nichts weiter als ein bloßer Körper oder eine Sache sei und erst durch einen Ehemann diesem reinen ‚Ding-Status‘ enthoben werde. Durch den dis‐ kursiv-performativen Akt der Eheschließung, der in aktiver Form ‚vom Mann‘ ausgeht (‚Der Mann nimmt zur Frau‘), wird ‚die Frau‘ ihrer reinen Materialität enthoben und erhält, wiederum in Abhängigkeit von ‚einem Mann‘, einen hö‐ heren gesellschaftlichen Status. Das Ziel einer jeden bürgerlichen jungen Frau ist es laut María Seoane daher, einen Ehemann zu bekommen. Von Wahlfreiheit ist in dieser patriarchalen Ordnung nicht die Rede. Wenn Moncha Marcos erst einmal richtig kennenlernen möchte, bevor sie ihn heiratet, und dafür als Un‐ verheiratete Bett und Tisch mit ihm teilt, um sich ihr eigenes Urteil bilden zu können, stört sie die patriarchale Ordnung dadurch grundlegend - denn ein bloßer Körper oder eine Sache besitzen keine Urteilsfähigkeit. Diese ist Personen vorenthalten. Nach einigen Monaten flüchtet Moncha auf einem gestohlenen Pferd aus dem Phalanstère und reist nach einer kurzen Rast in Santa María in die Hauptstadt und von dort aus weiter nach Europa: „[L]a vasquita Insurralde disparó del Fa‐ lansterio en un caballo robado, tocó Santa María para descansar, y se fue a la Capital buscando un barco que la llevara a Europa.“ ( NR o 476) Warum sie tat‐ sächlich flüchtet, kann auch Lanza nur vermuten. Er geht davon aus, dass ihr ein Spiel missfiel, in dem die Männer des Phalanstères sich regelmäßig ihre Sexualpartnerinnen auswürfelten. Das Partizip robado,a erscheint in Verbin‐ dung mit dem gestohlenen Pferd aus Juntacadáveres (1964) nun als rhetorische Bedeutungsverschiebung, als Hypallage innerhalb des Gesamtwerks. So wird aus dem gestohlenen Pferd, auf dem Moncha einst davonritt, die titelgebende gestohlene Braut einer vier Jahre später erschienenen Kurzgeschichte. Diese Erzählung schließt inhaltlich an Monchas Geschichte an und setzt mit deren Rückkehr nach Santa María ein. Genauso plötzlich und unerklärlich ihre überstürzte Abreise aus Santa María war, genauso unvermittelt kehrt Moncha 226 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="227"?> 447 Der exzessive Alkoholkonsum, der schließlich zu Marcos‘ Tod führt, wird in Juntaca‐ dáveres (1964) bereits angedeutet. Dort erscheint dieser als Strategie der Trauerbewäl‐ tigung über Monchas plötzliches Verschwinden: „En cuanto a Marcos, estuvo a la altura de las dolorosas circunstancias, supo aceptar el duelo y la adversidad. De vuelta a Santa dorthin zurück: „[N]os cayó […] desde el cielo y todavía no sabemos.“ ( NR o 182) Diese Aussage korrespondiert mit zwei weiteren Textstellen, die als Hin‐ weis darauf gelesen werden können, dass Monchas Rückkehr auf einen Akt diskursiver Gewalt durch Brausen zurückgeht. Eines der Zitate paraphrasiert Monchas oben beschriebene ‚aus heiterem Himmel‘ erfolgte Rückkehr: „[G]olpeó, rebotó, como una pelota de fútbol notablemente rellena de aire, no aplastada y muerta todavía.“ ( NR o 188) Demnach fiel Moncha wie ein praller Fußball, sozusagen aus dem Nichts, vom Himmel. Die Betonung der Prallheit des Fußballs legt nahe, dass Moncha zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr, jung und unverbraucht, no aplastada y muerta todavía, war - und erst während ihres erneuten Aufenthalts in Santa María degenerierte. Das andere Zitat lautet: [L]a vasquita Moncha Insurralde o Insaurralde volvió a Santa María. Volvió, como volvieron, vuelven todos, en tantos años, que tuvieron su fiesta de adiós para siempre y hoy vagan, vegetan, buscan sobrevivir apoyados en cualquier pequeña cosa sólida, un metro cuadrado de tierra, tan lejos y alejados de Europa, que se nombra París, tan lejos del sueño, el gran sueño. (NRo 181 sq.) Diese Textstelle rekurriert auf die metapoetische Abhängigkeit der Figuren von ihrem fiktiven Schöpfer Brausen, respektive seinem Alter Ego Díaz Grey. Dem‐ nach kehrte Moncha wie alle anderen Figuren, die Santa María ursprünglich für immer verlassen wollten, dorthin zurück; nicht jedoch, um in Santa María ihr Glück zu finden, sondern um sich dort irgendwie durchzuschlagen. Die Flucht respektive Rückkehr nach Europa, das im kulturellen Kontext Lateinamerikas des 20. Jahrhunderts einen Sehnsuchtsort (el gran sueño) beschreibt, bleibt ihnen verwehrt. Inwiefern sich die Vermutung, dass Monchas durch diskursive Gewalt zu ihrer Rückkehr gezwungen wurde, auf ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit auswirkt, soll am Ende dieses Analyseabschnitts noch einmal auf‐ gegriffen werden. Zunächst einmal soll jedoch Moncha innerhalb der Kurzgeschichte „La novia robada“ (1968) in den Blick genommen werden. Aus der Ferne, so erfahren wir von Díaz Grey, der Monchas Leben an ihrem Totenbett Revue passieren lässt respektive erfindet, hat sie sich mit Marcos verlobt. Dieser ist jedoch in der Zwi‐ schenzeit an den Folgen seines ausschweifenden Lebenswandels verstorben: „Marcos había muerto seis meses atrás, después de comida y alcohol, encima de una mujer.“ ( NR o 186) 447 227 5.2 Las locas de Onetti <?page no="228"?> María se dedicó por un tiempo a emborrachar en público su tristeza. Después cargó el yate con cajones de bebidas, obtuvo la presencia fraternal de algunas mujeres y amigotes y desapareció río arriba, o abajo, durante varios meses.“ (JC 477) Als intratextueller Verweis wird dieses Zitat in „La novia robada“ (1968) wiederaufgenommen. Die dio‐ nysischen Bootsausflüge werden dabei ins Unendliche gedehnt, insofern Marcos in der Erzählung Díaz Greys von dieser Reise nicht mehr zurückkehrt. 448 Für eine Analyse der männlichen Erzählstimmen cf. Kapitel 4.2 dieser Arbeit. Als Moncha aus Europa zurückkehrt, vertraut sie Díaz Grey an, dass sie hei‐ raten werde: „[M]e voy a casar, me voy a morir.“ ( NR o 185) Durch die Figur des syntaktischen Parallelismus werden beide Aussagen gleichgesetzt. Das erste Ereignis, me voy a casar, erhält dadurch die gleiche Evidenz und Relevanz wie me voy a morir: So sicher wie Moncha sterben wird, so sicher wird sie auch heiraten. Somit kann diese Aussage auch als Vorausgriff auf ihren späteren Selbstmord gelesen werden. Nachdem Moncha im Anschluss an ihren Besuch bei Díaz Grey in die Hauptstadt gereist ist, um sich ein Hochzeitskleid aus den mitgebrachten Stoffen fertigen zu lassen, sperrt sie sich in ihrem Elternhaus ein. Was zwischenzeitlich geschehen ist, bleibt den Leser*innen indes verborgen. Monchas (Nicht-)Wissen von Marcos‘ Tod erscheint im Text als narrative Leer‐ stelle. Das nächste, was wir von ihr erfahren, ist, dass sie sich in ihrem Eltern‐ haus einsperrt: „Se encerró, con llave, en su casa, no quiso recibir a nadie […].“ ( NR o 182) Bald kursieren erste Gerüchte über nächtliche Hochzeitsrituale, die sie dort, im Garten ihres Hauses, in bestimmten Mondnächten inszeniert: Sabíamos, se supo, […] que en las noches peligrosas de luna recorría el jardín, la huerta, el pasto abandonado, vestida con su traje de novia. Iba y regresaba, lenta, erguida y solemne, desde un muro hasta el otro, desde el anochecer hasta la disolución de la luna en el alba. […] La mujer […], colgada siempre y sin peso del brazo del padrino. Hasta que éste murmuraba, sin labios, lengua o dientes, palabras rituales, insinceras y anti‐ guas para entregarla […] al novio en los jardines abandonados, blancos de luna y de vestido. Y luego […] cada noche clara, la ceremonia de la mano, ya infantil, extendida con su leve, resucitado temblor, a la espera del anillo […] de rodillas junto a su fan‐ tasma, escuchando las ingastables palabras en latín que resbalaban del cielo. Amar y obedecer, en la dicha y en la desgracia, en la enfermedad y en la salud, hasta que la muerte nos separe. (NRo 183 sq.) Die anonymisierte plurale Erzählstimme, hinter der sich, wie wir im Vorspann zur Geschichte erfahren, Díaz Grey verbirgt (cf. NR o 181), weiß von Monchas nächtlichen Inszenierungen. 448 Es folgt eine detailreiche Schilderung der Trau‐ zeremonie, in der sie von einem nicht näher benannten Mann, dem padrino an den nächsten, ihren zukünftigen Ehemann Marcos übergeben wird. Die einzig 228 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="229"?> nicht-erträumte Person in dieser Inszenierung ist jedoch Moncha selbst, alle anderen Figuren, der Brautführer, an dessen Arm sie geht, der zukünftige Bräu‐ tigam sowie der Pfarrer, sind reine Traum- oder Phantasiegestalten (fantasma). Das Ende des Trauspruchs, ‚bis dass der Tod uns scheidet‘ erscheint in diesem Kontext zynisch, da der Tod die beiden Liebenden eben nicht scheidet, sondern nur vorübergehend trennt und diese Trennung durch Monchas angedeuteten Selbstmord kurz vor der Aufhebung steht: „Sólo a ella le faltaba morir.“ ( NR o 195) Monchas Trauer generiert folglich eine Verbindung, die über den Tod hi‐ naus geht. Moncha und ihr Bräutigam „volaban nacidas en otro mundo, tan aparte, tan ajeno“ ( NR o 183). In ihrer Phantasie lässt sie den Toten wieder auf‐ erstehen. Die hohen Mauern um ihr Elternhaus schirmen die Gesellschaft von Monchas somnambulen Inszenierungen ab: „Los muros, ociosamente altos, de la casa del muerto vasco Insaurralde nos protegían del grito y de la visión.“ ( NR o 183) Allerdings wird Monchas anfänglich selbstbestimmter Rückzug dadurch auch mehr und mehr zum Gefängnisaufenthalt und in diesem Sinne ihr elterli‐ ches Anwesen zum heterotopen Ort. So heißt es nicht mehr, dass sie sich selbst einsperrte, sondern vielmehr, dass sie eingesperrt war: Moncha estaba encerrada en la casa, excluida por los cuatro muros de ladrillos y de altura insólita. Moncha, guardada, además, por ama de llaves, cocinera, chofer inmóvil, jardinero, peonas y peones, era una mentira lejana, fácil de olvidar y no creer, una leyenda tan remota y blanca. (NRo 183) Ein ‚bewegungsloser Chauffeur‘, eine Haushälterin, eine Köchin, Gärtner sowie eine Reihe von weiteren Angestellten bewachen Moncha in ihrem Haus. Durch diesen gesellschaftlichen Ausschluss, ihr Eingesperrtsein in ihren eigenen vier Wänden, verblasst die Erinnerung an Moncha und die junge Frau wird bereits zu Lebzeiten zur Legende. Um den öffentlichen Frieden und ihre Ruhe in Santa María nicht zu gefährden, schweigen die Bewohner*innen über die nächtlichen Vorkommnisse im Garten und Haus der Insurraldes und halten die Farce von der bevorstehenden Hochzeit aufrecht. Sie wollen ihre Ruhe haben und mit der Trauer der jungen Frau nicht behelligt werden, denn sie verspüren ein „deseo respetable de sentir[se] cómodos y abrigados, deseo de que nadie, ni Moncha, loca, muerta, viva, bien, admirablemente vestida, [les] quitara minutos de sueño o de placeres normales.” ( NR o 188) Dadurch trifft Moncha auf eine doppelte Mauer, eine des Schweigens und eine physische Barriere aus Ziegelstein. So wie die Bewohner*innen Santa Marías in Juntacadáveres (1964) ihre Türen und Fenster vor den ankommenden Prostituierten verschließen, so scheinen sie sich in „La novia robada“ (1968) auch vor Monchas somnambulen Hochzeitsritualen zu verschließen. Monchas psychische Isolation besteht indes darin, dass sie für 229 5.2 Las locas de Onetti <?page no="230"?> verrückt erklärt wird: „Ella, Moncha, estaba loca.“ ( NR o 188) Damit verbannt das erzählende Wir sie scheinheilig, „impulsada apenas por nuestra buena voluntad” ( NR o 187), in ihre eigene Geisteswelt und selbst wenn Moncha das erfundene Leben mit einem abwesenden Marcos im öffentlichen Raum fortsetzt, wird dies von ‚den Leuten‘, stillschweigend ignoriert. So bestellt sie etwa einen Tisch im Restaurant, wobei der Platz ihr gegenüber zwar für den abwesenden Marcos gedeckt ist, aber logischerweise frei bleibt: [A]vanzó en sueños hasta la mesa de dos cubiertos que había reservado. El traje de novia cruzó, arrastrándose, las miradas y estuvo horas, más de una hora, casi sose‐ gando ante el vacío -platos, tenedores y cuchillos- que sostuvo enfrente. Ella, apenas contenta y afable, preguntó a la nada y detuvo en el aire algún bocado, alguna copa, para escuchar. […] No muy temprano ni tarde, el maître en persona […] trajo la cuenta doblada sobre un platito y la dejó exactamente entre ella y el otro ausente, invisible, separado de nos, de Santa María […]. (NRo 195) Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen in dieser Schilde‐ rung. Die Wirklichkeitsflucht entspricht in der Logik des Onetti’schen Gesamt‐ werks, wie etwa das Beispiel Juan María Brausens in La vida breve (1950) belegt, einer männlich konnotierten Strategie der Krisenbewältigung. Diese wird von Moncha adaptiert. Im Gegensatz zu den männlichen Protagonisten, die sich dieser Strategie bedienen und damit zwar als ‚Gescheiterte‘ gelten, werden Frauen, die sich den Umständen durch Imagination einer eigenen Wirklichkeit entziehen, als verrückt bezeichnet. Während Scheitern immer das aktive Ele‐ ment eines vorausgegangenen Versuchens beinhaltet und innerhalb einer Norm verortet ist, impliziert ‚ver-rückt‘ vor allem eine Abweichung von der Norm. Dieses Abrücken ist zudem passiv konnotiert, da es einer Person ohne aktives Zutun ‚geschieht‘ bzw. durch die gesellschaftliche Unterscheidung in ‚normal‘ und ‚wahnsinnig‘ generiert wird. Diese konträre Konnotation onirischer Kri‐ senbewältigung, je nachdem, ob eine männliche oder eine weibliche Figur sich aus ihrem Alltag ‚wegträumt‘, verstärkt die Alterität der Frau in Bezug auf die diskursive männliche Norm. Das wiederum bedeutet, dass dieselben aktiven Handlungsmuster innerhalb einer patriarchalen Ordnung unterschiedlich, d. h. geschlechterspezifisch als aktiv (männlich) respektive passiv (weiblich) wahr‐ genommen werden. In Monchas Fall wird dieses ‚Verrücken‘ der weiblichen Figur durch ein „complot de mentira y silencio“ ( NR o 186) untermauert und räumlich abge‐ grenzt: „Otra loca, otra dulce y trágica loquita, otra Julita Malabia en tan poco tiempo y entre nosotros, también justamente en el centro de nosotros […].“ ( NR o 185) So lebt sie inmitten der Gesellschaft und doch separiert von ihr. Wie Julitas 230 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="231"?> Gartenhäuschen, so fungieren folglich auch Monchas Elternhaus und der zuge‐ hörige Garten als Abweichungsheterotopie, denn Moncha imaginiert dort, in‐ nerhalb der trennenden Mauern und gleichsam mitten in Santa María, ein Leben mit dem toten Marcos. Damit agiert sie wie Julita, die den Tod ihres Mannes nicht akzeptiert und ihre Trauer durch verschiedene Strategien der Imagination und Inszenierung verarbeitet. Während Julita eine Schwangerschaft imaginiert, erinnert sich Díaz Grey an Monchas „primer, siniestro, desconsolado aborto“ ( NR o 180). Da aborto im Spa‐ nischen nicht näher bestimmt ist und sowohl einen natürlichen Schwanger‐ schaftsabgang als auch einen künstlichen, d. h. medizinisch herbeigeführten Abbruch, bezeichnen kann, sind zwei Lesarten möglich: Entweder Moncha kann aufgrund biologischer Ursachen keine Kinder bekommen oder sie unterbindet eine mögliche Mutterschaft durch aktiven Schwangerschaftsabbruch. In jedem Fall unterläuft sie damit in „La novia robada“ (1968), ob nun intendiert oder unfreiwillig die ihr gesellschaftlich zugewiesene Rolle als Ehefrau und Mutter. Ebenso wenig erfüllt sie folglich das christliche Fortpflanzungsgebot. Die wei‐ tere Einordnung ihrer Handlungen in dieser Erzählung sind davon abhängig, ob Moncha aus freiem Entschluss nach Santa María zurückgekehrt ist oder ob ihre Rückkehr, wie oben vermutet, auf einem diskursiven Gewaltakt Brausens ba‐ siert. Für diese Lesart spricht Díaz Greys Sozialdiagnose am Ende der Erzählung, als er über Monchas Selbstmord befindet: „Estado o enfermedad causante de la muerte: Brausen, Santa María, todos ustedes, yo mismo.“ ( NR o 199) Demnach sind das metafiktive Santa María, der fiktive Schöpfer Brausen, sowie Díaz Grey als dessen Alter Ego für Monchas Tod verantwortlich. Gleichwohl lassen sich Monchas Selbstmord und ihre vorausgegangenen somnambulen Hochzeitsins‐ zenierungen auch als Widerstand gegen die diskursive Gewalt Brausens lesen. Dieser Vorschlag korrespondiert mit der Selbstbestimmtheit, die Moncha in Juntacadáveres (1964) demonstriert und verkörpert. Monchas amazonenhafte Flucht aus Santa María wird in dieser Argumentation zum gescheiterten Fluchtversuch vor einer patriarchal-christlich organisierten Gesellschaft, inso‐ fern sie in „La novia robada“ (1968) zur Rückkehr gezwungen wird. Der so ge‐ sehen zweite Fluchtversuch, ihr Selbstmord, gelingt schließlich. Moncha ent‐ zieht ihren Körper damit den Disziplinierungsmechanismen und Geboten einer patriarchalen Gesellschaft, in der sie sich als junge, finanziell und geistig unab‐ hängige Frau, die sich gegen marianistische Weiblichkeitszuschreibungen und damit gegen die herrschende Ordnung stellt, keinen Platz findet. Diese Lesart vermeidet auch die diskursive Viktimisierung Monchas, die Díaz Greys Sozial‐ diagnose nahelegt. 231 5.2 Las locas de Onetti <?page no="232"?> 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt: Artikulationen weiblicher Selbstbestimmung Durch den Phallogozentrismus, der die Onetti’schen Texte durch die Aus‐ schließlichkeit männlicher Erzählstimmen prägt, wird die Frau als ‚die Andere‘ im Gegensatz zu den männlichen Erzählern markiert. Wenngleich dieser Phal‐ logozentrismus konstituierender Bestandteil der Onetti’schen Erzähltexte ist, lassen sich vermittels des relationalen Machtbegriffs nach Foucault bestimmte Handlungsmuster herausarbeiten, die ‚den Frauen‘ innerhalb der patriarchalen Ordnung einen aktiven Part zuschreiben. Das heißt nichts anderes, als dass weibliche (sexuelle) Passivität an einigen Stellen durch verschiedene Artikula‐ tionen weiblichen Begehrens, Verweigerns oder Sprechens durchbrochen wird, und Frauen sich damit als agierende Subjekte in den Machtdiskurs einschreiben. Sie erheben ihre Stimme gegen die patriarchale Ordnung oder fordern deren Normen durch aktive Sexualität heraus. Wie im vorangegangenen Unterkapitel bereits untersucht wurde, erfahren weibliche Handlungen immer auch in Ab‐ hängigkeit zu den Räumen, innerhalb derer sie ausgeführt werden, gesellschaft‐ liche Bewertung. In diesem Unterkapitel wird daher die Sprach- und Hand‐ lungsmacht der Frauenfiguren Gertrudis, Queca, Miriam sowie Julita Bergner, Frieda von Kliestein und María Seoane in Bezug auf die Räume, in denen sie sich bewegen, analysiert. Gertrudis Gertrudis‘ Brust-Amputation in La vida breve (1950) ist der Auslöser für Brau‐ sens Suche nach einem unversehrten Frauenkörper. Die Krankheit setzt damit indirekt den Erzählstrang, der sich entlang der Achse Brausen / Arce-Queca ent‐ spinnt, sowie die Metafiktion über Díaz Grey und Elena Sala in Gang. Obwohl Brausen Gertrudis zu Beginn des Romans vor allem über deren versehrten und damit für ihn nicht mehr begehrenswerten Körper wahrnimmt, ist es Gertrudis, welche die gesundheitliche Krise überwindet und letztlich auch die Beziehung zu Brausen beendet. Im Gegensatz zu Brausen, der das Appartement als einen‐ gend empfindet, nutzt Gertrudis die Einraumwohnung während ihrer Rekon‐ valeszenz als Rückzugsort. So beobachtet Brausen: Después de haberse ensayado en la clausura del departamento; después de haber tras‐ ladado, en rápidas y emocionantes excursiones, su nueva alegría hasta las calles del centro de la ciudad, Gertrudis empezó a buscar la dicha aparte y antes de mí. (VB 477) 232 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="233"?> 449 Ensprechend liest Maloof die Amputation, tiefenpsychologisch bezogen auf Brausen, als schwere persönliche Verlusterfahrung: „The loss of Gertrudis’s breast is experienced by Brausen, not only as an ongoing separation from the mother, but also as a loss of his own sense of self. In this regard, the scar on Gertrudis’s left breast, from the perspective of the male ‚anti-hero‘, is a signifier for the loss of security provided by a nurturing surrogate mother figure, a loss that exacerbates his own identity crisis.“ ( Judy Maloof: Over her dead body (1995), p. 77) Die Narbe, die Gertrudis von der Amputation bleibt, erinnert Brausen permanent an den existentiellen Sicherheitsverlust, den die körper‐ liche ‚Zerstörung‘ seines Mutterersatzes in ihm ausgelöst hat. Nachdem sie das gemeinsame Appartement für ihre gesundheitliche Regenera‐ tion genutzt hat, findet sie zu ihrer früheren Unbeschwertheit, unabhängig von Brausen und außerhalb des Appartements, im centro de la ciudad, d. h. in aller Öffentlichkeit, zurück. Während Brausen also an Gertrudis‘ Krankheit verzwei‐ felt, überwindet sie diese Krise und wird wieder zur ‚alten‘, fröhlichen Gertrudis aus Studententagen. Brausen hingegen verharrt in seiner depressiven Stim‐ mung. 449 Doch nicht nur emotional, sondern auch finanziell geht Gertrudis ihren eigenen Weg. Sie verlässt dadurch den ihr als verheirateter Frau kulturell zu‐ gewiesenen Ort im Inneren des Hauses. So hat Gertrudis, während Brausen auf seine Kündigung wartet und anschließend von seinen Ersparnissen lebt, einen Job in Aussicht: „Es muy posible que consiga un empleo, […].“ ( VB 481) Brausen hingegen verkriecht sich in der Wohnung. Mit der räumlichen Verschiebung erfährt also auch die ökonomische Potenz innerhalb der Ehe eine solche. Schließlich trennt sich Gertrudis von Brausen. Das Beziehungsende kündigt sich in einer vorweggenommenen räumlichen Separation an. So kehrt Gertrudis be‐ reits während ihrer Genesung immer wieder tageweise in ihr Elternhaus, in einen Vorort von Buenos Aires, zurück. Diese Entscheidung ist einzig „su reso‐ lución de vivir allí“ ( VB 484). Gertrudis verlässt also die gemeinsame Wohnung und geht räumlich auf Abstand zu ihrem Ehemann. In einer Notiz, die sie im Appartement deponiert, schreibt sie: […] me voy a Temperley por unos días. Hablame o vení. No me animaba a decírtelo (aunque no tiene importancia, no pienses locuras), ni a llamarte por teléfono. […] Sé que después de unos días en Temperley estaré contenta y todo volverá a ser como antes. (VB 481) Für ihre Nachricht wählt sie die schriftliche Form, d. h. sie kann sich nicht durchringen, Brausen die temporäre räumliche Trennung direkt, mündlich mit‐ zuteilen. So schreibt sie Brausen, dass nach einigen Tagen in Temperley be‐ stimmt wieder alles so sei wie zuvor. Die Geborgenheit und Ruhe, die sie sich von dem Aufenthalt in ihrem Elternhaus erhofft, ist dabei eng mit der Person der Mutter verbunden: „Estoy segura de que podré recobrarme mucho antes y 233 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="234"?> 450 Doreen Massey: Space, place and gender (1994), p. 180. 451 Brausen und Gertrudis hatten sich zu Studienzeiten in Montevideo über Julio Stein kennengelernt. Dieser wiederum kannte Gertrudis aus einer kommunistischen Stu‐ dentengruppe. 452 Als Asketen bezeichnet ihn Stein daher auch scherzhaft: „Asceta, como se burla Stein […]. […] hecho de negativas -no al alcohol, no al tabaco, un no equivalente para las mujeres- […]“ (VB 467) Er trinkt nicht, er raucht nicht und er schläft nicht mit anderen Frauen. Gemäß Fullers Untersuchungen zur lateinamerikanischen hegemo‐ nialen Männlichkeit versagt Brausen durch seine Askese beim Beweis seiner Männ‐ lichkeit innerhalb seiner homosozialen Peergroup. todo se volverá a ser igual si puedo quedarme unos días más, no sé cuántos, en Temperley con mamá.“ ( VB 483, eig. Hervorh.) Gertrudis bleibt in diesem Fall, als kinderlose Frau, selbst in der Rolle des Kindes bzw. wird mit der Rückkehr in ihr Elternhaus wieder zum Kind. Anders als in den Geschichten über Moncha und Julita, die jeweils alleine bzw. nur mit Angestellten in den Häusern leben, ist Gertrudis‘ Elternhaus von der umsorgenden Weiblichkeit ihrer Mutter ge‐ prägt. Während vor allem Julita als trauernde Witwe von den gesellschaftlichen Erwartungen statisch an ihr Häuschen gebunden wird, bewegt sich Gertrudis frei im öffentlichen Raum sowie zwischen ihrem Appartement mit Brausen und ihrem Elternhaus. Zu Studienzeiten etwa wohnte sie in Montevideo und nach der Brust-Amputation bringt ihr das Leben außerhalb der Wohnung neuen Le‐ bensmut. Sie gehört damit zu den Personen, die laut Massey „happen to have the spatial mobility to have left” 450 . Das bedeutet, während ihre Mutter noch die kulturell bedingte, räumliche Beschränkung auf den häuslichen Bereich lebt, beansprucht ihre Tochter die räumliche Bewegungsfreiheit, verbunden mit Bil‐ dung und politischem Engagement 451 , die verheirateten Frauen eigentlich ver‐ wehrt ist. Gertrudis‘ Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit zeigen sich jedoch nicht nur in Bezug auf ihre Mobilität, sondern auch in Bezug auf ihr sexuelles Be‐ gehren, das sie offen artikuliert. So ist Brausen bereits bei ihrem Kennenlernen in Montevideo von der Zielstrebigkeit überrascht, mit der Gertrudis ihr sexuelles Verlangen auslebt. Gertrudis‘ „despiada manera de suprimir el prólogo, las frases y los gestos que no son fundamentales“ ( VB 448) erstaunt und erregt ihn, denn Gertrudis agiert mit „velocidad masculina“ ( VB 448), d. h. fordernd und aktiv und unterläuft damit die gängigen kulturellen Vorstellungen von weiblicher Passivität und Zurückhaltung. So ist sie es, die bei ihrem Kennenlernen die Ini‐ tiative ergreift und Brausen verführt. Während Gertrudis damit den aktiven, männlich konnotierten Part innerhalb der Beziehung einnimmt, verhält sich Brausen passiv, zurückhaltend und monogam: 452 „[…] casado con la única mujer 234 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="235"?> que seduje o me sedujo a mí […].“ ( VB 467) Gertrudis‘ als männlich konnotiertes Verhalten (zielstrebig, bestimmt, fordernd) führt bei Brausen jedoch nicht zu Irritationen oder gar Ablehnung, sondern steigert vielmehr sein Begehren. Dieses versucht er über die Erinnerung an ihre ersten Begegnungen, die beim Ansehen einer Fotografie der jungen Gertrudis geweckt wurde, erneut abzu‐ rufen, um damit die Kausalkette zwischen verlorener sexueller und künstleri‐ scher Potenz zu durchbrechen. So leidet mit dem Verlust seiner Libido auch seine künstlerische Schaffenskraft, sprich er kämpft mit einer Schreibblockade. (Cf. VB 448) Diese lässt sich jedoch durch das Heraufbeschwören der jungen Ger‐ trudis nicht lösen, da sich seine Frau bereits von ihm entfremdet und beschlossen hat, ihn zu verlassen. Auch diese Entscheidung setzt Gertrudis mit aller Ent‐ schlossenheit um, denn so wie sie ihr sexuelles Begehren offen äußert, so weist sie auch Brausens Annäherungsversuche zurück, als sie ihn nicht mehr begehrt. Sie artikuliert folglich nicht nur ihre Bedürfnisse, sondern auch ihre Grenzen unmissverständlich: -No te muevas -dijo, y nada podía saberse por la voz-. Todo está bien. Pero no te deseo. - Me arrodillé para besarla; ella hizo asomar entre los labios, rígida, la punta de la lengua-. No te deseo -repitió separándose. (VB 591) Wie das Zitat zeigt, sieht sich Gertrudis keineswegs verpflichtet, Brausen, ihrem Ehemann sexuell zu Diensten zu sein. Vielmehr entscheidet sie, ob und wann sie ihn begehrt. Die Zurückweisung erteilt sie mit emotionsloser, gleichgültiger Stimme, d. h. sie muss nicht laut werden, um gehört zu werden. Ähnlich weist sie ihn an anderer Stelle an: „-No te muevas, Juanicho. Puedo mirarte, hasta los pies. No quiero tocarte. […] Yo sé que puedo, pero quiero que lo digas.“ ( VB 516) Gertrudis‘ Blick unterscheidet sich in dieser Szene sowohl von dem im 4. Kapitel beschriebenen männlich-konstituierenden, wie auch von dem in Ka‐ pitel 5.1 erläuterten weiblich-erkennenden Blick, die beide eine bestimmte Machtposition über das betrachtete Objekt bzw. Gegenüber implizieren. Ger‐ trudis‘ Blick auf Brausen zielt in dieser Szene auf gegenseitige Verständigung, wobei ihre Anweisungen, er solle sich nicht bewegen, deutlich auf ihre Domi‐ nanz verweisen. Die Diskrepanz zwischen Gertrudis‘ Überlegenheitsbewusst‐ sein (Yo sé que puedo) und der aktiven Rolle, die sie von Brausen einfordert (quiero que lo digas), lässt die Kommunikation zwischen beiden scheitern. An einem anderen Beispiel soll die Problematik der ambivalenten Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder, die beide haben, und die sich von ihrer tatsächlichen Genderperformance unterscheiden, noch näher erläutert werden. Die folgende Szene spielt sich zwischen Gertrudis und Brausen in ihrem Appartement in Bu‐ enos Aires ab: 235 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="236"?> 453 Judy Maloof: Over her dead body (1995), pp. 74 sq. (Hervorh. i. Orig.) 454 Für eine ausführliche Darstellung der christlichen und insbesondere katholischen Ehe‐ norm, deren Kernelement die Verpflichtung zur Zeugung von Nachkommen bildet, cf. die Enzyklika Humanae Vitae. Über die Weitergabe des Lebens. (Cf. https: / / w2.vatican.va / content/ paul-vi/ de/ encyclicals/ documents/ hf_p-vi_enc_25071968_humanae-vitae.ht ml, 23. 07. 2019) Als intertextuelle Referenz wird diese päpstliche Enzyklika aus dem No hay nadie, no hay ningún hombre, no hay ni la sombra de una posibilidad. ¿Está bien así? ¿Te gusta que no haya? Te gusta. Si crees que estoy mintiendo, no comprendo que no me pegues. Estaría bien que te enfurecieras y me pegaras. Pero no que hables; no hables. Si fuera cierto y también no siendo cierto, ¿cómo podríamos comprendernos con palabras? (VB 516) Ohne dass Brausen sie darauf angesprochen hätte, verteidigt Gertrudis sich in obigem Zitat gegen den Vorwurf, ein anderer Mann sei der Grund ihrer wie‐ dererlangten Fröhlichkeit. Obwohl sich Brausen nicht äußert und Gertrudis‘ Monolog auch nicht unterbricht, weist sie ihn mehrmals darauf hin, dass er, sollte er sie der Untreue verdächtigen, nicht reden solle. Gleichwohl würde sie akzeptieren, wenn er sie als Strafe für ihre potentielle Untreue körperlich miss‐ handeln würde. Dieser kurze Monolog, die vorweggenommene Verteidigung ihrer Treue, verdeutlicht die Diskrepanz, die sich zwischen Gertrudis‘ ‚männ‐ lich‘-aktiver Geschlechterperformance und der aktiven, strafenden Männlich‐ keit entfaltet, die sie von Brausen erwartet - und deren komplementäre Weib‐ lichkeit wiederum von Passivität und Demut gekennzeichnet wäre. Im Spannungsfeld von angenommener und tatsächlicher Geschlechterdarstellung wird die Kommunikation zwischen beiden unmöglich. Juan María Brausen und Gertrudis führen folglich keine Ehe, die ein tradi‐ tionelles Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern, d. h. die institutionali‐ sierte Unterdrückung der Frau impliziert, sondern das Gegenteil davon. Ger‐ trudis handelt, Brausen fügt sich. Dementsprechend schreibt Maloof: In the relationship between Brausen and Gertrudis there is an inversion of traditional gender roles. Gertrudis is portrayed as occupying the ‚masculine‘ position; she is do‐ minant, assertive, and independent. It is she who first seduced Brausen and who finally makes the decision to leave him. Brausen is the passive, dependent, ‚feminine‘ position in the marriage. It is he who suffers from feelings of abandonment and loss that are often associated with the ‚subordinate‘ female after a separation or divorce. 453 Auch in einem weiteren Punkt, der Zeugung von Nachkommen, das sowohl Archetti als auch Stevens als konstitutiv für den Machismo sowie Fuller für die hegemoniale Männlichkeit hervorheben und das für das christliche Ehever‐ ständnis essentiell ist, weichen Gertrudis und Brausen von der Norm ab. 454 So 236 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="237"?> Jahr 1968 in La muerte y la niña (1973) offensichtlich. Cf. dazu auch die Analyse zur Figur des Pfarrers Antón Bergner in Kapitel 4.3.2 dieser Arbeit. 455 In diesem Gespräch scheint wieder der ‚alte Brausen‘, Juanicho, durch, der Gertrudis mit der Aussicht auf Kinder und ein Häuschen im Grünen trösten wollte, dabei aber vor allem sich selbst zu trösten schien. sind sie zwar verheiratet, haben jedoch keine Kinder zusammen. Warum das Ehepaar kinderlos ist, geht aus dem Text nicht hervor. Die mögliche Gründung einer Familie wird nur in einem kurzen Nebensatz thematisiert. So versucht Brausen Gertrudis kurz nach ihrer Operation mit der Aussicht auf ein Kind zu trösten: „[…] tal vez se pueda tener un hijo.“ ( VB 430) Wen Brausen mit diesem Satz wirklich zu trösten versucht, Gertrudis oder eher sich selbst, bleibt jedoch offen, denn Gertrudis äußert keinen Kinderwunsch. Gleichwohl wird sie von Brausen als mütterlich beschrieben: Mi mujer, corpulenta, maternal, con las anchas caderas que dan ganas de hundirse entre ellas; de cerrar los puños y los ojos, de juntar los rodillas con el mentón y dor‐ mirse sonriendo. (VB 453, eig. Hervorh.) Anders als Queca oder Elena Sala, deren zugeschriebene Mütterlichkeit sich auch in ihren Blicken und ihrem Verhalten ausdrückt, assoziiert Brausen nur Gertrudis‘ Physis mit Mütterlichkeit. Dabei bezieht er sich vor allem auf Ger‐ trudis‘ ausladende Körpermitte, insofern ihre Brust aufgrund der Amputation seinem Empfinden nach verstümmelt wurde. Die physische Mütterlichkeit, die Brausen mit Gertrudis verbindet, konzentriert sich demnach nicht auf die post partum nährenden, sondern die gebärenden weiblichen Organe. Er stellt sich vor, wie er in Gertrudis‘ Schoß, einem Embryo gleich, Schutz findet. Im Gegen‐ satz zu der einschüchternden, bevormundenden Mütterlichkeit, die Díaz Grey Elena Sala und Brausen / Arce Queca zuschreiben, ist Gertrudis‘ Mütterlichkeit mit dem Verspechen nach Schutz und Zuflucht behaftet. Queca Während Gertrudis‘ Kinderlosigkeit aus ihrer Sicht nicht thematisiert wird, d. h. die Leser*innen nicht erfahren, ob Gertrudis keine Kinder bekommen kann oder will, sondern nur, dass sie und Brausen keine haben, basiert Quecas Kinderlo‐ sigkeit auf einer klaren Entscheidung. Anders als Gertrudis widersetzt sich Queca damit aktiv der Reproduktion. Sie nimmt, als Brausen an ihrem Bauch eine leichte Wölbung als Hinweis auf eine mögliche Schwangerschaft ausge‐ macht haben will und sie auf das Thema Kinder anspricht 455 , eine dezidiert ab‐ lehnende Haltung gegenüber dem Muttersein ein: 237 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="238"?> 456 Das unterscheidet Queca grundlegend von den Prostituierten in Juntacadáveres (1964), insofern in diesem Roman nicht die drei Frauen, sondern ihr Zuhälter Junta Larsen im Zentrum der Erzählung steht. Nelly, Irene und auch María Bonita sind in Juntacadáveres (1964) nicht finanziell unabhängig, sondern arbeiten für Larsen. Ihre Körper sind damit nicht ihr eigenes Kapital, sondern Larsens. Er verdient seinen Lebensunterhalt mit ihren Körpern. -Te figurás que cuando dice que le gustan las mujeres embarazadas debe ser un de‐ generado. Me estuvo contando la Gorda. ¿Así que te habías creído que yo estaba em‐ barazada? Debía ser la ropa o que estaba hinchada. Nunca voy a tener un hijo. Y como vive en una pieza con el chico ya grande, me contaba la Gorda, le inventa historias, le dice que es el médico. Pero con seis o siete años, el chico se tiene que dar cuenta. […] Imaginate [sic] el angelito. […] Imaginate [sic]. Porque ser madre es algo, ¿no es cierto? […] No te pienses que voy a tener un hijo. Es mucha esclavitud. (VB 551, eig. Hervorh.) Brausens Mutmaßung, sie könne eventuell schwanger sein, weist Queca dabei weit von sich. Die Wölbung erklärt sie mit einem aufgeblähten Bauch und ent‐ sprechend fallender Kleidung, denn aus den Erzählungen ihrer Freundin und, wie Brausen vermutet, Geliebten ‚la Gorda‘ weiß Queca, dass ein Kind mit ihrer Arbeit als Prostituierte und der räumlichen Beschränkung auf ein Ein-Zimmer-Appartement nicht vereinbar ist. Sie selbst werde daher niemals Kinder haben, wie sie mehrfach betont. Im Gegensatz zu Helga Hauser, die in La muerte y la niña (1973) für eine Schwangerschaft ihren (als dadurch sicher vorausgesagten) Tod in Kauf nimmt, widersetzt sich Queca der ‚Sklaverei‘, die Mutterschaft in ihren Augen bedeutet. Sie hat beschlossen, die Verantwortung für ein Kind nicht zu übernehmen. Dies spricht sie offen aus, denn für Queca ist ihr Körper ihr wirtschaftliches Kapital. Sie verkauft sexuelle Praktiken als Dienstleistung an Männer, d. h. ihr Körper wird dadurch zur Ware innerhalb einer Ökonomie des männlichen Begehrens - und nicht zum biologischen ‚Trä‐ gerbehältnis‘ für ein Kind. Allerdings bestimmt sie, anders als die Prostituierten, die in Juntacadáveres (1964) für Larsen arbeiten, selbst über die Verfügbarkeit ihres Körpers. 456 Ihr eigenes sexuelles Begehren richtet sich laut Brausen auf Frauen, d. h. auf weibliche Körper außerhalb der männlich-ökonomischen Logik wie auch außerhalb der christlichen Fortpflanzungsdogmatik. Es erfolgt dem‐ nach eine Trennung zwischen der Sexualität, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdient („Yo me encargo del dinero.“ VB 552) und der Sexualität, die ihre eigenen körperlichen Bedürfnisse befriedigt. Ihre Profession, das damit verbundene Wissen Brausens / Arces um die theoretische Verfügbarkeit ihres unversehrten Körpers sowie dessen daraus resultierendes männliches Begehren nutzt sie für eine Umkehrung der Machtverhältnisse. So verbittet sie sich etwa deutlich, dass 238 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="239"?> 457 R. W. Connell: Masculinities (2005), p. 84. Brausen / Arce für sie spricht. Als er ungefragt ein Telefongespräch in ihrer Wohnung annimmt und sie vor dem Anrufer verleugnet, kann sie es zunächst nicht fassen und beschimpft ihn anschließend aufs Gröbste: La cara le empezó a temblar, se fue llenando de arrugas desconocidas mientras acu‐ mulaba la furia. […] -¿Por qué dijiste que yo no estaba? […] -¿Por qué me negaste? […] -¿Quién sos vos para decir que no estoy? -empezó, y se detuvo enseguida para re‐ spirar; no me lo había dicho a mí ni a nadie, sólo trataba de caldearse, perder la con‐ ciencia, echarse a un lado para que avanzaran los insultos-: ¡Guacho, grandísimo gu‐ acho! -arrancó. (VB 572 sq.) Mit ihrem Wutanfall macht Queca deutlich, dass Brausen / Arce keinerlei Be‐ fugnis besitze, über sie zu bestimmen. Damit reklamiert sie Selbstbestimmung und Unabhängigkeit für sich. Die patriarchale Ordnung sowie Brausens mühsam erlernte machistische Männlichkeit als Brausen / Arce und damit seine Suprematie über Queca, geraten dadurch in die Krise. Da Brausen / Arce Queca in diesem Moment unterlegen ist, regiert er mit ohnmächtiger Brutalität und folgt damit einem Schema, das auch Connell beschreibt. Sie betrachtet körper‐ liche Gewalt als letztmögliche, aber häufig praktizierte männliche Technik zur Wiederherstellung einer beschädigten patriarchalen Ordnung: Violence is part of a system of domination, but is at the same time a measure of its imperfection. A thoroughly legitimate hierarchy would have less need to intimidate. The scale of contemporary violence points to crisis tendencies (to borrow a term from Jürgen Habermas) in the modern gender order. 457 Connell interpretiert Gewaltanwendung als Gradmesser für die Krisentendenz moderner Geschlechterordnungen: männliche Gewalt als Gradmesser einer kri‐ senanfälligen patriarchalen Ordnung. So wird Queca jedes Mal, wenn sie durch ihre Wut und Beleidigungen die patriarchalen Machtverhältnisse und Brau‐ sens / Arces Suprematie herausfordert, von diesem mit körperlichen Misshand‐ lungen bestraft. Ihr verbales Aufbegehren richtet sich vor allem gegen Brau‐ sens / Arces Männlichkeit, die sich in ihrer Brutalität an der des compadrito orientiert. Dementsprechend wählt Queca auch die größtmögliche Demüti‐ gung - sie stellt Brausens / Arces sexuelle Potenz in Frage: -Cornudo -dijo, repitió, me obligó a volver la cabeza; sonreía con el porrón de ginebra entre los pechos-. ¡Cornudo! Tan cornudo … Sos un cornudito. […] ¿No querés saber cuántas veces te hice cornudo? Y ahora me voy a ir a Montevideo. Nunca te hice cornudo en el Uruguay. (VB 574 sq.) 239 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="240"?> 458 Aus Sicht Brausens / Arces stellt Quecas Appartement eine Krisenheterotopie dar, in‐ sofern Brausen alias Arce dort seine ‚Männlichkeits-Krise‘ verarbeitet. Durch ‚hyper‐ potentes‘ Verhalten als gewalttätiger Freier kompensiert er auf Quecas Kosten sein Scheitern, einerseits als Ehemann (im privaten Raum des eigenen Appartements) und andererseits als Angestellter (im öffentlichen Raum als erfolgloser Werbetexter und Drehbuchautor). Für eine detaillierte Darstellung der narrativen Mechanismen dieser Heterotopie cf. Johanna Vocht: „Frauen in Zimmern leben gefährlich“ (2019). 459 Cf. Elena M. Martínez: „Construcciónes del género sexual en la obra de Juan Carlos Onetti“ (2002), pp. 117 sq., cit. p. 118. Queca beschimpft Brausen / Arce als ‚Gehörnten‘, d. h. sie verhöhnt seine sexu‐ elle Potenz, die sich in der Logik des compadrito auch aus der alleinigen sexuellen Verfügbarkeit über die Frau und deren Unterwerfung ableitet. Weibliche Un‐ treue bedeutet demnach einen Angriff auf die männliche Ehre, der mit dem Tod der Frau ‚gesühnt‘ werden kann - und durch den Femizid an Queca auch wird. 458 Miriam Als eine Mischung aus Gertrudis und Queca, d. h. aus (kinderloser) Ehe‐ frau / potentieller Mutter und Prostituierter beschreibt Martínez Miriam, Julio Steins Gefährtin in La vida breve (1950). Demnach verkörpere Miriam „[u]na especie de madre prostituida, […] les da apoyo moral y les provee bienes mate‐ riales a los hombres.“ Martínez merkt außerdem an, dass sowohl die Figur der Mutter als auch die der Prostituierten traditionell für die Erfüllung eines männ‐ lichen Narzissmus und männlicher Bedürfnisse stünden. 459 Mit dieser Aussage unterminiert Martínez die Passivität und Objekthaftigkeit Miriams in Bezug auf Julio Stein. Die in vorliegender Arbeit vorgeschlagene Lesart untersucht Miriam hingegen im Hinblick auf ihre Strategien als Geschäftsfrau und weist ihr damit eine aktive Rolle innerhalb des Geschlechterverhältnisses zu. Die 15 Jahre ältere Miriam ist Steins Geliebte und Muttersubstitut in einem, wie dieser Brausen gegenüber äußert: „[N]o es mentira que la quiera como a una madre; con las licencias lógicas, naturalmente.“ ( VB 441) Als junge Frau verkörperte Miriam die spezifische Weiblichkeit der milonguita. Brausen be‐ zeichnet Miriam als „sentimental, buena y egoísta“ ( VB 439) und Stein schwärmt ihm von Miriams früherer und mittlerweile verblasster Schönheit vor: „[N]o hay palabras para hacerte ver en la cara que tiene ahora al que tuvo antes.“ ( VB 441) Denn in dem Lebensabschnitt, in dem Stein und Miriam in La vida breve (1950) geschildert werden, hat Miriam ihre Jugend bereits hinter sich und fir‐ miert für Stein ausschließlich als „Mami“ ( VB 436). Deren Gesichtszüge „habían atravesado la vida, de la infancia a la vejez, sin cambios decisivos, los huesos que conservaban la belleza debajo de la carne devastada“ ( VB 438). So ist Miriam 240 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="241"?> 460 Der ausführlichen Schilderung dieser weiblichen Selbstinszenierungen im privaten Raum widmet Onetti in La vida breve (1950) zwei längere Texteinheiten: die Kapitel XIX „La tertulia“ und XXIII „La vie est brève“. zwar sichtbar von den Spuren des Lebens gezeichnet, gleichwohl ist ihre Schön‐ heit immer noch erkennbar. Stein beschreibt jedoch nicht nur Miriams äußere Attraktivität, sondern auch deren ‚innere Schönheit‘. Durch diese Charakteri‐ sierung, die im wörtlichen Sinn verstanden, Miriam mit einem individuellen Charakter ausstattet und damit als eigenständige Person auszeichnet, sticht sie unter den Frauenfiguren bei Onetti hervor. Miriam wird, wie Queca, Elena Sala oder Gertrudis, nicht im biologischen Sinn Mutter, ist jedoch durch Eigenschaften und Verhaltensweisen gekenn‐ zeichnet, die als mütterlich konnotiert sind: Aufopferungsbereitschaft, Ver‐ ständnis, Nachsicht und grenzenlose Liebe. Im Gegensatz zu Gertrudis, deren Mütterlichkeit sich ausschließlich in ihrer Physis spiegelt und auf der subjek‐ tiven Wahrnehmung Brausens beruht, verhält sich Miriam Stein gegenüber mütterlich: Entonces Mami volvió a tener la sonrisa condescendiente, propia de la persona madura y preocupada a la que la bondad lleva a jugar con un grupo de niños […]. (VB 561) -No lo veo desde ayer, usted sabe cómo es Julio. Me preocupa porque está enfermo, no debe beber. No se cuida, como siempre. (VB 645) Wie die beiden Zitate belegen, sorgt sie sich um Julio, wenn dieser wieder einmal tagelang nicht nach Hause kommt und zeigt im Umgang mit ihm Nachsicht und Verständnis. Miriams eigene Bedürfnisse geraten hier in den Hintergrund. Gleichzeitig behält Miriam jedoch ihre Selbständigkeit und finanzielle Unab‐ hängigkeit bei. Die gemeinsame Wohnung ist dadurch einerseits als ein Ort mütterlicher Fürsorge und Stabilität markiert, andererseits nutzt Miriam ihre Wohnung auch als Bühne: Ihre Selbstinszenierungen, die sie vor ihrer Beziehung zu Stein als Tänzerin in öffentlichen Cabarets zeigte, verlegt sie im Stil eines Salons in ihre gemeinsame Privatwohnung. Durch das anwesende Publikum bleibt der Anschein der künstlerischen Inszenierung erhalten. 460 Durch diese räumliche Verschiebung vereint die Figur der Miriam folglich zwei Weiblich‐ keiten, die sich nach Archetti allein schon aufgrund ihrer räumlichen Gegen‐ sätzlichkeit ausschließen: die der Mutter (verortet im Inneren des Hauses) und die der Tänzerin (verortet im Bereich des Öffentlichen, der Nachtclubs und der Cabarets). Ein weiterer Aspekt, der diese beiden Weiblichkeiten im Falle Mi‐ riams miteinander vereinbar erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass Miriams Mütterlichkeit sich nicht auf ein tatsächliches Kind richtet, sondern ihr Lieb‐ haber im übertragenen Sinne zum Sohn wird. Ihre Mutterrolle ist damit rein 241 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="242"?> symbolischer Natur und verweist wiederum auf die hierarchische Mutter-Kind-Symbolik im machistisch-marianistischen Geschlechterverhältnis. Allerdings erfüllt der Altersunterschied, der in dieser Beziehung mitschwingt, auch noch eine weitere Funktion. So fungiert Steins Jugendlichkeit und Virilität, die er unter anderem durch zahlreiche Affären unter Beweis stellt, als Bestäti‐ gung für Miriams Attraktivität. Durch Steins Begehren wird sie zur begehrten Person. Dieses Verhältnis spiegelt, mit vertauschten Rollen, das Geschlechter‐ verhältnis zwischen bacán und milonguita wider, denn im Gegenzug für sein Begehren alimentiert sie ihn. So beruht die Beziehung der beiden nach anfäng‐ licher gegenseitiger Leidenschaft auch auf klaren ökonomischen Regeln, die Miriam definiert: [L]e ofreció la mitad de una cama, dos comidas diarias, alcohol y cigarrillos, un poco de dinero para la billetera; y, a veces, consejos y cuidados, un apoyo burlón y vigoroso que acaso Stein nunca podría reconocer. (VB 444) Stein setzt also seinen jugendlichen Körper als Ware im Austausch für Kost und Logis ein, die ihm Miriam anbietet. Allerdings wird Stein dabei nicht zum be‐ gehrten Objekt, sondern bleibt begehrendes Subjekt, über das wiederum sich Miriam als begehrtes Subjekt konstituiert. Miriam wird in diesem Fall zum Sub‐ jekt, da sie die beschriebene Beziehung selbstbestimmt initiiert und durch ihre ökonomische Potenz aufrechterhält. Miriam löst sich also nicht von den grund‐ sätzlich männlich dominierten Subjekt-Objekt-Relationen, sondern nutzt männ‐ liche Machtstrategien, um innerhalb des patriarchalen Systems selbstbestimmt zu bestehen und konstituiert sich damit als handelndes Subjekt innerhalb einer Foucault’schen Machtlogik. Dafür sucht sie sich einen jungen Mann, der ihre Attraktivität durch sein Begehren bestätigt. Die Beziehung zwischen Julio Stein und Miriam erhält damit noch eine dritte, ökonomische Komponente: Die beiden stehen sich nicht nur im Verhältnis als Liebende oder in einer symbolischen Mutter-Sohn-Beziehung, sondern auch als Geschäftspartner gegenüber. Durch diese Vereinbarung wird Miriam von der milonguita zur ‚Mami‘ und entgeht damit der sozialen Liquidation, die ihr als Tänzerin mit zunehmendem Alter und abnehmender Attraktivität innerhalb einer Ökonomie männlichen Begehrens gedroht hätte. Entscheidend ist dabei jedoch, und hier unterscheidet sich die Lesart grundlegend von der Martínez‘, dass Miriam selbst diese Transformation durch ihre ökonomische Potenz verantwortet. Sie nimmt dabei Verhaltens‐ weisen für sich in Anspruch, die ursprünglich männlich konnotiert sind, agiert demnach wie ein weiblicher bacán. Miriams selbstbestimmtes Verhalten kann folglich nicht nur als vorausschauend und klug, sondern auch als subversiv oder progressiv gelesen werden, insofern ein junger Männerkörper einer älteren 242 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="243"?> 461 Ebenso lässt sich Jorges Äußerung, „no cuento“, im Sinne von ‘ich erzähle nicht’, auch als offenes Onetti’sches Vexirspiel mit der Erzählperspektive deuten: Denn wer, wenn nicht Jorge, erzählt dann? weiblichen Figur als Bestätigung der eigenen sexuellen Attraktivität dient und diese Körperlichkeit im Austausch für ökonomische Sicherheit gehandelt wird. Damit widersetzt sich diese Paar-Konstellation zwischen älterer Frau und jungem Mann einem kulturell geformten westlichen Geschlechterverständnis, und Jugendlichkeit wird, gender-unabhängig, zur ökonomischen Größe inner‐ halb der Fiktion. Julita Bergner Knapp 15 Jahre Altersunterschied liegen auch zwischen Julita Bergner und ihrem Schwager Jorge Malabia, den sie nach Federicos Tod zu ihrem Liebhaber macht. Obwohl die Julita-Episode durchgängig von Jorge erzählt wird, ist sich dieser bewusst, dass er auf Ebene der Diegese einen Objekt-Status bezüglich Julita einnimmt: „Me mira y sé que yo no cuento aunque le sea imprescindible. Ni mis problemas, ni mi alma ni mis ganas.“ ( JC 537, eig. Hervorh.) Aus der doppelten Bedeutung, die das Verb contar im Spanischen besitzt, ergibt sich fol‐ gende Situation für Jorge: So erzählt Jorge als intradiegetisch-homodiegetische Instanz zwar die Geschichte, für Julita indes zählt er nicht. 461 Sie blickt ihn an ohne ihn als Person wahrzunehmen. Julitas Blick ist damit dem Elena Salas ver‐ gleichbar, insofern Julitas Macht über Jorge auf dem Begehren, das er für sie empfindet, beruht. Allerdings ist in dieser Konstellation das Erkennen des männlichen Begehrens und die daraus resultierende männliche Ohnmacht nicht an eine zu erfüllende Drogensucht (Elena Sala), sondern an das Ausleben sexu‐ eller Macht und sexueller Erfüllung ( Julita Bergner) gebunden. Jorge erinnert sich: Tengo a Julita desnuda, sabia, un poco curiosa y compasiva, enseñándome con ahínco desesperado todas las formas posibles de la lujuria, de lo perverso, inventando ab‐ surdos, riendo tan enloquecida como si creara, cuerda, maneras novedosas. Sin em‐ bargo, siento, no hay nada nuevo en la intimidad, en la fisiología exhibida y feliz. (JC 540) So zeigt sich Julitas Dominanz vor allem in der Beschreibung ihrer Verfüh‐ rungskünste. Als ältere, erfahrende Frau weist sie den 16-jährigen Schwager in die Spielarten der körperlichen Liebe ein. „[N]o me desea ni espera mi deseo, me está mostrando su cuerpo“ ( JC 529), erinnert sich Jorge an seine sexuelle Initiation. Durch den Alters- und Erfahrungsunterschied entsteht ein Ungleich‐ heitsverhältnis zwischen beiden: Julitas erfahrener Körper wird zum Machtins- 243 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="244"?> 462 Zur Darstellung des Geschlechterverhältnisses im Forschungsdiskurs zu Onetti cf. Ka‐ pitel 1.2 dieser Arbeit. trument über Jorges Körper, denn das, was Jorge so lange herbeigesehnt hat, scheint für Julita nicht mehr als ein bekanntes Spiel, dessen Regeln sie definiert. So bestimmt nicht Jorge, ob und wann sie miteinander schlafen, sondern Julita, wie auch Marcos Jorge gegenüber betont: De un solo cachetazo Julita te aplasta. Así que cuando te acostás con ella, nunca es a la fuerza. Sucede cuando se le antoja a mi inconsolable hermana. Esposa sin tacha, viuda ejemplar. […] Prefiero que te haya elegido a vos. Porque, pibe, nada de sueños. Fue ella. (JC 543, eig. Hervorh.) Marcos macht Jorge damit klar, dass Julita ihm körperlich überlegen sei und er in der Beziehung zu ihr den passiven, sie hingegen den aktiven Part einnehme. Nicht er zwingt sie mit Gewalt zum Sex, sondern sie entscheidet und sie ruft Jorge abendlich in ihr Zimmer. In diesem Sinne findet eine Umkehr der Sub‐ jekt-Objekt-Beziehung innerhalb des Geschlechterverhältnisses, wie es laut Ma‐ loof, Martínez und Millington für Onettis Texte charakteristisch ist, statt. 462 Ähnlich wie Gertrudis in La vida breve (1950), handelt auch Julita in offensicht‐ lichem Gegensatz zu der gesellschaftlich von ihr erwarteten Rolle. Verstärkt wird diese Abweichung durch die Illegitimität ihrer Beziehung, denn Julita ist erstens verwitwet und befindet sich damit in einer von der Gesellschaft gefor‐ derten Situation tiefer Trauer und Zurückgezogenheit und zweitens ist sie mit Jorge nicht verheiratet, d. h. es gibt keinen institutionellen Rahmen für ihre ge‐ meinsame Sexualität - und somit auch keine Legitimierung des Hauses als wei‐ blichen Machtraum im Sinne des Marianismo. Als Rahmen dient einzig ihr Wahnsinn (bzw. die gesellschaftliche Wahrneh‐ mung, dass sie wahnsinnig sei) und damit verbunden die räumliche Beschrän‐ kung auf das Gartenhäuschen. Innerhalb dieser Grenzen agiert Julita selbstbe‐ stimmt, indem sie sich Jorge zum Liebhaber nimmt und sich durch die ‚Federico-Inszenierungen‘ und die imaginierte Schwangerschaft ihre eigene Wirklichkeit erschafft. Ihren stärksten Ausdruck findet Julitas sexuelle Selbst‐ bestimmtheit jedoch nicht in den Szenen, in denen sie Jorge verführt, sondern in der Schilderung einer Masturbationsszene. So beschreibt Jorge, wie Julita, nachdem sie mit ihm geschlafen hat, neben ihm auf der Bettkante sitzt und sich selbst befriedigt: [M]e pide un cigarrillo encendido. Ahora está sentada en el borde de la cama; […] La mano libre descansa entre los muslos; […]. Dice y la mano asciende, acaricia, se‐ para. […] sonríe tan feliz que sufro de envidia y ternura; […] Observo la caricia pueril 244 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="245"?> 463 So zählt Díaz Grey Augusto Goerdel alle von der Kirche verbotenen Arten der Emp‐ fängnisverhütung auf, u. a. die Möglichkeit der männlichen Masturbation. So sei es Goerdel, der seine Frau mit jedem Tag der Enthaltsamkeit mehr begehrt, laut kirchlicher Sexualmoral nicht gestattet, ‚seinen Samen zu verschwenden‘: „[…] que no puede der‐ ramar su semilla en la sábana, que no puede masturbarse, que no tiene salvación […].“ (MN 587) y acompasada de los dedos, espero que no abra los ojos […]. Tira el cigarrillo, se derrumba en la cama, se arquea como un feto, cierra los puños. […] Por fin se duerme. (JC 539) Jorge wird in dieser Szene zum reinen Zuschauer und Voyeur ihrer Lust. Seine Passivität wird durch ihre sexuelle Aktivität verstärkt. Damit unterläuft Julita den männlich-christlich dominierten Reproduktionsdiskurses in doppelter Hin‐ sicht: Zum einen bezogen auf die marianistisch-machistische Negation weibli‐ cher Sexualität und weiblichen Lustempfindens und zum anderen bezüglich eines christlichen Masturbationsverbots, das Díaz Grey in La muerte y la niña (1973) verbalisiert. 463 Frieda von Kliestein Während Julita Bergner durch die ‚Federico-Episoden‘ und ihre Beziehung zu Jorge einen eigenen Handlungsstrang in Juntacadáveres (1964) füllt, prägt Frieda von Kliestein als weiblicher Gegenpart zu Medina die gesamte Romanhandlung von Dejemos hablar al viento (1979). Frieda stammt aus wohlhabenden Verhält‐ nissen. Im lavandischen Exil versorgt ihre Familie sie mit entsprechenden fi‐ nanziellen Zuwendungen, um sie von der Rückkehr abzuhalten, denn in Santa María ist sie Alleinerbin eines beträchtlichen Vermögens. Sie wird als klug („Ella es muy inteligente”, DV 801), stark, selbstbewusst („atlética“, DV 691; „poderosa y segura“, DV 740) und finanziell unabhängig beschrieben. In Lavanda besitzt sie ein Penthouse in einer teuren Wohngegend, in dem sie zeitweise auch Medina beherbergt, sowie ein Haus an der Küste. In Santa María, im zweiten Teil des Romans, mietet sie ein Haus an der Küste und spielt mit dem Gedanken, den örtlichen Nachtclub Casanova zu kaufen. Ihre sexuelle Lust lebt sie offen aus - sowohl in heteroals auch in homosexuellen Konstellationen: „Desde los catorce años ella se había dedicado a emborracharse y a practicar el escándalo y el amor con todos los sexos previstos por la sabiduría divina.“ ( DV 691) Außerdem be‐ trinkt sie sich regelmäßig. Sie reklamiert damit Verhaltensweisen machistischer und hegemonialer Männlichkeit für sich - und geht sogar noch darüber hinaus, indem sie nicht nur mit dem ihr komplementären Geschlecht, also in diesem Fall Männern, Sex hat, sondern mit allen Geschlechtern: „[…] me acostaba con quien me diera la gana.“ ( DV 824) Sie verkörpert damit die Weiblichkeit der bad woman 245 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="246"?> nach Stevens. Durch das Ausleben ihrer bisexuellen Lust unterläuft Frieda die passive Heterosexualität, die der marianistischen Weiblichkeit zugeschrieben wird, in doppelter Weise. Einerseits dadurch, dass sie ihre Lust überhaupt aktiv artikuliert und auslebt und andererseits durch die Adaption männlicher Ver‐ haltensweisen. So beherrscht sie nicht nur Medina in ihrer ‚illegalen Ehe‘ (cf. DV 824) in Lavanda, sondern lädt sich auch zahlreiche Frauen, die zunehmend dem Lumpenproletariat entstammen, zu ihrer sexuellen Verfügung in ihr Haus ein: „[L]lenaba cada sábado, cada madrugada de sábado, el departamento -pa‐ gado por ella- de mujeres cada vez más viejas, asombrosas y abyectas.“ ( DV 691, cf. DV 692) Die sexuellen Beziehungen zu Frauen, die ihr gesellschaftlich unterlegen sind, spiegeln Friedas Drang zur Unterwerfung und Demütigung auf Klassenebene wider. Die Tatsache, dass Frieda auch Frauen begehrt, steht überdies dem christli‐ chen Fortpflanzungsgebot, das insbesondere in La muerte y la niña (1973) ver‐ handelt wird, entgegen. So übt Frieda Sex als körperreflexive Praxis nicht mit dem Ziel der Fortpflanzung, sondern allein zu ihrem (teils sadomasochistischen) Lustgewinn aus. Dabei spielt sie mit den Rollen der Unterworfenen und der Unterwerfenden, wie etwa folgende Szene zeigt: [P]ude verla, bien plantada entre dos canteros secos, atlética, balanceando su vigor, mientras un aborto de padres tuberculosos, […], le […] golpeaba la cara con la mano y Frieda se dejaba; luego empezó a pegarle con la cartera, metódico y sin descanso. Me senté en un peldaño y encendí un cigarrillo. ‚Frieda puede aplastarla con sólo mover un brazo -pensé-. Frieda puede hacerla llegar al río con sólo una patada.‘ Pero Frieda había elegido empezar así el año: con las manos en las nalgas, exagerando la anchura de los hombros del traje sastre, dejándose pegar y gozándolo, contestando a los carterazos con sus roncos ‚Himmel‘ que parecían sonar para pedir más golpes. Cuando la inmundicia se cansó de pegar, lloraron las dos y salieron del jardín a la calle. Las vi detenerse, jadeantes, y caminar abrazadas. (DV 690 sq.) Die Episode wird aus der Sicht Medinas geschildert, der Frieda und eine der Frauen, die sie regelmäßig mit nach Hause bringt, bei einer Prügelei im Vor‐ garten beobachtet. Obwohl Frieda, wie Medina feststellt, ihrer Liebhaberin kör‐ perlich überlegen ist, lässt sie sich schlagen und scheint die Misshandlungen zudem zu genießen. Allerdings gibt Frieda ihre Selbstbestimmtheit auch wäh‐ renddessen nicht auf. Sie hat sich die gewaltsame Szene als Einstieg in das neue Jahr ausgesucht: Frieda había elegido empezar así el año. Frieda unterwirft sich zwar vordergründig, letztlich dominiert jedoch sie die Personen in ihrem Um‐ feld - so auch Medina, wie im Folgenden dargelegt werden soll. 246 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="247"?> 464 In der Rückschau schildert Medina den Streit um eine Frau, den Frieda damals in Santa María nur verloren hat, da die junge Frau aus Angst vor Medinas Polizeiausweis ihm den Vorzug gegeben hatte. (Cf. DV 641) Im ersten Teil des Romans, der von Medina in der ersten Person geschildert wird, ist das Machtverhältnis zwischen Frieda und Medina klar auf Friedas Dominanz ausgerichtet. Sie hält Medina finanziell aus und bestimmt, wann sie miteinander schlafen: La cama, la comida, o los pesos para comer, la pieza, el altillo de un departamento de la Gran Punta de las Carretas, barrio residencial y caro. […] De modo que yo vivía en un pent house en la Gran Punta de las Carretas y ni siquiera hoy, recordando, pen‐ sando, […], puedo comprender el motivo de la semiprotección de Frieda. […] tampoco tenía necesidad de mí en la cama, aunque me supiera siempre obediente […]. (DV 662) Wie die Textstelle zeigt, lässt Frieda Medina in ihrem teuren Penthouse wohnen und kommt auch für sein Essen auf. Zwischenzeitlich wirft sie ihn aus ihrer Wohnung und richtet ihm ein heruntergekommenes Atelier am Alten Markt von Lavanda ein. Die Alimentation beruht auf einer späten Rache für eine ver‐ lorene Buhlschaft: „Los trabajos y los castigos. Cuidar la agonía del viejo que era el primero de la serie de venganzas sin motivo proporcional.“ ( DV 641) 464 Die ‚Arbeiten und die Strafen‘, die sie Medina auferlegt, bestehen etwa darin, am Bett eines greisen Todkranken zu sitzen, sich als Krankenpfleger auszugeben, und dem unwürdigen Schauspiel der Erben am Krankenbett des Alten beizu‐ wohnen. Medina empfindet dies als „desgracia inventada por Frieda para hu‐ millarme durante semanas junto a la cama del viejo” ( DV 648). Die Aufgaben, die sich Frieda für Medina ausdenkt, enthalten damit stets ein Moment der Er‐ niedrigung zur Befriedigung ihrer maliziösen Herrschsucht und ihres Rachebe‐ dürfnisses. Mit dem Erfinden verschiedener demütigender Aufgaben für Medina adaptiert sie, wie Julita und Moncha in Juntacadáveres (1964) und „La novia robada“ (1968), eine männlich konnotierte Machttechnik. Friedas erdachte Bio‐ graphien für Medina können zudem als intratextueller Verweis auf Brausen in La vida breve (1950) gelesen werden, insofern sowohl Brausen als auch Frieda mehrere kurze Leben erfinden - Brausen für sich selbst und Frieda für Medina. Während die Imaginationsfähigkeit bei Julita und Moncha auf ihre häuslichen Heterotopien beschränkt ist, ist Friedas Bewegungs- und Aktionsradius in La‐ vanda nicht auf den häuslichen Bereich limitiert - auch wenn ihre Selbstbes‐ timmtheit dort besonders deutlich dargestellt wird. Exemplarisch für Friedas (finanzielle) Unabhängigkeit soll das temporäre Zusammenleben des Trios Frieda, Medina und Juanina in Friedas Haus an der Küste nachgezeichnet 247 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="248"?> 465 Cf. http: / / www.taz.de/ ! 5180501/ , 15. 08. 2018. werden. So zeigt sich zunächst ihre Macht, als Medina ein junges Mädchen, Juanina, am Strand aufliest, um sie als Geliebte und Modell für seine Zeich‐ nungen zu Frieda nach Hause mitzubringen; denn nicht er entscheidet, ob das Mädchen bleiben darf, sondern Frieda. Dementsprechend heißt das Kapitel, das den Beginn des kurzen Zusammenlebens von Frieda, Medina und Juanina be‐ schreibt auch: „Frieda dice que sí“ ( DV 710) Beide, Medina und Frieda, halten sich in der Folge gegen Kost und Logis an dem Mädchen sexuell schadlos: „Las sesiones de pose con Juanina terminaban casi siempre en la cama. […] Una vez a la semana trepaba [ Juanina, eig. Anmk.] en la sombra hasta el cuarto de Frieda.“ ( DV 721) Frieda und Medina ‚teilen‘ sich also das Mädchen. Die Mütterlichkeit, die Frieda während dieser Zeit der Dreisamkeit zugeschrieben wird, beschränkt sich auf Gesten, „cada movimiento maternal“ ( DV 722), und insbesondere eine subversive Nachahmung häuslicher Handarbeit, wie sie etwa Jorges Mutter in bereits beschriebener Szene exemplarisch ausführt; denn Frieda sitzt nicht, wie Jorges Mutter, in sich versunken über ihre Handarbeit gebeugt in der Wohn‐ stube, sondern liegt in kurzen Hosen auf einem Liegestuhl in der Sonne vor ihrem Haus. Dabei strickt sie ein undefinierbares Kleidungsstück, das für ein dreibeiniges Kind gedacht zu sein scheint: „[D]ecidí […] continuar tejiendo un abrigo para un niño con tres patas.“ ( DV 714) Die Fürsorglichkeit und Aufopfe‐ rungsbereitschaft, die das Stricken bei Jorges Mutter symbolisiert, wird durch Friedas Adaption parodiert. Ihre saubere, ‚weibliche‘ Kleidung („cuidado traje de mujer“ DV 710), mit der sie Juanina in ihrem Haus empfängt, fungiert dabei als Verkleidung, wie das folgende Zitat belegt: „Frieda tejía en la reposera, […] disfrazada con una blusa barroca de mujer […].“ ( DV 713) Frieda nimmt folglich eine Doppelrolle in Bezug auf den häuslichen Bereich ein. Einerseits verkörpert sie die männliche Deutungshoheit eines pater familias, andererseits inszeniert sie sich als Mutterfigur. Während sie den ‚männlichen‘ Part der ‚Hausherrin‘, inklusive Medinas Rauswurf, ohne Ironie ausfüllt, gerät ihre Verkleidung als Hausfrau zur Parodie. Diese Doppelrolle spiegelt sich auch in Friedas bisexu‐ ellem Begehren wider, weswegen Medina sie als „puta ambidextra“ ( DV 805) diffamiert. Friedas sexuelles Begehren beschreibt damit auch eine „Uneindeu‐ tigkeit“, die wie Maria do Mar Castro Varela grundsätzlich konstatiert, „Macht und Herrschaftsprinzipien [unterläuft].“ 465 Innerhalb eines binären, heteronor‐ mativen Geschlechterdiskurses wird Frieda damit zur widerständigen Person par excellence. Im zweiten Teil des Romans, der in Santa María angesiedelt ist, ändert sich jedoch das Machtverhältnis zwischen Frieda und Medina, da Medina dort nicht 248 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="249"?> mehr ihr Liebhaber ist, den sie aushält und dem sie dafür demütigende Aufgaben aufträgt, sondern (wieder) als Kommissar in Erscheinung tritt. Sein Dienstgrad verschafft ihm die gesellschaftliche und juridische Macht, um Frieda zumindest durch polizeiliche Schikane die Stirn zu bieten. So verhängt er etwa für den Nachtclub, in dem sie singt und den sie zu kaufen überlegt, eine verfrühte Sperrstunde. Da Frieda sich Medinas Machtposition als Kommissar und seines Hasses auf sie bewusst ist, wendet sie sich vor dem geplanten Kauf des Nacht‐ clubs Casanova an ihn: „-No quería pedirte ningún favor, comisario. Sólo ha‐ certe una pregunta. Pienso comprar el Casanova. Vos ahora me odiás; si estás contra mí, no puedo ir lejos. Quería preguntarte: ¿compro o me voy? “ ( DV 838) Das Zitat zeigt, dass Frieda auch in dieser Szene selbstbewusst und selbstbe‐ stimmt auftritt. So bittet sie ihn nicht um einen Gefallen, sondern macht deutlich, dass sie um seine Abneigung gegen sie weiß und seine Machtposition allein an seine Profession geknüpft ist. Das heißt, Frieda akzeptiert zwar Medinas exe‐ kutive Verfügungsgewalt als Kommissar, privat ordnet sie sich ihm jedoch auch in Santa María nicht unter. Als er ihr anbietet, sie nach Hause zu bringen, lehnt sie selbstbewusst ab: „- Puedo llevarte. […] -Tengo mi coche -contestó Frieda-.“ ( DV 839) Frieda ist also nicht nur finanziell unabhängig, sondern auch bezüglich ihrer Mobilität. Sie besitzt ein eigenes Auto und bewegt sich damit frei im öf‐ fentlichen Raum. Friedas Dominanz über Medina hält somit auch im zweiten Teil des Romans an, insofern sie ihn zwar nicht mehr direkt durch ihre ökono‐ mische Überlegenheit und die damit verbundenen biographischen ‚Erfin‐ dungen‘ demütigt, sondern indirekt. So nimmt sie die zwei Personen, die Medina am wichtigsten sind, Juanina und Julián Seoane, in ihrem Haus an der Küste auf. Medina scheint bis zum Schluss der Einzige zu sein, der davon nichts weiß. Das heißt, in dem Wettstreit, den beide über ihre Libido und ihre zwischenmensch‐ lichen Beziehungen austragen, dominiert Frieda. Sie spannt Medina einerseits Juanina aus, die er ihn Lavanda geliebt hatte, und andererseits richtet sie den ihr hörigen Julián Seoane, Medinas potentiellen Sohn, durch Drogen und Al‐ kohol zugrunde. Zudem offenbart sie ihm seine Ohnmacht als Mann, wenn sie ihm die konti‐ nuierlichen Täuschungen vorhält, die er von Seiten ‚der Frauen‘ erfährt. So ver‐ höhnt sie sein angebliches Wissen um den Charakter und das Wesen ‚der Frauen‘, das er als Schöpfer Santa Marías für sich reklamiert: „[…], vos, que nos has parido a todas las mujeres, te morirás sin saber con seguridad si una mujer gozó contigo o te lo hizo creer, sin saber si tu hijo es tuyo, sin saber siquiera por qué lo hace.“ ( DV 838, eig. Hervorh.) Das Zitat spielt auf die Fähigkeit von Frauen an, sowohl Orgasmen vorzuspielen als auch den biologischen Erzeuger ihrer Kinder zu verschweigen. Auf dem Feld heterosexueller Praktiken stehen Männer 249 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="250"?> Frauen demnach machtlos gegenüber, insofern sie sich nicht an ‚körperlichen Beweisen‘ für ihre Virilität orientieren können, sondern von der Aufrichtigkeit der Frauen abhängig sind. So bleibt der ‚ultimative Beweis‘ für die männliche Potenz und Zeugungsfähigkeit, die Zeugung selbst, im Inneren des weiblichen Körpers verborgen. Der weibliche Körper erfüllt damit eine ambivalente Posi‐ tion innerhalb des Geschlechterverhältnisses. Er ist nicht nur Ware innerhalb einer männlichen Ökonomie der Lust oder Objekt männlichen Begehrens, son‐ dern auch weibliches Machtmittel. Diese Abhängigkeit, die durch eine grund‐ sätzliche ‚Undurchschaubarkeit‘ oder ‚Unbeweisbarkeit‘ weiblicher körperre‐ flexiver Praxen wie Orgasmus oder Zeugung evoziert wird, verschafft in diesem Kontext ‚den Frauen‘ eine Machtposition gegenüber ‚den Männern‘. Grundle‐ gend für diese Argumentation ist jedoch die Anerkennung weiblicher Sexualität und insbesondere weiblichen Lustempfindens, denn innerhalb eines marianis‐ tisch-machistischen Geschlechterverständnisses wird weibliche Lust per se ne‐ giert und kann damit auch nicht als Gradmesser männlicher ‚sexueller Perfor‐ mance‘ gelten. Eine Weiblichkeit, die auf ökonomischer Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, aktiver Sexualität und dem Einfordern von Lustempfinden beruht, wie sie von Frieda von Kliestein in Dejemos hablar al viento (1979) ver‐ körpert wird, unterläuft hingegen eine patriarchale Ordnung, deren Grund‐ pfeiler die Dichotomie zwischen männlicher Aktivität und weiblicher Passivität bilden. Wie schon im Falle Julitas und Monchas in Juntacadáveres (1964) und „La novia robada“ (1968), endet jedoch auch Dejemos hablar al viento (1979) mit der Restitution der patriarchalen Ordnung, welche wiederum auf dem Tod des ‚ord‐ nungsstörenden‘ weiblichen Subjekts beruht. So wird Frieda gegen Ende des Romans ermordet aufgefunden, wobei die Disziplinierung ihres Körpers hier nicht zu Lebzeiten durch räumliche Beschränkung auf spezifische Heterotopien, sondern post mortem stattfindet. Dargestellt wird die männliche Brutalität, die nach ihrem Tod gegen ihren Körper angewandt wird, in dem programmatischen „Capítulo XXXVIII . Frieda en el pasto, en el asilo y en la escuela“ (cf. DV 857-864). In Ermangelung der entsprechenden polizeilichen und medizinischen Infrastruktur wird Friedas Leichnam in diesem Kapitel von zwei Männern (dem Polizeiangestellten Martín und dem Arzt Díaz Grey) auf den Rücksitz eines Autos gequetscht und auf der Suche nach einem geeigneten Platz für die Ob‐ duktion in einer irrwitzigen bis demütigenden Odyssee durch Santa María ge‐ fahren. Dass jedoch Friedas Körper auch nach ihrem Tod noch widerständig ist, zeigt folgende Beschreibung: „Martín y yo en el coche con la mujer y ésta todavía semiendurecida, asomando una pierna como una rama de árbol por una de las ventanillas.” ( DV 860) Die Szene wird von Díaz Grey geschildert. Zusammen mit 250 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="251"?> Martín versucht er Friedas gerade halb erstarrten Leichnam auf der Rückbank eines normalen Autos zu verstauen. Ihr Bein lässt sich jedoch nicht mehr ent‐ sprechend abbiegen und daher ragt es durch eines der hinteren Fenster. Friedas toter Körper sträubt sich gegen die Disziplinierungsmaßnahmen der beiden Männer. María Seoane María Seoane ist neben Galvez‘ Frau (El astillero, 1961), Helga Hauser (La muerte y la niña, 1973) oder der Bediensteten Eufrasia (Cuando ya no importe, 1993) eine der wenigen Frauenfiguren innerhalb des Onetti’schen Gesamtwerks, die tat‐ sächlich ein Kind zur Welt gebracht haben. Sie tritt in Dejemos hablar al viento (1979) als Mutter von Julián Seoane und frühere Geliebte Medinas ausschließlich im ersten Teil des Romans in Erscheinung. Das Verhältnis zwischen ihr und Medina stellt sich eigentümlich dar, insofern Medina zwar die Vaterschaft für Seoane nach dessen Geburt vor Gericht geleugnet hat, gleichwohl den ganzen Roman über und insbesondere im zweiten Teil versucht, ein Vater-Sohn-Ver‐ hältnis zwischen sich und Julián zu etablieren. Da er die Kindheit Juliáns durch die Verweigerung der Vaterschaft nur sehr partiell, während seiner wenigen sonntäglichen Besuche bei María Seoane miterlebt hat, erfindet er in Santa María, d. h. im zweiten Teil des Romans, eine Kindheit für seinen potentiellen Sohn. (Cf. DV 842-850) In seinem verantwortungslosen Verhalten verkörpert Medina die von Fuller beschriebene Figur des padre ausente. Das bedeutet, Me‐ dina verweigert die Hochzeit mit María Seoane und damit auch die finanzielle Verantwortung für den gemeinsamen Sohn; gleichwohl behandelt er Julián wie seinen Sohn. In der Rückschau stellt Medina fest: „[V]einte años atrás yo había cesado como macho por no casarme con ella, […]; veinte años atrás por no haber aceptado pública y judicialmente que el ex feto que ella me mostraba era mi hijo.“ ( DV 659) Mit diesem Versagen als ‚Macho‘ verwehrt er María Seoane auch die gesellschaftliche Anerkennung, die sie als verheiratete Frau und Mutter erhalten hätte. Als Julián bereits erwachsen ist, dreht sie die Machtverhältnisse daher um: „-Ya no me importa -dijo-, pero todo sería distinto si hace veinte años te hubieras portado como un macho.“ ( DV 659) Sie besteht nicht mehr auf die An‐ erkennung der Vaterschaft, sondern zieht diese vielmehr in Zweifel, ohne jedoch den tatsächlichen Vater zu nennen. Nach Stevens zieht sie damit symbolisch auch Medinas Potenz in Zweifel, indem sie ihm den offensichtlichen Beweis seiner Zeugungskraft und Virilität entzieht. Indem María den tatsächlichen Vater ihres Kindes verschweigt, nimmt sie die Deutungshoheit an sich: Medina rückt in diesem Kontext auf eine ohnmächtige Position, denn wer der tatsäch‐ liche, biologische Vater ist, kann letztlich nur María Seoane wissen und diese 251 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="252"?> nutzt ihr Schweigen als Machtdemonstration gegenüber Medina. Marías späte Selbstermächtigung geht einher mit einem Monolog über die Ungleichheit zwi‐ schen den Geschlechtern: Los hombres: frente a los demás tan amables y buenos. Con una, siempre superiores, la cama, el silencio, la grosería. Y nosotras, muchachas, sin poder vivir libres como ellos, ir a los campamentos, inventar viajes, no tener horas ni siquiera días para volver a mamá. Y si lo querés oír más claro, las muchachas no podemos aprovechar un farol sin luz para tantearles el bulto y ellos sí pueden manotearnos las tetas y el culo. Y nosotras, muchachas que lo estábamos esperando con todas las ganas y decíamos sin ruido la oración de San Judas Tadeo para que sucediera, teníamos que decir qué se ha creído y por quién me toma. Y si además una se casa o se entrevera y sucede nueve por diez con uno más burro, en una discusión hay que dar siempre un paso atrás y decir que sí, no se me había ocurrido. […] Después nada más que la mezquindad re‐ petida, después nada. El marido rabioso, la mierda de los pañales, la cocina. Y siempre, Medina, desde que me asomaron las tetas, ustedes, los machos, reunidos, apresurados para juzgar. Porque una chica, una mujer, no es una persona, no llega, no pasa de un cuerpo o una cosa. Hasta que consigue marido y empieza de vuelta la historia que te estuve contando. (DV 660 sq.) In seiner Deutlichkeit und Pointiertheit ist dieser Monolog aus dem Mund einer weiblichen Figur außergewöhnlich für Onettis Erzählwerk. So wird Marías pre‐ käre private Situation als alleinerziehende, ledige Mutter durch ihre Äuße‐ rungen politisch - allerdings ausschließlich auf diskursiver Ebene, insofern sie durch ihre Rede die männlich dominierte Erzählperspektive unterläuft. Auf Ebene der Diegese bleibt die politische Wirkung ihrer Rede durch machträum‐ liche Einschränkungen limitiert: Denn María Seoane äußert sich nicht öffent‐ lich, sondern (nur) Medina gegenüber und innerhalb ihrer privaten Räume. In ihren Ausführungen prangert sie das marianistisch-machistische Geschlechter‐ verständnis und die daraus abgeleiteten Ungleichheiten an. Sie schimpft auf die Einschränkungen weiblicher Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, die ihr durch ihre reproduktiven Fähigkeiten und die daraus resultierenden gesell‐ schaftlichen Konventionen auferlegt sind. Sie spricht von der gesellschaftlich geforderten Zurückhaltung und Unterwürfigkeit ‚der Frauen‘, die sowohl sprachliche Selbstverleugnung (en una discusión hay que dar siempre un paso atrás y decir que sí, no se me había ocurrido) als auch die Negierung ihrer Sexu‐ alität impliziere. Diese Konvention führe dazu, dass adoleszente Männer ihre Sexualität frei ausprobieren dürften (wie auch Fuller für die hegemoniale Männ‐ lichkeit unter Heranwachsenden herausgearbeitet hat), adoleszente Frauen ihre Lust und ihr Begehren hingegen hinter einem Diskurs der Keuschheit, Unwis‐ 252 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="253"?> senheit und Unbedarftheit verstecken müssten. Männer dürften Frauen zudem als Objekte ihres Begehrens benutzen, ihre Körper ungefragt berühren und als Ehemänner für sich reklamieren, während Frauen diese Möglichkeit durch den Diskurs weiblicher Asexualität und Passivität verwehrt bliebe. Als junge, un‐ verheiratete Frauen, so María Seoane weiter, seien sie nichts weiter als un cuerpo o una cosa und damit dem Begehren sämtlicher Männer ausgesetzt, als Ehe‐ frauen den mitunter brutalen Launen des Ehemanns. Ihr Bewegungsradius be‐ schränke sich, wie die beschriebenen Fürsorge-Aufgaben (la mierda de los pa‐ ñales, la cocina) nahelegen, auf den häuslichen Bereich. Diese räumliche Bindung an das Haus zeige sich bereits in der Immobilität, die ihr als junger Frau auferlegt wurde und die in starkem Gegensatz zur potentiellen Mobilität junger Männer stand. Die Tatsache, dass frau einen Ehemann ‚zu erlangen habe‘ (consigue ma‐ rido), d. h. die Ehe als gesellschaftliche Norm existiert, erklärt auch María Se‐ oanes Wut auf Medina und verdeutlicht den emotionalen Zwiespalt, in dem sie sich aus der Sicht Medinas durch die patriarchale Ordnung befindet. So resü‐ miert er: „Ella odiaba los machos porque no podía vivir sin tenerlos.“ ( DV 659) María Seoane hasse demnach ‚die Männer‘ ob der oben beschriebenen Unge‐ rechtigkeiten und könne gleichzeitig jedoch nicht ohne sie leben, d. h. sie ist Teil der patriarchalen Ordnung, innerhalb derer sie lebt, und kann sich der hege‐ monialen Männlichkeit, welche diese Ordnung legitimiert, nicht entziehen. Dies umso weniger, als sie ein ‚echtes‘ Kind hat, d. h. sie inszeniert ihre Mutterschaft nicht symbolisch oder parodistisch - wie Julita Bergner in Juntacadáveres (1964) oder Frieda von Kliestein in Dejemos hablar al viento (1979) - oder wird für einen erwachsenen Mann zur Mutterfigur - wie Miriam in La vida breve (1950) -, sondern ist seit der Geburt ihres Sohnes Julián mit den finanziellen Problemen und den gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber einer unverheirateten Mutter konfrontiert. María Seoanes Mütterlichkeit manifestiert sich folglich ausschließ‐ lich in ihrer biologisch-sozialen Mutterschaft, darüber hinaus finden sich, im Gegensatz zu den anderen Frauenfiguren, keine Verweise auf physische oder im weitesten Sinne ‚charakterliche Eigenschaften‘ von Mütterlichkeit, denn Marías Mutterschaft bedarf keiner diskursiven männlichen Zuschreibung oder Imagi‐ nation, sondern steht für sich. So gelesen verweist ihr Name auch direkt auf den Diskursraum Santa María und damit die Figur der Muttergottes, denn María Seoane ist die einzige Frauenfigur bei Onetti, die den Namen María trägt und zugleich tatsächlich Mutter ist. Indem sie ihre Stimme gegen die patriarchale Ordnung erhebt, kommt ihr eine besondere Bedeutung innerhalb des Gesamtwerks und insbesondere in‐ nerhalb der fiktiven Geschlechterverhältnisse bei Onetti zu. María Seoanes Stimme nimmt nicht nur diskursiv Raum ein, als direkter Monolog in einem von 253 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="254"?> 466 Im Gegensatz dazu steht Quecas Stimme, die in La vida breve (1950) die poetologisch folgenreichen Worte „mundo loco“ (VB 423) artikuliert. Tonlage und Klangfarbe, die indirekt auf einen weiblichen oder männlichen Sprecher verweisen könnten, sowie Sprechtempo oder Intonation finden in diesem Fall keine Erwähnung. Allerdings ver‐ weist der nachfolgende Satz auf eine Frau, die spricht: „-Mundo loco- dijo una vez más la mujer, […].“ (VB 423) In der Argumentation Ludmers wird die Stimme der Verrückt‐ heit, d. h. Quecas Stimme, die Brausen zunächst nur durch die Wand hört, zunächst als originäre Stimme der Fiktion lesbar: „Lo que proviene del departamento contiguo y lo que abre el texto es la voz, sentida como primera y anterior, fundante y originaria. […] Esa voz fecundante (que desaparece y retorna en un movimiento de pulsación que mar‐ cará el ritmo del texto, un texto oscilante entre ‚yo‘ y ‚el‘, ida y vuelta, Buenos Aires y Santa María, ‚realidad‘ y ‚ficción‘) es la voz de la locura.“ ( Josefina Ludmer: Onetti. Los procesos de construcción del relato (2009 [1977]), pp. 34, 37) Allerdings, so schränkt Ludmer ein, ist die weibliche Stimme aus dem Raum des Nebenan von Beginn an ver‐ mittelt: “Pero esa voz que abre el texto ya es segunda: ‘-Mundo loco -dijo una vez más la mujer, como remedando, como si lo tradujese’: no solamente porque el otro ‘mundo loco’, el primero, quedeó fuera (cortado como el pecho), sino porque esa voz traduce y remeda -transcribe y no ya metaforiza- otra voz anterior, oída pero no transcripta: el ‘verdadero’ origen retrocede y el que se escribe es solo, en este caso, su copia degra‐ dada.” (Ibid., pp. 36 sq., Hervorh. i. Orig.) Wer jedoch nach dieser Einschränkung für den tatsächlichen sprachlichen Ursprung der Metafiktion (als Antipode zu Brausens Leben mit Gertrudis) verantwortlich zeichnet, bleibt bei Ludmer im Unklaren. männlichen Erzählern dominierten Text, sondern sticht auch darüber hinaus durch die ausführliche Beschreibung ihrer Perfomativität hervor, wie die fol‐ genden Zitate belegen: 466 […] dijo con su flamante voz ronca […]. (DV 654, eig. Hervorh.) Pero su voz no era solamente hija mimada del alcohol y el tabaco; era ronca y pro‐ funda, a veces muerta de afonía, otras chillona, saliendo a fuerza de voluntad de la nada, del silencio. Ella sabía o sospechaba, disimulando con hipos, con amnesias de‐ liberadas, toses y sonrisas esquivas. En mi oído su voz sonaba extranjera y pesada de misterio. (DV 655, eig. Hervorh.) [S]u voz ronca asombraba a todos menos a ella: alcohol y Tabaco, desde el desayuno hasta el sueño. (DV 656, eig. Hervorh.) Der Klang ihrer Stimme ist demnach rau und tief, wodurch sie als männlich wahrgenommen wird und folglich Irritation auf Seiten ihrer Gesprächspartner, in diesem Fall Medina, hervorruft. Sie geht zurück auf Marías jahrelangen Al‐ kohol- und Zigarettenkonsum. Sowohl Tabak als auch Alkohol verweisen in diesem Kontext auf Konsumgüter, die mit hegemonialer Männlichkeit assoziiert werden. Die Stimme, die María gegen die Ungerechtigkeiten der patriarchalen Ordnung erhebt, ist damit keine, die als weiblich wahrgenommen und einer Frau zugeschrieben wird. Vielmehr adaptiert María in ihren Gewohnheiten spezifisch 254 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="255"?> 467 Mit dieser Beschreibung verweist der Text wiederum auf eine vielzitierte Passage aus El pozo (1939): „He leído que la inteligencia de las mujeres termina de crecer a los veinte o veinticinco años. No sé nada de la inteligencia de las mujeres y tampoco me interesa. Pero el espíritu de las muchachas muere a esa edad, más o menos. Pero muere siempre; terminan siendo todas iguales, con un sentido práctico hediondo, con sus necesidades materiales y un deseo ciego y oscuro de parir un hijo.“ (PZ 18) In diesen wenigen Zeilen entwirft Eladio Linacero ein Frauenbild, das Frauen über 25 Jahren jegliche Fähigkeit zu intellektueller und grundsätzlich geistiger Weiterentwicklung abspricht. Mit dem Alter käme zudem der blinde Wunsch nach einem Kind und materiellen Dingen. männlich konnotierten Konsum und erhält erst dadurch ihre ‚männliche‘ Stimme. Überlegte Sprechpausen, Husten und Lächeln modulieren Marías Mo‐ nolog. Ihre feministische Widerständigkeit muss María Seoane zwar nicht mit der körperlichen Liquidation bezahlen, sozial gilt sie, vor dem Hintergrund einer Ökonomie des männlichen Begehrens und des männlichen Blicks, jedoch bereits als tot. Davon zeugt Medinas detailreiche Schilderung der Spuren ihres Alters: [Estaban] la decadencia, la obesidad, como extranjera, que la convertía en madre de sí misma. Estaba la dudosa atención de aquellos ojos chatos y claros, invariables, cer‐ cados ahora por las numerosas, pequeñas miserias de la piel envejecida. Estaban la fatiga, la pesadez, los restos conmovedores de la frescura, la gruesa pierna varicosa […]. Pero sobre todo estaban y se movían, casi palpables, la acelerada torpeza de su cerebro, los grotescos remedos de su antiguo humor, los ecos incomprensibles de sus modos de ser. Estaba […] el principio indudable de la vejez de María Seoane. (DV 659) Medina beginnt seine Schilderung mit den körperlichen Veränderungen María Seoanes, die sie in Medinas Augen zur ‚Mutter ihrer selbst‘ machen. So be‐ schreibt er sie als schwerfällig und dick. Er spricht von den Falten um ihre Augen sowie den Krampfadern an ihren Beinen. Doch letztlich sieht er ihr fortschrei‐ tendes Alter vor allem in den Veränderungen ihres Charakters, dem raschen Nachlassen ihres Intellekts sowie ihres früheren Humors, der seiner Ansicht nach nur noch als Groteske seiner selbst vorhanden ist, begründet. 467 Der Prozess des Alterns beschränkt sich demnach nicht nur auf körperliche Veränderungen, sondern auf das gesamte Wesen einer Person, das mit dem Alter degradiert. Der Abwertung, die Medinas Beschreibung impliziert, entgeht etwa Miriam durch die kontinuierliche Bestätigung ihrer Attraktivität, die wiederum an das Be‐ gehren und die Bewunderung des um 15 Jahre jüngeren Julio Stein gebunden ist. 255 5.3 „Die Andere“ spricht, handelt und begehrt <?page no="256"?> 5.4 Zwischenresümee: Weibliche Widerständigkeiten und die Restitution der patriarchalen Ordnung Wie die vorangegangenen Analysen gezeigt haben, finden sich innerhalb des Untersuchungskorpus zahlreiche Beispiele weiblicher Widerständigkeit und Selbstbestimmtheit und damit aktiver weiblicher Handlungsmuster. Diese be‐ stehen einerseits in der Adaption männlicher Machtstrategien, insbesondere des Erfindens von Geschichten und Biographien (Queca, Moncha, Julita) sowie der Beherrschung und Manipulation anderer Personen (Elena Sala, Julita, Frieda). Andererseits handelt es sich um verschiedene Formen des Unterlaufens einer als weiblich konnotierten Passivität durch den selbstbestimmten Einsatz des eigenen Körpers, das Erheben der Stimme (Gertrudis, Miriam, María), die kör‐ perreflexiven Praktiken der Sexualität und insbesondere das Ausleben weibli‐ chen Lustempfindens (Gertrudis, Julita, Frieda) sowie durch die aktive Verwei‐ gerung von Mutterschaft (Queca). Alle selbstbestimmt handelnden Frauenfiguren sind zudem finanziell unabhängig, entweder durch selbstver‐ dientes Geld (Queca, Gertrudis, Miriam) oder durch ererbtes Vermögen ( Julita, Moncha, Frieda). Die einzige Ausnahme bildet María Seoane. Ihre finanzielle Situation wird als prekär beschrieben, außerdem ist sie die einzige der unter‐ suchten Frauenfiguren, die tatsächlich ein Kind zur Welt bringt und aufzieht. Sie lebt das Leben, das Queca für sich ausgeschlossen hat: als ledige, alleiner‐ ziehende Mutter in prekären Verhältnissen. Ihr Monolog über die systematische Geschlechterungleichheit lässt das Private politisch erscheinen, denn María Se‐ oane fasst ihre Situation nicht als Einzelschicksal, sondern als Problem einer patriarchalen Ordnung auf. Allerdings trägt María Seoane ihre Wut nicht öf‐ fentlich vor, sondern spricht nur innerhalb ihrer Wohnung und an Medina ge‐ richtet. Bezogen auf die Macht ihrer Stimme ergibt sich daraus folgende narra‐ tive Situation: Durch diese räumliche Limitierung zeigt ihre Stimme auf diegetischer Ebene keine Wirkung, auf diskursiver Ebene entfaltet sie indes ihre Sprachmacht, insofern sie über ihren Monolog einen männlich dominierten Er‐ zähldiskurs und damit verbundene Geschlechterverhältnisse unterläuft. Ein wichtiger Punkt, der durch die Textanalysen offenbar wurde, besteht daher auch in der Raumgebundenheit selbstbestimmter weiblicher Handlungen, die wiederum der grundsätzlichen Einbettung in eine fiktive patriarchale Ord‐ nung geschuldet ist: Innerhalb der ausgewählten Erzähltexte dürfen Frauen nur in bestimmten Räumen, innerhalb verschiedener Heterotopien, selbstbestimmt handeln. Eine Besonderheit dieser Foucault’schen Raumfigur ist, neben ihrer räumlichen Limitierung, auch ihre zeitliche Beschränkung, d. h. Heterotopien sind historisch veränderliche Raumkonstruktionen und gleichsam Gegenent‐ 256 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="257"?> würfe zu gesellschaftlichen Normen. In diesem Sinne sind sanmarianische He‐ terotopien Orte, an denen die männlich-christliche Ordnung verletzt oder ge‐ stört wird, wobei der Diskursraum Santa María selbst als Heterotopie konstituiert ist. Die Restitution der herrschenden Ordnung wiederum ist an die Liquidation der störenden weiblichen Subjekte gebunden. Das bedeutet, die Wiederherstellung der patriarchalen Ordnung wird erst durch den Tod der störenden Frauen möglich. Was heißt das nun in Bezug auf das gewählte Untersuchungskorpus und vor allem, welcher fiktive Diskursraum wird als Norm gesetzt und an welchen Stellen wird diese Norm durch weitere (meta)fiktive Heterotopien unterlaufen? Aus den obigen Analysen ergeben sich nachfolgende Antworten auf diese Fragen: Zunächst einmal beginnt die Handlung von La vida breve (1950) in einem fiktiven bonarenser Großstadtszenario, in Brausens und Gertrudis‘ Stadtwoh‐ nung. Das Appartement der beiden steht auf den ersten Blick symbolisch für eine bürgerliche Ehe. Bei eingehender Analyse stellt sich jedoch heraus, dass die Ehe, die Gertrudis und Brausen führen, die traditionellen Geschlechterver‐ hältnisse innerhalb dieser Institution konterkariert, indem Gertrudis den ak‐ tiven, Brausen den passiven Part innerhalb der Beziehung einnimmt. Sie agiert selbstbestimmt, fordernd und unabhängig. Durch ihre libidinöse Zielstrebigkeit und die Trennung von ihrem Mann unterläuft sie die gesellschaftlichen Kon‐ ventionen, welche die Ehe als Ort männlicher Suprematie über die Frau konsti‐ tuieren. Dieses umgekehrte Geschlechterverhältnis wird als Ausdruck urbaner Unüberschaubarkeit und Entfremdung lesbar, denen die männlichen Individuen innerhalb des bonarenser Großstadtszenarios ausgesetzt sind. Verstärkt wird der Eindruck dieses großstädtischen Kontrollverlustes und der Rollenverwir‐ rung zeitweise durch das Motiv des Karnevals, der als formales Ordnungsele‐ ment die Handlungsebenen in La vida breve (1950) zusammenführt und darüber hinaus, wie in Kapitel 3 dargestellt, mit Juntacadáveres (1964) verbindet. Die zwei unversehrten Frauenfiguren, die an Brausens Alter Egos Díaz Grey und Juan María Arce geknüpft sind und vermittels derer er seine Libido zu restitu‐ ieren versucht, sind Teil zweier jeweils unterschiedlich konnotierter Heteroto‐ pien. So ist Queca die weibliche Protagonistin einer, aus Brausens Sicht, Kri‐ senheterotopie. Das heißt, ihr Appartement bildet den räumlichen Gegenentwurf zu Brausens passivem, monogamem Leben als treusorgender Ehemann Juanicho. Brausen lebt dort die existentielle Krise aus, in die ihn Ger‐ trudis‘ Brust-Amputation und der damit verbundene Verlust seiner Libido sowie die drohende Kündigung seiner Arbeitsstelle stürzen. Denn gemessen an den von Fuller beschriebenen Parametern der hegemonialen Männlichkeit, scheitert Brausen sowohl im Bereich des Privaten wie auch in dem des Öffentlichen. Als 257 5.4 Zwischenresümee <?page no="258"?> Kompensation für seine Misserfolge orientiert er sich im Nachbarsappartement unter dem erfundenen Alias Arce an Ernestos brutaler Männlichkeit. Der Fe‐ mizid an Queca markiert das Ende seiner Krise und der damit verbundenen Heterotopie. Elena Sala hingegen agiert innerhalb eines metafiktiven Diskursraums, der eine idealisierte patriarchal-christliche Ordnung (mit Brausen als omnipotenter Schöpferfigur) wiederherstellen soll. So ist Santa María in La vida breve (1950) zunächst als Gegenentwurf zum unübersichtlichen Großstadtszenario Buenos Aires konstruiert, wie in Kapitel 3 erarbeitet wurde. In allen nachfolgenden Er‐ zählungen verblasst dieser topologische Bezug, und Santa María wird zur männ‐ lich-christlich dominierten diskursiven Norm, d. h. zur Kompensationshetero‐ topie in Bezug auf die gestörte patriarchale Ordnung der Großstadt. Innerhalb Santa Marías lassen sich wiederum verschiedene Abweichungshe‐ terotopien herausarbeiten, die durch die Widerständigkeit weiblicher Figuren ( Julita Bergner, Moncha Insurralde) konstituiert werden, insofern deren Aufbe‐ gehren gegen einen männlich-christlich dominierten Diskurs innerhalb dieses Machtgefüges als abnorm, d. h. als Zeichen von Verrücktheit oder Wahnsinn gedeutet wird. Widerständigkeit außerhalb dieser Heterotopien wird durch die männliche Hegemonie, deren oberstes gouvernementales Organ die Schöpfer‐ figur Brausen darstellt, verhindert. Das zeitliche Ende dieser Abweichungshe‐ terotopien ist durch den Tod der weiblichen Ordnungsstörerinnen gekenn‐ zeichnet, insofern den Frauenfiguren nur der Widerstand innerhalb des herrschenden Systems oder der komplette Austritt daraus bleibt: der Suizid als letzte und eindrücklichste Maßnahme weiblicher Selbstbestimmtheit. Eine Sonderstellung innerhalb der Ordnung weiblicher Widerständigkeiten nimmt Frieda von Kliestein ein. Wie keine andere Frauenfigur innerhalb des ausgewählten Analysekorpus‘ unterläuft sie den männlich-christlich domi‐ nierten Machtdiskurs Santa Marías. Als intratextuelle Referenz auf La vida breve (1950) gelesen, lässt der Roman Dejemos hablar al viento (1979) den Schluss zu, dass Frieda die Widerständigkeiten Gertrudis‘ und Quecas in einer Person ver‐ eint. Sie ist sozusagen Gertrudis‘ Wiedergängerin, mit dem Unterschied, dass sich Friedas sexuelles Begehren von binären Geschlechtergrenzen gelöst hat und sie bei der Wahl ihrer Sexualpartner*innen völlig frei agiert. Durch die Unein‐ deutigkeit, die Friedas Sexualität durch den Bruch mit den Normen heterose‐ xuellen Begehrens hervorruft, unterläuft Frieda auch einen heteronormativen, männlichen Machtdiskurs. Friedas Lust an der Manipulation und Erniedrigung anderer Personen korrespondiert zudem mit dem moralischen (Korruption) und architektonischen (Verfall der Gebäude) Niedergang Santa Marías. Im Gegensatz zu Julita Bergner und der Moncha Insurralde aus „La novia robada“ (1968), die 258 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="259"?> beide nur als Verrückte und innerhalb der gesellschaftlich konstituierten Ab‐ weichungsheterotopien ihrer Häuser selbstbestimmt agieren können, bewegt sich Frieda frei durch Lavanda und Santa María. Ihre offene Auflehnung gegen das patriarchale System bezahlt jedoch auch Frieda mit dem Tod. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass es Frauen nur für eine be‐ stimmte Zeit und teilweise innerhalb räumlicher Begrenzungen möglich ist, eine aktive, widerständige Rolle innerhalb des männlich-christlich dominierten Machtsystems einzunehmen. Wenngleich sie durch ihre Widerständigkeit zu Störerinnen der patriarchalen Ordnung werden und dabei aktiver Teil des Machtnetzes sind, bleiben sie letztlich als konstitutiver Teil von dieser Ordnung abhängig. Um diese Ordnung final aufrechtzuerhalten bzw. immer wieder aufs Neue zu restituieren, müssen die Störerinnen liquidiert werden, sei es körperlich oder sozial: Queca und Frieda von Kliestein werden von Männern getötet. Elena Sala, Julita Bergner und Moncha Insurralde nehmen sich das Leben. Auffallend ist, dass die Todesursache der Frauen davon abhängig ist, welcher sozialen Klasse die Frauen angehören und auf welches Geschlecht ihr sexuelles Begehren gerichtet ist. Demnach erfahren die Angehörigen der Ober- und Mittelklasse vor allem psychische und diskursive männliche Gewalt, der sie sich durch Selbst‐ mord (Elena, Julita, Moncha) entziehen. Frauen der unteren sozialen Schicht, wie die Prostituierte Queca, werden hingegen Opfer durchgängiger körperlicher Misshandlungen, die letztlich in deren Tod münden. Frieda hingegen wird ihre offen gelebte, von der Norm abweichende Sexualität zum Verhängnis, d. h. ihre Zugehörigkeit zur Oberschicht schützt sie zwar vor kontinuierlichen körperli‐ chen Übergriffen, wie sie etwa Queca oder auch das Dienstmädchen Rita er‐ fahren, nicht jedoch vor diskursiver Gewalt wie verbaler Diffamierung. Der Mord an Frieda wird daher auch nicht offen geschildert, sondern lediglich einer männlichen Person zugeschrieben. Damit allerdings wird er als systemischer Akt männlicher Gewalt lesbar. María Seoane wird als ledige Mutter, komplementär zur Figur des selbstbestimmten und gesellschaftlich nicht geächteten padre ausente, sozial liquidiert. Miriam hingegen entgeht dieser ‚gesellschaftlichen Unsichtbarkeit‘ innerhalb einer Ökonomie männlichen Begehrens durch kluge Vorsorge, indem sie Julio Stein als ‚gesellschaftliche Versicherung‘ ihrer Attraktivität an sich bindet. Während Ludmer die negierte Reproduktionsfähigkeit einiger Frauenfiguren auf deren dysfunktionale Reproduktionsorgane zurückführt, zeigen die Ana‐ lysen der vorliegenden Arbeit, dass mehrere kinderlose Frauenfiguren selbst‐ mächtig handeln und Mutterschaft teilweise aktiv ablehnen. Dementsprechend sollte von einem Willen zur Reproduktion respektive Nicht-Willen, denn von einer Fähigkeit oder Funktionalität respektive Dysfunktionalität weiblicher 259 5.4 Zwischenresümee <?page no="260"?> Körper gesprochen werden. Nicht die weiblichen Körper sind dysfunktional, sondern vielmehr sind die weiblichen Figuren widerständig. Es geht also we‐ niger darum, ob Frauen bei Onetti Mütter sein können, sondern ob sie wollen und ein Großteil von ihnen will nicht. 260 5 Strategien weiblicher Selbstermächtigung <?page no="261"?> 468 https: / / elpais.com/ elpais/ 2018/ 02/ 15/ eps/ 1518698435_702593.html, 22. 07. 2019. 469 https: / / www.songtexte.com/ songtext/ james-brown/ its-a-mans-mans-world-33d6449d. html, 22. 07. 2019. 470 Ibid. 6 Resümee: It’s the patriarchy, stupid! La violencia contra la mujer, con diferente intensidad según las culturas y los países, es universal y transversal. La jerarquía machista domina todos los poderes, salvo casos rarísimos. Hablar de matriarcados puede estar bien para alguna tertulia antropológica de bar, pero dejémoslo ahí. No nos engañemos a estas alturas. No es que estemos en un sistema machista. El Machismo es el sistema. 468 Manuel Rivas (2018) Onettis Santa María ist eine Männerwelt, „a man’s world“ 469 , zweifelsohne. Eine metafiktive Welt, die von Männern erdacht, erschrieben und immer wieder auch zerschrieben wird. „but it won’t be nothing, nothing without a woman or a girl“ 470 , fährt James Brown in seinem Top-Ten-Hit This is a man’s world fort. Gemäß dieser Prämisse deutete die Onetti-Forschung die Frauenfiguren in den ausgewählten Texten bislang überwiegend als Stereotype und las sie in ihrer Funktionalität als poetologische Katalysatoren männlicher (künstlerischer) Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung. Dass diese Sichtweise zu kurz greift, hat die vorliegende Arbeit gezeigt. Durch eine gendertheoretisch fun‐ dierte, feministische Perspektivierung konnte nachgewiesen werden, dass Frauen innerhalb dieser männlich hegemonialen Ordnung, über die der Dis‐ kursraum Santa María strukturiert ist, selbstbestimmt und eigenmächtig han‐ deln. Räumliche Parameter waren dabei in doppelter Hinsicht untersuchungs‐ leitend: Zum einen wurde Santa María als männlich konnotierter und dominierter Diskursraum aufgefasst, in den genderspezifische Hierarchisie‐ rungen und gesellschaftliche Machtdiskurse eingeschrieben sind. Zum anderen war die machträumliche Dichotomie von privatem und öffentlichem Raum un‐ <?page no="262"?> tersuchungsleitend, sprich die kulturelle Kodierung, die Frauen im häuslichen und Männer im außerhäuslichen Bereich verortet. Die entsprechenden Forschungsergebnisse dieser Arbeit lassen sich folgen‐ dermaßen resümieren: Onettis metafiktiver Diskursraum Santa María repräsen‐ tiert eine patriarchale Ordnung. Die Legitimierung dieser Ordnung erfolgt über eine spezifische hegemoniale Männlichkeit. Diese wiederum beruht auf gesell‐ schaftlichem Ansehen und Einfluss sowie ökonomischem Vermögen, vor allem jedoch auf diskursiver Potenz. Vaterschaft erfährt durch den Akt der (Meta)Fik‐ tionserzeugung eine Bedeutungsverschiebung von einer biologisch-kreatürli‐ chen (Ursprungsfiktion) auf eine symbolisch-künstlerische (Metafiktion) Ebene. Die hegemoniale Männlichkeit der Metafiktion definiert sich demnach über künstlerische Schöpfungspotenz und die Unterordnung der Frau. Beide stehen in einem Kausalverhältnis zueinander, insofern männliche Schöpfungspotenz auf der Eliminierung des weiblichen Körpers basiert: Mit dem weiblichen Körper stirbt auch die kreatürliche, biologische Schöpfungspotenz, d. h. künstlerische Produktion ersetzt biologische Reproduktion. Die männliche Elite Santa Marías reproduziert sich folglich selbst als reine ‚Papierwesen‘. Korruption, Lüge und sublime Gewaltanwendung sind Effekte, die zur Aufrechterhaltung männlicher Suprematie angewandt werden. Biologische Vaterschaft, offen zur Schau ge‐ stellte Virilität und körperliche Gewalt stehen hingegen für ein ‚Zuviel‘ an Physis und führen innerhalb des sanmarianischen Geschlechterdiskurses zu einer Unterordnung entsprechender Männlichkeiten. Wenngleich also eine männlich hegemoniale Ordnung innerhalb des meta‐ fiktiven Diskursraums Santa María evident ist, haben die Analysen der vorlie‐ genden Arbeit gezeigt, dass sich ein Großteil der dargestellten Frauenfiguren selbstbestimmt, d. h. widerständig verhält. Diese Widerständigkeit artikuliert sich vorwiegend über aktive Handlungen in Bezug auf den eigenen Körper, sprich über die Äußerung weiblichen Begehrens respektive Nichtbegehrens, das Ausleben der eigenen Sexualität, über ein machtbesetztes Zur-Schau-Stellen des eigenen Körpers sowie über die selbstbestimmte Entscheidung, Ehefrau und Mutter zu werden oder, wie die überwiegende Mehrheit der ledigen, kinderlosen Frauenfiguren belegt, eben nicht. Wie die hegemoniale Männlichkeit ist jedoch auch die weibliche Selbstbestimmung an soziale Klassenzugehörigkeiten und damit verbundene ökonomische und gesellschaftliche Machtzuschreibungen gekoppelt, d. h. alle widerständigen Frauenfiguren sind finanziell unabhängig und / oder gehören der Mittel- und Oberschicht Santa Marías (Elena Sala, Julita Bergner, Moncha Insaurralde, Frieda von Klierstein) respektive Buenos Aires‘ (Gertrudis) an. Zwar sind Queca und Miriam nicht Teil des bonarenser Bürger‐ tums, durch die Ökonomisierung ihrer Körper erreichen sie jedoch die finan- 262 6 Resümee: It’s the patriarchy, stupid! <?page no="263"?> zielle Unabhängigkeit, die selbstbestimmtem weiblichem Handeln in Onettis Texten zugrunde liegt. Eine Ausnahme stellt diesbezüglich nur María Seoane dar: Sie lebt als ledige Mutter in prekären Verhältnissen und hebt ihre private Situation durch den Akt der sprachlichen Äußerung in einen sozialpolitischen Kontext. Starken Einfluss auf diese ausschließlich von Männern geprägte und erzählte metafiktive Ordnung hat das christliche Geschlechterverhältnis, das durch die Assoziation mit dem Namen Santa María aufgerufen wird: Frauen gebären, Männer kreieren. Allerdings, so zeigt sich vor allem in La muerte y la niña (1973), unterscheidet der christliche Diskurs zwischen Gottesdienern und männlichen Gläubigen, d. h. er impliziert eine männlich-homosoziale Hierarchisierung: Erst‐ genannte, im Text verkörpert durch die Figur des Pfarrers Antón Bergner, un‐ terliegen dem Zölibat und stehen damit in leitender Funktion für die Durchset‐ zung einer christlichen Biopolitik, die auf Expansion durch einen Zuwachs von Gläubigen zielt. Zweitgenannte Männergruppe wird hingegen in die biopoliti‐ sche Strategie der Kirche integriert und unterliegt einem Reproduktionsgebot. Exemplarisch für jene steht Augusto Goerdel. Umgesetzt wird die biopolitische Strategie der katholischen Kirche in Santa María durch die Limitierung repro‐ duktiver Praktiken auf den Rahmen der Ehe und insbesondere die Disziplinie‐ rung des weiblichen Körpers: Da, wie die Denunziationsbriefe in Juntacadáveres (1964) zeigen, die Verteufelung der Prostitution in einer Angst vor (unregu‐ lierter) weiblicher Sexualität wurzelt, wird diese im christlichen Diskurs negiert bzw. auf ihre reproduktive Funktion innerhalb der Ehe beschränkt. Marianisti‐ sche, d. h. passive Weiblichkeit wird damit zur Norm erhoben, die traditionelle Verortung des weiblichen Körpers im Inneren des Hauses affirmiert. Gleich‐ zeitig wird Mutterschaft durch aktive weibliche Widerständigkeit negiert oder durch den männlichen Blick auf eine symbolisch-immaterielle Ebene ver‐ schoben. Das heißt, ein Großteil der Frauenfiguren in Onettis metafiktivem Santa María ist unverheiratet und kinderlos. Daraus wiederum folgt eine Um‐ kodierung des privaten Bereichs: Das Innere des ‚traditionellen Hauses‘, sprich der eheliche Haushalt als Verortung heteronormativer Sexualität und eines ebensolchen Geschlechterverhältnisses wird durch Abweichungs- und Krisen‐ heterotopien abgelöst. Diese Orte stehen als gesellschaftliche Gegenorte für selbstbestimmte weibliche Handlungsmuster, die sich teilweise an männlich konnotierten Machttechnologien (etwa dem Erfinden eigener Wirklichkeiten) orientieren oder ihren Körper aktiv als Machtinstrument einsetzten und damit die heteronormative Kodierung der Frau als passives Wesen unterlaufen - diese dabei jedoch keineswegs vor systemischer, männlicher Disziplinierung schützen, sondern im Gegenteil als deren Effekte lesbar werden. Das in La vida 263 6 Resümee: It’s the patriarchy, stupid! <?page no="264"?> breve (1950) am Beispiel Brausens und Gertrudis‘ dargestellte Scheitern von Kommunikation sowie die Dysfunktionalität zwischenmenschlicher Bezie‐ hungen führen dazu, dass entsprechende Beziehungskonstellationen ‚neu er‐ dacht‘, d. h. in die Metafiktion ausgelagert werden: Zwischenmenschliche Kon‐ flikte werden demnach nicht ausgetragen, sondern durch neue Identitäten im Sinne mehrerer ‚kurzer Leben‘ ersetzt. Das Privileg der Flucht in die Phantasie wird in allen analysierten Texten Onettis jedoch nur Männerfiguren zuge‐ standen. Frauen bezahlen ihr ‚Ausreißen‘ oder temporäres Ausweichen in an‐ dere, heterotope Räume mit dem Leben. Sofern sie dieses selbst beenden, voll‐ ziehen sie dabei den höchsten Akt des Widerstands gegen (Gott) Brausen. Die Geschichte Santa Marías entzieht sich damit einerseits jeglicher Form von Ge‐ nealogie und setzt sich andererseits endlos fort: So ist der Fortbestand Santa Marías, ob der vielfältigen Negierung biologischer Schöpfungspotenz, allein auf dem Papier gesichert. Der Erzählraum potenziert sich dabei ins Unendliche, bleibt jedoch immer sich selbst verhaftet. Die ursprüngliche künstlerische Schöpfung, d. h. die Erfindung Santa Marías, ist in zweifacher Hinsicht an den materiellen menschlichen Körper gebunden. So wirkt sich Brausens männlicher Blick doppelt auf die Genese Santa Marías aus: einerseits fiktionsinitiierend durch die Substitution eines versehrten (Ger‐ trudis) durch einen unversehrten Frauen-Körper (Elena Salas) und andererseits fictioformativ, d. h. eine imaginäre Topographie gestaltend, deren topologisches Zentrum die Figur des Arztes Díaz Grey bildet. Santa María steht demnach al‐ legorisch für die Figur der nährenden Muttergottes, d. h. für eine körperlich unversehrte Frauenfigur mit Emphase der weiblichen Brust. So restituiert Brausen sein Begehren nicht nur über Quecas und Elena Salas Körper, sondern auch über den allegorischen Körper der Muttergottes. Der fictioformative Effekt, der über Díaz Greys Körper evoziert wird, geht indes in der räumlich-topogra‐ phischen Ausdehnung auf, die Santa María als Stadtraum konstituiert. Auf der Ebene der Ursprungsfiktion steht die gescheiterte Ehe von Gertrudis und Brausen für die Subversion eines heteronormativen, christlichen Ge‐ schlechterverhältnisses, wie es die spezifisch lateinamerikanische hegemoniale Männlichkeit laut Fuller impliziert. Mit der Namensgebung Santa María ruft Brausen eben dieses Geschlechterverhältnis wieder auf. Gleichzeitig restituiert Brausen durch das ‚Erschreiben‘ der Muttergottes und das ‚Einschreiben‘ seines eigenen Namens ( Juan María Brausen) in den metafiktiven Diskursraum das subversive Potential, das die Negierung biologischer Reproduktion innerhalb eben dieses Santa Marías impliziert. Damit steht die von der Schöpferfigur Brausen erdachte hegemoniale Männlichkeit innerhalb der Metafiktion in einem Spannungsverhältnis zur christlich normativen Geschlechterordnung: Wäh‐ 264 6 Resümee: It’s the patriarchy, stupid! <?page no="265"?> rend Frauen im biopolitischen Diskurs der Kirche über die lebensspendenden, reproduktiven Funktionen ihres Körpers in den Dienst der Glaubensgemein‐ schaft gestellt werden, indem sie zu deren Vermehrung, Pflege und Erhalt bei‐ tragen sollen, zielt die hegemoniale Männlichkeit innerhalb Santa Marías auf die räumliche Disziplinierung innerhalb heterotoper Orte und letztlich auf die Eliminierung des weiblichen Körpers. Als tote Körper und damit Projektions‐ fläche für männlich-diskursive Schöpfungsprozesse sind die Frauen dem natür‐ lichen Reproduktionsbereich jedoch entzogen. So stützen sie durch ihren Tod zwar die patriarchale Ordnung innerhalb Santa Marías, zur Vermehrung des metafiktiven Gesellschaftskörpers tragen sie indes nicht bei. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einer diskursiv reproduzierten patri‐ archalen Ordnung, für die Brausen als Schöpferfigur sowie sein Alter Ego Díaz Grey stehen, und einem biopolitisch motivierten christlichen Diskurs, den Pfarrer Antón Bergner repräsentiert, ist das Geschlechterverhältnis innerhalb Santa Marías zudem von fluiden sozioökonomischen und räumlichen Macht‐ zuschreibungen geprägt und verändert sich im Werksverlauf. Einzelne Erzähl‐ texte beleuchten dieses Verhältnis aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlicher Fokussierung: So verhandelt La vida breve (1950) als Grün‐ dungstext die diskursive Vaterrespektive Autorschaft Juan María Brausens und in Ansätzen auch die Díaz Greys. Die als männlich konnotierte Schöpferpotenz wird im poetologischen Akt der Fiktionserzeugung sichtbar und basiert auf einer geschlechtlichen Umkodierung: So schreibt der Text künstlerische Vorstellungs‐ kraft auf der Ebene der Ursprungsfiktion zunächst einer Frau, der Prostituierten Queca, zu. Erst mit deren Tod findet eine Aneignung dieser Schöpfungspotenz durch Brausen statt, die wiederum eine männliche Kodierung auf Ebene der Metafiktion zur Folge hat. Während der Gründungstext durch die metapoetische Selbstreflexion der Autorfigur Brausen künstlerisches (Er-)Schaffen als hege‐ monial markiert, verhandelt Juntacadáveres (1964) den biopolitischen Diskurs, den das christliche Geschlechterverhältnis impliziert. Die handlungsleitende Bedeutung, die Pfarrer Bergner in diesem Roman einnimmt, korrespondiert mit der architektonischen Pracht der Kirche sowie der Dominanz des christlichen Reproduktionsdiskurses, der insbesondere weibliche Sexualität in den Dienst ehelicher Reproduktion stellt und, sofern sie darüber hinausweist, negiert. Durch das Defilée der muchachas, die Reinkarnation von Reinheit und vorehe‐ licher Keuschheit, erlangt dieser Diskurs Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Die Figur des Arztes gerät ins Hintertreffen, d. h. Díaz Grey agiert in Juntacadáveres (1964) vor allem als stiller Beobachter und Vermittler. In „La novia robada“ (1968) ist die Figur des Pfarrers als Leerstelle besetzt und die Ehe wird als som‐ nambules Spektakel inszeniert. Der Arzt als einzige Erzählinstanz hält die Deu‐ 265 6 Resümee: It’s the patriarchy, stupid! <?page no="266"?> tungshoheit über die Geschichte. La muerte y la niña (1973) basiert auf einem, wie in Juntacadáveres (1964) dargestellten, stark christlich geprägten Repro‐ duktionsdiskurs. Die tote niña als titelgebende und handlungsinitiierende Figur stellt eine tragische Konsequenz dieses Diskurses dar. Dementsprechend steht der Arzt dem vorausgesagten Tod Helga Hausers machtlos gegenüber. Sein me‐ dizinisch begründetes Schwangerschaftsverbot unterliegt dem christlichen Fortpflanzungsgebot. Doch so wie die ärztliche Autorität an Bedeutung verliert, so erodiert auch die Hegemonie des christlichen Diskurses zugunsten eines ökonomiebasierten Glaubens. Diese Diskursverschiebung setzt sich in Dejemos hablar al viento (1979) durch die Einführung der ‚fiktionsimmanenten‘ Währung ‚Brausens‘ fort. Anstatt Santa María als imaginären Ort zu stärken, schwächt die neue Währung den Einfluss der Schöpferfigur Brausen und verstärkt gleich‐ zeitig den moralischen und materiellen Niedergang Santa Marías. Weiter be‐ feuert wird diese Dekadenz durch neokoloniale Strukturen, die sich im Stadtbild materialisieren. Die Kirchengemeinde, die sich in Juntacadáveres (1964) zu einem beträchtlichen Teil aus den Bewohner*innen der Kolonie zusammensetzt und hinter den Forderungen des Pfarrers steht, Prostitution als moralisches Übel zu verdammen und aus der Stadt zu verbannen, tritt in Dejemos hablar al viento (1979) allein als reichgewordene Mittelschicht in Erscheinung, die im Stil nord‐ amerikanischer Heuschreckeninvestor*innen Santa María stückweise aufkauft. Die Ablösung ontologischer Glaubensinhalte durch die Maxime der Ökonomie mündet demnach in Korruption und Nihilismus. In letzter Konsequenz führt diese gesellschaftliche Degenerierung zur mutwilligen Zerstörung der Brau‐ sen’schen Schöpfung und seiner ‚Papierwesen‘. Verweigerung und Problematisierung von Elternschaft werden somit als re‐ volutionäre Akte, als Akte des Widerstands gegen das herrschende patriarchale System, das damit verbundene Geschlechterverhältnis und vor allem den herrschenden Reproduktionsdiskurs im lateinamerikanischen Kulturraum des 20. Jahrhunderts lesbar. Allerdings, so das Resümee dieser Arbeit, ist dieser Wi‐ derstand nicht auf die selbstbestimmten Handlungen der Frauen-Figuren be‐ schränkt, sondern bezieht sich auch auf die Konstruktion der erwachsenen männlichen Figuren, die als Gescheiterte, Desillusionierte, korrupte Bürger sowie Tagträumer und damit als fiktive Erfinder Santa Marías einen lateiname‐ rikanischen hegemonialen Männlichkeitsdiskurs unterlaufen, der auf biopoliti‐ schen Strategien der Bevölkerungsvermehrung im Rahmen postkolonialen Na‐ tion Buildings in Verbindung mit christlichen Expansionsbestrebungen beruht. Letztlich folgt daraus, dass die patriarchale Ordnung, die sich zu großen Teilen vermittels Disziplinierungsmechanismen über den weiblichen Körper legiti‐ miert, mitnichten ein funktionierendes System darstellt, sondern wie gezeigt 266 6 Resümee: It’s the patriarchy, stupid! <?page no="267"?> wurde, an sich höchst krisenanfällig ist. Die (christlich-)patriarchale Ordnung wird also keineswegs als ‚gute‘ oder ‚erstrebenswerte‘ Ordnung dargestellt, sondern vielmehr als gesellschaftliche Dystopie. Wenn die bisherige Forschung dafür vor allem raumsoziologische oder demographische Argumente, wie zu‐ nehmende Verstädterung und eine daraus resultierende Unübersichtlichkeit der modernen Großstadt sowie die Selbstentfremdung der sie bewohnenden (männ‐ lichen) Individuen herangezogen hat, so kommt diese Arbeit zu dem Schluss, dass die patriarchalen Strukturen und ihre Auswirkungen auf alle Geschlechter grundlegend für die dystopische Darstellung des Diskursraums Santa María sind. 267 6 Resümee: It’s the patriarchy, stupid! <?page no="269"?> Siglenverzeichnis AS Onetti, Juan Carlos: El astillero, in: Id.: Obras completas. 3 tomos. Vol. 2: Novelas II (1959-1993), ed. Hortensia Campanella. Prólogo de José Manuel Caballero Bonald, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009 [1961], pp. 149-322. 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Santa Teresa Critical Insights, Filiations, Responses 2019, 360 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8246-1 <?page no="283"?> Band 11 Jörg Dünne/ Kurt Hahn/ Lars Schneider (Hrsg.) Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre 2019, 664 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8258-4 Band 12 Christoph Hülsmann Initiale Topiks und Foki im gesprochenen Französisch, Spanisch und Italienisch 2019, 329 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8301-7 Band 13 Mattia Zangari Tre storie di santità femminile tra parole e immagini Agiografie, memoriali e fabulae depictae fra Due e Trecento 2019, 150 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8360-4 Band 14 Manfred Bös Transzendierende Immanenz Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda 2020, 395 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8340-6 Band 15 Johanna Vocht Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion 2022, 281 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8425-0 Band 16 Aurelia Merlan (ed.) Romanian in the Context of Migration noch nicht erschienen Band 17 Felix Bokelmann Varianzphänomene der Standardaussprache in Argentinien Indizien aus Sprachproduktion und -perzeption 2021, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8490-8 Band 18 Denis Heuring Verdrängen und Erinnern auf dem Theater Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Drama nach 1975 noch nicht erschienen Band 19 Veit Lindner Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des ‚Essayistischen‘ in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático 2021, 314 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8529-5 <?page no="284"?> ISBN 978-3-8233-8425-0 Juan Carlos Onetti, eine der prägendsten Autorenfiguren der lateinamerikanischen Moderne, schuf ein selbstbezügliches literarisches Gesamtwerk, das fast gänzlich in der erfundenen Stadt Santa María verortet ist. Im Prozess der Stadtgründung, deren Verfall und Neugründung, entsteht ein machträumliches Spannungsfeld zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion.