Der Betrieb als Sprachlernort
1018
2021
978-3-8233-9442-6
978-3-8233-8442-7
Gunter Narr Verlag
Isa-Lou Sander
Christian Efing
10.24053/9783823394426
Fachkräftemangel und Migration stellen Betriebe als Orte des Sprachenlernens vor viele Herausforderungen, bieten aber auch Chancen. "Der Betrieb als Sprachlernort" nimmt sich dieses hochaktuellen Themas an. Die darin versammelten Beiträge diskutieren die Frage, wie sich eine berufsbezogene und an betrieblichen Anforderungen orientierte Sprachförderung des Deutschen gestalten lässt, um die Ausbildung einer erfolgreichen beruflichen Handlungsfähigkeit bestmöglich zu unterstützen. Neben der Auseinandersetzung mit den Chancen und Herausforderungen des Betriebs als Sprachlernort werden auch Praxiskonzepte für eine arbeitsplatzbezogene Sprachförderung in Deutsch als Erst-, Zweit- und Fremdsprache vorgestellt.
<?page no="0"?> Isa-Lou Sander / Christian Efing (Hrsg.) DER BE TRIEB AL S SPRACHLERNOR T K O M MUNIZIE R E N IM B E RU F B A N D 4 <?page no="1"?> Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="2"?> K O M MUNIZIE R E N IM B E RU F B A N D 4 Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven Heraus ge geben v on: C hr is tia n E fing (A a c h e n) T hor s te n R o elc ke (B e r lin) Kir s te n S c hindle r (K öln) Wis s ens c haftlic her B eirat: S a m b or G r uc z a ( Wa r s c h a u) S te ph a n Ha b s c h eid ( S ie ge n) C a r m e n Heine (A a rhu s) E va-M a r ia J ako b s (A a c h e n) Nin a J a nic h ( D a r m s t a dt) F r a n z K ais e r ( R o s to c k) Lia n a Kon s t a ntinidou ( W inte r t hur) C on s t a n z e Nie d e rh a u s ( P a d e rb or n) Br itt a T hör le ( S ie ge n) Alin e W ille m s (K öln) <?page no="3"?> Isa-Lou Sander / Christian Efing (Hrsg.) Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 2699-3252 ISBN 978-3-8233-8442-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9442-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0310-7 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 15 38 50 81 106 137 159 179 Inhalt Christian Efing & Isa-Lou Sander Der Betrieb als Sprachlernort. Einleitung, Ausblick, Desiderata . . . . . . . . . Grundsätzliches Isa-Lou Sander Der Betrieb als Sprachlernort. Potenziale, Herausforderungen und didaktische Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Przemysław Wolski Konnektivistisches Modell des Fremdsprachenlernens im Betrieb . . . . . . . Cordula Meißner Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz. Korpuslinguistische Analysen und Perspektiven für die berufsbezogene Sprachförderung . . . . Einblicke in die betriebliche (Ausbildungs-)Praxis Ibrahim Cindark & Santana Overath Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Damaris Borowski Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte . . . . . . . . . . . Christina Widera & Anke Settelmeyer Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung. Ist das Ausbildungspersonal sprachbewusst und wodurch wird sprachbewusstes Handeln angeregt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderansätze in deutscher und europäischer Perspektive Veronika Vössing Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen. Ein Blick in die universitäre Weiterbildungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meta Cehak-Behrmann Berufsintegriertes Sprachlernen und seine Förderung im Betrieb . . . . . . . . <?page no="6"?> 189 216 239 259 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström Lebenslanges Lernen im Betrieb. Integration am Arbeitsplatz durch professionelle Qualifizierung und alltagsnahes Sprachmentoring . . . . . . . . Matilde Grünhage-Monetti Learning to work or working to learn. Berufs- und arbeitsplatzbezogene Zweitsprachenförderung: eine europäische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Der Betrieb als Sprachlernort Einleitung, Ausblick, Desiderata Christian Efing & Isa-Lou Sander Zur Einleitung Sprachlich-kommunikative Kompetenzen gelten nicht nur als wesentliche Vo‐ raussetzung für eine gelingende Bildungsbiographie, sie sind auch der entschei‐ dende Schlüssel für berufliche Handlungsfähigkeit sowie das erfolgreiche Durchlaufen und Abschließen einer Berufsausbildung (vgl. u. a. Kimmelmann 2010; Kuhn 2019; Settelmeyer et al. 2017). Nicht nur, aber insbesondere auch vor dem Hintergrund der migrationspolitischen Herausforderung, Zugewanderten die Möglichkeit der Integration in den Beruf und dadurch die Aussicht auf ge‐ sellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, gerät die Frage, wie sprachlich-kom‐ munikative Kompetenzen effektiv und abgestimmt auf die in Beruf und Ausbil‐ dung geltenden Anforderungen gefördert werden können, in den Fokus. Dabei gilt es besonders den Ort in den Blick zu nehmen, an dem berufliche Kommunikation stattfindet und benötigt wird - den (betrieblichen) Arbeits‐ platz - sowie die Personen, die die Lernenden begleiten und das entsprechende Handlungspotenzial für Sprachförderung besitzen - die betrieblichen Ausbil‐ derinnen und Ausbilder. Der Betrieb steht hierbei nicht nur als Ort im Fokus, an dem konkrete berufliche Tätigkeiten angeleitet und ausgeführt werden, sondern als ein Ort, der aufgrund der vielfältigen und authentischen sprachlich-kom‐ munikativen Anforderungen und des breiten Spektrums an Kommunikations‐ situationen und Gesprächspartnern ein immenses Unterstützungspotenzial für eine gelingende Sprachförderung besitzt und dadurch zu einem zentralen Sprachlernort wird. Hierbei ist es besonders der Aspekt der integrierten Um‐ setzung von Sprachfördermaßnahmen, der den Betrieb als Sprachlernort aus‐ zeichnet, sowie die Annahme, Sprache dort zu fördern, wo sie tatsächlich be‐ nötigt wird (Grünhage-Monetti 2013). Studien zur Wirksamkeit von Sprachfördermaßnahmen für den Bereich der schulischen beruflichen Bildung <?page no="8"?> zeigen deutlich, dass es die Faktoren der Integration des Sprachlernens in das Fachlernen sowie der Handlungsorientierung sind, die das Sprachlernen för‐ dern, zumal wenn es um ein Klientel geht, das wenig gute biographische Erfah‐ rung mit schulformaler Bildung und wenig Einsicht hat, warum Sprachlernen relevant ist für die Weiterentwicklung der berufsfachlichen Handlungskompe‐ tenz. Die Verknüpfung des Sprachlernens mit dem Fachlernen schafft hier zwei‐ erlei: einerseits den Abbau von prinzipiellen Widerständen gegen das Sprach‐ lernen, da dies hinter dem Fachlernen verschwindet und nicht wahrgenommen wird; andererseits aber ggf. auch den Aufbau von Motivationen durch das Er‐ fahren und Erleben der Relevanz sprachlicher Kompetenzen für das fachliche Handeln (Efing 2013). In schuldidaktischen Kontexten des beruflichen Sprach‐ lernens wird schon lange gefordert, authentische bzw. zumindest realistische Lernsettings zu kreieren und hiermit die Integration von Sprach- und Fach‐ lernen didaktisch zu modellieren (u. a. Efing 2017). Während Schule dies auf‐ wändig planen muss, ist diese (die Motivation fördernde) Authentizität in Be‐ trieben zwangsläufig immer gegeben - denn hier ist Sprachverwendung immer kontextualisiert, immer nur Mittel zum Zweck und nie Selbstzweck, als den Schülerinnen und Schüler das Sprachlernen oft erleben und es deshalb als all‐ gemeinbildenden Inhalt ablehnen. Ausblick Der Sammelband „Der Betrieb als Sprachlernort“ will die Potenziale des be‐ trieblichen Kontexts und des darin tätigen Ausbildungspersonals für eine ge‐ lingende berufsbezogene und in betriebliche Kontexte integrierte Sprachförde‐ rung herausarbeiten, die spezifischen Herausforderungen der heterogenen Gruppe an Auszubildenden und Mitarbeitenden (mit Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache) benennen und aufzeigen, mit welchen Förderkonzepten und Maßnahmen auf diese Lehr-/ Lernerfordernisse reagiert werden kann. Die Beiträge lassen sich dabei drei zentralen Themenbereichen zuordnen: • Grundsätzliches zum Betrieb als Sprachlernort und (fach-)didaktische Implikationen, • Einblicke in die betriebliche Ausbildungspraxis, • Förderansätze in deutscher und europäischer Perspektive. Der Betrieb als Sprachlernort und die damit zusammenhängenden Herausfor‐ derungen, Potenziale und Handlungsfelder von betrieblicher und außerbetrieb‐ licher Bildungsarbeit werden also von verschiedenen Perspektiven aus be‐ 8 Christian Efing & Isa-Lou Sander <?page no="9"?> leuchtet, um einen möglichst breit fundierten Zugang zur Thematik zu ermöglichen. Desiderata Über berufsintegriertes Sprachlernen und Sprachförderung, die mit den am Ar‐ beitsplatz geltenden sprachlich-kommunikativen Anforderungen verknüpft sind, wird bereits seit einiger Zeit in der wissenschaftlichen Fachliteratur dis‐ kutiert (vgl. u. a. Efing / Kiefer 2018; Bethscheider 2015). Auch die Auswahl an Förderkonzepten, Maßnahmen und Weiterbildungen in diesem Bereich wächst stetig an. Diese Faktoren zeigen, dass das Thema der Sprachförderung für die berufliche Tätigkeit - und / oder am Arbeitsplatz selbst - einen hohen Stellen‐ wert besitzt und von aktueller Relevanz ist. Zurückzuführen ist dies auf die Be‐ darfe von Betrieben, die, um ihre betriebswirtschaftlichen Ziele erfüllen zu können, entsprechend qualifizierte Mitarbeitende benötigen, sowie auf die Be‐ dürfnisse von Mitarbeitenden, die eine langfristige berufliche Handlungs- und Beschäftigungsfähigkeit, die Integration in ein betriebliches Arbeitsumfeld und Aufstiegsmöglichkeiten anstreben. Nichtsdestotrotz lassen sich zentrale Forschungsdesiderata und Handlungs‐ felder identifizieren. So bedarf es berufsfeldübergreifender Wirksamkeitsstu‐ dien zur betrieblichen Sprachförderung, so wie es sie bereits für den Aspekt der Sprachförderung im schulischen Kontext gibt (Schneider et al. 2013). Hierbei gilt es außerdem die konkrete Umsetzbarkeit von schulischen oder allgemeinen Förderansätzen in der betrieblichen Praxis in den Blick zu nehmen, was ange‐ sichts der enormen Heterogenität innerhalb betrieblicher Strukturen und Pro‐ zesse eine Herausforderung darstellt. Da jedoch in aktueller Literatur zum Thema immer schon stillschweigend (hoch)schul- und fremdsprachendidakti‐ sche Konzepte und Ansätze wie sprachsensibler Fachunterricht / CLIL , Scaffol‐ ding, die Szenario-Methode usw. auf den Betrieb übertragen werden, ohne dass es Evidenzen bzw. empirische Nachweise auf breiterer Basis gibt, ob dies sinn‐ voll und angesichts der unterschiedlichen fachlichen und sprachdidaktischen Qualifikation der Ausbilderinnen und Ausbilder überhaupt möglich ist, wären empirische Studien zur Durchführbarkeit (Rahmenbedingungen), Durchfüh‐ rung (Umsetzungsqualität) und Wirksamkeit dringend nötig. Denn nicht alles, was plausibel und sinnvoll übertragbar erscheint, muss angesichts der sehr un‐ terschiedlichen Lehr-Lern-Voraussetzungen der Lernorte und Lehrkräfte auch wirklich (ohne größere Reibungsverluste und Weiterbildungsinvestitionen) au‐ tomatisch übertragbar sein. 9 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="10"?> Da die Basis für jegliche Art von berufsintegrierter Sprachförderung die Ori‐ entierung an den sprachlich-kommunikativen Anforderungen ist, die in einem spezifischen Berufsfeld gemeistert werden müssen, bedarf es außerdem einer weiteren Vertiefung der empirischen Erforschung dieser Anforderungen - so‐ wohl berufsspezifisch wie auch berufsfeldübergreifend. Dies ist besonders vor dem Hintergrund von domänen- oder registerorientierten Sprachförderkon‐ zepten von Relevanz (vgl. u. a. Kuhn / Sass 2018; Efing 2018). Neben diesen Desiderata, die von Seiten der wissenschaftlichen Forschung in den Blick genommen werden müssen, lassen sich außerdem einzelne Hand‐ lungsfelder identifizieren, die von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren bearbeitet werden sollten und die die wissenschaftlichen Forschungsdesiderata ergänzen. So bedarf es generell einer Intensivierung und Systematisierung der Zusammenarbeit und des Austausches zwischen den beteiligten Perspektiven und Lernorten. Soll der Betrieb als Sprachlernort etabliert und fest in der be‐ ruflichen Bildungsarbeit verankert werden, müssen Berufspädagogik, betrieb‐ liche (Weiter-)Bildungsarbeit, Linguistik, Sprachlehrforschung sowie Betriebe und Wirtschaftsakteure (bspw. Kammern und Verbände) und Bildungsträger zusammenarbeiten. Auch wenn es bereits vielfältige erfolgreiche Beispiele von Vernetzungsaktivitäten gibt (vgl. bspw. das Netzwerk IQ - Integration durch Qualifizierung), so bedarf es doch einer noch engeren Verzahnung zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Praxis. Auf Basis einer solchen systematisierten Vernetzung können Synergie-Effekte umfassend genutzt, Best Practice-Bei‐ spiele und erfolgreiche Sprachförderkonzepte sowie konkrete Bedarfe kommu‐ niziert und ausgetauscht werden. Der vorliegende Sammelband möchte hierzu einen Beitrag leisten und gleich‐ zeitig zu weiteren (Forschungs-)Aktivitäten in diesem Themenbereich anregen. Denn die spannende Zusammenschau der Beiträge zeigt auch, dass noch viel zu tun ist, dass noch viele Ideen und Konzepte auf eine Konkretisierung in der Implementierung (in einer wünschenswerten Breite) warten und dass noch viele Diskussionen und Analysen (durch) zu führen sind, wie nämlich ob die aktuell in der Diskussion stehenden Konzepte, die aus linguistischer und sprachdidak‐ tischer, auch lerntheoretischer Perspektive sinnvoll erscheinen, auch betriebs‐ wirtschaftlich sinnvoll umsetzbar werden und dies auch für kleine und mittelständische Betriebe mit geringen finanziellen Möglichkeiten. Denn Sprachför‐ derung im Betrieb soll zwar neben der Arbeit laufen, ist mit der Weiterqualifi‐ zierung der ausbildenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit der Freistellung für Coachings usw. kurzfristig nicht kostenneutral zu haben. Hier müssen Be‐ triebe überzeugt werden, dass es sich dennoch langfristig finanziell lohnt, Mi‐ 10 Christian Efing & Isa-Lou Sander <?page no="11"?> tarbeitende sprachlich im Betrieb zu fördern - und dass sie dadurch auch fach‐ lich in ihrer beruflichen Handlungskompetenz gefördert werden. Aachen, im April 2021 Literatur Bethscheider, Monika (2015). Förderung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten in der betrieblichen Ausbildung. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung. Abrufbar unter: https: / / www.bibb.de/ tools/ dapro/ data/ documents/ pdf/ eb_45100.pdf (Stand: 08 / 04 / 2021) Efing, Christian (2013). Sprachförderung in der Sekundarstufe II. In: Bildungsdirektion des Kantons Zürich (Hrsg.). Wirksamkeit von Sprachförderung. Expertise im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 75-81. Abrufbar unter: https: / / www.mercat or-institut-sprachfoerderung.de/ fileadmin/ user_upload/ Expertise_Sprachfoerderung _Web_final_03.pdf (Stand: 13 / 04 / 2021) Efing, Christian (2017). Deutschunterricht und berufliche Bildung. In: Baurmann, Jürgen / Kammler, Clemens / Müller, Astrid (Hrsg.). Handbuch Deutschunterricht. The‐ orie und Praxis des Lehrens und Lernens. Seelze: Kallmeyer / Klett, 366-374. Efing, Christian (2018). Registerbezogene Förderung der Sprachkompetenz in der beruf‐ lichen Bildung: Berufs-, Bildungs- und Fachsprache. In: Efing, Christian / Kiefer, Karl-Hubert (Hrsg.). Sprache und Kommunikation in der beruflichen Aus- und Weiter‐ bildung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 229-238. Efing, Christian / Kiefer, Karl-Hubert (Hrsg.) (2018). Sprache und Kommunikation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto. Grünhage-Monetti, Mathilde (2013). Warum Deutsch nicht dort fördern, wo es gebraucht wird? Am Arbeitsplatz. In: Efing, Christian (Hrsg.). Ausbildungsvorbereitung im Deutschunterricht der Sekundarstufe I. Die sprachlich-kommunikativen Facetten von Ausbildungsfähigkeit. Frankfurt am Main: Peter Lang, 191-215. Kimmelmann, Nicole (2010). Cultural Diversity als Herausforderung der beruflichen Bil‐ dung. Standards für die Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Professionals als Bestandteil von Diversity Management. Aachen: Shaker Verlag. Kuhn, Christina (2019). Jenseits von Fachsprache? Eine Studie zur Kommunikation im Betrieb und ihre Implikationen für den berufsorientierten Fremdsprachenunterricht und die Materialgestaltung. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 24 (1), 49-60. Kuhn, Christina / Sass, Anne (2018). Berufsorientierter Fremdsprachenunterricht. Sprachtraining für die kommunikativen Anforderungen der Arbeitswelt. In: Fremd‐ sprache Deutsch - Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts (59), 3-11. 11 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="12"?> Schneider, Hansjakob et al. (2013). Wirksamkeit von Sprachförderung. Expertise im Auf‐ trag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich (Hrsg.). Abrufbar unter: https: / / www .mercator-institut-sprachfoerderung.de/ fileadmin/ user_upload/ Expertise_Sprachfoe rderung_Web_final_03.pdf (Stand: 13 / 04 / 2021) Settelmeyer, Anke et al. (2017). Sprachlich-kommunikative Anforderungen in der berufli‐ chen Ausbildung. Abschlussbericht. Bundesinstitut für Berufsbildung. Bonn. Abrufbar unter: https: / / www.bibb.de/ tools/ dapro/ data/ documents/ pdf/ eb_22304.pdf (Stand: 13 / 04 / 2021) 12 Christian Efing & Isa-Lou Sander <?page no="13"?> Grundsätzliches <?page no="15"?> Der Betrieb als Sprachlernort Potenziale, Herausforderungen und didaktische Impulse Isa-Lou Sander Abstract: The working environment plays an important role for the acqui‐ sition of work-related skills. Since sufficient language skills are considered a necessity to develop these professional abilities, the question arises if the workplace itself is a good place to acquire language skills. This chapter dis‐ cusses opportunities and challenges concerning the acquisition of language skills at the workplace by examining the characteristics of learning processes in a professional environment. It goes on to analyze the possibility of con‐ necting the acquisition of work-related skills and language-related compe‐ tencies. Lastly, the transferability of the theoretical findings discussed here will be reviewed by looking at empirical data from interviews and observa‐ tions conducted at training preparation courses in the chemical industry. Keywords: language learning at the workplace, work-related language skills 1 Einleitung Digitalisierung, Flexibilisierung und zunehmende Mobilität zwischen Arbeits‐ plätzen, steigende Bedeutung von Wissen als Wettbewerbsfaktor - all diese As‐ pekte, die unter dem Begriff „Transformation der Arbeitswelt“ (Rebmann / Ten‐ felde 2008: 5) zusammengefasst werden können, verdeutlichen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den meisten Fällen nur dann dauer‐ haft und erfolgreich beschäftigungsfähig bleiben können, wenn sie auf wech‐ selnde Gegebenheiten reagieren können und eine kontinuierliche Lernbereit‐ schaft besitzen. <?page no="16"?> 1 https: / / www.die-bonn.de/ id/ 32389/ about/ html/ (Stand: 18 / 06 / 2021) 2 https: / / www.die-bonn.de/ id/ 32302/ about/ html/ (Stand: 18 / 06 / 2021) Heute müssen sich alle darauf einstellen, dass sich ihre Arbeitsaufgaben ständig und radikal verändern […]. Daher erscheint es unmittelbar einleuchtend, dass eine solche ständige Entwicklung der Kompetenz in direktem Zusammenhang mit der Arbeit stattfinden kann. (Illeris 2010: 220) Innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sowie der betrieblichen Wei‐ terbildungsforschung hat daher das Thema „Lernen im Prozess der Arbeit“ bzw. „Lernen am Arbeitsplatz“, zusammen mit der Debatte über informelles und le‐ benslanges Lernen, vermehrt Beachtung und Aufmerksamkeit gefunden (vgl. z. B. Kohl / Molzberger 2005; Dobischat / Seifert 2001) und vor einigen Jahren zu einer regelrechten „Wiederentdeckung des Lernortes Arbeitsplatz“ (Hahne 2003: 31) sowie zu einer „Renaissance des Lernens in der Arbeit“ (Dehnbostel 2018a: 3) geführt. Das betriebliche Umfeld gilt hier als zentraler Lernort, wenn es darum geht, sich berufsfachliche Inhalte und Kompetenzen anzueignen. Dass sprachlich-kommunikative Kompetenzen in diesem Zusammenhang ein zent‐ raler Schlüssel zur erfolgreichen beruflichen Handlungsfähigkeit sind, steht mittlerweile außer Frage (vgl. z. B. Settelmeyer et al. 2017: 5). Eine Beschreibung und Analyse der sprachlich-kommunikativen Anforderungen in beruflichen Kontexten wurde u. a. durch Studien wie „Deutsch am Arbeitsplatz“ 1 , durch das Projekt „Sprachlich-kommunikative Anforderungen in der beruflichen Ausbil‐ dung“ des Bundesinstituts für Berufsbildung (Settelmeyer et al. 2017), oder durch die Teilstudie „Arbeitsplatz als Sprachlernort“ 2 geleistet. Geht es um die Frage, welche sprachlich-kommunikativen Anforderungen Mitarbeitende und Auszu‐ bildende am Arbeitsplatz meistern müssen, und wie sie dabei bestmöglich un‐ terstützt werden können, rückt der Betrieb als Sprachlernort in den Fokus. Vor dem Hintergrund von Migration und Fachkräftemangel ist es zwingend erfor‐ derlich, dass betriebliche Bildungsarbeit auch den Bereich von Sprache und Kommunikation integriert (Euler 2016). Da sich außerdem die sprachlich-kom‐ munikativen Anforderungen am Arbeitsplatz tendenziell erhöhen (vgl. bspw. Kimmelmann / Berg 2013: 90) - und dies auf sämtlichen Hierarchieebenen be‐ trieblicher Strukturen -, ist das Nutzen der Potenziale des Betriebs als Sprach‐ lernort für Betriebe und Unternehmen hinsichtlich der Erhaltung der Wettbe‐ werbsfähigkeit ein relevanter und bezüglich einer nachhaltigen Personalwirtschaft nicht zu vernachlässigender Aspekt. Außerdem besteht in Didaktik wie Wirtschaft weitgehend Einigkeit darüber, dass es oft diese sprachlichen, und nicht die fachlichen, Probleme sind, die dafür verantwortlich sind, 16 Isa-Lou Sander <?page no="17"?> dass Jugendliche keinen Ausbildungsplatz bekommen, ihre Ausbildung vorzeitig ab‐ brechen oder die theoretischen Abschlussprüfungen nicht bestehen. (Schneider et al. 2013: 75) Vor diesem Hintergrund will der vorliegende Beitrag die Potenziale und He‐ rausforderungen des Betriebs als Sprachlernort herausarbeiten und didaktische Impulse für die Umsetzung von Sprachförderung in der betrieblichen Bildungs‐ arbeit vorstellen und diskutieren. Dies soll auf Basis einer Auseinandersetzung mit den grundlegenden Charakteristika des Betriebs als Lernort geschehen, schließlich ist ein betrieblicher Sprachlernort als ein Ort anzusehen, an dem Sprachfördermaßnahmen, im Sinne einer integrierten Umsetzung, in Verbin‐ dung mit bereits für den Betrieb geltenden Lernformen umgesetzt werden können. Nach einer Diskussion von spezifischen Voraussetzungen, die für eine Etablierung des Betriebs als Sprachlernort relevant sind, folgt eine Auswahl an didaktischen Implikationen und Impulsen für betriebliche Sprachförderung, die hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit und Eigenschaften vorgestellt werden. Ab‐ schließend werden die Potenziale und Herausforderungen des Betriebs als Sprachlernort und die erarbeiteten didaktischen Impulse empirisch - durch eine exemplarische Analyse von Beobachtungs- und Interviewdaten aus einer aus‐ bildungsvorbereitenden Maßnahme in der chemischen Industrie - untermauert und hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit reflektiert. Der Fokus dieses Beitrags richtet sich also auf die Verknüpfungsmöglich‐ keiten, die sich zwischen dem Betrieb als Lernort und der Umsetzung von Sprachfördermaßnahmen bieten und einer damit verbundenen Auslotung der Potenziale und Herausforderungen des Betriebs als Sprachlernort. 2 Der Betrieb als Lernort — Lernen im Prozess der Arbeit Das betriebliche Umfeld ist sowohl im Rahmen einer beruflichen Ausbildung wie auch generell hinsichtlich einer beruflichen Tätigkeit ein zentraler Ort, an dem berufsbezogene Lernprozesse stattfinden und an dem die Möglichkeit be‐ steht, diese Prozesse zu initiieren und zu begleiten. Der Begriff Lernort kann also folgendermaßen verstanden werden: Als pädagogisches Konzept ist der Lernort also ein Ort des intendierten Lernens, den Lernende über ihre Aneignung von Wissen und Kompetenzen auch zu einem Ort des tatsächlichen Lernens machen (können). (Kraus 2015: 136) Ergänzend muss noch hinzugefügt werden, dass der Begriff des Lernens in diesem Kontext über das Verständnis von formalen Lernprozessen hinausreicht. Demnach lassen sich Lernorte auch definieren 17 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="18"?> 3 Mit dem „Lernkulturinventar“ (LKI) (Sonntag / Stegmaier 2007) und dem „Lernförder‐ lichkeitsinventar“ (LFI) (Frieling et al. 2006) stehen Instrumente bereit, die zur Erhebung des generellen Lernpotenzials von Arbeitsplätzen genutzt werden können. als örtlich und räumlich zusammenhängende Einheiten […], in denen in formalen, nichtformalen und informellen Lernkontexten gelernt wird. Zu unterscheiden sind Lernorte nach ihren örtlichen, räumlichen, zeitlichen und strukturellen Gegeben‐ heiten sowie nach ihren qualifizierenden und auf das Lernen bezogenen Funktionen. (Dehnbostel 2018b: 281) Innerhalb der beruflichen Ausbildung ist der Betrieb zudem der institutionell verankerte, auf berufspraktische und berufsfachliche Inhalte ausgerichtete Lernort, der dem berufsschulischen und ggf. den überbetrieblichen Lernorten gegenübersteht. Der Betrieb als Lernort ist dabei in der Vergangenheit immer stärker in den Fokus gerückt. Aufgrund veränderter Arbeits- und Organisati‐ onskonzepte fand eine Verlagerung von einer funktionszu einer prozessori‐ entierten Ausbildung statt und anstatt des Aspekts der Qualifizierung wurde der Aspekt der Kompetenzentwicklung in den Vordergrund gerückt (Reb‐ mann / Tenfelde 2008: 1; Illeris 2010: 220; Schöpf 2005: 10). Dies hat innerhalb der Berufspädagogik zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit Konzepten und Kriterien des Lernens in der Arbeit geführt (Dehnbostel 2008: 6). Hinsichtlich des Lernens in der Arbeit ist jedoch eine enorme Heterogenität hinsichtlich be‐ trieblicher Rahmenbedingungen, branchenspezifischer Gegebenheiten und per‐ sonaler Strukturen aufzufinden. Diese Heterogenität wirkt sich auch auf das Lernpotenzial von Arbeitsplätzen aus (Oberth 2006: 17), denn nicht jeder Ar‐ beitsplatz und jeder betriebliche Kontext stellt die gleichen Grundlagen für in‐ tegrierte Lernprozesse bereit. 3 Besonders Arbeitsplätze im Helferbereich gelten hier i. d. R. als nur wenig lernhaltig. Da aber gerade für gering Qualifizierte eine berufsintegrierte Förderung und Weiterbildung auch hinsichtlich der sprach‐ lich-kommunikativen Kompetenzen essentiell ist, gilt es, diesem Bereich einen besonderen Fokus zu schenken. Doch obwohl Lernen am Arbeitsplatz zu den etablierten Lernformen der beruflichen Bildung zählt, wurde es bisher versäumt, den Betrieb als Lernort für die Zielgruppe [der gering bzw. nicht formal Qualifizierten] zu erschließen. […]. Zudem besitzt die Zielgruppe selten die für die Organisation arbeitsbezogener Lernprozesse erforderli‐ chen Lernstrategien. (Dauser / Kretschmer 2019: 5) Generelle Voraussetzung dafür, dass Arbeitsplätze umfassend als Lernorte ge‐ nutzt werden können, ist eine intensive Lernprozessbegleitung, Beobachtung und Bedarfsanalyse. Besonders der Aspekt der Bedarfsanalyse ist auch für eine 18 Isa-Lou Sander <?page no="19"?> Sprachförderung am Arbeitsplatz essentiell (Efing 2014; Weissenberg 2012), da nur wenn die Anforderungen bekannt sind, die entsprechenden Maßnahmen auch zielgerecht eingesetzt werden können. Zentraler Aspekt des Betriebs als Lernort ist die Tatsache, dass sich Arbeits- und Lernprozesse integrieren lassen, was auch im Bereich der Berufspädagogik intensiv beforscht und bearbeitet wird (vgl. z. B. Oberth 2006: 13). „Das Lernen in der Arbeit ist die älteste und am weitesten verbreitete Form beruflicher Qua‐ lifizierung. Hier ist der Arbeitsort zugleich Lernort.“ (Dehnbostel 2008: 5) Rund um die Verknüpfung von Arbeits- und Lernprozessen im beruflichen Kontext lassen sich hinsichtlich der Gestaltung und Begleitung von Lernprozessen fol‐ gende Differenzierungen zusammenfassen. Modelle arbeitsbezogenen Lernens Konzepte und Lernformen 1. Lernen durch Arbeitshandeln im re‐ alen Arbeitsprozess (arbeitsgebun‐ denes Lernen) Traditionelle Beistelllehre; Anpassungs‐ qualifizierung; Lernen in der Arbeit; Com‐ munities of Practice 2. Lernen durch Instruktion, systemati‐ sche Unterweisung am Arbeitsplatz (arbeitsgebundenes Lernen) Unterweisungsformen; Anlernformen; Cognitive Apprenticeship 3. Lernen durch Integration von infor‐ mellem und formellem Lernen (ar‐ beitsgebundenes oder -verbundenes Lernen) Qualitätszirkel; Lernstatt; Lerninsel; Ar‐ beits- und Lernaufgaben; Structured Learning on the Job 4. Lernen durch Hospitationen sowie durch Erkundungen (arbeitsverbun‐ denes und arbeitsgebundenes Lernen) Betriebliche Praktika; Betriebliche Verset‐ zungsstellen und Rotation; Benchmarking 5. Lernen durch Simulation von Ar‐ beitsprozessen (arbeitsorientiertes Lernen) Produktionsschulen; Lernbüro; auftrags‐ orientiertes Arbeiten in Bildungszentren Tab. 1: Modelle arbeitsbezogenen Lernens (Dehnbostel 2007: 46) Die grundlegenden Unterscheidungspunkte bei den Modellen des arbeitsbezo‐ genen Lernens von Dehnbostel liegen in der Trennung bzw. Verknüpfung von Lern- und Arbeitsort und der Verbindung mit formellen oder informellen Lern‐ prozessen. Während beim arbeitsgebundenen Lernen Arbeits- und Lernort iden‐ tisch sind, liegt beim arbeitsverbundenen Lernen zwar eine räumliche Trennung zwischen dem tatsächlichen Arbeitsplatz und dem Lernort vor, die jedoch durch eine direkte organisatorische Verknüpfung ausgeglichen werden kann. Das ar‐ beitsorientierte Lernen stellt hier die dritte Kategorie dar: „Hier werden Übungs- 19 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="20"?> und Auftragsarbeiten in möglichst der Arbeitsrealität nahe kommenden Lern‐ umgebungen durchgeführt, Lehr- und Studieninhalte didaktisch-curricular auf die Arbeit bezogen.“ (Dehnbostel 2018a: 6) In allen drei Hauptkategorien arbeits‐ bezogenen Lernens kann das Lernen sowohl in informeller wie auch in formeller Form gestaltet werden (Rohs 2018: 6). Innerhalb der beruflichen Weiterbildung lässt sich hier jedoch eine Tendenz erkennen, die eine relative Verschiebung der Weiterbildung von Kursbzw. Seminarformen zu‐ gunsten von stärker in den Arbeitsprozess integrierten Lernformen, selbstgesteu‐ ertem Lernen und der Verwendung multimedialer Angebote (Kohl / Molzberger 2005: 353) zeigt. Dabei gelten die Vorteile von informellen Weiterbildungsmaßnahmen, wie bspw. eine höhere Flexibilität hinsichtlich der Anpassung und Ausrichtung an den konkreten Bedarfen und Voraussetzungen der Zielgruppe und des spezifi‐ schen Arbeitsplatzes sowie die organisatorisch bessere Integrierbarkeit in den Arbeitsalltag (Brussig / Leber 2005: 6), ebenso für arbeitsintegrierte Sprachför‐ dermaßnahmen. Generell muss festgehalten werden, dass die hier genannten Modelle arbeits‐ bezogenen Lernens aufgrund der durchgängig vorhandenen Handlungsorien‐ tierung vielfältige Anknüpfungspunkte für sprachliches Lernen bieten. Sprach‐ förderung am Arbeitsplatz und sprachliches Lernen im Prozess der Arbeit kann also, hinsichtlich der zugrundeliegenden Konzepte und Modelle, auf bereits Be‐ stehendes zurückgreifen und dieses für die Gestaltung des Sprachlernorts Be‐ trieb nutzbar machen. Die konkreten Anknüpfungspunkte sollen hier im fol‐ genden Kapitel näher vorgestellt werden. 3 Der Betrieb als Sprachlernort: Potenziale und didaktische Implikationen 3.1 Potenziale und Voraussetzungen Die Rolle des Betriebs als Sprachlernort wird von betrieblicher Seite bislang nur recht verhalten wahrgenommen, was besonders daran liegt, dass sich betrieb‐ liche Akteurinnen und Akteure vorrangig in der Vermittlungsposition von be‐ rufsfachlichen Inhalten und entsprechenden Kompetenzen sehen und nicht in ihrer Rolle als Unterstützende von berufsrelevanten Sprachbildungsprozessen (Bethscheider et al. 2013; Cehak-Behrmann 2020). Der Aspekt der Sprachförde‐ rung wird hingegen von Seiten der Wirtschaft im Aufgabenfeld der Schulen bzw. externer Bildungsanbieter für (berufsbezogene) Deutschkurse gesehen (Settel‐ meyer / Widera 2020: 130). Auch wenn sich die von Seiten der Deutschdidaktik 20 Isa-Lou Sander <?page no="21"?> erarbeiteten Ansätze zur Sprachförderung (s. zur Übersicht Schneider et al. 2013: 77) vorrangig an die Berufsschulen richten, wird auch das Potenzial einer integrierten und mit betrieblichen Prozessen verknüpften Sprachförderung wahrgenommen (ebd. 76). Dies ist besonders auf den in betrieblichen Kontexten direkt erfahrbaren Berufs- und Handlungsbezug zurückzuführen, denn Sprach‐ förderung ist dann - auch hinsichtlich der Motivation der Lernenden - beson‐ ders wirksam, wenn die Relevanz der sprachlich-kommunikativen Kompe‐ tenzen für die beruflichen Handlungen wahrnehmbar ist (ebd. 80). Das betriebliche Umfeld bietet also durch authentische Kommunikationssi‐ tuationen und eine konkrete Handlungsorientierung der Kommunikation, im Sinne eines arbeitsgebundenen Lernprozesses, eine Vielfalt an Anknüpfungs‐ möglichkeiten für Sprachfördermaßnahmen. Dieses Potenzial wird jedoch erst seit Kurzem - u. a. zurückzuführend auf die von Seiten der Politik geforderte Unterstützung der Integration von Neu-Zugewanderten in Ausbildung und Ar‐ beit - in den Fokus gerückt (Settelmeyer / Widera 2020: 118). Dem betrieblichen Umfeld kann somit eine entscheidende Schlüsselposition hinsichtlich der Un‐ terstützung von berufsrelevanten sprachlich-kommunikativen Kompetenzen von Mitarbeitenden zugeschrieben werden. Betriebe können also neben ihrer Funktion als berufspraktische Lernorte und unabhängig von der enormen He‐ terogenität hinsichtlich Arbeits-, Organisations- und Personalstrukturen auch die Funktion von Sprachlernorten einnehmen. Als Voraussetzungen, damit dieses Potenzial auch genutzt werden kann, können folgende Faktoren gelten: • Identifikation der Lernpotenziale der Arbeitsplätze - nur wenn das Lernen generell an einem Arbeitsplatz möglich ist (vgl. Kap. 2), ist auch ein sprachliches Lernen möglich, • eine Sprachbedarfsanalyse, die die sprachlich-kommunikativen Anforde‐ rungen im betrieblichen Kontext erhebt und für eine Analyse zugänglich macht (Efing / Kiefer 2018), • Offenheit und Bereitschaft - auf Seiten der Arbeitgebenden und Arbeit‐ nehmenden -, Strukturen und Bedarfe auf organisationaler und perso‐ naler Ebene zu reflektieren und Sprachförderinstrumente anzunehmen und umzusetzen, • Flexibilität und Offenheit hinsichtlich der Einbindung von Sprachförder‐ maßnahmen in (informelle) Weiterbildungsstrukturen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, können Betriebe nicht nur als Sprachlernorte angesehen werden, sondern betriebliche Akteurinnen und Akteure können auch konkrete Maßnahmen ergreifen, um das Potenzial eines betrieblichen 21 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="22"?> 4 Die hier vorgestellten Maßnahmen und Handlungsimpulse verstehen sich nicht als vollständiger Katalog, sondern als gezielt auf die integrierte Umsetzung im Betrieb ausgewählte Beispiele. Weitere zentrale Aspekte, wie bspw. das Einbinden von Coa‐ ching- und Mentoringkonzepten oder auch der Einsatz von berufsbezogenen Szenarien, werden hier nicht weiter diskutiert, können aber auch für den Einsatz im Betrieb ge‐ eignet sein, ggf. unter Einbeziehung von externen Bildungsanbieterinnen und -anbie‐ tern (vgl. z. B. Leinecke 2018; Sass / Eilert-Ebke 2014). Sprachlernortes positiv zu nutzen. Entsprechende Maßnahmen werden im Fol‐ genden schlaglichtartig vorgestellt, um dann im Anschluss (Kap. 4) deren Über‐ tragbarkeit in (über-)betriebliche Kontexte und die daraus ableitbaren Potenz‐ iale und Herausforderungen des Sprachlernorts Betrieb abschließend zu diskutieren. 4 Die hier vorgestellten ausgewählten Maßnahmen zur arbeitsinte‐ grierten Sprachförderung verstehen sich dabei alle als auf den Betrieb fokus‐ sierte und in den Arbeitskontext integrierte, d. h. nicht extern an Dritte ausge‐ lagerte Maßnahmen, bei denen eine Umsetzung (ggf. nach einer Phase der Fortbildung und Begleitung durch Externe) im Betrieb von den dort tätigen Personen selbst durchgeführt werden kann, denn: „Wenn die sprachlichen An‐ forderungen aus der berufsfachlichen Situation resultieren, muss Sprachförde‐ rung auch hier, im Fach und im Betrieb, stattfinden.“ (Efing 2020: 16) Es geht also um eine möglichst arbeitsnahe Integration von Sprachfördermaßnahmen, da davon ausgegangen werden kann, dass je konkreter das Förderangebot mit der beruflichen Tätigkeit verknüpft ist, desto deutlicher der positive Lerneffekt wahrgenommen wird (Oberth 2006: 15). Sprachförderung wird also als ein ge‐ nuiner Bestandteil von betrieblicher Bildungsarbeit verstanden, die sich wie folgt definieren lässt: Gegenstand der betrieblichen Bildungsarbeit sind prinzipiell alle Trainings-, Qualifi‐ zierungs- und Berufsbildungsmaßnahmen, die unmittelbar im Unternehmen statt‐ finden oder von diesem finanziert, veranlasst, durchgeführt oder verantwortet werden. Die betriebliche Bildungsarbeit umfasst die Gesamtheit aller auf Individuen, Gruppen und die Organisation bezogenen Lern- und Qualifizierungsprozesse im Be‐ trieb. (Dehnbostel 2018a: 10) Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass nicht alle hier vorgestellten Hand‐ lungsimpulse gleichermaßen für alle möglichen betrieblichen Rahmenbedin‐ gungen und Organisationsstrukturen geeignet sind. Aufgrund der hier vor‐ herrschenden Heterogenität gilt es entsprechend für den spezifischen Kontext passende und umsetzbare Maßnahmen auszuwählen und zu ergreifen und auf den entsprechenden betrieblichen Kontext zu transferieren. Der Umfang, in dem Betriebe als Sprachlernorte genutzt werden können, ist auch deshalb je nach 22 Isa-Lou Sander <?page no="23"?> 5 https: / / www.daf.uni-bonn.de/ pib/ ueberblick (Stand: 18 / 06 / 2021) 6 Auch online finden sich einige Unterstützungsangebote, die auf die Sprachsensibilität des Ausbildungspersonals abzielen, wie z. B. https: / / www.stark-fuer-ausbildung.de/ spr achfoerderung, oder auch https: / / www.ueberaus.de/ wws/ sprache-kultur-ausbildung.p hp (Stand: 18 / 06 / 2021). Betrieb unterschiedlich, da auch die sprachlich-kommunikativen Anforde‐ rungen unterschiedlich sind - aber: obwohl es betriebsspezifische Unterschiede gibt, ist die Vergleichbarkeit der Anforderungen dennoch so hoch, dass sich einheitliche Möglichkeiten und Potenziale formulieren lassen (Settel‐ meyer / Widera 2020: 129). 3.2 Sprachliches und fachliches Lernen verknüpfen - sprachsensibles Aus- und Weiterbilden im Betrieb Die Auseinandersetzung mit einer sinnvollen Verknüpfung von fachlichen und sprachlichen Lernprozessen findet innerhalb der (sprach)didaktischen For‐ schung unter dem Begriff sprachsensibles Unterrichten bzw. sprachsensibler Fach‐ unterricht statt. Auch im Bereich der beruflichen Bildung wurde sich bereits intensiv mit diesem Ansatz auseinandergesetzt (Niederhaus 2018; Riegler 2020; Günther et al. 2013; Kimmelmann 2013), allerdings mit einem starken Fokus auf die schulische und nicht auf die betriebliche Seite der beruflichen Bildung. Die ansteigende Zahl an Handreichungen, Schulungs- und Weiterbildungsange‐ boten für betriebliche Akteurinnen und Akteure (wie bspw. das Programm PIB der Universität Bonn 5 ) zeigt jedoch, dass dieser Ansatz auch für die Verknüpfung von sprachlichen und fachlichen Lernprozessen im Betrieb genutzt werden kann (vgl. Bethscheider / Wullenweber 2016; Berg 2014). 6 Grundgedanke dieses Ansatzes ist zunächst, dass der Zugang zu fachlichem Wissen maßgeblich über Sprache - aufgrund ihrer epistemischen Funktion - stattfindet und dass, wenn die entsprechenden sprachlichen Kompetenzen nicht vorliegen, ein erschwerter Zugang zu diesem fachlichen Wissen entsteht. Im Kontext der beruflichen Bildung wird klar, dass: „Sprachförderung […] damit kein Selbstzweck [ist], sondern […] zu einer Förderung der beruflichen Hand‐ lungsfähigkeit [wird].“ (Efing 2020: 16) Für den Aspekt der Sprachförderung be‐ deutet dies nun, dass Lernende gezielt dabei unterstützt werden, die sprachli‐ chen Anforderungen zu meistern, um dadurch den Zugang zu den (berufs)fachlichen Wissensinhalten gewährleisten zu können. Es geht also nicht um ein Vermeiden oder ein Absenken von sprachlichen Anforderungen (bspw. durch das Umgehen von Fachterminologie), wie es in einem defizitorientierten Ansatz der Fall wäre, sondern - aufbauend auf den ermittelten sprachlich-kom‐ 23 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="24"?> munikativen Anforderungen - um ein gezieltes Unterstützen bei der Bewälti‐ gung der sprachlichen Anforderungen. Dieser Ansatz bildet hier also die Basis, auf der die Auseinandersetzung mit ausgewählten didaktischen Anknüpfungspunkten, die im Folgenden näher vor‐ gestellt werden sollen, stattfinden kann. 3.2.1 Sprachsensibles Anweisen Im beruflichen Kontext sind es besonders die Anweisungs- und Instruktionssi‐ tuationen, die für eine erfolgreiche berufliche Handlungsfähigkeit relevant sind, schließlich hat hier ein Nicht- oder Missverstehen konkrete Auswirkungen auf das Arbeitsergebnis. Umso wichtiger ist es, dass diese Situationen hinsichtlich einer sprachsensiblen Umsetzung durch das Ausbildungspersonal in den Blick genommen werden. Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass sich die Ausbildenden über ihren eigenen Sprachgebrauch bewusst werden und diesen reflek‐ tieren. Ist der Sprachgebrauch dialektal geprägt? Wie sind das gewöhnliche Sprechtempo und die Deutlichkeit der Aussprache einzuschätzen? Wird dazu geneigt, komplexe Satzstrukturen zu bilden und mehrere Teilarbeitsaufträge zusammen zu formulieren? Werden häufig ironische Strukturen verwendet, die das Verständnis beeinträchtigen können? Wird bildungssprachliche Lexik oder auch Berufsjargon verwendet, deren Kenntnis nicht vorausgesetzt werden kann? Diese Reflexionsprozesse tragen dazu bei, dass das Ausbildungspersonal mögliche Hürden in der mündlichen Kommunikation am Arbeitsplatz identifi‐ ziert und aufbauend darauf Maßnahmen ergreifen kann, um die Lernenden bei der Bewältigung dieser Hürden zu unterstützen. Es geht also nicht um eine Ab‐ senkung der Hürden durch bspw. das Verzichten auf Berufsjargonismen oder dialektaler Strukturen, sondern um das Thematisieren dieser Hürden gegenüer den Mitarbeitenden. Diese Thematisierung wird wiederum erst durch einen Re‐ flexionsprozess der Ausbildenden über den eigenen Sprachgebrauch ermöglicht, denn, wenn man sich selbst darüber bewusst ist, dass man bspw. häufig Sprich‐ wörter verwendet und diese eine Verstehenshürde darstellen können, kann man solche Strukturen auch zum Gegenstand eines Gesprächs machen. Neben einer generellen Thematisierung der sprachlichen Hürden gegenüber den Lernenden bieten sich außerdem folgende Maßnahmen (Berg 2014: 12) an: • keine Vermischung von verschiedenen Themen, bspw. „keine Arbeitsan‐ weisung in einem Small-Talk-Gespräch geben“, • die (zeitliche) Abfolge bei Arbeitsaufträgen deutlich machen, • sinnvolle Unterstützung durch Gestik und Aufforderung zu Nachfragen oder zur Wiederholung des Verstandenen. 24 Isa-Lou Sander <?page no="25"?> Diese Ansätze, die innerhalb der Sprachdidaktik unter dem Begriff Mikro- Scaffolding subsumiert werden können, tragen außerdem dazu bei, dass das Ausbildungspersonal für die kommunikativen Anforderungen am Arbeitsplatz sensibilisiert wird. In welchem Umfang und auf welche Art sprachlich-kommu‐ nikative Aspekte in Betrieben thematisiert werden, hängt maßgeblich von den diesbezüglichen Einstellungen des ausbildenden Personals ab (Settelmeyer / Widera 2020: 130). Das sprachliche Handeln der aus- und weiterbildenden Fach‐ kräfte selbst und die damit verknüpfte Sprachsensibilität - gegenüber dem ei‐ genen Sprachgebrauch und den generellen sprachlich-kommunikativen Anfor‐ derungen am Arbeitsplatz - sind also ein wesentliches Kernelement, wenn es um die Unterstützung von Sprachbildungsprozessen am Arbeitsplatz geht. 3.2.2 Sprachsensibler Umgang mit schriftlichen Texten - Scaffolding Auch im Bereich der Schriftlichkeit lassen sich durch das Ausbildungspersonal Maßnahmen ergreifen, die die Lernenden bei der Bewältigung von sprachlichen Hürden unterstützen. Im Bereich des sprachsensiblen Unterrichtens ist es hier besonders das Konzept des Scaffolding (Kniffka 2010), das sich für den Einsatz in betrieblichen Aus- und Weiterbildungskontexten eignet. Kerngedanke des Scaffolding ist, dass die Lernenden durch ein temporär begrenztes Gerüst (engl. scaffold) Schritt für Schritt bei der Erreichung der notwendigen sprachlich-kom‐ munikativen Kompetenzen begleitet und unterstützt werden. Für den Bereich der schriftlichen Kommunikation bedeutet dies zunächst, dass auch hier eine Bedarfsanalyse durchgeführt wird. Was sind also die sprachlichen Anforde‐ rungen im schriftlichen Bereich, die innerhalb der beruflichen Aufgabe gemeis‐ tert werden müssen? Was müssen die Auszubildenden oder Mitarbeitenden lesen und schreiben, welche Bereiche müssen rezeptiv gemeistert werden? Sind die sprachlichen Herausforderungen identifiziert, werden Unterstützungsge‐ rüste angeboten, die eingebettet in einen konkreten Alltagsbezug die Lernenden sukzessive auf dem Weg zur angestrebten Zielkompetenz begleiten. Kuhn / Sass (2018: 10) zeigen am Beispiel einer Fehlermeldung, wie ein solches Gerüst in‐ haltlich gestaltet werden kann (s. Abb. 1). 25 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="26"?> Abb. 1: Scaffolding am Beispiel Fehlermeldung (Kuhn / Sass 2018: 10) Das Scaffolding eignet sich im betrieblichen Kontext besonders für den Umgang mit Fach- und Leittexten (Rebmann / Tenfelde 2008: 17 ff.) sowie für die Gestal‐ tung von Lern- und Arbeitsaufgaben (Schöpf 2005). 3.2.3 Sprachlernförderliche Gestaltung der Arbeit „Heute stellt sich für die betriebliche Bildungsarbeit nicht mehr die Frage, ob die Arbeit lern- und kompetenzförderlich zu gestalten ist, sondern wie und in welchem Rahmen dies geschieht“ (Dehnbostel 2018b: 272). Neben der Schaffung und Unterstützung einer positiven Lern- und Arbeitsatmosphäre und der Er‐ möglichung eigener Lernwege können durch eine sprachlernförderliche Ge‐ staltung der Arbeitsumgebung vielfältige Anknüpfungspunkte für sprach‐ lich-kommunikative Lernprozesse geschaffen werden. Innerhalb der von Dehnbostel (2007: 66-69) aufgestellten Kriterien für eine lern- und kompetenz‐ förderliche Arbeit sind es besonders die Aspekte der vollständigen Handlung und der Reflexivität, die von besonderer Relevanz sind. Der Aspekt der voll‐ ständigen Handlung ist innerhalb der betrieblichen Bildungsarbeit fest veran‐ kert (Rebmann / Tenfelde 2008: 125-131) und bezieht sich auf ein „ganzheitlich angelegtes Arbeitshandeln“ (Dehnbostel 2007: 67), das möglichst viele Hand‐ lungsoperationen ermöglicht. Für sprachliche Lernprozesse bedeutet dies zu‐ nächst, dass auch das sprachliche Lernen als ganzheitlicher Prozess angesehen wird und dass jede berufsfachliche Teilhandlung mit entsprechenden Sprech- und Schreibanlässen verknüpft wird. Sprachliche Aspekte sind also als grund‐ 26 Isa-Lou Sander <?page no="27"?> legende Bestandteile einer vollständigen Handlung anzusehen. Wie die Ver‐ knüpfung der Arbeitsschritte einer vollständigen Handlung mit den entsprechenden Sprech- und Schreibanlässen gestaltet werden kann, zeigen Steuber / Gillen (2020): Authentischer Arbeitszusammenhang Sprech- und Schreibanlässe 1. Auftragsannahme Verkaufsgespräch, Beratung des Kunden 2. Planung Arbeitsplanung, Erstellen einer Material‐ liste 3. Produktion Kooperativer Arbeitsprozess, Praktische Unterweisungen, Führen des Berichts‐ heftes 4. Abnahme durch den Pädagogen Diskussion zur Fehlerauswertung (Fach‐ gespräch), Unterweisung 5. Lieferung / Verkauf Reklamationsgespräch mit dem Kunden, Verhandlung über einen Preisnachlass 6. Dokumentation Produktionsbericht, Führen des Kassen‐ buchs 7. Bewertung Gruppendiskussion zur Fehlerauswer‐ tung Tab. 2: Kommunikative Bedingungen in einem authentischen Arbeitszusammenhang (eigene Darstellung auf Grundlage von Steuber / Gillen 2020: 9) Die Voraussetzung dieses Ansatzes, dass „alle Situationen sprachlichen Han‐ delns in der beruflichen Bildung als sprachbildungsrelevant anzusehen“ (Steuber / Gillen 2020: 12) sind, zeigt, dass hier vielfältiges Potenzial für eine be‐ triebsspezifische - je nach den stattfindenden beruflichen Handlungen und Tä‐ tigkeiten und den sprachlich-kommunikativen Anforderungen, die damit ver‐ knüpft sind - integrierte Umsetzung von Sprachförderungsprozessen liegt. Zur sprachlernförderlichen Gestaltung der Arbeit und der Arbeitsumgebung kann auch das Einrichten von Lerninseln genutzt werden. Lerninseln gelten hier als arbeitsgebundene Lernform, in der informelles und formelles Lernen mitei‐ nander verknüpft werden können. Es wird in Arbeitsprozessen ein bewusster Rahmen geschaffen, der Lernen und Kom‐ petenzentwicklung - zumeist unter systematisch methodischen Gesichtspunkten - unterstützt, fordert und fördert. (Dehnbostel 2008: 7) 27 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="28"?> 7 Mein Dank gilt allen Beteiligten der Currenta GmbH & Co. OHG, die mich bei meinem Vorhaben unterstützt haben und es mir ermöglichten, Teilnehmende und Ausbildende zu begleiten und zu interviewen. Auch wenn die Einrichtung von Lerninseln von betrieblichen Rahmenbedin‐ gungen (z. B. räumliche Bedingungen, Einrichtung und Betreuung durch aus‐ bildende Fachkräfte) abhängt, besteht hier die Möglichkeit, Sprachförderung direkt am Arbeitsplatz und verknüpft mit den sprachlich-kommunikativen An‐ forderungen umzusetzen. Bezüglich der Unterstützung von sprachlichen Lern‐ prozessen können hier bspw. Glossare zu Fachterminologie (bspw. unterteilt nach dem offiziellen Fachbegriff und der im Betrieb üblichen Bezeichnung), Übersichten mit sprachlichen Beschreibungen von einzelnen Teilhandlungen, kommentierte Beispiel- und Mustertexte oder gängige Chunks, die für die mündliche Kommunikation genutzt werden können, bereitgestellt werden. Wie die Arbeit an Lerninseln hierbei im Betrieb umgesetzt wird, ob es bspw. feste Zeiten hierfür gibt oder die Mitarbeitenden die Lerninseln je nach Bedarf nutzen, hängt von der Gestaltung und Einschätzung der begleitenden ausbildenden Fachkräfte ab. 4 Herausforderungen und Potenziale des Betriebs als Sprachlernort am Beispiel einer Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme 4.1 Datenkorpus und Beobachtungsfeld Die hier ausgewerteten Daten wurden im Rahmen von teilnehmenden Beobach‐ tungen innerhalb einer Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme im Bereich der chemischen Industrie im April 2018 durchgeführt. 7 Die teilnehmende Beobach‐ tung umfasste zwei volle Arbeitstage und schloss an eine umfangreiche Explo‐ rationsphase an, in der die Autorin alle beteiligten Akteurinnen und Akteure persönlich kennengelernt hat und sich durch insgesamt 3 Besuchs- und Hospi‐ tationstage ein umfassendes Bild der Abläufe, Strukturen und Zuständigkeiten machen konnte. Das Korpus umfasst insgesamt 12 Stunden Audioaufnahmen aus der teilnehmenden Beobachtung sowie insgesamt 4 Interviews mit Teil‐ nehmenden der Maßnahme und dem Ausbildungspersonal mit einer Gesamt‐ länge von 120 Minuten. Die einjährige Maßnahme wird seit 1988 von der Currenta GmbH & Co. OHG für sich und andere Unternehmen durchgeführt und richtet sich an Jugendliche, die noch nicht vollständig ausbildungsreif sind oder sich noch im Prozess der Berufsorientierung befinden. Zentrales Ziel ist die Vermittlung wichtiger be‐ 28 Isa-Lou Sander <?page no="29"?> 8 Da die teilnehmende Beobachtung ausschließlich während der Laborphase durchge‐ führt wurde, beziehen sich die Aussagen nur auf diesen Bereich. 9 Seit 1988 haben rund 2.700 Teilnehmende das Programm absolviert. 90 % - 95 % von ihnen begannen anschließend eine reguläre Ausbildung in einem technischen oder na‐ turwissenschaftlichen Beruf bzw. eine schulische Ausbildung. 10 Die folgenden Zitate sind dem Datenkorpus entnommen und stammen von Ausbild‐ enden und Teilnehmenden der Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme. ruflicher Schlüsselqualifikationen. Im Mittelpunkt stehen dabei der Ausgleich schulischer Defizite sowie die Förderung von Teamfähigkeit und Sozialkompe‐ tenz. Darüber hinaus durchlaufen die Jugendlichen eine berufliche Orientie‐ rungsphase, die sie bei ihrer Berufswahl unterstützt. Die Maßnahme gehört damit zum so genannten Übergangsbereich, „der sich als ‚dritte Säule‘ des Berufsbildungssystems etabliert hat“ (Frehe / Kremer 2018: 238), da der direkte Übergang von der Schule in eine Ausbildung für viele Jugendliche nur schwer möglich ist. Auch Geflüchtete, die eine Ausbildung in Deutschland anstreben, nehmen an dem Programm teil. Für sie wird neben den regulären Inhalten des Programms ein begleitender Sprachkurs angeboten, der einmal wöchentlich stattfindet und berufsspezifische Inhalte, orientiert an der Niveaustufe B2 des GER , vermittelt und den Teilnehmenden die Möglichkeit gibt, ihre kommunikativen Kompetenzen auszubauen. Die Ausbildungsvorbe‐ reitungsmaßnahme besteht aus mehreren Bausteinen - (Berufs-)Schulunter‐ richt, Betriebspraktika, Werkstattunterricht im Bereich der Metallverarbeitung, einer Kulturwerkstatt und einer Laborphase. 8 Mit dem Programm wird Jugend‐ lichen mit Schulabschluss eine fundierte Vorbereitung auf eine anschließende Ausbildung ermöglicht. 9 Da bisher vom Betrieb als (Sprach-)Lernort die Rede war, stellt sich jedoch zunächst die Frage, wie eine (überbetriebliche) Ausbildungsvorbereitungsmaß‐ nahme hierzu in Bezug zu setzen ist. Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass betriebliche Lernorte nicht mehr ausschließlich nur die Betriebe selbst sind, sondern auch den Betrieb ergänzende und erweiternde Lernorte wie überbetriebliche Lehrwerkstätten, oder Ausbildungszentren, die hier also miteinbe‐ zogen werden können (Dehnbostel 2010: 54). Die außerbetrieblichen Lernstätten häufig vorgeworfene „Betriebsferne“ (Oberth et al 2006: 7) ist hier nicht zu finden, da die Maßnahme passgenau zugeschnitten ist auf konkrete Betriebs‐ gruppen und sich in der Auswahl der Inhalte an der Ausbildung orientiert, je‐ doch im Arbeitstempo angepasst ist an die Bedürfnisse und Ziele der Teilnehmenden: „Also wir machen das / was wir machen, gehört im Prinzip auch in die Ausbildung rein. Wir machen das nur einfach ein bisschen langsamer.“ 10 Aller‐ dings muss auch hinzugefügt werden, dass sich die Situation in einer Ausbil‐ 29 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="30"?> dungsvorbereitungsmaßnahme dennoch in einigen zentralen Punkten von den tatsächlichen betrieblichen Kontexten unterscheidet. So steht das Handeln in der Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme weniger unter dem ökonomischen Druck, Produkte und / oder Dienstleistungen hervorzubringen, als das betrieb‐ liche Handeln; es besteht ausreichend Zeit und Raum sich Lernprozessen und der individuellen Begleitung der Teilnehmenden zu widmen. Die Übertragbar‐ keit der im Folgenden genannten Ergebnisse auf betriebliche Kontexte muss also dementsprechend reflektiert werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwieweit sich die identifizierten didakti‐ schen Anknüpfungspunkte (s. Kap. 3.2.1-3.2.3) in der Praxis bereits zeigen und welche Potenziale und Herausforderungen sich daraus zusammenfassend ab‐ leiten lassen. 4.2 Ergebnisse Die Daten der teilnehmenden Beobachtung zeigen, dass - hinsichtlich Umfang und Variation - ein sehr reichhaltiger sprachlicher Input von Seiten der aus‐ bildenden Fachkräfte gestaltet wird. Dieses reichhaltige „Sprachbad“ (Leisen 2011: 13) kann als eine zentrale Voraussetzung für die Unterstützung von sprach‐ lichen Lernprozessen angesehen werden. Die (beobachteten) Arbeitstage im Labor beginnen mit einer ausführlichen Besprechung der aktuell relevanten Arbeitsschritte und inhaltlichen Bereiche. Die Teilnehmenden arbeiten hier mit einem Skript, in dem Versuchsanweisungen aus einem Themenbereich, inhalt‐ liche Informationen und schriftliche Arbeitsaufträge enthalten sind. Bei der Be‐ arbeitung der Skripte wird das individuelle Lern- und Arbeitstempo der Teil‐ nehmenden berücksichtigt. Die morgendliche Besprechung dient dem Austausch über bereits abgeschlossene Arbeitsschritte, dem Informieren über den aktuellen Bearbeitungsstand und dem Klären von Fragen. Die Kommuni‐ kationssituation wird hierbei durch die ausbildende Fachkraft eröffnet und im Anschluss moderiert. Jetzt lasst uns nochmal kurz resümieren: Was haben wir eigentlich die letzten zwei Tage gemacht? Vielleicht wiederholen wir das noch einmal kurz und besprechen dann in Ruhe, was wir heute machen können. Insgesamt konnte beobachtet werden, dass die Schritte zur Arbeitsplanung (welche Arbeitsschritte sind in welchem Zeitraum geplant, welche Reihenfolge und Arbeitsgruppen gibt es usw.) konsequent versprachlicht und die Teilnehm‐ enden miteinbezogen werden, bspw. wenn es um die Arbeitsplanung geht. Es herrschte durchgehend eine offene und angenehme Lern- und Arbeitsatmo‐ sphäre. 30 Isa-Lou Sander <?page no="31"?> 4.2.1 Sprachsensibilität Zum sprachsensiblen Umgang mit Anweisungen und Instruktionen gegenüber den Lernenden zeichnet sich in den Daten ein heterogenes Bild ab. So herrscht generell ein hinsichtlich Lautstärke und Sprechtempo gut verständlicher Sprachgebrauch von Seiten des Ausbildungspersonals. Auch werden Anwei‐ sungen meist präzise, mit dem Hinweis auf die zeitliche Abfolge gegeben, z. B. „Gut, jetzt erwärmt ihr das und gebt dann die Lösung aus dem Tropftrichter dazu“. Allerdings finden sich ebenso zahlreiche Beispiele von umständlich for‐ mulierten und dadurch „versteckten“ Anweisungen, die das Verständnis er‐ schweren können, wie z. B. „Das wäre jetzt schön, wenn du das jetzt vielleicht noch reinschreibst, ne? “ Auch stark verkürzte Anweisungen, wie bspw. „Ich gebe dir mal ein Stichwort. Das Stichwort heißt Muffen. […] Was könnte das bedeuten, wenn ich dir das sage? “, um einem Teilnehmendem zu zeigen, er solle eine Muffe an seiner Apparatur befestigen, können dazu beitragen, dass der Zugang zu fachlichem Wissen durch die Sprache erschwert wird. Da der Teil‐ nehmende nicht reagiert, bzw. nicht in der Lage ist, eine Handlungsaufforderung aus der Äußerung abzuleiten, zeigt, dass dieses Vorgehen zu anspruchsvoll sein könnte und demnach auch nicht zur Sprachförderung beiträgt. Auffallend ist außerdem, dass insgesamt zahlreiche Sprechanlässe geschaffen werden. Teilnehmende werden aufgefordert ihren Arbeitsstand zu beschreiben, Auskunft über Ergebnisse zu geben. Es wird gemeinsam beraten und diskutiert, wer welche Aufgaben übernehmen kann und in welcher zeitlichen Abfolge die Aufgaben bearbeitet werden. Erklärungen finden, wenn möglich, direkt an den Materialien statt, bspw. werden Arbeitssicherheitsmaßnahmen für die anste‐ henden Versuche anhand von Piktogrammen und Schaubildern verdeutlicht, deren Bedeutung gemeinsam sprachlich erschlossen wird. Auch der Umgang mit Fachbegriffen wird sprachsensibel gestaltet. Neu ein‐ geführte Fachbegriffe werden langsam wiederholt und erläutert und teilweise schriftlich auf einem Flipchart notiert. Von Seiten der Ausbildenden wird die Verwendung von Fachbegriffen explizit eingefordert: „Wie nennt sich das Fil‐ terpapier? Das hat auch einen speziellen Namen.“ Dass diese Anforderung den Teilnehmenden durchaus bewusst ist, zeigt sich in den Interviews, wenn bspw. ein Teilnehmender äußert: Zum Beispiel bei Versuchen jetzt, wir müssen da eigentlich immer die Fachbegriffe benutzen, weil (AU2) sonst immer sagt „Was meinst du? “ also extra „Was meinst du? “ und dann müssen wir das eigentlich schon sagen. Wir sagen immer was Anderes und dann sollen wir immer das Richtige sagen. 31 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="32"?> Allerdings lassen sich auch vereinzelt Belege dafür finden, dass von Seiten des Ausbildungspersonals umgangssprachliche Ausdrücke (z. B. „knatsch-alka‐ lisch“, „das wackelt wie hulle“ oder „feste Pampe“) verwendet werden, ohne dass diese erläutert werden, die besonders für Teilnehmende, die Deutsch als Zweit‐ sprache erwerben, herausfordernd sein können. Dies verweist auf eine zentrale Herausforderung: die konsequente Beachtung eines sprachsensiblen Umgangs. 4.2.2 Sprachlernförderliche Gestaltung der Arbeit Die in Kap. 3.2.3 genannten Aspekte einer sprachlernförderlich gestalteten Ar‐ beit lassen sich nur teilweise in den Daten finden. So ist die Arbeit an den Skripten durchaus an dem Konzept einer vollständigen Handlung angelehnt. Ein Skript zu Versuchen, bei denen Kreide hergestellt werden soll, enthalten bspw. die in Tab. 2 festgehaltenen Schritte 2-7. Die Teilnehmenden beginnen mit der durch die Ausbildenden begleiteten Arbeitsplanung, gehen dann an‐ schließend in den kooperativen Arbeitsprozess (Herstellen von Kreide), doku‐ mentieren diesen in den Skripten, werden durch Unterweisungen und Anlei‐ tungen der Ausbildenden begleitet und schließen den Arbeitsprozess mit einer abschließenden Vorstellung der Ergebnisse im Plenum ab. Der Umfang, in dem die einzelnen Schritte auch für das Erproben von sprachlich-kommunikativen Aspekten genutzt wird, ist jedoch sehr unterschiedlich. Besonders der Schritt der Planung wird intensiv zur Thematisierung von Sprachlichem genutzt. Bei dem gemeinsamen Erschließen der Aufgabenstellungen werden bspw. konkrete Fragen zum Leseverstehen von den Ausbildenden gestellt: „Kann ich diesem Abschnitt entnehmen, welches Becherglas in die Apparatur eingebaut werden muss? “ Während der Durchführung der Versuche, bei denen die Teilnehmenden in ihren Arbeitsgruppen arbeiten, wird hingegen kaum miteinander gesprochen. Es zeigt sich also, dass auch in überbetrieblichen Kontexten, die grundlegenden Aspekte einer vollständigen Handlung zugrunde gelegt werden können und mit den entsprechenden Sprech- und Schreibanlässen verknüpft werden können. Die konsequente und dauerhafte Einbindung dieser Anlässe ist hier jedoch eine Herausforderung. Weitere Sprachförderungsmaßnahmen, die sich auf die Arbeit mit Texten beziehen, müssten durch eine Bedarfsermittlung und Analyse der eingesetzten Textsorten in den Blick genommen werden. 4.2.3 Zusammenfassung Hinsichtlich der Chancen eines betrieblichen Sprachlernortes kann abschlie‐ ßend zusammengefasst werden, dass sich im Rahmen der hier vorgestellten Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme vielfältige Gelegenheiten bieten, sprach‐ fördernd tätig zu werden. Besonders die Interaktionen zwischen den Lernenden 32 Isa-Lou Sander <?page no="33"?> und den Ausbildenden sowie die erkennbare Sprachsensibilität von Seiten des Ausbildungspersonals sind hier zu nennen. Es hat sich jedoch auch gezeigt, dass die Potenziale noch nicht umfassend ausgeschöpft sind. So würde sich bspw. das Einbinden von Lerninseln (s. Kap. 3.2) anbieten, um sprachliche Lernprozesse noch deutlicher zu integrieren. Zu den Herausforderungen, die sich aus den hier exemplarisch vorgestellten Daten ableiten lassen, zählt besonders der Aspekt der konsequenten Umsetzung von sprachförderlichen Ansätzen. Aufgrund negativer Vorerfahrungen und einem negativen „Selbstkonzept“ ist die Motivation für das Wahrnehmen von Sprachfördermaßnahmen innerhalb dieser Zielgruppe außerdem als eine Herausforderung anzusehen (Schneider et al. 2013: 76). Aufgrund dessen ist die integrierte Umsetzung von Sprachförderung zusammen mit fachlichen Aspekten und die konsequente Verknüpfung mit dem Lebensweltbezug der Teilnehmenden besonders wichtig. 5 Fazit Es konnte gezeigt werden, dass bestehende betriebliche Lernformen, wie sie in betrieblichen Aus- und Weiterbildungskontexten bereits angewendet werden, vielfältige Möglichkeiten bieten, diese um sprachlernförderliche Aspekte zu er‐ gänzen. Für eine in betriebliche Kontexte integrierte Förderung und Unterstüt‐ zung von sprachlich-kommunikativen Kompetenzen ist es also nicht nötig „das Rad neu zu erfinden“, vielmehr geht es darum, auf Bestehendem aufzubauen, sich über die betriebsspezifischen Bedarfe und Anforderungen bewusst zu werden und dementsprechend abgestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Dass dafür strukturell-organisatorische Voraussetzungen erfüllt werden müssen und dafür auch der entsprechende Freiraum und die nötigen Kapazitäten bereitge‐ stellt werden müssen, steht außer Frage. Jedoch kann eine langfristige Etablie‐ rung des Betriebs als Sprachlernort zu umfassenden positiven Effekten führen. Diese Effekte lassen sich auf drei unterschiedlichen Ebenen verorten: (1) Für das Individuum hängen die zukünftige und nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit und berufliche Handlungsfähigkeit maßgeblich von den Möglichkeiten ab, sich weiterzubilden und Lernprozesse verknüpft mit Arbeitsprozessen durchlaufen zu können. Besonders für Personen mit Deutsch als Zweitsprache und gering bzw. nicht formal Qualifizierte ist das sprachliche Lernen hier essentiell. (2) Für den Betrieb hängt eine langfristige Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich von dem Faktor Personal ab. Eine Investition in die langfristige und nachhaltige Kompe‐ tenzentwicklung auf berufsfachlicher und sprachlich-kommunikativer Ebene kann als wesentlicher Beitrag zum Erreichen der betriebswirtschaftlichen Ziele verstanden werden. (3) Auf gesellschaftlicher Ebene ist der Faktor des lebens‐ 33 Der Betrieb als Sprachlernort <?page no="34"?> langen Lernens ein Kernelement des Verständnisses als Wissensgesellschaft. Außerdem kann ergänzt werden, dass der Aspekt der Integration in Ausbildung und Arbeit maßgeblich über den Schlüssel der Sprache erreicht wird. Agiert ein Betrieb als Sprachlernort und nutzt die entsprechenden Potenziale, so wird da‐ durch also auch ein aktiver Beitrag zur Unterstützung der Integration von Per‐ sonen mit nicht-deutscher Herkunftssprache geleistet. Der Beitrag konnte zeigen, dass eine Etablierung des Betriebs als Sprach‐ lernort nur dann gelingen kann, wenn der Aspekt der Sprachförderung als na‐ türlicher Bestandteil der betrieblichen Bildungsarbeit angesehen wird und dass Sprachförderung dazu beiträgt, die Ziele der betrieblichen Bildungsarbeit zu si‐ chern. Es hat sich jedoch außerdem gezeigt, dass sich bei einer Etablierung des Betriebs als Sprachlernort zentrale Herausforderungen stellen, die besonders auf organisationaler Ebene liegen. So gilt es die entsprechenden zeitlichen und fi‐ nanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, um Ausbildende weiterzubilden, um bspw. den Aspekt der Sprachsensibilität durchgängig im Betrieb zu etablieren. Die Analyse der Ausbildungsvorbereitungsmaßnahme hat zudem gezeigt, dass viele Aspekte einer sprachlernförderlichen Gestaltung der Arbeit bereits umgesetzt und positiv genutzt werden und dass dem Aspekt der Sprachsensi‐ bilität hier ein besonders hoher Stellenwert zugesprochen werden kann. Ab‐ schließend muss außerdem festgehalten, dass sich mit dem Ziel der Etablierung des Betriebs als Sprachlernort noch vielfältige Forschungsdesiderata ver‐ knüpfen lassen, die besonders im Bereich der empirischen Erforschung der Wirksamkeit und Durchführbarkeit von Sprachfördermaßnahmen im Betrieb liegen. Literatur Bethscheider, Monika / Eberle, Manuela / Kimmelmann, Nicole (2013). Förderung sprach‐ lich-kommunikativer Fähigkeiten in der betrieblichen Ausbildung. bwp@ Spezial 6 - Hochschultage Berufliche Bildung 2013, Fachtagung 18, 1-16. Bethscheider, Monika / Wullenweber, Karin (2016). Deutsch als Zweitsprache und Mehr‐ sprachigkeit von Auszubildenden. 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The comprehensive general concept of foreign language acquisition is hereby understood to take into consideration both incidental foreign language learning in communication situations at the workplace as well as controlled language training, for example in the context of in-house language courses. These are the instances where trainees or em‐ ployees work for companies where the language of communication is not their mother tongue. The article consists of two parts. The first part presents the acquisition processes from the point of view of the so-called connectivism learning theory. The second part is dedicated to the presentation of results of a case study which was interpreted according to the principles described in the first part. Keywords: connectivism, work-related learning environment, foreign lang‐ uage acquisition, Community of Practice 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag setzt sich mit dem Thema des Fremdsprachenerwerbs in einer berufsbezogenen Lernumgebung auseinander. Unter dem umfassenden Oberbegriff des Fremdsprachenerwerbs wird hier sowohl das inzidentelle Fremdsprachenlernen in Kommunikationssituationen am Arbeitsplatz ver‐ standen als auch gesteuerte Sprachförderung, z. B. im Rahmen betriebsinterner Sprachkurse. Es handelt sich also um Situationen, wo Auszubildende bzw. Mitarbeitende in Unternehmen tätig sind, in denen die Kommunikationssprache nicht ihre Muttersprache ist. Dabei erfolgt der Erwerb des bilingualen (oder multilingualen) mentalen Lexikons der Kommunikationsteilnehmenden erstens <?page no="39"?> nicht durch explizites Training, sondern eher nebenbei in der Interaktion mit ihrer Umgebung (Roche 2020: 91), und zweitens in gesteuerten Sprachförde‐ rungsmaßnahmen, Kursen u. dgl. m. Es sollte jedoch betont werden, dass der Erwerb in den beiden Fällen gesteuert wird, und zwar durch interne kognitive Prozesse, die wiederum auch von der Kommunikation selbst beeinflusst werden. Der Beitrag setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Im ersten Teil werden die Erwerbsprozesse aus der Sicht der sog. konnektivistischen Lerntheorie darge‐ stellt, der zweite Teil ist der Präsentation von Ergebnissen einer Fallstudie ge‐ widmet, die nach den im ersten Teil beschriebenen Prinzipien interpretiert wurde. 2 Konnektivistische Modellierung des Fremdsprachenerwerbs im Betrieb Die zentrale Idee des Konnektivismus besteht darin, dass sich die Lernenden mit einer Lerngemeinschaft verbinden und von ihr profitieren, während sie sie gleichzeitig mit Informationen versorgen (Baker 2012: 24; Siemens 2005; Starkey 2012: 21). Die Lerngemeinschaft ist eine Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer ähnlichen Interessen durch kontinuierlichen Dialog zusammen lernen. In Betrieben können derartige Gemeinschaften inoffiziell existieren und Personen umfassen, die unterschiedliche Posten besetzen und durch verschiedene Kom‐ munikationskanäle in Kontakt kommen. Dabei ist es möglich, dass einige Mit‐ glieder der Lerngemeinschaft gar keine Lernenden in herkömmlicher Bedeu‐ tung sind und z. B. die anderen Mitglieder mit Informationen versorgen (Al Dahdouh 2018). Derartige Gemeinschaften werden als Knotenpunkte betrachtet, die wie‐ derum Teile eines größeren Netzwerks von Knotenpunkten sind. Die Netz‐ werke, die unterschiedlich, aber miteinander verbunden sind, unterstützen eine autonome, vielfältige und kreative Wissensentwicklung (Boitshwarelo 2011: 173 ff.). Das Sprach- und Fachwissen wird demzufolge als nicht nur in Köpfen von Individuen existierendes Konstrukt betrachtet und nicht an konkrete Orte ge‐ bunden, sondern als über ein Informationsnetzwerk oder mehrere Individuen verteiltes System interpretiert. Somit sind Lernen und Wissenskonstruktion von einer Vielfalt von Ansichten und Meinungen und vom Zugang zu verschiedenen Informationsströmen oder Knotenpunkten abhängig. Da sich Informationen ständig ändern, besteht seitens der Netzwerke die Notwendigkeit, die Gültigkeit und Genauigkeit von Wissen im Lichte der neuen Informationen kontinuierlich zu bewerten. Die Lerngemeinschaften verfügen also über eine eigene Dynamik, 39 Konnektivistisches Modell des Fremdsprachenlernens im Betrieb <?page no="40"?> die die Lernkapazitäten der einzelnen Mitglieder übersteigen kann. Die Kom‐ munikation in Lerngemeinschaften läuft nicht nur Face-to-Face ab, ein großer Teil der Wissenskonstruktion kann in Internet-Umgebungen stattfinden. Die Prozesse der Wissenskonstruktion sind interdisziplinär, was von derartigen Lernumgebungen signifikant begünstigt wird (Boitshwarelo 2011: 162). Al Dahdouh (2019: 490) behauptet, dass die Prinzipien des Konnektivismus für drei verschiedene Ebenen von Lernnetzwerken gelten: die neuronale, die konzeptuelle und die externe Ebene. Die bisherige Forschung konzentriert sich eher auf die externe Ebene, d. h. die direkt beobachtbaren Indizien für das Zu‐ standekommen von netzwerkorientierten Lernprozessen. Die Untersuchungen der neuronalen und konzeptuellen Ebene befinden sich eher in der Anlaufphase, mit Ausnahme einer anderen Studie desselben Autors (Al Dahdouh 2017), in der eine Untersuchung der Gültigkeit der Prinzipien des Konnektivismus auf neu‐ ronaler Ebene im Vergleich zu künstlichen neuronalen Netzwerken vorge‐ nommen wird. Die Studien auf konzeptueller Ebene sind ebenso selten, außer den Arbeiten von Downes (2006; 2008; 2010) und Al Dahdouh et al. (2015). Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht wird mehrfach betont, dass Men‐ schen in vielen Bereichen der Kognition, einschließlich Entscheidungsfindung, Planung und Bewertung, kausale Modelle verwenden, die sich als eine Art von Netzwerk darstellen lassen, so genannte Bayessche Netze (Sloman 2005; Al Dahdouh 2019: 490). Als eine sich entwickelnde Lerntheorie versucht der Konnektivismus, Ver‐ bindungen zwischen den Mechanismen, an denen sich Lernende in einer tech‐ nologiegestützten Umgebung orientieren, und den Lernmechanismen auf ver‐ schiedenen Ebenen von Lernnetzwerken zu ziehen. Auf der neuronalen Ebene bezieht sich das Lernnetzwerk auf das neuronale Netzwerk (real oder künstlich) und auf das Verhalten von Neuronen innerhalb dieses Systems. Auf der externen Ebene bezieht sich das lernende Netzwerk auf die sozialen Gruppen (Organisa‐ tionen oder Gemeinschaften) und darauf, wie soziale Einheiten miteinander in‐ teragieren (Siemens 2019). Nach dem Konnektivismus sind diese Netzwerke zwar in ihrem Umfang unterschiedlich, aber in der Art und Weise, wie sie lernen und wie sie sich an Veränderungen anpassen, ähnlich. Um also zu verstehen, wie Auszubildende lernen, kann man in legitimer Weise Erkenntnisse aus den Lernmechanismen von künstlichen neuronalen Netzwerken gewinnen (Al Dah‐ douh 2017). Die zugrundeliegende Annahme im Konnektivismus ist, dass ein Netzwerk - als eine Datenstruktur - eine Reihe von Eigenschaften hat, die es dazu befähigen, die Struktur des Wissens perfekt zu repräsentieren (Al Dahdouh et al. 2015; Downes 2008). Daher definiert der Konnektivismus das Lernen als einen Prozess der Netzwerkbildung (Siemens 2005; Al Dahdouh 2019: 490). 40 Przemysław Wolski <?page no="41"?> Die Konnektivisten sehen ihr Ziel darin, den Lernenden beim Aufbau ihrer eigenen persönlichen Lernumgebung zu helfen. Sie schlagen vor, dass die Lernenden vier aufeinanderfolgende Phasen durchlaufen, um ihre Netzwerke auf‐ zubauen: sammeln, ordnen, systematisieren und weiterleiten. Der Paradigmen‐ wechsel in der Sichtweise der Konnektivisten, im Vergleich zur konstruktivis‐ tischen Didaktik, besteht darin, sich auf die Verbindungen von Inhalten zu konzentrieren, anstatt auf den Inhalt selbst (Siemens 2006). Mit anderen Worten sollten die Lernenden ihre Aufmerksamkeit mehr darauf richten, wie sie der Informationsquelle folgen können, anstatt auf die aktuellen Informationen, die von der Quelle generiert werden. Das Verhalten der Lernenden (Netzwerkna‐ vigation) besteht im konnektivistischen Modell aus drei aufeinanderfolgenden Phasen: Planungsphase (Auswahl eines Knotens aus den umgebenden Knoten), kognitive Verarbeitung (Interaktion mit dem ausgewählten Knoten) und Bewertungsphase (Bestimmung des Werts des ausgewählten Kno‐ tens). Die empirische Analyse der Planungsphase zeigt, dass die Lernenden drei Hauptkriterien für die Auswahl des Knotens verwendeten: Selbstwirksamkeit (die wahrgenommene Fähigkeit, eine gegebene Aufgabe selbst zu erledigen), Eignung (der Grad, in dem man glaubt, dass ein Knoten die benötigten Infor‐ mationen hat oder die Fähigkeit besitzt, die Aufgabe zu lösen) und Machbarkeit (der Grad, in dem die Teilnehmenden den Knoten als erreichbar wahrnahmen) (Al Dahdouh 2019: 491). Damit ein „demokratisches Lernnetzwerk“ entstehen kann, sind nach Downes (2010) vier Prinzipien zu berücksichtigen: Autonomie, Vielfalt, Offen‐ heit und Interaktivität. Ein Lernnetzwerk fördert also die Autonomie, wenn es so organisiert ist, dass es dem Lernenden die Möglichkeit gibt, selbst Entschei‐ dungen zu treffen und Verantwortung für eigene Lernprozesse zu übernehmen. Die Vielfalt wird von einem Lernnetzwerk gefördert, wenn es keine Regeln ent‐ hält, die die Lernenden dazu zwingen, „Kopien“ von anderen zu sein. Offenheit wird dann gefördert, wenn es den Auszubildenden erlaubt ist, das Netzwerk zu betreten und zu verlassen und sich frei mit der gesamten Gemeinschaft auszu‐ tauschen und zu interagieren. Letzten Endes fördert ein Lernnetzwerk die In‐ teraktivität, indem es die Lernenden dazu ermutigt, ihre Ideen gemeinsam zu diskutieren und zu konkretisieren (Downes 2010; Al Dahdouh 2019: 491). Das Konzept der Lerngemeinschaften ist eng mit dem Begriff der Communi‐ ties of Practice verwandt (Reich 2012: 297). Diese werden als natürlich vorkom‐ mende Phänomene definiert, die überall dort entstehen, wo Gruppen von Men‐ schen, die ein gemeinsames Ziel oder Interesse verfolgen, durch einen gemeinsamen Wissensbedarf verbunden sind. So sind sie in der Regel gekenn‐ zeichnet durch: 41 Konnektivistisches Modell des Fremdsprachenlernens im Betrieb <?page no="42"?> • gegenseitiges Engagement der Teilnehmer, das es ihnen ermöglicht, ge‐ meinsam an Aktivitäten und Dialogen teilzunehmen; Ko-Partizipation ist der Schlüssel zur Definition von Gemeinschaft; • gemeinsames Unternehmertum, das aus gemeinsamem Fachwissen und ausgehandelter Bedeutung resultiert, die in erster Linie die Praxis defi‐ niert; und • ein gemeinsames Repertoire an gemeinschaftlichen Ressourcen, die die Gemeinschaft zur Durchführung ihrer Praxis nutzt; dazu gehören Rou‐ tinen, Werkzeuge, Handlungen, Worte und Symbole (Boitshwarelo 2011: 163). Communities of Practice sind dafür bekannt, dass sie das Lernen aus einer Reihe von Perspektiven erleichtern. In Bezug auf den Ansatz von Piaget, der sich auf die kognitiven Entwicklungsstufen konzentriert, haben derartige Gemein‐ schaften das Potenzial, die Akkommodation zu fördern. Diesem Ansatz nach durchlaufen Lernende bestimmte Entwicklungsstufen und ihre konstruktiven Lernfähigkeiten werden in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt regu‐ liert und optimiert. Dabei werden von Lernenden Schemata entwickelt, die ihnen als verinnerlichte Muster helfen, unterschiedliche Umwelt-, Problem- oder Handlungssituationen zu bewältigen. Dieser Prozess erfolgt in einer Wech‐ selwirkung zwischen der Akkommodation, als situativer Anpassung an unter‐ schiedliche Umweltbedingungen, und der Assimilation, als aktiver Einordnung, Strukturierung und Deutung von Ereignissen der Außenwelt (Reich 2012: 72, Boitshwarelo 2011: 163). In Bezug auf Wygotskis Betonung des Einflusses von Kultur und sozialem Umfeld auf das Lernen können die Schemata zur Förderung des kognitiven Gerüsts im Sinne der Unterstützung der Lernenden bei der Über‐ brückung der Lücke in der Zone der proximalen Entwicklung eingesetzt werden (Boitshwarelo 2011: 163; Reich 2012: 73). Situierte Kognition ist von zentraler Bedeutung für den Begriff der Commu‐ nities of Practice. Die zentrale Idee der situierten Kognition besteht darin, dass das Lernen inhärent sozial ist und durch Interaktionen zwischen Menschen, den von ihnen verwendeten Werkzeugen, der von ihnen ausgeübten Tätigkeit und ihrer soziokulturellen Umgebung geprägt wird. Wissen wird als untrennbar von den Anlässen und Aktivitäten gesehen, deren Produkt es ist. Mit anderen Worten: Kognition und Kontext sind untrennbare Einheiten. Im Hinblick darauf, wie sich situierte Kognition auf Lerngemeinschaften bezieht, ließe sich fest‐ stellen, dass situierte Kognition sich damit beschäftigt, wie Individuen lernen, innerhalb von Praxisgemeinschaften zu partizipieren, und wie ihre Entwicklung durch die Aktivitäten, an denen sie teilnehmen, geformt wird. Das Lernen aus einer Communities of Practice-Perspektive wäre also mit der von situierter 42 Przemysław Wolski <?page no="43"?> Kognition kongruent, in der der Kontext grundlegend mit Kognition und Lernen verwoben ist (Boitshwarelo 2011: 164). Ebenso wichtig und vielleicht von größerer Relevanz für den Konnektivismus ist das Konzept der verteilten Kognition, deren zugrundeliegende Annahme darin besteht, dass keine einzelne Person oder kein einzelnes Gerät im Besitz aller Informationen ist, die benötigt werden, um eine Aufgabe zu erledigen oder ein Problem zu lösen. Das Konzept der verteilten Kognition sieht daher Wissen als über eine Gruppe von Menschen und die von ihnen verwendeten Werkzeuge verteilt an. Mit anderen Worten ist das Wissen auf eine Gemeinschaft von Men‐ schen und digitalen Geräten verteilt, was übrigens eines der Hauptmerkmale des Konnektivismus ist. Die verteilte Kognition bedeutet also, • dass die Kommunikation die Grundlage der verteilten Kognition bildet und dass Wissen geteilt werden muss, damit es nützlich ist; • dass geteilte Informationen gepolte Informationen sind und von solchen Personen, die am besten mit diesen Informationen ausgestattet sind, zum Wohle des gesamten Teams genutzt werden können; • dass die Komponenten eines verteilten Systems sich aufeinander ver‐ lassen müssen, um die Aufgabe zu bewältigen (Boitshwarelo 2011: 164; Downes 2019). Aus der Sicht der konnektivistischen Lerntheorie scheinen bestimmte Hypo‐ thesen zum (Fremd)Sprachenerwerb von besonderer Relevanz zu sein. Zu er‐ wähnen wäre vor allem die Inputhypothese, die postuliert, dass die Eingabe (der sprachliche Input) im Spracherwerb verständlich sein muss und am besten nur eine Erwerbsstufe über dem Erwerbsstand des Lernenden liegen sollte, was eine optimale Konstruktion der Lernersprache sichern kann. Nach Roche (2020: 145) hängt diese Hypothese eng mit der Monitorhypothese zusammen und wird in allgemeinerer Form didaktisch weit verbreitet praktiziert, in Form der gram‐ matischen Progression, der didaktischen Komplexitätszunahme und anderer Konzepte der graduellen Steigerung der Anforderungen an die Lernenden. Ein derartiges ganz genaues Inputmanagement wäre zwar im herkömmlichen Un‐ terricht gar nicht leistbar, könnte aber in einer sich selbst regulierenden Lern‐ gemeinschaft mindestens ansatzweise erreicht werden. In dem hier beschrie‐ benen Modell hängt die Inputhypothese mit den weiter erwähnten Hypothesen zusammen und wird von ihnen ergänzt, weil es die Steuerbarkeit des Erwerbs durch eine entsprechende Betonung und Aufmerksamkeitssteuerung des Inputs nicht ausschließt. Im Sinne des Konnektivismus kann auch der interaktive Charakter des Fremdsprachenerwerbs interpretiert werden. Die so genannte Interaktionshy‐ 43 Konnektivistisches Modell des Fremdsprachenlernens im Betrieb <?page no="44"?> pothese betrachtet den Spracherwerb als Wechselspiel zwischen den Sprechenden der Zielsprache und den Lernenden, wobei die Sprache und ihre Symbole zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden müssen, was auch als symbolischer Interaktionismus bezeichnet wird (Roche 2020: 146). Die Akkulturationshypothese betont den sozialen und psychischen Antrieb der Lerner zum Sprachenerwerb, was in Lernsituationen im Betrieb von beson‐ derer Bedeutung ist. Der Antrieb zum Fremdbzw. Zweitsprachenerwerb wird, dieser Hypothese nach, durch persönliche Nähe der Auszubildenden zur Ziel‐ sprache und Zielkultur verstärkt. Je positiver diese durch innere und äußere Faktoren bestimmte Motivation ausgeprägt ist, je größer also die Integrations‐ motivation ist, desto erfolgreicher ist der Spracherwerb. Ist die Distanz dagegen groß und die Integrationsmotivation niedrig, bleibt der Spracherwerb unvoll‐ ständig. Die Outputhypothese bezieht sich stärker auf den Handlungscharakter des Sprachenerwerbs und erklärt den Erwerb im Zusammenhang mit anderen von Auszubildenden ausgeführten Handlungen. Die aktive Verwendung der Fremdsprache verlangt von Lernenden eine aktive Analyse sprachlicher Äuße‐ rungen und die entsprechenden Anstrengungen zu ihrer korrekten Nutzung und Einbettung am Arbeitsplatz. Die Notwendigkeit, mit der Fremdsprache berufs‐ bezogene Ziele umzusetzen, bewirkt, dass der Erwerb stimuliert und vorange‐ trieben wird (Roche 2020: 146). Als letzte könnte in diesem Kontext die Interdependenzhypothese erwähnt werden, die annimmt, dass beim Erreichen einer hohen Kompetenz in der zweiten Sprache (obere Schwelle) sich positive Effekte ergeben, die sich nicht nur auf die beteiligten Sprachen auswirken, sondern die übertragbar auf andere kognitive Leistungen sind, zum Beispiel auf künstlerische, aber auch mathema‐ tische Fertigkeiten (Roche 2020: 148). Dies wäre im Kontext des berufsbezogenen Lernortes (der Übertragbarkeit auf das fachliche Lernen) von besonderer Signifikanz. 3 Die Fallstudie Die Daten der hier kurz zusammengefassten Fallstudie, erhoben durch ein of‐ fenes Interview (Eskildsen / Theodórsdóttir 2017), stammen von A., einer polni‐ schen Studentin der Universität von Aberdeen (Schottland), die im Rahmen des Master-Studienganges „Finanzen und Rechnungswesen“ ihr Berufspraktikum an einem internationalen Unternehmen aus dem Bereich Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung, Transaktionsberatung etc. absolvierte. Das Praktikumsprojekt unter dem Namen „Leading Women in Business“ wurde im Jahre 2019 an zwei Standorten des Unternehmens durchgeführt, in London und Aberdeen, wobei 44 Przemysław Wolski <?page no="45"?> A. die einzige Praktikantin in Aberdeen war, die anderen 19 Praktikantinnen und Praktikanten befanden sich in London. Die ganze Gruppe arbeitete aber über ein betriebsinternes Kommunikationssystem eng zusammen, die Prakti‐ kanten und Praktikantinnen hatten Aufgaben zu erledigen, die nur in digital gestützter Gruppenarbeit zu lösen waren. Das Praktikum dauerte sechs Tage und öffnete für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, sich nach dem Studienabschluss um eine Anstellung im Unternehmen zu bewerben, wobei ein derartiges Angebot einem Gruppenmitglied schon am Ende des Praktikums unterbreitet wurde. Die Praktikantin A. bezeichnet Polnisch als ihre Muttersprache, verfügt der eigenen Einschätzung nach über Englischkenntnisse auf dem Niveau C2, Fran‐ zösischkenntnisse auf dem Niveau B2, Spanischkenntnisse auf dem Niveau A2 und rudimentäre Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1. Im Laufe des Praktikums nahm A. an folgenden Face-to-Face Interaktionen teil: • Senior Managerin „Anna” war Praktikumsmentorin. In den sechs Tagen des Praktikums erklärte sie der Praktikantin A. die eigenen Aufgaben im Betrieb. Die Praktikantin begleitete sie fast den ganzen Tag (außer in Zeitabschnitten, in denen sie andere Aufgaben zu erledigen hatte, bei denen die Mentorin nicht anwesend war). Die Praktikantin beobachtete ihre Arbeitsabläufe, die die Mentorin kommentierte, stellte Fragen nach Details der einzelnen Operationen und übernahm einige Tätigkeiten, zu‐ erst unter Aufsicht und dann selbstständig. • Audit-Partner „Sasha” war Abteilungsleiterin in der Niederlassung Aber‐ deen. Sie begrüßte die Praktikantin am ersten Praktikumstag und lud sie am letzten Tag zu einem Lunch ein, bei dem sie mit ihr ein Feedbackge‐ spräch durchführte. Bei dieser Gelegenheit berichtete Sasha der Prakti‐ kantin über ihre eigenen Aufgaben im Unternehmen und schilderte das Funktionieren des Betriebes aus eigener Perspektive. • Manager „Greg” - sein Arbeitsplatz befand sich neben dem Schreibtisch der Praktikantin. Die mündliche Interaktion hatte größtenteils einen pri‐ vaten Charakter, weil die Praktikumsbetreuung nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Greg lud die Praktikantin zu einem betrieblichen Grillabend ein. • Global Account Director „Mary” - die Praktikantin verbrachte einen Tag in ihrer Business-Development-Abteilung. Während dieses Aufenthalts bekam die Praktikantin Arbeitsaufträge, die für die Abteilung typisch waren („m&a competitor analysis“). Die Aufträge konnten ohne beson‐ dere Anweisungen erledigt werden, weil sie den im Studium behandelten Problemstellungen ähnlich waren. Die Praktikantin hatte hier den Ein‐ 45 Konnektivistisches Modell des Fremdsprachenlernens im Betrieb <?page no="46"?> druck, zum Team zu gehören, zumal sie an Beratungen teilnahm und sich an privaten Gesprächen beteiligte. • Associate „Penny” und Marketing Manager „Rachel“ - sie luden die Prak‐ tikantin zu einem Business Breakfast ein. Die beiden beschrieben aus‐ führlich ihre Aufgaben im Unternehmen und stellten die Praktikantin anderen Mitarbeitenden vor. Der Großteil der Interaktion war privater Natur. • Praktikanten der London-Gruppe - es fanden zwei Arbeitstreffen auf Zoom statt. Die Praktikantinnen und Praktikanten wurden u. a. gebeten, an einem Simulationsspiel teilzunehmen, das aus branchentypischen Auf‐ gaben bestand, u. a. in der Planung von Business-Meetings. Im Laufe des Spiels wurden die Ausgangsdaten geändert und die Beteiligten waren ge‐ zwungen, unter Zeitdruck eine neue Planung zu entwickeln. • Das interne Computersystem des Unternehmens - über einen ihr zur Verfügung gestellten Laptop hatte die Praktikantin Zugang zum firmen‐ internen Informationsaustausch; alle Dokumente, Datenbanken, Kalku‐ lationsbögen etc. waren nur in digitaler Form zugänglich. • Printmaterialien des Unternehmens - die Praktikantin hatte nur mit einem elektronischen Dokumentenumlauf zu tun. 4 Schlussfolgerungen Die hier dargestellte Situation spielte sich unter Bedingungen ab, die am Anfang des Beitrags skizziert wurden. Ein Teil der betroffenen Praktikantinnen und Praktikanten (ca. die Hälfte) war in einem Unternehmen tätig, in dem die Kom‐ munikationssprache nicht ihre Muttersprache war. Dabei erfolgte der Erwerb des bilingualen (oder multilingualen) mentalen Lexikons der Kommunikations‐ teilnehmenden nicht durch explizites Training, sondern eher nebenbei in der Interaktion mit ihrer Umgebung. Gesteuerte Sprachförderungsmaßnahmen waren hier gar nicht vorhanden. Der Spracherwerb, übrigens auf hoher Stufe, wurde in diesem Fall durch interne kognitive Prozesse der Beteiligten gesteuert, die wiederum von der Kommunikation selbst beeinflusst wurden. Die im Interview präsentierte Praktikanten- und Mentorengruppe könnte als eine Lerngemeinschaft im konnektivistischen Sinne bezeichnet werden. Sie stellte nämlich eine Gruppe von Menschen dar, die aufgrund ihrer ähnlichen professionellen Interessen durch kontinuierlichen Dialog zusammen lernte. Im genannten Unternehmen existierte die Gemeinschaft im Rahmen des Prakti‐ kumsprojektes offiziell und umfasste Personen, die unterschiedliche Posten be‐ setzten und durch verschiedene Kommunikationskanäle in Kontakt kamen. Es 46 Przemysław Wolski <?page no="47"?> war auch ersichtlich, dass einige Mitglieder der Lerngemeinschaft gar keine Lernenden in herkömmlicher Bedeutung waren und z. B. die anderen Mitglieder mit Informationen versorgten, zugleich aber ihre persönlichen Management‐ kompetenzen entwickelten. Die hier beschriebene Lerngemeinschaft könnte als ein Netzwerk interpre‐ tiert werden, das eine autonome, vielfältige und kreative Wissensentwicklung förderte. Das während des Praktikums konstruierte Fach- und Sprachwissen wird hier nicht als nur in den Köpfen der einzelnen Projektteilnehmenden exis‐ tierendes Konstrukt betrachtet und damit nicht an konkrete Orte gebunden, sondern als über mehrere Individuen verteiltes System interpretiert. Am Beispiel der von Praktikantinnen und Praktikanten durchgeführten Si‐ mulationsspiele wird ersichtlich, wie ein Netzwerk auf einen sich ständig än‐ dernden Informationsstrom reagiert. Da die Lerngemeinschaft über eine eigene Dynamik verfügte, war es möglich, unter Zeitdruck Problemlösungen zu finden, die die Lernkapazitäten der einzelnen Mitglieder übersteigen konnten. Die in Gruppen arbeitenden Praktikantinnen und Praktikanten waren im Stande, als Netzwerk die Gültigkeit und Genauigkeit des erworbenen Wissens im Lichte der neuen Informationen kontinuierlich zu bewerten. Die Kommunikation in der analysierten Lerngemeinschaft lief nicht nur Face-to-Face ab, ein großer Teil der Wissenskonstruktion fand in Internet-Umgebungen statt, u. a. über Video‐ konferenzensoftware und E-Mail. Die interdisziplinären Prozesse der Wissens‐ konstruktion im internationalen Praktikumsbetrieb wurden von derartigen Lernumgebungen signifikant begünstigt. Die während des Praktikums entstandene Lerngemeinschaft wies mehrere Eigenschaften einer Community of Practice auf, im Sinne von Boitshwarelo (2011) und Reich (2012). Diese ist entstanden, weil die Praktikantinnen und Praktikanten eine Gruppe bildeten, die ein gemeinsames Ziel und Interesse ver‐ folgte und durch einen gemeinsamen Wissensbedarf verbunden war. Zu er‐ kennen war also ein gegenseitiges Engagement, das es ermöglichte, gemeinsam an Aktivitäten und Dialogen teilzunehmen; es war auch ein gemeinsames Entrepreneurship zu beobachten, das aus gemeinsamem Fachwissen und ausgehandelter Bedeutung resultierte und nicht zuletzt ein gemeinsames Repertoire an gemeinschaftlichen Ressourcen (Routinen, Werkzeugen, Handlungen, Worten und Symbole) das sowohl aus der Betriebskultur als auch der im Studium erworbenen Fachkompetenzen resultierte. 47 Konnektivistisches Modell des Fremdsprachenlernens im Betrieb <?page no="48"?> Literatur Al Dahdouh, Alaa et al. (2015). Understanding knowledge network, learning and con‐ nectivism. International Journal of Instructional Technology and Distance Learning 12 (10), 3-21. Al Dahdouh, Alaa (2017). 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Korpuslinguistische Analysen und Perspektiven für die berufsbezogene Sprachförderung Cordula Meißner Abstract: The notion of vocational language (Berufssprache) captures lingu‐ istic resources employed in various contexts of vocational communication and is considered the crucial register for vocational language training. The chapter presents a corpus study which investigates the register-related com‐ position of verbal vocabulary used in oral vocational communication of va‐ rious contexts. Intersections of the language used in vocational settings with common or colloquial language, general academic language, and subject-spe‐ cific language are identified. The results allow for a prediction of difficulties that learners of German as foreign or second language may experience in oral vocational communication. They provide a basis for vocation-related language training and can be applied to support vocational language training at the workplace. Keywords: registers in vocational communication, vocabulary in oral voca‐ tional communication, corpus linguistics 1 Einleitung Empirisch abgesicherte Befunde, die den Sprachgebrauch im beruflichen Kon‐ text zielgruppengerecht beschreiben, bilden eine Voraussetzung dafür, die Sprachförderung - auch im Betrieb als Sprachlernort - optimal zu gestalten. So gilt es, für entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen die berufsspezifischen sowie berufsfeldübergreifend eingesetzten sprachlichen Mittel zu bestimmen (vgl. Efing 2018). Die fachübergreifenden Ausdrucksmittel werden für den Be‐ reich der beruflichen Kommunikation durch das Konzept der Berufssprache er‐ fasst. Diesem zwischen Gemein-, Bildungs- und Fachsprache verorteten Register <?page no="51"?> wird für die berufsbezogene Sprachförderung eine besondere Bedeutung bei‐ gemessen (vgl. ebd., Efing 2014). Untersuchungen, die das Verhältnis der sprach‐ lichen Mittel, welche in der Berufskommunikation gebraucht werden, zu jenen der Gemein-, Bildungs- und Fachsprache anhand realer Sprachdaten konkret bestimmen, stehen jedoch noch aus. Solche Analysen wären sowohl für die em‐ pirische Fundierung des Konzepts der Berufssprache als auch für seine prakti‐ sche Anwendung notwendig. In Bezug auf die Zielgruppe der DaF-/ DaZ-Lernenden in der beruflichen Qualifizierung ist hierbei außerdem die Beziehung zwischen Berufssprache und den im allgemeinen Sprachunterricht behandelten sprachlichen Mitteln näher zu bestimmen. Der Beitrag stellt eine Studie vor, die diesen Fragen korpuslinguistisch anhand von Daten der mündlichen Berufs‐ kommunikation nachgeht. Es wird gezeigt, wie durch Korpusanalysen die ge‐ nannten variationslinguistisch relevanten Teilbereiche innerhalb des berufs‐ spezifischen sowie des berufsfeldübergreifenden Wortschatzes ermittelt und in ihrer jeweiligen quantitativen Bedeutung sowie in ihren lexikalischen Eigen‐ schaften beschreibbar gemacht werden können. Auf diese Weise lassen sich grundlegende Informationen für eine berufsbezogene Sprachförderung ge‐ winnen, die den realen Sprachgebrauch am Arbeitsplatz zum Ausgangspunkt nimmt und im Betrieb als Sprachlernort Anwendung finden kann. 2 Berufssprache als Register zwischen Gemein-, Bildungs- und Fachsprache Das Konzept der Berufssprache erfasst fächerübergreifende Gemeinsamkeiten der beruflichen Kommunikation wie etwa Parallelstrukturen in Lexik, Gram‐ matik, Handlungsmustern und Textsorten und wird als das zentrale vermitt‐ lungsrelevante Register der berufsbezogenen Sprachausbildung betrachtet (Efing 2014, 2018). Durch den Begriff des Registers wird Berufssprache als situations‐ spezifische Varietät und damit Varietät des Sprachgebrauchs eingeordnet. Als Register umfasst sie Gebrauchsmuster, die sich für spezifische Konstellationen aus Handlungssituation, in die Kommunikation involvierten Rollen und Rede‐ gegenstand konventionalisiert haben und so in ihrer Wiederkehr beobachtbar sind (vgl. Dittmar 2004: 223). Die Berufssprache als berufsfeldübergreifendes Register wird durch Überschneidungsbereiche mit der Gemein-, der Bildungs- und der Fachsprache charakterisiert, weshalb ihr eine Mittelstellung zwischen diesen drei Registern zugesprochen wird (Efing 2014: 433 f.). Unter Gemein- (z. T. auch Umgangs- oder Alltags-)Sprache werden sprach‐ liche Mittel gefasst, über die „alle Angehörigen einer Sprachgemeinschaft ver‐ fügen“ (Hoffmann 1987: 48) und mit denen ein allen zugängliches („alltägliches“) 51 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="52"?> 1 Kühn (1990: 1353) nennt als alternative Begriffe hierfür Allgemeinwortschatz, Alltags‐ wortschatz, Grundsprache, Basiswortschatz, Gebrauchswortschatz, Kernwortschatz, Mindestwortschatz u. a. 2 Vgl. zum Konzept der Ausbausprache Haarmann (2004: 241 f.). Wissen kommuniziert wird (Wichter 1994: 24). Aus der Perspektive der Fremd‐ sprachvermittlung bildet das Konzept des Grundwortschatzes ein Korrelat zur Gemeinsprache. Es handelt sich hierbei um eine didaktisch begründete Wort‐ schatzauswahl, welche die für das sprachliche Handeln in Alltagssituationen benötigte Lexik umfasst (vgl. Kühn 1990: 1359). Grundwortschätze 1 stellen somit reduzierte Wortschätze dar, die das Erlernen einer Zweitbzw. Fremdsprache effektivieren wollen, indem sie für die Lernenden den zentralen Wortschatz zu‐ sammenstellen (vgl. ebd.: 1353). Die Beziehung zwischen Berufssprache und Ge‐ meinsprache wird zum einen darin gesehen, dass diese die lexikalische und grammatische Basis aller Register bildet, zum anderen speziell in jenen sprach‐ lichen Mitteln, die im beruflichen Kontext v. a. im Bereich der zwischenmensch‐ lichen Kommunikation eingesetzt werden (Efing 2014: 422, 433). Unter dem Begriff Bildungssprache wird ein am schriftlichen Sprachgebrauch orientiertes Register gefasst, welches in Bildungskontexten zur Darstellung und Vermittlung von Wissensinhalten gebraucht wird (vgl. Feilke 2012). Aus einer rhetorisch-stilistischen Perspektive wird Bildungssprache als Ausdrucksform verstanden, die Wissen transportiert, das in Herkunft sowie Breite und Tiefe der Verarbeitung über das Alltägliche hinausgeht (Ortner 2009: 2227). Sie wird be‐ schrieben als eine bereichsübergreifende Verkehrssprache zwischen den Fach‐ sprachen, die sich durch einen differenzierten Wortschatz auszeichnet (ebd.: 2229 f.). In Abgrenzung zum Grundwortschatz wird die Bildungssprache durch einen Ausbauwortschatz 2 charakterisiert, z. T. werden ihr auch aus Fach‐ sprachen übernommene Termini zugerechnet (Ortner 2009: 2232 f.). Die „alltäg‐ liche Wissenschaftssprache“ (Ehlich 1993), die fachübergreifend gebrauchte, v. a. wissensmethodologische Inhalte versprachlichende Ausdrucksmittel umfasst, wird als ein wesentlicher Teil der Bildungssprache betrachtet (Ortner 2009: 2229; vgl. auch Berendes et al. 2013). Bildungssprache wird zudem mit den sprachlich elaborierteren und komplexeren Ausdrucksformen der konzeptionellen Schrift‐ lichkeit verbunden, die für die monologische, kontextentbundene, öffentliche, vorbereitete und themengebundene Distanzkommunikation typisch sind (ebd.: 2228; Koch / Oesterreicher 2008: 201 f.). In Bezug auf das Register der Be‐ rufssprache werden Anteile der Bildungssprache zum einen in den in berufli‐ chen Kontexten verwendeten sprachlichen Mitteln der konzeptionellen Schrift‐ lichkeit verortet, daneben in den Ausdrucksmitteln für fächerübergreifende 52 Cordula Meißner <?page no="53"?> sprachlich-kognitive Operationen (Efing 2014: 433), also den Einheiten der „all‐ täglichen Wissenschaftssprache“. Die Fachsprache, als drittes mit der Berufssprache verbundenes Register, wird v. a. durch ihre Fachwörter bestimmt. Zu diesen gehören die intrafachlichen, für einen Fachbereich spezifischen, sowie die von mehreren Fachbereichen ge‐ teilten interfachlichen Termini (Roelcke 2020: 71). Fachwörter sind in ihrem Vor‐ kommen im Text jenseits der expliziten Definitionskontexte in ihrer sprachli‐ chen Form in unterschiedlichem Maße auffällig und somit als solche zu erkennen. Sie können in ihren Bestandteilen alltäglich bekannt sein oder sogar gänzlich mit gemeinsprachlich gebräuchlichen Ausdrücken zusammenfallen (Adamzik 2016: 298 f.). Für die Bildung neuer Fachwörter werden gemeinsprach‐ liche Ausdrücke produktiv genutzt, zumeist durch Verfahren der Bedeutungs‐ übertragung (vgl. etwa Fraas 1998: 435). In Bezug auf die Berufssprache werden Überschneidungen mit der Fachsprache in dem in die berufliche Kommunika‐ tion eingebetteten Fachwortschatz gesehen (Efing 2014: 433). Die Fassung von Berufssprache als Register zwischen Gemein-, Bildungs- und Fachsprache stellt eine Modellierung dar, deren empirische Fundierung noch aussteht (vgl. Efing 2018: 233; zu einem ersten Ansatz hierzu vgl. jedoch Sander 2019). Untersuchungen, die Sprachgebrauchsdaten der beruflichen Kommuni‐ kation analysiert haben, betonen einerseits die Bedeutung übergreifender Mittel, die sich in den mündlich zu bewältigenden Handlungssituationen am Arbeitsplatz aus der Perspektive der DaF-/ DaZ-Vermittlung als Mischung sprachlicher Strukturen der GER -Niveaustufen A1 bis B1 beschreiben lassen (vgl. Kuhn 2014; 2019: 53 f.). Andererseits wurde anhand von schriftsprachlichen Daten die Bedeutung berufsspezifischer Unterschiede in Bezug auf die Ge‐ brauchsfrequenz fachsprachlicher lexikogrammatischer Strukturen aufgezeigt (vgl. Niederhaus 2011). Eine empirisch-quantitative Beschreibung der Kommu‐ nikation am Arbeitsplatz, die frequente lexikalische Einheiten auf größerer Da‐ tenbasis ermittelt, steht jedoch noch aus (vgl. Kuhn 2019: 57). Es fehlt somit eine Grundlage dafür, aus quantitativer Perspektive eine Aussage über die register‐ bezogene Zusammensetzung der Berufssprache treffen zu können. So wäre zum einen der übergreifende Gebrauch berufssprachlicher Mittel in seiner Relevanz zu quantifizieren, zum anderen die Mittelstellung der Berufssprache zwischen den genannten Registern empirisch zu konkretisieren. Um für die praktische Anwendung des Konzepts Berufssprache die Anforderungen speziell für die Zielgruppe der DaF-/ DaZ-Lernenden zu bestimmen, sind zudem Untersu‐ chungen erforderlich, welche die im allgemeinen Sprachunterricht nicht the‐ matisierten und den Lernenden daher potenziell unbekannten Wortschatzbe‐ reiche der Berufssprache offenlegen. 53 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="54"?> 3 Zugänglich über https: / / dgd.ids-mannheim.de. Es wurde die DGD in der Version 2.13 genutzt. 3 Komponenten der Berufssprache in fachspezifischen Handlungssituationen verschiedener Berufsfelder: Eine Korpusstudie In der vorliegenden Studie wird der in Gesprächen verschiedener beruflicher Handlungskontexte gebrauchte Wortschatz in Bezug auf die angenommene Mittelstellung zwischen Gemein-, Bildungs- und Fachsprache korpuslinguis‐ tisch untersucht. Damit soll Aufschluss über die Zusammensetzung des Wort‐ schatzes gegeben werden, der in der mündlichen Berufskommunikation ver‐ wendet wird. Ziel ist es, eine empirische Beschreibungsgrundlage für die berufsbezogene Sprachförderung zu gewinnen, welche in Bezug auf die Ziel‐ gruppe der DaF-/ DaZ-Lernenden speziell die Wortschatzbereiche aufzeigt, die über das im allgemeinen Sprachunterricht Behandelte hinausgehen. Für die Un‐ tersuchung werden die Verben in den Blick genommen, da sich in ihnen sowohl die Eigenschaft des fächerübergreifenden Gebrauchs als auch der für das „in‐ teraktionsorientierte […] Register“ (Efing 2018: 235) der Berufssprache als we‐ sentlich erachtete Handlungsbezug besonders deutlich manifestieren. So gelten Verben im Vergleich zu Nomen und Adjektiven als weniger fachterminologisch geprägt (Roelcke 2020: 114), neigen hingegen stärker als diese Wortarten zu einem disziplinenübergreifenden Gebrauch (vgl. Meißner / Wallner 2019: 97). 3.1 Datengrundlage Korpora der Berufskommunikation sind bislang nur in geringem Umfang vor‐ handen (Kuhn 2019: 50). Die vorliegende Untersuchung basiert daher auf den verfügbaren Gesprächsdaten aus dem Forschungs- und Lehrkorpus gespro‐ chenes Deutsch ( FOLK ) 3 . Dort finden sich Datensätze aus Schichtübergabege‐ sprächen im Krankenhaus, Physio- und Ergotherapiesitzungen, Meetings in einer sozialen Einrichtung sowie in einem Wirtschaftsunternehmen, Dienstge‐ sprächen in einem IT -Unternehmen, Verkaufsgesprächen (u. a. in der Apotheke und im Gartencenter) sowie zu Gesprächen bei einem Friseurtermin. Die aus acht verschiedenen beruflichen Kontexten stammenden Gespräche wurden in acht berufsspezifischen virtuellen Teilkorpora zusammengefasst. Diese sind in Bezug auf die registerkonstitutiven Parameter Situation, Rollen und Redege‐ genstand (Dittmar 2004: 423) heterogen. So umfassen sie für jedes der acht Be‐ rufsfelder eine spezifische Handlungssituation. Hinsichtlich der Rollen gibt es einerseits Gespräche zwischen Mitarbeitenden (intrafachliche Experten), ande‐ 54 Cordula Meißner <?page no="55"?> rerseits Gespräche zwischen beruflichen Expertinnen bzw. Experten und Laien (Kundinnen und Kunden bzw. Patientinnen und Patienten) (vgl. Roelcke 2020: 54-56). Mit den Physio- und Ergotherapiegesprächen sowie den Verkaufs‐ gesprächen sind zudem Kommunikationssituationen mit empraktischem Bezug enthalten, bei denen das Sprechen nur eine komplementäre, die ausgeführte Handlung begleitende Funktion hat (vgl. Kaiser 2018: 535). Auch hinsichtlich Aufnahmezeit, Anzahl der Sprechereignisse ( SE ) und Gesprächsteilnehmenden sind die Teilkorpora verschieden. Dieser Heterogenität der Datengrundlage wird in der Untersuchung durch eine in Bezug auf die Quantifizierung nach Teilkorpora getrennte Auswertung Rechnung getragen (vgl. Kap. 3.4). Um die in den beruflichen Gesprächen vorkommenden Verben zu erheben, wurden über die Datenbank für gesprochenes Deutsch aus allen berufsspezifi‐ schen virtuellen Teilkorpora die Vollverblemmata mit ihren teilkorpusspezifi‐ schen Häufigkeiten abgefragt. Mit Hilfe der Korpusanalysesoftware AntConc (Anthony 2019) wurde aus diesen berufsspezifischen Listen eine Gesamtliste gebildet. Diese wurde auf Fehler (v. a. aufgrund der vorliegenden automatischen Lemmatisierung) geprüft und nachkorrigiert. Über einen Abgleich der Listen in Excel wurden die Häufigkeiten der Lemmata aus den Teilkorpora zu Gesamt‐ häufigkeiten aufaddiert. Aus der Gesamtliste wurden zwei Teillisten gebildet, eine, welche die fächerübergreifenden Lemmata umfasst, die in mehr als einem Teilkorpus vorkommen (Range > 1), sowie eine andere, welche die fachspezifi‐ schen, in nur einem Teilkorpus (Range = 1) vorkommenden, Lemmata umfasst. Tab. 1 zeigt die Datengrundlage der Untersuchung im Überblick. 55 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="56"?> 4 Vgl. https: / / www.europaeischer-referenzrahmen.de (Stand: 22 / 12 / 2020) 5 Vgl. https: / / www.bmi.bund.de/ DE/ themen/ heimat-integration/ integration/ integration skurse/ integrationskurse-node.html (Stand: 22 / 12 / 2020) Tab. 1: Berufssprachliche Teilkorpora und darin vorkommende Verben mit Angabe ihres Anteils an den Verblemmata (L) und Verbtoken (T) des Gesamtkorpus (Beispiel: In den Schichtübergabegesprächen kommen insgesamt 547 Verblemmata vor (35 % der ge‐ samten Lemmamenge), dem entsprechen 2.542 Token. 367 dieser Lemmata kommen auch in mindestens einem weiteren Teilkorpus vor (fächerübergreifend), 180 Lemmata finden sich nur im Teilkorpus der Schichtübergabegespräche (fachspezifisch).) Neben den Daten der mündlichen Berufskommunikation bilden die folgenden Wortschatzlisten, die verschiedene Sprachverwendungsbereiche repräsen‐ tieren, eine Grundlage der Untersuchung. a) Der B1-Zertifikatswortschatz (Goethe-Institut 2016) als Repräsentant der B1-Lernervarietät bzw. des Grundwortschatzes Das Sprachniveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen ( GER ) 4 soll durch die Sprachausbildung in Integrationskursen erreicht werden und bildet die Grundlage für berufsbezogene Sprachkurse. 5 Die sprach‐ lichen Mittel (Sprachhandlungen, Wortschatz, Grammatik), die auf der GER -Niveaustufe B1 zu behandeln sind, werden für das Deutsche durch das Referenzwerk „Profile Deutsch“ spezifiziert (Glaboniat et al. 2005), welches für die Auswahl des Wortschatzes dem kommunikativ-pragmatischen Ansatz der 56 Cordula Meißner <?page no="57"?> 6 Abrufbar unter: https: / / gesig-inventar.esv.info (Stand: 22 / 12 / 2020) 7 Vgl. unter https: / / www1.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora.html (Stand: 22 / 12 / 2020) Grundwortschatzbestimmung folgt, bei dem der Wortschatz anhand von typi‐ schen Sprachhandlungszusammenhängen ausgewählt und nicht empirisch-fre‐ quenzbasiert erhoben wird (vgl. Lange et al. 2015: 4). Als Quelle für den Wort‐ schatzumfang des B1-Niveaus wird hier der elektronisch verfügbare B1-Zertifikatswortschatz des Goethe-Instituts verwendet (Goethe-Institut 2016). Dieser umfasst etwa 2.400 lexikalische Einheiten (ebd.: 5). Er liegt nicht als reine Wortliste vor, sondern enthält für jeden Lemma-Eintrag auch gram‐ matische Informationen sowie Beispielsätze. Der Zertifikatswortschatz wurde daher zunächst in eine digital verarbeitbare Form ( TXT -Format) überführt und hieraus wurde in AntConc eine Wortliste erstellt. Diese umfasst neben den Lemmaeinträgen in Nennform auch Wortformen aus den Beispielsätzen. b) Das GeSIG- Inventar (Meißner / Wallner 2019) als Repräsentant der allgemeinen bzw. alltäglichen Wissenschaftssprache (AWS) Das Ge SIG -Inventar 6 enthält allgemeinwissenschaftliche, fachübergreifend ver‐ wendete Lexik. Es wurde auf der Grundlage eines Korpus geisteswissenschaft‐ licher Dissertationen ermittelt, das insgesamt 22,8 Mio. Token umfasst und sich aus 19 Teilkorpora zusammensetzt, die 19 geisteswissenschaftliche Fächer re‐ präsentieren und einen Umfang von jeweils ca. einer Mio. Token besitzen. Das Ge SIG -Inventar enthält mit insgesamt 4.490 Einheiten jene Lemmata, die der Form nach in allen Teilkorpora vorkamen (vgl. Meißner / Wallner 2019: 56). Un‐ tersuchungen zur Textdeckung konnten zeigen, dass das Inventar auch in an‐ deren Textsorten und in Texten naturwissenschaftlicher Fächer eine hohe De‐ ckung aufweist, welche mit über 90 % im Bereich der Verben besonders hoch ist (vgl. ebd.: 95-97). Zudem zeigen auch exemplarische Analysen von Textaus‐ schnitten aus Schulbüchern eine hohe Deckung durch die Ge SIG -Einheiten (vgl. Wallner 2019). Die elektronisch verfügbare Lemma-Liste des Ge SIG -Inventars wird daher als Repräsentant der allgemeinen bzw. alltäglichen Wissenschafts‐ sprache ( AWS ) herangezogen. c) Die DeReWo_2012-Liste (IDS 2013b) als Repräsentant der verschriftlichten (öffentlichen) Gesamtsprache Die DeReWo-Wortliste basiert auf dem Deutschen Referenzkorpus DeReKo 7 , welches die größte verfügbare Sammlung elektronischer Korpora mit geschrie‐ benen deutschsprachigen Texten bildet. DeReKo enthält vor allem Zeitungs‐ texte, daneben jedoch auch belletristische, wissenschaftliche und populärwis‐ 57 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="58"?> 8 Abrufbar unter https: / / www1.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ methoden/ derewo.html (Stand: 22 / 12 / 2020) 9 Die Häufigkeitsklasse (HK) gibt die Häufigkeit relativ zum häufigsten Wort des Korpus an (die). Ein Wort hat die HK N, wenn das häufigste Wort im Korpus 2 N -mal häufiger auftritt als dieses Wort, d. h. je größer die HK, desto seltener ist das Wort (vgl. IDS 2013b: 7). 10 In der Lexikologie wird ein Wortschatzumfang für das Deutsche (ohne Fachwörter) von 300.000 bis 500.000 Wörtern angenommen, von denen Sprecherinnen und Sprecher durchschnittlich 6.000-10.000 aktiv beherrschen (Römer 2019: 11). senschaftliche Texte sowie weitere Textarten ( IDS 2013a: 4). Es wird hier die DeReWo-Liste von 2012 genutzt 8 , welche alle Lemmata des zu diesem Zeitpunkt über 5 Milliarden Wörter umfassenden DeReKo-Korpus enthält und für jedes Lemma zusätzlich dessen Häufigkeitsklasse ( HK ) 9 ausweist. Die DeReWo-Liste versteht sich als „Lemmastrecke eines fiktiven Wörterbuchs des öffentlichen Schriftsprachgebrauchs der letzten 30 Jahre im Umfang von ca. 320.000 Lem‐ mata“ ( IDS 2013b: 3). Zeitungstexte, der Hauptbestandteil von DeReKo, werden aufgrund der mit ihnen verbundenen thematischen und textsortenbezogenen Vielfalt als geeignete Grundlage für eine Repräsentation des allgemeinen (ver‐ schriftlichten) öffentlichen Sprachgebrauchs bzw. der deutschen Gesamtsprache angesehen (Storjohann 2005: 57, 62 f.). Anders als der Begriff der Gemeinsprache, der sich auf das allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft Zugängliche bezieht, nimmt das Konzept der Gesamtsprache auf eine übergeordnete, abstrakte Ebene Bezug, die faktisch nur in Form verwendungsbereichsspezifischer Subsprachen in Erscheinung tritt. Sowohl gemeinals auch fachsprachliche Lexik bilden Teil‐ wortschätze des (nie vollständig erfassbaren) Wortschatzes der Gesamtsprache (vgl. Hoffmann 1998: 162). Mit der DeReKo-Textgrundlage und einem Umfang von über 300.000 Lemmata kann die DeReWo-Liste als eine Annäherung an die verschriftlichte (öffentliche) Gesamtsprache des Deutschen angesehen werden (im Folgenden abgekürzt als Gesamtsprache). 10 Aus der DeReWo-Liste wurden zwei Teillisten gebildet. Die Teilliste DeReWo_häufig umfasst mit den Lemmata bis einschließlich HK 16 die häufigeren Einheiten der Gesamtsprache. Die Grenze bei HK 16 entspricht dem Bereich, in den die (in den Berufskorpora vorkommenden) Einheiten des Grundwortschatzes (B1) und der AWS (Ge SIG ) fallen. Die Teilliste DeReWo_selten umfasst mit den Lemmata ab der HK 17 den seltener vorkommenden Teil des Gesamtwortschatzes. Die Gesamtliste der Verblemmata aus den beruflichen Korpora (Berufsverb‐ liste) wurde aufbereitet, indem die einzelnen Lemmata in Excel nach Vor‐ kommen und Häufigkeit in den acht berufsspezifischen Teilkorpora, der Anzahl der belegten Teilkorpora (Range) sowie ihrem Vorkommen in den vier Ver‐ gleichslisten (B1, Ge SIG , DeReWo_häufig, DeReWo_selten) ausgezeichnet 58 Cordula Meißner <?page no="59"?> 11 Es wurde hierzu auf ein Auswertungsverfahren zur Analyse von Polysemie zurückge‐ griffen, das im Rahmen des GeSIG-Projekts erarbeitet wurde (vgl. Meißner / Wallner 2019: 176-207). wurden. Darüber hinaus erfolgte eine Auszeichnung der Verblemmata nach der Anzahl der für sie im Dornseiff (Dornseiff et al. 2004) verzeichneten Bedeu‐ tungen (Sach- und Hauptgruppen) 11 sowie nach den Wortbildungsarten der Par‐ tikelverbbildung und Präfixderivation. Markiert wurden zudem Verben mit dem Suffix -ier(en), welche zumeist eine fremdsprachliche (oft internationale) Basis aufweisen (vgl. Fleischer / Barz 2012: 432) und als Internationalismen aus der Perspektive des Fremdsprachenerwerbs interessant sind, da sie besondere Mög‐ lichkeiten der Erschließung bieten (vgl. Meißner 1996). 3.2 Ermittlung von Teilbereichen innerhalb des Verbwortschatzes der mündlichen Berufskommunikation Die Zusammensetzung des Verbwortschatzes der mündlichen Berufskommuni‐ kation wird durch die Bestimmung der Anteile von Einheiten des B1-Grund‐ wortschatzes, der AWS , des häufigeren und selteneren Teils der Gesamtsprache sowie der Überlappungsbereiche zwischen diesen Wortschätzen beschrieben. Es wurden zunächst durch Filterung in Excel jene Verblemmata bestimmt, die nur im Berufskorpus vorkommen. Mit 54 Lemmata (4 %) ist nur eine kleine Menge nicht durch die über DeReWo repräsentierte Gesamtsprache abgedeckt. An‐ schließend wurden mit Hilfe des auf der Software R basierenden Analysewerk‐ zeugs Venny (Oliveros 2015) alle Schnittmengen ermittelt, die sich aus den vier Listen jener Verblemmata ergeben, die jeweils im Berufskorpus und einer der vier Vergleichswortlisten vorkommen. Alle quantitativ relevant belegten Schnittmengen werden als für die Zusammensetzung des Berufswortschatzes bedeutsame Teilbereiche interpretiert. Die Analyse wurde zunächst für die ge‐ samte Berufsverbliste durchgeführt, um die relevanten Teilbereiche zu ermit‐ teln. Sodann wurde sie für Verben, die in mehr als einem Teilkorpus vorkommen, und Verben, die in nur einem Teilkorpus vorkommen, wiederholt, um die Be‐ deutung der ermittelten Teilbereiche separat für den fächerübergreifenden und den fachspezifischen Wortschatz zu bestimmen. In Abb. 1 sind das Vorgehen und die sich ergebenden Teilbereiche visualisiert, in Tab. 2 die Werte für die Belegung der Schnittmengen angegeben. 59 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="60"?> Abb. 1: Bildung von Schnittmengen Tab. 2: Entstandene Schnittmengen mit quantitativ relevanter Belegung Wie die Ergebnisse zeigen, existieren wesentliche Überlappungsbereiche mit B1-Grundwortschatz, AWS und dem häufigeren bzw. selteneren Teil der Ge‐ samtsprache. Es ergeben sich abgesehen von den nur im Berufskorpus vor‐ kommenden Verben (Bereich 6) fünf distinkte, quantitativ relevant belegte 60 Cordula Meißner <?page no="61"?> 12 Von den 181 Lemmata dieses Teilbereichs sind 163 (90 %) im Dornseiff verzeichnet. 13 Von den 370 Lemmata dieses Teilbereichs sind 364 (98 %) im Dornseiff verzeichnet. Schnittmengen und somit Teilbereiche. In nach ihrer Lemmaanzahl absteigender Reihenfolge sind dies Verben der mündlichen Berufskommunikation, die außerdem 1. nur im häufiger vorkommenden Teil der Gesamtsprache auftreten, 2. im B1-Grundwortschatz, in der AWS und im häufigeren Teil der Gesamt‐ sprache auftreten, 3. in der AWS und im häufigeren Teil der Gesamtsprache auftreten, 4. nur im selteneren Teil der Gesamtsprache auftreten, 5. im B1-Grundwortschatz und im häufigeren Teil der Gesamtsprache auf‐ treten. Für die fächerübergreifenden Verben ist v. a. der Bereich (2) von Bedeutung. Für die fachspezifisch vorkommenden Verben sind es die Bereiche (1), (3), (4). Die so als Schnittmengen empirisch bestimmten Teilbereiche wurden anschließend unter Hinzuziehung der weiteren zu den Lemmata annotierten Informationen interpretiert. Es ergeben sich daraus die folgenden sechs Teilbereiche für die mündliche Berufskommunikation: Die „Verben des alltäglichen Grundwortschatzes“ umfassen Lemmata der mündlichen Berufskommunikation, die Teil des B1-Grundwortschatzes sind und auch zu den häufigen Verben der Gesamtsprache gehören, die jedoch nicht Teil der AWS sind. Der gemeinsprachlichen Kodifizierung zufolge verfügen die Verben dieser Gruppe über eine eher gering ausgeprägte Mehrdeutigkeit. Im Dornseiff 12 ist für sie im Durchschnitt eine Bedeutung (bei einem Spektrum von 1-4) aus einem Bedeutungsbereich (bei einem Spektrum von 1-2) verzeichnet. Sie weisen in der DeReWo-Liste durchschnittlich HK 13 auf (bei einem Spektrum von HK 9- HK 16). Die häufigsten Verben dieser Gruppe im Berufskorpus sind kriegen (276), gucken (268), schlafen (103), holen (89), anrufen (62), klappen (60), probieren (51), essen (37), abholen (36), aufschreiben (29). Als „ AWS -polyvalente Verben des Grundwortschatzes“ wird eine Gruppe bezeichnet, die Lemmata der mündlichen Berufskommunikation umfasst, welche einerseits Teil des B1-Grundwortschatzes sind und zu den häufigeren gesamtsprachlichen Verben zählen, welche daneben aber auch der AWS ange‐ hören. Es sind also Verben, die (in bestimmten Lesarten) bereits auf dem B1-Niveau vermittelt werden und (in anderen Bedeutungen) Teil der AWS sind. Sie zeichnen sich laut gemeinsprachlicher Kodifizierung durch eine sehr stark ausgeprägte Mehrdeutigkeit aus. Im Dornseiff 13 sind für diese Verben im Durch‐ 61 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="62"?> 14 Von den 282 Lemmata dieses Teilbereichs sind 266 (94 %) im Dornseiff verzeichnet. 15 Von den 432 Lemmata dieses Teilbereichs sind 339 (78 %) im Dornseiff verzeichnet. schnitt über fünf Bedeutungen (bei einem Spektrum von 1-19) aus drei Bedeu‐ tungsbereichen (bei einem Spektrum von 1-11) verzeichnet. Sie weisen in der DeReWo-Liste durchschnittlich HK 10 auf (bei einem Spektrum von HK 3- HK 14). Die häufigsten Verblemmata dieser Gruppe im Berufskorpus sind machen (1334), sagen (1245), gehen (803), wissen (724), kommen (723), glauben (483), denken (469), finden (415), meinen (345), geben (339). Bei der Gruppe der „ AWS -Verben jenseits des Grundwortschatzes“ handelt es sich um Lemmata der mündlichen Berufskommunikation, die nicht mehr Teil des B1-Grundwortschatzes sind, aber zu den häufigeren Verben der Gesamt‐ sprache gehören und Teil der AWS sind. Auch sie verfügen laut gemeinsprach‐ licher Kodifizierung über eine stark ausgeprägte Mehrdeutigkeit. Der Dorn‐ seiff 14 verzeichnet für sie im Durchschnitt vier Bedeutungen (bei einem Spektrum von 1-14) aus drei Bedeutungsbereichen (bei einem Spektrum von 1-9). Sie weisen in der DeReWo-Liste durchschnittlich HK 12 auf (bei einem Spektrum von HK 9- HK 16). Die häufigsten Verblemmata für diese Gruppe im Berufskorpus sind beziehen (15), umsetzen (13), erzeugen (12), ansetzen (10), be‐ treffen (10), einschätzen (10), erfassen (10), abschneiden (9), richten (9), zukommen (9). Als „häufigere (alltäglich oder fachlich) spezifische Verben“ werden Lemmata der mündlichen Berufskommunikation zusammengefasst, die weder dem B1-Grundwortschatz noch der AWS angehören, wohl aber zu den häufigeren Lemmata der Gesamtsprache zählen. Es sind somit Verben, die semantisch spe‐ zifischer sind als der alltägliche Grundwortschatz und die fächerübergreifende AWS , die also über eine in alltäglicher oder fachlicher Hinsicht spezifischere Bedeutung verfügen. Der gemeinsprachlichen Kodifizierung zufolge zeichnen sich die Verben dieser Gruppe durch eine eher gering ausgeprägte Mehrdeutig‐ keit aus. Im Dornseiff 15 ist für sie im Durchschnitt eine Bedeutung (bei einem Spektrum von 1-4) aus einem Bedeutungsbereich (bei einem Spektrum von 1-4) verzeichnet. Sie weisen in der DeReWo-Liste durchschnittlich HK 14 auf (bei einem Spektrum von HK 11- HK 16). Die häufigsten Verblemmata dieser Gruppe im Berufskorpus sind angucken (24), hingehen (23), nachfragen (18), schmeißen (18), schwätzen (16), trauen (16), hauen (15), kapieren (14), hocken (13), rauskommen (13). Unter der Bezeichnung „seltenere (alltäglich oder fachlich) spezifische Verben“ werden Lemmata der mündlichen Berufskommunikation gebündelt, die sonst nur den selteneren Verben der Gesamtsprache angehören. Es handelt sich 62 Cordula Meißner <?page no="63"?> somit um Verben, die ebenfalls semantisch spezifischer sind als der alltägliche Grundwortschatz und die fächerübergreifende AWS , die sich aber zusätzlich durch eine geringere gesamtsprachliche Frequenz auszeichnen. Da diese Verben nur zu einem Viertel im Dornseiff verzeichnet sind, können keine Aussagen zu ihrer kodifizierten Mehrdeutigkeit getroffen werden. Die häufigsten Verblem‐ mata der Gruppe im Berufskorpus sind reinschreiben (13), drinstehen (10), rein‐ legen (10), durchschlafen (9), durchschreiben (7), mitkriegen (7), verkleben (7), ausatmen (6), stressen (6), abrollen (5). Zu der Gruppe „seltene (alltäglich oder fachlich) spezifische Verben der mündlichen Berufskommunikation“ werden schließlich jene Lemmata zusam‐ mengefasst, die nur im Berufskorpus vorkamen. Es ist zu erwarten, dass diese Verben bei einer umfangreicheren gesamtsprachlichen Korpusgrundlage einen Teil der letztgenannten Gruppe bilden würden, sie können somit als deren denkbare Erweiterung aufgefasst werden. Die häufigsten Verben dieser Gruppe sind reinarbeiten (3), hochstützen (2), mitgucken (2), nachbesprechen (2), nachsäen (2), rauskratzen (2), splissen (2), anpampen (1), draufsprühen (1), durchstufen (1). Es handelt sich also um sehr seltene Verben bzw. überwiegend um Einmalvor‐ kommen. 3.3 Beziehungen der ermittelten Teilbereiche zueinander und zu den Registern der Gemein-, Bildungs- und Fachsprache Beziehungen zwischen den beschriebenen Bereichen finden sich zum einen hinsichtlich der AWS . So stellen sowohl die „ AWS -polyvalenten Verben des Grundwortschatzes“ als auch die „ AWS -Verben jenseits des Grundwort‐ schatzes“ Bestandteile der AWS dar. Dass durch die Schnittmengenbildung hier zwei separate Bereiche hervortreten, zeigt, dass in der mündlichen Berufskom‐ munikation ein Ausschnitt der AWS vorzufinden ist, der sich aufteilt in einen mit dem B1-Grundwortschatz überlappenden Bereich polyvalenter Ausdrucks‐ mittel ( AWS I) und einen über den B1-Grundwortschatz hinausgehenden Be‐ reich ( AWS II ). Daneben stehen die Bereiche der „(alltäglich oder fachlich) spezifischen Verben“ in Beziehung zueinander. Bei diesen drei Teilbereichen handelt es sich um in alltagsbezogener oder fachbezogener Hinsicht semantisch spezifischere Verben, die gesamtsprachlich unterschiedliche Häufigkeiten aufweisen, indem sie entweder dem häufigeren (Spezifisch I) bzw. dem selteneren Teil (Spezi‐ fisch II ) der DeReWo-Liste angehören oder noch nicht im DeReKo-Korpus belegt sind (Spezifisch III ). Eine genauere Betrachtung der Verben dieser drei Bereiche zeigt, dass sich aus variationslinguistischer Perspektive hier verschiedene Di‐ mensionen der Spezifik verbinden. So finden sich mit kapieren, schmeißen oder 63 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="64"?> 16 Vgl. https: / / www.dwds.de (Stand: 22 / 12 / 2020) hauen Verben, die im DWDS 16 als stilistisch salopp markiert sind, mit schwätzen ein Verb, das als landschaftlich ausgezeichnet ist. Verben wie reinschreiben, drinstehen, reinarbeiten, rauskratzen u. a. weisen umgangssprachlich verkürzte Formen der Verbalpartikeln (vgl. Duden 2016: 715) auf. Daneben bezeichnen Verben wie durchschlafen im Kontext der Schichtübergabe im Krankenhaus, ausatmen, abrollen oder hochstützen im Kontext der Physiotherapiegespräche, splissen oder durchstufen im Kontext der Gespräche beim Friseur oder nachsäen bzw. draufsprühen (das Aufbringen eines Insektizids) im Kontext des Verkaufs‐ gesprächs im Gartencenter fachlich spezifische Inhalte. Hierin wird die Kom‐ plexität der situativen Variationsdimension und das Zusammenspiel von Para‐ metern wie Ort, beteiligte Personen, Medium und Formalitätsgrad deutlich, die auf die sprachliche Realisierung im fachlichen (d. h. hier beruflichen) Hand‐ lungskontext Einfluss nehmen (vgl. Adamzik 2018: 63 f.). In welcher Beziehung sind die ermittelten Teilbereiche des Verbwortschatzes der mündlichen Berufskommunikation nun mit den in der Literatur als berufs‐ sprachlich relevant beschriebenen Registern der Gemein-, Bildungs- und Fach‐ sprache zu sehen? An den Ergebnissen lässt sich hier ein komplexes Bild er‐ kennen: So spiegeln sich Anteile einer Gemeinsprache wider in den Teilbereichen der „Verben des alltäglichen Grundwortschatzes“, den „ AWS -polyvalenten Verben des Grundwortschatzes“ ( AWS I) sowie den in alltäglicher Hinsicht spezifischen Verben der Teilbereiche Spezifisch I bis III (wie z. B. kapieren, schmeißen, ho‐ cken, rauskratzen). Dies zeigt, dass Gemeinsprache, verstanden als der allen Sprachbenutzenden verfügbare, alltägliches Wissen verhandelnde Bereich, zum einen auch polyvalente Ausdrucksmittel umfasst, die in die AWS als Teil der Bildungssprache hineinreichen, zum anderen auch semantisch spezifischere, in ihrer Frequenz unterschiedlich häufig vorkommende Mittel. Anteile der Bildungssprache können im untersuchten Verbwortschatz in den zwei Bereichen erkannt werden, die Ausdrucksmittel der AWS umfassen. Hierzu gehört ein Teil der AWS , der formseitig mit dem B1-Grundwortschatz überlappt ( AWS I), sowie ein anderer Teil, der über diesen hinausgeht ( AWS II ). Anteile von Fachsprachen schließlich können in den in fachlicher Hinsicht spezifischen Verben der Bereiche Spezifisch I bis III gesehen werden (wie etwa die Beispiele durchschlafen, ausatmen, splissen oder nachsäen). Geht man von einem weiteren Verständnis von Bildungssprache aus, welches die in die öf‐ fentliche Sprache eingegangenen fachlichen Ausdrucksmittel ebenfalls als bil‐ dungssprachlich betrachtet (vgl. Ortner 2009: 2232 f.), ließen sich diese Bereiche 64 Cordula Meißner <?page no="65"?> auch als fachsprachliche Anteile des Registers Bildungssprache einordnen. In Abb. 2 sind die ermittelten Teilbereiche in ihren Beziehungen zueinander und zu den Registern der Gemein-, Bildungs- und Fachsprache zusammenfassend dargestellt. Abb. 2: Teilbereiche im Verbwortschatz der mündlichen Berufskommunikation und ihre Beziehungen zueinander sowie zu den Registern der Gemein-, Bildungs- und Fach‐ sprache 3.4 Quantifizierung der Teilbereiche Im nächsten Schritt sollen die gewonnenen Teilbereiche in ihrer quantitativen Relevanz eingeordnet werden. Hierzu werden die Anteile betrachtet, die diese Teilbereiche fächerübergreifend und fachspezifisch im Hinblick auf Lemmata und Token einnehmen. Da die Teilkorpora, welche die verschiedenen Berufs‐ bereiche repräsentieren, sich in ihrer Größe stark unterscheiden (vgl. Kap. 3.1), wurden für jedes Teilkorpus separat die Anteile der Teilbereiche ermittelt und dann ein Durchschnitt aus den relativen Werten der acht Teilkorpora gebildet. Abb. 3 zeigt zusammenfassend die durchschnittlichen Anteile der Teilbereiche 65 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="66"?> auf Lemma- und Tokenebene jeweils für den Bereich der fächerübergreifend und fachspezifisch vorkommenden Verben. Abb. 3: Quantifizierung der Teilbereiche des berufssprachlichen Verbwortschatzes Es wird ersichtlich, dass der quantitativ größte Teil der Einheiten aus AWS -po‐ lyvalenten Verben des Grundwortschatzes besteht ( AWS I). Auf diese entfallen durchschnittlich 75 % der Token in den Teilkorpora. Dieser quantitativ größte Teil ist berufsübergreifend in Gebrauch: Er nimmt durchschnittlich 82 % der fä‐ cherübergreifenden Token in den Teilkorpora ein und stellt durchschnittlich 62 % der Lemmata der fächerübergreifenden Verben. Berufsspezifisch von Bedeutung sind v. a. die Bereiche Spezifisch I (durch‐ schnittlich 35 % der fachspezifischen Lemmata, 34 % der fachspezifischen Token), Spezifisch II (durchschnittlich 24 % der fachspezifischen Lemmata und 21 % der Token) sowie AWS II (durchschnittlich 19 % der Lemmata, 23 % der Token). Die Dominanz der genannten Teilbereiche für die fächerübergreifenden und fachspezifischen Verben findet sich in allen acht Teilkorpora wieder. So bilden unter den fächerübergreifend vorkommenden Verben in allen Teilkorpora die AWS -I-Verben sowohl bzgl. der Lemmaanzahl als auch der Tokenmenge die anteilsmäßig größte Gruppe. Die Werte reichen bei den Lemmata von 51 % (Meeting in einer sozialen Einrichtung) bis 68 % (Ergotherapie, Meeting in einem 66 Cordula Meißner <?page no="67"?> Wirtschaftsunternehmen). Bei den Token reichen sie von 75 % (Meeting in einem Wirtschaftsunternehmen) bis 86 % (Meeting in einer sozialen Einrichtung). Unter den fachspezifisch vorkommenden Verben stammen in allen acht Teil‐ korpora die zwei größten Gruppen aus den Bereichen Spezifisch I, Spezifisch II oder AWS II . Unterschiede zwischen den Teilkorpora zeigen sich in der Ge‐ wichtung. So sind AWS - II -Verben im Meeting in einem Wirtschaftsunter‐ nehmen und den IT -Dienstgesprächen mit 63 % bzw. 44 % der Token die am stärksten belegte Gruppe, bei den Gesprächen beim Friseur, der Ergotherapie oder den Verkaufsgesprächen stellen die Spezifisch-I-Verben unter den Token die größte Gruppe (44 %, 42 %, 45 %), bei den Physiotherapiegesprächen bilden die Spezifisch- II -Verben mit 44 % die größte Gruppe im Tokenanteil. Tab. 3 illustriert anhand der jeweils zehn häufigsten Verben, welche Lemmata in den einzelnen beruflichen Teilkorpora zu den ermittelten Bereichen gehören. In diesen wird dabei auch eine fachliche Prägung in der Auswahl und Häufigkeit der Verben erkennbar, so z. B. in den Gesprächen beim Friseur in Form von Verben wie schneiden, waschen (alltäglicher Grundwortschatz), flechten, aus‐ dünnen (Spezifisch I), feststecken, ausspülen, föhnen (Spezifisch II ) bzw. splissen, durchstufen, hinföhnen, rumflechten (Spezifisch III ); in den Physiotherapiege‐ sprächen in Form von Verben wie drücken, atmen, schmerzen, aufstehen (alltäg‐ licher Grundwortschatz), dehnen, hochziehen, strecken, aushalten, entspannen, rutschen (Spezifisch I), ausatmen, abrollen, anbeugen, rausschieben, hoch‐ nehmen, wegschieben, anspannen, ausblasen (Spezifisch II ) bzw. hochstützen, reinrücken, runterstellen (Spezifisch III ) oder in den Verkaufsgesprächen (im Gartencenter) in Form von Verben wie einpacken, blühen (alltäglicher Grund‐ wortschatz), sprühen, beschneiden, säen, überwintern, verzweigen, kappen (Spe‐ zifisch I), zurückschneiden, vertikutieren (Spezifisch II ) bzw. nachsäen, drauf‐ sprühen, zupflanzen (Spezifisch III ). 67 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="68"?> Tab. 3: Die häufigsten zehn Verben je Teilbereich für die acht Berufsfelder. Angegeben sind die Verbreitung über die acht Teilkorpora sowie die Häufigkeit im spezifischen Teilkorpus (z.B. schlafen kommt in vier Teilkorpora vor und 85-mal im Teilkorpus Schichtübergabe). 68 Cordula Meißner <?page no="69"?> 3.5 Wortgrammatische Beschreibung der den Teilbereichen zugeordneten Verben In der Fachsprachenforschung werden bestimmte grammatische Phänomene als für Fachsprachen typisch ausgewiesen. Für den Bereich der Wortbildungsmor‐ phologie finden sich im Hinblick auf Verben hier aber keine spezifischen Aus‐ sagen (vgl. Roelcke 2020: 114). Die Auswertung der Daten zeigt jedoch, dass sich verbale Wortbildungsarten in den Teilbereichen des beruflichen Wortschatzes unterschiedlich häufig finden. Abb. 4 stellt die Ergebnisse dazu zusammenfas‐ send dar. Es sind auch hier Durchschnittswerte der relativen Häufigkeiten aus den acht Teilkorpora angegeben. Abb. 4: Wortbildungsmorphologische Eigenschaften der Teilbereiche (Anteile auf Lem‐ maebene) Wie die Abbildung zeigt, ist jeder Teilbereich durch eine spezifische Zusam‐ mensetzung bzgl. der Bildungstypen gekennzeichnet. Für die AWS - II -, die Spe‐ zifisch-I-, - II - und - III -Verben stellen die betrachteten Wortbildungsarten jeweils über 70 % der Lemmata (73 % bis 93 %). Hierbei entfallen auf Partikelverbbil‐ dungen allein 50 % bis 84 % der Lemmata. Diese Wortbildungsart ist somit ins‐ besondere für die fachspezifisch relevanten Teilbereiche (vgl. Abb. 3) wichtig. Aus Perspektive der einzelnen Wortbildungsarten wird Folgendes deutlich: Partikelverben sind sowohl für gemein-, als auch bildungs- und fachsprachliche Teilbereiche von Bedeutung. So stellen sie im Teilbereich AWS II durchschnitt‐ 69 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="70"?> 17 Es sind jeweils die drei häufigsten Verben aufgeführt. lich 50 % der Verblemmata (z. B. umsetzen, ansetzen, einschätzen) 17 , im Teilbereich Spezifisch I 51 % (z. B. angucken, hingehen, nachfragen), in Spezifisch II ebenfalls 51 % (z. B. durchschlafen, durchschreiben, mitkriegen) und in Spezifisch III 38 % der Lemmata (z. B. hochstützen, mitgucken, nachbesprechen). Hinzu kommen bei den beiden letztgenannten Bereichen Bildungen mit umgangssprachlich ver‐ kürzten Partikelformen 33 % (z. B. reinschreiben, drinstehen, reinlegen) bzw. 42 % (z. B. reinarbeiten, rauskratzen, drankleben), so dass auf den Bildungstyp damit in diesen beiden spezifischen Teilbereichen durchschnittlich 84 % bzw. 80 % der Lemmata entfallen. Präfixverben hingegen spielen v. a. in den beiden bildungssprachlichen Be‐ reichen eine Rolle, unter den AWS -I-Verben sind es durchschnittlich 16 % (v. a. idiomatisierte Bildungen, z. B. erzählen, verstehen, versuchen), unter den AWS - II -Verben sind es durchschnittlich 23 % der Lemmata (z. B. beziehen, er‐ zeugen, betreffen). Verben mit -ier(en) kommen in allen Teilbereichen vor, nehmen aber mit 2 % bis 9 % nur geringe Anteile ein (vgl. für alltäglichen Grundwortschatz z. B. pro‐ bieren, telefonieren, kopieren, AWS I z. B. passieren, funktionieren, kontrollieren, AWS II z. B. definieren, kombinieren, formulieren, Spezifisch I z. B. kapieren, ex‐ plodieren, pointieren, Spezifisch II z. B. vertikutieren, hospitieren, flexibilisieren und Spezifisch III medizieren). Simplizia und andere Bildungsarten stellen die größten Anteile unter den Verben des alltäglichen Grundwortschatzes (durchschnittlich 59 %, z. B. kriegen, gucken, schlafen) und den AWS -I-Verben (durchschnittlich 63 %, z. B. machen, sagen, gehen). Daneben entfallen auf sie durchschnittlich 27 % der Spezi‐ fisch-I-Verben (z. B. schmeißen, schwätzen, trauen). Für eine fachsprachenlinguistische Beschreibung lässt sich aus diesen Ergeb‐ nissen die Schlussfolgerung ziehen, dass die Bildungsarten für die einzelnen Teilbereiche eine unterschiedliche Relevanz besitzen und somit durchaus auch typische Eigenschaften der fachberuflichen Kommunikation im Bereich der Verben beschrieben werden können. Im Hinblick auf die berufsbezogene Sprachvermittlung zeigen die Ergebnisse Einsatzmöglichkeiten für die Wortbil‐ dungsdidaktik auf. 3.6 Zusammenfassung der Ergebnisse im Hinblick auf die berufsbezogene Sprachförderung Die ermittelten Eigenschaften des Verbwortschatzes der mündlichen Berufs‐ kommunikation bieten eine Orientierung dafür, welche Aspekte für eine be‐ 70 Cordula Meißner <?page no="71"?> rufsbezogenen Sprachförderung relevant wären. So sind in Bezug auf die be‐ rufsfeldübergreifend verwendeten Verben folgende Charakteristika festzuhalten: • Übergreifend gebrauchte Verben sind charakteristisch für den Verbwort‐ schatz der mündlichen Berufskommunikation. Es entfallen 90 % aller Verbtoken auf die 570 (36 %) übergreifend vorkommenden Verblemmata. • Die bildungssprachliche Polyvalenz des Grundwortschatzes ist für die übergreifende Berufssprache von zentraler Bedeutung. 82 % der fächer‐ übergreifenden Verbtoken entfallen auf den Bereich der AWS I. Zu‐ sammen mit den 10 % an Verben des „alltäglichen Grundwortschatzes“ stellt der B1-Grundwortschatz damit 92 % der Verbtoken in den unter‐ suchten Daten der mündlichen Berufskommunikation. Bei den Lemmata sind es 77 % (62 % polyvalent, 15 % alltäglich). • Frequente und polyseme Verben sind für die Berufssprache von Bedeu‐ tung. Bei den bildungssprachlich polyvalenten Verben handelt es sich um stark polyseme und hochfrequente Verben, die in den beruflichen Kon‐ texten übergreifend und spezifisch nutzbar gemacht werden (für eine exemplarische Beschreibung des berufsübergreifenden und berufsspezi‐ fischen Gebrauchs der drei häufigsten Verben machen, sagen und gehen vgl. Meißner 2021). In Bezug auf den berufsspezifisch in der mündlichen Berufskommunikation ge‐ brauchten Verbwortschatz konnte die Untersuchung folgende Charakteristika ermitteln: • Der berufsspezifische Verbwortschatz ist lexikalisch vielfältig. Der größte Teil der im untersuchten Korpus vorkommenden Lemmata entfällt auf selten und fachspezifisch, d. h. in nur einem beruflichen Handlungskon‐ text (Teilkorpus) auftretende Verben. Dies sind 64 % der Lemmata, aber nur 10 % der Token. • Für den berufsspezifischen Verbwortschatz sind die Teilbereiche Spezi‐ fisch I und II sowie AWS II von Bedeutung. Auf diese drei Bereiche ent‐ fallen 34 %, 21 % und 23 % und damit insgesamt 78 % der fachspezifischen Verbtoken (bzw. 35 %, 24 % und 19 %, insgesamt 78 % der fachspezifischen Lemmata). • Für den berufsspezifischen Verbwortschatz ist die Partikelverbbildung von großer Relevanz (sowie in geringerem Umfang die Präfixderivation und in noch geringerem Umfang Verben mit dem Suffix -ier(en)). In den drei größten Teilbereichen der fachspezifischen Verben sind 50 % bis 84 % 71 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="72"?> der Einheiten Partikelverben. Für die Bereiche Spezifisch II (und III ) sind hierbei auch die umgangssprachlich verkürzten Partikelformen relevant. Für den Verbwortschatz der fächerübergreifenden Berufssprache ist die Bedeu‐ tungsdifferenzierung damit sehr stark mit der Mehrdeutigkeit bzw. Polyvalenz von Einheiten verbunden. Im fachspezifisch verwendeten Verbwortschatz geht Bedeutungsdifferenzierung hingegen eher mit einer Vielfalt an lexikalischen (v. a. durch Wortbildung entstandenen) Ausdrucksmitteln einher. In Bezug auf die AWS -Verben als den bildungssprachlichen Anteil im Verbwortschatz der mündlichen Berufskommunikation ist festzuhalten, dass davon zur übergreif‐ enden Berufssprache ein mit 37 % nur weniger stark durch lexikalische Diffe‐ renzierung mittels Wortbildung geprägter Teil gehört ( AWS I). Ein anderer Teil, der mit 82 % stärker durch die genannten Wortbildungsarten geprägt ist, gehört zum berufsspezifisch verwendeten Verbwortschatz ( AWS II ). 4 Fazit und Ausblick Die vorgestellte Studie hat die variationsbezogene Zusammensetzung der Verblexik in der mündlichen Berufskommunikation empirisch untersucht. Es konnten relevante Teilbereiche ermittelt, im Hinblick auf Umfang und abge‐ deckte Tokenmenge quantitativ gewichtet und mit den für das Konzept der Be‐ rufssprache als relevant erachteten Registern der Gemein-, Bildungs- und Fach‐ sprache in Beziehung gesetzt werden. Es wurde gezeigt, dass die berufsfeldübergreifend gebrauchten Verben den Hauptteil des in der mündli‐ chen Berufskommunikation vorkommenden Verbwortschatzes ausmachen. Dies bestätigt empirisch die Relevanz der Berufssprache als eines übergreifenden Registers. Des Weiteren konnte sowohl der berufsfeldübergreifende als auch der berufsspezifische Verbwortschatz hinsichtlich seines Verhältnisses zur Gemein-, Bildungs- und Fachsprache genauer bestimmt werden. So zeichnet sich der berufsfeldübergreifend gebrauchte Verbwortschatz durch eine große Überschneidung mit der Gemeinsprache in Form des B1-Grundwortschatzes aus (durchschnittlich 92 % der Token, 77 % der Lemmata), wobei der größte Teil auf bildungssprachlich polyvalente Einheiten des Grundwortschatzes entfällt (durchschnittlich 82 % der Token, 62 % der Lemmata). Der berufsspezifische Verbwortschatz setzt sich hingegen überwiegend aus bildungssprachlichen AWS -Verben jenseits des Grundwortschatzes ( AWS II ) sowie den häufigeren und selteneren alltäglich oder fachlich spezifischen Verben der Gesamtsprache zusammen (Spezifisch I und II ), welche Anteile einer Erweiterung der Gemein‐ sprache sowie der Fachsprache umfassen (durchschnittlich 78 % der Token und der Lemmata). 72 Cordula Meißner <?page no="73"?> In Bezug auf den Betrieb als Sprachlernort können die Ergebnisse der Studie die Grundlage für eine Qualifizierung der Ausbildenden darstellen, in welcher diese über die in der mündlichen Berufskommunikation für auszubildende DaF-/ DaZ-Lernende zu erwartenden Schwierigkeiten informiert werden. So liefern die Ergebnisse den Ausbildenden einen Überblick über den Verbwortschatz der mündlichen Berufskommunikation. Sie zeigen ihnen, welche Teilbereiche in diesem Wortschatz existieren, wie diese in ihrer quantitativen Relevanz einzu‐ stufen sind und in welcher Beziehung sie zu dem Wortschatzwissen stehen, welches DaF-Lernende aus dem allgemeinsprachlichen Unterricht des B1-Ni‐ veaus tendenziell mitbringen. Ein solches Wissen ermöglicht es Ausbildenden, jener Lexik, die für DaF-Lernende potenziell unbekannt ist, in der betriebsprak‐ tischen Ausbildung gezielt Aufmerksamkeit zu schenken. Deppermann / Cin‐ dark (2018) beschrieben in einer interaktionsanalytischen Untersuchung, dass es Ausbildenden oft schwerfällt, die Deutschkenntnisse der Praktikantinnen und Praktikanten einzuschätzen, und sie sprachliche Schwierigkeiten in der beruf‐ lichen Praxis sehr unterschiedlich bearbeiten (können). So wird in einem Bei‐ spiel aus einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme im Bereich Gastronomie durch einen Ausbilder das vom DaF-lernenden Praktikanten nicht verstandene Verb köcheln in Unterschied zu dem ihm bekannten Verb kochen erklärt (ebd.: 274-276). In Bezug auf die in der vorliegenden Studie ermittelten Teilbe‐ reiche gehört kochen zu den Verben des alltäglichen Grundwortschatzes, köcheln hingegen findet sich nicht im B1-Grundwortschatz und mit HK 17 nur unter den selteneren Verben der in DeReWo repräsentierten Gesamtsprache (Spezi‐ fisch II ). Es ist somit erwartbar, dass dieses Verb für Lernende mit B1-Kennt‐ nissen unbekannt ist. Die Ergebnisse von Korpusuntersuchungen, wie der in diesem Beitrag vorgestellten, könnten im Rahmen ihrer didaktischen Ausbil‐ dung den Ausbilderinnen und Ausbildern in Form von Listen für ihr Berufsfeld an die Hand gegeben werden. Ausbildende können sich so an einer Wortschat‐ zaufstellung wie der in Tab. 3 gezeigten einen Überblick über potenziell für die auszubildenden DaF-/ DaZ-Lernenden unbekannte, aber fachkommunikativ wichtige Ausdrucksmittel verschaffen. Sie können dabei gleichzeitig sehen, welche Wörter, die für ihr Berufsfeld Relevanz besitzen, Lernende in Form des B1-Grundwortschatzes mitbringen und diese dann gezielt bei der Erläuterung von unbekannten Einheiten aufgreifen. Eine korpuslinguistische Erschließung des Sprachgebrauchs in der mündlichen Berufskommunikation kann somit den Betrieb als Sprachlernort unterstützen. 73 Berufsspezifischer Wortschatz am Arbeitsplatz <?page no="74"?> Literatur Adamzik, Kirsten (2018). Fachsprachen. Die Konstruktion von Welten. Tübingen: Narr Francke Attempto. Anthony, Laurence (2019). AntConc (Version 3.5.8) [Computer Software]. Tokyo, Japan: Waseda University. 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The guiding questions are which linguistic and commu‐ nicative problems arise in workplace interactions between refugees and their colleagues and with which communicative practices the participants ensure mutual understanding. In the present article, we further focus on the question whether and how the professional trainers use the work interactions as op‐ portunities for language mediation and which practices they use. Keywords: practices of language mediation, integration of refugees at work, multimodal conversation analysis 1 Einleitung Idealerweise sollen erwachsene Migrantinnen und Migranten nach ihrer An‐ kunft in Deutschland zunächst erfolgreich einen Integrationskurs mit einem B1-Zertifikat (gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, abgk. GER ) absolvieren. Abschließend oder parallel zur Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit / Ausbildung haben sie dann unter Umständen die Möglichkeit, einen Kurs in berufsbezogener Deutschsprachförderung (DeuFöV) zu besuchen. Doch wie sieht die Realität aus? Durchlaufen alle Migrantinnen und Migranten tatsächlich diese Etappen? Und wie gestalten sich die Arbeits‐ interaktionen, wenn sie nach dem Besuch eines Sprachkurses eine Tätigkeit aufnehmen bzw. eine Ausbildung beginnen, obwohl ihre Sprachkenntnisse nicht (immer) ausreichend sind? <?page no="82"?> 1 Projekthomepage unter https: / / dib.ids-mannheim.de (Stand: 25 / 06 / 2021) Im Rahmen unseres Projekts Deutsch im Beruf: Die sprachlich-kommunikative Integration von Flüchtlingen 1 am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache unter‐ suchen wir in mehreren ethnografischen Feldstudien die Gestaltung des Integrationsprozesses von Geflüchteten in unterschiedlichen Berufsfeldern und -kontexten (Deppermann et al. 2018). In der ersten Phase begleiteten wir ins‐ gesamt fünf berufliche Qualifizierungsmaßnahmen für Geflüchtete, die in der Metall-, Friseur-, Holz- und Gastronomiebranche durchgeführt wurden (Dep‐ permann / Cindark 2018). Die vielfältigen und bundesweit stattfindenden Qua‐ lifizierungsmaßnahmen werden für die Geflüchteten in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft angeboten und sind häufig die ersten wichtigen Weichen für ihre berufliche und soziale Integration in Deutschland. Im Rahmen dieser Maß‐ nahmen sollen die Geflüchteten verschiedene Berufsfelder kennenlernen, um sich in der Folge beruflich besser orientieren zu können. Hinsichtlich der er‐ forderlichen Deutschkompetenzen der Teilnehmenden dieser Maßnahmen hält die Bundesagentur für Arbeit fest, dass die „Teilnehmer über Sprachkenntnisse verfügen [sollen], die es zulassen, den Inhalten der Maßnahme zu folgen. Dies ist in der Regel nach der Teilnahme an einem Integrationskurs der Fall“ (Kom‐ munale Bildungskoordination 2017: 1). Anschließend an unsere Begleitstudien zu den Qualifizierungsmaßnahmen dokumentierten und untersuchten wir im Projekt die ersten vier Monate der dualen Ausbildung von drei Geflüchteten zu Mediengestalterinnen und -gestal‐ tern. Parallel zu unseren Feldstudien in diesen beiden Bereichen analysieren wir außerdem seit Beginn unseres Projekts im Jahre 2016 in einer Langzeitstudie den beruflichen Werdegang bzw. die beruflichen Praktika von sieben Geflüch‐ teten, die an einer anwendungsorientierten Hochschule studieren. Insgesamt besteht unser Korpus bis jetzt aus 92 Stunden Video- und 95 Stunden Audioauf‐ nahmen, die wir ethnografisch und gesprächsanalytisch untersuchen (Depper‐ mann 2000). Im Projekt analysieren wir zentral die Frage, welche sprachlichen und kom‐ munikativen Probleme am Arbeitsplatz zwischen Geflüchteten und ihren Kol‐ leginnen und Kollegen auftreten und mit welchen kommunikativen Praktiken die Beteiligten die gegenseitige Verständigung sicherstellen. Im vorliegenden Beitrag fokussieren wir weitergehend die Fragestellung, ob und wie die fachli‐ chen Ausbildenden die Arbeitsinteraktionen als Sprachlehr und -lernmöglich‐ keiten auffassen und ob bzw. wie sie neben der Fachauch explizite Sprachver‐ mittlung betreiben. 82 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="83"?> 2 Betriebe als Sprachlernorte In Bezug auf bessere und effektivere Integration von Zugewanderten in die Ar‐ beitswelt kristallisiert sich das Thema Betriebe als Sprachlernorte erst in den letzten Jahren zu einem wichtigen Aspekt heraus. Eine der ersten Grundlagen‐ studien zu diesem Themenbereich war das Projekt Deutsch am Arbeitsplatz (Zimmer 2014), das von 2007 bis 2013 vom Deutschen Institut für Erwachse‐ nenbildung durchgeführt wurde. Ein Output des Projekts sind zehn ethnogra‐ fische Firmenportraits, die die Rolle der Sprache und Kommunikation im be‐ trieblichen Alltag nachzeichnen. Ihre wichtigsten Ergebnisse sind: Feststellung der gestiegenen Bedeutung kommunikativer Kompetenzen als konstitutiver Be‐ standteil der beruflichen Handlungsfähigkeit, der wachsenden Anforderungen an die Schriftsprachlichkeit, der erhöhten Ansprüche an das (lebenslange) Lernen am Arbeitsplatz als Folge des Strukturwandels und der sehr häufig an‐ zutreffenden mehrsprachigen Belegschaften in den Betrieben, deren Multilin‐ gualität aber in Interviews mit Führungskräften im betrieblichen Alltag nicht immer positiv wertgeschätzt wurde (Grünhage-Monetti / Svet 2014: 182-190). Neben den Firmenportraits führte das Projektteam „sprachdidaktische Analysen der in Schlüsselszenarien beruflicher Praxis erfassten Texte (mündliche als auch schriftliche)“ (ebd.: 190) durch. Als Ergebnisse der Sprachanalysen hält das Pro‐ jektteam neben der gestiegenen Bedeutung der Schriftsprachlichkeit v. a. fest: Im Arbeitsalltag werden Zugewanderte mit kompetenzniveau-übergreifenden sprachlichen Anforderungen (i. S. des GER ) konfrontiert, worauf sie „durch Sprachkurse und Unterrichtskommunikation nicht vorbereitet sind“ (ebd.: 192). So sind die Autorinnen der Meinung, dass durch Sprachsensibilisierungen die muttersprachlichen Interaktionspartner geschult werden könnten, um in Kon‐ takt mit Zugewanderten arbeitsplatzrelevante Sprachhandlungen auf An‐ fänger-Niveaustufen (A1, A2) zu produzieren (ebd.). Wie das Projektteam her‐ vorhebt, steckt nämlich „in vielen deutschen Mitarbeiter / innen / n und Vorgesetzten ‚viel Potenzial drinne‘“, um „als Sprachlernbegleiter und -begleit‐ erinnen ihrer Kolleg / inn / en mit Migrationshintergrund“ (Berg / Grünhage-Mo‐ netti 2009: 18) zu fungieren. Ein von ihnen interviewter polnischer Mitarbeiter in einer Firma der Kunststoffbranche weist z. B. darauf hin, dass er seinen Sprachkurs nicht beendete, weil er dort nichts lernte, und Deutsch mit Hilfe eines Arbeitskollegen, der quasi als Sprachmentor fungierte, am Arbeitsplatz gelernt habe: „Er hat mir alles erzählt und gezeigt, was ich muss machen, wie das funktioniert, was ist das für ein Kunststoff, wofür kann man das gebrauchen, wo ist das im Lager.“ Am Anfang hatte er [der polnische Mitarbeiter, u. A.] oft Angst nachzufragen. Er wusste 83 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="84"?> 2 Ob Deutschkurse im Betrieb als ein Bestandteil des Konzepts „Betriebe als Sprachlernorte“ zu sehen sind, wird in der Forschung kontrovers diskutiert, insbesondere wenn die Teilnahme mit Kosten verbunden ist und die Zielgruppe der gering bzw. nicht formal Qualifizierten erhebliche Hemmungen bzgl. der Teilnahme an Weiterbildungen besitzt (Ambos 2015). 3 Für das Konzept des szenarienbasierten Deutschunterrichts in berufsbezogenen Kursen siehe z. B. in Sass / Eilert-Ebke (2014). aber: „Du musst das fragen, falsch oder nicht falsch, das ist jetzt egal.“ Wenn er ein Wort nicht verstanden hat, hat er den Kollegen gebeten, anders zu formulieren. […] Sein abschließender Kommentar „Wie haben das gut hingekriegt mit dem Deutsch“, weist auf die besondere Beziehung hin, die ihn mit seinem Kollegen und Sprachmentor verbindet. (ebd.) Wenn man Betriebe als Sprachlernorte auffasst und realisieren will, bieten sich in der Praxis neben der Möglichkeit, Arbeitskollegen und -kolleginnen bzw. Vorgesetzte als Sprachmentoren und -mentorinnen (Berg / Leinecke 2014: 18 f.) einzusetzen, indem man sie sensibilisiert, schult und weiterqualifiziert, noch zwei weitere Instrumente an: Deutschtraining im Kursformat direkt im Betrieb und Sprachcoaching am Arbeitsplatz (Thomas 2017: 9). 2 Für beide Instrumente gilt, dass vor der Umsetzung der Maßnahmen eine allgemeine Sprachbedarfs‐ analyse bei Mitarbeitenden mit Deutsch als Zweitsprache in den Betrieben durchgeführt werden sollte (Grünhage-Monetti 2010), wobei es notwendig er‐ scheint, den jeweiligen Bedarf in jedem einzelnen Betrieb zu ermitteln, da jeder Arbeitsplatz spezifische Anforderungen mit sich bringt (Thomas 2017). Für eine Sprachbedarfsermittlung bieten sich verschiedene Methoden wie Interviews mit den betrieblichen Akteuren und Akteurinnen, Spracheinstufungstests mit den Zugewanderten und Arbeitsplatzbeobachtungen an (Efing 2013). Anschließend an die Sprachbedarfsanalyse kann u. a. das Instrument der Deutschkurse im Be‐ trieb angewandt werden. Dabei kann es sich um ein thematisch an die Arbeits‐ platzanforderungen angepasstes Trainingskonzept handeln, das eine szenari‐ enbasierte Unterrichtsmethodik anwendet, was „den Teilnehmenden [ermöglicht,] arbeitsplatzrelevante Kommunikationssituationen im Kurs zu üben und Gelerntes auf die Anforderungen am Arbeitsplatz zu übertragen“ (Thomas 2017: 23). 3 Idealerweise sollten bei den Deutschkursen am Arbeitsort auch ein Teil der entstehenden Kurskosten von den Betrieben als Investitionen für die Zukunft übernommen werden, damit bei den Zugewanderten die Hemm‐ schwelle zur Teilnahme sinkt und die Motivation erhöht wird. So berichtet Thomas (ebd.: 17) von einem Interventionsprojekt in einer Kartoffelmanufaktur, in dem die Kurse 84 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="85"?> 4 So berichtet Thomas (2017: 17) im Falle des Interventionsprojekts in einer Kartoffelma‐ nufaktur: „Außerdem wurde klar, dass einige Mitarbeitende ohne individuelle Beglei‐ tung (Sprachcoaching) und unterstützende Maßnahmen des Betriebs (betriebliches Sprachmentoring) den Anforderungen des Sprachtrainings im Kursformat und der gleichzeitigen Berufstätigkeit im Schichtbetrieb nicht gerecht werden würden.“ 5 Für ein videobasiertes Sprachcoaching im Bereich der frühkindlichen Sprachförderung siehe in Geyer / Lemmer (2018). außerhalb der Arbeitszeiten, aber direkt im Betrieb [stattfanden], im Falle des Sprach‐ kurses entschied sich der Betrieb sogar, den Kurs in Form von Arbeitszeit zu „sub‐ ventionieren“, indem die Mitarbeitenden nach erkennbaren Fortschritten beim Deutschlernen die Hälfte der Kurszeiten als Arbeitsstunden gutgeschrieben bekamen. Ergänzend zu den Sprachkursen kann das Instrument des Sprachcoachings am Arbeitsplatz eingesetzt werden, um einen tatsächlichen Transfer von Kursin‐ halten an die Arbeitsplätze zu gewährleisten. 4 Beim Sprachcoaching begleiten externe Lehrkräfte einzelne Mitarbeitende für eine gewisse Zeit idealerweise direkt am Arbeitsplatz. Zusätzlich oder alternativ kann auch mit Szenarien ge‐ arbeitet werden, die einen starken Bezug zu den individuellen beruflichen An‐ forderungen aufweisen. 5 Einzelne Elemente des Sprachcoachings bestehen aus einer Bestandsaufnahme, der konkreten Spracharbeit bezüglich der Anforde‐ rungen am Arbeitsplatz und der Sprachlernberatung, d. h. der Begleitung des Lernprozesses und des Ausbauens erfolgreicher Lernstrategien (Daase et al. 2014). Ein drittes Instrument im Zuge der Etablierung der Betriebe als Sprachlernorte ist das betriebliche Sprachmentoring (Thomas 2017: 29). Beim Mentoring berät eine externe Sprachlehrkraft die Betriebe dabei, eine sprachlernförderliche Umgebung zu schaffen. Hierunter fallen verschiedene Maßnahmen, die zur innerbetrieblichen Unterstützung des Deutsch‐ lernprozesses von Mitarbeitenden mit nichtdeutscher Muttersprache eingesetzt werden können. (ebd.) Eine zentrale Maßnahme ist die Durchführung von Sprachcoaching für Schlüs‐ selpersonen wie etwa die Ausbildenden, wobei vermittelt wird, wie Sprache in der betrieblichen Kommunikation zur Verständnissicherung mit Mitarbeitenden mit wenig Deutschkenntnissen angepasst werden, oder mit welchen Praktiken man den Spracherwerbsprozess der Zuwanderer unterstützen kann. Weiterge‐ hend kann man auch einzelne Kolleginnen und Kollegen zu Sprachmentoren ausbilden, die als ausgewiesene Ansprechpartner und -partnerinnen die Zu‐ wanderer bei sprachlichen Belangen unterstützen (wie beim Auflösen von Fällen von Nichtverstehen oder Korrekturlesen von schriftlichen Texten etc.). 85 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="86"?> Im vorliegenden Beitrag werden wir uns auf das kommunikative Handeln der Ausbildenden - als potenzielle Sprachmentoren am Arbeitsplatz - konzentrieren und zeigen, welche unterschiedlichen Beteiligungsweisen und Praktiken in Bezug auf die Frage zu beobachten sind, ob und wie die Ausbildenden die Arbeitsorte und -interaktionen als Gelegenheiten der Sprachvermittlung be‐ trachten. 3 Drei prototypische Umgangsweisen mit Sprachvermittlung am Arbeitsplatz Die sprachlich-kommunikativen Anforderungen, mit denen sich die Geflüch‐ teten bei den von uns durchgeführten Feldstudien am Arbeitsplatz konfrontiert sahen, waren sehr vielfältig. Im mündlichen Bereich mussten sie z. B. entspre‐ chend ihrer Arbeitsfelder Instruktionen verstehen, Informationen verarbeiten und weitergeben, über Termine und Zeitpläne sprechen, sich mit Mitarbeitenden über Arbeitsaufgaben austauschen, Sicherheitsmaßnahmen verstehen, Feed‐ back annehmen und geben, Hilfe anbieten und um Hilfe bitten, mündlich be‐ richten etc. Daneben wurden ihnen auch Lese- und Schreibkompetenzen ab‐ verlangt, wenn sie Rezepte lesen und umsetzen, schriftliche Berichte verfassen oder etwa E-Mails schreiben mussten. In Bezug auf den Umgang mit diesen Anforderungen konnten wir in unseren ethnografischen Analysen feststellen, dass es drei prototypische Formen gibt, wie die Ausbildenden mit der Frage umgehen, ob und wie sie aufgrund der größtenteils fehlenden Deutschkompe‐ tenzen auf Seiten der Geflüchteten die gegenseitige Verständigung sicherstellen und ob und wie sie darüber hinaus neben der Fachvermittlung auch Sprachver‐ mittlung betreiben: a) kaum Verständnissicherung und Sprachvermittlung, b) ad hoc-Verständnissicherung und Sprachvermittlung und c) systematische Ver‐ ständnissicherung und Sprachvermittlung. 3.1 Prototyp „kaum Verständnissicherung und Sprachvermittlung“ In unseren Daten stehen die von uns begleiteten Perspektive für Flüchtlinge Plus-Qualifizierungsmaßnahmen (in Folge PerF Plus) in der Holz- und Metall‐ branche prototypisch für die Fälle und Betriebe, in denen die Ausbildenden na‐ hezu keine Verständnissicherung und Sprachvermittlung betreiben. PerF Plus ist eine 2015 von der Bundesagentur für Arbeit in Bayern konzipierte berufliche Maßnahme, die sich über sechs Monate erstreckt. Entsprechend der Vorgaben der Bundesagentur sollen die Träger idealerweise zunächst eine Standortbe‐ stimmung, eine Bedarfsanalyse und eine Eignungsfeststellung unter den Teil‐ nehmenden durchführen. In der zweiten Phase steht dann die Kenntnisvermitt‐ 86 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="87"?> lung in praktischen Einheiten, die zumeist als Werkstattunterricht stattfanden, im Vordergrund. Die von uns untersuchten PerF Plus-Maßnahmen in einer bay‐ rischen Kleinstadt gingen von Juni bis Dezember 2016. Durch den Ausstieg von einigen und das Nachrücken neuer Teilnehmer besuchten insgesamt 23, aus‐ schließlich männliche, Geflüchtete den Kurs. Der Großteil der Teilnehmer stammte aus Syrien, drei kamen aus dem Irak. Die sprachliche Realität in den von uns begleiteten PerF Plus-Maßnahmen sah ganz anders aus, als die Bundesagentur für Arbeit es sich vorgestellt hatte. Auf‐ grund der großen Zahl an Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, und des damaligen Mangels an Integrationskursen v. a. auf dem Land hatte nur einer (! ) der Teilnehmenden vor den Maßnahmen einen Deutschkurs besucht. Deshalb konnten die Träger zum einen zu Beginn der Maßnahmen, aufgrund der feh‐ lenden Deutschkenntnisse, keine Standortbestimmung, Bedarfsanalyse und Eig‐ nungsfeststellung bei den Teilnehmern durchführen. Zum anderen waren die Arbeitsinteraktionen durchdrungen von Prozessen des gegenseitigen Nicht- und Missverstehens. In einigen wenigen Fällen konnten die Ausbildenden da‐ rauf reagieren und die gegenseitige Verständigung dennoch sicherstellen. Aber in Bezug auf die Frage, neben der Fachauch Sprachvermittlung zu betreiben, schienen sie von Anfang an überfordert zu sein, da sie mit Teilnehmenden rech‐ neten, die vorher einen Integrationskurs besucht hatten und somit mindestens über ein B1-Deutschniveau verfügten. Der folgende Interaktionsausschnitt aus der Holzwerkstatt steht stellvertre‐ tend für alle anderen vergleichbaren Situationen in den PerF Plus-Maßnahmen. Der situative Kontext ist, dass der Ausbilder mit den Geflüchteten im Zeitraum der Maßnahme eine Holzhütte bauen will. Im konkreten Ausschnitt geht es darum, dass der Ausbilder ( AB ) die zuvor bearbeiteten Balken ineinander führen will, um zu sehen, ob sie richtig zugeschnitten wurden. 87 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="88"?> Abb. 1: (Zeile 1 im Transkript): in der Mitte der Ausbilder AB 88 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="89"?> Abb. 2: (Zeile 2 im Transkript) Zu Beginn des Ausschnitts befindet sich der Ausbilder AB , wie man auch auf Abb. 1 sieht, am einen Ende des Balkens und bittet darum, dass jemand am anderen Ende mit dem Hammer gegen den Balken klopfen solle: „ KLOP fen sie von hinten mit dem hOlzhammer drauf “ (01). Während seiner Äußerung deutet er mit seinem Zeigefinger auf das andere Ende des Balkens. Die Zeigegeste ist hier aber unspezifisch. Sie zeigt zwar auf das andere Ende des Balkens, macht aber nicht klar, was damit geschehen soll. In der folgenden Äußerung eines der Teilnehmer ( XM ), die eine Übersetzung der vorangegangenen deutschen Auf‐ forderung des Ausbilders ins Arabische ist, zeigt sich dann auch, dass die Geste nicht verstehensunterstützend war: „msikūlyāhā“ (halte den [Balken] für ihn [den Ausbilder]) (02). Die falsche Übersetzung unterstreicht deutlich die ge‐ ringen Deutschkompetenzen der Geflüchteten in der Maßnahme. In der Folge kommen zwei Teilnehmer der auf Arabisch formulierten Aufforderung nach, indem sie den Balken festhalten (Abb. 2). Nach einer relativ langen Sprechpause von 1,7 Sekunden (02), in der der Ausbilder auf das Ende des Balkens schaut, wo er steht, wird für einen der Praktikanten ( HD ) klar, dass das Festhalten des Bal‐ kens auf der anderen Seite nicht die richtige Handlung sein kann. Auf Arabisch fordert er die anderen auf, gegen den Balken zu hämmern statt zu halten: „ḍrubū ḍrubū bilšākūš“ (hämmere den, hämmere den [Balken] mit dem Holzhammer) (03). Nach der diesmal richtigen Übersetzung der Ausgangsäußerung und der 89 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="90"?> Ausführung der Handlung zeigt eine zweite Sequenz die typische Umgangs‐ weise des Ausbilders mit sprachlichen Schwierigkeiten der Geflüchteten. Nachdem der Balken in einen anderen geklopft wurde und der Ausbilder mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, sagt er in Zeile 9: „das war vorher BES ser“. Darauf reagieren mehrere Geflüchtete mit der Wiederholung des Komparativs „besser“ (10, 11, 14). Dabei zeigen die Äußerungen der Praktikanten DC („okay ist gut gut“, 09) und PL („tamām“ (gut) (15)), wie sie den negativen Kommentar des Ausbilders (09) verstanden haben, nämlich positiv, weil sie das Temporal‐ adverb „vorher“ entweder überhört oder nicht verstanden haben. Interessant und typisch ist in dieser Sequenz die Reaktion des Ausbilders auf das Missver‐ stehen bzw. Nichtverstehen der Geflüchteten: Er zeigt nämlich gar keine Reak‐ tion darauf. Weder wiederholt er seinen vorherigen negativen Kommentar zur Klärung des Nichtverstehens, noch korrigiert er die Geflüchteten. So wird eine wichtige Gelegenheit zur Sprachvermittlung ausgelassen. Dieses Fallbeispiel ist eine typische Sequenz für die von uns begleiteten PerF Plus-Maßnahmen bzgl. der sprachlichen Schwierigkeiten der Geflüchteten und der Umgangsweise der Ausbilder mit ihnen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass insbesondere aufgrund der inkongruenten Erwartungshaltung - die Aus‐ bildenden rechneten mit Teilnehmenden, die über ein B1-Deutschniveau ver‐ fügen, aber nur einer der Geflüchteten hatte überhaupt einen Integrationskurs besucht - die Instruktionen der Ausbildenden oft ein mangelndes recipient de‐ sign (Sacks et al. 1974) aufweisen. Sie sind häufig syntaktisch und turn-struk‐ turell zu komplex und vom Vokabular her zu anspruchsvoll formuliert. Ihre In‐ struktionen sind i. d. R. zu implizit und indexikalisch, es fehlt eine grundlegende Darstellung der Aufgabenstrukturen. Außerdem prüfen die Ausbilder kaum das Verstehen der Praktikanten. Verstehensprobleme werden oft nur zufällig, wie im präsentierten Fallbeispiel durch offensichtlich unpassende Reaktionen der Flüchtlinge, sichtbar. Da die Ausbildenden während des Vermittlungsdiskurses selten Rückfragen stellen, bleibt in vielen Interaktionen weitgehend im Dunkeln, was verstanden wurde. Dass das Verstehen und damit auch das Lernen nicht erfolgreich waren, stellt sich so zumeist erst viel später heraus, was dann dazu führt, dass v. a. Instruktionen umfassend wiederholt werden müssen oder gar die Vermittlung im Ganzen scheitert. Ebenso wird von den Ausbildern nicht beachtet, dass einer der Geflüchteten über gute Deutschkenntnisse verfügt und entsprechend systematisch als Dolmetscher für andere eingesetzt werden könnte (Deppermann / Cindark 2018: 252-268). 90 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="91"?> 3.2 Prototyp „ad hoc-Verständnissicherung und Sprachvermittlung“ Die prototypischen Fälle der „ad hoc-Verständnissicherung und Sprachvermitt‐ lung“ stellen in unseren Daten die betrieblichen Praktika der sieben studier‐ enden Geflüchteten und die duale Ausbildung der drei Flüchtlinge zu Medien‐ gestalterinnen und -gestaltern dar. Auf die studierenden Geflüchteten werden wir im nächsten Abschnitt 4 ausführlicher eingehen, wenn wir auf die Vermitt‐ lung der schriftlichen Aspekte im Betrieb zu sprechen kommen, weshalb wir an dieser Stelle als Beispiel zur „ad hoc-Verständnissicherung und Sprachvermitt‐ lung“ unsere Begleitstudie zur dualen Ausbildung ausführen möchten. Wie eingangs erwähnt, haben wir bei dieser Studie die ersten vier Monate der dualen Ausbildung begleitet, dokumentiert und analysiert. Der ausbildende Betrieb ist eine gemeinnützige Medienanstalt in Rheinland-Pfalz, der im Rahmen eines Projekts, für das die Geflüchteten eingestellt wurden, ein Inter‐ netportal für Migranten und Migrantinnen aufbauen und betreiben soll. Das Portal soll Zugewanderte bei ihrer Integration in Deutschland unterstützen, indem es ihnen sowohl Tipps für aktuelle kulturelle Veranstaltungen in der Re‐ gion als auch gesammelte Informationen über Land und Leute sowie Anlei‐ tungen für bürokratische Angelegenheiten zur Verfügung stellt. Die Hauptarbeit des Projektteams besteht aus der Redaktion von Texten für ihr Internetportal. Des Weiteren besucht das Redaktionsteam regelmäßig Veranstaltungen zum Thema Integration und kulturelle Vielfalt, um darüber in Form von Kurzvideos auf der Internetplattform YouTube zu berichten. Die drei im Projekt beschäf‐ tigten Auszubildenden (zwei Männer, eine Frau) stammen aus Syrien, Afgha‐ nistan und dem Iran und weisen unterschiedliche Deutschkenntnisse auf. Wäh‐ rend der Geflüchtete aus Syrien Deutsch auf C1-Niveau beherrscht, verfügen die beiden anderen über Deutschkenntnisse auf A2-Niveau. So kam es auch in diesem Kontext immer wieder zu gegenseitigen Verständnisproblemen, worauf die betrieblichen Ausbilder sehr unterschiedlich reagierten. In manchen Fällen wurden die sprachlichen Verstehensprobleme gar nicht erkannt und bearbeitet. In anderen Fällen wurden sie erkannt, aber nicht weiter bearbeitet. Und schließ‐ lich haben wir in unseren Daten eine Reihe von Interaktionen, in denen die betrieblichen Ausbilder reaktiv oder proaktiv auf (mögliche) Verstehenspro‐ bleme Bezug nehmen und Sprachvermittlung betreiben. Da die sprachliche Handlungsweise der Ausbilder aber keine Systematik erkennen lässt, betrachten wir diese ab und zu vorkommenden Vermittlungspraktiken als prototypische Fälle von „ad hoc-Verständnissicherung und Sprachvermittlung“. Das folgende Beispiel steht für eine proaktive Sprachvermittlung seitens des Ausbilders, der den Geflüchteten die Bedeutung der Redewendung „Man wird übers Ohr gehauen“ erläutert. Kontext der Interaktion ist, dass der Ausbilder 91 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="92"?> AB für das Internetportal einen Artikel zum Mietrecht und zu Mietervereinen in der Region verfasst hat, damit Zuwanderer als Mieter über ihre Rechte in‐ formiert sind und nicht so einfach reingelegt werden können. 92 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="93"?> Abb. 3 (in Zeile 21): links die beiden Geflüchteten LE und SH, mittig der Ausbilder AB, rechts der Ausbilder MA Beim Fallbeispiel berichtet der Ausbilder AB in der Redaktionssitzung, dass er für das Internetportal einen Artikel zum Mietrecht geschrieben hat, der die Zu‐ gewanderten über ihre Rechte als Mieterinnen und Mieter informieren soll. In Zeile 18 will er auf die Problematik des Reingelegt-Werdens eingehen, bricht aber seine Formulierung ab: „un MANSCH mal ä: hm; (0.71) hat man ja problEme als dass jEmand (.) ä: hm“. Nach dem Abbruch entsteht eine sehr lange und auf‐ fällige Pause von 2,05 Sekunden. Im Anschluss an die Pause verwendet der Aus‐ bilder die Redewendung „man wird übers OHR geh AU en“ (20). Nach der Re‐ densart wendet sich der Ausbilder direkt an die Geflüchteten, indem er sie fragt, ob sie die Formulierung verstehen: „versteht IHR das wenn ich sag man wird übers OHR geh AU en“ (21). Diese Frage macht retrospektiv deutlich, warum der Ausbilder vor der Redewendung seine Formulierung abgebrochen und eine lange Pause eingelegt hatte: Er wollte die Redensart schon früher in seine ein‐ leitende Formulierung einbauen, dabei ist ihm aber bewusst geworden, dass Sprachenlernende gerade mit festen Wortverbindungen wie Redewendungen große Schwierigkeiten haben könnten. Das Kopfschütteln als Antwort der beiden Geflüchteten bestätigt auch diese Annahme (22). Darauf reagiert der Ausbilder zunächst mit einem Synonym für die Redensart: „das ist ein deutscher ausdruck für (.) für REIN legen“ (25). Da die Geflüchteten aber eventuell auch diesen Ausdruck nicht kennen, will der Ausbilder anschließend mit einem fik‐ tiven Beispiel eine Situation beschreiben, in der ein Mieter oder eine Mieterin 93 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="94"?> reingelegt wird: „also wenn isch ä: h; (0.34) WENN der verm IE ter sagt; (0.34) d IE se SCHÖ ne; (0.46)“ (31). Der Ausbilder bricht an dieser Stelle sein fiktives Beispiel ab, weil ihm einfällt, dass er mit der Auszubildenden LE vor kurzem eine reale Erfahrung bezüglich zu hoher Mietforderung gemacht hatte, auf die er nun stattdessen eingeht: so wie n so wie n OGgersheim; als wir in diesem KELLer waren - der kEller hat DREIhundert euro geKOStet; UND ä: h dann kann man sAgen; ah sie ham ein ein ZIMmer besIchtigt desging dann um, eine EINzimmer WOHnung aber die einzim‐ merwohnung war im KELler also s war ein k KELlerraum und ä: h; (0.53) dann (.) dann SAGT man; (0.59) DORT wird man übers OHR gehauen“ (32-44). Die Sequenz abschließend liefert der Ausbilder nochmal zwei Synonyme: „also man wird rein GE legt oder be NACH teiligt oder, (1.07) ja (.) ge NAU (46). In der gesamten Passage verhält sich der Ausbilder somit kommunikativ in der Interaktion mit Sprachenlernenden sehr vorbildlich. Er scheint sich bewusst darüber zu sein, dass Redewendungen für die Geflüchteten möglicherweise (noch) nicht verstehbar sind, fragt nach, und liefert anschließend Synonyme und einen Beispielfall, auf den die Redensart zutrifft. Wie bei diesem Beispiel haben wir in unseren Daten eine Reihe von Interaktionen, in denen die betrieblichen Ausbilder proaktiv oder reaktiv auf (mögliche) Verstehensprobleme Bezug nehmen und neben Verständnissicherung auch Sprachvermittlung betreiben (z. B. durch Korrektur von Fehlern, Paraphrasierungen, Formulierung von Sy‐ nonymen für unbekannte Wörter etc.). Da das sprachliche Handeln der Aus‐ bilder aber nicht wiederkehrend ist und keine Systematik erkennen lässt, können diese ab und zu vorkommenden Verstehens- und Vermittlungspraktiken als prototypische Fälle von „ad hoc-Verständnissicherung und Sprachvermitt‐ lung“ eingestuft werden (Cindark / Overath i. Dr.). So verwendet derselbe Aus‐ bilder in einer anderen Redaktionssitzung das Sprichwort „der Teufel ist ein Eichhörnchen“, ohne dass er die Geflüchteten im Anschluss nach möglichen Verstehensproblemen fragt oder eine Paraphrasierung liefert. Nach unseren Be‐ obachtungen und ethnografischen Analysen sind diese Praktiken der „ad hoc-Verständnissicherung und Sprachvermittlung“ in der Arbeitswelt sehr oft anzutreffen. 3.3 Prototyp „systematische Verständnissicherung und Sprachvermittlung“ Den Prototyp für eine „systematische Verständnissicherung und Sprachvermitt‐ lung“ am Arbeitsplatz stellt in unseren Daten eine im Rhein-Neckar-Raum durch‐ geführte Qualifizierungsmaßnahme in der Gastronomie- und Hotellerie-Branche 94 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="95"?> dar. Diese Maßnahme geht auf die Selbstinitiative eines Gastronomen zurück, der auch schon in Lateinamerika ähnliche Kurse durchgeführt hatte und der neben seiner Muttersprache Deutsch auch Englisch und Spanisch beherrscht. Im Feb‐ ruar 2017 wurde die Auftaktveranstaltung der Maßnahme organisiert, zu der die interessierten Flüchtlinge über die Jobcenter und Arbeitsagenturen eingeladen wurden. Etwa 50 Teilnehmende besuchten diese Infoveranstaltung. 24 von ihnen wurden dann für die beiden Assessmentwochen ausgesucht. Zwölf Teilneh‐ mende wurden schließlich in die Maßnahme aufgenommen (fünf aus Gambia, vier aus Syrien und je einer aus Pakistan, Afghanistan und Eritrea). Die wich‐ tigsten Aufnahmekriterien waren, ob die Teilnehmenden bereits in den Her‐ kunftsländern in der Hotellerie und / oder Gastronomie gearbeitet hatten, sowie ihre Motivation, die sie in den Assessmentwochen gezeigt hatten. Ihre Deutsch‐ kenntnisse spielten dagegen keine Rolle und unterschieden sich stark vonei‐ nander. Während drei Teilnehmer bereits erfolgreich Integrationskurse absol‐ viert hatten und Deutsch auf B1-/ B2-Niveau beherrschten, hatten neun Geflüchtete noch gar keinen Sprachkurs besucht. Das folgende Beispiel steht exemplarisch für das sprachliche Handeln des Ausbilders, im Rahmen der Qualifizierungsmaßnahme neben Fachauch per‐ manent und systematisch Sprachvermittlung zu betreiben. Kontext der Sequenz ist, dass die Geflüchteten einen Nachtisch zubereiten sollen, wofür sie ein Sieb und einen kleinen Topf brauchen. Da diese jedoch kurz davor verwendet wurden und verschmutzt sind, spült der Teilnehmer BE in der betreffenden Szene die beiden Gegenstände ab. Der Ausbilder AB steht neben ihm und nutzt die Gele‐ genheit, BE die Namen der Gegenstände abzufragen. 95 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="96"?> Abb. 4 (in Zeile 17): links der Geflüchtete BE, zweiter von rechts vorne der Ausbilder AB, rechts der Geflüchtete MU Zu Beginn der Sequenz spült der Teilnehmer BE einen Topf ab. Der Ausbilder AB steht in seiner unmittelbaren Nähe und hält ein Sieb in der Hand. Dann hält er das Sieb hoch und fragt BE nach dem Namen des Gegenstands: „ WIE heißt des? “ (03). Dieses sprachliche Verhalten des Ausbilders war während der ge‐ samten Maßnahme über wiederkehrend zu beobachten. Er nutzte jede kurze Gelegenheit dafür, Sprachvermittlung zu betreiben. Er fragte wie im präsen‐ tierten Beispiel eingeführte Wörter ab, paraphrasierte neue Begriffe (Bsp.: „Quark ist fester Joghurt“) oder Fachausdrücke wie „Soße binden“ durch „Soße fest machen“ etc. Im vorliegenden Beispiel ist erkennbar, dass der Gefragte BE den Ausdruck kennt, aber Probleme hat, ihn auszusprechen: „si äh si“ (05). Ein anderer Geflüchteter ( MU ) kommt ihm zur Hilfe und sagt das Wort vor: „ SIEB “ (07). BE wiederholt das Wort, spricht aber den Vokal [i] kurz aus. Der Ausbilder wiederholt das Wort (11) mit einem langen [i: ], was der Geflüchtete auch korrekt wiederholt: „sieb ja“ (12). Im Anschluss zeigt der Ausbilder auf den Topf in BE s Hand und fragt ihn nach dem Namen: „und DAS ist ein? “ (11). BE kann diesmal richtig antworten, hat aber erneut Probleme mit der Aussprache: „ TOF fe kleine toffe“ (13). Darauf reagiert der Ausbilder mit einer Frage, in der er die falsche Aussprache mit der richtigen gegenüberstellt: „tof FE oder topf “ (14). Auch nach dieser Hilfestellung hat BE Schwierigkeiten mit der Aussprache („toff “, 15), die ihm erst nach einer erneuten Korrektur (17) gelingt: „topf “ (19). Die Ausspra‐ cheschwierigkeiten in dieser Szene machen deutlich, warum so eine konsequ‐ 96 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="97"?> ente Sprachvermittlung des Ausbilders am Arbeitsplatz wichtig ist: Vieles neu Erlernte muss ständig abgefragt und ausgesprochen werden, bis es gekonnt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es auch im Rahmen dieser Maß‐ nahme häufig zu Situationen kommt, in denen sich die Interaktanten nicht ver‐ stehen. Aber der gastronomische Ausbilder benutzt im Gegensatz zu den Aus‐ bildern von PerF Plus ein breites Repertoire an sprachlich-kommunikativen Strategien, um mit Verständigungsproblemen umzugehen. In der Regel schafft es der Ausbilder, seine Instruktionen mit passgenauem Adressatenzuschnitt zu formulieren: Wichtige Begriffe hebt er durch verlangsamtes Sprechtempo, Laut‐ stärke, Fokusakzente und Pausen vor und nach der fokussierten Stelle hervor (Deppermann / Cindark 2018: 272). Seine Formulierungsweise ist durch klare Turnstrukturierung mit einfacher Syntax und einer klaren Kategorisierung und Explikation der zu vollziehenden Handlungen charakterisiert. Verstehensun‐ terstützend werden von ihm außerdem eindeutige Zeige- und illustrative Gesten eingesetzt (Cindark i. Dr.). Auf Verstehensprobleme der Praktikanten wie aus‐ bleibende Handlungsdurchführung reagiert er mit Selbstreformulierungen und Nachfragen (Cindark 2019). Oft im Anschluss an Ab- und Nachfrage-Sequenzen, wenn die Teilnehmer die Antwort nicht liefern, aber nicht selten auch proaktiv, greift der Ausbilder zur Verständnissicherung neben gestischen Mitteln v. a. auf Paraphrasierungen und die Zerlegung der Instruktion in einzelne Schritte und minimale Turnkonstruktionskomponenten zurück (ebd.). Gerade in beruflichen Kontexten, in denen das Erlernen von Fachvokabular unumgänglich ist, ist die Umschreibung und Erklärung von fachsprachlichen Ausdrücken mit einfachen Alltagsbegriffen eine hilfreiche und effektive Methode (Svennevig et al. 2017). Darüber hinaus betreibt der Ausbilder neben Fachauch Sprachvermittlung. Wie beim präsentierten Fallbeispiel nutzt er nahezu jede Gelegenheit (z. B. beim Kochen, Spülen etc.), den Flüchtlingen relevantes (Fach-)Vokabular beizu‐ bringen oder abzufragen. Die systematisch eingesetzten Rückfragen dienen dem Ausbilder dazu, das Vorwissen und das Verstehen der Praktikanten zu prüfen. Da bei der Beantwortung der Fragen häufig artikulatorische Schwierigkeiten zu beobachten sind, wiederholt er die abgefragten, für den jeweiligen Arbeitszu‐ sammenhang zentralen Ausdrücke langsam und standardnah und animiert so die Teilnehmer zur Einübung der Aussprache wie im Fallbeispiel. Die sprach‐ didaktischen Sequenzen nehmen ebenso wie seine Strategien der Fachvermitt‐ lung ihren Ausgangspunkt stets von grundlegenden praktischen Aufgaben, auf die sie immer wieder zurückbezogen werden. Das Sprachenlernen bleibt daher nicht abstrakt, sondern wird an die fachlichen Ausbildungserfordernisse und die 97 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="98"?> praktischen, unmittelbar im Anschluss umzusetzenden Handlungen der Prak‐ tikanten angebunden. Schließlich nutzt der Ausbilder die fortgeschrittenen Deutschkenntnisse ei‐ niger Teilnehmer, um durch deren systematische Übersetzungen auch den an‐ deren Teilnehmern wichtige Inhalte zukommen zu lassen. Ebenso nutzt er sehr effektiv die Ressource seiner eigenen Mehrsprachigkeit. Da der Ausbilder über gute Kenntnisse im Spanischen und Englischen verfügt, wechselt er adressa‐ tenspezifisch in diese Sprachen, um einzelnen Teilnehmern, die auch Kompe‐ tenzen in diesen Sprachen besitzen, verstehensförderliche Übersetzungen an‐ zubieten (Deppermann / Cindark 2018: 269-282). Da der Ausbilder all diese Praktiken wiederkehrend und nicht nur singulär zeigt, betrachten wir sein kommunikatives Handeln als einen prototypischen Fall für „systematische Ver‐ ständnissicherung und Sprachvermittlung“ am Arbeitsplatz. 3.4 Fallbeispiel für die ad hoc-Sprachvermittlung im schriftlichen Bereich Das Fallbeispiel für die ad hoc-Sprachvermittlung im schriftlichen Bereich ent‐ nehmen wir unserer longitudinalen Studie, in der insgesamt sieben studierende Geflüchtete, die an einer Hochschule in Süddeutschland IT und Management studieren, begleitet wurden (Overath i. Bearb.). Einer der sieben studierenden Geflüchteten ist Elvedin aus Aleppo in Syrien. Während seines Studiums belegte er Deutschkurse, die er zu Beginn seines Praktikums auf B2-Niveau abge‐ schlossen hatte. Obwohl die Pflichtpraktika vorzugsweise fachintern, bei El‐ vedin also im IT - oder Managementbereich, absolviert werden sollen, arbeitete Elvedin fachfremd im Vertrieb eines Unternehmens, das Steinböden vertreibt und keine IT -Abteilung besitzt. So übernahm er in dem internationalen Online‐ vertrieb von Steinböden, der sich als Direktvertrieb an den Kunden als Endver‐ braucher richtet, den Musterversand, die Bearbeitung des Warenausgangs sowie das Qualitätsmanagement. Wie für alle Praktikanten und neuen Mitarbeitenden, fand auch für ihn wöchentlich ein Feedbackgespräch mit seinem Betreuer statt. Daneben werden im Betrieb Übungen durchgeführt, in denen erfahrenere und weniger erfahrene Mitarbeitende zusammen an alltäglichen Arbeitsprozessen arbeiten und sich gegenseitig unterstützen. An den sogenannten Übungen nahmen zu dieser Zeit drei Mitarbeitende teil, die gemeinsam den Warenfluss in einem neu eingeführten Programm bearbeiteten. Hierbei ging es primär um die gegenseitige Wissensvermittlung und -aneignung der Warenfluss-Prozesse. Obwohl Teamarbeit betrieben wurde und die Hierarchie sehr flach war, trug die erfahrenste Mitarbeiterin die Verantwortung und somit auch die Entschei‐ dungsgewalt. 98 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="99"?> Während der Arbeitstreffen, aber insbesondere im Arbeitsalltag stellten die Mitarbeitenden des Unternehmens bei Elvedin große Defizite - sowohl sprach‐ lich als auch fachlich - fest, für deren Behebung sie nicht über genügend Res‐ sourcen verfügten. Allgemein war auffällig, dass Elvedin Erklärungen von Sach‐ verhalten und Aufgaben zustimmte und Verstehensdisplays produzierte, obwohl er nicht alles verstanden hatte. So kam es auch zu Situationen, in denen er seine Aufgaben begann oder sogar vollendete, ohne sie richtig verstanden zu haben und sie somit wiederholen musste. Insbesondere bei der Kommunikation zwischen ihm und den L1-Sprechern wurden Probleme hinsichtlich der Rezep‐ tion, aber auch der Produktion sichtbar: Die größten Schwierigkeiten, die sich auf das Verstehen der Kommunikation ausübten, waren im semantischen Gehalt verankert. So hatte Elvedin Probleme im Verstehen von Vokabular - v. a. Fach‐ vokabular - sowie bei der Produktion, was zu Miss- oder Nichtverstehen, Wort‐ suchen, Okkasionalismen und dem Vertausch der einzelnen Komponenten eines Wortes führte. Ebenso konnten große Defizite in seinem Grammatikgebrauch festgestellt werden. Neben der dem Gebrauchsstandard entsprechenden Ver‐ wendung des Kasus, Numerus, Genus und der Präpositionen zeigte Elvedin v. a. Probleme bzgl. der Flexion und Zeitform der Verben sowie der Bildung von Ne‐ gationen auf. Obwohl diese i. d. R. keine Verständnisprobleme hervorrufen, er‐ schwerten sie insbesondere kombiniert mit syntaktischen Schwierigkeiten wie der Produktion eines Satzes mit adäquater Wortabfolge das Verstehen des von Elvedin Geäußerten. Eine besondere Herausforderung war die Schriftsprache. Sie war insofern ein wichtiger Bestandteil seines Tätigkeitsbereichs, als es zu Elvedins Arbeitsalltag gehörte, Leitfäden zu rezipieren und umzusetzen, Kommentare zu einzelnen Warenausgängen zu verfassen und am E-Mail-Verkehr teilzunehmen. Letzteres betraf nicht nur den unternehmensinternen Schriftverkehr, sondern v. a. auch die Kundenkommunikation. Während für die Aufgaben des Warenflusses be‐ reits vorhandene Textvorlagen nur minimal abgeändert werden müssen, war bei einzelnen Projekten, die Elvedin zugetragen wurden, der E-Mail-Kontakt mit Kunden und Geschäftspartnern und das eigenständige Verfassen individueller E-Mails unvermeidbar und somit elementarer Bestandteil seines Arbeitsalltags: Unsicherheiten bestanden beim Verstehen von Inhalten der E-Mails, die durch Fragen wie „Was steht da“ oder durch kurze, inhaltlich nicht richtig wiederge‐ gebene Zusammenfassungen seinerseits deutlich wurden. Insbesondere Letzteres zeigte auf, dass sein Verständnis vom Inhalt der E-Mails oft zu vom Un‐ ternehmen nicht erwünschten und vom Verfasser der E-Mail nicht beabsich‐ tigten Handlungen geführt hätte. Neben der Rezeption war es jedoch v. a. das Schreiben von E-Mails, das ihm Schwierigkeiten bereitete. So traten Unsicher‐ 99 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="100"?> heiten bei der Produktion der Sprache wie bspw. der Rechtschreibung, der mor‐ phologisch und syntaktisch adäquaten Formulierung eines Satzes sowie bzgl. formaler Aspekte wie der Wahl der Gruß- und Abschiedsformel auf. Das folgende Transkript ist ein Beispiel dafür, wie Elvedin ( ES ) seine Unsi‐ cherheit bzgl. der Anredeform in E-Mails anzeigt. Es ist einer Übung der Dis‐ tributionslogistik entnommen und erfolgt auf das Verfassen einer E-Mail, in der Elvedins Kollege Theo die Anrede „sehr geehrter“ gebraucht. 100 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="101"?> Abb. 5 (in Zeile 388): links die Kollegin MM, mittig der Geflüchtete ES, rechts der Kollege TB. Obwohl Elvedin an dieser Stelle nicht selbst eine E-Mail verfassen und aktiv werden muss, verfolgt er den Schreibprozess und fokussiert die Form der E-Mail. Hierbei stellt er eine Unsicherheit bzgl. der verwendeten Anredeform fest, die er mit der Frage „sehr ge EHR ter oder guten tAg? “ (388) als ersten Teil eines adjacency pairs verdeutlicht und somit eine Antwort anfordert. Diese erfolgt im Anschluss von seiner Kollegin Melanie ( MM ) in Form einer längeren Erklärung (390-400). Die Ausführlichkeit der Antwort zeigt Melanies Bemühen, Elvedin die Antwort möglichst verständlich darzulegen. Es wird somit zum einen deut‐ lich, dass der L2-Sprecher wie auch die L1-Sprecherin aktiv zum Verstehens‐ prozess beitragen, indem der L2-Sprecher eine Lücke in seinem Sprachwissen aufzeigt und die L1-Sprecherin diese durch die Vermittlung des fehlenden Wis‐ sens zu schließen versucht. Zum anderen kann diesem Beispiel auch entnommen werden, dass die Schwierigkeiten Elvedins beachtet, ernst genommen und ad hoc bearbeitet werden. Den Schwächen Elvedins wurde vom Unternehmen auf unterschiedliche Art und Weise entgegengewirkt: Fachliche Wissenslücken wurden systematisch versucht zu schließen und sprachliche Hilfestellung wurde ad hoc wie in Beispiel (4) gegeben. So wird jedem neuen Mitarbeitendem im Unternehmen durch Feedbackgespräche, Übungen und Schulungen die Möglichkeit zur Fachwissensaneignung und Verbesserung der beruflichen Tätigkeiten geboten. Wäh‐ rend die regelmäßig stattfindenden Schulungen den neuen Mitarbeitenden the‐ 101 Praktiken der Sprachvermittlung am Arbeitsplatz <?page no="102"?> oretisches Wissen über die zu verkaufenden Produkte vermitteln, schulen sich die Mitarbeitenden in Übungen, die teilweise mehrmals die Woche stattfinden, mittels Teamarbeit in einzelnen Arbeitsprozessen. Durch die wöchentlich durchgeführten Feedbackgespräche erhalten sie zudem Rückmeldung und Ver‐ besserungsvorschlägen zu ihren bis dahin ausgeführten Arbeitsprozessen. Somit findet eine systematische und regelmäßige Informationsübermittlung von Fachwissen statt, die Unsicherheiten und Schwierigkeiten entgegenwirkt. Diese systematische Wissensvermittlung wird auf der fachlichen Ebene und für jeden neuen Mitarbeitenden - losgelöst davon, ob Deutsch die Erst- oder Zweitsprache ist, - durchgeführt. Die Vermittlung von Sprachwissen für L2-Sprecher unter‐ liegt in dem Unternehmen dagegen keiner Systematik. Die L1-Sprecherinnen und -Sprecher reagierten ad hoc, wenn sie ein Problem bei Elvedin vermuteten. Dies geschah auf zwei verschiedenen Arten: zum einen als Initiatoren agierend und zum anderen reagierend. Während Ersteres bzgl. der Schriftsprache nicht vorkam, lässt sich das reaktive Verhalten frequent in zwei verschiedenen Kon‐ texten finden, nämlich als Reaktion auf einen Fehler, den Elvedin machte, oder responsiv auf eine Frage oder non-verbales Verhalten des L2-Sprechers hin, das anzeigt, dass er Verstehensprobleme hat. In den Übungen von Elvedin wurde also Wissen zur Schriftsprache - wie auch Sprachwissen generell - ad hoc vermittelt. Dabei waren L1sowie L2-Spre‐ chende aktiv an dem Prozess der Wissensvermittlung beteiligt: Entweder die L1- oder der L2-Sprecher erkannten Schwierigkeiten oder Missverständnisse seitens des L2-Sprechers und thematisierten diese. Daraufhin versuchte der L1-Sprecher sie zu lösen. Obwohl das Bemühen um die Wissensvermittlung ad hoc ebenso zu erkennen war wie die sich wiederholenden Schwierigkeiten El‐ vedins, wurden keine systematische Lehreinheiten vorgenommen, um diese Probleme im Allgemeinen zu behandeln. Weder wurde Elvedin allgemein über die Formalitäten und wichtigen Informationen zum Verfassen von E-Mails oder explizit den Aufbau und Inhalt der vorgefertigten E-Mails belehrt, noch wurde ihm systematische Hilfestellung zum Erlernen wichtiger Vokabeln gegeben, z. B. in Form von Vokabellisten. Der Betrieb wurde während der Übungen also nur situationsbedingt zum Sprachlernort, wobei sich hier weitestgehend auf Details der Sprachproduktion fokussiert wurde, anstatt das Problem in seinem Ursprung oder seiner Ganzheit systematisch zu beheben. 4 Ausblick Unsere ethnografischen Begleitstudien und Analysen in diesem Beitrag zeigen, dass die Betriebe und Ausbildenden unterschiedlich gut darauf vorbereitet sind, 102 Ibrahim Cindark & Santana Overath <?page no="103"?> die Verständigung am Arbeitsplatz sicherzustellen und den Spracherwerb der Geflüchteten zu unterstützen. Häufig ist zu beobachten, dass die Ausbildenden in Lehr-Lern-Interaktionen mit Sprachlernenden überfordert sind und neben der Fachvermittlung kaum oder nur ad hoc-Sprachvermittlung betreiben. In ei‐ nigen anderen Fällen gelingt es aber den Ausbildenden, die Herausforderungen zu meistern, und systematisch das gegenseitige Verstehen sicherzustellen und neben der Fachvermittlung auch Sprachvermittlung zu betreiben. Aufgrund un‐ serer ethnografischen Untersuchungen nur von einigen Betrieben bzw. Maß‐ nahmen, können lediglich die prototypischen Ausprägungen der Vermittlungs‐ praktiken, wie wir sie hier vorgestellt haben, ermittelt werden. Für die Herausarbeitung einer Systematik bzgl. der Fragen, wovon diese Praktiken in‐ dividuell oder betrieblich abhängen, wie z. B. die jeweiligen Hintergründe und Kenntnisse der Ausbildenden hinsichtlich der Verknüpfung von berufsfach‐ sprachlichem und sprachlichem Lernen am Arbeitsplatz sind bzw. die gewählte Praktik von dem Grad der entsprechenden Vorkenntnisse abhängt, müsste eine breiter angelegte Studie zu vielen Betrieben und Ausbildern durchgeführt werden. Solche empirischen Ergebnisse könnten als Grundlage genommen werden, die Ausbildenden als potenzielle Sprachmentoren zu betrachten, die hinsichtlich der Sprachvermittlung sensibilisiert und geschult werden könnten, um in Zukunft die Betriebe verstärkt zu Sprachlernorten zu machen. 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Referring to the study by Borowski (2018b), it describes the language acquisition of three anesthetists and identifies the challenges to be faced when making use of hospitals as language learning locations. The look at the po‐ tentials concerning language acquisition for this specific purpose will show, however, why these potentials clearly outweigh the challenges. Finally, pos‐ sibilities will be presented how the principles of workplace-related language teaching as well as the approach of content and language integrated learning ( CLIL ) can be implemented in language courses and coaching in hospitals. Keywords: german for vocational purposes, communication in medicine, physician-patient interaction, language coaching on the job, transcripts of interaction in language teaching 1 Einleitung Die Zahl der ausländischen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland beläuft sich laut Ärztestatistik der Bundesärztekammer derzeit auf über 58.000. Für die er‐ folgreiche berufliche Handlungsfähigkeit dieser Ärztinnen und Ärzte sind an‐ gemessene sprachlich-kommunikative Kompetenzen eine zentrale Vorausset‐ zung und dienen nicht zuletzt der Patientensicherheit. Es erstaunt daher nicht, dass zunehmend mehr Sprachkurse und Lernmaterialien für diese Zielgruppe zur Verfügung stehen. Allerdings wurde die Sprachkompetenz von Ärztinnen und Ärzten mit Deutsch als Zweitsprache in der linguistischen Forschung bisher nur unzureichend betrachtet (Borowski 2018b: 40-51). <?page no="107"?> Im Beitrag wird auf der Grundlage der Studie von Borowski (2018b) aus fach‐ wissenschaftlicher Perspektive die Institution Krankenhaus als Sprachlernort in den Blick genommen mit dem Ziel, fachdidaktische Implikationen für berufs‐ bezogene Sprachlernangebote zu entwickeln. Bei der Studie handelt es sich um die erste Untersuchung, die authentische Arzt-Patienten-Interaktion (hier Prä‐ medikationsgespräche) mit Anästhesistinnen und Anästhesisten in den Blick nimmt, die Deutsch als Zweitsprache sprechen. Zunächst wird die Studie knapp beschrieben. Im Anschluss werden Herausforderungen und Potenziale des Krankenhauses als Sprachlernort betrachtet. Dabei werden die Rahmenbedin‐ gungen der Prämedikationsgespräche und zentrale Ergebnisse der Studie skiz‐ ziert. Es wird beschrieben, wie sich der Spracherwerb am Arbeitsplatz für drei Anästhesistinnen und Anästhesisten gestaltet hat, welche Strategien für den Umgang mit den sprachlichen Herausforderungen sie entwickelt haben und welche Rolle sprachbezogenes Feedback durch Kolleginnen und Kollegen sowie Patientinnen und Patienten spielt. Deutlich wird, dass vorhandene Potenziale des Krankenhauses als Sprachlernort - insbesondere der unmittelbare Zugang zu authentischen Kommunikationskontexten und -medien - von den Ärztinnen und Ärzten nicht genutzt werden. Vor diesem Hintergrund werden zuletzt zwei Perspektiven zur Nutzbarmachung des Krankenhauses als Sprachlernort be‐ trachtet. 2 Studie im Überblick Im Folgenden wird ein knapper Überblick über die Studie gegeben, die diesem Beitrag zugrunde liegt. Eine ausführliche Darstellung zur wissenschaftstheore‐ tischen Verortung, Datenerhebung, -aufbereitung und -analyse findet sich bei Borowski (2018b: 21-147). • Ziel: Die Studie sollte Erkenntnisse über den Einfluss mangelnder Deutschkompetenzen von Ärztinnen und Ärzten mit Deutsch als Zweit‐ sprache auf ihre Prämedikationsgespräche hervorbringen. Diese Er‐ kenntnisse können für die Didaktik der berufsbezogenen Deutschförde‐ rung nutzbar gemacht werden. • Verortung: In der Studie wird die Forschung zu Arzt-Patienten-Interakti‐ onen mit der Zweitspracherwerbsforschung verbunden. Es handelt sich um eine gesprächsanalytische Studie mit ethnomethodologischer Rah‐ mung, die sich an workplace studies (Bergmann 2006) anlehnt. • Studienteilnehmende: An der Studie haben zwölf Patientinnen und Pati‐ enten teilgenommen sowie drei Anästhesistinnen und Anästhesisten. Die Ärztinnen und Ärzte sprechen Deutsch als Zweitsprache und haben ihr 107 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="108"?> Medizinstudium in Rumänien, Italien und Ägypten absolviert. Ihre Erst‐ sprachen sind Rumänisch, Englisch / Igbo (Niger-Kongo-Sprache) und Arabisch. Die Ärztin, die in Italien studiert hat, spricht Italienisch als Zweitsprache und hat auf Englisch studiert. Zum Zeitpunkt der Daten‐ erhebung hatten sie bereits zwischen drei und fünf Jahren an Kranken‐ häusern in Deutschland gearbeitet. • Primärdaten: Für die Studie wurden im laufenden Klinikalltag zwölf am‐ bulante Prämedikationsgespräche (d. h. anästhesiologische Anamnese- und Aufklärungsgespräche) mit je drei statischen Kameras gefilmt - vier Gespräche pro Ärztin bzw. Arzt. Es wurde bei der Datenerhebung beson‐ ders darauf geachtet, die Abläufe in der Klinik so wenig wie möglich zu beeinflussen. • Aufbereitung der Primärdaten: Die Prämedikationsgespräche wurden mit dem Transkriptionsprogramm EXMAR a LDA nach der GAT 2-Konven‐ tion (Selting et al. 2009) transkribiert. Da im Beitrag einige Transkriptausschnitte abgebildet werden, sind die verwendeten Transkriptionszei‐ chen in Tabelle 1 abgebildet. • Analyse der Primärdaten: Für die Analyse der Prämedikationsgespräche wurde im Rahmen der Studie eine Kombination aus Fehler- und Ge‐ sprächsanalyse angewendet. Anders als bei Ellis / Barkhuizen (2005) wurden die beiden Analysen zunächst getrennt durchgeführt und erst im Anschluss die Ergebnisse miteinander in Beziehung gesetzt. Anhand der dokumentierten Gespräche wurde keine Einschätzung der Sprachkom‐ petenz bzw. des Sprachniveaus der Ärztinnen und Ärzte vorgenommen. Das Ziel war es dagegen anhand der Kombination aus Fehler- und Ge‐ sprächsanalyse festzustellen, welche sprachlichen Fehler in den Äuße‐ rungen der Anästhesistinnen und Anästhesisten auftauchen und welchen Einfluss diese Normabweichungen auf die Gespräche haben. Als sprach‐ licher Fehler wurde in Anlehung an Baur et al. 2017 alles verstanden, was in Bezug auf Phonetik / Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik oder Pragmatik von der Norm eines Prämedikationsgespräches abweicht (Bo‐ rowski 2018b: 115-119). Die Norm definiert sich dabei über den speziellen Gesprächstyp und die gegebenen Rahmenbedingungen: Es handelt sich zunächst um gesprochene Sprache. Darüber hinaus handelt es sich um spezielle institutionalisierte, asymmetrische Gespräche, in denen be‐ stimmte festgelegte Handlungsziele verfolgt werden (Borowski 2018b: 51-61; Klüber 2015; Klüber et al. 2012). So entsprechen beispiels‐ weise elliptische Äußerungen wie „Fragen dazu? “ der Norm von Präme‐ dikationsgesprächen und wurden daher nicht als syntaktische Fehler ver‐ 108 Damaris Borowski <?page no="109"?> standen. Prämedikationsgespräche zeichnen sich sowohl durch Merkmale des alltagssprachlichen als auch durch solche des fach-/ berufs‐ sprachlichen Registers aus (zur Sprache im Beruf siehe Efing et al. 2014). • Sekundärdaten: Die Sekundärdaten wurden ausschließlich ergänzend er‐ hoben, um ein tieferes Verständnis von den Abläufen in den Prämedika‐ tionsgesprächen (also den Primärdaten) zu erlangen: • Im Anschluss an die Erhebung der Primärdaten wurden mit den Ärz‐ tinnen und Ärzten leitfadengestützte Einzelinterviews (mit einer Dauer zwischen 28 und 45 Minuten) durchgeführt. Anhand der In‐ terviews wurden die Spracherwerbsbiografien und die Perspektive der Ärztinnen und Ärzte auf ihre Sprachkompetenz und die Präme‐ dikationsgespräche erhoben. Von den Interviews wurden Audioauf‐ nahmen gemacht und diese transkribiert. • Nach jedem dokumentierten Prämedikationsgespräch wurden die Pa‐ tientinnen und Patienten um eine mündliche Einschätzung des je‐ weiligen Gespräches gebeten. Alle Patientinnen und Patienten haben eine solche Einschätzung abgegeben. Aus ethischen und rechtlichen Gründen wurden diese Gespräche nicht aufgezeichnet, sondern es wurden lediglich handschriftliche Notizen verfasst. • Nach jedem dokumentierten Prämedikationsgespräch haben die Ärz‐ tinnen und Ärzte eine knappe schriftliche Einschätzung zu dem je‐ weiligen Gespräch notiert. Dafür lagen ihnen Einschätzungsbögen vor. • Alle Unterlagen (ausgefüllte Aufklärungs- und Anamnesebögen, An‐ ästhesieprotokolle und ggf. Teile der Patientenakten), die vor, wäh‐ rend und nach den Gesprächen zum Einsatz gekommen sind, wurden kopiert und anonymisiert. • Vor, während und nach den Prämedikationsgesprächen wurden Be‐ obachtungen in Form von Feldnotizen verfasst. Diesen Feldnotizen konnten hilfreiche Informationen zu den Gesprächen entnommen werden, die von den Kameras nicht erfasst werden konnten (z. B. Schwierigkeiten der Ärztinnen und Ärzte mit der Software des Ar‐ beitscomputers). (.) Minipause (-) geschätzte Pause unter einer Sekunde (- -) geschätzte Pause über einer Sekunde (0.5) gemessene Pause 109 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="110"?> und_h hm_hm Verschleifung = unmittelbarer Anschluss eines neuen Segments (latching) ’hm’hm mit Glottalverschlüssen (meist verneinend) : Dehnung ne: Verneinung ne↑ tag-question äh öh gefüllte Pausen haha hehe hihi silbisches Lachen (der Deskription vorgezogen) () unverständliche Passage (XXX) unverständliche Passage mit Silbenanzahl (XXX …) unverständliche Passage mit mehreren Silben, Anzahl unklar XXX Namen (abgesehen von A und P) mit Silbenanzahl (wichtig) vermuteter Wortlaut (wichtig / nichtig) mögliche Alternativen akZENT verhältnismäßig auffällige Akzentuierung ↑ Intonation steigend ↓ Intonation fallend → Intonation gleichbleibend (meist turn noch nicht beendet) h° hörbares Ausatmen °h hörbares Einatmen <<p> > verhältnismäßig leise <<f> > verhältnismäßig laut Tab. 1: Transkriptionszeichen (nach Selting et al. 2009) 3 Krankenhaus als Sprachlernort - Herausforderungen und Potenziale Im Folgenden werden die Herausforderungen und Potenziale des Kranken‐ hauses als Sprachlernort für Anästhesistinnen und Anästhesisten betrachtet. Es wird ein für diese Zielgruppe zentraler Gesprächstyp - das Prämedikationsge‐ 110 Damaris Borowski <?page no="111"?> spräch - genauer in den Blick genommen. Die Rahmenbedingungen und die Ergebnisse der gesprächs- und fehleranalytischen Untersuchung in diesem Kon‐ text werden präsentiert. Auf der Grundlage dieser Analyseergebnisse und der Interviews mit den Gesprächsteilnehmenden wird beschrieben, wie sich der Spracherwerb am Arbeitsplatz für die Anästhesistinnen und Anästhesisten ge‐ staltet hat, welche Strategien sie entwickelt haben und welche Rolle Feedback durch Kolleginnen und Kollegen sowie Patientinnen und Patienten spielt. 3.1 Rahmenbedingungen Prämedikationsgespräche sind rechtlich vorgeschriebene Arzt-Patienten-Ge‐ spräche, die vor einem operativen Eingriff durchgeführt werden (Klüber et al. 2012: 240). Die zentralen Handlungsziele dieser Gespräche sind die Anamnese und auf dieser Grundlage die Entscheidung über das anzuwendende Anästhe‐ sieverfahren sowie die angemessene Information über (das bevorzugte und al‐ ternative) Anästhesieverfahren und die daraus resultierende informierte Ein‐ willigung (informed consent) der Patientin bzw. des Patienten (Klüber et al. 2012: 240; Striebel 2020: 3-6; Borowski 2018b: 52 ff.). Zu den zentralen Hand‐ lungszielen von Prämedikationsgesprächen wird darüber hinaus die Verminde‐ rung von Angst und Nervosität gerechnet (siehe beispielsweise Striebel 2020: 3). Auf der Grundlage der Systematik von Nowak (2010) konnten sechs Stan‐ dardkomponenten in den dokumentierten Prämedikationsgesprächen identifi‐ ziert werden. Abbildung 1 veranschaulicht anhand dieser Komponenten den typischen Ablauf eines Prämedikationsgespräches. Abb. 1: Standardkomponenten anästhesiologischer Aufklärungsgespräche (Borowski 2019: 182) 111 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="112"?> Bei den Prämedikationsgesprächen kommen verschiedene Unterlagen zum Ein‐ satz (Striebel 2020: 3,151; Borowski 2018b: 54 ff.): Vor dem Gespräch tragen die Patientinnen und Patienten im Aufklärungs- und Anamnesebogen Antworten auf eine umfangreiche Liste anamnestischer Fragen ein und können sich anhand des Bogens über relevante Anästhesieverfahren informieren. Im Gespräch geht die Ärztin bzw. der Arzt den Bogen mit den Patientinnen und Patienten noch einmal durch. Die Patientinnen und Patienten geben auf der letzten Seite mit ihrer Unterschrift ihre Einwilligung in das Anästhesieverfahren. Die Ärztinnen und Ärzte bestätigen durch ihre Unterschrift, dass die Patientinnen und Pati‐ enten angemessen informiert wurden. Vor und während des Prämedikations‐ gespräches können verschiedene Unterlagen (Arztbriefe, Berichte, Teile der Pa‐ tientenakte) zum Einsatz kommen. Diesen Unterlagen werden von den Ärztinnen und Ärzten relevante Informationen für die Anästhesie entnommen. Nach dem Gespräch verfassen die Ärztinnen und Ärzte anhand einer einseitigen Vorlage das Anästhesieprotokoll, das sowohl medizinische als auch juristische Relevanz hat. Die Vorlage besteht aus Feldern für knappe Angaben (z. B. Ge‐ wicht: 80 kg) und Feldern für kürzere Texte bzw. Stichpunkte z. B. zu anästesie‐ relevanten Erkrankungen und vorangegangenen Operationen (Borowski 2018b: 100-103). Bei den dokumentierten Gesprächen handelt es sich um ambulante Präme‐ dikationsgespräche, d. h. die Patientinnen und Patienten kommen zu dem Ge‐ spräch in die Klinik und verlassen diese nach dem Gespräch wieder. Am Ope‐ rationstag nimmt die zuständige Anästhesistin bzw. der zuständige Anästhesist anhand der Gesprächsdokumentation die Anästhesie vor. In der Regel handelt es sich dabei nicht um die Person, die das Prämedikationsgespräch durchgeführt hat. So sind die Prämedikationsgespräche häufig der erste und einzige Kontakt der Anästhesistinnen und Anästhesisten mit den Patientinnen und Patienten (Borowski 2018b: 54 ff.). Im Zusammenhang mit den Prämedikationsgesprächen kommt an der Klinik, an der die Daten erhoben wurden, auch ein Computer‐ programm zum Einsatz. Beispielsweise werden über das Programm Termine geplant oder Voruntersuchungen angemeldet. Verschiedene Ärztinnen und Ärzte beschweren sich, dass die Steuerung des Programms weder intuitiv ist noch immer funktioniert (Borowski 2018b: 132 f., 139). Die Schwierigkeiten mit dem Programm führen auch bei den dokumentierten Prämedikationsgesprä‐ chen zum Teil zu kleineren Irritationen (z. B. Borowski 2018b: 298-302). Darüber hinaus sehen die Ärztinnen und Ärze es kritisch, dass sie während der Gespräche auf zwei Diensthandys reagieren müssen und ggf. in den Kreis- oder Operati‐ onssaal gerufen werden können (Borowski 2018b: 69 f., 139, 233-241). 112 Damaris Borowski <?page no="113"?> 3.2 Zentrale Ergebnisse Die Analyse der dokumentierten Prämedikationsgespräche mit drei Anästhe‐ sistinnen und Anästhesisten mit Deutsch als Zweitsprache, die bereits zwischen drei und fünf Jahren an deutschen Krankenhäusern arbeiten, kommt zu den folgenden zentralen Ergebnissen (Borowski 2018b: 356-366): • In den mündlichen Äußerungen der drei Ärztinnen und Ärzte während der dokumentierten Prämedikationsgespräche konnte eine erhebliche Anzahl sprachlicher Fehler, d. h. Normabweichungen (vgl. Kap. 2) auf verschiedenen Ebenen (Syntax, Morphologie, Phonetik / Phonologie, Lexik und Pragmatik) identifiziert werden. • Häufungen von sprachlichen Fehlern konnten auch in den Standardele‐ menten der Prämedikationsgespräche beobachtet werden. Unter Stan‐ dardelementen werden hier spezielle interaktive Handlungen verstanden, die in Prämedikationsgesprächen sehr häufig auftreten (etwa das Auf‐ klären über die Risiken einer Allgemeinanästhesie) und die von den Ärz‐ tinnen und Ärzten in der Regel mehrfach täglich im selben Wortlaut re‐ produziert werden. • Neben typischen sprachlichen Fehlern von Deutschlernenden fallen bei den drei Ärztinnen und Ärzten jeweils individuelle Normabweichungen auf. So fällt etwa in den Äußerungen von A102 eine ungewöhnliche Pau‐ sensetzung auf und bei A103 erschwert die hohe Sprechgeschwindigkeit das Verstehen. • Es konnte nachgewiesen werden, dass einige der auftretenden sprach‐ lich-kommunikativen Fehlleistungen beachtliche Störungen im Interak‐ tionsgeschehen hervorrufen, die vielfach sogar zum partiellen Scheitern der Interaktion führen. • Weiter konnte gezeigt werden, dass die Gespräche von unzureichender Verstehenssicherung geprägt sind. Dies führt zu einer Beeinträchtigung des übergeordneten Handlungsziels - des informed consent (siehe dazu auch Borowski et al. 2019). • Die Analyse der Interviews mit den Ärztinnen und Ärzten in Zusam‐ menhang mit der Analyse der dokumentierten Prämedikationsgespräche legen die Annahme nahe, dass nach dem Einstieg in die Praxis der Sprach‐ erwerb nach einem ersten Zuwachs stagniert. Zum Teil beschreiben die Ärztinnen und Ärzte in den Interviews ihren Spracherwerb gar als rück‐ läufig (Borowski 2018a: 282). Durch die Analyse der Interviews und Prä‐ medikationsgespräche konnte gezeigt werden, dass sprachliche Fehler in diesem Kontext nicht wahrgenommen, reflektiert oder bearbeitet werden - stattdessen scheinen sie sich weiter einzuschleifen. 113 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="114"?> Anhand des folgenden Datenbeispiels (Borowski 2018a: 41 f.) soll ein Einblick in die Häufung sprachlicher Fehler in Standardelementen der Prämedikationsge‐ spräche gegeben werden. Das gesamte Gespräch zwischen der Ärztin A101 und dem Patienten P104 dauert 06: 51 Minuten (Borowski 2018a: 36-47). Im Gespräch klärt die Ärztin den Patienten über die axilläre Plexusanästhesie (Teilnarkose, die in die Achselhöhle injiziert wird) auf, als das zu bevorzugende Anästhesieverfahren bei der ihm bevorstehenden Operation (Osteosynthese nach Knochenbruch am linken Arm). Nachdem der Patient eine mündliche Einwilligung in dieses Anästhesie‐ verfahren gegeben hat (siehe Segment 110 im folgenden Transkriptausschnitt), beschreibt die Ärztin den Ablauf der Anästhesie am Operationstag (siehe Seg‐ mente 112 bis 127): [36] 109 [02: 45.7] 110 [02: 46.5] 111 [02: 47.1] 112 [02: 47.6] A101 [v] das ist klar ja o: ke: also wie läuft das ab↑ ich erkläre es P104 [v] dann mache ich das so [pnv] A101 nickt. A101 schlägt den Fragebogen auf und dreht ihn P104 hin. P104 [37] .. 113 [02: 52.0] 114 [02: 55.7] A101 [v] ihnen über (.) das bild das ist hier in de aktik wo eh da liegt die nerven die den den [pnv] schaut auf den Bogen. A101 zeigt mit dem Kuli auf Abb. 1: Axilläre Plexusanästhesie. A104 greift an [38] .. 115 [02: 57.2] 116 [02: 58.0] A101 [v] ganzen arm versorgt mit hilfe unser ultraschallsgerät kann man genau P104 [v] ja [pnv] ihren rechten Unterarm. [39] .. 117 [03: 03.2] 118 [03: 03.9] A101 [v] definieren wo die nerven sind und wenn wir die nerven erwischen P104 [v] o: ke: ja [40] .. 120 [03: 06.3] 121 [03: 08.1]122 [03: 08.8] 123 [03: 09.2] A101 [v] wird_n lokalbetäubung gespritzt wann P104 [v] super wird wird das zuerst öh irgendwie [pnv] P104 deutet auf die Abbildung. [41] 124 [03: 10.8] 125 [03: 11.7] 126 [03: 12.1] 127 [03: 13.0] A101 [v] wird das gemacht↑ genau bevor sie überhaupt in o: be reinfahren P104 [v] angetäubt bevor ah o: ke: [pnv] P104 deutet auf seine linke Achselhöhle. Abb. 2: Ausschnitt aus dem Prämedikationsgespräch zwischen A101 und P104 (Borowski 2018a: 41 f.) In diesem kurzen Ausschnitt macht die Ärztin zahlreiche Fehler auf verschie‐ denen sprachlichen Ebenen. Im Folgenden werden einige beispielhaft heraus‐ 114 Damaris Borowski <?page no="115"?> gegriffen: Im Segment 113 verwendet die Ärztin aktik anstelle des Wortes Achsel. Die im Rahmen der Studie durchgeführte Fehleranalyse legt nahe, dass es sich bei dieser Ärztin hier nicht um einen Fehler auf der Ebene der Pho‐ netik / Phonologie handelt, sondern um einen Fehler auf der Ebene der Lexik (Borowski 2018b: 167-183). Die Ärztin scheint eine unpassende Lautgestalt für das Wort Achsel abgespeichert zu haben. Ein Beispiel für einen morphologi‐ schen Fehler ist ultraschallsgerät (Segment 116) anstelle von Ultraschallgerätes. Bei dem Wort O: be: für OP ist sowohl die Artikulation ([b] statt [p]) als auch die Intonation (Betonung auf der ersten statt der zweiten Silbe) fehlerhaft. In An‐ lehnung an Baur et al. (2017: 272) wird im Rahmen der Studie unter pragmati‐ schen Fehlern der Gebrauch des „falsche[n] Register[s], Stilbruch oder kulturell nicht angemessenes sprachliches Verhalten“ verstanden. In Bezug auf den ge‐ gebenen Kontext, wird dementsprechend sprachliches Verhalten, das im Rahmen eines Prämedikationsgespräches unangemessen erscheint, als pragma‐ tischer Fehler verstanden. So wäre es beispielsweise unangemessen potentiell beunruhigende oder beängstigende Ausdrucksweisen zu verwenden, da dies einem zentralen Handlungsziel der Gespräche - nämlich der Verringerung von Angst - widersprechen würde (Borowski 2018b: 117). Die einschränkende In‐ formation zum Ablauf „wenn wir die nerven erwischen“ kann durchaus eine beängstigende Wirkung haben. Darüber hinaus könnte die Verwendung des eher saloppen Ausdrucks „erwischen“ suggerieren, dass der Patient (mit seiner Angst bzw. Sorge) nicht ernst genommen wird. Die Reaktion des Patienten an dieser Stelle legt nahe, dass die Äußerung tatsächlich eine beunruhigende Wir‐ kung auf ihn hat. Er fällt der Ärztin ins Wort und fragt: „wird das zuerst öh irgendwie angetäubt“. Diese Frage zeigt, dass der Patient durch die Ausführung der Ärztin nicht beruhigt wird, sondern Angst davor bekommt, bei der Injektion der Anästhesie Schmerzen erleiden zu müssen. Die folgende Äußerung der Ärztin (Segmente 126-127) versteht der Patient als Antwort auf seine Frage und nimmt nun an, dass seine Achselhöhle zuerst „angetäubt“ und danach die An‐ ästhesie injiziert wird. Zu einem späteren Zeitpunkt im Gespräch stellt sich he‐ raus, dass hier ein Missverständnis vorliegt (für eine ausführliche Darstellung hierzu siehe Borowski 2018b: 327-345). Tatsächlich hat die Ärztin mit „genau bevor sie überhaupt in O: be reinfahren“ (Segmente 126-127) lediglich ihre Be‐ schreibung des Ablaufes fortgeführt und darüber informiert, zu welchem Zeit‐ punkt die Anästhesie injiziert wird. 3.3 Learning by doing Im Rahmen der Interviews beschreiben die Anästhesistinnen und Anästhesisten, dass sie eine große Diskrepanz zwischen dem vorzuweisenden Sprachniveau 115 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="116"?> (B2-Deutsch-Zertifikat und Fachsprachenprüfung) und den sprachlichen An‐ forderungen in der Berufspraxis wahrnehmen: mit stufe be zwei die sagen das reicht und kannst du bei der prüfung gehen trotzdem stufe be zwei ich konnte kein richtige hm so ein gespräch ich und mit patient einfach ich konnte einfach das nich verstehen. (Borowski 2018b: 140) Diese Diskrepanz hat dazu geführt, dass die Ärztinnen und Ärzte die sprachli‐ chen Herausforderungen in der Berufspraxis unterschätzt und sich nicht ange‐ messen vorbereitet haben (Borowski 2018b: 139-142). Die drei Ärztinnen und Ärzte klagen auch über fehlende Zeit zum weiteren Sprachlernen nach dem Einstieg in die Praxis und fehlendes Feedback zu ihren sprachlichen Fortschritten durch Sprachlehrkräfte (Borowski 2018b: 142). A103 berichtet besonders ausführlich, wie schwer der Einstieg in die Praxis für sie war. Was von den Vorgesetzten als „learning by doing“ bezeichnet wurde, hat sie als Alleingelassensein erlebt: wir waren zu zweit dann neu (waren) und wir konnten kein deutsch und dann ich war quasi wir ha wir waren einfach mal so alleine gelassen ne einfach mal so (x) wir mussten so und so und so und so machen also spinale zu lernen und so weiter und wir sind am anfang äh mit die oberärzte gelaufen auf die intensivstation aber (ir‐ gend)wann sie haben uns alleine gelassen und sie haben gesagt learning by doing und wir sin einfach mal so wir ham so gelernt also mit dem (ja) mit den pfleger und den schwestern auf intensiv […] wir warn alleine auf intensiv war ich ganz alleine also die äh oberärzte hatten immer mit uns diese fünfzehn zwanzig minuten ähm ja diese hm sind vor die patienten gegangen und dann sie waren im ope die hatten keine zeit und wir sind alleine geblieben. (Borowski 2018a: 340 ff.) A103 beschreibt hier eindrücklich ihre Wahrnehmung, dass sie zu früh auf sich gestellt war und ihre Vorgesetzten keine Zeit für sie hatten. Sie berichtet, dass sie stattdessen Unterstützung vom Pflegepersonal in Anspruch genommen hat. Auch in Bezug auf die Prämedikationsgespräche hätte A103 sich mehr Unter‐ stützung und bessere Vorbereitung gewünscht: von anfang an ne keiner war da also die eine exoberarzt der hier war der hat einfach mal das geguckt um zu gucken um zu wissen ob ich das kann hat gesagt ah ja sie schafft das schon ich so da nein und er ah schaffst du ich war immer hier bis neun uhr ne (nur zu) prämedizieren das war schrecklich. (Borowski 2018a: 342 f.) Hier berichtet A103, dass sie Prämedikationsgespräche alleine durchführen musste, bevor sie sich dazu in der Lage fühlte. Sie schildert ihre Wahrnehmung, dass ihre geäußerte Sorge nicht ernst genommen wurde. In diesem Ausschnitt 116 Damaris Borowski <?page no="117"?> berichtet A103 darüber hinaus, dass sie in dieser Zeit „bis neun uhr“, d. h. zwölf Stunden, gearbeitet hat. Auch die anderen Ärztinnen und Ärzte berichten von vielen Überstunden besonders zu Beginn ihrer Tätigkeit. Die Ausführungen der Ärztinnen und Ärzte zeichnen das Bild eines Arbeits‐ platzes, an dem - aus der Perpektive der interviewten ausländischen Ärztinnen und Ärzte - alle Beteiligten zu hoffen scheinen, dass der Spracherwerb bei der Arbeit „irgendwie von selbst“ erfolgt. Die oben zusammengefassten Ergebnisse der Studie zeigen allerdings deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Nach drei bis fünf Jahren ist die Sprache der Ärztinnen und Ärzte durchdrungen von einge‐ schliffenen Fehlern, die zum großen Teil nicht mehr wahrgenommen werden. Um das Krankenhaus als Sprachlernort tatsächlich nutzbar zu machen, müsste zunächst eine gewisse Sensibilisierung für sprachliche Herausforde‐ rungen am Arbeitsplatz und eine Bereitschaft zur Unterstützung des Spracher‐ werbs durch das Krankenhaus erlangt werden. 3.4 Strategien für Prämedikationsgespräche Im Rahmen der Studie konnten verschiedene Strategien beobachtet werden, die von den Anästhesistinnen und Anästhesisten eingesetzt werden, um die Prä‐ medikationsgespräche zu meistern. Diese Strategien werden im Folgenden kurz beschrieben und reflektiert, inwiefern sie dazu beitragen könnten, das Kran‐ kenhaus als Sprachlernort nutzbar zu machen. 3.4.1 Auseinandersetzung mit Fachliteratur und Aufklärungs- und Anamnesebögen A103 berichtet, dass sie deutschsprachige Fachliteratur zur Anästhesie gelesen hat. Außerdem hat sie sich mit dem Aufklärungs- und Anamnesebogen der Klinik auseinandergesetzt und dem Bogen Formulierungsbeispiele für die Pati‐ entengespräche entnommen: dann hab ich nochmal wieder ähm die risiken gelesen im im buch und dann unseren aufklärungsbogen hab ich gedacht ach guck mal konnte (da man) so und so (nicht) mit medizinischer sprache aber mehr mit diese äh volkssprache wie wie kann man so (xx). (Borowski 2018a: 334 f.) Die Auseinandersetzung mit der in diesem Kontext gängigen deutschsprachigen Fachliteratur und den im jeweiligen Krankenhaus verwendeten Unterlagen (hier der Aufklärungs- und Anamnesebogen) ist sicherlich ein nützlicher Weg, um das Krankenhaus als Sprachlernort zu nutzen. Man könnte hier von einer Art Erkundung des Arbeitsplatzes durch die Sprachlernenden sprechen, wie sie auch im Rahmen von Sprachbedarfsermittlungen vorkommen (Weissenberg 2012). Krankenhäuser könnten neue ausländische Ärztinnen und Ärzte hierbei unter‐ 117 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="118"?> stützen, indem sie eine Sammlung authentischer Materialien (etwa in Form einer kleinen Bibliothek) zur Verfügung stellen. Eine solche Sammlung könnte Fol‐ gendes beinhalten: • gängige deutschsprachige Fachliteratur, • eine Liste mit in diesem Kontext verwendeten Abkürzungen, • Unterlagen und Vorlagen, die in diesem Krankenhaus verwendet werden, • Musterbeispiele für Texte, die von den Ärztinnen und Ärzten produziert werden müssen (hier z. B. Anästhesieprotokolle), • Beispiele für Patientenakten. Eine Einführung in das Material durch eine Kollegin oder einen Kollegen und eine Ansprechperson für Fragen zu dem Material wäre sicherlich hilfreich. Auch im Rahmen von berufsbegleitenden Sprachkursen oder -coachings am Arbeits‐ platz könnten diese Materialien genutzt werden. Allerdings genügt eine Ausei‐ nandersetzung allein mit geschriebener Sprache nicht, um Prämedikationsge‐ spräche angemessen führen zu können. In den dokumentierten Gesprächen konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die starke Orientierung an dem Aufklärungs- und Anamnesebogen zu einer unzureichenden Patientenorientie‐ rung führt (siehe beispielswiese Borowski 2018b: 302 f.). 3.4.2 Standardelemente auswendig lernen A102 erklärt, dass er Standardelemente (vgl. Kap. 3.2) zu Beginn seiner Tätigkeit in Deutschland auswendig gelernt und diese in den Gesprächen lediglich re‐ produziert hat: die aufklärung im sinne ähm das lernst du auswendig und kannst du einfach immer das gleiche sagen und das ist einfach ich hab das ehrlich am anfang auswendig gelernt und ich hab die einfach so gesagt und mit mit der zeit ist natürlich besser geworden ja und dann konnte ich mich richtig äußern wie ich wollte. (Borowski 2018a: 285) Tatsächlich finden sich in den Gesprächen aller drei Ärztinnen und Ärzte of‐ fensichtlich auswendig gelernte Passagen. Allerdings hat sich in den Gesprä‐ chen (wie unter Kap. 3.2. beschrieben) gezeigt, dass zum Teil eine auffällige Häufung von Fehlern in den Standardelementen auftauchen. Es ist davon aus‐ zugehen, dass sprachliche Fehler gerade in diesen Elementen nicht mehr wahr‐ genommen und durch die ständige Wiederholung weiter eingeschliffen werden. Zielführend wäre es, das Auswendiglernen von Standardelementen für den Ein‐ stieg in die Berufspraxis zu nutzen, gleichzeitig aber dem Einschleifen von Feh‐ lern entgegenzuwirken. Dazu könnten authentische Beispiele für gelungene Prämedikationsgespräche im Krankenhaus dokumentiert und (bei Vorliegen 118 Damaris Borowski <?page no="119"?> einer entsprechenden Einwilligung der Gesprächsteilnehmenden) neuen aus‐ ländischen Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung gestellt werden (als Video und als Transkript). Neue ausländische Ärztinnen und Ärzte könnten sich an diesen Mustern orientieren und auch Teile dieser Gespräche auswendig lernen. Auch dieses Material könnte in berufsbegleitenden Sprachkursen oder -coachings am Arbeitsplatz zum Einsatz kommen. Darüber hinaus könnte eine Sprachlehrkraft im Rahmen eines Sprachcoachings die Ärztinnen und Ärzte in regelmäßigen Abständen bei einigen Prämedikationsgesprächen begleiten und ihnen eine Rückmeldung zu ihrer sprachlichen Umsetzung geben. Auf diese Weise ließe sich dem Wiederholen von Fehlern über einen langen Zeitraum entgegen‐ wirken. 3.4.3 Lesen vorliegender Unterlagen A101 berichtet, dass sie gerne Unterlagen nutzt, die Patientinnen und Patienten zum Gespräch mitbringen. Sie zieht es vor, die relevanten Informationen im Gespräch durch das Lesen der Unterlagen, statt durch die Patientenerzählungen zu erhalten: es ist auch natürlich schöner wenn der patient ein bericht auch dabei hat äh ein medi ein ich meine ein arztbrief oder ein medizinischer bericht vom krankenhaus oder so und so weiter das ist natürlich noch schöner aber manchmal gibts das nicht dann muss der patient das selber ähm erzählen. (Borowski 2018a: 242 f.) Die Anwendung dieser Strategie könnte damit zusammenhängen, dass A101 ihre Kompetenzen im Bereich Leseverstehen als besser einschätzt als die im Bereich Hörverstehen (Borowski 2018b: 164). Tatsächlich kann die Anwendung dieser Strategie in den dokumentierten Aufklärungsgesprächen beobachtet werden, beispielsweise in dem Gespräch mit P102 (Borowski 2018a: 4): [18] 59 [05: 20.5] 60 [05: 22.6] 61 [05: 22.9] 62 [05: 23.7] A101 [v] nehmen sie zurzeit regelmäßig medikamente↑=da sehe isch jetz den plan→ P102 [v] ja ja: [pnv] [19] 63 [05: 24.2] 64 [05: 29.7] 65 [05: 31.3] A101 [v] sind sie schon mal oberiert worden P102 [v] ja: [pnv] A101 schaut sich den Medikamentenplan an und macht Notizen. Abb. 3: Ausschnitt aus dem Prämedikationsgespräch zwischen A101 und P104 (Borowski 2018a: 38-39) 119 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="120"?> In diesem Gespräch zeigt sich allerdings, dass diese Strategie ebenfalls zu einer unzureichenden Patientenorientierung führen kann. So beschreibt Borowski (2018b: 183-187), wie die Patientin (P102) im Gespräch mit der Ärztin (A101) nur mit erheblichem interaktivem Aufwand die Antwort auf ihre medizinisch rele‐ vante Frage erhält. Im Rahmen eines Sprachcoachings oder -kurses am Arbeits‐ platz könnte die Vorentlastung der Gespräche durch das Lesen von Patientenakten geübt werden (z. B. an exemplarischen Patientenakten aus der unter 3.4.1 genannten Materialsammlung) und darüber hinaus Strategien für mehr Patien‐ tenorientierung in den Gesprächen (z. B. genügend Raum für Fragen geben) erarbeitet werden. Zusätzlich könnte eine Sprachlehrkraft im Rahmen eines Sprachcoachings (wie unter Kap. 3.4.2 beschrieben) eine Rückmeldung dazu geben, inwiefern die Patientenorientierung von den Ärztinnen und Ärzten in realen Gesprächen umgesetzt wird. 3.4.4 Hilfe holen A101 erklärt, dass sie sich Hilfe holen würde, wenn es Verständigungsschwie‐ rigkeiten in einem Aufklärungsgespräch geben sollte. Sie fügt allerdings hinzu, dass dieser Fall noch nie eingetreten sei: wenn ich äh zu äh an irgend zeit äh komme das ich de patient kann nicht verstehen bei ältere patienten zum beispiel dann muss ich irgend eine auch dazu holen oberarzt oder mein kollege oder sowas aber bis jetzt das ist nie passiert. (Borowski 2018a: 253) Sicherlich ist es nötig Hilfe zu holen, wenn Verständigungsschwierigkeiten auf‐ treten. Der Vorteil am Krankenhaus als Sprachlernort liegt in diesem Zusam‐ menhang auch darin, dass die entsprechenden medizinischen Expertinnen und Experten vor Ort sind. Die unter Kapitel 3.1 beschriebenen Rahmenbedin‐ gungen führen allerdings dazu, dass ein solches Vorgehen in der Praxis eher unwahrscheinlich ist. Darüber hinaus müssten Verständigungsschwierigkeiten von den Ärztinnen und Ärzten zunächst wahrgenommen und als relevant ein‐ gestuft werden, bevor eine entsprechende Handlung erfolgen kann. Unter Ka‐ pitel 3.2 wurde allerdings bereits beschrieben, dass die sprachlichen Schwierig‐ keiten von den Ärztinnen und Ärzten nicht mehr wahrgenommen werden. Auch vor diesem Hintergrund wäre ein angemessenes Feedback zu den sprachlichen Schwierigkeiten im Rahmen eines Sprachcoachings (wie unter Kap. 3.4.2 bereits beschrieben) hilfreich. 3.5 Feedback Im Folgenden werden im Rahmen der Studie gesammelte Beobachtungen zum Verhalten der Patientinnen und Patienten sowie zum Feedback durch eine Kol‐ 120 Damaris Borowski <?page no="121"?> legin präsentiert. Auf dieser Grundlage werden Überlegungen angestellt, in‐ wiefern Feedback durch verschiedene Personengruppen dazu beitragen könnte, das Krankenhaus als Sprachlernort nutzbar zu machen. 3.5.1 Feedback durch Patientinnen und Patienten In den Interviews mit den Patientinnen und Patienten (Borowski 2018b: 142-147) geben zwei von zwölf Personen an, dass sie die Ärztin bzw. den Arzt nicht gut verstanden haben. Eine diese Personen nennt den „ausländischen Akzent“ als Begründung. Die übrigen Patientinnen und Patienten geben an, die Ärztin bzw. den Arzt gut verstanden zu haben, fügen aber verschiedene Ein‐ schränkungen hinzu: So weisen drei Personen darauf hin, dass sie die Ärztin bzw. den Arzt nur verstanden haben, weil sie bereits umfangreiche Erfahrungen (in einem Fall eigene berufliche Erfahrung) mit Prämedikationsgesprächen hatten. Eine Person geht davon aus, dass es „normal“ sei, dass sie als medizinischer Laie nicht alles „so richtig kapiert“. Eine Person gibt an, die Ärztin bzw. den Arzt nur gut verstanden zu haben, weil sie selbst Deutsch als Zweitsprache gelernt hat. Zwei Personen geben an, dass die hohe Sprechgeschwindigkeit ihnen das Verstehen erschwert hat und eine Person gibt an, dass der „Akzent“ ihr das Verstehen erschwert hat. Obwohl die Patientinnen und Patienten angeben die Ärztinnen und Ärzte verhältnismäßig gut zu verstehen, konnten durch die Analyse der Gespräche zum Teil erhebliche Verstehensschwierigkeiten aufgezeigt und mit den sprach‐ lichen Schwierigkeiten der Ärztinnen und Ärzte begründet werden: So konnte gezeigt werden, dass die Patientinnen und Patienten in den analysierten Prä‐ medikationsgesprächen erheblich mehr Nachfragen gestellt haben, als in den von Klüber et al. (2012) dokumentierten Prämedikationsgesprächen mit Ärz‐ tinnen und Ärzten, die Deutsch als Erstsprache sprechen (Borowski 2018b: 321-327). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Patientinnen und Patienten insgesamt einen ungewöhnlich hohen interaktiven Aufwand (Nachfragen, Reformulierungen, Zusammenfassungen, Verwendung veran‐ schaulichender Mimik und Gestik) betreiben, um Verstehen zu sichern (Bo‐ rowski 2018b: 320-355). In mehreren Fällen konnte gezeigt werden, dass die Be‐ mühungen der Patientinnen und Patienten nicht erfolgreich waren und kein Verstehen erreicht werden konnte (Borowski 2018b: 320-345). Auch eine Reihe von Missverständnissen konnte herausgearbeitet werden (Borowski 2018b: 346-352). Es musste festgestellt werden, dass einige der beobachteten Verstehensschwierigkeiten rechtlich und medizinisch relevante Folgen haben können (Borowski 2018b: 361; Borowski et al. 2019). Beispielsweise konnte ge‐ zeigt werden, dass es aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten der Ärztin 121 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="122"?> A101 dazu gekommen wäre, dass die Patientin P102 ihre notwendige Throm‐ bosespritze am Tag der ambulanten Operation nicht angewendet hätten, wenn sie nicht selbst aufgrund ihrer pflegerischen Ausbildung über das entsprechende medizinische Wissen verfügt hätte (Borowski 2018b: 183-187). Trotz der vorliegenden Verstehensschwierigkeiten scheinen die Gespräche zu gelingen: Die Patientinnen und Patienten geben ihre schriftliche Einwilli‐ gung in das jeweils geplante Anästhesieverfahren. Es gibt keine Gesprächsab‐ brüche und es werden keine Beschwerden über die sprachlichen Einschrän‐ kungen der Ärztinnen und Ärzte hervorgebracht. In den beobachteten Gesprächen scheint die unterstützende Wirkung von Rollen und Skripten, wie sie von Schön (2014) beschrieben wird, zum Tragen zu kommen. Durch die Rollen und Skripte können nach Schön (2014: 112) selbst sprachliche Lücken überbrückt werden. Im Rahmen der hier vorgestellten Studie wird allerdings deutlich, dass eben diese Rollen und Skripte vorliegende sprachliche Schwie‐ rigkeiten auch verschleiern können und ein Gelingen der Gespräche vorgaukeln können. Dies verleitet die Ärztinnen und Ärzte anzunehmen, dass keine rele‐ vanten sprachlichen Schwierigkeiten vorliegen. In den dokumentierten Gesprächen kommt es trotz zahlreicher Anlässe in Form von sprachlichen Fehlern und Missverständnissen an keiner Stelle zu einer sprachproblembezogenen Aushandlung. Wie Schön (2012) bei Arzt-Pati‐ enten-Interaktionen mit Schauspielpatientinnen und -patienten beobachtet, scheint sich auch hier zu zeigen, dass der Arzt-Patienten-Diskurs den Erst‐ sprachler-Zweitsprachler-Diskurs überlagert. Diese Beobachtung ist aus verschiedenen Gründen nicht verwunderlich: • Bei Prämedikationsgesprächen handelt es sich um asymmetrische Ex‐ perten-Laien-Interaktion (Klüber 2015: 210). Die Patientinnen und Pati‐ enten sind in der (medizinischen) Laien-Rolle und müssten für den Erst‐ sprachler-Zweitsprachler-Diskurs in die (sprachliche) Experten-Rolle wechseln. • Die Patientinnen und Patienten sind in den Gesprächen individuell be‐ troffen und haben häufig eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Angst vor der bevorstehenden Operation und Anästhesie (Fischbeck et al. 2012: 42-46). • Die Ärztinnen und Ärzte sind dazu angehalten, die Prämedikationsge‐ spräche möglichst zeitökonomisch zu gestalten (siehe beispielsweise Menz et al. 2008: 15; Menz / Plansky 2014; Lalouschek 2004: 142). Dies führt in der Regel dazu, dass der Rederaum der Patientinnen und Patienten von den Ärztinnen und Ärzten systematisch eingeschränkt wird (Klüber 2015: 212). 122 Damaris Borowski <?page no="123"?> Die Tatsache, dass keine sprachproblembezogenen Aushandlungen oder Be‐ schwerden auftauchen, verleitet die Ärztinnen und Ärzte allerdings (wie oben bereit festgestellt) zu der Annahme, dass keine sprachlichen Probleme vorliegen (Borowski 2018b: 357). So schildern die Ärztinnen und Ärzte in den Interviews ihren Eindruck, dass die Gespräche gelingen (ebd.). Wie oben beschrieben entspricht es weder der Rolle der Patientinnen und Patienten noch ihrer Situation sprachproblembezogene Aushandlungen zu führen oder ein sprachbezogenes Feedback zu geben. Allerdings könnten die Ärztinnen und Ärzte durch die angeleitete Analyse von Transkripten für An‐ zeichen von Nicht-Verstehen seitens der Patientinnen und Patienten (etwa Nachfragen, Reformulierungen, Zusammenfassungen, Verwendung veran‐ schaulichende Mimik und Gestik) sensibilisiert werden. Unter Kapitel 4.2 werden weitere hilfreiche Aspekte der Arbeit mit Transkripten in berufsbezo‐ genen Deutschkursen oder -coachings am Arbeitsplatz betrachtet. 3.5.2 Kollegiales Feedback A103 berichtet im Interview von einer Kollegin mit Deutsch als Erstsprache, die ihre Kolleginnen und Kollegen mit Deutsch als Zweitsprache während der Ar‐ beit auf sprachliche Fehler hinweist und sprachbezogene Informationen gibt: sie helft mich immer noch bei deutsch sprache also sie nennt nicht den funk dem funk oder so das ist (xx) akkusativ haha (xx) sie ist so so (xx) also macht das immer mit mir ich hab sie immer gesagt sie hat immer am anfang gesagt stör ihnen das wen ich das so mach ich so nein also sie könn das immer machen weil ich lerne so ja sie macht das gut also super ja grama gram super grammatisch also wirklich die schreibt das auf im o: pe: also wirklich ja ja haha die andere stört das ein bischen aber für mich ist schon okei oder die (xx) die deutsche äh öhm ansprüche zum beispiel diese proverben (so sagen) vielleicht man sagt so oder so und dann ich wußte das gar nich die sagen diese umgangssprache die sagen so weil das bedeutet was anderes und so (sag ich) ah oder ähm diese wie sagt man das diese ja synonym und so weiter kenn ich gar nicht und sie sie hilft mir schon dabei. (Borowski 2018a: 338 ff.) Es wird deutlich, dass das Feedback durch die Kollegin von den ausländischen Ärztinnen und Ärzten unterschiedlich bewertet wird. A103 empfindet die Kor‐ rekturen als hilfreich, weist aber darauf hin, dass diese Korrekturen nicht von allen Kolleginnen und Kollegen gewünscht werden. Gegen ein kollegiales Feedback in dieser Form sprechen verschiedene rele‐ vante Gründe: 1. Wie dargestellt, wird diese Form des Feedbacks von einigen Ärztinnen und Ärzte nicht positiv aufgenommen. 2. Die Kollegin ist keine 123 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="124"?> Sprachexpertin. 3. Die Kollegin ist bei den Prämedikationsgesprächen nicht an‐ wesend und kann demnach auch kein angemessenes Feedback dazu geben. Dennoch könnten ausländische Ärztinnen und Ärzte besonders zu Beginn ihrer Tätigkeit in Deutschland durch kollegiales Feedback am Arbeitsplatz un‐ terstützt werden. Hierfür müsste allerdings ein angemessener Rahmen ge‐ schaffen werden: Das kollegiale Feedback sollte in Bezug auf konkrete Ge‐ spräche erfolgen, bei denen die Kollegin oder der Kollege mit Deutsch als Erstsprache anwesend war. Das Feedback sollte direkt im Anschluss an ein sol‐ ches Gespräch stattfinden und sich auf medizinische Apekte und kommunika‐ tive Strategien für Prämedikationsgespräche konzentrieren. Dabei wird unwei‐ gerlich auch Sprache thematisiert werden (z. B. Bezeichnungen für Körperteile oder Untersuchungen im Gespräch mit Patientinnen und Patienten). Allerdings sollte kein rein sprachbezogenes Feedback (wie z. B. Hinweise zu Syntax und Phonetik oder Tipps zum Spracherwerb) durch Kolleginnen und Kollegen er‐ folgen, da ihnen die entsprechende Expertise fehlt. Das kollegiale Feedback sollte darüber hinaus durch eine Kollegin oder einen Kollegen erfolgen, die oder der als Vorbild für Patientengespräche fungieren kann. Die ausländischen Ärz‐ tinnen und Ärzten sollten zunächst eingeladen werden, diese Person einige Male bei ihren Gesprächen zu begleiten. Erst danach sollte diese Person die ausländischen Ärztinnen und Ärzte begleiten. Außerdem sollte diese Person keine di‐ rekte Vorgesetzte sein und zur Verschwiegenheit in Bezug auf die Beoachtungen und das Feedback verpflichtet werden. 3.5.3 Sprachbezogenes Feedback Im Rahmen eines Sprachcoachings am Arbeitsplatz könnte eine Sprachlehrkraft die Ärztinnen und Ärzte in regelmäßigen Abständen bei ihren Prämedikations‐ gesprächen begleiten. Die Sprachlehrkraft wiederum sollte sich auf sprachliche Phänomene konzentrieren (wie etwa Syntax oder Phonetik). Auch hier gilt, dass eine Trennung von Sprache und Medizin nicht möglich oder sinnvoll ist. So wird eine Sprachlehrkraft beispielsweise auch auf speziellen medizinischen Wort‐ schatz eingehen und sich im besten Fall medizinisches Hintergrundwissen an‐ eignen. Ein Feedback durch eine Sprachlehrkraft könnte z. B. zu folgenden Punkten gegeben werden: • sprachliche Fehler, die potentiell das Verstehen beeinträchtigen, • häufig auftretende sprachliche Fehler, • Patientenorientierung, • Tipps zum Spracherwerb. 124 Damaris Borowski <?page no="125"?> Im Folgenden wird auf das Sprachcoaching am Arbeitsplatz noch näher einge‐ gangen. 4 Krankenhaus als Sprachlernort - Perspektiven Vor dem Hintergrund der dargestellten Herausforderungen und Potenziale des Krankenhauses als Sprachlernort sollen nun zwei Perspektiven für die Nutz‐ barmachung des Krankenhauses als Sprachlernort betrachtet werden - das Sprachcoaching am Arbeitsplatz und die Arbeit mit Transkripten von authen‐ tischen Gesprächen in Sprachkursen oder -coachings am Arbeitsplatz. 4.1 Sprachcoaching am Arbeitsplatz Neben berufsvorbereitenden und -begleitenden Sprachkursen scheinen Sprach‐ coachings eine vielversprechende Möglichkeit zu sein, den dargestellten sprach‐ lichen Herausforderungen im Krankenhaus gerecht zu werden. Angebote zum Sprachcoaching, zur Sprachlernberatung o. ä. erfreuen sich in verschiedenen Sprachlehr-/ -lernkontexten zunehmender Beliebtheit (Claußen 2016: 381 f.). Claußen (ebd.) stellt fest, dass allen Formen der Sprachlernberatung gemein ist, dass sie eine - in der Regel professionelle - Unterstützung oder Hilfestellung beim Lernen von Fremdsprachen bieten. Sie fokussieren den in‐ dividuellen Lernenden und nehmen seine persönlichen Anliegen in Bezug auf das Sprachlernen in den Blick. Auch im medizinischen Bereich sind derlei Angebote durchaus üblich (z. B. Deppe 2015: 47; Borowski 2014: 13-24). Dabei ist in medizinischen wie auch in anderen beruflichen Kontexten der Begriff Sprachcoaching gängig (Feld‐ meier / Markov 2016; Daase et al. 2014). Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich allerdings z. T. sehr unterschiedliche Konzepte und Umsetzungen. Durch die Analyse der dokumentierten Gespräche im Rahmen der Studie wurde deutlich, dass individuelles Sprachcoaching am Arbeitsplatz nicht nur praktisch und wünschenswert, sondern sogar unumgänglich ist: Einerseits nehmen die Ärztinnen und Ärzte, wie oben ausgeführt, ihre Sprachlernbedarfe nicht angemessen wahr. Andererseits können die tatsächlichen sprachlichen Bedarfe in den unterschiedlichen medizinischen Kontexten in ihrer Vielfalt durch Kurse und Materialien nicht angemessen abgedeckt werden. Im Rahmen eines Sprachcoachings am Arbeitsplatz könnten die Prinzipien des berufsbezogenen Sprachunterrichts (d. h. Handlungs-, Bedarfs- und Teil‐ nehmerorientierung) sehr gut umgesetzt werden (Beckmann-Schulz / Kleiner 2011: 23-28). Darüber hinaus wäre eine Verzahnung von fachlichem und sprach‐ lichem Lernen im Sinne des Integrierten Fach- und Sprachlernen ( IFSL ) möglich 125 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="126"?> (Laxczkowiak 2020). Dies wäre eine optimale Voraussetzung dafür, dass die Ärztinnen und Ärzte in möglichst kurzer Zeit den speziellen Anforderungen an ihrem Arbeitsplatz gerecht werden können. In Anlehung an Kleppin und Spänkuch (2014) werden im Folgenden mögliche Komponenten eines solchen Sprachcoachings beschrieben: • Beobachtung und (wenn möglich) Dokumentation und Transkription des sprachlichen Handelns der Ärztinnen und Ärzte am Arbeitsplatz durch eine Sprachlehrkraft, • Identifikation relevanter Sprachhandlungen und dafür nötiger sprachli‐ cher Mittel durch Sprachlehrkraft und Sprachlernende gemeinsam, • Identifikation der individuellen Sprachlernbedarfe der Sprachlernenden durch Sprachlehrkraft und Sprachlernende gemeinsam, • Detailliertes Feedback zur sprachlichen Umsetzung durch Sprachlehr‐ kraft: Was läuft gut? Welche sprachlichen Fehler und unangemessenen Äußerungen tauchen auf ? Wie sind diese im Kontext des Prämedikati‐ onsgespräches zu bewerten bzw. sind sie relevant (vgl. Norm in diesem Kontext unter Kap. 2)? Welche hilfreichen und weniger hilfreichen Stra‐ tegien verwenden die Sprachlernenden? , • Beratung: Gemeinsame Reflexion und Planung des Lernprozesses durch Lehrkraft und Sprachlernende, Empfehlungen für den Spracherwerb durch Sprachlehrkraft, • Spracharbeit (Einzelarbeit / Kleingruppen): Übung / Training in den iden‐ tifizierten Bereichen mit Sprachlernbedarf, ggf. Erstellung von angemes‐ senen Materialien durch die Sprachlehrkraft (hier kann die unter Kap. 3.4.1 genannte Materialsammlung genutzt werden), • Erneute Beobachtung am Arbeitsplatz, Feedback usw. (Zyklus). Ein solches Sprachcoaching könnte am Sprachlernort Krankenhaus im Sinne des IFSL mit einem fachlichen Coaching kombiniert werden. Unter Ka‐ pitel 3.5.2 wurden bereits einige Vorschläge zum fachlichen Feedback durch eine Kollegin oder einen Kollegen skizziert. Besonders zu beachten ist, dass es sich hier um eine Zielgruppe handelt, die in der Regel sehr motiviert ist, aber eine überdurchschnittlich hohe Arbeitsbe‐ lastung hat. Die Zielgruppe besteht aus Personen mit umfangreichen Sprach‐ lernerfahrungen, die ein großes Repertoire an Strategien und ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit mitbringt. Im Rahmen eines Sprach- und Fachcoachings am Arbeitsplatz könnten die knappen zeitlichen Ressourcen dieser Zielgruppe op‐ timal genutzt und ihre Erfahrungen, Strategien und Fähigkeiten individuell ein‐ bezogen werden. 126 Damaris Borowski <?page no="127"?> 4.2 Arbeit mit authentischen Arzt-Patienten-Interaktionen In ihrem Beitrag zur Simulation authentischer Fälle ( SAF ) beschreiben Be‐ cker-Mrotzek / Brünner (2002: 80) es als systematischen nächsten Schritt, der über das SAF hinausgeht „das Traning an den Arbeitsplatz selbst zu verlegen, also Kommunikationsprozesse, die im wirklichen beruflichen Alltag stattfinden, kritisch zu begleiten und die Maßnahmen zu einer Verbesserung der sprach‐ lich-kommunikativen Kompetenz in diesen Alltag zu integrieren.“ Bei der Umsetzung eines solchen weiterführenden Schrittes wird hier für die Arbeit mit Transkripten von authentischen Arzt-Patienten-Interaktionen in be‐ rufsbegleitenden Sprachkursen und -coachings am Arbeitsplatz plädiert. Im Vergleich zu einfachen Beobachtungen kann die Dokumentation und Tran‐ skription sowohl den Sprachlehrkräften als auch den Sprachlernenden eine de‐ taillierte Auseinandersetzung mit den Gesprächen ermöglichen. Software für automatisierte Transkription (beispielsweise AmberScript) kann hierbei sicher‐ lich sehr hilfreich sein. Im Folgenden werden anhand eines Ausschnitts aus dem oben bereits zi‐ tierten Gespräch zwischen A101 und P104 Möglichkeiten für den Einsatz dieses Transkripts in der Sprachförderung veranschaulicht (für eine umfangreichere Darstellung siehe Borowski 2020). Vor dem hier betrachteten Ausschnitt informiert die Ärztin, dass bei der Ope‐ ration (Osteosynthese nach Knochenbruch am linken Arm) grundsätzlich zwei Anästhesieverfahren verwendet werden können - eine Voll- oder eine Teilnar‐ kose (axilläre Plexusanästhesie). In dem hier abgebildeten Ausschnitt (Zeilen 23-36) stellt der Patient Fragen zu den beiden Verfahren. Der unter Kapitel 3.2. abgebildete Gesprächsausschnitt (Zeilen 36-41) schließt direkt an diesen Aus‐ schnitt an. Der Ausschnitt beginnt mit einer Bitte des Patienten: Er möchte in Bezug auf die zur Auswahl stehenden Verfahren eine Empfehlung der Ärztin erhalten (Segment 69). Zu erwarten wäre hier als Antwort eine Information darüber, welches Verfahren für den Patienten mit weniger Risiken verbunden ist. Die Ärztin stellt hier allerdings fest, dass beide Verfahren „gut“ sind (Segment 71). Diese Antwort irritiert, da eine Teilnarkose grundsätzlich mit weniger Risiken für den Patienten verbunden und bei diesem Patienten eindeutig das zu bevor‐ zugende Verfahren ist. Die Ärztin gibt keine Empfehlung, sondern stellt fest, dass „wir gerne eine teilnarkose“ machen (Segment 72). Es bleibt unklar, auf wen hier mit „wir“ Bezug genommen wird - Ärztin und Patient oder vielleicht das medizinische Personal der Klinik? Zusätzlich irritierend wirkt die Einschrän‐ kung „wenn sie kooperativ sind“ (Segment 72). Hier impliziert die Ärztin die Möglichkeit unkooperativen Verhaltens seitens des Patienten. Entsprechend 127 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="128"?> verwirrt reagiert der Patient: Er zuckt mit den Achseln, guckt erstaunt, zögert und signalisiert mit „öh klar“ seine Bereitschaft zum kooperativen Verhalten (Segmente 72-74). Abb. 4: Ausschnitt aus dem Prämedikationsgespräch zwischen A101 und P104 (Borowski 2018a: 39) Die Ärztin nennt nun den Zustand des Patienten bei einer Teilnarkose - „wach anschpreschbar“ (Segment 77) - als Grund für die Bevorzugung dieses Anäs‐ thesieverfahrens. Sie fügt die vage Information hinzu, dass der Patient während der Teilnarkose „was zum dämma schlafen bekommen“ kann (Segmente 79-80) und fährt fort mit „oder (.) vollnarkose“ (Segment 83). Es bleibt unklar, ob die Ärztin hier noch einmal die beiden möglichen Anästhesieverfahren gegenüber‐ stellt oder darauf hinweist, dass während der Operation unter Teilnarkose ggf. noch eine Vollnarkose eingeleitet werden kann. 128 Damaris Borowski <?page no="129"?> Abb. 5: Ausschnitt aus dem Prämedikationsgespräch zwischen A101 und P104 (Borowski 2018a: 39 f.) Nun konkretisiert der Patient seine Frage, indem er direkt danach fragt, ob eine Vollnarkose mit mehr Risiken verbunden ist als eine Teilnarkose (Segmente 85-88). Noch während der Patient seine Frage stellt, verneint die Ärztin (Seg‐ ment 86) und reproduziert dann ihre Standardformulierung zur Relativierung von Risiken (Segmente 88-89) und verweist auf den Aufklärungsbogen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ärztin die Frage des Patienten hier falsch verstanden hat. Auch der Patient scheint von einem Missverständnis oder Nicht-Verstehen auszugehen und reformuliert nach kurzem Zögern seine Frage (Segment 95). 129 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="130"?> Abb. 6: Ausschnitt aus dem Prämedikationsgespräch zwischen A101 und P104 (Borowski 2018a: 40) Nun erst gibt die Ärztin die zu erwartende Antwort, markiert diese allerdings durch „ich finde“ als persönliche Meinung (Segment 97). Diese Meinungsbe‐ kundung ist im Kontext eines Prämedikationsgespräches eher ungewöhnlich und wirkt ebenfalls irritierend. Der Patient signalisiert Verstehen (Segmente 99 und 103) und fragt dann, ob er vor der Injektion der Regionalanästhesie ein wahrnehmungseinschränkendes Mittel bekommen kann (Segmente 103-109). An dieser Stelle wird deutlich, dass der Patient Angst vor einer Injektion in die Achselhöhle hat. Wie unter Kapitel 3.2 bereits ausgeführt, spricht der Patient diese Sorge zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal an. An dieser Stelle ver‐ anschaulicht der Patient seine Frage mit auffälliger Körpersprache: Er wippt den Kopf hin und her, während er „duselig“ sagt (Segment 104) und bei „teilnarkose“ deutet er auf seine linke Achselhöhle (Segmente 108-109). Nachdem die Ärztin versichert, dass er ein solches Medikament bekommen wird (105-109), willigt der Patient in das bevorzugte Anästhesieverfahren ein (Segment 110). Nun be‐ ginnt die Ärztin damit, den Ablauf am Operationstag zu schildern. 130 Damaris Borowski <?page no="131"?> Abb. 7: Ausschnitt aus dem Prämedikationsgespräch zwischen A101 und P104 (Borowski 2018a: 40 f.) Bereits in diesem kurzen Ausschnitt - wie auch im gesamten Gespräch - fällt auf, dass der Patient einen hohen interaktiven Aufwand betreibt, um Verstehen zu sichern. Hierfür setzt er Fragen, Wiederholungen, Reformulierungen, Zu‐ sammenfassungen und zunehmend veranschaulichende Mimik und Gestik ein. Dieses Verhalten steht in starkem Kontrast zum Verhalten von Patientinnen und Patienten in Prämedikationsgesprächen mit Ärztinnen und Ärzten, die Deutsch als Erstsprache sprechen, wie es von Klüber et al. (2012) beobachtet wird. Eine naheliegende Erklärung ist, dass der Patient so auf die von ihm wahrgenom‐ menen sprachlichen Einschränkungen der Ärztin reagiert. Er verhält sich als kompetenter Sprecher, indem er verschiedene Verfahren zur Sicherung des Ver‐ stehens einsetzt und so den Input modifiziert (siehe beispielsweise Aguado 2010: 818). Im Rahmen eines Sprachcoachings könnten Gespräche anhand der Transkripte mit den Ärztinnen und Ärzten, die die Gespräche durchgeführt haben, detailliert betrachtet werden. Darüber hinaus könnten solche Transkripte (bei vorliegender Einwilligung der Gesprächsteilnehmenden) in anonymisierter Form auch mit mehreren Ärztinnen und Ärzten etwa im Rahmen eines Grup‐ pencoachings oder eines Sprachkurses am jeweiligen Arbeitsplatz ganz oder in Teilen betrachtet werden. Dabei könnten beispielsweise folgende Auffällig‐ keiten erarbeitet und diskutiert werden: 131 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="132"?> • Identifikation relevanter Sprachhandlungen und dafür nötiger sprachli‐ cher Mittel, • Identifikation und Beschreibung sprachlicher Normabweichungen (auf der Ebene der Syntax, Morphologie, Lexik, Phonetik / Phonologie und Pragmatik) wie etwa unangemessene oder beunruhigende Formulie‐ rungen der Ärztinnen und Ärzte, • Beurteilung der Relevanz von Normabweichung etwa mit Blick auf die potentielle Beeinträchtigung von Verstehen oder die Häufigkeit des Auf‐ tretens und ggf. Erarbeitung angemessenerer Formulierungen, • Interaktiver Aufwand von Patientinnen und Patienten bzw. patienteninitiierte Verstehenssicherung: Fragen, Wiederholungen, Reformulie‐ rungen, Zusammenfassungen, veranschaulichende Mimik und Gestik, • Mögliche Gründe für den vorliegenden interaktiven Aufwand von Pati‐ entinnen und Patienten, • Missverständnisse bzw. Nicht-Verstehen, • Strategien zur Verstehenssicherung und Patientenorientierung wie bei‐ spielsweise Patientinnen und Patienten genügend Rederaum geben, Nachfragemöglichkeiten bieten, gezielt Reformulierungen einsetzen, • Identifikation individueller Sprachlernbedarfe. Ebenfalls im Rahmen von Sprachkursen oder -coachings am Arbeitsplatz könnten (wie unter Kap. 3.4.2 bereits erwähnt) auch Musterbeispiele für Prä‐ medikationsgespräche von Kolleginnen und Kollegen mit Deutsch als Erst‐ sprache analysiert werden. 5 Fazit Im Beitrag wurde auf der Grundlage der Studie von Borowski (2018b) der Frage nachgegangen, inwiefern der Arbeitsplatz Krankenhaus für Ärztinnen und Ärzte mit Deutsch als Zweitsprache als Sprachlernort nutzbar gemacht werden könnte. Es wurde beschrieben, wie sich der Spracherwerb für drei Anästhesis‐ tinnen und Anästhesisten an diesem Ort gestaltet, welche Strategien sie entwi‐ ckelt haben und welche Rolle Feedback durch Kolleginnen und Kollegen sowie Patientinnen und Patienten spielt. Die Studie hat gezeigt, dass auch nach drei bis fünf Jahren Tätigkeit an deutschen Krankenhäusern die Äußerungen der Ärztinnen und Ärzte eine erhebliche Anzahl sprachlich-kommunikativer Fehl‐ leistungen aufweisen. Diese Fehlleistungen führen zu Störungen, Beeinträchti‐ gungen und vielfach sogar zum partiellen Scheitern der Interaktion. So ist auch das Kernziel der Gespräche - informed consent - erheblich beeinträchtigt. 132 Damaris Borowski <?page no="133"?> Deutlich wurde, dass verschiedene Herausforderungen die Nutzbarmachung des Krankenhauses als Sprachlernort erschweren. Zu diesen Herausforde‐ rungen gehören die fehlende Sprachsensibilität am Arbeitsplatz, unzureichende Unterstützung durch das Krankenhaus und die fehlende Sensibilität der Ziel‐ gruppe für den eigenen Sprachlernbedarf. Die vorhandenen Potenziale dieses Arbeitsplatzes als Sprachlernort über‐ wiegen allerdings deutlich: Im Krankenhaus können für die jeweils speziellen Kontexte authentische schriftliche Texte (etwa spezielle deutschsprachige Fach‐ literatur, Liste mit üblichen Abkürzungen, Unterlagen und Vorlagen dieses Krankenhauses, Musterbeispiele für Textproduktionen von Kolleginnen und Kollegen, Beispiele für Patientenakten) und authentische mündliche Texte (z. B. Transkripte von Musterbeispielen für Prämedikationsgespräche von Kolle‐ ginnen und Kollegen, Transkripte von Prämedikationsgesprächen der Ziel‐ gruppe) genutzt werden. Ein direkter Zugang zu derart sensiblen Daten ist au‐ ßerhalb des Lernortes kaum möglich. Darüber hinaus können im Krankenhaus die jeweils passenden medizinischen Expertinnen und Experten bei der Unter‐ stützung der Zielgruppe einbezogen werden. Im Rahmen von Sprachkursen und -coachings am Arbeitsplatz könnte auf der Grundlage einer Sprachbedarfsermittlung und in Zusammenarbeit mit ein‐ zelnen Kolleginnen und Kollegen vor Ort ein berufsbegleitendes Sprachlernan‐ gebot gemacht werden, das den Prinzipien des berufsbezogenen Sprachunter‐ richts (Handlungs-, Bedarfs- und Teilnehmerorientierung) gerecht wird und ein Integratives Sprach- und Fachlernen anstrebt. Dies würde optimale Vorausset‐ zungen dafür schaffen, dass die knappen zeitlichen Ressourcen der Zielgruppe maximal genutzt werden. Im Beitrag wurde das Sprachcoaching am Arbeitsplatz und die Arbeit mit Transkripten als Perspektiven für die Nutzbarmachung des Krankenhauses als Sprachlernort betrachtet. Durch Sprachcoaching am Arbeitsplatz kann die Ziel‐ gruppe für ihre individuellen Sprachlernbedarfe sensibilisiert und zielgerichtet an diesen Bedarfen gearbeitet werden. Der Einsatz von Transkripten ermöglicht eine detaillierte Auseinandersetzung mit der an diesem Arbeitsplatz relevanten mündlichen Kommunikation. Dabei können einerseits authentische Gespräche von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen sowie authentische Gespräche der Zielgruppe gemeinsam analysiert werden. Vor diesem Hintergrund möchte ich zum Abschluss des Beitrags für berufs‐ begleitende Sprachlernangebote an Krankenhäusern plädieren. Besonders viel‐ versprechend scheint mir dabei der Einsatz von Sprachcoaching und Transkripten authentischer Gespräche. 133 Das Krankenhaus als Sprachlernort für Ärztinnen und Ärzte <?page no="134"?> Literatur Aguado, Karin (2010). Sozial-interaktionistische Ansätze. In: Krumm, Hans-Jürgen / Fandrych, Christian / Hufeisen, Britta / Riemer, Claudia (Hrsg.). Deutsch als Fremd-und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: De Gruyter, 817-826. Baur, Rupprecht / Chlosta, Christoph / Schäfer, Andrea (2017). Fehleranalyse. 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Christina Widera & Anke Settelmeyer Abstract: As language is crucial for the development of occupational com‐ petence, the company as a learning venue for language has become the focus of the discussion on vocational education and training. In this chapter we will examine whether the training in companies takes place in a language-aware manner, and how trainers are supported in using a language-aware approach in vocational training. Analyses of training practice, methodically based on a model of language training competence, show that the training staff consciously addresses linguistic aspects if they have pro‐ fessional relevance and the conditions of training allow it. Like language-aware training in the workplace, the tools for supporting such beha‐ viour analysed here are pragmatically oriented. Keywords: language awareness in vocational training, company training staff, language training competence 1 Einleitung Beruflich zu handeln, bedeutet auch sprachlich zu handeln. Folglich müssen in der beruflichen Ausbildung die sprachlichen Kompetenzen vermittelt werden, die benötigt werden, um die sprachlich-kommunikativen Anforderungen des Berufs zu bewältigen. Welche Anforderungen dies im Einzelnen sind, wurde in den letzten Jahren für unterschiedliche Berufe der dualen Ausbildung unter‐ sucht (Efing 2010; Efing / Häußler 2011; Efing 2017; Settelmeyer et al. 2017). Hierbei zeigt sich, dass sich aufgrund des unterschiedlichen Bildungsauftrages von Schule und Betrieb auch die sprachlich-kommunikativen Anforderungen <?page no="138"?> an diesen Lernorten unterscheiden. Während am Lernort Berufsschule allge‐ meines, berufsübergreifendes sowie fachtheoretisches Wissen, häufig auf der Grundlage von Fachtexten, vermittelt und fachpraktische Fertigkeiten vertieft werden sollen, dient der Betrieb vor allem der fachpraktischen Ausbildung. Dabei werden z. B. berufsspezifische Arbeitsunterlagen verwendet und berufs‐ spezifische Gesprächssorten vermittelt. Der Lernort Betrieb ist daher unver‐ zichtbar, um berufsbezogene sprachlich-kommunikative Kompetenzen zu er‐ werben. Am Lernort Betrieb erfolgt die Ausbildung durch fachlich qualifiziertes Per‐ sonal. Haben diese Personen einen Lehrgang entsprechend der Ausbilder-Eig‐ nungsverordnung ( AEVO ) erfolgreich absolviert, so verfügen sie über Wissen, Fähigkeiten und Kenntnisse, die fachlichen, sozialen und persönlichen Kompe‐ tenzen von Auszubildenden zu fördern ( AEVO 2009; Hauptausschuss des Bun‐ desinstituts für Berufsbildung 2009). Ausgerichtet am Deutschen Qualifikati‐ onsrahmen für lebenslanges Lernen gehören zu den sozialen Kompetenzen u. a. Sprache und Kommunikation (Bund-Länder-Koordinierungsstelle für den Deut‐ schen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen 2013: 16). Konkrete Hin‐ weise für ein sprachbewusstes Ausbilden sind nicht Bestandteile der AEVO und des Rahmenlehrplans. Um die Ausbildenden dabei zu unterstützen, sind unter‐ schiedliche Ansätze für die betriebliche Praxis entwickelt worden. Im folgenden Kapitel wird zunächst der Begriff Sprachbewusstheit definiert. Einem kompetenztheoretischen Ansatz folgend wird dann der Frage nachge‐ gangen, über welche Kompetenzen das ausbildende Personal verfügen muss, um sprachbewusst ausbilden zu können. Ausgehend davon, dass ein bewusster Um‐ gang wesentlicher Bestandteil einer Sprachförderung ist, wird auf das Modell der Sprachförderkompetenz nach Hopp et al. (2010) zurückgegriffen. Ein Blick in die Ausbildungspraxis zeigt, dass das ausbildende Personal sprachliche As‐ pekte berücksichtigt (Kap. 3). Aufgrund des Umgangs mit Sprache werden Rück‐ schlüsse auf die Sprachförderkompetenzen des ausbildenden Personals gezogen. In Kapitel 4 werden Instrumente vorgestellt, die Ausbildenden einen bewussten Umgang mit Sprache näherbringen sollen. Diese Instrumente werden systema‐ tisch verglichen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Auch für diese Analyse werden die Kategorien des Modells der Sprachförder‐ kompetenz herangezogen. Abschließend werden die Ergebnisse der Analysen zusammengefasst und Forschungsdesiderate formuliert (Kap. 5). 138 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="139"?> 2 Sprachbewusstes Ausbilden Die Beachtung sprachlicher Aspekte bei der Vermittlung von beruflichen Kennt‐ nissen wird häufig als sprachsensibles Ausbilden bezeichnet (Beth‐ scheider / Wullenweber 2016; Kimmelmann et al. 2014; Universität Bonn o. J.; KMK 2019). Im Folgenden wird der Begriff Sprachbewusstheit verwendet, um hervorzuheben, dass es um die begründete und gezielte Berücksichtigung sprachlicher Aspekte in der Ausbildung geht. Unter Sprachbewusstheit wird hier „explicit knowledge about language, and conscious perception and sensitivity in language learning, language teaching and language use“ (Association of Language Awareness o. J.) verstanden. Diese Definition umfasst nicht nur das Lernen und Lehren von Sprache, sondern auch den Sprachgebrauch und die Einstellung einer Person zur Relevanz von Sprache. Es werden Vorstellungen über Sprache(n), den bewussten Gebrauch von Sprache zur Verständigung und zur Gestaltung von Beziehungen berücksichtigt. Aus‐ drücklich werden auch berufliche Situationen, „professional dealings“, genannt. Dieses weite Verständnis ermöglicht es, unterschiedliche Ausprägungen der Sprachbewusstheit in der beruflichen Ausbildung zu berücksichtigen. Aufgrund der Bedeutung sprachlicher Kompetenzen für den Erwerb berufli‐ cher Handlungskompetenz sollte Sprachförderung fester Bestandteil der beruf‐ lichen Ausbildung sein und es sollten Ausbildende wie Lehrkräfte an Berufs‐ schulen über entsprechende Förderkompetenzen verfügen. Sowohl für den Elementarbereich und die allgemeinbildende Schule als auch für die berufliche Ausbildung werden seit geraumer Zeit entsprechende Kompetenzbeschrei‐ bungen diskutiert. Für letztere liegt eine Empfehlung der Kultusministerkonfe‐ renz zum sprachsensiblen Arbeiten in Berufsschulen vor ( KMK 2019). Stärker als bisher auch die „betriebliche Perspektive in die Frage der Entwicklung sprachlicher Förderung zu integrieren“ (Kirchhöfer / Wilbers 2018: 189), steht noch aus. Kimmelmann (2010) entwickelte Kompetenzprofile für den Umgang mit Schwierigkeiten in multikulturellen Lerngruppen für Lehrkräfte und Ausbil‐ dende. Diese umfassen beispielsweise die diversity-gerechte Vermittlung von Lerninhalten, Leistungsmessung und den Umgang mit Diskriminierung und Rassismus. Dabei wird auch der Umgang mit der Berufsbildungssprache the‐ matisiert. Diese orientiert sich an der geschriebenen Bildungssprache im Fach‐ unterricht. Im Vordergrund stehen hierbei die Förderung der Textkompetenz sowie soziolinguistischer und sprachlogischer Kompetenzen. Die mündliche Kommunikation wird ausgeblendet. Die Kompetenzprofile beschreiben detail‐ liert Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen der Lehrkräfte und Ausbil- 139 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="140"?> denden zur Einschätzung des Sprachstandes, Schaffung von Lernsituationen, Erweiterung des Sprachvermögens, Zusammenarbeit mit weiteren Personen und zum Umgang mit Fehlern. In diesem Beitrag wird auf ein empirisches Modell für pädagogische Fach‐ kräfte des Früh- und Elementarbereichs zurückgegriffen (Hopp et al. 2010). Das Modell fokussiert nicht nur ein Sprachregister und die Schriftsprache, sondern ist breiter an Sprache ausgerichtet und allgemeiner gefasst. Es wird davon aus‐ gegangen, dass sich dieses Modell auch für die Beschreibung der Kompetenzen eignet, die das ausbildende Personal für ein sprachbewusstes Ausbilden im Be‐ trieb benötigt. Das Modell orientiert sich an einem situationsbezogenen Ansatz von Sprach‐ förderung. Pädagogische Fachkräfte sollen fähig sein, „Sprachfördersituationen zu schaffen“ (Hopp et al. 2010: 615) und im Alltag vorkommende Situationen sprachförderlich zu nutzen. Diese allgemeine Zielformulierung für die Sprach‐ förderung im Elementarbereich kann auf die betriebliche Ausbildung über‐ tragen werden. Auch Sprachförderung im Betrieb wird sich eng an den Situati‐ onen und den damit verbundenen sprachlich-kommunikativen Anforderungen orientieren, die Auszubildende (sprachlich) zu meistern haben. In beiden Berei‐ chen soll sie geplant und reflektiert erfolgen und als verbindliches Ziel strate‐ gisch verfolgt werden. Auch die Zielgruppe der Sprachförderung ist in der Ausbildung und im Ele‐ mentarbereich vergleichbar: Adressatinnen und Adressaten sind in erster Linie Kinder oder Auszubildende, die grundsätzlich in der Lage sind, Sprachkompe‐ tenzen zu erwerben. Es geht nicht um eine therapeutische Förderung junger Menschen mit diagnostizierten Sprech- und Sprachstörungen. Ausbildende wie pädagogische Fachkräfte im Elementarbereich sind zudem keine ausgewiesenen Sprachlehrkräfte mit einer sprachwissenschaftlichen Fakultas. Sprache wird nicht in einem dafür vorgesehenen Sprachunterricht vermittelt, sondern im Zuge der beruflichen Tätigkeit. Es bestehen aber auch Unterschiede. In Einrichtungen der Elementarpäda‐ gogik sollen Kinder grundlegende Sprachkompetenzen erwerben. Sie sollen beispielsweise für unterschiedliche Lebensbereiche ihren Wortschatz ausbauen und zunehmend komplexe Satzkonstruktionen verwenden. Pädagogische Fach‐ kräfte sollen in der Lage sein, sprachliche Entwicklungen auf Grundlage des Wissens über den natürlichen Spracherwerb beurteilen zu können, um z. B. Ent‐ wicklungsverzögerungen entgegenzuwirken. Demgegenüber steht in der Aus‐ bildung der Erwerb einer berufsspezifischen und berufsallgemeinen sprachli‐ chen Handlungskompetenz im Mittelpunkt, z. B. das Verstehen fachlicher Zusammenhänge und Unterweisungen, Unterhaltungen mit Kolleginnen und 140 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="141"?> Kollegen, das Verstehen von Arbeitsverträgen und Ausfüllen von Urlaubsan‐ trägen. Die Sprachförderung ist inhaltlich am Beruf orientiert (vgl. Kirch‐ höfer / Wilbers 2018). Die Fähigkeit, die allgemeine Sprachentwicklung ein‐ schätzen zu können, dürfte in der beruflichen Ausbildung nicht grundsätzlich erforderlich sein. Sie ist dann hilfreich, wenn Auszubildende die deutsche Sprache in ihren Grundzügen erwerben müssen, z. B. weil sie erst seit kurzem Deutsch lernen. Die Modellierung von Sprachförderkompetenz ist hinreichend allgemein ge‐ wählt, so dass sie auf den Kontext Ausbildung übertragen werden kann. Sie umfasst die Bereiche Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Einstellungen. Abb. 1: Sprachförderkompetenz - ein empirisches Modell (in Anlehnung an Hopp et al. 2010) Das Modell unterscheidet folgende Kategorien (s. Abb. 1): • Wissen über Sprache, z. B. Strukturen, Funktionen und Sprachgebrauch. • Wissen über den Erwerb von Sprachkompetenz bei ein- und bei mehr‐ sprachig Aufwachsenden. Hierzu zählt auch der Einfluss von Alter und kognitiven Fähigkeiten auf den Spracherwerb. • Wissen um Ansätze der Sprachstandfeststellung. Darunter werden bei Hopp et al. (2010: 619) unterschiedliche Verfahren gefasst, von Beobach‐ tungsverfahren bis zu standardisierten Tests. • Fähigkeit, sprachförderliche Maßnahmen zu planen und zu implemen‐ tieren, d. h. Methoden und Instrumente auszuwählen. • Einstellungen, die ein sprachbewusstes Ausbilden unterstützen. 141 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="142"?> Die Sprachförderung soll den Gegebenheiten vor Ort und der Situation ange‐ passt werden. Auf eine Gewichtung einzelner Teilkompetenzen wird verzichtet, um der Unterschiedlichkeit von Fördersituationen Rechnung tragen zu können (Hopp et al. 2010: 623). 3 Agiert das Ausbildungspersonal sprachbewusst? Beispiele aus der Praxis Handelt das Ausbildungspersonal sprachbewusst - und wenn ja, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen? Um dies zu ermitteln, wurde auf der Grundlage von Daten des Forschungsprojekts „Sprachlich-kommunikative An‐ forderungen in der beruflichen Ausbildung“ des Bundesinstituts für Berufsbil‐ dung ( BIBB ) untersucht, welche Bedeutung das betriebliche Ausbildungsper‐ sonal Sprache beimisst und mit welchen Methoden es den Erwerb von Sprachkompetenz ihrer Auszubildenden unterstützt (Settelmeyer et al. 2017). Ergebnisse des Forschungsprojekts werden den Kategorien des Sprachförder‐ kompetenz-Modells zugeordnet. Das Forschungsprojekt verfolgte unter anderem das Ziel, den Umgang mit sprachlich-kommunikativen Anforderungen in der dualen Ausbildung in den Berufen Medizinische Fachangestellte bzw. Medizinscher Fachangestellter, Kauffrau bzw. Kaufmann im Einzelhandel und Kfz-Mechatronikerin bzw. Kfz-Mechatroniker zu ermitteln. Hierfür wurden 46 leitfadengestützte Inter‐ views mit Ausbildenden in Betrieben unterschiedlicher Größe, Lehrkräften an Berufsschulen und Auszubildenden geführt sowie 22 teilnehmende Beobach‐ tungen an den Lernorten Betrieb und Berufsschule durchgeführt. Bei dem aus‐ bildenden Personal handelte es sich um Ausbildungsleiterinnen und Ausbil‐ dungsleiter, haupt- und nebenberuflich ausbildende Personen sowie ausbildende Fachkräfte. Es wurde die Relevanz ermittelt, die die Befragten sprachlichen Aspekten beruflicher Handlungskompetenz zumessen, und der Umgang mit sprachlich-kommunikativen Anforderungen erfragt (Settelmeyer et al. 2017). Die Untersuchung zeigt, dass das Ausbildungspersonal der Sprache dann eine bedeutende Rolle zuspricht, wenn es um berufsbezogene Sprachkompetenz geht, z. B. Fachbegriffe und eine adäquate Kommunikation im Beruf. Das Wissen über Sprache beim Ausbildungspersonal ist, abhängig von der eigenen Sprach‐ sozialisation, unterschiedlich ausgeprägt. Das Wissen über den Spracherwerb beschränkt sich auf allgemeine Erfahrungen verbunden mit der eigenen Sprach‐ sozialisation, mit der sprachlichen Entwicklung ihrer Kinder und Auszubildenden. Ein Einsatz von Instrumenten der Sprachstandfeststellung konnte nicht 142 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="143"?> beobachtet werden. Vor allem in größeren Betrieben werden aber innerhalb des Bewerbungsverfahrens das schriftliche als auch mündliche Ausdrucksver‐ mögen geprüft. Während der Ausbildung herrscht eine Face-to-Face-Kommu‐ nikation vor, so dass das ausbildende Personal ihre Erklärungen an den Bedürf‐ nissen der Auszubildenden ausrichten kann. Nachfragen können dabei helfen, den Stand der fachlichen Wissensvermittlung, aber auch des sprachlichen Aus‐ drucks zu erkennen. Der Blick in die Ausbildungspraxis zeigt, dass es in Betrieben zahlreiche und unterschiedliche Situationen gibt, um die Entwicklung berufsbezogener Sprach‐ kompetenz zu unterstützen. Es handelt sich dabei um authentische Lernsitua‐ tionen, bei denen fachspezifische und sprachliche Aspekte integriert erlernt werden können, so dass die Auszubildenden die Situation als relevant und sinn‐ voll erleben. Exemplarisch werden drei Lernsituationen bzw. wichtige Lernin‐ halte dargestellt. Das Ausbildungspersonal nutzt hierbei verschiedene Me‐ thoden der Wissensvermittlung: 1. Fachwörter als Teil des Lexikons können dem fachlichen Wissensstand der Auszubildenden entsprechend und verbunden mit den zu erledi‐ genden Arbeiten eingeführt werden. Bei der Vermittlung der Fachwörter nutzt das ausbildende Personal neben dem auditiven Sinneskanal auch weitere. Erklärungen von Fachwörtern können durch Gestik oder Haptik unterstützt werden, so dass z. B. Strukturen von Textilien ertastet oder die Anordnung von Bauteilen des Motors in Personenkraftfahrzeugen durch Zeigen verdeutlich werden. Bei der Vermittlung von Fachwörtern in der Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker bzw. zur Kfz-Mechatronikerin muss berücksichtigt werden, dass es unterschiedliche Benennungen von Bau‐ teilen seitens der Hersteller gibt. Zudem muss das Sprachregister beachtet werden, da Fachwörter in unterschiedlichen Kontexten geändert oder gekürzt werden. Fachsprachlich Generator kann in der Werkstattsprache Lima heißen, während umgangssprachlich Lichtmaschine vorherrscht. Weiterhin werden Fachwörter eingeübt, indem Ausbildende gezielt da‐ nach fragen und Auszubildende anhalten, Fachwörter statt alltagssprach‐ licher Begriffe zu verwenden, z. B. preiswert anstelle von billig. Werden Fachwörter im Arbeitsalltag häufig genutzt, unterstützt dies das Memo‐ rieren. In einzelnen Betrieben wird durch schriftliche oder mündliche Tests überprüft, ob Auszubildende Fachwörter gelernt haben. 2. Gespräche mit Kundinnen und Kunden oder Patientinnen und Patienten spielen in allen drei Ausbildungsberufen eine Rolle. In der Berufsschule lernen Auszubildende Grundzüge der für den jeweiligen Beruf relevanten Gesprächssorten kennen. Das Kundengespräch im Einzelhandel ist ele‐ 143 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="144"?> mentar für den Aufbau des Kontakts zum Kunden und für den Verkauf und damit für den Geschäftserfolg. Daher werden dort die allgemeinen Grundzüge des Kundengesprächs ggf. betriebsspezifisch und warenbe‐ zogen adaptiert, wenn z. B. bestimmte Formen der Ansprache von Kund‐ schaft gewünscht sind. Auch wird eine adressatengerechte Gesprächs‐ führung - mit fachlich versierten Kunden, mit gestressten oder unentschlossenen Kunden - vermittelt. Das Lernen am Modell, also die Beobachtung und Reflexion von Gesprächen erfahrener Kollegen und Kolleginnen, ist eine typische Methode, um Auszubildenden das Kun‐ dengespräch näher zu bringen. Darüber hinaus führen Ausbildende und Auszubildende metasprachliche Reflexionen, um sprachliche Mittel zu erarbeiten, die zur Bewältigung häufig wiederkehrender, z. B. Reklamati‐ onen, oder als schwierig empfundener Situationen benötigt werden. Me‐ dizinische Fachangestellte müssen zum Beispiel in der Lage sein, aufgebrachten Patientinnen und Patienten zu erklären, warum sie lange warten mussten, und Patientinnen und Patienten, die über eine geringe Sprach‐ kompetenz im Deutschen verfügen, in einer leicht verständlichen Sprache anzusprechen. Bei der Erarbeitung angemessener sprachlicher Äuße‐ rungen wird reflektiert, wie diese auf die Kundschaft bzw. Patientinnen und Patienten wirken. In der betrieblichen Ausbildung zur Kfz-Mechat‐ ronikerin und zum Kfz-Mechatroniker gehören Kundengespräche we‐ niger zum Arbeitsalltag, insbesondere, wenn Werkstatt und Kundenbe‐ reich getrennt sind. Eine für die Kundschaft verständliche Ausdrucksweise und ein höflicher Umgangston wird für ausreichend ge‐ halten. 3. Um fachbezogene Schreibfähigkeit zu üben, kann das Berichtsheft ge‐ nutzt werden. Es stellt eine Voraussetzung für die Zulassung zur Prüfung dar. Berichtshefte können ausschließlich tabellarische Übersichten um‐ fassen, in denen das Datum und die dann ausgeführten Arbeiten stich‐ punktartig aufgeführt werden, oder Fachberichte vorschreiben. Als Fach‐ berichte sind kohärente Texte zu relevanten Themen der Ausbildung zu verfassen. Ausbildende berichten, dass sie die Rechtschreibung, den Satzbau und den Inhalt korrigieren. Die Korrektur kann schriftlich und mündlich erfolgen. Ausbildende betonen, dass sie die Korrektur in einem geschützten Raum durchführen und nicht vor Dritten, um Auszubildende nicht zu blamieren. Bei einer hohen Fehlerzahl erwarten sie von den Aus‐ zubildenden, dass sie die Berichte neu schreiben. Jedoch werden sprachliche Aspekte nicht immer berücksichtigt. Ob dies ge‐ schieht, hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab: 144 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="145"?> • Wie entscheidend ist Sprache für die erfolgreiche Bewältigung der be‐ ruflichen Aufgaben? Beispielsweise ist das Kundengespräch bei den Kauf‐ leuten elementar für den Verkauf, und es wird geübt. Hingegen sind bei den Kfz-Mechatronikerinnen und - Mechatronikern keine speziellen Re‐ gelungen für das eher selten vorkommende Kundengespräch festzu‐ stellen. Zudem erhalten nur Auszubildende die Möglichkeit zu einem Ge‐ spräch mit Kundinnen und Kunden, wenn die kommunikativen Fähigkeiten von den Ausbilderinnen und Ausbildern als ausreichend ein‐ geschätzt werden. • Welche Außenwirkung des Betriebes wird durch den Sprachgebrauch er‐ zeugt? Dabei dominiert eine defizitorientierte Sicht. Beispielsweise werden Texte vor allem dann korrigiert, wenn sie für externe Personen bestimmt sind, wie z. B. Berichtshefte oder E-Mails an Lieferanten. Fehler in Dokumenten für den betriebsinternen Gebrauch werden hingegen kaum beachtet. • Wie ist die Ausbildung organisiert? Wenn beispielsweise das ausbildende Personal in den Arbeitsprozess eingebunden ist, bleibt teilweise wenig Zeit für die Auszubildenden und sprachliche Aspekte können in den Hin‐ tergrund geraten. Abb. 2: Kategorien des Sprachförderkompetenz-Modells (blau hinterlegt) bezogen auf die Berufsausbildungspraxis (orange hinterlegt) Die hier angeführten Beispiele zeigen, dass das betriebliche Ausbildungsper‐ sonal sprachbewusst agiert. Ob das Ausbildungsspersonal auf der Grundlage eines sprachdidaktischen Verständnisses handelt, ist nicht bekannt. Die sprach‐ 145 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="146"?> liche Unterstützung ist auf die berufliche Domäne fokussiert und unterliegt den betrieblichen Rahmenbedingungen. So sind die Bewältigung beruflicher Auf‐ gaben, das Image des Betriebes und die zeitliche Organisation wichtige Faktoren, die eine sprachbewusste Ausbildung beeinflussen. Zudem spielen auch indivi‐ duelle Dispositonen der Ausbildenden eine Rolle, z. B. die eigene Sprachkom‐ petenz und Einstellung zur Sprache. Äußerungen der Ausbildenden lassen da‐ rauf schließen, dass ihr Wissen über Sprache und Spracherwerb und ihr Einsatz bestimmter Methoden zur Sprachförderung auf ihren Alltagserfahrungen be‐ ruhen. Die Sprachstandfeststellung erfolgt aufgrund freier Beobachtung und Interpretation der Aktionen und Reaktionen von Auszubildenden (vgl. Abb. 2). Im Vordergrund steht die Sprache als Teil beruflicher Handlungskompetenz in einer gegebenen Situation. Nicht sprach- oder fachdidaktische Aspekte be‐ stimmen die Art und Weise der Sprachunterstützung, sondern die alltäglichen Arbeitsaufgaben. 4 Materialien zum bewussten Umgang mit Sprache in der Ausbildung Im Folgenden wird analysiert, in welcher Art und Weise Bereiche der Förder‐ kompetenzen in Materialien zum sprachbewussten Ausbilden fokussiert werden. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Instrumente entwickelt, die Aus‐ bildenden entsprechende Informationen, Materialien und Handlungsanwei‐ sungen vermitteln sollen. Wie Hopp et al. (2010: 610) für den Früh- und Elemen‐ tarbereich konstatieren, erfolgen „Beschreibungen zur Sprachförderung überwiegend in allgemeiner, anwendungsorientierter und daher situativ aus‐ gerichteter Form“. Im Folgenden werden vier Instrumente vorgestellt, die unter Beteiligung des BIBB entwickelt wurden bzw. über die Internetseiten des BIBB verfügbar sind. Alle Instrumente adressieren ausbildendes Personal. Es sind dies der Leitfaden „Sprachliche Hürden in der Ausbildung und wie man sie überwinden kann“, der Videoclip „Sprachliche Missverständnisse“, das Modul „Mit Begriffen und Re‐ geln ausbilden“ sowie das Modul „Sprache und Kommunikation “ einer Fortbil‐ dung zur Vorbereitung und Unterstützung des betrieblichen Ausbildungsper‐ sonals bei der Ausbildung junger Flüchtlinge. Die Instrumente werden auf der Grundlage der oben ausgeführten Kategorien des Modells „Sprachförderkompetenz“ vorgestellt und analysiert. 146 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="147"?> 4.1 Leitfaden „Sprachliche Hürden in der Ausbildung und wie man sie überwinden kann“ Der Leitfaden „Sprachliche Hürden in der Ausbildung und wie man sie über‐ winden kann“ (Bethscheider et al. 2017) gibt Ausbilderinnen und Ausbildern Anregungen für eine sprachbewusste Ausbildung. Sprachbewusstes Ausbilden soll dazu beitragen, sprachlich bedingte Missverständnisse und daraus entste‐ hende Konflikte in der Ausbildung zu verringern und so die Ausbildungsqualität zu verbessern. Sprachliche Schwierigkeiten werden insbesondere bei Auszu‐ bildenden vermutet, die noch nicht über ausreichende Sprachkompetenzen im Deutschen verfügen, z. B. Flüchtlinge. Der Leitfaden ist aus der Praxis für die Praxis konzipiert: Inhaltlich greift er empirisch in der Ausbildungspraxis ermit‐ telte Schwierigkeiten sprachlicher Art auf, die vielen Ausbildenden bekannt sein dürften und schlägt im betrieblichen Alltag ohne zusätzliche Hilfsmittel um‐ setzbare „Maßnahmen“ der Sprachförderung vor. Ausbildenden wird Wissen insbesondere auf der morphologischen und syn‐ taktischen Ebene vermittelt. Es sind dies beispielsweise fachsprachliche Be‐ griffe, bei denen das Funktionsverb seine ursprüngliche Bedeutung ändert, z. B. in Kraft treten im Sinne der Gültigkeit und nicht der Fußbewegung, sowie Wort‐ verbindungen, die einen Bedeutungswandel erfahren haben, z. B. erfolgen im Sinne von geschehen und nicht Erfolg haben. Zudem werden Ausbildende auf die unterschiedlichen Register der Alltags-, Bildungs- und Fachsprache hinge‐ wiesen. Sie sollen Auszubildenden erklären, welche Register in bestimmten Kontexten angemessen sind. Ausbildenden wird bewusstgemacht, auf den situ‐ ativ angemessenen Sprachgebrauch zu achten. Vor Kundschaft sollte z. B. nicht geflucht werden, vor Kolleginnen und Kollegen mag das möglich sein. Auch der Sprachgebrauch von Ausbildenden selbst kann Auszubildenden Schwierig‐ keiten bereiten, z. B. eine dialektale Aussprache und eine Verwendung bildhafter Phraseologismen, wie auf dem Schlauch stehen (weitere Beispiele siehe Wi‐ dera / Settelmeyer 2020: 130 f.). Es wird darauf hingewiesen, dass Phraseolo‐ gismen für Auszubildende mit begrenzten Sprachkenntnissen schwer zu ver‐ stehen sind, was der Kategorie Spracherwerb zugerechnet werden kann. Auf Aspekte der Sprachstandfeststellung wird im Leitfaden nicht eingegangen. Zur Umsetzung werden keine spezifischen Methoden vorgestellt, sondern allgemeine Handlungsprämissen formuliert: Ausbildende sollen zum einen ihren Sprachgebrauch vereinfachen, z. B. eine leicht verständliche Sprache wählen und eine dialektale Aussprache vermeiden. Zum anderen sollen sie Aus‐ zubildende sprachlich fordern, ohne sie zu überfordern. Auszubildende sollen auch in sprachlicher Hinsicht anspruchsvolle Aufgaben übernehmen und die 147 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="148"?> Möglichkeit erhalten, diese selbstständig auszuführen, ohne dass Ausbildende sofort eingreifen. Der Leitfaden kommt ohne als solches ausgewiesenes Lehr-Lern-Material aus. Die vielen Beispiele und alltäglichen Situationen des Leitfadens verweisen Ausbildende vielmehr darauf, sich die sprachlichen Schwierigkeiten des eigenen Arbeitsalltags bewusst zu machen und sie als Material für die Arbeit an Sprache zu nutzen. Der Leitfaden fördert damit eine reflektierende Haltung, die auf die eigene Ausdrucksweise und auf betriebliche Situationen, die sprachförderlich zu nutzen sind, gerichtet ist. Der Leitfaden ist inhaltlich und methodisch als niedrigschwelliges Instrument der Sprachförderung in der Ausbildung konzipiert. Er ist konsequent an der Zielgruppe der Ausbildenden und an der betrieblichen Ausbildung ausgerichtet: Die Beispiele umfassen verschiedene berufliche Bereiche und decken ein breites Spektrum an Schwierigkeiten ab, so dass Ausbildende Anknüpfungspunkte aus der eigenen Praxis finden werden. Die Notwendigkeit, an sprachlichen Hürden zu arbeiten, wird allen Interessierten nahegebracht. Zudem ist der Umfang so konzentriert, dass er auf wenigen Seiten eines DIN -A6-Formats Platz findet. Auch dies dürfte dazu beitragen, dass ausbildendes Personal den Leitfaden in die Hand nimmt. Auf sprachwissenschaftliche Begriffe und Systematiken wird weitgehend verzichtet und eine leicht verständliche Sprache gewählt. Sprach‐ förderung erfolgt im betrieblichen Arbeitsprozess und unmittelbar für das be‐ triebliche Arbeiten. Daher gibt es auch kein spezifisch entwickeltes Material: betriebliche Situationen liefern das Material. Primäres Ziel ist die konfliktfreie Zusammenarbeit im Betrieb und gute Aus‐ bildung. Sprachförderung ist als Mittel der Zielerreichung konzeptualisiert. Dieser Ansatz, der die Ausbildung in den Mittelpunkt stellt, vermeidet den Ein‐ druck, dass Ausbildende zusätzlich Sprachkompetenz fördern sollen. Metho‐ disch wird geraten, Äußerungen zu vereinfachen. Dies ist kritisch zu betrachten, da Vereinfachungen den Input qualitativ verringern. Betrifft dies Äußerungen, die in der betrieblichen Kommunikation gebräuchlich und fachlich erforderlich sind, erschwert dieses Vorgehen den Aufbau relevanter Sprachkompetenzen. 4.2 Videoclip „Sprachliche Missverständnisse“ Eine andere Art, Ausbildende auf sprachlich bedingte Konfliktsituationen auf‐ merksam zu machen, ist der Videoclip „Sprachliche Missverständnisse“ ( BIBB 2020). Er ist Teil einer Video-Reihe, in der Konfliktsituationen auch aufgrund kultureller Unterschiede problematisiert werden. Dazu wird eine zehnminütige Situation um die Phrase Das ist nicht mein Problem inszeniert: Ein Regal in einem Supermarkt ist falsch eingeräumt. Die 148 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="149"?> Ausbilderin nimmt an, dass ein Auszubildender mit geringen Deutschkennt‐ nissen dafür verantwortlich ist und spricht ihn darauf an, obwohl das Regal von einer anderen Person bestückt wurde. Um seine Unschuld auszudrücken, nutzt der Auszubildende die Phrase Das ist nicht mein Problem, was zu Irritationen bei der Ausbilderin führt. Er hätte Das ist nicht meine Schuld verwenden müssen. Die Szene endet mit dem Standbild des Auszubildenden, der seine Ratlosigkeit zum Ausdruck bringt. Aus Sicht der Ausbilderin werden nun drei unterschied‐ liche Reaktionen und Lösungswege in Form eines inneren Dialogs ausgeführt: (1) Sie ist verärgert und hat kein Verständnis dafür, dass der Auszubildende seinen Fehler nicht eingestehen will. (2) Sie ist über seine Antwort verwundert. Da momentan das Kundenaufkommen hoch ist, wird das Missverständnis nicht näher erörtert. Sie nimmt sich vor, so zu tun, als ob sie die Antwort nicht gehört habe. (3) Sie ist verwundert über seine Aussage und nutzt den Anlass sofort für ein klärendes Gespräch mit dem Auszubildenden. Als Methode, mit einer Irritation umzugehen, wird eine Metakommunikation über die Phrase empfohlen und ein mögliches Vorgehen eingehend dargestellt. Im Gespräch wird die falsche Wortwahl aufgeklärt und korrigiert, was ein mehrfaches Ansetzen der Ausbilderin erfordert. Im Ausgang der Szene werden vergleichbare „Stolpersteine“, wie das Idiom auf dem Schlauch stehen, genannt und es wird auf die Schwierigkeit von Personen mit einem begrenzten Sprach‐ vermögen hingewiesen, entsprechende Redewendungen zu verstehen. Die Ak‐ teure wenden sich gemeinsam der nächsten Aufgabe zu - ein Hinweis darauf, dass das klärende Gespräch sich nicht nur positiv auf das Sprachvermögen des Auszubildenden, sondern auch auf der Beziehungsebene ausgewirkt hat. Im Vordergrund des Videoclips stehen Phraseologismen und ihr Gebrauch. Es wird gezeigt, wie, abhängig vom Stand des Spracherwerbs, gängige um‐ gangssprachliche Redewendungen zu Verständigungsproblemen führen können. Wie im Leitfaden wird auch hier eine im betrieblichen Alltag vorkom‐ mende Situation aufgegriffen. Diese wird als „Material“ genutzt und kann aus‐ bildendes Personal anregen, Situationen des eigenen Betriebs in vergleichbarer Weise zu reflektieren und zu behandeln. 4.3 Lehrmodul „Mit Begriffen und Regeln ausbilden“ Das BIBB bietet mit foraus.de ein Portal für Ausbilderinnen und Ausbilder mit vielfältigen Informationen und einem Forum zum interaktiven Austausch rund um die Berufsbildung an, unter anderem zu sprachbezogenen Themen. So steht beispielsweise im Modul 8 „Mit Begriffen und Regeln ausbilden“ des Modulsys‐ tems „Handlungs- und prozessorientiert ausbilden“ die Vermittlung von Fach‐ wörtern im Fokus (Koch 2003). 149 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="150"?> Ein Problem in der Ausbildung ist, dass in Arbeitsanweisungen Fachwörter genutzt werden, deren Bedeutung den Auszubildenden nicht bekannt ist und sie folglich nicht wissen, was sie machen müssen. Zudem können gleiche Begriffe in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Handlungen erfordern. Anhand der Domäne Textverarbeitung wird in dem Modul 8 gezeigt, wie Ausbildende Fachbegriffe systematisch vermitteln und sie mit Handlungen verknüpfen können. Ausgehend vom Fachwort formatieren werden zugehörige Fachbegriffe in Hyperonyme und Hyponyme unterteilt und zu einem Netz verknüpft, z. B. werden dem Hyperonym formatieren die Hyponyme Seitenlayout und Textge‐ staltung untergeordnet. Seitenlayout umfasst wiederum die Fachbegriffe Satz‐ spiegel und Spalten, während Textgestaltung die Begriffe Schriften und Absätze beinhaltet. In einem weiteren Schritt werden die Fachbegriffe mit Handlungen verknüpft. So beinhaltet Seitenlayout beispielsweise das Einstellen von Seiten‐ rändern und Zeilenabständen. Abhängig vom Kontext unterliegt z. B. die Er‐ stellung von Texten für den externen Gebrauch anderen Regeln als für die in‐ terne Nutzung. In dem Lehrmodul werden beispielhafte Anleitungen zur Erarbeitung von Fachbegriffen und Regeln sowie zur Erstellung eines Lernal‐ bums, einem Fotoalbum mit Arbeitsanleitungen, gegeben. Zudem werden un‐ terschiedliche Lernsituationen zum Erlernen von Fachwörtern sowohl in schriftlicher als auch mündlicher Form beschrieben. Das Lehrmodul fokussiert die lexikalische Semantik. Den Ausbildern und Ausbilderinnen wird die Beziehung zwischen Fachwissen und Fachwörtern in Form von semantischen Relationen expliziert. Im Vordergrund steht hierbei, die Fachwörter mit den richtigen Handlungsanweisungen - sogenannten Regeln - zu verknüpfen. Die Feststellung des begrifflichen Wissens erfolgt durch ein ex‐ plizites Abfragen von Fachwörtern und Regeln. Weiterhin werden Methoden der Sprachförderung beschrieben. Hierzu gehört es, dass die Fachwörter aktiv von Auszubildenden erarbeitet und verwendet werden; sie sollen nicht nur ge‐ lesen, sondern auch geschrieben und gesprochen werden. Zudem sollen sie häufig genutzt werden. Zur Sprachförderung werden Lernsituationen ge‐ schaffen, die nicht unmittelbar im Arbeitsprozess eingebunden sind. 4.4 Fortbildung zur Vorbereitung und Unterstützung des betrieblichen Ausbildungspersonals bei der Ausbildung von Flüchtlingen Um ausbildendes Personal systematisch auf mögliche schwierige Alltagssitua‐ tionen in der Ausbildung von Flüchtlingen vorzubereiten, hat die Fachstelle für Übergänge in Ausbildung und Beruf (überaus) im BIBB in Zusammenarbeit mit dem Wiesbadener Bildungsträger FRESKO e. V. eine Fortbildung entwickelt. Sie ist berufsübergreifend angelegt. In vier Modulen zu jeweils vier Stunden geht 150 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="151"?> es um die Lebenssituation von Flüchtlingen, rechtliche Rahmenbedingungen, Fördermöglichkeiten sowie sprachliche und kommunikative Aspekte der Aus‐ bildung. Zudem werden persönliche Erfahrungen, z. B. hinsichtlich des eigenen Rollenverständnisses und individueller Interpretationsmuster, gemeinsam re‐ flektiert (Bethscheider / Wullenweber 2018; Bethscheider et al. i. Vorb.). Modul 2 behandelt schwerpunktmäßig den Bereich Sprache und Kommuni‐ kation in der betrieblichen Ausbildung. Es sollen Wissen über Hintergründe von Sprachproblemen, Ursachen von Missverständnissen im Betriebsalltag und Me‐ thoden zur Einschätzung von Sprachkenntnissen von Auszubildenden und zur Verständnissicherung vermittelt werden. Das Wissen über Sprache konzentriert sich vor allem auf soziolinguistische Aspekte des Sprachgebrauchs, die in der beruflichen Ausbildung wichtigen Sprachregister. Unterschiede zwischen den Registern auf morphologischer und syntaktischer Ebene werden aufgezeigt, z. B. zwischen Bildungs- und Fach‐ sprache. Ausbilderinnen und Ausbildern soll bewusstgemacht werden, dass Auszubildende mit Fluchthintergrund und mit geringen Sprachkenntnissen einen Registerwechsel nicht nachvollziehen können, da sie z. B. die Bildungs‐ sprache noch nicht gelernt haben. Es wird somit ein Bezug von der Komplexität von Sprache zum Spracherwerb hergestellt. Weiterhin wird die Sprachstandfeststellung thematisiert. Anhand des Ge‐ meinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen ( GER ) wird erklärt, wie Sprach-Zertifikate zu interpretieren sind. Auch werden Methoden zur Ein‐ schätzung vorhandener Sprachkenntnisse unabhängig von Zertifikaten ein‐ geübt. Ausbildende lernen zudem Techniken kennen, um sicherzustellen, dass Auszubildende mündliche und schriftliche Erklärungen und Arbeitsanwei‐ sungen verstanden haben, z. B. durch W-Fragen und indem Auszubildende Gehörtes mit eigenen Worten wiedergeben. Im Vordergrund des Moduls 2 steht die Reflexion des Sprachgebrauchs, um Ursachen von Missverständnissen im Betriebsalltag verstehen und vermeiden zu können, nicht die systematische Sprachförderung durch das Ausbildungs‐ personal. 4.5 Vergleichende Zusammenfassung Die Analyse der hier dargestellten Instrumente zum bewussten Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung mit den Kategorien des Modells zur Sprachförderkompetenz zeigt, dass die Instrumente Wissen über morphologi‐ sche, syntaktische, semantische und pragmatische Aspekte der Sprache vermit‐ teln. Die Darstellung erfolgt hierbei nicht auf abstrakter linguistischer Ebene, sondern wird durch musterhafte Einzelfälle aus der Ausbildungspraxis konkre‐ 151 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="152"?> tisiert und ist auf die Zielgruppe Ausbildungspersonal, die nicht über vertiefte linguistische Kenntnisse verfügen dürfte, abgestimmt. Ausbilderinnen und Aus‐ bildern wird verdeutlicht, dass entsprechende Kenntnisse keine notwendige Voraussetzung für sprachbewusstes Ausbilden sind. Wissen über Spracherwerb wird nicht explizit vermittelt, sondern in den Ausführungen wird ein Bezug zum Spracherwerb implizit hergestellt. So werden Methoden vorgestellt, die den Spracherwerb unterstützen, wie z. B. der häufige Gebrauch von Fachwörtern. Zudem wird auf das Verhältnis von Sprachkennt‐ nissen und Sprachverständnis verwiesen, z. B. dass bei geringen Sprachkennt‐ nissen idiomatische Ausdrücke nicht verstanden werden. Diagnoseinstrumente der Sprachstandfeststellung werden nicht verwendet. Allein in der Fortbildung werden standardisierte Sprachstandfeststellungsinstrumente erläutert. Die hier vorgestellten Instrumente zum sprachbewussten Umgang konzentrieren sich auf das freie Beobachten von Reaktionen von Auszubildenden auf Fragen oder Arbeitsanweisungen sowie ein Abfragen, um sicherzustellen, dass das Gesagte verstanden wurde. Auch in diesem Punkt wird ein niedrigschwelliges Vorgehen gewählt. Die Sprachförderung geschieht auf unterschiedliche Weise. Während der Leitfaden, der Videoclip und das sprachbezogene Modul der Fortbildung sprachliche Schwierigkeiten thematisieren und Ausbildende auffordern, Sprache und den eigenen Sprachgebrauch zu reflektieren, hat das Modul „Mit Begriffen und Regeln ausbilden“ das Ziel, Hilfestellungen zur systematischen Erarbeitung von Fachbegriffen vorzustellen. Leitfaden und Videoclip weisen thematische Überschneidungsbereiche auf, ihre Umsetzung erfolgt mit unterschiedlichen Medien. Der Videoclip bietet eine tiefergehende Bearbeitung einer einzelnen Situation und führt eingehend vor, wie irritierende Situationen konstruktiv bearbeitet werden können. Sowohl Leitfaden als auch Videoclip werden in der Fortbildung als Lehrmaterialien ein‐ gesetzt. 5 Zusammenfassung und Diskussion In diesem Beitrag wurde der Fragestellung nachgegangen, ob das betriebliche Ausbildungspersonal sprachbewusst agiert und wie ein sprachbewusster Um‐ gang in der Ausbildung unterstützt wird. Interviews mit dem betrieblichen Aus‐ bildungspersonal und teilnehmende Beobachtungen am Lernort Betrieb zeigen, dass das Ausbildungspersonal bewusst auf berufsspezifische Aspekte der Sprache eingeht, wenn sie entscheidend für die erfolgreiche Bewältigung der beruflichen Aufgaben und für die Außenwirkung des Betriebes ist, und Zeit für Ausbildung zur Verfügung steht. 152 Christina Widera & Anke Settelmeyer <?page no="153"?> Die Analyse von vier Instrumenten zur Unterstützung eines bewussten Um‐ gangs mit Sprache für Ausbildende zeigt, dass wesentliche Aspekte der Sprach‐ förderung nicht aus linguistischer Sicht, sondern konkret und auf den Ausbil‐ dungsalltag abgestimmt thematisieren werden. Dies dürfte bei Ausbilderinnen und Ausbildern Hemmschwellen, sich mit dem Thema Sprache zu befassen, senken. Die in den Instrumenten angeführten Beispiele sind branchen- und betriebs‐ übergreifend gewählt. Daher müssen Ausbildende in der Lage sein, für ihren Betrieb vergleichbare Situationen zu erkennen und die Methoden zu transfe‐ rieren. Allen vier Instrumenten ist gemeinsam, dass Sprache als Medium von Fach‐ lichem erachtet wird. Linguistische Beschreibungen der Sprache und Wissen über Spracherwerbsprozesse stellen keinen zusätzlich zu vermittelnden The‐ menbereich dar. Die hier vorgestellten Instrumente unterscheiden sich hinsichtlich des in‐ haltlichen Umfangs und der Tiefe der Befassung mit sprachlichen Aspekten. Ausbildende können wählen, mit wie viel Zeit und Intensität sie sich dem Thema widmen möchten. Damit wird der Heterogenität der Zielgruppe der Ausbildenden Rechnung getragen. Hauptberufliche Ausbildende können sich mögli‐ cherweise mehr Zeit nehmen als nebenberufliche. Es bedarf eines gewissen Spektrums an Instrumenten, um die jeweiligen betrieblichen Gegebenheiten der Ausbildung berücksichtigen zu können. Für weiterführende Untersuchungen der Ansätze sind Evaluationen not‐ wendig. Es fehlen wissenschaftliche Erkenntnisse zur Umsetzbarkeit von ent‐ sprechenden Ansätzen und insbesondere zu ihrer Wirkung auf den fachlichen und sprachlichen Kompetenzzuwachs von Auszubildenden. Auf der Grundlage von Wirkungsstudien können zudem Rückschlüsse gezogen werden, ab wel‐ chem Förderbedarf andere Formen der Unterstützung erforderlich sind, z. B. systematische Sprachkurse. Denn es ist zu berücksichtigen, dass die Zielgruppe der Auszubildenden auch hinsichtlich der Ausprägung ihrer sprachlich-kom‐ munikativen Kompetenzen sehr heterogen ist. Einige der hier vorgestellten In‐ strumente adressieren insbesondere Flüchtlinge, die erst seit wenigen Jahren Deutsch lernen; sie weisen jedoch auch auf die Anwendbarkeit der Methoden über diesen Personenkreis hinaus hin. Die untersuchten Instrumente legen nahe, dass bei der Sprachförderung im Betrieb auf linguistisches Wissen, Wissen um Spracherwerb und auf die Be‐ stimmung des Sprachstands von Auszubildenden weitgehend verzichtet werden kann. Diese Ergebnisse sollten evaluiert werden. 153 Umgang mit Sprache in der betrieblichen Ausbildung <?page no="154"?> Forschungsbedarf besteht zudem im Hinblick auf die Sprachkompetenzen der Ausbildenden selbst als eine der Rahmenbedingungen für sprachbewusstes Aus‐ bilden. Mögliche Zusammenhänge zwischen dem Niveau der Sprachkompe‐ tenzen und dem sprachbewussten Ausbilden sind bislang nicht bekannt. So könnten geringe Kompetenzen beim Schreiben die Bereitschaft einschränken, Berichte im Berichtsheft zu korrigieren. Eine begrenzte mündliche Ausdrucks‐ fähigkeit dürfte es erschweren, Auszubildenden eine angemessene Sprachver‐ wendung in unterschiedlichen Situationen zu erklären. In der beruflichen Ausbildung wird nicht nur berufliche Expertise erworben, sondern es entwickelt sich auch die Persönlichkeit der Auszubildenden. Dem Zusammenhang von persönlicher Entwicklung und der Entwicklung berufli‐ cher Sprachkompetenzen in der Ausbildung sollte nachgegangen werden. Mög‐ licherweise ergeben sich dadurch weitere Ansatzpunkte für das sprachbewusste Ausbilden. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Verständnisschwierigkeiten unterschiedliche Ursachen haben können. Sie können auf sprachliche Schwie‐ rigkeiten zurückzuführen sein, aber auch auf fehlendes Fachwissen und Desin‐ teresse. Weitere Erklärungsansätze sollten bei Verständnisschwierigkeiten be‐ rücksichtigt werden. Die Ausführungen zeigen, dass sich der Betrieb als geeigneter Lernort er‐ weist, um beruflich notwendige Sprachkompetenz zu vermitteln. Sprachbe‐ wusstes Ausbilden stellt einen niedrigschwelligen Ansatz dar, um den Erwerb sprachlich-kommunikativer Kompetenzen zu fördern. Erkenntnisse aus wei‐ teren Untersuchungen sollten genutzt werden, um das Modell der Sprachför‐ derkompetenz von Ausbildenden weiterzuentwickeln. Dies kann dazu bei‐ tragen, Anforderungen an das ausbildende Personal transparent zu machen und die Kompetenzen zu beschreiben, die benötigt werden, um diese Aufgabe zu erfüllen. Es trägt zur Professionalisierung des ausbildenden Personals bei der Sprachvermittlung bei. Literatur Association of Language Awareness (o. J.). About. Abrufbar unter: http: / / www.language awareness.org/ ? page_id=48 (Stand: 06 / 01 / 2021) AEVO (2009). Ausbilder-Eignungsverordnung. Abrufbar unter: https: / / www.gesetze-im -internet.de/ ausbeignv_2009/ BJNR008800009.html (Stand: 12 / 03 / 2021) Bethscheider, Monika / Wullenweber, Karin (2016). Deutsch als Zweitsprache und die Mehrsprachigkeit von Auszubildenden. Impulse zur Förderung einer sprachsensiblen Haltung des Ausbildungspersonals. 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The chapter concludes that a sustainable reduction of language barriers in vocational training might depend on expanding language sensitive strate‐ gies across the whole vocational education system. Keywords: continuing education, content and language integrated learn‐ ing / second language, company trainers 1 Die universitäre Weiterbildung „Perspektive Integration — Sprache im Beruf (PIB)“ 1.1 Hintergrund der Weiterbildung PIB Immer mehr Ausbildungsbetriebe sind angesichts von Fachkräftemangel und unbesetzten Ausbildungsstellen bereit, sich für junge Menschen mit sprach‐ lichem Förderbedarf zu öffnen (Bethscheider 2014: 3). Verstärkt wird die Moti‐ vation zur Besetzung vakanter Stellen durch die gesamtgesellschaftliche Auf‐ gabe, Zugewanderte und Geflüchtete in Ausbildung und Beruf zu integrieren. <?page no="160"?> 1 Hier sind u. a. die Qualifizierungsangebote und Publikationen der Fachstelle Berufsbe‐ zogenes Deutsch im Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung“ (Netzwerk IQ 2017) sowie die Fortbildungen der Frankfurter Fachstelle für berufsintegriertes Sprach‐ lernen (FaberiS) im Projekt „Arbeits- und ausbildungsintegrierte Sprachförderung in Hessen“ zu nennen (Cehak-Behrmann 2020). Laut einer aktuellen Online-Unternehmensbefragung ( DIHK 2019: 11) bilden im IHK -Bereich derzeit rund 16 % der ausbildenden Unternehmen Geflüchtete aus (2018 waren es noch 14 %, 2017 nur 7 %). Allerdings bemängeln 61 % der be‐ fragten Unternehmen ein „unzureichendes mündliches und schriftliches Aus‐ drucksvermögen“ der Schulabgängerinnen und Schulabgänger - ganz unab‐ hängig von deren Zuwanderungsgeschichte ( DIHK 2018: 21). Hinzu kommt, dass sich durch den technischen und ökonomischen Strukturwandel hin zur Digita‐ lisierung die sprachlichen Anforderungen am Arbeitsplatz erheblich erweitert und differenziert haben: „Neben Textsortenkompetenz ist […] eine kompetente Mediennutzung erforderlich, um Informationen aus analogen wie digitalen Quellen zu sammeln, zu verarbeiten und weiterzugeben“ (Kuhn / Sass 2018: 4). Manche Unternehmen engagieren sich bereits jetzt, um auch Auszubildenden mit Sprachförderbedarf einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu ermögli‐ chen. Diese Unterstützung hängt jedoch häufig von den persönlichen Hal‐ tungen, Erfahrungen und Schwerpunktsetzungen der jeweiligen ausbildenden Fachkraft ab (Settelmeyer / Widera 2017: 55) und folgt nur selten systematischen und methodischen Überlegungen. Die Kenntnisse und Fähigkeiten, die notwendig sind, um eine wachsende Anzahl an Auszubildenden mit Deutsch als Zweitsprache auf die steigenden kommunikativen Anforderungen am Arbeitsplatz vorzubereiten, können nicht einfach vorausgesetzt werden. Vielmehr sind passgenaue Qualifizierungsange‐ bote nötig, die das Ausbildungspersonal für berufsintegrierte Sprachförderung am Lernort Betrieb sensibilisieren und fortbilden (Efing 2020: 16 f.). Obwohl solche Angebote in den letzten Jahren bundesweit verstärkt entwickelt wurden, 1 zeigen Untersuchungen in Unternehmen, dass „die wenigen bislang vorhandenen Fortbildungsangebote noch immer selten in Anspruch genommen werden“ (Bethscheider 2014: 3). Dies mag u. a. daran liegen, dass die Mehrzahl der Betriebe die Beschäftigung mit sprachlichen Aspekten der Ausbildung und die entsprechende Qualifizierung mit komplexen, nicht unbedingt praxistaugli‐ chen Inhalten verbinden, die sie zudem eher im Verantwortungsbereich der Be‐ rufsschulen verorten (Cehak-Behrmann 2020: 29). Vor diesem Hintergrund hat die Universität Bonn im Jahr 2016 das weiter‐ bildende Studienangebot PIB („Perspektive Integration - Sprache im Beruf “) konzipiert. Dieses Weiterbildungsangebot sieht vor, alle Akteurinnen und Ak‐ 160 Veronika Vössing <?page no="161"?> teure, die am beruflichen Ausbildungsprozess beteiligt sind, miteinander in Austausch zu bringen. Es richtet sich damit nicht nur an betriebliches und über‐ betriebliches Ausbildungspersonal, sondern auch an Lehrkräfte an beruflichen Schulen, pädagogische Fachkräfte am Übergang Schule und Berufsausbildung sowie an Dozentinnen und Dozenten berufsbezogener Deutschkurse. Gefördert wird das Weiterbildungsangebot durch das Ministerium für Kultur und Wis‐ senschaft ( MKW ) des Landes Nordrhein-Westfalen, das im Rahmen der „Wei‐ terbildungsinitiative Deutsch als Zweitsprache“ (2016-2022) landesweit an elf Universitäten gebührenfreie Weiterbildungsangebote vorwiegend für ausgebil‐ dete bzw. angehende Lehrkräfte in Schule und Erwachsenenbildung finanziert (Asmacher et al. 2021). Das Programm PIB ist darunter bislang das einzige An‐ gebot, das dezidiert das Ausbildungspersonal adressiert und auf berufsbezogene Sprachförderung fokussiert ist. 1.2 Konzeption und Blended-Learning-Format der Weiterbildung PIB In der bisherigen Projektlaufzeit (2016-2020) haben 107 Teilnehmende aus sieben Studiengruppen die Weiterbildung PIB absolviert. Das Spektrum der be‐ ruflichen Tätigkeiten bzw. Funktionen teilte sich auf in betriebliche Ausbil‐ dungskräfte (20 %), Dozentinnen und Dozenten in der überbetrieblichen Aus‐ bildung (8 %), (Fach-)Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen (21 %), Lehrbzw. Fachkräfte in der berufsvorbereitenden Bildung und Beratung (32 %) sowie Lehrkräfte in berufsbezogenen Deutschkursen (19 %). Lediglich ein Drittel der Teilnehmenden verfügte bereits vor Besuch des Weiterbildungsangebotes über eine Qualifikation im Bereich Deutsch als Zweitbzw. Fremdsprache (DaZ / DaF). Diese heterogene Zusammensetzung der Zielgruppe mit unter‐ schiedlichen Bildungserfahrungen, (sprach-)didaktischen Kompetenzen, Fach‐ gebieten und Arbeitskontexten erfordert eine flexible und bedarfsgerechte Kon‐ zeption und Organisation sowie eine spezifische curricular und didaktisch differenzierte Gestaltung der Weiterbildung, die im Folgenden kurz skizziert werden soll. Ziel der Weiterbildung ist es, gemeinsam mit den Teilnehmenden ein Hand‐ lungsrepertoire zu erarbeiten, das sprachsensibles Lehren und Anleiten an den verschiedenen betrieblichen, schulischen und außerschulischen Lernorten er‐ möglicht. Inhaltlich werden die Teilnehmenden dazu befähigt, sprachliche För‐ derbedarfe ihrer Lernenden zu identifizieren, fachliches und sprachliches Lernen zu verbinden sowie den eigenen Sprachgebrauch bewusster zu gestalten. Sprachlernen wird damit als Prozess begriffen, der nicht isoliert außerhalb der beruflichen Qualifizierung stattfindet, sondern „zeitlich, räumlich und inhaltlich mit ihr verbunden“ ist (Cehak-Behrmann / Schulz 2014: 4). Ansätze und Modelle 161 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="162"?> 2 Das Blended Learning verzahnt Präsenzveranstaltungen eng mit digitalen Lernauf‐ gaben (vgl. z. B. Arnold et al. 2018: 23). Dieses Lernsetting wird inzwischen von potenziellen Teilnehmenden als Qualitätsmerkmal anspruchsvoller Weiterbildungen voraus‐ gesetzt (Schmid et al. 2018: 23 f.). des sprachsensiblen Fachunterrichts (Leisen 2010; Efing 2020) bzw. der berufs‐ integrierten Sprachförderung (Cehak-Behrmann 2018), die auf eine möglichst enge Verflechtung von fachlichen und sprachlichen Lernprozessen in Unter‐ richtsbzw. Arbeitskontexten zielen, bieten hierfür ein geeignetes Instrumen‐ tarium. Wirksame Weiterbildung sollte die beruflichen Erfahrungen der Teilnehmenden einbeziehen, „Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen vorsehen und miteinander verknüpfen“ (Lipowsky / Rzejak 2017: 390). Um dies zu gewähr‐ leisten, sind die PIB -Präsenzveranstaltungen über ein Blended-Learning-Kon‐ zept 2 mit eLearning-Aufgaben auf einer Lernplattform verbunden. In den Ver‐ anstaltungen liegt der Fokus auf der Erarbeitung, Simulation und Reflexion von Theorien und Methoden, die auf die gemeinsamen Bedarfe der Teilnehmenden ausgerichtet sind. Damit verschränkt sind vor- und nachbereitende Praxisauf‐ gaben der eLearning-Komponente. Diese Aufgaben ermöglichen es den Teil‐ nehmenden einerseits, die Veranstaltungen durch die Einreichung von eigenen Erfahrungen, Fallbeispielen oder Materialien mitzugestalten, und unterstützen andererseits dabei, die Inhalte und Ansätze auf den individuellen Arbeitsplatz zu übertragen (Christiani et al. 2021: 99-104). Überdies stehen auf der Lernplatt‐ form fakultativ bearbeitbare Vertiefungsmaterialien (etwa speziell für Ausbil‐ dungskräfte) zur Verfügung. Damit dieser Transfer auf den Arbeitsplatz als motivierend und verbindlich wahrgenommen und individuell begleitet werden kann, bedarf es einer ent‐ sprechenden Tutorierung des Lernens (Kerres / de Witt 2003: 6 und 9). Zusätzlich muss bei dieser Zielgruppe ein im Vergleich zu studentischen Lerngruppen deutlich höherer Betreuungsaufwand für die Nutzung der Lernplattform ein‐ kalkuliert werden, da ein beträchtlicher Anteil der Teilnehmenden wenig bis keine Erfahrung in digitalisierten Bildungssettings hat (Christiani et al. 2021: 105 ff.). Um das Angebot mit den beruflichen, familiären und sozialen Verpflich‐ tungen der Teilnehmenden zeitlich kompatibel zu gestalten, werden die sechs Veranstaltungstage am Wochenende über einen Zeitraum von ca. vier Monaten angeboten. Die einzelnen Veranstaltungen finden in einem Abstand von min‐ destens zwei Wochen statt, damit die Teilnehmenden bereits innerhalb der Wei‐ terbildung die notwendige Zeit sowie die fachliche Beratung zur Verfügung haben, die Themen in der eigenen Praxis zu erproben. Das o. g. Blended-Lear‐ 162 Veronika Vössing <?page no="163"?> ning-Konzept erlaubt es zudem, das Lernen raumzeitlich zu flexibilisieren und zugunsten asynchron und fakultativ bearbeitbarer Online-Inhalte die Anzahl und Dauer der Präsenzphasen proportional zu verkürzen. So konnte in der zweiten Förderphase (2019-2022) die Präsenzzeit um zwei Veranstaltungstage reduziert werden. Außerdem werden im Präsenz- und Online-Bereich inter- und intradiszipli‐ näre Austausch- und Vernetzungsprozesse unter den Teilnehmenden initiiert, um das Potenzial, das sich aus deren unterschiedlichen fachlichen und pädago‐ gischen Kompetenzen ergibt, nutzen zu können. Betriebliche Ausbildungskräfte berichten beispielsweise häufig, dass ihnen die teilweise stark abweichenden sprachlichen Herausforderungen am schulischen Lernort erst durch die Zu‐ sammenarbeit mit Berufsschullehrkräften bewusstwerden - und umgekehrt (ebd.: 102 f.). Lehrkräfte aus berufsbezogenen Deutschkursen können dagegen Fachpersonal für Hürden der deutschen Sprache sensibilisieren und erhalten im Gegenzug Einblick in die mögliche spätere Berufswelt ihrer Lernenden. 2 Der Betrieb als Sprachlernort: Methoden und Ansätze zur Qualifizierung des Ausbildungspersonals für berufsintegrierte Sprachförderung Qualifizierungsmaßnahmen zur sprachsensiblen Gestaltung von betrieblichen Lernprozessen sollten zwei Handlungsebenen umfassen: erstens die Ebene der sprachlich-kommunikativ förderlichen Interaktion mit den Auszubildenden und zweitens die Ebene der systematischen Selbstreflexion des Ausbildungsperso‐ nals (Bethscheider et al. 2016: 177 f.). Weiterbildungen in diesem Bereich müssen also sowohl die Sprache der Auszubildenden als auch die Sprache des Ausbil‐ dungspersonals berücksichtigen. Im Folgenden werden mit der Szenario-Me‐ thode (Kap. 2.1) und der Erstellung von sprachsensiblen Arbeitsaufträgen (Kap. 2.2) zwei Sprachförderansätze vorgestellt, die im Rahmen der Weiterbil‐ dung PIB vermittelt werden und sich jeweils auf eine der beiden Ebenen be‐ ziehen lassen. 2.1 Sprache der Auszubildenden: Szenario-Methode Untersuchungen in Betrieben haben ergeben, dass sich Auszubildende in kom‐ munikativen Situationen eher auf die Alltagssprache beschränken und häufig nicht zwischen unterschiedlichen berufsrelevanten sprachlichen Registern 163 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="164"?> 3 Sprachliche Register werden als angemessen wahrgenommene Rede- und Schreib‐ weisen in unterschiedlichen Kommunikationssituationen begriffen, die funktional an Rahmenbedingungen wie z. B. „Ort, Zeit, Umstände, Kommunikationspartner, institu‐ tionelle Zwecke [und] Medium“ gebunden sind (Efing 2014: 417). Neben Registern wie Alltags-, Bildungs- und Fachsprache muss im berufsbildenden Kontext das berufsüber‐ greifende und fachunspezifische Register Berufssprache fokussiert werden, da ein Großteil der beruflichen Kommunikation nicht mittels Fachsprache bestritten wird (ebd.: 419). Da auch vielen Teilnehmenden der Weiterbildung PIB diese Registertheorie oft nicht bewusst ist, wird in der ersten Veranstaltung intensiv darauf eingegangen. wählen können (Bethscheider et al. 2016: 169). 3 Außerdem gehen viele Auszu‐ bildende ihre Schwierigkeiten im mündlichen und schriftlichen Ausdruck nicht offensiv an, sondern vermeiden beispielsweise Kundengespräche oder Telefo‐ nate, was Ausbildungskräfte dann wiederum - oft fälschlicherweise - als feh‐ lende fachliche Kompetenz oder Motivation interpretieren (ebd.: 176 f.). Die Szenario-Methode, mit der sich typische Kommunikationssituationen am Arbeitsplatz simulieren lassen, wirkt diesen Schwierigkeiten entgegen. Sie baut zum einen auf Ansätzen in der innerbetrieblichen Aus- und Fortbildung auf, betriebswirtschaftliche Fragestellungen in Form von Fallstudien (case studies) zu behandeln. Zum anderen geht sie auf die Einsicht in die Kommunikations- und Handlungsorientierung von Lehr-/ Lernszenarien in der Fremdsprachendi‐ daktik zurück (Sass / Eilert-Ebke 2017: 7 f.). Die Szenario-Methode ist mittler‐ weile sowohl im betrieblichen und berufsschulischen Kontext als auch im berufsvorbereitenden Sprachunterricht verankert und wird auch zur Lernfort‐ schrittsmessung, in IHK -Zertifizierungen und Prüfungen genutzt (Sass / Ei‐ lert-Ebke 2017: 7 f.). Als berufsprozessorientiertes sprachliches Förderinstru‐ ment eignet sich die Methode daher in besonderer Weise für den Einsatz in einem Train-the-Trainer-Format wie PIB , das eine multiprofessionelle Ziel‐ gruppe anspricht. In einem Szenario werden die für einen Arbeitsbereich relevanten Sprach‐ handlungen (wie z. B. Pflegeziele erörtern) in einen situativen und realitäts‐ nahen Kontext eingebunden und in eine Schrittfolge gebracht, die von einem bestimmten Anlass ausgeht und auf ein Ergebnis hinsteuert (Eilert-Ebke 2016: 4). So entsteht eine Handlungskette, die pro Schritt mehrere Rollen einbindet und sprachliches Handeln in mündlichen und schriftlichen Kommunikationssitua‐ tionen erfordert. Der Anlass für eine solche Handlungskette könnte, wie z. B. in dem Szenario „Essen nicht vergessen“, die verweigerte Nahrungsaufnahme eines Patienten sein (ebd.: 27-30). Darin spricht die Pflegekraft (Rolle A) zunächst mit dem Patienten (Rolle B), schildert die Situation dann einer erfahrenen Pflege‐ kraft (Rolle C), spricht anschließend das weitere Vorgehen mit dem Stationsarzt (Rolle D) ab und hält schließlich die Ergebnisse im Pflegeplan fest (vgl. Abb.1). 164 Veronika Vössing <?page no="165"?> Abb. 1: Sprachhandlungen als Handlungskette nach Eilert-Ebke 2016: 18 Ausgehend von den kommunikativen Anforderungen am Arbeitsplatz und dem Sprachbedarf der Lernenden werden die fachlichen und sprachlichen Lernziele des Szenarios ermittelt und als Kann-Beschreibungen formuliert (Sass / Ei‐ lert-Ebke 2017: 10 f.). Auf dieser Basis werden die Rollenkarten erstellt, auf denen die spezifischen Aufgaben der Rolle pro Schritt festgehalten sind. Am Lernort Betrieb müssen für diese Methode - z. B. im Gegensatz zum schu‐ lischen Lernort - keine fiktiven Situationen simuliert werden. Vielmehr wird den Auszubildenden ein „Probehandeln […] am Arbeitsplatz“ (Sass / Dase 2019: 6) er‐ möglicht, was zum Abbau von Vermeidungsverhalten führen kann. Die Lern‐ enden erwerben so nicht nur fachliches Können und Wissen zu Arbeitsabläufen im Betrieb, sondern auch sprachliche Fertigkeiten (z. B. durch die Anwendung von vorab erarbeiteten Strukturen und Redemitteln aus den Registern Alltags-, Fach- und Berufssprache) sowie kommunikative Kompetenzen und Strategien (z. B. ak‐ tives Zuhören, Körpersprache und Intonation). Im Rahmen der Weiterbildung PIB lernen die Teilnehmenden, wie man Sze‐ narien erstellt, inszeniert und auswertet. In der Auswertung wird besprochen, wie der Lernerfolg mithilfe der Kann-Beschreibungen evaluiert werden und zu einer besseren Selbsteinschätzung der Lernenden in Bezug auf die Entwicklung ihrer sprachlichen Fähigkeiten führen kann (Sass / Dase 2019: 19-23). Darüber hinaus werden hier Möglichkeiten des Umgangs mit sprachlichen Fehlern re‐ flektiert. Bei vielen ausbildenden Fachkräften herrscht fälschlicherweise der Eindruck vor, es ginge dabei v. a. um die sprachliche Korrektheit von Aussagen. Allerdings kommt es oft - gerade im Betrieb - vielmehr auf die Flüssigkeit und die Wirksamkeit, d. h. den Erfolg in der Kommunikationssituation (ebd.: 20) sowie die angemessene Registerwahl an. Im Anschluss entwerfen die Teilnehmenden in Kleingruppen eigene Szena‐ rien. Hier können beispielsweise ein Fachanleiter in einem Krankenhaus, eine 165 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="166"?> 4 Die Sprachbedarfsermittlung ist ein Instrument aus der berufsbezogenen Deutschför‐ derung zur Ermittlung der sprachlich-kommunikativen Bedarfe an einem spezifischen Arbeitsplatz. Befragungen, Beobachtungen, Erkundungen im Betrieb und / oder das Auswerten von Fachtexten, betrieblichen Regeln, Prüfungsaufgaben etc. stellen dabei Zugänge dar, um herauszufiltern, welche sprachlich-kommunikativen Mittel für be‐ stimmte Fachbereiche bzw. Berufsfelder relevant sind (Weissenberg 2012). 5 Dieses Zitat stammt aus dem Peer-Feedbackbogen einer Teilnehmerin. Lehrkraft für Pflegeberufe und eine Deutschdozentin gemeinsam an einem Sze‐ nario zum Thema Pflegeassistenz am ersten Tag auf Station arbeiten. Durch diese heterogene Zusammensetzung werden den Teilnehmenden die - teils stark voneinander abweichenden - schulischen und betrieblichen Anforderungen im dualen Ausbildungssystem bewusst. Zudem können sie von ihren unterschied‐ lichen berufsfachlichen, pädagogischen und metasprachlichen Kompetenzen profitieren, wenn es darum geht, fachliche und sprachliche Anforderungen sowie die dafür notwendigen Redemittel und Strukturen zu identifizieren und sprachliche Niveaustufen festzulegen (Christiani et al. 2021: 101 ff.). Als nachbereitende eLearning-Aufgabe arbeiten die Teilnehmenden das zuvor skizzierte Szenario für ihre jeweilige Zielgruppe aus. Um die ausgewählte Situation, die einzelnen Handlungsschritte und die spezifischen Rollenkarten besser formulieren zu können, nutzen sie strukturierte Vorlagen (Sass / Ei‐ lert-Ebke 2017: 105-110). Diese Szenarien bauen auf den kommunikativen An‐ forderungen auf, die die Teilnehmenden bereits im Rahmen von Sprachbedarfsermittlungen 4 vorab bestimmt haben. In einem weiteren Aufgabenschritt geben sich die Teilnehmenden anhand von kriteriengeleiteten Feedbackbögen gegenseitig eine Rückmeldung zu ihren Szenarien. Die ursprüngliche Vermu‐ tung seitens der Fortbildenden, dass die Gruppe der Ausbildungskräfte hier aus‐ schließlich fachliche Rückmeldungen geben würde, lässt sich mit Blick auf ein exemplarisches Peer-Feedback einer Ausbilderin im Übrigen nicht bestätigen: Die Aufgabe des Auszubildenden ist [auf der Rollenkarte, Anm. d. Verf.] deutlich be‐ schrieben bzgl. seiner Vorgehensweise […]. Es ist weniger beschrieben, wie der Aus‐ zubildende sprachlich vorgehen soll, z. B.: ‚Stellen Sie sich und ihren Ausbildungsberuf vor unter Verwendung von Alltagssprache. Erklären Sie [dem Tagespraktikanten] den Aufbau des Lagers in kurzen und einfachen Sätzen. Verwenden Sie einfache Fachbe‐ griffe. Überprüfen Sie, ob der Tagespraktikant Sie verstanden hat. 5 Hier und auch in anderen Feedbackbögen wird explizit auf sprachliche Punkte wie die Verwendung von unterschiedlichen Registern und Strategien zur Ver‐ ständnissicherung hingewiesen, was eine erhöhte Sensibilität bezüglich der sprachlichen Anforderungen im Beruf als Ergebnis der Fortbildung vermuten 166 Veronika Vössing <?page no="167"?> lässt. Nach einer finalen Überarbeitung steht der ganzen Studiengruppe die Sammlung der vielseitig einsetzbaren Szenarien zu unterschiedlichen Themen auf der Lernplattform zur Verfügung. Insgesamt bietet der Einsatz von Szenarien die Möglichkeit, sprachliches Lernen direkt in betriebliche Prozesse zu integrieren. So können Szenarien zum Training von wiederkehrenden Abläufen im Betrieb (z. B. Krankmeldung, Ma‐ terialbestellung, Kundenbeschwerde etc.), zur Vorbereitung auf praktische Prüfungen oder für Sprachstandserhebungen zum Einsatz kommen (Eilert-Ebke 2016: 5). 2.2 Sprache des Ausbildungspersonals: Arbeitsaufträge In betrieblichen Anleitungssituationen steht die fachlich-inhaltliche Qualifizie‐ rung zunächst im Vordergrund; diese erfolgt jedoch in wesentlichen Teilen über Sprache. Ein bewusster Umgang mit Sprache bedeutet dabei nicht, dass fachlich Qualifizierende auch Sprachunterricht erteilen müssen oder dieser ersetzt werden könnte. Es geht vielmehr darum, ein sprachlernförderliches Arbeitsumfeld zu gestalten und die eigene Sprache bewusst so einzusetzen, dass das gegenseitige Verstehen - und somit auch die Lernprozesse und die Arbeitsabläufe - positiv beeinflusst werden. (Cehak-Behrmann / Schulz 2014: 8) Fachliche Arbeitsaufträge in sprachförderlicher Form zu vermitteln ist in der Um‐ setzung sehr anspruchsvoll - gerade für Ausbildungspersonal, das Anweisungen im laufenden Betrieb und meist ohne linguistisches bzw. DaZ-bezogenes Vor‐ wissen erteilen muss. Darum werden die Teilnehmenden im Rahmen der Weiter‐ bildung PIB für typische Verständnisfallen in einer vermeintlich funktionier‐ enden Sprachverwendung sensibilisiert, so z. B. für Ironie, Redewendungen, dialektale Varietäten und Klitisierungen wie „Hamma nich! “ oder „Kriegste dat hin? “ (Berg / Leinecke 2014: 12). Zudem erarbeiten die Teilnehmenden konkrete Handlungsimpulse zum sprachsensiblen Anleiten, die an den ver‐ schiedenen Arbeitsplätzen möglichst direkt umsetzbar sind. So kann die Ver‐ ständlichkeit u. a. durch strukturierte, knappe Formulierungen erhöht werden, bei denen die zeitliche Abfolge von Handlungsschritten herausgestellt wird (z. B. zuerst …, dann …). Jeder Satz sollte nur einen Gedankengang bzw. einen Ar‐ beitsschritt enthalten. Fachbegriffe und fachsprachliche Formulierungen sollten ausdrücklich nicht vermieden, aber ggf. zusätzlich in einfacher Sprache erläutert werden. Diese sprachförderlichen Maßnahmen sollten durch sprachvereinfa‐ chende Herangehensweisen wie klare Akzentuierungen, die Anpassung des Sprechtempos und Sprechpausen ergänzt werden. Wichtige Punkte wie z. B. die 167 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="168"?> zur Verfügung stehende Zeit, zentrale Arbeitsschritte, wichtige Fachbegriffe sowie das erwartete Ergebnis sollten nach Möglichkeit zusätzlich visualisiert werden (Cehak-Behrmann / Schulz 2014: 12 f.; Berg / Leinecke 2014: 12). Ein weiteres von den Teilnehmenden häufig geschildertes Problem ist, dass Auszubildende keine Nachfragen stellen, obwohl sie nachdrücklich dazu auf‐ gefordert und ermutigt werden. Dies hat zur Folge, dass Arbeitsaufträge oftmals nicht oder fehlerhaft ausgeführt werden. Da die Konfrontation mit den eigenen sprachlichen Defiziten für viele Auszubildende nicht-deutscher Herkunfts‐ sprache als unangenehm und beschämend empfunden wird (Bethscheider 2014: 7), müssen Ausbildungskräfte geeignete Wege finden, um eine wertschät‐ zende Atmosphäre und einen produktiven Umgang mit Verständnisschwierig‐ keiten und Fehlern zu etablieren. Hier können einfache Strategien hilfreich sein, wie z. B. eine positive Form der Verständniskontrolle: Statt zu sagen, was nicht verstanden wurde, können Lernende dazu aufgefordert werden, in eigenen Worten zu formulieren, was sie verstanden haben (Bethscheider et al. 2016: 177) oder wie sie jetzt vorgehen würden. Abhängig von den schriftsprachlichen Kompetenzen der Auszubildenden kann es auch hilfreich sein, mündlich erteilte Arbeitsaufträge von den Lernenden verschriftlichen zu lassen - dies dient der besseren Erinnerbarkeit, der Verbindlichkeit und nicht zuletzt der Förderung der fachbezogenen Schreibkompetenz (Cehak-Behrmann / Schulz 2014: 15). Dieses Vorgehen, Arbeitsaufträge gleich zu Beginn kleinschrittig durchzuspre‐ chen, erscheint zwar zunächst zeitaufwändig, ist jedoch langfristig effektiver „als nach ein paar Stunden oder Tagen mittlerweile nicht mehr nachvollziehbare Missverständnisse aufzuklären“ (ebd.: 11). Die oben beschriebenen Handlungsimpulse werden in der Weiterbildung PIB nicht nur vermittelt, sondern im Rahmen von kooperativen Lernarrangements auch erprobt. Ähnlich wie bei der Szenario-Methode nehmen die Teilnehm‐ enden in multiprofessionellen Teams verschiedene Rollen ein, um typische Ar‐ beitsanweisungen aus ihren Arbeitsbereichen zu simulieren: Person A ist Aus‐ bilderin, Lehrkraft oder Bildungsbegleiter und gibt den mündlichen Arbeitsauftrag an Person B, die die Rolle der bzw. des Auszubildenden einnimmt. Person C ist Beobachterin bzw. Beobachter und gibt anschließend ein Feedback mithilfe eines Beobachtungsbogens, der zuvor erarbeitete Kriterien für sprach‐ sensible Arbeitsaufträge auflistet. Nach jedem Durchgang wechseln die Rollen. In den anschließenden Reflexionsgesprächen zeigt sich häufig, dass durch diesen Perspektivwechsel sprachsensibilisierende Lernprozesse stattgefunden haben und die Teilnehmenden Stolpersteine und eingeschliffene Sprachmuster in den eigenen Anleitungen stärker wahrnehmen: „Ich spreche häufig zu kom‐ plex und packe zu viele Informationen in einen Satz“, so ein Teilnehmer. In der 168 Veronika Vössing <?page no="169"?> Rolle der Auszubildenden hingegen erleben die Teilnehmenden, wie herausfor‐ dernd das Verständnis und das Reformulieren von mündlichen Arbeitsanwei‐ sungen sind und welche Hilfsmittel diesen Prozess ggf. erleichtern könnten. Mit diesem geschärften Blick reflektieren die Teilnehmenden als nachberei‐ tende eLearning-Aufgabe ihr eigenes Agieren in Anleitungssituationen. An‐ schließend schildern sie auf der Online-Lernplattform ihre Erfahrungen und Erkenntnisse in einem Forum, in dem die anderen Teilnehmenden Kommentare, Rückfragen und weitere Tipps formulieren können. 3 Wissenschaft trifft Praxis: Verhältnis der Weiterbildung zu den Anforderungen am Arbeitsplatz 3.1 Absolventenumfrage zur Wirksamkeit der PIB-Inhalte im Betrieb In den am Ende der Weiterbildung regelmäßig durchgeführten Evaluationen wurde PIB von den einzelnen Studiengruppen stets positiv bewertet. Die Evalua‐ tionsergebnisse lassen auf eine hohe Bereitschaft der Teilnehmenden zur Umset‐ zung des in der Weiterbildung Gelernten schließen. Um den tatsächlichen Transfer der PIB -Inhalte in die berufliche Praxis überprüfen zu können, wurde im Herbst 2020 eine Absolventenumfrage durchgeführt. Der Fokus dieser Um‐ frage lag auf dem Lernort Betrieb, weswegen lediglich die betrieblichen Ausbil‐ dungskräfte unter den Absolventinnen und Absolventen der letzten vier Jahre adressiert wurden. An der Umfrage nahmen von den insgesamt 21 Ausbildungs‐ kräften knapp zwei Drittel, nämlich 13 Personen, teil, die in den Branchen Pflege / Gesundheit, Gastgewerbe, Friseurhandwerk, Verwaltung / Büro, Informa‐ tionstechnologie und Chemie tätig sind. Abgefragt wurden die subjektiven Ein‐ schätzungen und Einstellungen der Absolventinnen und Absolventen zur Nut‐ zung der Weiterbildungsinhalte. Angesichts der insgesamt geringen Zahl an Ausbildungskräften in den vergangenen Studiengruppen ist diese Absolventenumfrage nicht repräsentativ. Aufgrund der hohen Übereinstimmung mit den Resultaten der o. g. Evaluationen erlauben die Umfrageergebnisse jedoch erste Aussagen zur Übertragbarkeit von PIB -Inhalten auf die betriebliche Praxis. In der Umfrage gaben drei Viertel der befragten Ausbildungskräfte an, die Herausforderungen an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz nach der Weiterbildung besser meistern zu können. Der Frage, ob sich ihre professionelle Haltung zur Sprachförderung seit dem Besuch des Programms PIB verändert habe, stimmten insgesamt 84 % der Befragten zu. In den Antworten auf diese Frage wird grund‐ sätzlich eine erhöhte Sensibilität für die sprachlichen Anforderungen in der Ausbildung sichtbar: 169 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="170"?> 6 Dieses Zitat stammt wie die folgenden Zitate aus der oben beschriebenen Absolventenumfrage. Durch die Fortbildung wurde mir noch mal mehr verdeutlicht, wie wichtig Sprache beim Lernerfolg und für die angehenden Azubis ist. […] Ziel ist es Sicherheit in der Sprache zu bekommen. Die Dozenten oder Ausbilder sollten sich nach dem individu‐ ellen Sprachstand der Teilnehmer richten. 6 Auch wenn die Möglichkeiten der sprachlichen Förderung im Ausbildungsalltag zuweilen auch weiterhin als „eher gering“ eingeschätzt wurden, ist aus den An‐ merkungen ein nachhaltiges Bewusstsein der Ausbildungskräfte für die Not‐ wendigkeit von sprachlicher Förderung der Auszubildenden im Betrieb ablesbar. Mehrfach wurde die neu erkannte eigene sprachliche Vorbildfunktion themati‐ siert, aus der heraus kontraproduktive Gewohnheiten wie der Gebrauch von Anglizismen, Slang oder Dialekt vermieden werden sollten, wie ein Teilnehmer formulierte. Außerdem deuten die Äußerungen darauf hin, dass der in der Wei‐ terbildung häufig angeregte Perspektivwechsel, etwa im Rahmen von Szenarien oder Rollenspielen, ein vertieftes Verständnis für sprachliche und kulturelle Verständigungsprobleme sowie deren Hintergründe ermöglicht. Um zu eruieren, inwiefern die veränderte Haltung und erhöhte Sprachsensi‐ bilität auch im Arbeitsalltag sichtbar sind, wurden die Ausbildungskräfte über‐ dies nach Resonanz zu ihrer Arbeit befragt, die mit dem Besuch der Weiterbil‐ dung in Verbindung zu bringen ist. Ein Ausbilder aus der Gastronomie berichtete in diesem Zusammenhang, er habe aus dem Kollegium wiederholt positive Feedbacks zu seinen schriftlichen, nun besser verständlichen Mitarbeiterinfor‐ mationen erhalten. Eine Fachkraft aus der Pflege gab die Rückmeldung ihrer Auszubildenden wieder, dass diese „sicherer im Alltag werden, z. B. bei der Do‐ kumentation oder bei der Beratung der Patienten.“ Andere wiederum konnten die Bedeutung von Sprachtraining am betrieblichen Lernort bereits bei den Vor‐ gesetzten und im Kollegium multiplizieren und so „im Arbeitsalltag Freiräume [erhalten], die Auszubildenden sprachlich zu fördern.“ Der Frage, ob sich berufliche Veränderungen ergeben haben, die mit dem Besuch der Weiterbildung in Verbindung stehen, stimmten 58 % der Befragten zu. So schrieb eine Ausbilderin, sie habe „angeregt durch die Weiterbildung PIB im Oktober 2020 mit der Qualifizierung zum Sprachcoach für DaZ im Beruf begonnen und möchte Sprachcoaching im Rahmen [ihrer] beruflichen Tätigkeit anbieten.“ Ein anderer Absolvent berichtete von dem Wechsel aus der Gastro‐ nomie hin zu einem Träger in der beruflichen Bildung. Zudem wurden die Absolventinnen und Absolventen dazu befragt, inwieweit die hier im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Methoden heute noch ihre 170 Veronika Vössing <?page no="171"?> Arbeit mit nicht-deutschsprachigen Auszubildenden beeinflussen. Bezüglich der Szenario-Methode (vgl. Kap. 2.1) gaben 42 % der Befragten an, das Verfahren oder Teile davon schon erfolgreich im eigenen Betrieb umgesetzt zu haben, z. B. zum Training von gastorientierten Verkaufsgesprächen oder zur Vorbereitung auf Prüfungen. Manche halten die Methode für „eine wundervolle intensive Vorbereitung, an der die Azubis Spaß haben“, andere berichteten jedoch, die Methode ließe sich „nur schwer in den täglichen Arbeitsablauf integrieren, da die Zeit dafür fehlt“. Die Hürden seien „sehr hoch“ und das Prozedere „mühsam“. Dagegen ist auffällig, dass eine deutliche Mehrheit, nämlich 75 % der Be‐ fragten, Unterschiede in der Formulierung ihrer eigenen Arbeitsaufträge fest‐ stellen (vgl. Kap. 2.2) und diese auch konkret benennen konnte: Ich verwende einfache Sprache, wenn ich merke, dass der oder die Auszubildende das Besprochene nicht auf Anhieb versteht. Außerdem animiere ich auch immer wieder die anderen Beschäftigten ihre Arbeitsanweisungen genauer / einfacher auszudrü‐ cken […]. Mehrfach wurde berichtet, dass man am Arbeitsplatz mehr auf die eigene Sprache achte und sich mehr Zeit für Arbeitsaufträge nehme, diese im Vorhinein formuliere und auf sprachliche Verständlichkeit überprüfe, „um Missverständ‐ nisse zu vermeiden“. Mehrere Ausbildungskräfte lassen sich mündliche Arbeits‐ anweisungen durch die Auszubildenden „nochmal mit eigenen Worten erklären, um zu hören, ob diese verstanden wurden, bevor es dann an die praktische Um‐ setzung geht.“ In schriftlichen Arbeitsanweisungen werden „kürzere Sätze“ und „weniger Passiv“ verwendet. In der Umfrage konnten die Befragten entlang eines vorgegebenen Kanons zudem angeben, wie häufig sie verschiedene Elemente der sprachlichen Bildung, die im Rahmen der Weiterbildung vermittelt wurden, im betrieblichen Alltag einsetzen (vgl. Abb. 2). 171 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="172"?> Abb. 2: Einsatz von sprachlichen Förderinstrumenten Die im Balkendiagramm dargestellten Ergebnisse zeigen, dass in der betriebli‐ chen Praxis v. a. die Techniken Anwendung finden, die keine größeren zeitlichen Ressourcen binden und die nebenbei vermittelt werden können (wie z. B. sprach‐ förderliche Formen der Verständniskontrolle und Visualisierungen). Methoden, die einen größeren Aufwand in der Vorbereitung und Durchführung sowie ein tieferes sprachliches Gespür erfordern (wie z. B. die Sprachbedarfsermittlung und die Szenario-Methode), werden am betrieblichen Lernort dagegen seltener eingesetzt. Zusammenfassend darf festgehalten werden, dass die Befragten auch mit zeitlichem Abstand zu ihrer Teilnahme an der Weiterbildung diverse Sprach‐ förderansätze des PIB -Programms in der betrieblichen Praxis umsetzen bzw. weiterentwickeln und damit nachhaltig engagiert sind, ihren Betrieb zum Sprachlernort zu machen. Um die Kommunikationsstrukturen im Betrieb jedoch grundsätzlich sprachförderlicher zu gestalten, bräuchte es zum einen mehr pro‐ fessionelle Unterstützung im laufenden Betrieb. Hier wurden von den Befragten z. B. regelmäßige Follow-up-Workshops vorgeschlagen, „um im Training zu bleiben“. Auch fortlaufende Angebote zur fachspezifischen Vertiefung sowie eine externe Analyse der betrieblichen Kommunikation wurden angeregt. Zum anderen, das wird in der Umfrage an mehreren Stellen deutlich, bräuchten die Ausbildungskräfte mehr Zeit, um sprachliches Lernen am betrieblichen Lernort systematisch zu etablieren. 172 Veronika Vössing <?page no="173"?> 3.2 Herausforderungen und Grenzen der Weiterbildung PIB Aus den Erfahrungen der über vierjährigen Projektlaufzeit, den Auswertungen der jeweiligen Evaluationen sowie der oben vorgestellten Online-Absolventenumfrage (vgl. Kap. 3.1) können zentrale Herausforderungen und Grenzen der Weiterbildung im Hinblick auf den Sprachlernort Betrieb formuliert werden. Die eingangs beschriebene Heterogenität der Weiterbildungsgruppen wurde in den bisherigen Evaluationen nahezu durchgängig als Bereicherung bewertet: Der berufsfeldübergreifende Austausch - von vielen Lehr- und Ausbildungskräften bereits zu Beginn der Weiterbildung explizit als Beweggrund für die Teilnahme genannt - wirkte sich positiv auf die Erweiterung der eigenen Perspektiven aus und half, Anknüpfungspunkte für die Umsetzung sprachförderlicher Strukturen am eigenen Arbeitsplatz zu finden und die Kooperation zwischen den verschie‐ denen Lernorten zu stärken. Zugleich stellt diese Heterogenität auch eine besondere didaktische Heraus‐ forderung dar, da die betrieblichen und schulischen Rahmenbedingungen sowie die sprachlichen Anforderungen in den einzelnen Berufen erheblich variieren. Um diese unterschiedlichen Bedarfe aufgreifen und Ausbildungswie Fachlehr‐ kräfte gleichermaßen auf ihrem individuellen Weg in die Sprachförderung un‐ terstützen zu können, werden berufsfeld- und betriebsspezifische Besonder‐ heiten nur in Ansätzen behandelt. Diese Beschränkung kann im Rahmen der eLearning-Aufgaben, durch die die Veranstaltungsinhalte auf den individuellen Arbeitsplatz transferiert werden, ausgeglichen werden. Jedoch hängt der Erfolg dieses didaktischen Lehr-/ Lernkonzepts unmittelbar an einer ausreichend in‐ tensiven Bearbeitung der Aufgaben durch die Teilnehmenden. Hiermit verbindet sich die nächste Herausforderung: der Faktor Zeit. PIB -Teilnehmende erhalten i. d. R. keine zeitliche Entlastung dafür seitens des Arbeitgebers, sodass sie die Weiterbildung meist zusätzlich in der Freizeit ab‐ solvieren. Dies erschwert die Rekrutierung von Teilnehmenden für das Pro‐ gramm erheblich. Ein Großteil der Teilnehmenden gab in den Abschlusseva‐ luationen an, der zeitliche Umfang der Weiterbildung sei zwar erforderlich, aber auch herausfordernd. Eine weitere Hürde stellt das Schulungsthema Prüfungen dar, dem einer der sechs Veranstaltungsblöcke gewidmet ist. Konfrontiert mit den Möglichkeiten der sprachbewussten Vorbereitung, Formulierung und Gestaltung von mündli‐ chen und schriftlichen Prüfungen äußern Teilnehmende häufig die für alle Seiten frustrierende Erfahrung, dass Auszubildende wegen sprachlicher Defizite an den zentral gestellten und sprachlich komplexen Abschlussprüfungen schei‐ tern. Offenbar werden die in der Forschung erarbeiteten und publizierten Kri‐ terien und Checklisten zur sprachsensiblen Gestaltung von Prüfungsaufgaben 173 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="174"?> 7 Aktuell gilt das Instrument des Nachteilsausgleichs zur Herstellung der Chancen‐ gleichheit (Art. 3 GG) nur für behinderte Menschen (§ 65 Abs. 1 BBiG) und greift nicht bei Menschen mit geringerer Sprachkompetenz, die nach aktueller Auslegung keine Behinderung darstellt (IHK Düsseldorf 2021). 8 In der aktuell gültigen Ausbildereignungsverordnung (AEVO) wird die Förderung der sprachlichen Kompetenzen der Auszubildenden nicht genannt, (vgl. Bundesministe‐ rium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie des Bundesamts für Justiz (2009).) (vgl. z. B. Bethscheider / Settelmeyer 2019) nur selten in den Prüfungsalltag im dualen Ausbildungssystem überführt. Neben der dringend notwendigen sprach‐ lichen Umgestaltung von Prüfungen wird in Fachkreisen auch angeregt, das Instrument des Nachteilsausgleichs des Berufsbildungsgesetzes ( BB iG) auf Per‐ sonen mit Zuwanderungsgeschichte auszuweiten und damit Prüfungszeiten zu verlängern bzw. Hilfsmittel zuzulassen (Grün et al. 2019: 27). 7 Diese Ansätze werden schon seit einiger Zeit von den Kammern, die für die Gestaltung von Prüfungsfragen zuständig sind, sowie vom Bundesinstitut für Berufsbildung ( BIBB ) verstärkt diskutiert (Bethscheider / Settelmeyer 2019: 31; Grün et al. 2019). Bis diese Vorschläge flächendeckend umgesetzt und verbindlich veran‐ kert sind, bleiben die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Ausbildungskräfte jedoch limitiert. Obwohl die Relevanz von Qualifizierungsangeboten wie PIB von den Teil‐ nehmenden immer wieder bestätigt wurde, macht die Gruppe der betrieblichen Ausbildungskräfte bislang lediglich ein Fünftel der PIB -Absolventinnen und -Absolventen aus (vgl. Kap. 1.2). Ein möglicher Grund für die geringe Beteili‐ gung dieser Zielgruppe könnte neben den knappen zeitlichen Ressourcen der Ausbildungskräfte u. a. in einer eher traditionellen Sicht auf den Sprachkompe‐ tenzerwerb der Auszubildenden liegen, der häufig mit Beendigung eines Sprach‐ kurses oder der Schullaufbahn als abgeschlossen begriffen und nicht als be‐ triebliche Aufgabe betrachtet wird (Cehak-Behrmann 2020: 30). Um die Möglichkeiten des Sprachlernens im Betrieb systematisch und in der Breite zu etablieren und damit mehr Ausbildungskräfte für berufsintegrierte Sprachför‐ derung zu gewinnen, sollte Sprachbildung am betrieblichen Lernort als Teil des Ausbildungsauftrags vermittelt und - analog zur Professionalisierung von an‐ gehenden Lehrkräften im Schulbereich - in die Ausbildereignungslehrgänge aufgenommen werden. 8 Gleichwohl stellt sich die Frage, wie die wichtige Ziel‐ gruppe der betrieblichen Ausbildungskräfte noch besser für Qualifizierungsan‐ gebote wie die Weiterbildung PIB erreicht und motiviert werden kann. 174 Veronika Vössing <?page no="175"?> 4 Fazit und Ausblick Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass den betrieblichen Ausbildungs‐ kräften im Rahmen der universitären Weiterbildung PIB geeignete Handlungs‐ impulse für den Umgang mit sprachlichen Schwierigkeiten in der Ausbildung vermittelt werden können. Das Blended-Learning-Konzept der Weiterbildung erlaubt es, an den individuellen Arbeitsplatz der Teilnehmenden anzuknüpfen und die Erprobung, die Reflexion und den Transfer der Methoden und Ansätze zu begleiten (vgl. Kap. 1.2). Am Beispiel des Szenario-Ansatzes und der sprach‐ sensiblen Gestaltung von Anleitungssituationen wurde deutlich, wie berufsin‐ tegriertes Sprachlernen sowohl auf Seiten der Auszubildenden (vgl. Kap. 2.1) als auch auf Seiten der Ausbildungskräfte (vgl. Kap. 2.2) realisiert werden kann und dass durch eine berufsfeldübergreifende Zusammenarbeit Synergieeffekte ent‐ stehen können. Wie die Resultate der Absolventenumfrage zeigen, werden diese Ansätze be‐ sonders dann in den Betrieben umgesetzt, wenn sie sich ohne viel Aufwand zeitökonomisch in den Arbeitsalltag integrieren lassen (vgl. Kap. 3.1). Vor allem zeigen die Ergebnisse eine anhaltende sprachsensible Haltung der Ausbildungs‐ kräfte, da diese z. B. hervorheben, ihre eigene Rolle im Sprachlernprozess der Auszubildenden bewusster wahrzunehmen und die Lernenden mit der Teil‐ nahme am Programm auch gezielter auf kommunikative Anforderungen am Arbeitsplatz vorbereiten zu können. Um die nachhaltige Wirksamkeit der Wei‐ terbildung jedoch flächendeckend zu ermitteln, wären umfangreichere Lang‐ zeitstudien am betrieblichen Lernort nötig, die nicht nur auf subjektiven Ein‐ schätzungen der Absolventinnen und Absolventen, sondern auch auf betrieblichen Hospitationen und Kommunikationsanalysen aufbauen und meh‐ rere Perspektiven (wie z. B. die der Auszubildenden) in die Datenermittlung einbeziehen müssten. Für eine dauerhafte Implementierung integrierter Sprachförderkonzepte im Betrieb können mit Blick auf die zentralen Herausforderungen und Grenzen der Weiterbildung PIB Handlungsbedarfe auf mehreren Ebenen herausgestellt werden (vgl. Kap. 3.2). Auf der Ebene der fortbildenden Institutionen ist eine weiterführende Prozessbegleitung erforderlich, die über eine einmalige Fortbil‐ dungsteilnahme hinausreicht (Cehak-Behrmann 2020: 33). Hier sind etwa Follow-up-Workshops denkbar, um die betriebsspezifischen Besonderheiten und Bedarfe der einzelnen Teilnehmenden aufzufangen und im Sinne der Qua‐ litätssicherung die Umsetzung von Ansätzen wie z. B. der Szenario-Methode fachlich begleiten und unterstützen zu können. Auf der betrieblichen Ebene sollten den Ausbildungskräften nach Möglichkeit ausgewiesene Zeitkontin‐ 175 Ausbildungskräfte beim sprachsensiblen Anleiten im Betrieb unterstützen <?page no="176"?> gente für die Teilnahme an entsprechenden Qualifizierungsprogrammen und die praktische Umsetzung sprachlicher Förderinstrumente innerhalb ihrer Ar‐ beitszeit zur Verfügung gestellt werden. Auf der Ebene der berufsständischen Organisationen müssten die Vorschläge zur sprachsensiblen Prüfungsgestal‐ tung zügig umgesetzt werden. Schließlich sollten sprachsensible Berufsbil‐ dungsprozesse auf einer systematisch-strategischen Ebene und das heißt auf „allen organisationalen und operativen Ebenen in Betrieb und Schule“ (Cehak-Behrmann 2020: 33), aber auch in der Ausbildungsvorbereitung und -be‐ ratung, etabliert werden. Auf diese Weise könnte es gelingen, berufsintegrierte Sprachbildung und -förderung als gemeinsames Ziel am schulischen, außer‐ schulischen und betrieblichen Lernort umzusetzen und als integralen Bestand‐ teil des dualen Ausbildungssystems in Deutschland zu verankern. Literatur Arnold, Patricia / Kilian, Lars / Thillosen, Anne / Zimmer, Gerhard (2018). Handbuch E-Learning: Lehren und Lernen mit digitalen Medien. 5. Aufl. Bielefeld: W. Bertelsmann. Asmacher, Judith / Serrand, Catherine / Roll, Heike (Hrsg.) (2021). Universitäre Weiterbil‐ dungen im Handlungsfeld von Deutsch als Zweitsprache (= Sprachliche Bildung 8). Münster / New York: Waxmann. Berg, Wilhelmine / Leinecke, Rita (2014). 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For this purpose, trainers and instructors need appropriate methods and instru‐ ments that are recognized as meaningful and practicable, and that fit econo‐ mically into everyday training. In this chapter, a possible procedure is pre‐ sented that has successfully been proven for use in company structures. Keywords: workplace language support, work-integrated learning, language sensitization 1 Einleitung Integrative Sprachförderkonzepte für die berufliche Bildung haben in den letzten Jahren insbesondere im Spannungsfeld von Fachkräftebedarf und ge‐ lingender Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Flucht- oder Migrations‐ hintergrund an Bedeutung gewonnen. Im Fokus stehen dabei mehrheitlich Aus‐ prägungen des sprachsensiblen Fachunterrichts und eine entsprechende Professionalisierung von Lehrkräften an beruflichen und berufsbildenden Schulen sowie von DaZ-Lehrkräften. Betriebe und Unternehmen sehen die Zu‐ ständigkeit für die Deckung sprachlicher Bildungsbedarfe traditionell in den allgemeinbildenden Schulen resp. in vorgeschalteten oder (ausbildungs-) be‐ gleitenden Sprachkursen und Fördermaßnahmen (Klein / Schöpper-Grabe 2018). Mit dem korrespondiert, dass der Betrieb und seine Arbeitsplätze bislang doch mehr als Quelle für sprachliche Bedarfsresp. Anforderungsermittlungen be‐ trachtet werden, auf deren Grundlage berufsbezogene bzw. möglichst passge‐ naue arbeitsplatzbezogene Kurse von Sprachbzw. DaZ-Lehrkräften konzipiert und durchgeführt werden können (vgl. z. B. Grünhage-Monetti 2010; Zimmer <?page no="180"?> 2014; Döhner et al. o. J.; Settelmeyer / Widera 2019). Was allerdings aus Sicht der Sprachlehre höchst attraktiv ist - ein nachgerade unerschöpflich wirkender Pool authentischer Sprachlern- und Sprachfördergelegenheiten im betriebli‐ chen Alltag - stellt Betriebe und Unternehmen bekanntlich nicht erst seit der jüngsten Zuwanderungswelle vor die Herausforderung, die sprachliche Ver‐ ständigung als tragendes Element von Arbeits-, Ausbildungs- und Lernprozessen sicherzustellen und letztlich auch die sprachliche Bildung (mit) zu un‐ terstützen. Bereits 2009 wurden daher im Auftrag der Stadt Frankfurt am Main für das Ausbildungspersonal Module zur „Sprachsensibilisierung in der beruf‐ lichen Bildung“ (Sommer / Dimpl 2011) entwickelt und zunächst bei Bildungs- und Maßnahmeträgern eingesetzt; sie wurden in den Folgejahren in Projekten u. a. des Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung ( IQ )“ sowie im Rahmen von ESF -geförderten Projekten beständig weiterentwickelt und für den Transfer in die Personalentwicklung von Betrieben und Unternehmen aufbe‐ reitet. In diesen Projekten wurden integrierte Sprachförderkonzepte mit unter‐ schiedlichen Schwerpunktsetzungen in bereits laufende Ausbildungs-, Qualifi‐ zierungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen implementiert, die auf Verfahren des Lernens im Arbeitsprozess mit dem Fokus auf Handlungs- und selbstorganisiertem Lernen basieren (Bauer et al. 2007; Haas 2007). Die so ge‐ nannte „Sprachsensibilisierung“ des ausbildenden Personals wurde dabei in verschiedenen Formaten (u. a. Workshops, Team-Teaching, Coaching) durchge‐ führt und ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass das arbeitsintegrierte Lernen - verstanden als eine gezielte lern- und kompetenzerwerbsförderliche Gestaltung des Arbeitsplatzes als Lernort (Dehnbostel 2008) - durch die eingesetzten Ver‐ fahren und Methoden wesentliche Elemente der Sprachförderung bereits in sich trägt. Es bietet somit sowohl für die Lernenden unabhängig von ihrer Erst‐ sprache als auch für Ausbildende geeignete Voraussetzungen, den sprachlichen Kompetenzerwerb den individuellen Voraussetzungen und Ressourcen entspre‐ chend auch gezielt mit einzubinden (Maurus 2015). Damit diese Einbindung lerneffektiv wirksam werden kann, benötigen Aus‐ bildungs- und Anleitungskräfte neben den wesentlichen Grundlagen zum Be‐ reich der Sprachbildung vor allem berufspädagogisch fundierte Verfahren, die sich praktikabel und ökonomisch in den Arbeits- und Ausbildungsalltag ein‐ fügen und die es ermöglichen, Sprachlernprozesse systematisch anzubahnen und zielführend zu unterstützen (Cehak-Behrmann 2018). Um entsprechende Unterstützungsstrukturen für Betriebe und Unternehmen im Raum Frankfurt am Main aufzubauen, wurde 2015 im Rahmen des Frank‐ furter Arbeitsmarktprogramms die Fachstelle für Berufsintegriertes Sprach‐ lernen (FaberiS) gegründet. FaberiS entwickelt u. a. Fortbildungen für betrieb‐ 180 Meta Cehak-Behrmann <?page no="181"?> liche Ausbildungs- und Anleitungskräfte und begleitet Betriebe und Unternehmen bei der Umsetzung. Drei Fragestellungen stehen dabei in der Regel im Zentrum: Wie lassen sich Sprachlernprozesse am Arbeitsplatz denken und beschreiben? Wie können Betriebe und das Ausbildungspersonal für das Thema gewonnen und fortgebildet werden? Und: Wie kann die Sprachbildung im Be‐ trieb verstetigt werden? Als Bezugsrahmen hierfür wurde das Modell des Be‐ rufsintegrierten Sprachlernens entwickelt. Es verbindet Ansätze des Integrierten Fach- und Sprachlernens ( IFSL ) und des arbeitsintegrierten Lernens (Dehn‐ bostel 2007) mit den Verfahren der Lernprozessbegleitung (Bauer et al. 2007); Arbeitsplatz und Betrieb werden hierbei als ideale, weil authentische Sprachlernorte betrachtet. Die jeweilige Ausgestaltung der betrieblichen Sprachlern‐ konzepte variiert dabei abhängig u. a. von Größe, Branche, betrieblicher Kultur und Organisationform und vor allem von der Zielsetzung. FaberiS führt daneben seit 2016 im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration landesweite Projekte zur Etablierung integrativer Sprachförderansätze in der beruflichen Bildung, insbesondere im Bereich der Pflegeberufe, durch. Im Beitrag werden die Grundgedanken des Berufsintegrierten Sprachlernens sowie, aus den bisherigen Projektergebnissen abgeleitet, mögliche Erfolgsfak‐ toren für die Gewinnung und Sensibilisierung von Ausbildungs- und Anlei‐ tungskräften für das Thema vorgestellt. 2 Berufsintegriertes Sprachlernen - Berufsintegrierte Sprachförderung Die Potenziale des Betriebs als Sprachlernort im eigentlichen Wortsinn werden von der Forschung bisher eher verhalten eingeschätzt: So zeigen Untersu‐ chungen, dass im Betrieb Fachliches und Sprachliches zwar integriert vermittelt werden könne, die sprachliche Unterstützung allerdings „unsystematisch in Hinblick auf den Spracherwerb in formalen Lernprozessen“ erfolge und „nicht durch sprachdidaktisch geschultes Personal“ geschehe; zudem seien die „sprach‐ lichen Kompetenzen und die Sprachsensibilität des ausbildenden Personals […] heterogen ausgeprägt“ (Settelmeyer / Widera 2019: 131). Nun können Systematik und Didaktik von Sprachkurskonzepten sicherlich nicht auf betriebliche Kon‐ texte übertragen werden. Zugespitzt formuliert liegt das Potenzial des Betriebs als Sprachlernort vielmehr gerade in der „Un-Systematik“, in der z. T. höchst vielfältige sprachliche Herausforderungen auftreten und zu bewältigen sind: Beim Erwerb von Handlungskompetenz - beruflicher wie berufssprachlicher - ist der Mensch auf Erfahrungen angewiesen; Betriebe können - bei entsprech‐ ender Gestaltung - eben jene situierten Lernprozesse bieten, in denen berufliche 181 Berufsintegriertes Sprachlernen und seine Förderung im Betrieb <?page no="182"?> Erfahrungen im sozialen Kontext gemacht, ausgewertet und reflektiert werden können, um die Weiterentwicklung berufsfachlicher wie -sprachlicher Kompe‐ tenzen zu ermöglichen. Der Begriff des Berufsintegrierten Sprachlernens und korrespondierend der Begriff der Berufsintegrierten Sprachförderung wurden eingeführt, um zu sig‐ nalisieren, dass berufsfachliches und berufssprachliches Lernen per se mitei‐ nander verknüpft sind: „Weder in der Muttersprache noch in der Fremdsprache gibt es eine wirkliche Chance, die für berufliche […] Aufgaben benötigte kom‐ munikative Kompetenz unabhängig von der beruflichen […] Tätigkeit selbst auszubilden.“ (Meyer 2000: 35). Berufsintegriertes Sprachlernen meint somit ganz konkret, dass auch Arbeits-, Ausbildungs- und Berufskontexte von Lernenden für die eigene sprachliche Bildung genutzt werden. Eine zunehmende Zahl von Lernenden benötigt hierbei Unterstützung. Diese kann als berufsin‐ tegrierte Sprach(lern)förderung erfolgen - nicht nur, aber eben auch in der praktischen Ausbildung im Betrieb resp. am Arbeitsplatz, wenn das ausbildende Personal hierfür fortgebildet ist. Beim Ansatz des berufsintegrierten Sprachlernens werden die vermeintlich chaotisch auftretenden sprachlernhaltigen Situationen im Betrieb den jewei‐ ligen Arbeits- und Ausbildungssituationen zugeordnet, um die fachlich-sprach‐ liche Verknüpfung lernwirksam nutzen und gestalten zu können. Um zu ver‐ anschaulichen, wie Sprachlernen in Bezug auf Arbeits- und Ausbildungssituationen stattfinden kann, hat FaberiS ein Sprachlernmodell ent‐ wickelt (vgl. dazu und im Folgenden Cehak-Behrmann 2018). Es beschreibt den Ablauf des Sprachlernprozesses in sechs Schritten, die erforderlich sind, um die eigene Sprachkompetenz im Kontext anderer Zusammenhänge weiter zu ent‐ wickeln (vgl. Abb. 1). Damit Lernende diesen Sprachlernprozess realisieren können, sind in der Regel Begleit- und Unterstützungsstrukturen in Form der berufsintegrierten Sprachförderung erforderlich. Sie lässt sich, direkt bezogen auf die Etappen des Sprachlernprozesses, ebenfalls in sechs Schritten darstellen (vgl. Abb. 2). 182 Meta Cehak-Behrmann <?page no="183"?> Abb. 1: Berufsintegriertes Sprachlernen Abb. 2: Berufsintegrierte Sprachförderung Dieses Verfahren kann Ausbildenden und Auszubildenden als Orientierung und als methodisches Gerüst dienen. Es folgt dem gängigen Ausbildungsmodell der vollständigen Handlung - von der Bedarfsermittlung (Welche sprachlichen An‐ forderungen sind in der aktuell anstehenden Situation zu bewältigen? ) über Planung und Durchführung bis zur Auswertung des sprachlichen gemeinsam mit dem fachlichen Lernprozess, aus der heraus der weitere Verlauf des Lernens geplant wird. Individuelle Sprachlernbedarfe können dabei an verschiedenen Stellen des Arbeits- und Lernprozesses zum Vorschein kommen, häufig ge‐ schieht dies im Verlauf der Verständnissicherungen. Gegenüber dem „Sprach‐ erwerb in formalen Lernprozessen (Settelmeyer / Widera 2019: 131) ist dem si‐ tuativen Lernen aus authentischen Bedarfssituationen heraus ein anderes Lernverständnis zugrunde gelegt; naturgemäß erfordert es auch andere, und zwar im Hinblick auf die Prozessbegleitung systematisch zu verfolgende, Un‐ terstützungsstrukturen. Es bedarf hier einer auszubildenden Routine, um einer‐ seits diese Bedarfe zu erkennen, andererseits sie bewusst zu machen, zu formu‐ lieren und lerneffektiv in das weitere Vorgehen zu integrieren. Die einzelnen Schritte finden dabei keineswegs immer in der dargestellten idealtypischen Ab‐ folge statt. Sie greifen ineinander, sie werden individuell und situativ angepasst und bieten die Möglichkeit, je nach auftretendem Bedarf wieder vor- oder zu‐ rückzugehen. Es ist ein zentrales Anliegen der berufsintegrierten Sprachförde‐ rung, dass dieses methodische Vorgehen den Lernenden transparent gemacht wird, dass also das Sprachlernen systematisch als ein Element des fachlichen Ausbildungsprozesses kommuniziert und als selbstverständlicher Bestandteil von Arbeit und Lernen realisiert wird. Um das motivationale Potenzial des Ver‐ fahrens zu nutzen, wird dabei an den jeweiligen Erfolgserfahrungen angesetzt, an erfolgreich bewältigten Situationen aus dem Arbeits- und / oder Lernprozess, 183 Berufsintegriertes Sprachlernen und seine Förderung im Betrieb <?page no="184"?> die eben nicht nur eine berufsbezogene Notwendigkeit signalisieren, sondern die vor allem die vorhandenen sprachlichen Ressourcen in der Möglichkeit ihrer Erweiterungsfähigkeit erfahrbar machen. Die Verortung des Sprachlernens in dieser Form bringt u. a. auch Vorteile für all jene mit, die mit dem Lernen in Kursformaten ohne situativen Bezug und losgelöst von der konkreten Handlung nicht zurechtkommen. Das mittelbis langfristige Ziel ist es, dass Auszubildende im Verlauf ihres Lernprozesses eine für sie geeignete Methodenkompetenz im Umgang mit sprachlichen Herausforderungen erwerben, so dass die berufsin‐ tegrierte Sprachförderung letztlich von den Lernenden selbst übernommen wird und in ein selbstständiges berufsintegriertes Sprachlernen übergeht. Die berufsintegrierte Sprachförderung zielt vorrangig darauf, das selbststän‐ dige arbeitsbzw. berufsintegrierte Sprachlernen zu ermöglichen, es durch die gezielte Gestaltung von Arbeit und Ausbildung einzufordern und systematisch zu begleiten. Erforderlich hierfür ist ein Handlungsrepertoire, das bezogen auf die einzelnen Lernenden eine kompetenz- und ressourcenorientierte Sprach‐ lernförderung ermöglicht, Selbstlern- und Handlungskompetenzen anregt und stärkt, Erfolgserfahrungen gestaltet und individuelles Lernverhalten berück‐ sichtigt. Die berufspädagogischen Ansätze der Lernprozessbegleitung (Bauer et al. 2007) in Verbindung mit sprach(erwerbs)theoretischen Grundlagen und einer sprachbewussten Haltung auch in Bezug auf die eigenen berufssprachlichen Kompetenzen bieten eben für diese Anforderungen ein geeignetes Instrumen‐ tarium. 3 „Und aus dem Müssen wird ein Wollen“ - Mögliche Erfolgsfaktoren für die Fortbildung von Ausbildungs- und Anleitungskräften Angesichts des eklatanten Fachkräftemangels in der Pflege in Verbindung mit der demographischen Entwicklung, einem hohen Anteil von Auszubildenden und Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund bei gleichzeitig hohen sprach‐ lichen Anforderungen des Berufsbilds hat die Hessische Landesregierung zum Schuljahr 2016 / 2017 die ausbildungsintegrierte Sprachförderung eingeführt. Begleitend wurde das Projekt „Arbeits- und ausbildungsintegrierte Sprachför‐ derung in Hessen (AiS Hessen)“ (2016-2019) initiiert, um berufliches Bildungs‐ personal in der Breite für das skizzierte Verfahren fortzubilden und um eine nachhaltig wirksame Struktur für die landesweite Verankerung des arbeitsin‐ tegrierten Sprachlernens aufzubauen. Hierfür wurden Multiplikatoren und Mul‐ tiplikatorinnen ausgebildet, die die Fortbildung während des Projekts an zwölf Standorten in Hessen durchführten und die auch nach Ablauf des Projekts in 184 Meta Cehak-Behrmann <?page no="185"?> Eigenregie Fortbildungsangebote zum Thema sowie Auffrischungskurse zur Qualitätssicherung anbieten. Der Zulauf war außerordentlich hoch (> 530 Teil‐ nehmende), die unmittelbare Resonanz im Hinblick auf Zugewinn an Methodik und Entlastung durch Erweiterung der Perspektive sehr positiv. Beide Faktoren sind - zunächst einmal unabhängig vom tatsächlichen Wirkungsgrad bei der weiteren Umsetzung - elementar, wenn Menschen für eine breite Etablierung von Veränderungsprozessen in ihrer Arbeitsausführung gewonnen werden sollen. Dies gilt insbesondere, da Ausbildungskräfte - dieser Befund konnte im Verlauf der projektbezogenen Bedarfsermittlungen durchaus bestätigt werden - die sprachlichen Aspekte der Ausbildung „spontan mit etwas diffus ‚Kompli‐ ziertem‘“ assoziieren (Bethscheider et al. 2015: 9) und dem Thema deutliche Vor‐ behalte entgegenbringen (Bethscheider et al. 2015: 17). Die Fortbildung war für alle Berufe offen. Der Schwerpunkt lag auf dem Be‐ rufsfeld Altenpflege, das flächendeckend erreicht wurde. Ein besonderes An‐ liegen war dabei, gerade auch das anleitende Personal in den praktischen Aus‐ bildungseinrichtungen zu gewinnen; der Anteil lag letztlich bei 54 %. Dazu beigetragen hat wesentlich die Institutionalisierung der Sprachförderung durch das HMSI , die Anerkennung der (für die Einrichtungen kostenfreien) Teilnahme auf die Weiterbildungspflicht der Praxisanleitungen und nicht zuletzt die klare, verbindliche Haltung von Auftraggeberseite zur arbeits- und ausbildungsinte‐ grierten Sprachförderung an allen Lernorten. Bewusst wurde die Fortbildung gemischt für Lehr- und Ausbildungskräfte angeboten: Gerade die Initiierung eines neuen verbindenden Themas wie der Integration des Sprachlernens bietet die Möglichkeit, dem meist fehlenden Austausch zwischen den Lernorten Schule und Berufspraxis entgegenzuwirken und gerade auch innerhalb der praktischen Ausbildung die eigenen Zuständigkeiten und Handlungsspielräume auszuloten. Für die Konzeption der Fortbildung wurde, basierend auf Bedarfsermittlungen und Auswertungen verschiedener Vorprojekte sowie im Abgleich mit der vor‐ handenen Literatur (u. a. SpraSiBeQ 2014), zunächst ein Anforderungsrahmen erstellt; die erforderlichen sprachtheoretischen und sprachdidaktischen Grund‐ lagen und Methoden für die integrierte Sprachförderung wurden bei der Ge‐ staltung der Fortbildung mit berufspädagogischen und lernprozessbegleitenden Verfahren verknüpft. In die Fortbildung waren Beratungs-, Praxis- und Refle‐ xionsphasen eingebunden, so dass die Teilnehmenden ihre eigenen Bedarfe konkretisieren und die Bearbeitung der Sprachthemen am eigenen Arbeitsplatz erproben und auswerten konnten. Wie hoch der Innovationsgrad des Projekts war, bestätigt die Auswertung: Über 90 % der Teilnehmenden gaben an, sich erstmalig mit der Thematik befasst zu haben. Durch die enge Bindung der sprachlichen und methodischen Fortbil‐ 185 Berufsintegriertes Sprachlernen und seine Förderung im Betrieb <?page no="186"?> dungsinhalte an die eigene berufliche Praxis konnten die Teilnehmenden Hemmschwellen im Umgang mit dem Thema „Sprache“ abbauen, eigene Hand‐ lungsspielräume erkennen und mit der Umsetzung sprachsensibler und sprach‐ lernförderlicher Ansätze auch eine Entlastung in der Ausbildungstätigkeit wahrnehmen. Der Projektansatz hat sich für die Öffnung der Zielgruppe und für die breitere Streuung des Themas bewährt. Für eine systematische und ziel‐ führende Umsetzung durch das Ausbildungspersonal ist jedoch nicht nur eine einmalige Fortbildung und Routinegewinn, sondern vor allem auch eine wei‐ terführende Professionalisierung im Hinblick auf Sprachsensibilität und sprach(erwerbs)theoretische Zusammenhänge erforderlich. Durch den Aufbau des landesweiten Netzwerks von Multiplikatoren und Multiplikatorinnen, die mit der Arbeits- und Ausbildungsrealität wie mit der berufsintegrierten Sprach‐ förderung vertraut sind, wurden im Rahmen von AiS Hessen die Vorausset‐ zungen dafür geschaffen, das Thema im Einzugsgebiet der jeweiligen Standorte zu verstetigen; integrierte Sprachförderansätze werden hier in die Weiterbil‐ dung der Praxisanleiter und Praxisanleiterinnen eingebunden. Um die Profes‐ sionalisierung in der Umsetzung der arbeitsintegrierten Sprachförderung zu stärken, fördert das Land Hessen aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds mit dem Projekt PamiS (Pflegeausbildung mit integrierter Sprachförderung, 2019-2022) die individuelle Begleitung des Ausbildungspersonals auch in der neuen Pflegeausbildung (zur Projektbeschreibung vgl. www.pamis-projekt.de). Im Zuge der aktuellen Neuordnung der Pflegeberufe sind zudem die schulischen Curricula sowie die betrieblichen Ausbildungspläne neu zu gestalten. Das bietet die Möglichkeit, erstmalig neben den fachlichen auch die sprachlichen Kompe‐ tenzanforderungen aufeinander abgestimmt in einem Instrument abzubilden. Das Herausfiltern und die Formulierung sprachlicher Anforderungen im be‐ rufsfachlichen Kontext stellen erfahrungsgemäß eine der größten Herausfor‐ derungen für das berufliche Bildungspersonal dar; die Zieltransparenz, resp. der Ausweis sprachlicher Handlungsziele, ist gleichwohl für eine sinnhafte Gestal‐ tung auch von (Sprach-)Lern- und Ausbildungsprozessen im betrieblichen Kon‐ text grundlegend. FaberiS hat daher im Rahmen des Projekts PamiS eine Ko‐ operation mit dem Pflegeverbund Südhessen aufgebaut und begleitet derzeit u. a. die Entwicklung eines sprachlernförderlich gestalteten betrieblichen Aus‐ bildungsplans, der im weiteren Verlauf transferfähig sowie qualitätsgesichert aufbereitet werden soll. Die sprachlichen Anforderungen werden dabei ge‐ meinsam mit den mitwirkenden Praxisanleitungskräften aus verschiedenen Einrichtungen herausgearbeitet. Sie werden sowohl als Zielformulierungen be‐ zogen auf die jeweiligen Tätigkeiten und Ausbildungssituationen ausgewiesen als auch als Gestaltungsfaktor entsprechend der sechs Schritte der berufsinte‐ 186 Meta Cehak-Behrmann <?page no="187"?> grierten Sprachförderung in die Entwicklung der Ausbildungssituationen ein‐ gebunden. Der Bedarf und auch die Akzeptanz, sprachbildende Ansätze im Betrieb und in die praktische Ausbildung zu integrieren, sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Das Verfahren der berufsintegrierten Sprachförderung hat sich in den bisherigen Projektarbeiten und Kooperationen mit Betrieben als hilfreich er‐ wiesen, um den meist als recht diffus wahrgenommenen Belastungsfaktor „Sprache“ zu strukturieren und Handlungsspielräume für Anleitungs- und Aus‐ bildungskräfte sichtbar zu machen. Als übergeordneter Bezugsrahmen bietet es die Möglichkeit, entsprechend der betrieblichen Gegebenheiten und gemeinsam mit dem ausbildenden Personal, sprachsensible und sprachlernförderliche An‐ sätze in die Ausbildungstätigkeit zu integrieren und - bei längerfristiger Be‐ gleitung - schrittweise eine Professionalisierung bei einer sprachlernförderli‐ chen Ausbildungsgestaltung herbeizuführen. Literatur Bauer, Hans G. et al. (2007). Lern(prozess)begleitung in der Ausbildung. Wie man Lernende begleiten und Lernprozesse gestalten kann. Ein Handbuch. 2. Aufl. Bielefeld: W. Bertels‐ mann Verlag. Bethscheider, Monika / Keck, Brigitte / Franz, Stephan (2015). Förderung sprachlich-kom‐ munikativer Fähigkeiten in der betrieblichen Ausbildung. Abschlussbericht. Abrufbar unter: https: / / www.bibb.de/ tools/ dapro/ data/ documents/ pdf/ eb_45100.pdf (Stand: 04 / 11 / 2020) Cehak-Behrmann, Meta (2018). 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The model offers an analysis of the conditions and educational goals as well as training objectives. Based on this, language learning programs can be designed that reflect the specific conditions of educational institutions, corporate structures and the needs of the individual learner(s). Several voca‐ tional training programs are described that show the variety of corporate language learning as well as similarities in methods and processes. Keywords: CLIL , language learning at work, competence-oriented teaching, vocational training program, corporate language learning, language for work 1 Bedarfsorientierung und Heterogenität in Berliner Konzepten zum Integrierten Fach- und Sprachlernen (IFSL) in der beruflichen Bildung Der Sprachlernort Betrieb stellt verschiedene Herausforderungen sowohl an die Planung als auch an die Umsetzung von Sprachlernen. Sprachlernen im Betrieb erfordert hohe Lernkompetenzen und Motivation der Sprachlernenden sowie sprachförderliche Strukturen, sprachsensible Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte und Ausbildende. Ein Konzept zum Integrierten Fach- und Sprach‐ lernen im betrieblichen Kontext soll diese Bedingungen schaffen und effektiv nutzbar machen. Sprachbildung für den Beruf beinhaltet nicht nur die Vermittlung von Fach‐ termini oder sprachlichen Strukturen für Kundenkommunikation. Die Kommu‐ nikationsstrukturen im beruflichen Kontext sind sehr heterogen. So findet be‐ rufliche Kommunikation auf verschiedenen Hierarchieebenen mit ganz <?page no="190"?> unterschiedlichen Kommunikationspartnern und -partnerinnen betriebsintern und -extern statt. Je nach Beruf und Stellenprofil können eine Vielzahl an un‐ terschiedlichen Fähigkeiten gefragt sein - von der schriftlichen Korrespondenz zur korrekten fachlichen Dokumentation oder auch die einfühlsame Beratung von Kundinnen und Kunden (Volkmann / Rehse 2019: 20-22; Weissenberg 2010: 13-24). In fast allen Berufsbildern sind Anforderungen an sprachlich-kom‐ munikative Kompetenzen vor allem mit der zunehmenden Technologisierung und Digitalisierung gestiegen (vgl. Roche et al. 2016). Rein manuelle Tätigkeiten finden sich auf Fachkraft-Niveau zunehmend weniger ( BMAS 2017: 18). In diesem Kontext kommt der Ansatz des verzahnten sprachlichen und fachlichen Lernens (Leisen 2013: 8 f.; Schmölzer-Eibinger 2013: 24) verstärkt zur Geltung. Die von Bundes- und Landesinitiativen initiierten Vorhaben wie Sprachen bilden Chancen ( Jostes et al. 2017), FörMig - Modellprogramm zur Förderung von Kin‐ dern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (Gogolin at al. 2011), BISS - Bildung durch Schrift und Sprache bilden (Schneider et al. 2021) fördern die Ver‐ ankerung der Sprachbildung im Fach u. a. in den allgemeinbildenden Schulen. Integriertes Fach- und Sprachlernen greift diese Ansätze in der beruflichen Bil‐ dung auf. Das berufsbezogene Sprachlernen wird durch die Kultusministerkon‐ ferenz (vgl. Empfehlung der Kultusministerkonferenz für einen sprachsensiblen Unterricht an beruflichen Schulen 2019) sowie durch Publikationen des Bun‐ desinstituts für Berufliche Bildung (Settelmeyer et al. 2019) thematisiert. Die Notwendigkeit sprachlich-kommunikativer Kompetenzen für berufliche Handlungsfähigkeit ist seit etwa 20 Jahren generell eine Herausforderung, wofür in der Berliner Bildungslandschaft Lösungen und Konzepte in verschie‐ denen Ansätzen und Projekten erfolgreich erprobt wurden (Aulich et al. 2020: 13). Der Ansatz des Integrierten Fach- und Sprachlernens wurde ausgehend vom Konzept Content Language Integrated Learning (Marsh / Wolf 2007: 362 f.) aus dem englischsprachigen Raum weiterentwickelt. Die Fachstelle Berufsbe‐ zogenes Deutsch des IQ -Netzwerks definiert IFSL als Ansatz des berufsfachli‐ chen Lernens, mit dem gleichzeitig der Aufbau von Sprachkompetenzen unter‐ stützt wird (passage 2018: 2). 1.1 Berliner Modell für Integriertes Fach- und Sprachlernen (IFSL) in der beruflichen Bildung Die Arbeitsgruppe Berliner Modell für Integriertes Fach- und Sprachlernen in der beruflichen Bildung, bestehend aus den vier Autorinnen des vorliegenden Auf‐ satzes, analysierte vier Praxisansätze zum Integrierten Fach- und Sprachlernen ( IFSL ) aus verschiedenen Feldern der beruflichen Bildung (Aulich et al. 2018): • IFSL an beruflichen Schulen, 190 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="191"?> • IFSL in Berufsausbildung und -einstieg, • IFSL in der Nachqualifizierung zum Berufsabschluss, • IFSL am Arbeitsplatz in der betrieblichen Anpassungsqualifizierung. Die zentrale Fragestellung für die Analyse lautete: „Wie lassen sich Qualität und Wirksamkeit von Integriertem Fach- und Sprachlernen im Modell abbilden und unabhängig von Bildungsinstitution, Zielgruppe und Bildungsziel be‐ schreiben? “ Ein zentrales Ergebnis war, dass die Konzepte sich in ihren Abläufen, Res‐ sourcen und Zielen deutlich nach Lernort Fachtheorie, Fachpraxis oder Betrieb unterscheiden (Aulich et al. 2020: 17). Die Arbeitsgruppe lehnt sich mit dieser Unterscheidung an die Lernortkonzeption von Prof. Dr. Euler an. Er unter‐ scheidet berufliche Schule / Arbeitsplatz / Lehrwerkstatt als „pädagogisch ge‐ staltete Einheiten in den Institutionen“ in der beruflichen Bildung (Euler 2015: 6). Jedoch lassen sich ebenso starke Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Anforde‐ rungen an Lehrpersonal sowie der eingesetzten Methoden und Instrumente feststellen. So liegt den erarbeiteten Curricula der Praxisansätze stets eine Ver‐ zahnung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens ( GER , Trim et al. 2001) mit dem Deutschen Qualifikationsrahmen ( DQR 2016) zugrunde. Die He‐ terogenität der (Sprach-)Lernenden ist in allen berufsbildenden Feldern gleich stark ausgeprägt und erfordert somit grundsätzlich eine bedarfsorientierte Be‐ rücksichtigung der Lernvoraussetzungen sowie Möglichkeiten der Differenzie‐ rung bis hin zur Individualisierung. Dies wird unter anderem durch vorange‐ stellte und teilweise individuelle Sprachstandserhebungen sowie Verfahren der Sprachbedarfsanalyse ermöglicht. Zudem trägt eine enge Kooperation zwischen Fach- und Sprachlehrkräften sowie betrieblichem Personal zur effektiven und bedarfsorientierten Ausgestaltung des IFSL bei. 1.2 Struktur des Berliner Modells für Integriertes Fach- und Sprachlernen in der beruflichen Bildung Die Unterschiedlichkeit der Konzepte je nach Lernort wird in der Analyse von sechs verschiedenen Ebenen sichtbar. Je nach Lernort oder auch Institution sind die Voraussetzungen und Erfordernisse auf diesen Ebenen anders gelagert und bedingen verschiedene Maßnahmen. Die Abbildung 1 zeigt die sechs Ebenen, welche im Berliner Modell für IFSL in der beruflichen Bildung analysiert wurden. 191 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="192"?> Abb. 1: Das Berliner Modell für Integriertes Fach- und Sprachlernen (IFSL) im Überblick (Aulich et al. 2018: 4) Die Grundstruktur des Berliner Modells für IFSL bilden sechs Ebenen: (1) Rah‐ menbedingungen und (2) Verfahren / Prozesse, (3) Lernende und (4) Personal sowie (5) Materialien und (6) Methodik / Didaktik. Diese sechs Ebenen des Mo‐ dells wurden durch die am Anfang von „Berliner Modell für Integriertes Fach- und Sprachlernen ( IFSL ) in der beruflichen Bildung“ (Kap. 1.1) beschriebene Analyse der Gelingensfaktoren der vier Praxisansätze identifiziert. Abbildung 2 zeigt, welche Aspekte bzw. Merkmale auf jeder Ebene bei der Planung und Durchführung von IFSL in der beruflichen Bildung Berücksichtigung finden müssen, um bedarfsgerechte Angebote zu entwickeln. Dabei ist das Berliner Modell nicht nur als Strukturmodell zu verstehen: Die Ebenen sind als interde‐ pendent zu betrachten. Die Rahmenbedingungen etwa haben unmittelbaren Einfluss auf Anforderungen an das Personal. Das berufliche Profil der Lernenden sollte in die Planung der Lern- und Lehrformate einbezogen werden, um den Bedarfen und Ressourcen der Lernenden gerecht zu werden. Abbildung 2 listet einige relevante Merkmale der Ebenen auf. Je nach Bildungskontext können die Merkmale abweichen. Sie sind also nicht für jeden Bildungskontext gleich relevant und können ergänzt oder verändert werden. 192 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="193"?> Abb. 2: Auflistung von relevanten Merkmalen der einzelnen Ebenen 1.2.1 Anwendung des Berliner Modells für IFSL in der beruflichen Bildung zur Optimierung von Bildungskonzepten Indem die Merkmale auf einzelnen Ebenen beschrieben werden, zeigen sich Be‐ darfe und benötigte Ressourcen zur Umsetzung für ein Konzept zum Integrierten Fach- und Sprachlernen im beruflichen Kontext. Im optimalen Fall kor‐ respondieren Bedarfe, Maßnahmen und Ressourcen auf allen Ebenen mitei‐ nander und der Gestaltungsspielraum für ein bedarfsorientiertes Integriertes Fach- und Sprachlernen kann maximal ausgeschöpft werden. Dieser Gestaltungsspielraum spiegelt sich auch in der dreidimensionalen Darstellung des Modells. Sind alle Ebenen ausreichend eruiert und berücksichtigt in der Konzeption, dann erscheint das Modell als sechsseitige Pyramide - geometrisch gesehen mit gleichmäßigen Flächen und maximalem Volumen. Werden aber wichtige Ressourcen nicht bereitgestellt oder Bedarfe nicht erhoben, dann kann dies die Wirksamkeit eines Konzepts beeinträchtigen - die Pyramide gerät in Schieflage, der Handlungsspielraum verkleinert sich. Dies wird näher in Ab‐ schnitt 3 beschrieben (vgl. Abb. 3 im Abschnitt 3). Am Lernort Betrieb besteht die Herausforderung, dass jeder Betrieb andere Produkte und Dienstleistungen produziert oder vertreibt. Zudem variieren auch die betriebsinternen Strukturen, Prozesse und damit verbunden die Kommuni‐ kationsstrukturen, aber auch die Gesprächskultur und damit die Anforderung an professionelle Kommunikation. Für Integriertes Fach- und Sprachlernen ist es notwendig, dass diese betriebsspezifischen und arbeitsplatzspezifischen Rah‐ menbedingungen erfasst und daraus konkrete Bedarfe auf den Ebenen, z. B. 193 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="194"?> „Personal“, „Methodik / Didaktik“ und „Verfahren / Prozesse“ abgeleitet werden. Die Konkretisierung von Sprachbildungskonzepten und sprachdidaktischen Ansätzen erfolgt auf der Ebene „Methodik / Didaktik“ und ist stark interdepen‐ dent mit den Merkmalsausprägungen auf den Ebenen der „Lernenden“ aber auch den „Rahmenbedingungen“ im Berufsbild und am Arbeitsplatz. In diesem Ar‐ tikel stehen die Makro-Ebene und Meta-Ebene der Konzeption und Planung von lernerorientierten Bildungsformaten zur Förderung von Sprach- und Hand‐ lungskompetenz im Betrieb im Vordergrund. Vertiefende Ausführungen zu den Sprachbildungskonzepten der hier vorgestellten Ansätze zum Integrierten Fach- und Sprachlernen finden sich in den Publikationen der einzelnen Projekte. Die folgenden Abschnitte stellen vier Ansätze von IFSL im Rahmen der Be‐ rufsbildung vor, indem jeweils die Modellebenen des Berliner Modells für einen einzelnen Ansatz beschrieben werden. Die Beschreibungen zeigen die enge Ver‐ bindung der Lernorte Fachtheorie, Fachpraxis und Betrieb auf (vgl. die Lern‐ ortkonzeption nach Euler 2015: 6) auf. Abschließend wird die Möglichkeit zur Erweiterung zu IFSL als Blended-Learning-Ansatz zum Sprachlernen im Betrieb erörtert. Blended Learning wird hier verstanden als Kombination von Online- und Präsenzlernen. 2 Integriertes Fach- und Sprachlernen in der Berufsvorbereitung Dieser Abschnitt beschreibt das bereits festgelegte Grundsatzkonzept der Ab‐ teilung für die Berufliche Bildung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. Das Grundsatzkonzept zielt auf den erfolgreichen Übergang von jungen Menschen in die Berufsausbildung und in den Arbeitsmarkt, um ihnen eine nachhaltige berufliche und gesellschaftliche Integration zu ermög‐ lichen. Seine Umsetzung in der schulischen Berufsvorbereitung wird hier im Hinblick auf einige Aspekte des Berliner IFSL -Modells betrachtet. Das Grund‐ satzkonzept begreift Sprache als berufsfeldbezogene und berufliche Handlungs‐ kompetenz und bildet eine Richtschnur für die Beschulung und Berufsberatung von Schülerinnen und Schülern. Aufgrund der hohen Zahlen (ca. 75 %) der Ju‐ gendlichen mit Deutsch als ihrer Zweitsprache in der Berufsvorbereitung (Metter 2020) ist die Strukturierung der Sprachkompetenzentwicklung nach den fachlichen und kommunikativen Anforderungen in den berufsfeldübergreifenden Fächern (u. a. Deutsch, Mathematik) und im berufsfeldbezogenen Un‐ terricht (Lernfelder) von Relevanz. Die meisten der Berliner Beruflichen Schulen bieten Bildungsgänge von der Berufsvorbereitung über die schulische und duale Berufsausbildung bis zu stu‐ dienbefähigenden Bildungsgängen und solchen zur beruflichen Weiterbildung 194 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="195"?> an; sie tragen den Namen Oberstufenzentrum (Metter 2020). Alle schulischen Maßnahmen und Prozesse sind im Schulgesetz des Landes Berlin verortet, das auch einen rechtlichen Rahmen für institutionelle und didaktische Umsetzung und Handlungspläne sowie die bildungspolitische Ausrichtung darstellt. In diesem Abschnitt steht der Bildungsgang Integrierte Berufsausbildungs‐ vorbereitung ( IBA ) im Vordergrund (vgl. Wiechert-Beyerhaus 2017), der für Berliner Jugendliche nach der Sekundarstufe I konzipiert ist und als übergeord‐ netes Ziel den beruflichen Anschluss hat. Die Lernenden können je nach Kom‐ petenzstand zudem drei Schulabschlüsse erwerben: die Berufsbildungsreife BBR , die (erweiterte) Berufsbildungsreife (e) BBR und den Mittleren Schulab‐ schluss MSA . Für die Neuzugewanderten in der Beruflichen Bildung ist der IBA -Bildungsgang offen und gilt als erste Regelklasse, die sie nach dem Ab‐ schluss der Willkommensklasse - einer speziellen Lernklasse mit Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache (DaZ) - bzw. anderer Sprach- oder Qualifizierungs‐ maßnahmen (u. a. Integrationskurse) besuchen können. Sie werden in IBA -Klassen gemeinsam mit anderen, nicht neuzugewanderten Jugendlichen beschult. Der Fachunterricht muss für die Neuzugewanderten eng mit Sprach‐ bildung gekoppelt sein. 2.1 Rahmenbedingungen Das o. g. dreistufige Grundsatzkonzept der Berliner Senatsverwaltung gilt als Rahmen für die Integration von Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthin‐ tergrund, die älter als 16 Jahre sind - von der Willkommensklasse über die IBA bis zur Berufsausbildung. In jeder seiner Stufen sind die Handlungsmit den Sprachkompetenzen und somit auch die Referenzsysteme DQR und GER mit‐ einander verzahnt. Der Verflechtung liegt ein Ansatz zugrunde, dass überge‐ ordnete Handlungen und Einstellungen wie Selbstständigkeit, Verantwortungs‐ übernahme, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, die durch die Sprachanwendung sichtbar werden, unter den Qualifikationen verstanden werden (Ott 1997: 189). Diese und noch weitere Qualifikationen werden u. a. von Unternehmen erwartet. Der Erwerb solcher Qualifikationen ist die Vorausset‐ zung für die Entwicklung von fachlichen und personalen Kompetenzen (Lin‐ thout 2004: 23). Dabei wird die Sprache als zentrale Querschnittkompetenz be‐ griffen - sowohl im Wissenserwerb, in ihrer Anwendung in der betrieblichen Praxis als auch in der gesamten Handlung junger Menschen (vgl. Selbst- und Sozialkompetenz, DQR 2016). Auf dieser Grundlage wird die Sprache als beruf‐ liche Handlungskompetenz in den Curricula der Berufsvorbereitung verortet und im Unterricht sowie in der Praxis weiterentwickelt. Hierfür bietet der GER als Referenzsystem zur Kompetenzbeschreibung eine strukturierende und dif‐ 195 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="196"?> ferenzierende Basis, weil in ihm das Konzept der kommunikativen Kompetenz als Handlungskompetenz maßgebend ist (Efing 2015: 21). Zudem kann er als ein didaktisches Instrument zur Kompetenzeinschätzung und -entwicklung fun‐ gieren (Efing 2015: 20). Während das Sprachniveau A1-A2 nach GER den Spracherwerb in der Will‐ kommensklasse vorsieht, stehen die Sprachniveaus B1-B2 für den Bildungsgang IBA . Der DQR -Niveaustufe 2 wird die Berufsvorbereitung zugeschrieben, den Stufen 3-4 die Berufsausbildung - je nach Anforderungsniveau der jeweiligen Ausbildung ( DQR 2016). Die Verzahnung beider Referenzsysteme gibt eine grobe Orientierung sowohl für Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Personal als auch für die Schüler‐ innen und Schüler und spiegelt sich in Curricula wider. Den Rahmen für die Beschulung der Neuzugewanderten stellt das kompetenzorientierte, nach den auf den Kann-Beschreibungen im GER basierenden Sprachhandlungen struk‐ turierte, Willkommenscurriculum für die beruflichen und zentral verwalteten Schulen Berlins dar, dem der GER und der DQR zugrunde liegen (Wiażewicz et al. 2017). Die beiden Referenzsysteme werden auch in den jeweiligen Rahmenlehrplänen für fünf Fächer und zehn Berufsfelder innerhalb des gesamten IBA -Bildungsgangs verortet ( IBA -Rahmenlehrplan 2020). Zudem berücksich‐ tigt der IBA -Rahmenlehrplan für das Fach Deutsch und Kommunikation die Stufen des Zweitspracherwerbs, um die mehrsprachigen Lernenden gezielt zu fördern. 2.2 Verfahren und Prozesse Die schulischen Verfahren in einem Bildungsgang reguliert neben dem Schul‐ gesetz auch eine speziell für ihn erlassene Verordnung. Die IBA -Verordnung gibt eine Anschlussorientierung vor: mehrere Praktika im Bildungsgangjahr, die Betriebliche Lernaufgabe, der von Betrieben ausgestellte Kompetenznachweis und eine Bildungsbegleitung als zusätzliche Ressource neben den Lehrkräften zur Berufsberatung für Schülerinnen und Schüler. Für die Qualität der Sprach‐ bildung an Schulen sorgen Lehrkräfte in Funktion der Sprachkoordination, die Sprachbildungskonzepte und Fortbildungen für ihre Kollegien verantworten. Zur Verstärkung des sprachlichen und fachlichen Lernens im Regelunterricht unterstützen zusätzliche Sprachbegleitungen im IBA -Unterricht die Lernenden mit den größten Sprachförderbedarfen. Im Rahmen der Qualitätssicherung bietet das Landesministerium kontinuierlich Fortbildungen zur Sprachbildung im Fachunterricht an. 196 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="197"?> 2.3 Methodik und Didaktik Sprachbegleitungen in der IBA führen mit angeleiteten Lehrkräften eine Erhe‐ bung des Sprachstandes (A2-B2 GER ) in der Zielgruppe der neuzugewanderten und mehrsprachigen Lernenden durch. Sie leiten auf deren Basis Sprachbil‐ dungsschritte ab, die sie den Fachlehrkräften vorschlagen und parallel zu deren Fachunterricht sprachbildend aufgreifen. In den Praktikumsphasen unter‐ stützen sie die Lernenden bei der Präsentation der betrieblichen Lernaufgabe, der Führung der Berichtshefte und etwaigen Dokumentationen. Die Ergebnisse aus der Sprachstandserhebung bieten zudem eine Orientierung für die berufs‐ vorbereitende Beratung und adäquate Berufswegeplanung insbesondere von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Der Entwicklung der Sprachbildungsmaßnahmen liegen das Grundsatzkonzept und der Rahmenlehr‐ plan IBA zugrunde. Sie berücksichtigen den Erwerb der deutschen Sprache als Berufs- und Fachsprache (Efing 2016) in den differenzierten Kompetenzbe‐ schreibungen mit mehreren Stufen und GER -Orientierungsangaben sowohl in den berufsfeldübergreifenden Fächern (Deutsch / Kommunikation, Wirtschafts- und Sozialkunde) als auch in Lernfeldern (für das jeweilige von 10 Berufsfeldern, u. a. Wirtschaft und Verwaltung, Elektrotechnik). Somit wird der Heterogenität in der Vorbereitung auf die Ausbildung Rechnung getragen (vgl. IBA -Rahmen‐ lehrplan). 2.4 Materialien Den Berliner Beruflichen Schulen steht eine Online-Plattform zur Verfügung, die aktuell weiterentwickelt und intensiv sowohl durch Lehrende als auch Lernende genutzt wird. Das Team der Sprachbildungskoordinatoren und Sprach‐ bildungskoordinatorinnen stellt das sprachbildende Material sowie Sprachein‐ schätzungsunterlagen zusammen. Die die Berufsvorbereitung unterstützenden Bewerbungs-, Verarbeitungs- und Präsentationsprozesse werden mit Hilfe von Musterunterlagen und konkreten Textbeispielen dokumentiert - z. B. durch Be‐ richtshefte und Betriebspräsentationen. 2.5 Personal Der Unterricht und die Begleitung in heterogenen Klassen stellen die Sprach- und Fachlehrkräfte sowie die Beratenden vor Herausforderungen. Die berufs‐ bezogene Sprachbildung setzt sowohl fachliche als auch hohe personale Kom‐ petenzen des pädagogischen Personals voraus - insbesondere bei der Hinführung von neuzugewanderten Lernenden mit unterschiedlichen Lerner‐ fahrungen an die Fachinhalte. Denn technische und digitale Anforderungen, z. B. in der Fachpraxis und am Praktikumsplatz, beeinflussen den Gebrauch der 197 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="198"?> Fach- und Berufssprache. Daher sollte die berufliche Kommunikation an kon‐ kreten sprachlich-kommunikativen Anforderungen des Berufsfeldes bzw. eines Referenzberufes ausgerichtet werden (vgl. Kiefer 2011). Für einige Berufsfelder bestehen bereits Analysen der sprachlich-kommunikativen und fachsprachli‐ chen Anforderungen (Pucciarelli 2016: 100 f.; Settelmeyer / Widera 2016: 120 f.), für andere wie z. B. Agrarwirtschaft liegen sie nicht vor. Zudem gestaltet sich die Berufssprache in jedem Berufsfeld, in jedem Betrieb und an jedem Arbeits‐ platz anders, jedoch werden die Grundlagen beruflicher Kommunikation von den Lernenden in den Betrieben erwartet. Dazu gehört z. B. die Anwendung der Höflichkeitsformen im Umgang mit Dritten. Hierfür bietet sich „Siezen“ statt „Duzen“ in der Schulkommunikation sowohl in Wort als auch in Schrift (Mails) als ein automatisierendes Trainingsformat an. Daher ist eine kontinuierliche Schulung der Lehrkräfte und des weiteren pädagogischen Personals (Bildungs- und Sprachbegleitungen) zur Sprachsensibilisierung, zu bildungs- und fach‐ sprachlichen Merkmalen und zum sprachlichen Lernen während der Arbeits‐ prozesse, zur betrieblichen Kommunikation sowie zur Entwicklung von Team-Kompetenzen notwendig. Lehrkräfte berücksichtigen bei der Konzeption der betrieblichen Lernaufgaben u. a. die sprachlichen Anforderungen des Ar‐ beitsplatzes in einem Praktikumsbetrieb. Diese ergeben sich aus den Arbeits‐ aufträgen und aus den Anforderungen der IBA -spezifischen Betrieblichen Lern‐ aufgabe ( BLA ), die sich je nach Berufsfeld und Betriebsart unterschiedlich gestalten. Die Sprachbegleitungen und Lehrkräfte werden sich der Vielfalt zum einen aber auch der daraus resultierenden Sprachanforderungen zum anderen bewusst. Sie können z. B. den Praktikumsbericht als Bestandteil der BLA vor‐ strukturieren und mit Scaffolds als Schreibhilfe zur Tätigkeitsbeschreibung im Praktikum nach Bedarf versehen. 2.6 Lernende Die Berufsvorbereitung zeichnet sich insgesamt durch eine hohe Heterogenität unter den Schülerinnen und Schülern aus, die die Jahrgänge der Sekundar‐ stufe I abgeschlossen bzw. abgebrochen und Lernpausen eingelegt haben. Ihr Alter reicht von 16 Jahren bis über 18 Jahre hinaus, viele von ihnen sind zwei- oder mehrsprachig, in Berlin geboren und eingeschult oder neuzugewandert. Den Überblick über die sprachliche Heterogenität verschaffen folgende An‐ gaben: Im laufenden Schuljahr sind fast drei Viertel der Schülerinnen und Schüler nicht-deutscher Herkunftssprache, davon sind rund 25 % Neuzugewan‐ derte mit ca. anderthalb bis drei Jahren Sprachlernerfahrung (vgl. Berufliche Schulen 2020 / 2021). Dank des Einsatzes von Bildungs- und Sprachbegleitung sowie positiver Praktikumsverläufe können sie erfolgreich in die Berufsausbil‐ 198 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="199"?> dung bzw. weitere Bildungsgänge weitergeleitet werden. Dies spricht für die Verstärkung der Ebenen Personal und Verfahren / Prozesse (s. Abb. 1), damit die Lernenden durch strukturiertes Training die sprachlich-kommunikativen An‐ forderungen in der beruflichen Bildung adäquat bewältigen können. 3 Integriertes Fach- und Sprachlernen in Ausbildung und Berufseinstieg 3.1 Rahmenbedingungen Die Sprachenwerkstatt der WIPA GmbH Berlin, bis Ende 2019 im Landesnetz‐ werk IQ Berlin des bundesweiten Förderprogramms Integration durch Qualifi‐ zierung ( IQ ), und ihre Nachfolgeprojekte bieten Integriertes Fach- und Sprach‐ lernen für den Einstieg in die Ausbildung, für Auszubildende sowie Berufsanfänger und Berufsanfängerinnen an. Diese drei Zielgruppen werden auch im Betrieb als Sprachlernort durch das Training fachgebietsbezogener Deutschkompetenzen der WIPA GmbH gefördert. In dem hier dargestellten Sprachenwerkstatt-Projekt geht es um Auszubildende eines Pflegebetriebs, die im Betrieb fachtheoretischen und fachpraktischen Unterricht erhalten. Sie weisen Sprachförderbedarfe auf verschiedenen GER -Niveaus auf. In der Aus‐ zubildendengruppe befinden sich geflüchtete Auszubildende, die Deutschkom‐ petenzen um das GER -Deutsch-Niveau B2 herum aufweisen, sowie Deutsch-Muttersprachler und -Muttersprachlerinnen mit Sprachförderbedarfen aufgrund geringer Schulbildung. Die Strukturen des Pflegebetriebs sind auf die Ausbildung von Menschen ohne Sprachförderbedarfe ausgerichtet. Sachliche und fachliche Ressourcen für fachgerechte Ausbildungen sind in hohem Maße vorhanden: Ein Team von 26 hauptberuflichen Ausbilderinnen und Ausbildern in der Fachtheorie steht für 600 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Der fachpraktische Unterricht wird in Kooperation mit acht weiteren Betrieben und deren nebenberuflichen Ausbil‐ dern und Ausbilderinnen durchgeführt. Für fachtheoretische Bereiche werden adäquat ausgestattete Lehr- und Lernräume bereitgestellt. Ressourcen zur För‐ derung der Deutschkompetenzen werden durch die Sprachenwerkstatt als Ex‐ terne geschaffen. Bei dem hier dargestellten Betrieb ist aufgrund seiner Vernet‐ zung und Ausbildungskompetenzen denkbar, die Impulse aus der Sprachenwerkstatt aufzugreifen, um an die Rahmenbedingungen angepasste Strukturen selbst aufzubauen. Herausforderungen, die dazu gelöst werden müssen, sind u. a. die Flexibilität eigener Arbeitskräfte dafür zu erhalten und eine koordinierende Stelle zu schaffen. Das Bildungsziel ist bei Projektbeginn, geflüchtete Auszubildende beim Integrierten Fach- und Sprachlernen durch 199 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="200"?> Teamteaching oder Co-Teaching im Ausbildungsbetrieb zu unterstützen. Team‐ teaching bedeutet, dass Fachlehrkraft und Sprachlehrkraft gemeinsam lehren, während Co-Teaching das Unterrichten einer gesonderten Kleingruppe Teil‐ nehmender mit Sprachbildungsbedarfen parallel zum Fachunterricht be‐ zeichnet. Das interne Qualitätsmanagement des Förderangebots misst u. a. die Zufriedenheit des Betriebs, der Auszubildenden und der Fach- und Sprachlehr‐ kräfte im Projektverlauf. Ohne hier ins Detail zu gehen, können die gemessenen Ergebnisse bezüglich der genannten Gruppen wie folgt zusammengefasst werden: Der Betrieb möchte die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Förder‐ angebot gern fortsetzen und ausweiten. Die Auszubildenden erreichten eine Verlagerung der Sprachförderung hin zu zunehmend mehr Teamteaching, da sich die „gesonderten Kleingruppen“ innerhalb des Co-Teachings häufig auf den gesamten Klassenverband erweiterten. Die befragten Fach- und Sprachlehr‐ kräfte heben die Entlastung durch die Zusammenarbeit hervor und äußern sich zufrieden über die eigenen Kompetenzzugewinne im sprachlichen bzw. fachli‐ chen Bereich im Projektverlauf. 3.2 Verfahren und Prozesse Die Teilnehmenden einer Leitungssitzung des Ausbildungsbetriebs erklärten sprachbildende Unterstützungsmaßnahmen im Ausbildungskontext als not‐ wendig. Ein Partner zur Erstellung eines Sprachbildungskonzepts und Durch‐ führung von ausbildungsbezogenen Sprachstandserhebungen sowie Sprachbil‐ dung wurde gesucht. Der Ausbildungsbetrieb beauftragt damit die Sprachenwerkstatt. Die Entwicklung eines Curriculums für Integriertes Fach- und Sprachlernen erfolgt in Zusammenarbeit pädagogischer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Ausbildungsbetriebs und der WIPA GmbH auf der Grund‐ lage des Lernfeldkatalogs der betreffenden Ausbildungsgänge. Fach- und Sprachlehrkräfte vor Ort evaluieren Lehr- und Lernformate des Integrierten Fach- und Sprachlernens, beispielsweise das bereits erwähnte Teamteaching. Im Rahmen der Qualitätssicherung plant und entwickelt die Sprachenwerkstatt der WIPA GmbH Berlin in Absprache mit dem Ausbildungs‐ betrieb geeignete Lehr- und Lernformate - so zum Beispiel das Ausmaß des Teamteachings im Projektverlauf. Die Dokumentation der zeitlichen, räumlichen, personellen, inhaltlichen und instrumentellen Aspekte des Integrierten Fach- und Sprachlernens inklusive Sprachsensibilisierung erfolgt hier weitestgehend durch die Sprachlehrkräfte, unter Einbeziehung der ausbildenden Fachkräfte. 200 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="201"?> 3.3 Methodik und Didaktik Die Sprachstandserhebungen und das Sprachbildungskonzept beziehen sich bei Beginn des Projekts auf die Zielgruppe geflüchteter Auszubildender. Blended Learning unter Zuhilfenahme virtuellen Lernens wird nicht in die Methodik und Didaktik einbezogen, da die genannte Zielgruppe nicht mit ausreichend leis‐ tungsfähigen Endgeräten ausgestattet ist und diesbezüglich auch keine Unter‐ stützung erhält. 3.4 Materialien Sprachfördernde und sprachbildende Materialien für Auszubildende in der Pflege sind vorhanden. Für Fach- und Sprachlehrkräfte, die Integriertes Fach- und Sprachlernen innerhalb der Lernfelder fördern wollen, ist die Anwendung dieser Materialien schwierig: Diese sind häufig nicht lernfeldbezogen konzi‐ piert, sondern orientieren sich bspw. an Arbeitsabläufen in Pflegeinstitutionen (vgl. hierzu die Pflege-Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, Anlagen 1-4 bspw. mit „Linie 1 Pflege B2 Deutsch für Pflegeberufe“). Im hier geschilderten Projekt entwickeln Sprachlehrkräfte Sprachförderma‐ terialien für Auszubildende. Sie bauen dabei auf fachtheoretischen und fach‐ praktischen Unterrichtungen auf. Im Teamteaching bereitet die Sprachlehrkraft die Vermittlung fachlicher Inhalte sprachsensibel auf. Zu dem Projekt Sprachen‐ werkstatt gehört eine Lehrkräftequalifizierung für die Spezialmodule der Be‐ rufssprachkurse, die auch von Fachlehrkräften des Ausbildungsbetriebs besucht wird (Massloff / Suhr 2018). Die Fachlehrkräfte nähern sich auch dort dem Be‐ reich der fachbezogenen Sprachbildung an und trainieren die Erstellung von Sprachbildungsmaterialien. Im Rahmen der Lehrkräftequalifizierung entstehen also u. a. Materialien für Lehrende. 3.5 Lernende Die Lernenden in diesem Projekt ähneln sich in ihrem sozialen Profil. Sie haben keine Familien in Deutschland oder sind ihrer deutschen Familie zum Teil sehr entfremdet. Mindestens in einem Teil des beruflichen Profils, den Arbeitserfah‐ rungen, unterscheiden sich die Auszubildenden sehr. Die geflüchteten Auszu‐ bildenden verfügen alle über Arbeitserfahrungen, teils im Gesundheitsbereich, während die deutschen Muttersprachler und Muttersprachlerinnen eher selten oder wenig Arbeitserfahrung haben. Die personalen Kompetenzen in ihrer Gleichheit und Unterschiedlichkeit lassen sich am besten an der Kommunika‐ tions- und Lernfähigkeit aufzeigen. Während die acht geflüchteten Auszubildenden im Projekt nach Beobachtungen von Fach- und Sprachlehrkräften und Ergebnissen fachpraktischer Testungen schnellere und besser benotete Resul‐ 201 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="202"?> tate und damit eine höhere Lernfähigkeit aufweisen, besitzen sie aufgrund ge‐ ringerer Deutschkompetenzen eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit. Für die größere Gruppe der deutschen Muttersprachler und Muttersprachlerinnen verhält es sich eher umgekehrt - sie verfügen in ihrer Muttersprache über eine größere Kommunikationsfähigkeit, zeigen jedoch nach der Erfahrung der eingesetzten Fach- und Sprachlehrkräfte sowie Ergebnissen aus fachpraktischen Testungen eine im Vergleich mit der zuvor genannten Gruppe geringere Lern‐ fähigkeit. 3.6 Personal Die Personalentwicklung innerhalb des Ausbildungsbetriebs sowie auch der WIPA GmbH Berlin sorgt für die Weiterbildung von Fach- und Sprachlehr‐ kräften, inklusive der (Weiter-)Entwicklung von Teamteaching-Kompetenzen, sprachsensiblem Fachunterricht, Entwicklung von Sprachbildungsmaterialien und der Kompetenz zur Einbindung neuer Medien. Dies alles kann das Personal für eine qualitativ hohe Projektumsetzung nutzen. Eine Koordination des Pro‐ jekts in Kooperation von Ausbildungsbetrieb und Bildungsdienstleister sorgt schließlich für eine bedarfsgerechte Ausweitung des Integrierten Fach- und Sprachlernens über die ursprüngliche Zielgruppe der geflüchteten Auszubildenden hinaus auf die meisten deutschen Muttersprachler und Muttersprachlerinnen unter den Auszubildenden. In der Beschreibung des Berliner Modells zum Integrierten Fach- und Sprach‐ lernen in der beruflichen Bildung in Bezug auf die Sprachenwerkstatt wird die Ebene Personal sehr stark betont. Die Kompetenzen koordinierender Kräfte sowie der Fach- und / oder Sprachlehrkräfte bilden die fachlichen Ressourcen des Ausbildungsbetriebs und der WIPA GmbH Berlin, sorgen für Entwicklung durch Qualitätsmanagement und machen es möglich, dass Curricula sowie Lehr- und Lernformate inklusive Materialien entwickelt werden können. An dieser Stelle bietet es sich an, auf den nunmehr veränderten Gestaltungsspielraum in‐ nerhalb des als sechsseitige Pyramide dargestellten Berliner Modells für IFSL in der beruflichen Bildung einzugehen. 202 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="203"?> Abb. 3: Das Berliner Modell für Integriertes Fach- und Sprachlernen in der beruflichen Bildung (IFSL) (Aulich et al. 2020: 19) Die hohen Kompetenzen des Personals in diesem Projekt, ebenso wie sehr ko‐ operative Verfahren und Prozesse u. a. bezüglich der Methodik, Didaktik und Materialentwicklung sind notwendig, um ungünstige Rahmenbedingungen aus‐ gleichen zu können. Die genannten erschwerenden Rahmenbedingungen gehen vor allem auf eine heterogene Lerngruppe und deren personale und Sprach-Kompetenzen zurück. „Personale Kompetenz“ meint hier - vgl. DQR - „Sozialkompetenz“ und „Selbstständigkeit“. Abbildung 3 stellt das Berliner Mo‐ dell für Integriertes Fach- und Sprachlernen in nach links geneigter Form dar. Der Ausgleich und somit die Schaffung des größtmöglichen Raums für Integriertes Fach- und Sprachlernen für Auszubildende in Gesundheitsberufen wird hier durch die gedehnten Ebenen Personal, Verfahren und Prozesse sowie Me‐ thodik / Didaktik und Materialien auf der rechten Seite dargestellt. Die beiden verkürzten Ebenen Rahmenbedingungen und Lernende befinden sich auf der linken Seite des Modells. 4 Integriertes Fach- und Sprachlernen (IFSL) in der Nachqualifizierung zum Berufsabschluss Nachqualifizierung bedeutet in Abgrenzung zur Umschulung, dass die Fachar‐ beiterprüfung über die Zulassung zur Externenprüfung erfolgt und vorhandene Kompetenzen aus bisherigen einschlägigen beruflichen Erfahrungen berück‐ sichtigt werden. In diesem Rahmen hat die Servicestelle für Nachqualifizierung ( SANQ ) in Berlin mit zuständigen Stellen, d. h. mit der Prüfung beauftragten Institutionen, Vereinbarungen zur Zulassung zur Externenprüfung getroffen (vgl. SANQ , 2011-2017). 203 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="204"?> Zielgruppe für eine berufsbegleitende Nachqualifizierung sind oftmals Be‐ schäftigte, die mit einschlägiger Berufserfahrung aus ihrem Herkunftsland in Berliner Betrieben in prekären Erwerbstätigkeiten als Hilfskraft arbeiten. Die Zielgruppe hat keinen in Deutschland anerkannten Berufsabschluss und eine hohe Motivation, diesen nachzuholen, um die Grundlage für eine dauerhaft ge‐ sicherte Perspektive durch qualifizierte Beschäftigung zu schaffen. 4.1 Nachqualifizierung bei Bildungsträgern im EMSA-Netzwerk Im Modellprojekt Erfolg mit Sprache und Abschluss ( EMSA 2020), gefördert von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin, besteht ein Netzwerk aus Bildungsdienstleistern mit zertifizierten Angeboten, die Erwach‐ sene mit Migrationshintergrund über den Weg einer Nachqualifizierung zum Berufsabschluss führen. Die Zertifizierung wird nach der Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung der Arbeitsförderung ( AZAV ) vorgenommen, wie sie in der Verordnung über die Voraussetzungen und das Verfahren zur Akkreditie‐ rung von fachkundigen Stellen und zur Zulassung von Trägern und Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem dritten Buch des Sozialgesetzbuchs beschrieben steht (vgl. AZAV Verordnung, 2012). Modulare Nachqualifizierungen im EMSA -Netzwerk beinhalten eine sozial‐ pädagogische Betreuung / Kompetenzentwicklungsbegleitung ( KEB ) und Integriertes Fach- und Sprachlernen ( IFSL ). Die Durchführung wird finanziert über den Bildungsgutschein (vgl. SGB III § 82 Arbeitsförderung). Im Rahmen des Qualifizierungschancengesetzes kann eine Förderung über die Bundesagentur für Arbeit für berufsbegleitende Nachqualifizierungen beantragt werden. Nachqualifizierungen werden durch Fachlehrkräfte durchgeführt, die Unter‐ richtserfahrung mit der Zielgruppe von Lernenden ab B1 ( GER ) haben. In min‐ destens 20 % der beim Bildungsdienstleister stattfindenden Fachtheorie und Fachpraxis wird zusätzlich eine Sprachlehrkraft eingesetzt, welche Lehr- und Lernformate sprachfördernd unterstützt. Mit diesen personellen Ressourcen entwickeln Bildungsdienstleister im EMSA -Netzwerk berufsfachliche Hand‐ lungs- und Sprachkompetenzen ineinandergreifend und entlang der Module. Sie bereiten fachlich und sprachlich auf die Facharbeiterprüfung (Externenprüfung) vor. Die Qualifizierungsdauer steht in Abhängigkeit von bereits vorhandenen be‐ rufsfachlichen Handlungskompetenzen. Auf Grundlage einer fachlichen Fest‐ stellung im Startmodul stimmen Bildungsdienstleister und zuständige Stellen einen Qualifizierungsplan ab, in dem festgelegt wird, welche Module individuell absolviert werden müssen. Zu Beginn der Nachqualifizierung wird eine diffe‐ renzierende Deutschsprachstandseinschätzung A-B-C mit Berufssprachbezug 204 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="205"?> durchgeführt (vgl. Wiażewicz / Wermerskirch-Appl 2017). Bestandteil dieser ersten Einschätzung ist ebenso die Erfassung vorhandener personaler Kompe‐ tenzen, die für eine erfolgreiche Qualifizierung relevant sind. Das Einstiegsniveau der Deutschkompetenzen und die Fähigkeit zum selbst‐ organisierten Lernen haben einen direkten Einfluss auf den Erwerb fachlicher Inhalte. Wenn allgemeinsprachliche Deutschkompetenzen noch nicht in aus‐ reichendem Maß erworben wurden, kann dies, trotz kontinuierlicher und klein‐ schrittiger Verständnissicherung, die Vermittlung von Fachsprache, das Ver‐ stehen fachtheoretischer Zusammenhänge erheblich beeinflussen und das Lernen möglicherweise verlangsamen. Es kommt also bei dieser Sprachstandseinschätzung auch auf eine Prognose dahingehend an, ob motivierte Bildungs‐ interessierte mit der Unterstützung von IFSL in der ihnen zur Verfügung ste‐ henden Qualifizierungszeit den Berufsabschluss erreichen können. 4.2 Rahmenbedingungen in der berufsbegleitenden Nachqualifizierung Um berufsbegleitend nachqualifizieren zu können, sollten Bildungsdienstleister zertifizierte Angebote zum Berufsabschluss grundsätzlich modularisiert durch‐ führen, sodass Beschäftigte in laufende Qualifizierungsmodule einsteigen können. Berufsbegleitende Nachqualifizierungen treten in der Regel als Einzel‐ fälle auf, sodass ein individualisiertes Angebot mit einem hohen Grad an Bin‐ nendifferenzierung in den Lernsituationen erst in der Kombination gleichzeitig stattfindender Qualifizierungen umgesetzt werden kann. Um dies zu verdeutli‐ chen: Im Zielberuf finden parallel mehrere Module mit unterschiedlichen fach‐ lichen Inhalten statt. Denn, indem Bildungsdienstleister einzelne Teilnehmende in ihr bestehendes System der Bildungsorganisation eingliedern, vermeiden sie Einzelunterricht, welcher mit Fördermitteln nicht wirtschaftlich umgeht. Dabei kann die Qualifizierung sowohl blockweise als auch nach dem Berufs‐ schulmodell durchgeführt werden. Bei einer Arbeitswoche von fünf Tagen ver‐ bringen an der Nachqualifizierung teilnehmende Beschäftigte in der Regel zwei Tage beim Bildungsdienstleister und drei Tage im Betrieb. Wenn der Betrieb die Entscheidung trifft, Beschäftigte nicht blockweise, sondern zwei Tage in der Woche für die Qualifizierung freizustellen, kann sich dies in den Rahmenbe‐ dingungen auf infrastrukturelle und personelle Ressourcen auswirken, weil das System der Bildungsorganisation in der Regel auf den Umfang einer Fünf-Tage-Woche ausgerichtet ist. Im Folgenden werden Aspekte aus der Methodik und Didaktik von Integriertem Fach- und Sprachlernen im EMSA -Netzwerk aufgegriffen, die im Rahmen von berufsbegleitenden Nachqualifizierungen mit dem Lernort Betrieb kooperativ durchgeführt werden können. 205 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="206"?> 4.3 Methodik und Didaktik Die Erfahrung von Bildungsdienstleistern in der Nachqualifizierung im EMSA -Netzwerk zeigt, dass in der Unterrichtsdidaktik am Lernort Fachtheorie Wiederholungsschleifen und multiple Übungsphasen zum Trainieren fachlicher Inhalte und sprachlicher Strukturen fest verankert sein müssen. Dies trägt maß‐ geblich zum Lernerfolg bei. Beim Bildungsdienstleister wird binnendifferen‐ ziertes Lernen, je nach Schwierigkeitsgrad der Aufgaben, mit gestuften sprach‐ lichen oder fachlichen Hilfen begleitet. Individuelle Lernfortschritte werden in Absprache mit Fach- und Sprachlehrkräften von der Kompetenzentwicklungs‐ begleitung ( KEB ) in ihrer Aufgabe als Lernbegleiter und Lernbegleiterinnen er‐ mittelt und dokumentiert. Die Unterstützung am Lernort Betrieb hängt von verschiedenen Kriterien ab, u. a. davon, welche Arbeitsschritte die Erwerbstätigkeit genau beinhaltet und welche innerbetrieblichen Kommunikationswege, welche Unterstützer und Un‐ terstützerinnen bzw. Mentoren und Mentorinnen vorhanden sind. Situativ könnten konkrete Ansprechpersonen die sprachlich-kommunikativen Kompe‐ tenzen von Lernern positiv beeinflussen und stückweise erweitern, wenn sie ihnen mit Hilfe von „Chunks“, einer Abfolge von Wörtern, die eine sinnvolle Einheit bilden, oder mit häufig gebrauchten Formulierungen zur Seite stehen und die Sprechhilfen verschriftlichen, sodass Lernende eigenständig wieder‐ holen und korrekte Sprachmuster trainieren können. Für den Lernerfolg ist es förderlich, wenn der Lernort Betrieb den Lernenden in und während ihrer Tä‐ tigkeit Gelegenheiten schaffen kann, ihre sprachlich-kommunikativen Kompe‐ tenzen im Berufsfeld zu festigen und unter Beweis stellen zu können. Dazu braucht es lediglich konkrete Sprechanlässe und korrekte sprachliche Struk‐ turen. Ein konkreter Sprechanlass wäre z. B. die detaillierte Beschreibung eines Arbeitsablaufes. Beim Bildungsdienstleister werden Methoden zum Erschließen von Fach‐ texten auf Wort- und Satzebene trainiert. Grammatische Strukturen werden an‐ hand von Fachtexten erläutert und in aktiven Sprachhandlungen unmittelbar angewandt und geübt. Angeleitet durch die Sprachlehrkraft sollen Lernende im Sinne von Lebenslangem Lernen in die Lage versetzt werden, sich Fachtexte perspektivisch eigenständig erschließen zu können. Dies kann sich besonders effektiv gestalten, wenn Lernende die zuvor beim Bildungsdienstleister erwor‐ bene Fähigkeit zur eigenständigen Texterschließung auch im Betrieb, Alltag und familiären Umfeld aktiv anwenden. Blended Learning setzt voraus, dass sich Lernende auf Online-Lernphasen einlassen und die Kompetenz zum selbstorganisierten Lernen mitbringen. Es stellt sich die Frage, wie Bildungsdienstleister mit einem ergänzenden Blended 206 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="207"?> Learning-Format den Kompetenzerwerb in berufsbegleitenden Nachqualifizie‐ rungen noch individueller gestalten können. Solch eine Ergänzung verlangt nach einem Konzept, welches die Inhalte von Online-Lernphasen sowie die Schwerpunkte im Fach- und Sprachlernen in den Präsenzphasen beim Bildungs‐ dienstleister beschreibt und dies für Wissensvermittlung, Übungen und Wie‐ derholungsschleifen gleichermaßen. Damit würde Blended Learning eine Möglichkeit zum lernortübergreifenden Lernen eröffnen. Die Vorteile von Online-Lernphasen liegen darin, dass Teil‐ nehmende Lernzeiten selbst festlegen und die Häufigkeit von Wiederholungen und Übungen selbstverantwortlich steuern können. In gewisser Weise kommen die sog. Hausaufgaben in einem neuen Format und nunmehr als Qualifizie‐ rungszeit kalkuliert zurück, was wiederum neue Impulse für individuelles Lernen setzen kann. Lehrkräfte stimmen die Inhalte von Integriertem Fach- und Sprachlernen in den Präsenzzeiten beim Bildungsdienstleister mit dem indivi‐ duellen Lernstand aus den Online-Lernphasen ab und integrieren die Teilnehmenden in die jeweiligen binnendifferenzierten Lerngruppen. Für derart individualisierte Lehr- und Lernformate müssten personelle Res‐ sourcen für den Mehraufwand in der didaktischen Planung und der methodi‐ schen Umsetzung, den Absprachen zwischen Fach- und Sprachlehrkräften und eine engmaschige Lernbegleitung bereitgestellt werden. Die Kooperation zwischen Bildungsdienstleister und Betrieb bleibt für Integriertes Fach- und Sprachlernen im Rahmen von Qualifizierungen zum Berufs‐ abschluss von Erwachsenen eine entscheidende Ressource. Dabei spielt der Lernort Betrieb eine wichtige Rolle, damit Lernende durch ihr Arbeitsumfeld motiviert bleiben und darüber wertschätzende Unterstützung erfahren. 5 Konzept individualisierter und digital gestützter Sprachbildung als Zukunftsperspektive für den betrieblichen Lernort - ein Ausblick Die berufliche Bildung zeichnet sich aus durch eine handlungs- und kompe‐ tenzorientierte Didaktik sowohl in schulischen Bildungsgängen als auch in den außerschulischen Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung, Umschulung, An‐ passungs- und Nachqualifizierung. Die wachsende Dienstleistungsorientierung sowie Technologisierung der Berufswelt erfordern deshalb die Modellierung vorhandener sowie die Erstellung neuer flexibler Curricula und Unterrichtssowie Anleitungsformate. Durch die Verankerung einer sprachorientierten Di‐ daktik können die Bedarfe mehrsprachiger und / oder sprachlich wenig affiner Lernender in der Umsetzung berücksichtigt werden. Während die Lernenden 207 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="208"?> mit Deutsch als Herkunftssprache eher ihre schriftliche Kommunikation (Sprachregister) und jeweilige Fachsprache erweitern, müssen die Deutsch-als-Zweitsprache-Lernenden ihr Sprachgerüst aufbauen und parallel dazu die Berufs- und Fachsprache lernortbezogen Schritt für Schritt erwerben. Dabei ist die individuelle Begleitung am Arbeitsplatz im betrieblichen Umfeld sprachfördernd, insbesondere in Bezug auf die mündliche Kommunikation (vgl. Wiażewicz 2018: 105). Die Sensibilisierung von Kollegen und Kolleginnen für Unterstützungsbedarfe von Deutsch-als-Zweitsprache-Lernenden ermöglicht den Lernenden gezielte situative Förderung der mündlichen Sprachkompe‐ tenzen sowie der schriftlichen bei der Verwendung und Erstellung von Doku‐ menten am Arbeitsplatz. Die Heterogenität der Lernenden in den bereits beschriebenen Bildungsan‐ geboten zeichnet sich durch verschiedene Aspekte aus. Die Altersstufen, in ver‐ schiedenen Berufsfeldern erworbene Bildungs- und Arbeitserfahrungen sowie der kulturelle und soziale Hintergrund beeinflussen den Fach- und Sprachkom‐ petenzerwerb. Die Versprachlichung der Arbeits- und Geschäftsprozesse im be‐ trieblichen bzw. betriebsnahen Lernort (z. B. Werkstatt) trägt dazu bei, dass das fachliche Lernen und spontane Handeln den sprachlichen Ausdruck im Beson‐ deren fördern. Damit Lernende sprachlich-kommunikative Anforderungen in wechselnden Situationen und Kommunikationszusammenhängen (Kund‐ schaft-Belegschaft-Vorgesetzte) kompetent bewältigen, benötigen sie individu‐ elles und flexibles Sprachtraining. Dies könnten z. B. Blended Learning- oder individuelle digitalgestützte Begleitprogramme am betrieblichen Lernort bieten. Die Voraussetzung für die Etablierung solcher Programme ist die Verfügbarkeit von digitalen Geräten und der Zugang zum Internet. Die Lernenden erhalten im Sinne eines „Lerninsel-Konzepts“ oder „informellem (Sprach-) Lernen am Ar‐ beitsplatz“ Unterstützung auf dem Weg zum selbstständigen fachlich-sprachli‐ chen Lernen. Ein Konzept für individuelles Sprachcoaching als Beispiel für Sprachlernen am Arbeitsplatz wurde im Rahmen des Förderprogramms Integration durch Qualifizierung im Projekt Mit Anpassungsqualifizierung zum anerkannten Be‐ rufsabschluss ( MAZAB ) entwickelt und erprobt (vgl. Volkmann / Rehse 2019). Das Konzept verfolgt den Ansatz Lernen in der Arbeit (vgl. Dehnbostel 2008) und berücksichtigt die Heterogenität der sprachlich-kommunikativen Anforde‐ rungen verschiedener Berufsfelder sowie der jeweiligen Arbeitsplätze. Einer‐ seits werden Ablauf und Inhalt des Sprachlernens komplett an die Bedingungen des Arbeitsplatzes und die Voraussetzungen der jeweiligen Fachkraft angepasst. Andererseits wird das Lernen in der Arbeit durch die Kombination von 208 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="209"?> 1. individuellem Unterricht im Betrieb vor Ort oder online via Webkonfe‐ renztools mit einem Sprachcoach / einer Sprachcoachin bis max. 24 Un‐ terrichtseinheiten à 45 Minuten, 2. dem Erarbeiten von arbeitsplatzrelevanten sprachlich-kommunikativen Praxisaufgaben mit didaktischen Materialien und betrieblichen Doku‐ menten des Arbeitsplatzes auf einer Lernplattform sowie 3. selbstständigem Üben und Anwenden von neuen Sprachstrukturen im Arbeitsalltag professionalisiert. Die Auswahl und Erstellung von Praxisaufgaben sowie das Training von Sprachstrukturen erfolgt auf Basis einer individuellen Sprachbe‐ darfserhebung sowie einer Sprachstandsanalyse. Mit dem/ der einzelnen Lern‐ enden werden kompetenzorientierte und arbeitsplatzbezogene Sprachlernziele festgelegt, bspw. der Aufbau von Fachwortschatz, das schriftliche Formulieren von Protokollen, das mündliche Erklären von maschinell-technischen Prob‐ lemen oder auch das Verfassen von Geschäftsbriefen. Der Anteil des selbstständigen Sprachlernens wird dabei über die maximale Gesamtdauer von sechs Monaten kontinuierlich ausgeweitet. Dadurch entwi‐ ckelt sich ein Prozess des „Empowerments“, der es den Fachkräften auch nach Beendigung des Sprachcoachings ermöglicht, sich selbst sprachlich auf ihre Tä‐ tigkeit bezogen weiterzubilden. Ähnlich den vorgestellten formellen IFSL -Konzepten in der Berufsbildung bilden auch hier eine Sprachstandsanalyse und eine kooperative Sprachbedarfsermittlung sowie die Erarbeitung von individuellen Curricula die Grundlage für das individuelle Sprachcoaching. Die Nutzung einer E-Learning-Lernplattform ermöglicht es, das Sprachlernen örtlich und zeitlich zu flexibilisieren. Die Fach‐ kraft kann das Sprachlernen so in ihren beruflichen Alltag integrieren und an die betrieblichen Erfordernisse anpassen. Bei der Bearbeitung von praxisnahen Aufgaben auf der Plattform erhält die Fachkraft zeitnah Rückmeldung vom Sprachcoach/ von der Sprachcoachin. Der Sprachcoach/ die Sprachcoachin kann die nächste Präsenz-Einheit wiederum gezielt auf den Lernstand der Fachkraft anpassen. Durch die Kombination von Präsenz- und Online-Lernen sowie von Selbstlernphasen und Lernen mit dem Sprachcoach/ der Sprachcoachin kann die Effektivität des Lernprozesses an sich gesteigert werden. Die größte Effektivität erzielt der Blended Learning-Ansatz durch die Integration des Transfers von neu erlerntem Wortschatz und Satzstrukturen der jeweiligen Berufssprache in den Sprachlernprozess. Sprachfortschritte im betrieblichen Arbeitsalltag wirken sich positiv auf die grundsätzliche Motivation der Lernenden aus, die wiederum die Einstellung zum weiteren Kompetenzerwerb förderlich beeinflusst. 209 Integriertes Fach- und Sprachlernen als Weg in den betrieblichen Lernort <?page no="210"?> Auf der Ebene des Personals erfordert ein solcher Ansatz die Fähigkeiten, sich als Lernbegleitung bzw. Coach / Coachin zu verstehen sowie sich auf die Bedin‐ gungen und Anforderungen im Betrieb und am Arbeitsplatz des Lernenden ein‐ zustellen. Der Sprachcoach/ die Sprachcoachin benötigt fundierte Fachkennt‐ nisse zum Spracherwerb sowie breites didaktisches Wissen und diagnostische Kompetenzen, um den Sprachlernprozess individualisiert zu gestalten. Die Be‐ reitschaft zur Einarbeitung in die Besonderheiten der jeweiligen Fachsprache des Berufes sowie in die Berufssprache ist ebenso grundlegend. Nicht zuletzt erfordert es Offenheit für den Einsatz von digitalen Technologien sowie Wissen und Erfahrung, um diese zielgerichtet und motivierend einsetzen zu können. Auch auf Seiten der Lernenden bzw. der Fachkräfte ist die Bereitschaft, digi‐ tale Technologien zum Sprachlernen zu nutzen, eine wichtige Voraussetzung. Gleichzeitig gilt es, bei jedem/ jeder Lernenden herauszufinden, wie die Tech‐ nologie beim Lernen tatsächlich unterstützt und motiviert bzw. wo sich die Technik als nicht zweckdienlich erweist. Erfolgreiches individualisiertes Lernen im Betrieb erfordert den Aufbau so‐ wohl der fachlichen Kompetenzen als auch der personalen Kompetenzen der Lernenden sowie der sie Begleitenden (vgl. DQR ). Neben Eigenmotivation ge‐ hören Teamarbeit, Problemlösungsorientierung, Frustrationstoleranz, Sorgfalt und Hilfsbereitschaft zu den wichtigsten Merkmalen verantwortungsbewussten Handelns am Arbeitsplatz. Diese Kompetenzen ermöglichen den Lernenden, die verschiedenen Situationen im Betrieb erfolgreich zu bewältigen, auch wenn ihre Sprachkompetenzen noch im Aufbau begriffen sind. Wenn Lernende souverän fachlich handeln, können ihre Chancen auf einen Ausbildungsbzw. Arbeits‐ platz respektive auf eine nachhaltige Beschäftigung steigen. Zur Einschätzung der Wirksamkeit und zum Nachweis des Erfolgs von Bil‐ dungsangeboten werden Evaluationen und internes Qualitätsmanagement ge‐ zielt eingesetzt. Die Ergebnisse von Evaluationen können die Grundlage bilden, um innovative Angebote, auch mit dem Fokus auf digital gestützte Trainings zur betrieblichen Kommunikation in Wort und Schrift, abzuleiten. In der Kon‐ zeption solcher Trainings müssen die Rahmenbedingungen, Ressourcenpla‐ nung, geplante Verfahren sowie die didaktische Umsetzung und der Einsatz kompetenten Personals Berücksichtigung finden. Insbesondere die Heteroge‐ nität der Lernenden und die heterogenen Anforderungen einzelner Arbeits‐ plätze müssen auf allen Ebenen erfasst und in die Planung und Durchführung einbezogen werden (Volkmann / Neumann 2020). Speziell die Verzahnung des Spracherwerbs und der direkten Anwendung in beruflichen Handlungen stei‐ gert die Effektivität des Lernens im Betrieb. 210 Barbara Aulich, Sabine Massloff, Katrin Volkmann & Magdalena Wiażewicz <?page no="211"?> Anhand des skizzierten digital gestützten, individualisierten Ansatzes von MAZAB wird sichtbar, dass auch innovative Sprachlernformate nach den Kri‐ terien des Berliner Modells für IFSL in der beruflichen Bildung analysiert und weiterkonzipiert werden können. Derartige Bildungsangebote fördern einer‐ seits die Kompetenzen der Lernenden im Umgang mit digitalen Technologien im beruflichen Alltag sowie andererseits die hierfür notwendigen Selbstkom‐ petenzen. 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In the sense of lifelong learning, different agents of pro‐ moted integration processes will be included and receive demand-driven sup‐ port and qualification. The newly immigrated are the focus of the support measures. For integration to succeed, it is essential to promote society’s wil‐ lingness to integrate, and to provide willing persons in the newly immigrated environment with helpful tools and instructions so they can pass on targeted support. For this reason, specialists are trained as language mentors who su‐ pervise workplace-related second language acquisition directly in the com‐ pany. After the presentation of these support measures, results from the eva‐ luation of the language mentoring training will be presented. Finally, a possible further development of the two measures will be considered. Keywords: language learning on the job, life-long learning, language men‐ toring 1 Integrationsförderung im Sinne des Lebenslangen Lernens Die globalisierte Gesellschaft von heute ist durch bedeutende Herausforde‐ rungen gekennzeichnet, wie z. B. zunehmende Komplexität und schnelle Ve‐ ränderungen von Aufgabenfeldern und Tätigkeitsprofilen auf dem Arbeits‐ markt. Der Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommt daher <?page no="217"?> 1 https: / / fierprojecteu.com/ (Stand: 26 / 06 / 2021) eine Schlüsselrolle zu. Vor diesem Hintergrund rückt das Lebenslange Lernen in den Vordergrund, durch das erhöhte Partizipation und Leistung in der Ge‐ sellschaft stattfinden kann. In der aktuellen europäischen bildungspolitischen Diskussion hat der Begriff des Lebenslangen Lernens eine strategische und funktionale Zuspitzung erhalten. Die Europäische Kommission sieht das Le‐ benslange Lernen als eine Schlüsselkompetenz und im Memorandum über Le‐ benslanges Lernen (2003), einem noch immer einflussreichen bildungspoliti‐ schen Dokument, heißt es: „Lebenslanges Lernen ist nicht mehr bloß ein Aspekt von Bildung und Berufsbildung, vielmehr muss es zum Grundprinzip werden, an dem sich Angebot und Nachfrage in sämtlichen Lernkon‐ texten ausrichten“ (Hervorhebungen im Original). Dies bringt Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen mit sich, wobei in diesem Beitrag vor allem eine individuelle Mikroebene betrachtet wird. Laut Alheit und Dausien (2018) wachsen auf dieser Ebene die Erwartungen an die zunehmend komplizierten Verarbeitungsleistungen der konkreten Akteurinnen und Akteure angesichts der sozialen und medialen Herausforderungen, was eine neue Qualität individueller und kollektiver Kompetenzentwicklung vorauszu‐ setzen scheint. In Baden-Württemberg, Ausführungsort des Projektes in diesem Beitrag, gilt es als Ziel des Lebenslangen Lernens u. a. Zugewanderte durch Förderung deut‐ scher Sprachkenntnisse zu unterstützen und somit die Integration zu fördern (Bündnis für Lebenslanges Lernen 2015; 2020). Die Pädagogische Hochschule Weingarten ( PHW ) stellt sich dieser Herausforderung mit einer zentralen Ein‐ richtung, der Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung ( AWW ). Die AWW zielt darauf ab, Lebenslanges Lernen zu fördern, indem sie berufs‐ begleitende Weiterbildungskurse im Betrieb als auch an der Hochschule an‐ bietet, die globale Herausforderungen auf lokaler Ebene angehen. Mit proak‐ tiven Initiativen, wie dem in diesem Beitrag beschriebenen Projekt FIER - Fast-track Integration in European Regions, 1 in denen ein Modell für das Sprachmentoring am Arbeitsplatz aufgestellt wird, reagiert die AWW auf eine breite Palette lokaler Bedürfnisse. 2 Das Projekt FIER - Fast-track Integration in European Regions Das europäische FIER -Projekt wurde von der schwedischen Region Västra Gö‐ taland als Projektkoordinatorin geleitet. Es orientierte sich wesentlich an einer Integrationsstrategie, die in Schweden unter dem Schlagwort „Fast-track“ ent‐ 217 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="218"?> 2 https: / / talentseuproject.com/ (Stand: 26 / 06 / 2021) wickelt wurde und die auch heute noch die Integrationsarbeit prägt. Nachdem in Schweden Zugewanderte viel Zeit benötigten, um einen Zugang zum Ar‐ beitsmarkt zu finden (z. B. Aldén / Hammarstedt 2014: 14), sollte die Umsetzung des Fast-tracks die Zeit bis zum Eintritt in eine Beschäftigung deutlich ver‐ kürzen. Gleichzeitig verbinden Fast-tracks Sprachtraining, allgemeine Bildung und berufsfachliche Kompetenzentwicklung mit Arbeitserfahrung. Dieser pa‐ rallele Qualifizierungsansatz, der Theorie und Praxis verbindet, entspricht nicht zuletzt Empfehlungen internationaler Organisationen wie der OECD und der Europäischen Kommission (vgl. European Commission 2018: 11). Schweden ist das europäische Land, das dieses Ziel erstmals in einer politischen Strategie umgesetzt hat (vgl. Ministry of Employment, Government Offices of Sweden 2016). Durch diese Maßnahme wollte die schwedische Regierung außerdem errei‐ chen, dass neu Zugewanderte in Schweden einen Arbeitsplatz finden, der ihrer Ausbildung, ihrer Erfahrung, ihrem Interesse und nicht zuletzt ihren persönli‐ chen Talenten entspricht (vgl. Ministry of Employment, Government Offices of Sweden 2016; European Commission, DG Employment, Social Affairs & Inclu‐ sion 2019). In Göteborg wurde vor diesem Hintergrund das Projekt Hotel Ta‐ lents 2 entwickelt, das als Vorbild für die in Baden-Württemberg pilotierten Qua‐ lifizierungsangebote im Rahmen des FIER -Projekts diente. Hohe Erfolgsquoten der Hotel Talents-Teilnehmenden in Schweden belegten, dass der Fast-track-An‐ satz hinsichtlich einer schnellen Arbeitsmarktintegration funktioniert. Auch in den unten näher beschriebenen FIER -Pilotkursen in Stuttgart konnten mehr als 80 % der Teilnehmenden in eine Vollzeit-Beschäftigung vermittelt werden. Die im vorliegenden Beitrag vorgestellten baden-württembergischen FIER -Teilprojekte waren Teil eines europäischen Projekts, in dem verschiedene Maßnahmen zur schnellen Integration von Zugewanderten in den Arbeitsmarkt pilotiert und teilweise miteinander verzahnt wurden. Am Projekt waren auf europäischer Ebene Partner aus Schweden, Norwegen, der Türkei, Belgien und Österreich beteiligt, die mit unterschiedlichen Herangehensweisen, strategi‐ schen Hintergründen und Integrationsmaßnahmen das Ziel der Integration von Zugewanderten in den Arbeitsmarkt in den Arbeitsfokus stellten. Aus Deutsch‐ land bzw. Baden-Württemberg arbeiteten, neben der AWW , der Volkshoch‐ schulverband Baden-Württemberg e. V. und die Volkshochschule Stuttgart (vhs), das Jobcenter der Stadt Stuttgart sowie das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport im FIER -Projekt mit. Die hier vorgestellten, eng miteinander verknüpften FIER -Teilprojekte in Baden-Württemberg (s. Abb. 1) setzten zweiseitig an: 218 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="219"?> • Einerseits wurde für arbeitssuchende Zugewanderte ein kurzformatiges und praxisnahes Qualifizierungsangebot (Deutsch + Beruf) entwickelt, in dem berufs- und branchenbezogener Deutschunterricht verknüpft wurde mit dem Erwerb von berufsfachlichen Kompetenzen sowie Arbeitspraxis im Betrieb. Die zugewanderten Teilnehmenden nahmen in einer dualen Struktur an zwei Tagen pro Woche an einem beruflichen Sprachkurs mit berufsfachlichen Elementen teil und absolvierten an drei Tagen in der Woche ein Praktikum. • Andererseits wurden erfahrene Mitarbeitende in Betrieben zu Sprach‐ mentorinnen und Sprachmentoren im Teilprojekt Language Training on the job (La TJ o) ausgebildet, damit sie zugewanderte neue Kolleginnen und Kollegen bei der Verbesserung der sprachlichen, kommunikativen sowie auch fachlichen Fähigkeiten direkt am Arbeitsplatz strukturiert und zielgerichtet unterstützen können. Die Grundannahme war, dass gerade diese zweiseitige Herangehensweise den Spracherwerb erleichtert und eine gute individuelle sprachliche Progression er‐ möglicht, da auf der einen Seite fundierte sprachliche Strukturen in metho‐ disch-didaktisch gestalteten Settings vermittelt bzw. gefestigt werden und auf der anderen Seite kommunikativ-situative Anforderungen des konkreten Ar‐ beitsplatzes in den Fokus rücken und im authentischen Umfeld trainiert werden können. Abb. 1: Die an FIER beteiligten Teilprojekte in Baden-Württemberg 219 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="220"?> 3 Das FIER-Qualifizierungsangebot „Deutsch + Beruf“ Das FIER -Qualifizierungsangebot „Deutsch + Beruf ” wurde in Stuttgart pilotiert mit immigrierten Teilnehmenden auf unterschiedlichen Sprachniveaus und mit unterschiedlichen Berufserfahrungen. Für diese sollten direkte Zugänge zu Tä‐ tigkeiten unter anderem im Bereich Hotel und Gastronomie geschaffen werden und möglichst in sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigungen münden. Die berufliche Tätigkeit sollte den Teilnehmenden ermöglichen, den Lebensunterhalt ohne öffentliche Unterstützung zu bestreiten. Weitere Pilot‐ kurse wurden in den Branchen Lager und Logistik sowie im Baugewerbe durch‐ geführt. Das wichtigste Merkmal des FIER -Qualifizierungs-Konzepts ist eine schnelle Integration von Migrantinnen und Migranten in den ersten Arbeits‐ markt zu fördern. Die Trainings dauern daher nur wenige Monate und vermit‐ teln parallel sprachliches und fachliches Wissen, das für einen Einstieg in ein‐ fache Tätigkeiten im Hotel- und Gastronomiebereich ausreichend ist. Das Konzept verbindet Theorie und Praxis und umfasste in den Pilotkursen in Stuttgart in einer dualen Struktur zwei Tage Unterricht an der vhs und drei Tage Praktikum in Unternehmen. Wichtigste Inhalte des Unterrichts an der vhs sind: • die Vermittlung berufsbezogener Deutschkenntnisse für Tätigkeiten unter anderem im Hotel- und Gastronomiebereich (z. B. Anlerntätig‐ keiten im Bereich Küche, Service und Zimmerservice). Die sprachlichen Anforderungen des Arbeitsplatzes werden im Rahmen von Arbeitsplatz‐ besuchen und -analysen der Sprachlehrkräfte sowie der betrieblichen Mentorinnen und Mentoren entwickelt. Über individuelle Lernportfolios, in denen Lern- und Feedbackinstrumente sowohl für den Arbeitsplatz als auch für personalisierte Selbstlernphasen im vhs-Kurs bereitgestellt werden, entwickeln Teilnehmende außerdem selbst arbeitsplatzbezogene Lerninhalte. Der Sprachunterricht ist methodisch und didaktisch auf Teil‐ nehmende mit unterschiedlichen Lernniveaus ausgerichtet und kann an spezielle Bedarfe lernungewohnter Gruppen angepasst werden. • die Einbindung branchenspezifischer, fachlicher Basiskenntnisse in den vhs Unterricht unter Einbindung von Lehrkräften aus der Berufspraxis, • der Erwerb branchenspezifischer Zertifikate, z. B. der Nachweis über die Belehrung nach dem Infektionsschutzgesetz für die Gastronomie, • die Auseinandersetzung mit arbeitsplatzbezogenen Soft Skills, die unter anderem in wöchentlichen Reflexionsrunden im vhs-Kurs anhand der Erfahrungen der Teilnehmenden am Arbeitsplatz aufgegriffen werden. Im Fokus stehen dabei konkrete Arbeits- und Kommunikationssituati‐ 220 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="221"?> onen aus dem Praktikum, die zu Schwierigkeiten geführt haben oder auch erfolgreich gemeistert werden konnten. Im Bereich Sprache erhalten Teilnehmende die Möglichkeit, das Sprachzertifikat für B1 zu erwerben. Auch im beruflichen Teil werden Zertifikate angestrebt (z. B. Gesamtzertifikat vhs / DEHOGA , Hygiene-Zertifikat). Das parallel zum Unterricht stattfindende Praktikum ist ein wichtiger Er‐ folgsfaktor, um eine hohe Quote sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäf‐ tigung im Anschluss an den Kurs zu erreichen. Die Teilnehmenden werden im Rahmen des Praktikums bereits eingearbeitet, ohne dass Kosten für das Unter‐ nehmen entstehen. Darüber hinaus stehen ihnen Coaches im Unterricht und am Praktikumsplatz zur Seite, um typische Fragen und Probleme der Teilnehm‐ enden, der Lehrkräfte und der Arbeitgeber zu identifizieren, zu besprechen und zu lösen. Die Coaches der vhs besuchen dabei regelmäßig die Praktikumsun‐ ternehmen und stehen im engen Austausch mit Vorgesetzten und Mentorinnen und Mentoren am Arbeitsplatz. Das Tätigkeitsfeld der Mentorinnen und Men‐ toren im Betrieb wird im folgenden Abschnitt näher erläutert. Die teilnehm‐ enden Praktikanten werden darüber hinaus gezielt beraten und aktiv motiviert, weitere Sprachkurse und berufsbegleitende fachliche Qualifizierungen zu be‐ suchen. Das mittelfristige Ziel ist, dass anerkannte berufliche Abschlüsse er‐ worben werden (können), z. B. zunächst einfache Qualifizierungen wie Service‐ kraft Restaurant später auch vollwertige Abschlüsse wie Köchin / Koch, Hotelfachfrau/ -mann etc., so dass die selbständige Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts gesichert werden kann. Weitere Merkmale des FIER -Konzepts sind eine enge Kooperation zwischen der vhs (Unterricht und Coaching), dem Jobcenter Stuttgart (Akquisition Teil‐ nehmende und Unternehmen), der AWW (begleitet Sprachlernprozesse am Ar‐ beitsplatz durch Sprachmentoring-Training) sowie weiterer externer Partner, im Bereich Hotel- und Gastronomie, z. B. der Branchenverband Deutscher Hotel- und Gaststättenverband ( DEHOGA ). Die Partner entwickeln anschluss‐ fähige Fortbildungsbausteine, die berufsbegleitend absolviert werden können, und setzen damit das oben beschriebene Meta-Ziel um, den zugewanderten Teilnehmenden Pfade des Lebenslangen Lernens und erweiterter beruflicher Perspektiven zu eröffnen Die teilnehmenden Unternehmen sollen möglichst bereit sein, sich am ergänzenden Projekt der AWW zu beteiligen und Fachper‐ sonal zu Sprachmentoren am Arbeitsplatz qualifizieren zu lassen. Die Aufgabe der Sprachmentorinnen und Sprachmentoren am Arbeitsplatz ist es, als An‐ sprechperson für die neuen Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung zu stehen und ihnen unterstützende Maßnahmen zur Förderung der Sprache im Betrieb anzubieten. Da diese keine Zweitspracherwerbsexperten sind, gehören zu der 221 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="222"?> Ausbildung zur Sprachmentorin oder zum Sprachmentor grundlegende Sprach‐ diagnostik sowie Methoden für die Sprachförderung. Diese werden im fol‐ genden Abschnitt näher aufgeführt und beschrieben. 4 Sprachenlernen am Arbeitsplatz durch Sprachmentoring: „Language training on the Job“ Aufgabe der AWW der PH Weingarten war es im Teilprojekt Language Training on the Job (La TJ o), ein Sprachmentoring-Training zu entwickeln, erproben und zu evaluieren. Der Begriff Sprachmentoring ist eine adaptierte Ableitung des Begriffs Mentoring. Mentoring beschreibt eine Patenschaft, die zustande kommt, wenn sich erfahrene Führungs- oder Arbeitskräfte neuen Mitarbei‐ tenden im Sinne der Förderung annehmen (vgl. Ziegler 2009: 15 f.). Anders als eine oder ein Coach, die oder der prozessberatend als Außenperson auftritt, sind Mentorinnen und Mentoren als Angehörige der Organisation in der Mentoringsituation nicht unabhängig, sondern in ihrem Wirken stets an die Organisation gebunden. Das Patenschaftsverhältnis zwischen Mentorin oder Mentor und Zielperson, nachfolgend als Mentee bezeichnet, ist auf langfristige Beständigkeit ausgerichtet und sieht kein festes Ende vor. Die Beziehungsauf‐ nahme und -gestaltung stellen sich vor diesem Hintergrund als wichtige Fak‐ toren des Mentorings dar (z. B. Rauen 2014; Schachtmeyer 2017: 60 f.). Das Sprachmentoring am Arbeitsplatz macht sich das Konzept des Mento‐ rings, mit dem Fokus des Faktors Sprache, zu Eigen und entwickelt es mit dem Ziel der Sprachförderung als Teil der Integration in die Organisation weiter. Ziel ist es, die ausgebildeten Sprachmentorinnen und Sprachmentoren in die Lage zu versetzen, den Arbeitsplatz als Lernumgebung zu gestalten und Sprachför‐ derprozesse für den / die Mentee gezielt zu planen, umzusetzen und zu reflek‐ tieren. Sie nehmen die sprachliche und kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz wert‐ schätzend wahr und können auch interkulturellen Herausforderungen kompetent begegnen. Beispielsweise gelingt es ihnen sensibel Feedback zu geben. Das Sprachmentoring findet zielgerichtet und theoriegeleitet statt. Es leiten sich drei zu fördernde Kompetenzbereiche ab: Sprachkompetenz (bei der oder dem Mentee), Handlungskompetenz (bei der oder dem Mentee) und Soziale Kompetenz (da diese interaktiv ist, gehen wir davon aus, dass sie sich sowohl bei der oder dem Mentee als auch bei der Sprachmentorin oder dem Sprach‐ mentor verändert). 222 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="223"?> 4.1 Didaktische Überlegungen zum Sprachmentoring am Arbeitsplatz Sprachmentorinnen und Sprachmentoren sind per se keine ausgebildeten Sprachlehrkräfte. Sie nehmen durch erworbene Kompetenzen in ihrer fachli‐ chen Ausbildung und im Ausüben des Berufs eine Doppelfunktion im Betrieb ein. Zum einen können sie als Mentorin oder Mentor direkt mit einem oder mehreren Mentees arbeiten, zum anderen als interne Ansprechperson auftreten, die in der Lage ist bei Fragen oder Problemen in der Integration von Mitarbei‐ tenden mit Flucht- oder Migrationshintergrund reflektiert und fundiert zu be‐ raten und gegebenenfalls übergreifende Förderkonzepte mitzuentwickeln. Der Doppelfunktion muss Rechnung getragen werden, dass keine Überfor‐ derung entsteht. Die Mentorin oder der Mentor muss in der Lage sein, seinen alltäglichen Pflichten nachzugehen, die Mentoringausbildung zu absolvieren sowie anschließend auch als Mentorin oder Mentor zur Verfügung zu stehen und diese Rolle einzunehmen. Damit diese Anforderungen umsetzbar sind, müssen die Mentoringtätigkeiten und daran geknüpfte didaktische Überle‐ gungen an den Berufsalltag effizient und optimal angepasst werden. Der Einstieg in das Thema der Sprachförderung muss niederschwellig ge‐ staltet werden, sodass auch Menschen, die sonst nicht mit sprachbezogenen Themen arbeiten, Anschluss finden und Selbstwirksamkeit erfahren. Das Sprachmentoring muss darüber hinaus an den sprachlichen Alltag angepasst werden. Hierfür ist eine Analyse der alltäglichen, beruflichen Kommunikation in der betreffenden Berufssparte förderlich. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, wurde das Sprachmentoring-Training auf der Grundlage der Ergebnisse einer Bedarfsanalyse konzipiert und weiterentwickelt. Für die Bedarfsanalyse wurden Führungspersonen in am Sprachmentoring interessierten Betrieben in‐ terviewt und die Resultate der leitfadengestützten Interviews qualitativ ausge‐ wertet. Darüber hinaus wurden beruflich qualifizierte Personen nach typischen Tätigkeiten und fachspezifischen Begriffen gefragt, um daraus konkrete Übungen entwickeln zu können. In der Gastronomie heißt das künstlerische Gestalten einer Serviette zur Tischdekoration beispielsweise „Serviette brechen“ und nicht, wie Branchenfremde annehmen würde „Serviette falten“. 4.2 Inhaltliche Bausteine des Trainings In zwei in Präsenz aufbauenden Modulen von je zwei Tagen werden die angeh‐ enden Sprachmentorinnen und Sprachmentoren in die Erhebung des Sprach‐ stands der Lernenden durch die Profilanalyse nach Grießhaber (Grießhaber 2012; 2013), in die Gestaltung von videogestützten Lernarrangements, in die Planung, Durchführung und Reflexion von Lernprozessen und in die Themen Interkulturalität und Kommunikation am Arbeitsplatz, Kollegiale Fallberatung 223 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="224"?> und Konfliktmanagement eingeführt (s. Abb. 2). Im Training werden wissen‐ schaftlich fundierte Inhalte auf praxisnahe Weise erarbeitet und diskutiert, immer mit dem Anspruch, die Erkenntnisse der Forschung für die individuelle Praxis der angehenden Mentorinnen und Mentoren gewinnbringend nutzbar zu machen. Eine zwischen Modul 1 und 2 gelegene Zwischenphase sichert den Transfer des erworbenen Wissens in die Praxis und unterstützt die Etablierung des Konzepts in den betrieblichen Alltag. Individualberatungen durch die Trai‐ nerinnen der AWW vor Ort oder online werden angeboten. Während der Trainingsphase wird ein Portfolio von den Teilnehmenden ge‐ führt. Dieses ermöglicht eine inhaltliche Vertiefung der aufgeführten Themen‐ bereiche. Es enthält entsprechende Transferaufgaben und Anregungen zum Weiterdenken und zur Selbstreflexion. Das Portfolio steht den angehenden Sprachmentorinnen und -mentoren unterstützend in allen Trainingsphasen und darüber hinaus zur Verfügung (Klepser et al. 2020). Es dient zudem auch als Grundlage für die Zertifikatsprüfung am Ende der Trainingsausbildung. Die entwickelten Materialien, Fragen und Erkenntnisse der Mentorinnen und Men‐ toren werden über eine Online-Kommunikationsplattform ausgetauscht, mit der Absicht, dass die angehenden Sprachmentorinnen und -mentoren von- und miteinander lernen, entstandene Lernmaterialien miteinander teilen und sich untereinander, “auch mit Blick auf die Zeit nach der Ausbildung”, vernetzen. Abb. 2: Zeitlicher Ablauf und inhaltliche Bausteine des Sprachmentoring-Trainings 224 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="225"?> 5 Methoden 5.1 Profilanalyse nach Grießhaber Die wichtigste Grundlage für die angehenden Sprachmentorinnen und -men‐ toren ist deren Fähigkeit, die Sprachkompetenz ihrer Mentees einschätzen zu lernen. Dafür wird am ersten Tag des Sprachmentoring-Trainings die Profil‐ analyse nach Grießhaber eingeführt (Grießhaber 2012; 2013). Diese Methode hat den Vorteil, dass sie relativ einfach zu erlernen und zeitsparend anzuwenden ist. Sie erlaubt eine dem Anlass angemessene, effiziente Sprachdiagnostik ohne vertiefte Kenntnisse im Zweitspracherwerb. In dieser Methode werden kurze Sprachproben (nicht mehr als 1-2 Minuten) des Mentees aufgenommen, trans‐ kribiert und dann anhand der Konjugation der finiten Verben und deren Stellung im Satzbau analysiert. Ungenauigkeiten oder Unsicherheiten in der Kategori‐ sierung in geringem Maße sind fehlertolerant, da in der Endauswertung die absoluten Häufungen der einzelnen vorkommenden Sprachniveaus ausgezählt werden. Das Sprachniveau ergibt sich aus dem am häufigsten vorkommenden Niveau. Geschieht in ein oder zwei Sätzen eine Über- oder Unterschätzung, so verschiebt sich dadurch das Gesamtbild nicht grundlegend. Selbst wenn dadurch in der Gesamtwertung eine objektiv zu hohe Stufe in der Auswertung erreicht wird, geschieht dies nur dann, weil bereits viele Sätze auf diesem Sprachniveau vorhanden sind. Eine Anpassung an das zu trainierende Sprachniveau ist da‐ rüber hinaus in der Trainingsphase jederzeit möglich, da auch die Profilanalyse mehrfach im Laufe des Mentoring-Trainings durchgeführt und mit den Trai‐ nerinnen in der Zwischenphase in der Individualberatung sowie im Plenum in der zweiten Trainingsphase besprochen wird. Ist nun das Sprachniveau des oder der Mentee bekannt, kann das nächsthöhere Sprachniveau trainiert werden. Hierfür erstellt die Mentorin oder der Mentor kurze Lernvideos, die an den be‐ ruflichen Alltag angepasst sind. 5.2 Videogestütztes Lernen Videogestütztes Lernen erlebt im Zuge der Digitalisierung im Bildungsbereich einen großen Aufschwung. Der Anteil an Forschung dazu hat sich insbesondere in den letzten zehn Jahren stark erhöht, vor allem im Bereich des Sprachenler‐ nens (siehe z. B. Giannakos 2013: E192; Gumawang 2018; Persike 2020). Zu den Vorzügen des videogestützten Lernens zählen die mögliche Asynchronität, d. h. eine Unabhängigkeit von Zeit und Ort, die flexible Gestaltung des eigenen Lern‐ tempos sowie das Erreichen einer großen Lernendengruppe. Davon ausgehend hat sich das sogenannte mLearning entwickelt - das mobile Lernen, welches sich die meist sowieso vorhandenen mobilen digitalen Geräte der Lernenden, 225 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="226"?> 3 Mise en place bedeutet das korrekte Zurechtlegen an einen fest bestimmten Platz von benötigten Materialien und Utensilien, z. B. in der Küche oder im Servicebereich im Restaurant. wie Smartphone oder Tablet, zunutze macht (z. B. Mitschian 2010; Romrell et al. 2014). Dies hat den zusätzlichen Vorteil der Situiertheit dadurch, dass die Geräte tragbar sind, sowie der Konnektivität durch eine Anbindung an das mobile Netzwerk (ebd.). Im Sprachmentoring-Training sowie im eigentlichen Mentoringprozess findet ein mobiles digitales Endgerät wie ein Smartphone vielfache Anwendung. Die Sprachproben der Mentees können mit dem Smartphone durch die Diktier‐ funktion oder durch das Senden einer Sprachnachricht über eine Mes‐ senger-App aufgenommen werden. Die Mentorin oder der Mentor entwerfen anhand des diagnostizierten Sprachniveaus ein kurzes Drehbuch mit einem für den oder die Mentee relevanten Handlungsszenario. Zum Beispiel wird das Bre‐ chen einer Serviette oder das Arrangement einer Mise en Place 3 in der Küche erläutert. Alle relevanten Wörter werden hierfür besonders betont und deutlich ausgesprochen und möglichst mehrfach wiederholt. Die grammatikalische Komplexität der gesprochenen Sätze wird nach dem diagnostizierten Sprachni‐ veau angepasst. Diese sprachliche Anpassung wird im Training intensiv geübt. Während die Mentorin oder der Mentor die Handlung ausführt, begleitet sie oder er die einzelnen Handlungsschritte sprachlich. Die oder der Mentee kann sich nun das Video ansehen, wann, wo und so oft sie oder er das möchte. Im nächsten Schritt dreht die oder der Mentee ein ähnliches Video, in dem die zu erlernende Handlung ausgeführt und sprachlich begleitet wird. Sprache und Handlungen sind nach den Theorien der Embodied Cognition neuronal eng miteinander verknüpft und teilen sich teilweise Aktivität in gleichen Hirn‐ arealen (z. B. Barsalou 2008; Willems et al. 2011). Einige Studien weisen darauf hin, dass die Erinnerung für neu erlernte Wörter langanhaltender ist, wenn sie mit Bewegung oder Gesten begleitet werden (z. B. Macedonia 2013; Macedonia et al. 2014). Mit der sprachlichen Begleitung einer alltagsnahen beruflich rele‐ vanten Handlung soll diesen Theorien folgend das Erlernen der neuen Sprache unterstützt werden. Diese Schritte finden zunächst in der Zwischenphase des Sprachmentoring-Trainings statt und werden nach Bedarf von den Trainerinnen der AWW begleitet und betreut. Im Anschluss an das Sprachmentoring-Trai‐ ning sollen diese Schritte eigenständig fortgeführt und ggf. weiterentwickelt werden. 226 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="227"?> 6 Evaluation des Teilprojekts LaTJo Das Sprachmentoring-Training wurde formativ evaluiert. Für die Evaluation wurden die Sprachmentorinnen und Sprachmentoren in einem halbstruktu‐ rierten Interview zu den Themenbereichen Sprachkompetenz, Handlungskom‐ petenz sowie Sozialkompetenz befragt. Die Interviews fanden nach Abschluss des Sprachmentoring-Trainings statt. Sie dauerten ca. 30 Minuten und wurden überwiegend persönlich, aber vereinzelt auch am Telefon geführt. Die Ge‐ spräche wurden aufgezeichnet und transkribiert. 6.1 Interviewteilnehmer In drei Kohorten wurden im Zeitraum von Januar 2019 bis Dezember 2019 In‐ terviews mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Sprachmentoring-Trai‐ nings geführt. Aus der ersten Kohorte konnten sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer, aus der zweiten Kohorte vier und aus der dritten Kohorte fünf für ein Interview gewonnen werden. Alle 16 Befragten hatten eine feste Position in der Hotellerie / Gastronomie inne. Tätigkeitsfelder und Ränge waren unter‐ schiedlich - es waren Geschäftsführende oder Personen mit Leitungsfunktion ebenso wie Angestellte unter ihnen. Nicht alle hatten eine oder einen Mentee in der Zeit des Sprachmentoring-Trainings. Jedoch waren alle erfahren in der Einarbeitung von Menschen mit Migrationshintergrund. Zur Wahrung der Ano‐ nymität wurden den Interviewpartnerinnen und -partnern alphanumerische Codes zugeteilt. 6.2 Interviewleitfaden Die Interviews der ersten Kohorte waren noch weitestgehend unstrukturierte Statements und Reflektionen über das Sprachmentoring, da sich das Evaluati‐ onskonzept ebenso wie das Trainingskonzept im Laufe der Projektlaufzeit ent‐ wickelten. Nach Sichtung dieser sieben Aussagen, entstand ein strukturierter Interviewleitfaden, welcher in der zweiten und dritten Kohorte zur Anwendung kam. Der Interviewleitfaden richtete sich nach den drei Kompetenzzielen, die durch das Training angesprochen werden sollten: die Sprachkompetenz, die Handlungskompetenz und die Soziale Kompetenz. Unter der Kategorie Sprach‐ kompetenz wurde gefragt, ob und was sich durch die Sprachförderung verändert hat, was besonders hilfreich beim Vermitteln der Sprachkompetenz war und wie sich der Alltag nach Abschluss des Trainings gestaltet bzw. gestalten wird. Das Drehen der Lernvideos sowie die Auswahl der Arbeitsaufträge in den Lernvi‐ deos standen im Fokus der Kategorie Handlungskompetenz. Auch hier wurde 227 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="228"?> danach gefragt, welche Methoden besonders hilfreich waren und wie die Um‐ setzung der erlernten Strategien im Alltag aussah. Die Kategorie der Sozialen Kompetenz enthielt Fragen zum persönlichen Kontakt zwischen Mentorin oder Mentor und Mentee. Auch Fragen zur persönlichen Motivation, Sprachmentorin oder Sprachmentor zu werden, wurden dieser Kategorie zugeordnet. Die Trans‐ kripte wurden nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Ergebnisse der zentralen Methoden im Sprachmentoring - der Sprachförderung der Sprach‐ kompetenz, inklusive der Sprachdiagnostik sowie dem videogestützten Lernen, da ein umfassender Evaluationsbericht aller erfassten Kategorien den Rahmen sprengen würde. 7 Ergebnisse der Methoden zur Förderung der Sprachkompetenz Ein wichtiger Schritt im Prozess des Sprachmentoring-Trainings war für viele Beteiligten die Bewusstmachung und Bewusstwerdung der eigenen Sprache und der eigenen Sprechart. Auch die Auswahl der verwendeten Wörter wurde nach dem Training nach eigenen Aussagen stärker reflektiert. Was ganz toll war, eben ist diese Bewusstmachung, wie wichtig es ist mit der Sprache, wenn man ein bisschen langsamer redet, deutlicher spricht, dass man viel mehr Mimik einsetzen kann und das viel, viel besser rüber bringen kann, wie schnell, schnell und dreiviermal erklären, das ist ja immer der Punkt. (AE 107, Pos. 13) Selbst im schnellen Alltag, der von Zeitdruck geprägt ist, kann das Bewusstsein für die Lerninhalte bestehen bleiben, wie AE 202 zum Ausdruck bringt: „In der Hektik kannst du es nicht ausführen, aber im gleichen Moment denkst du, das war jetzt falsch.“ ( AE 202, Pos. 49). Häufige Angaben waren, dass Sätze öfter wiederholt werden, langsamer und deutlicher gesprochen werde und dass auch nachgefragt werde, ob der oder die Mentee verstanden hat, was man gerade gesagt hatte. Der eigene Dialekt spielte für einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Rolle. So sagte AE 201: mir war es schon immer klar, dass wenn ich jetzt mit jemand mit meinem schwäbi‐ schen Dialekt volllaber, auf gut Deutsch gesagt, dann komme ich da nicht weit gell? … und hab halt jetzt nochmal mehr Wert darauf gelegt. (AE201, Pos. 25) An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass es nicht Ziel des Sprachmento‐ ring-Trainings war einen ggf. vorhandenen Dialekt abzutrainieren. Ziel war es, die Mentees in ihrem Spracherwerbsprozess so zu fördern, dass sie die in dem 228 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="229"?> jeweiligen Betrieb gesprochene Fach- und Alltagssprache verstehen und rezi‐ pieren können. Dazu kann auch gehören, den gesprochenen Dialekt zu ver‐ stehen. Der Einsatz der Profilanalyse wurde von fast allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern als sehr hilfreich reflektiert. Zwar wiesen zwei der Interviewten darauf hin, dass es viel Theorie gewesen sei, zeigten aber gleichzeitig Ver‐ ständnis und Interesse dafür. Die Kenntnis darüber bewirkte, dass verstärkt auf das Sprachniveau der Mentees geachtet werde. AE 302 gab an, den oder die Mentee beim Zuhören mittlerweile geistig nach der Profilanalyse einzustufen. Die Fähigkeit für einen Perspektivwechsel schien durch das Training ange‐ regt worden zu sein. Zwei der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sagten aus, ein vertieftes Verständnis dafür entwickelt zu haben, dass es eine Herausforderung sein kann, eine fremde Sprache zu verstehen, wenn schnell und undeutlich ge‐ sprochen wird. 7.1 Ergebnisse der Methode Videogestütztes Lernen Die Methode, mit kleinen Lernvideos zu arbeiten, wurde durchweg von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern positiv bewertet. Als Gründe wurden die oben genannten Vorzüge von Lernvideos (unabhängig von Zeit und Ort, Wie‐ derholbarkeit, Flexibilität) häufig genannt. Den meisten war diese Methode neu. Die konkrete Umsetzung wurde von fast allen als realisierbar rückgemeldet. Eine Person gab an „Gerade so ein Video zu drehen ist nicht immer möglich“ ( AE 101, Pos. 2). Sie begründete diese Aussage damit, dass es Situationen gebe, in denen keine Zeit dafür sei, allerdings könne man sich in anderen Situationen Zeit dafür nehmen und dann würde es auch schnell gehen. Ähnlich äußerte sich auch AE 104: „weil ich hab zwei Videos gedreht mit S. in der Zeit und ich habe es hinbekommen. Aber es war, auf dem Video ist es nicht zu erkennen, es war ein stressiger Tag jeweils immer. Aber man kriegt es hin mit Geduld und Zeit.“ ( AE 104, Pos. 17). Auf die Frage, welche Arbeitsaufträge sich besonders gut für die Lernvideos eigneten, antworteten viele, dass diese insbesondere bei den ersten Lernvideos nicht zu komplex gestaltet sein sollten und eher kleinere Arbeitsschritte aus einer großen Handlungssequenz ausgewählt werden sollten. Konkret wurden die Arbeitsaufträge Tisch eindecken, Besteck polieren, Tischdecke auflegen, ein Grundgedeck oder ein Kaffeetablett herrichten und Seifenspender wechseln als gut geeignet genannt. Als schwieriger in Videos umzusetzen wurden Hand‐ lungen genannt, die in Anwesenheit des Gastes geschehen, wie das richtige Servieren. Jedoch wandte AW 202, die diese Handlungen nannte, sogleich ein, dass sie diese „jetzt auch anhand von Video zeigen könnte (Pos. 91). 229 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="230"?> Vorbehalte gegenüber dieser Methode gab es keine. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichteten, sich am Anfang, beim Drehen des ersten Videos, nervös gefühlt zu haben. Diese Nervosität sei jedoch schnell verflogen und es habe auch Spaß gemacht. Eine Person sagte aus, dass sie es „sehr witzig“ ( AE 202, Pos. 82-83) mit ihrer oder ihrem Mentee gehabt hätte, eine andere sagte „es hat super Spaß gemacht mit ihr“ ( AE 201, Pos. 85). Zwei Mentorinnen und Mentoren gaben an, dass sie diese Methode in Zukunft fest etablieren wollten und vorhatten, eine große Bandbreite an Videos zu drehen und allen, die Un‐ terstützung brauchen, zur Verfügung zu stellen. 7.2 Ergebnisse der Herausforderungen Es wurden mehrere Herausforderungen auf der individuellen Mikroebene ge‐ nannt, denen es beim Anwenden sowohl der Lernvideos als auch des Sprach‐ mentorings allgemein zu begegnen gilt. AE 201 wies auf Eigenschaften der Men‐ tees hin und zweifelte daran, dass ältere Mentees, die schon lange in Deutschland lebten, noch viel dazulernen würden. Stresssituationen wurden am häufigsten als schwierige Situationen im Arbeitsalltag genannt, zusammen mit wenig Zeit. Hier sahen sich viele der Sprachmentorinnen und Sprachmentoren überfordert, den Spracherwerbsprozess der Mentees angemessen zu begleiten. Insbesondere Situationen, in denen Gäste der Einrichtungen anwesend seien, wurden als schwierige Situationen für das Sprachmentoring angesehen. Als Grund wurde die Ungeduld der Gäste genannt ( AE 202, Pos. 95). Auch AE 101 nennt die Ge‐ wöhnung an den Gästekontakt als einen sehr bedeutsamen Punkt im Sprach‐ mentoring-Training. Darüber hinaus sei die eigene Zurückhaltung zu üben und sich der Notwendigkeit dieser bewusst zu werden. Häufig sei man dazu verführt, anstehende Arbeiten selbst auszuführen, weil es schneller gehen würde. Hier würden jedoch wichtige Lerngelegenheiten verpasst, was sich dann nachteilig auf den Lernprozess der Mentees auswirken würde. 8 Diskussion und Ausblick Das Sprachmentoring-Training ist so konzipiert, dass die teilnehmenden Fach‐ kräfte praxisnah und im Arbeitsalltag ein umsetzbares didaktisches Modell und Methoden an die Hand bekommen, um Kolleginnen und Kollegen mit Migrati‐ onshintergrund und geringen Deutschkenntnissen hinsichtlich ihrer berufli‐ chen Sprach- und Handlungskompetenz fördern zu können. Dabei wird auf die knappen zeitlichen Ressourcen Rücksicht genommen, welche sich sowohl in den Interviews im Rahmen der Bedarfsanalyse als auch in der Abschlussevaluation als zentrale Herausforderung herauskristallisierten, jedoch nicht auf ein solides 230 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="231"?> wissenschaftlich-theoretisches Fundament wie die Profilanalyse, fachdidakti‐ sches Grundwissen oder interkulturelle Kommunikation verzichtet. Das Allein‐ stellungsmerkmal des dargestellten Konzepts liegt darin, dass in erster Linie bei den unterstützungswilligen Kolleginnen und Kollegen angesetzt wird und nicht nur bei den Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund. Nachhaltig gelungene Integration kann nicht von außen „gemacht“ werden - sie muss aus dem Inneren des Betriebs oder der Organisation heraus geschehen und erfordert ein Mitei‐ nander und gemeinsames Arbeiten. Hierfür ist das gesamte Kollegium ein un‐ erlässlicher Faktor. Die Ausbildung als Sprachmentorin oder Sprachmentor am Arbeitsplatz leistet einen Beitrag, dass gemeinsam erarbeitete Integration ge‐ lingen kann. Die Evaluation zeigt, dass die Teilnehmenden ein vertieftes Be‐ wusstsein für die Herausforderungen und Bedingungen im Sprachförderprozess erhielten. Dies ermöglicht ihnen ein daran angepasstes Agieren. Darüber hinaus wurden ihnen im Arbeitsalltag umsetzbare Methoden an die Hand gegeben, welche über das Sprachmentoring-Training hinaus umgesetzt und fortgeführt werden sollen. Unternehmen, die sich dafür entscheiden, Mitarbeitende zu Sprachmento‐ rinnen und Sprachmentoren am Arbeitsplatz ausbilden zu lassen, zeigen nicht nur soziales Engagement und Interesse an der sozialen und beruflichen Integ‐ ration von Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund, sondern vor allem, dass sie für eine Unternehmenskultur stehen, in der alle Mitarbeitenden angespro‐ chen, wertgeschätzt und in ihrem Potenzial gefördert werden und auch, dass er Betrieb als Sprachlernort wahrgenommen und anerkannt wird. Mit diesem be‐ rufsbegleitenden Konzept wird auch ein Beitrag für das Lebenslange Lernen geleistet, das globale Herausforderungen auf lokaler Ebene angeht. Die Heraus‐ forderungen sind vielfältig auf unterschiedlichen Ebenen, wobei vor allem die individuelle Mikroebene ins Projekt einbezogen wird, indem eine neue Qualität der Kompetenzentwicklung durch die nachhaltige Perspektive des Projektes (Integration der Weiterbildung in das Portfolio der AWW , Netzwerkbildung der Sprachmentorinnen und Sprachmentoren, eigenständige Weiterentwicklung von Personalentwicklungsmaßnahmen auf Basis der im Sprachmentoringtrai‐ ning erlernten Grundlagen) entsteht. Das von der AWW exemplarisch im Hotel- und Gastronomiegewerbe ent‐ wickelte, erprobte und evaluierte Weiterbildungskonzept kann branchenunab‐ hängig durchgeführt werden. Hierfür erfordert es zunächst eine Analyse der Kommunikationssituationen sowie der Arbeitsbedingungen in einer Bedarfs‐ analyse. Gerade in Betrieben, in denen viel Erfahrung in der Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund vorhanden ist, liegen bereits kreative und hilfreiche Konzepte vor, die es in das Training mit einzubinden gilt. 231 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="232"?> 8.1 Grenzen und Limitationen Es muss angemerkt werden, dass das hier vorgestellte Sprachmentoring nicht uneingeschränkt einsetzbar ist. Grenzen liegen zum Beispiel dort, wo das Drehen von Videos in Betrieben oder bestimmten Arbeitsbereichen untersagt ist. Auch sind Arbeitsumgebungen, die einen lauten Lärmpegel aufweisen, nicht geeignet um Lernvideos zur Sprachförderung zu drehen. Auch könnte es Vor‐ behalte sowohl seitens der Mentorinnen und Mentoren als auch der Mentees geben, wenn diese sich nicht aufnehmen lassen wollen. Bezüglich der Methode der Sprachdiagnostik ist speziell das Sprachprofil nach Grießhaber nur im Deutschen anzuwenden. Für andere Sprachen müssen andere Sprachprofilanalysen herangezogen werden, welche jedoch vorliegen. So baut Grießhaber beispielsweise auf der Processability theory von Pienemann (1998) auf. Auf dieser Grundlage wiederum wurden Profilanalysen zum Beispiel für Schwedisch als Zweitsprache erstellt (z. B. Håkansson 2003). Für einen Transfer in eine andere Zweitsprache ist ein Austausch mit Experten für die entsprechende Landessprache daher unabdingbar. Darüber hinaus muss ange‐ merkt werden, dass die Profilanalyse nur einen kleinen Aspekt des Niveaus der Zweitsprache abdecken kann. Sie fokussiert sich auf die syntaktische Produk‐ tionskompetenz und vernachlässigt Indikatoren wie Lexik oder Sprachver‐ stehen. Auch kann damit keine umfassende Analyse beruflichen und fach‐ sprachlichen Kommunizierens durchgeführt werden. Diese Art von Analyse sollte jedoch sowieso nur von Expertinnen oder Experten des Zweitspracher‐ werbs vollzogen werden. Hier wird ein Vorteil der stärkeren Verflechtung von Sprachcoaching und Sprachmentoring erkenntlich, welcher im folgenden Ab‐ schnitt vertieft diskutiert wird. Obwohl die Abschlussevaluation wichtige Erkenntnisse liefert, ist sie letztlich eine Momentaufnahme. Sie zeigt, welche Lernprozesse direkt nach Abschluss des Trainings bei den Teilnehmenden angestoßen wurden. Es fehlt jedoch so‐ wohl eine langfristige Perspektive als auch die Seite der Mentees, um eine fun‐ dierte und differenzierte Aussage über die Wirkung des Trainings auf Sprach‐ lernprozesse, Integrationsprozesse und Organisationsprozesse treffen zu können. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. 8.2 Weiterentwicklung der Konzepte: Sprachcoaching am Arbeitsplatz durch Sprachlehrkräfte und Mentoring am Arbeitsplatz durch Mitarbeitende des Betriebs Die im FIER -Projekt entwickelten Konzepte zur Verbesserung der arbeitsplatz‐ bezogenen Sprachkompetenz von Beschäftigten mit Migrationshintergrund sind in verschiedenen Kontexten und Branchen durch die baden-württember‐ 232 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="233"?> gischen FIER -Projektpartner diskutiert und weiterentwickelt worden, sowohl parallel zum laufenden FIER -Projekt als auch nach Abschluss des Projekts. Die Projektpartner sind sich darin einig, dass für eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt ein integratives Konzept mit den Bausteinen Sprachkurs, Sprach‐ mentoring und Sprachcoaching von Vorteil ist. Ziel ist dabei zunehmend, die persönliche, sprachliche und kommunikative Handlungsfähigkeit von zuge‐ wanderten Beschäftigten durch individualisiertes Lernen zu unterstützen, die Arbeitsabläufe zu optimieren, das interkulturelle Miteinander zu verbessern und die Arbeitszufriedenheit aller Mitarbeitenden in einem Unternehmen oder einer Einrichtung zu steigern. Das Bild vom Lehren als didaktisch aufbereitete Weitergabe von Wissen wird heute immer mehr in Frage gestellt. Innovative Konzepte wie Lehren als Prozess der authentischen Begleitung und Förderung (Hofer 2019) machen Alternativ‐ vorschläge zum traditionellen Unterrichten. Einen Mehrwert für eine schnelle Integration sehen wir in der Vernetzung von berufsbezogenen Sprachkursen mit individualisierten Lernarrangements aus dem Berufsalltag. Dabei nimmt die Sprachlehrkraft eine Doppelfunktion ein (s. Abb. 3). Zum einen können / sollen in einem rekursiven Prozess Lernszenarien aus dem unmittelbaren beruflichen Umfeld in das Sprachenlernen im Kursraum für die Mentees integriert werden und diese wiederum in den Betrieb übertragen dort vor Ort vertiefend mit den Mentorinnen und Mentoren geübt werden. Hierfür steht die Sprachlehrkraft in engem Kontakt zu den jeweiligen Sprachmentorinnen und -mentoren im Be‐ trieb. Zum anderen können Sprachlehrkräfte in der Rolle als Sprach-Coaches mit ihrem Expertenwissen eine beratende Funktion im Sprachenlernen am Ar‐ beitsplatz einnehmen, wodurch eine enge Verknüpfung individueller Lernpro‐ zesse in spezifischen Lernsettings am Arbeitsplatz und im Kursraum entsteht. Vorteil dieses Modells ist, dass der oder die Lernende und die entsprechenden persönlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. 233 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="234"?> Abb. 3: Integratives Konzept des Sprachenlernens mit den Bausteinen Sprachkurs, Sprachmetoring und Sprachcoaching Den Sprachlehrkräften kommen dabei folgende Aufgaben und Verantwor‐ tungen zu: • die Erfassung und Analyse der sprachlichen und persönlichen Ressourcen der Mentees, • die Analyse der speziellen Kommunikationsanforderungen des individu‐ ellen Arbeitsplatzes, • die Aufbereitung der mündlichen und schriftlichen Kommunikations‐ prozesse des Arbeitsplatzes und des Betriebs in Sprach-Szenarien und Sprachlern-Übungen, • das Training von Kommunikationsprozessen, Fachsprache und Fachbe‐ griffen unter Einbindung von personalisierten Portfolios und On‐ line-Lernumgebungen, die sowohl über PC s als auch über mobile End‐ geräte nutzbar sind (z. B. Vokabelübungen in Apps wie Quizlet einbeziehen), • die individuelle Unterstützung der Mentees mit dem Ziel, die Motivation und die Fähigkeit zum eigenverantwortlichen und selbstgesteuerten Sprachenlernen zu verbessern, • die Identifikation persönlicher Erfolgsfaktoren beim Sprachenlernen und die Entwicklung und Erprobung von Sprachlern-Formaten, die auf den Lerntyp der einzelnen Teilnehmenden zugeschnitten sind. 234 Sarah Lukas, Roswitha Klepser, Andrea Bernert-Bürkle & Monica Bravo Granström <?page no="235"?> Darüber hinaus zielen weiterführende Projekte auf die Schaffung struktureller, betrieblicher Voraussetzungen ab, um am Arbeitsplatz auch nach der initialen Sprachförderphase eine sprachliche Weiterentwicklung der Beschäftigten zu ermöglichen. Dies kann zum Beispiel durch eine sprachförderliche Arbeitsum‐ gebung erreicht werden. Es werden beispielsweise Piktogramme mit einfachen Wörtern und Sätzen versehen, Post-it-Marker mit den verschiedenen Fachbe‐ griffen an Geräte oder Orte angebracht und konkret Zeiten eingeplant, in denen die Sprachmentoren mit ihren Mentees sprechen, z. B. in der Kaffee- oder Mit‐ tagspause. Aber auch die Weiterbildung von Mitarbeitenden aus allen Bereichen eines Betriebs, die befähigt werden, die nachhaltige Festigung und Progression der Sprachkompetenz von zugewanderten Kolleginnen und Kollegen zu unter‐ stützen tragen zu strukturellen sprachfördernden Bedingungen im Betrieb bei. Die Qualifizierung zu Sprachmentorinnen und -mentoren am Arbeitsplatz spielt dabei eine Schlüsselrolle, denn sie werden geschult, um • selbst sprachsensibel zu werden, • allgemeine Arbeits- und Kommunikationsprozesse im Betrieb zu analy‐ sieren, • die Gestaltung des Arbeitsplatzes hin zu einer anregenden Sprachlernumgebung vorzunehmen, • Sprachlernprozesse am Arbeitsplatz anzuregen und zu begleiten, • ein über den Sprachlernprozess hinausgehendes Coaching der Mentees zu begleiten, um berufliche Zielvorstellungen und Visionen zu erarbeiten, in welche Stärken und Interessen der Mentees mit eingehen und ein in‐ dividueller Weiterbildungsplan erstellt werden kann. Durch die Etablierung von individualisiertem Sprach-Coaching und dauer‐ haftem Sprach-Mentoring können neben dem Angebot der Deutsch-Sprachför‐ derung in Integrationskursen, berufsbezogenen Deutschkursen und anderen Unterrichtsangeboten zusätzliche Sprachförderinstrumente geschaffen werden, die Personengruppen erreichen, die alternativen Unterstützungsbedarf haben, um die sprachlichen Anforderungen für eine nachhaltige Integration am Ar‐ beitsplatz zu meistern. Entsprechende zusätzliche Sprachförderstrukturen können sicherstellen, dass eine dauerhafte Integration und Weiterentwicklung in einem Beruf gelingen. Das Projekt FIER wurde von der Europäischen Union, EU Programme for Em‐ ployment and Social Innovation (Ea SI ), VS -2017-0437 17 gefördert. 235 Lebenslanges Lernen im Betrieb <?page no="236"?> Literatur Alheit, Peter / Dausien, Bettina (2018). Bildungsprozesse über die Lebensspanne und Le‐ benslanges Lernen. In: Tippelt, Rudolf / Schmidt-Hertha, Bernhard (Hrsg.). 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In particular, it will be argued that language is best understood as social prac‐ tice, embedded in social contexts, in which meaning is constructed. Conse‐ quently, work-related L2 skills are most effectively and sustainably developed and fostered where they are required and practiced: at the workplace. In con‐ junction with formal learning in the classroom, further learning arrange‐ ments at work, such as L2 coaching and mentoring, have proved successful in Germany and other European counties. But what conditions are necessary to transform the workplace into a L2 learning space? The chapter draws on research and practices collected across Europe by Language for Work (Lf W), an international network of professionals engaged in the field of work-related L2, supported by the European Centre for Modern Languages, an agency of the Council of Europe. Keywords: vocational and workplace-related German as Second Language, workplace learning, migration, language as social practice, language coach‐ ing, language mentoring <?page no="240"?> 1 Das zugehörige Interview wurde von M. Grünhage-Monetti (Autorin des Artikels) im Rahmen des Projekts Sprachlich-kommunikative Anforderungen in der beruflichen Ausbildung des Bundesinstituts für Berufsbildung, BIBB, 2013-2017 durchgeführt. 1 Einleitung Auch wenn es das Ziel eines jeden Arbeitsplatzes ist, Güter, Dienstleistungen bzw. Wissen zu produzieren, beschäftigen sich Forschung und Praxis zuneh‐ mend mit dem Arbeitsplatz als Lernort. Lernen findet nicht nur als Vorbereitung für die Arbeit statt, sondern bei der Arbeit und durch die Arbeit. Am Arbeitsplatz selbst nimmt das Lernen unterschiedliche Formen an: Es findet als formale Schulung z. B. für Sicherheit und / oder Hygiene, als ad hoc-Unterweisung an neuen Maschinen, mit neuen digitalen Systemen statt. Probleme zu lösen gehört zum beruflichen Alltag und bietet meistens Möglichkeiten für non-formales und informelles Lernen, wie der Geschäftsführer einer Autowerkstatt bezüglich seines mehrsprachigen türkischen Mitarbeiters berichtet: „Wenn komplizierte Reparaturen anstehen, sucht Herr […] im Internet in den entsprechenden tür‐ kischen Foren nach Lösungen und Tipps für sich und seinen deutschen Kol‐ legen.“ 1 Seit den Arbeiten von Lave and Wenger in den 90er Jahren hat sich das In‐ teresse der internationalen und deutschen Forschung (z. B. Dehnbostel 2008; Felstead et al. 2011; Filliettaz / Billet 2015) zunehmend auf Themen um den Ar‐ beitsplatz als Lernort und das Lernpotenzial der Arbeit gerichtet. Dem zugrunde liegt ein tieferes Verständnis und eine breitere Anwendung sozialer Lerntheo‐ rien, insbesondere der Tätigkeitstheorie von Engeström (Engeström 2001). Da‐ nach wird Lernen als Prozess der Partizipation und Transformation verstanden. Wohl mit Unterschieden von Branche zu Branche, von Position zu Position und sogar von Betrieb zu Betrieb in derselben Branche, bietet die Arbeit den Beschäftigten Lernmöglichkeiten durch die sozialen Beziehungen und die In‐ teraktion mit Ideen und Ressourcen sowie mit Artefakten und Maschinen. Diese Auffassung von Lernen unterscheidet sich grundlegend von dem so genannten Erwerbsmodell, das der formalen Bildung und Weiterbildung zugrunde liegt und politische Entscheidungen prägt. Demnach ist das Lernen auf den Erwerb von Qualifikationen bzw. Teilnahmebestätigungen mit sichtbaren und vorherbestimmten Ergebnissen ausgerichtet. „Deutsch habe ich im Betrieb gelernt. Mein Kollege hat mir alles gezeigt“, so der Titel einer Broschüre des Landesnetzwerkes des Förderprogramms Integration durch Qualifizierung Niedersachsen (Berg / Leinecke 2014). Wenn auch subjektiv, diese Aussage eines polnischen Arbeiters bringt die zentrale Rolle der 240 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="241"?> 2 Das Projekt „Deutsch am Arbeitsplatz - Untersuchung zur Kommunikation im Betrieb als Grundlage einer organisationsbezogenen Zweitsprachförderung“ (2007-2009) wurde von der VolkswagenStiftung finanziert im Rahmen der Förderinitiative „Zu‐ kunftsfragen der Gesellschaft“. Die Studiengruppe bestand aus Expertinnen und Ex‐ perten aus Forschung und Praxis aus dem Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE), dem Konsortium Erfahrungsaustauschgruppe (ERFA) Wirtschaft Sprache, der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Institut für Gesprächsforschung, Mannheim, dem Verband Wiener Volksbildung und der VHS Arbeit und Beruf GmbH, Braun‐ schweig. 3 Das Netzwerk Language for Work ist aus zwei Projekten des European Center von Modern Languages (Europarat) entstanden und wird vom ECML weiter unterstützt (https: / / languageforwork.ecml.at). Arbeit als Vehikel für das Lernen - in diesem Fall der Zweitsprache Deutsch - und des Arbeitsplatzes als Sprachlernort auf den Punkt. Dieser Artikel argumentiert für die Notwendigkeit, das Lernen der Zweit‐ sprache bei der Arbeit und durch die Arbeit zu fördern, insbesondere für die wenig qualifizierten migrantischen Beschäftigten. Er beschreibt die notwen‐ digen Rahmenbedingungen in Betrieb und Bildung. Er greift auf Erkenntnisse und Erfahrungen des Forschungsprojekts Deutsch am Arbeitsplatz 2 und des vom Europarat unterstützten internationalen Netzwerkes Language for Work 3 zu‐ rück. 2 Zweitsprachlernen für die Arbeit, bei der Arbeit, durch die Arbeit Wie relevant die Kommunikation und die Sprache als Hauptbestandteil der Kommunikation in und für die heutige Arbeitswelt ist, zeigen folgende Ent‐ wicklungen: Zum einen ist Sprache - als Hauptkomponente der Kommunika‐ tion - Bestandteil moderner Arbeit fast überall in Europa geworden. Zum an‐ deren erleben die meisten europäischen Länder eine starke internationale Immigration. Das Zusammenspiel von Strukturwandel und Migration in vielen alternden europäischen Gesellschaften macht die Zweitsprachförderung zu einem zentralen Instrument für die ökonomische, linguistische und soziale In‐ tegration erwachsener Migrantinnen und Migranten und zu einem unersetzli‐ chen Beitrag zu Inklusion und zum sozialen Frieden. 2.1 Kommunikation und Sprache im Wandel der Arbeit und Technologie Arbeit - im Sinne von produktiver Tätigkeit - und Kommunikation sind zwei fundamentale und miteinander verknüpfte Aspekte menschlicher Erfahrung, sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Als we‐ sentlich kollaborative Tätigkeit ist Arbeit ohne Kommunikation zwischen Men‐ 241 Learning to work or working to learn <?page no="242"?> schen bzw. zwischen Menschen, Maschinen und Artefakten kaum möglich. Sie stellt sowohl den Kontext als auch das Objekt der Kommunikation dar. Arbeit und Kommunikation sind wiederum stark von der Anwendung von Technologien geprägt. Im Laufe der verschiedenen industriellen Epochen, wie Arbeitshistoriker betonen, haben technologische Innovationen nicht nur Ar‐ beitsinhalte und ihre Organisation, sondern auch die Kommunikation am Ar‐ beitsplatz verändert (Boutet 2001: 2). Manche technologischen Veränderungen waren so radikal, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von drei oder vier industriellen Revolutionen sprechen, je nach Kategorisierungsgrundlage. Wegen der zentralen Bedeutung der Arbeit für die Menschen haben diese Veränderungen weit über die unmittelbare Produktion von Gütern, Dienstleis‐ tungen oder Wissen die ganze Gesellschaft, einschließlich Bildung, Formen des Zusammenlebens, Daseinsvorsorge etc., geprägt (Baethge / Baethge-Kinsky 2004: 13). Die lange Phase der ersten industriellen Revolution (Industrie 1.0), die das 18. und 19. Jahrhundert umfasst, war von Mechanisierung und Dampfkraft cha‐ rakterisiert. Die Kommunikation am Arbeitsplatz war mündlich und be‐ schränkte sich auf die Mitteilung von Pflichten und Vorschriften (Boutet 2001: 20). Ab dem späten 19. Jahrhundert fand eine starke Beschleunigung der technologischen Entwicklung statt. Es entstanden neue wirtschaftliche und in‐ dustrielle Modelle und große Fabriken wie z. B. die Ford-Autowerke. Diese Epoche wird die zweite industrielle Revolution genannt (Industrie 2.0). Elektri‐ sche Energie, Arbeit am Fließband, Massenproduktion und vertikale Formen der Arbeitsorganisation transformierten Produktion und Dienstleistungen. Eine Di‐ chotomie trat in der Organisation der Arbeit ein und spiegelte sich in der Kom‐ munikation am Arbeitsplatz wider. Sprechen und Arbeiten wurden als antago‐ nistische Tätigkeiten gesehen. Sprechen vergeudet Zeit, lenkt ab, hindert die Konzentration auf die zu erledigende Arbeit. Sprechen war in den Werkstätten ausdrücklich verboten und sanktioniert, wenn es nicht unmittelbar mit der Durchführung einer Arbeitshandlung zu tun hatte. Weitere organisationsbezogene Faktoren kamen dazu wie Lärm, die Anreihung der Arbeitenden am Fließband und schließlich die Kommunikationsschwierigkeiten unter den migrantischen Beschäftigten aufgrund ihrer unterschiedlichen Sprachen. Nach F. W. Taylor ging dieses in der Organisation der Arbeit festgeschriebene Sprach‐ verbot Hand in Hand mit der Notwendigkeit, Arbeitsabläufe und Verfahren präzise und detailliert schriftlich zu beschreiben. Auf der Führungsebene, wo die Arbeit kon‐ zipiert und organisiert wurde, herrschte die schriftliche Kommunikation, in den Werkhallen dagegen, wo die Arbeit ausgeführt wurde, herrschte das Schweigen. (Boutet 2001: 20; eigene Übersetzung) 242 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="243"?> Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Elektronik und Informations‐ technologie die dritte industrielle Revolution (Industrie 3.0) herbeigeführt. Diese ist von globalisierten Wirtschaftssystemen, Automatisierung, Standardisierung und Dominanz der Dienstleistungsindustrien gekennzeichnet. Es fanden und finden weiterhin radikale Veränderungen in Arbeitsinhalten, -organisation und -kommunikation statt. Kommunikation und Sprache sind Bestandteil der Arbeit geworden. Sprachlich-kommunikative Kompetenzen in Wort und Schrift werden von allen Beschäftigten, in allen Branchen und Positionen als Teil der beruflichen Kompetenz erwartet. Schon 2004 hatte das französische Parlament per Gesetz mündliche und schriftliche Kenntnisse der französischen Sprache als berufliche Kompetenz erkannt (Assemblée Nationale 2004). Erst im Jahr 2016 trat in Deutschland die Verordnung über die berufsbezogene Deutschsprach‐ förderung (DeuFöV) in Kraft. Ausdrücklich wird die Rolle der deutschen Sprache zur Erhöhung der Chancen von Zugewanderten auf dem Arbeits- und Ausbil‐ dungsmarkt festgeschrieben (Bundesministerium für Justiz und für Verbrau‐ cherschutz 2016). Heute ist die vierte Revolution im Gange (Industrie 4.0), die mit exponen‐ tiellem Tempo fortschreitet. Hauptmerkmal dieser auch als „Smart Factory“ und als „Internet der Dinge und Dienste“ bezeichneten industriellen Entwicklungsstufe ist die Online-Vernetzung von Maschinen, Betriebsmitteln und Logistiksystemen über Cyber-Physische Systeme (CPS), […] im Prinzip weltweit […]. Menschen, Maschinen, Produktionsmittel, Dienst‐ leistungen und Produkte kommunizieren direkt miteinander. Letztlich vernetzen die CPS die virtuelle Computerwelt mit der physischen Welt der Dinge und bewirken dabei eine weitgehend autonome Steuerung und Optimierung von Produktions- und Arbeitssystemen durch eigenständigen Daten- und Informationsaustausch. (Dehn‐ bostel 2018: 1) Wenn wir über die eigene Kommunikation im Kontext unserer Arbeit reflek‐ tieren, kommen wir sprachlich-kommunikativen Veränderungen auf die Spur, wie neuen Ausdrucksformen (z. B. Memes) und der Zunahme von handlungs‐ begleitender und handlungsorganisierender Kommunikation bei Online-Unter‐ richt und Weiterbildung. Über ihre Kommunikation beim Sprachcoaching im virtuellen Raum sagte eine Kollegin: „Ich muss noch genauer fragen und meine Klienten müssen dezidierter antworten.“ Bezüglich des Lernens meint Dehnbostel, dass „sich das Lernen im Prozess der Arbeit mit der Digitalisierung der Arbeitswelt verstärkt und zu dem typi‐ schen Lern-, Prozess- und Reflexionscharakter betrieblicher Arbeit im Rahmen restrukturierter Organisationskonzepte führt“ (Dehnbostel 2018: 1). 243 Learning to work or working to learn <?page no="244"?> Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen ver‐ folgen mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklung der Digitalisierung, um die Zukunft der Arbeit vorherzusehen und die technischen und kommunikativen Kompetenzen zu identifizieren, die bei der Arbeit in der nahen Zukunft verlangt werden. Es wäre wünschenswert, dass auch Linguistik und Sprachdidaktik sich des Themas annehmen und genauer untersuchen, wie sich durch die Digitali‐ sierung die Kommunikation bei der Arbeit verändert. Berufs- und arbeitsplatz‐ bezogene Förderangebote für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) können somit für die Anforderungen moderner Arbeit passgenauer gestaltet werden. 2.2 Migration Das zweite Phänomen, das im Zusammenspiel mit dem Strukturwandel zu der Brisanz der Kommunikation und der Notwendigkeit der Förderung der sprach‐ lich-kommunikativen Kompetenzen für die Arbeit und bei der Arbeit beiträgt, ist die internationale Migration. Ihre Bedeutung wird durch folgende Zahlen und Fakten illustriert. Sie stammen aus dem Statistischen Amt der Europäischen Union, kurz Eurostat (Datenauszug Mai 2020). In der Union der 27 EU -Staaten lebten am 1. Januar 2019 21,8 Millionen Menschen aus Ländern, die nicht der EU angehören, und 13,3 Millionen Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihrer Staatsangehörigkeit geboren wurden. In absoluten Zahlen lebten die meisten Nichtstaatsangehörigen in Deutsch‐ land (10,1 Millionen), Italien (5,3 Millionen), Frankreich (4,9 Millionen) und Spa‐ nien (4,8 Millionen). Auf diese vier Mitgliedstaaten entfiel somit ein Gesamtan‐ teil von 71 % aller in den Mitgliedstaaten lebenden Nichtstaatsangehörigen, wobei der Anteil dieser vier Mitgliedstaaten an der Gesamtbevölkerung der EU -27 bei 58 % lag. Relativ gesehen hatte Luxemburg den höchsten Ausländeranteil (47 % der Gesamtbevölkerung). Hohe Anteile an Nichtstaatsangehörigen (mehr als 10 %) verzeichneten auch Zypern, Malta, Österreich, Estland, Lettland, Irland, Belgien, Deutschland und Spanien. Weniger als 1 % der Bevölkerung machten Nichtstaatsangehörige hingegen in Polen (0,8 %) und Rumänien (0,6 %) aus. In Bezug auf die Altersstruktur, die für das Thema dieses Artikels besonders relevant ist, ist die Tatsache, dass die ausländische Bevölkerung jünger als die inländische ist, besonders relevant. Die Aufgliederung der ausländischen Bevöl‐ kerung nach Alter ergibt einen im Vergleich zur inländischen Bevölkerung hö‐ heren Anteil relativ junger Erwachsener im erwerbsfähigen Alter. Am 1. Januar 2019 lag das Durchschnittsalter der inländischen Bevölkerung der EU -27 bei 45 Jahren, während das Durchschnittsalter der in der EU -27 lebenden Nichtstaatsangehörigen 36 Jahre betrug. 244 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="245"?> Bezüglich der Geschlechterverteilung zeigt sich, dass 2018 etwas mehr Männer als Frauen in die Mitgliedstaaten der EU -27 eingewandert sind (54 % gegenüber 46 %). Der Mitgliedstaat mit dem höchsten Anteil männlicher Ein‐ wanderer war Kroatien (75 %), den höchsten Anteil weiblicher Einwanderer verzeichnete hingegen Portugal (53 %). In vielen europäischen Ländern sind die jeweiligen Volkswirtschaften zu‐ nehmend von migrantischen Arbeitskräften abhängig. In manchen Zielländern wird erwartet, dass die Einwanderung spezifische Engpässe am Arbeitsmarkt beheben kann, wie die aktuelle Diskussion über mangelnde Pflegekräfte in Deutschland zeigt. Eurostat mahnt aber, dass die internationale Migration mit ziemlicher Sicherheit den in weiten Teilen der EU anhaltenden Trend der Be‐ völkerungsalterung nicht umkehren wird (Eurostat 2020). Obwohl viele europäische Staaten beträchtliche Summen in so genannte In‐ tegrationskurse für die sprachliche Integration von zugewanderten Erwach‐ senen investieren, sind die Resultate bescheiden (Benton 2013). Sterling bestätigt in seiner vergleichenden Studie in den damaligen EU -28 Staaten die erheblichen Diskrepanzen zwischen den Beschäftigungsergebnissen (employment out‐ comes) von Zugewanderten und Einheimischen. Mit Beschäftigungsergeb‐ nissen meint er sowohl die Beschäftigungsquote als auch die beschäftigungs‐ politischen Ergebnisse wie eine qualifikationsadäquate Beschäftigung. Zugewanderte sind überproportional von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen, überproportional in risikoreichen, wenig qualifizierten und schlecht bezahlten Jobs beschäftigt - mit der Ausnahme von Großbritannien (das zur Zeit der Un‐ tersuchung noch zur EU gehörte). Dies bedeutet einen signifikanten Verlust an Potenzial und Talenten und hat negative Auswirkungen nicht nur auf die Indi‐ viduen selbst, sondern auch auf die europäische Wirtschaft als Ganzes (Sterling 2015: 1). Die Gründe für diese Unterschiede sind vielfältig, voneinander abhängig und bedingen sich gegenseitig in einem komplexen Zusammenspiel von Fak‐ toren wie Gender, Diskriminierung, Migrationsrouten, Arbeitsmarktstrukturen und Arbeitsrechten sowie vorhandenen bzw. nicht vorhandenen beruflichen und sozialen Netzwerken. Die prominente Rolle der Kenntnisse der Sprache des Zuwanderungslandes, der sogenannten Zweitsprache (L2), wurde schon von der OECD im Jahr 2006 als einer der Hauptgründe für die schlechten Beschäfti‐ gungsergebnisse von Zugewanderten erkannt ( OECD 2006: 37). Obwohl Migrantinnen und Migranten - wenn man sie fragt - den Arbeits‐ platz als den Ort benennen, an dem sie die Zweitsprache am meisten benutzen, und die Arbeit als Hauptgrund, um die L2 zu erlernen ( ISTAT 2014; Brad‐ dell / Miller 2017), beschränkt sich die staatliche Förderung der Zweitsprache vorwiegend auf die Vorbereitung für die Arbeit. In den meisten Ländern enden 245 Learning to work or working to learn <?page no="246"?> die vom Staat finanzierten Angebote dann, wenn die Zugewanderten den In‐ tegrationskurs absolviert bzw. eine Arbeit gefunden haben. Es gibt zwar in vielen Ländern weitere L2 und Qualifizierungsangebote, diese kommen aber für mi‐ grantische Beschäftigte, insbesondere diejenigen mit geringer formaler Bildung und begrenzten Zweitsprachkenntnissen aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Viele erwachsene Migrantinnen und Migranten brauchen Unterkunft, Kon‐ takte und Arbeit, wenn sie im Einwanderungsland ankommen. Besonders die‐ jenigen, die nicht über ausreichende L2-Kenntnisse und gefragte Qualifikati‐ onen verfügen, sind auf soziale Netzwerke in der eigenen Community angewiesen, wo ihre Sprache gesprochen wird. In vielen Ländern müssen sie einen Integrationskurs besuchen. Ihre höchste Priorität ist es, einen Job zu finden. Wenn es ihnen gelingt, ist die Arbeit meist wenig qualifiziert, oft kör‐ perlich anstrengend, bietet geringe Kommunikationsmöglichkeiten und liegt im niedrigen Lohnsektor. Auch wenn sie einen Integrationskurs absolviert haben, gibt es für sie kaum Möglichkeiten in ihrem privaten und beruflichen Alltag ihre L2-Kenntnisse aufrechtzuerhalten, geschweige denn zu erweitern. Der Besuch von weiteren Sprachbzw. Qualifizierungskursen kommt aufgrund von Kosten, mangelnder Zeit, Energie und Bildungsbarrieren kaum in Frage. Da sie ihre Sprachkenntnisse nicht erweitern können, bleiben sie in den kommunikations‐ armen, schlecht bezahlten Jobs „gefangen“, mit wenig Chancen beruflich und sprachlich aufzusteigen. Braddell und Miller nennen diesen Teufelskreis, die „low-pay, limited- L2 trap“, die man als die „Niedriger-Lohn-geringe-Sprach‐ kenntnis-Falle“ übersetzen könnte (Braddell / Miller 2017: 313). Dass es Auswege aus diesem Teufelskreis gibt, zeigen zunehmend zahlreiche Erfahrungen von L2-Förderung bei der Arbeit und durch die Arbeit aus unter‐ schiedlichen Ländern, die das Netzwerk Lf W auf seiner Webseite, insbesondere in der Sammlung von Praxisbeispielen, dokumentiert hat (Language for Work 2019). Diesen Praktiken liegt ein Verständnis von Sprache als sozialer Praxis zugrunde „welche nur in ihrer Einbettung in soziale Kontexte, in denen Bedeu‐ tung konstruiert wird, zu verstehen ist und letztendlich auch nur dort umfäng‐ lich angeeignet werden kann“ (Daase 2021: 107). Die von Braddell und Miller befragten Zugewanderten aus den Bezirken von Greater London haben das L2-Lernen bei der Arbeit als einzige realistische Lö‐ sung, um ihre L2-Kenntnisse zu verbessern, angegeben. Die Arbeit als produk‐ tive und kollektive Aktivität sieht Strukturen und Rollen vor, die für das (Sprach-)Lernen genutzt werden können. Im nächsten Artikelabschnitt werden zwei Praxisbeispiele vorgestellt und im Fazit die Implikationen für Betriebe und Bildungsanbieterinnen und -anbieter 246 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="247"?> diskutiert: Welche betrieblichen Rahmenbedingungen sind notwendig, damit der Arbeitsplatz zum Sprachlernort wird? Welche Faktoren können das Lernen im Prozess der Arbeit fördern bzw. hindern? Welche Kompetenzen brauchen L2-Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen? 3 Praxisbeispiele 3.1 Ein schwedischer Ansatz aus der Altenpflege Seit über zehn Jahren beschäftigen sich schwedische Kolleginnen und Kollegen aus der Forschung und Praxis der Gerontologie und Schwedisch als Zweit‐ sprache ( SFI ) mit Konzepten zur Förderung der sprachlich-kommunikativen Kompetenzen für migrantische Kräfte in der Altenpflege. Viele Pflegeheime standen und stehen vor großen Herausforderungen: steigende Anzahl und stei‐ gendes Alter der Bewohnerinnen und Bewohner und Schwierigkeiten, Arbeits‐ kräfte, die gut Schwedisch sprechen, auf dem heimischen Arbeitsmarkt zu finden. Die Hypothese, dass die SFI -Pflegerinnen und -Pfleger nach einem In‐ tegrationskurs ihre berufs- und arbeitsplatzbezogenen L2-Kenntnisse automa‐ tisch durch die Arbeit verfestigen und erweitern würden, hat sich nicht be‐ wahrheitet. Die Anforderungen an ihre Diskursfähigkeit sind durch die fortschreitende Digitalisierung sogar gestiegen. Über viele Jahre hat eine von der Kommune von Stockholm gut finanzierte Arbeitsgruppe einen integrierten Ansatz zur Förderung der SFI in der Altenpflege entwickelt. Dieser wird mitt‐ lerweile seit über zehn Jahren praktiziert, weiterentwickelt und ist international unter dem Namen des Abschlussprojekts ArbetSam bekannt (Stockholm Ge‐ rontology Research Center 2013). Es handelt sich um ein umfassendes System von Lernen am Arbeitsplatz in der Altenpflege, das formale, non-formale und informelle Lernarrangements integriert. Schon existierende arbeitsbegleitende Qualifizierungsmaßnahmen zur Erlangung von staatlich anerkannten beruflichen Abschlüssen wurden von SFI -Sprachangeboten flankiert, um die migrantischen Lernenden bei dem Um‐ gang mit den Inhalten und der Bildungssprache zu unterstützen. Zusätzlich zu diesem Angebot formalen Lernens wurden weitere non-formale Sprachlernmöglichkeiten durch die Erweiterung von Managementstrukturen und die Kreation von neuen Rollen geschaffen. Regelmäßige so genannte re‐ flektionsmöte (Reflektive Team-Besprechungen) wurden für alle Mitarbeitenden mit und ohne Migrationshintergrund ins Leben gerufen. Diese Treffen werden durch eine Teamleiterin bzw. einen Teamleiter organisiert und geleitet. Ihr Ziel ist es, die sprachlich-kommunikativen Kompetenzen aller Mitarbeitender in den besonders kommunikationsintensiven Pflegeaufgaben zu verbessern. In diesen 247 Learning to work or working to learn <?page no="248"?> kollegialen Besprechungen werden Themen um die Kommunikation, aufgetre‐ tene Herausforderungen in der Interaktion mit Bewohnerinnen und Bewoh‐ nern, Angehörigen oder unter Kolleginnen und Kollegen, mit der Leitung, im Umgang mit der zunehmenden Digitalisierung etc. diskutiert, um die Kommu‐ nikation und damit die Pflege zu optimieren. Schließlich wird das informelle SFI -Lernen durch eine neue Rolle, die der språkombud (Sprachmentorinnen und Sprachmentoren), unterstützt. Im Kon‐ text von Migration und Arbeit bezieht sich der Begriff betriebliches Sprachmen‐ toring auf unterschiedliche innerbetriebliche Maßnahmen zur Unterstützung migrantischer Beschäftigter beim Erlernen der Zweitsprache im Prozess der Arbeit. Übergreifendes Ziel des Sprachmentoring ist es, den Betrieb zu einem Sprachlernort auszugestalten und eine sprachlernförderliche Umgebung zu schaffen, damit die Kommunikation optimal gelingt. Sinnvolle bestehende Strukturen und Rollen werden identifiziert und ausgebaut, neue werden ge‐ schaffen. Sprachmentorinnen und -mentoren können externe Beraterinnen und Berater bzw. Führungskräfte und Mitarbeitende des Betriebs sein (Thomas 2017: 29). Sprachmentorinnen und -mentoren sind nach dem ArbetSam-Konzept Kol‐ leginnen und Kollegen, die Schwedisch beherrschen und gewandt in der Kom‐ munikation in der Pflege sind. Sie unterstützen ihre migrantischen Kolleginnen und Kollegen bei auftretenden Schwierigkeiten in der Interaktion mit den ver‐ schiedenen Akteuren in der Pflege. Sie helfen bei der sprachlichen Bewältigung der Aufgaben, z. B. der Dokumentation, sie erledigen diese aber nicht. Diese Unterstützung erfolgt in bezahlter Arbeitszeit und wird so organisiert, dass sie nicht zu einer zusätzlichen Belastung für die Betroffenen oder das weitere Per‐ sonal wird. Ihre Erfahrungen mit den Herausforderungen der Kommunikation in der Pflege bringen die Mentorinnen und Mentoren in die reflektierende Team-Besprechung ein und können damit Führungskräfte und Kollegium auf Probleme und Lösungen aus der Praxis aufmerksam machen. Dank TDAR , eines internationalen EU -geförderten Projekts mit dem Titel „Transfer and Development of ArbetSam Results (2013-2015)“, wurden das Konzept und zahlreiche Ressourcen ins Englische übersetzt und im Internet zu‐ gänglich gemacht ( SGRC 2015). Inzwischen hat das Vård-och omsorgscollege (eine nationale Organisation zuständig für die Kooperation zwischen Bildungs‐ anbietern, Pflege und Gewerkschaften) ein Mentoring-Training entwickelt und veröffentlicht. Die Universität Stockholm hat die Arbeit von Mentorinnen und Mentoren begleitet und evaluiert (Bigestans 2019). In 29 qualitativen Interviews von 60 Minuten wurden 20 Mentorinnen und Mentoren und 12 Führungskräfte befragt. Die Ergebnisse der Auswertung sind positiv: Die Unterstützung durch 248 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="249"?> die Mentorinnen und Mentoren hat sich positiv auf die Entwicklung der sprach‐ lich-kommunikativen Kompetenzen der einzelnen L2-Mitarbeitenden sowie auf die Qualität der Kommunikation und auf die Gesamtatmosphäre im Betrieb ausgewirkt. Positv fällt auch die Bilanz bezüglich des Verhältnisses Kosten-Er‐ trag aus: Die Kosten für das Training der Mentorinnen und Mentoren sowie für ihre Freistellung während der Arbeit sind „bescheidene Investitionen“ vergli‐ chen mit den potentiellen Vorteilen für die Altenpflege und die Gesellschaft im Allgemeinen (ebd.: 29). Die Autorin merkt an, dass weitere Untersuchungen notwendig sind, um eine Korrelation zwischen verbesserter Arbeitsqualität und Mentoring definitiv zu belegen (ebd.: 3). Im Hinblick auf das L2-Lernen im Prozess der Arbeit versteht der Ar‐ betSam-Ansatz die Entwicklung der Diskursfähigkeit der Mitarbeitenden als Aufgabe der Personal- und Qualitätsentwicklung. Gelingende Kommunikation und Verbesserung der Kommunikation werden als Verantwortung aller Mitar‐ beitender, inklusive Führungskräfte, angesehen. Sprachlich-kommunikative Kompetenzen sind Schlüsselkompetenzen für alle Mitarbeitenden. Dieser An‐ satz ist inklusiv im doppelten Sinn. Zum einen überwindet er die Trennung von zugewanderten und einheimischen Beschäftigten, zum anderen erfordert er die Zusammenarbeit und Partnerschaft von Arbeitgebern, L2-Lehrkräften, Einrich‐ tungen der Erwachsenenbildung und der beruflichen Bildung, Forschung und Praxis. 3.2 Ein deutsches Beispiel aus der Lebensmittelindustrie „Die Grammatik ist für uns nicht wichtig. Hier geht es um die Kartoffel“ (Thomas 2017: 7). Ein weiterer Ansatz von L2-Lernen bei der Arbeit wurde von dem AWO Biele‐ feld-Verband in Zusammenarbeit mit einem Kartoffel-verarbeitenden Betrieb entwickelt. Dieses Fallbeispiel ist auch deshalb besonders interessant, weil es von der Dienstleistungszur Produktionsindustrie führt, also vom kommuni‐ kationsintensiven Berufsfeld der Pflege zu angelernten Arbeitsplätzen in der Produktion, an denen man kaum Kommunikation erwartet. Aber auch in der Produktion hat der Strukturwandel die betriebliche Kommunikation verändert und stellt neue und höhere sprachlich-kommunikative Anforderungen an die Mitarbeitenden, wie in der Kartoffelmanufaktur. Es geht hierbei um das Verstehen und Umsetzen von Qualitäts-, Sicherheits- und Hygienevorschriften, um die Teilnahme an den entsprechenden Pflicht‐ schulungen, um die Interaktion mit den Gesundheitsbehörden bei den routine‐ mäßigen Audits. Es geht um das Lesen und Umsetzen von komplexen 249 Learning to work or working to learn <?page no="250"?> Zutatenlisten für eine immer breiter werdende Palette von Spezialprodukten, die die Kocher zubereiten müssen. Es geht um Absprachen unter den so ge‐ nannten Springern, die an unterschiedlichen Stationen flexibel eingesetzt werden. Für den expandierenden mittelständischen Familienbetrieb in Westfalen, von dem die Rede ist, wird es zunehmend schwieriger, gute Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Die ländliche Lage und der Dreischichtbetrieb er‐ schweren außerdem die Gewinnung von Mitarbeitenden. Diesen Herausforde‐ rungen begegnet die Betriebs- und Geschäftsführung unter anderem mit der Akquise von Arbeitskräften aus dem Ausland. Um Fluktuation zu reduzieren und zuverlässige Arbeitskräfte an den Betrieb zu binden, hatte sich die Leitung entschieden, in das Personal zu investieren und betriebsinterne Deutschkurse anzubieten. Diese sollten nicht, wie der oben zi‐ tierte Betriebsleiter bildhaft ausgedrückt hatte, auf grammatikalische Phäno‐ mene und auf eine grammatikalische Progression fokussieren, sondern sich an den sprachlich-kommunikativen Anforderungen der ausgeübten Tätigkeiten und den Erfordernissen der Qualitäts-, Sicherheits- und Hygienevorschriften orientieren. Insbesondere die Diskrepanz zwischen den oben skizzierten sprach‐ lichen Anforderungen einerseits und den geringen Deutschkenntnissen und der oft niedrigen formalen Bildung vieler migrantischer Produktionsmitarbeitenden andererseits stellten die größte Herausforderung dar. Erschwerend kamen äu‐ ßere Faktoren wie die Schichtarbeit, die dreifache Belastung durch Arbeit, Fa‐ milie und Lernen, insbesondere für Frauen, und individuelle Befindlichkeiten hinzu. Die Lösung lag wieder in der Entwicklung und Umsetzung eines integrierten Ansatzes, der verschiedene Sprachförderinstrumente, das Zusammenspiel un‐ terschiedlicher Akteure und eine kombinierte Finanzierung vorsieht. Der An‐ satz zeichnet sich aus durch die Verzahnung von Fach- und Sprachlernen in der Praxis und die Erweiterung von formalen mit non-formalen Lernarrangements sowie die Begleitung des Transfers des Gelernten in die betriebliche Praxis durch Coaching und betriebliches Sprachmentoring. Es werden hier vier Maßnahmen hervorgehoben, die diesen Ansatz und gleichzeitig das Lernen im Prozess der Arbeit und den Betrieb als Lernort cha‐ rakterisieren: • die Ermittlung der Sprachbedarfe des Betriebs, die zusammen mit der Er‐ mittlung der Bedürfnisse der Lernenden in die Entwicklung des Sprach‐ förderkonzepts münden; • das betriebliche Training im Kursformat; 250 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="251"?> • das passgenaue Sprachcoaching am Arbeitsplatz und • das betriebliche Mentoring. Zusammen tragen diese Elemente zur Entwicklung der arbeitsplatzbezogenen Gesprächskompetenz der Mitarbeitenden, zur Umsetzung des Gelernten in den betrieblichen Alltag und somit zur Nachhaltigkeit des Lernens und zur Schaf‐ fung eines Lernort-Betriebs bei. „Eine individuelle Bedarfsanalyse ist […] zwingend notwendig, um eine nach‐ haltige Deutschförderung am Arbeitsplatz durchzuführen, da jeder Arbeitsplatz spezifische Anforderungen mit sich bringt“, hebt eine der Autorinnen des Kon‐ zepts, Cathrin Thomas, in ihrem Abschlussbericht „Deutsch am Arbeitsplatz in der Kartoffelmanufaktur Pahmeyer“ hervor (2017: 15). Eine Kombination von ethnographischen Instrumenten, wie Interviews mit unterschiedlichen betrieb‐ lichen Akteuren in unterschiedlichen Positionen, teilnehmende Beobachtung, Sichtung von Dokumenten und, wenn möglich, Analyse von Aufnahmen von Interaktionen am Arbeitsplatz wird empfohlen. Diese Instrumente geben nicht nur Informationen über die in Frage kommenden „objektiven“ sprachlich-kom‐ munikativen Anforderungen, sondern auch über die sozialen Normen im Be‐ trieb, die genauso wichtig für eine gelingende Kommunikation sind (Berg / Grünhage-Monetti 2009; Weissenberg 2012; Berg / Leinecke 2014). Besonders innovativ an diesem Konzept ist das Sprachcoaching. Der hier dargestellte Ansatz ist als Bielefelder Modell bekannt (Daase et al. 2014; Ferber-Brull 2018). Dabei begleiten die Sprachcoaches - in diesem Fall waren es die Lehrenden selbst - einzelne Mitarbeitende bzw. kleine Gruppen für eine begrenzte Zeit (z. B. sechs Termine à 45 Minuten) direkt am Arbeitsplatz. Durch das Sprachcoaching konnten die Lernenden die im Kurs erarbeiteten Inhalte am Arbeitsplatz umsetzen. Es fand ein bereichernder Transfer von Wissen in beide Richtungen, sowohl aus dem Unterricht in den Betrieb als auch aus dem Betrieb in den Unterricht, statt. Über die Bearbeitung von spezifischen Fragen der Zweitsprache Deutsch baute das Sprachcoaching die Lern- und Selbstreflexi‐ onskompetenzen der Mitarbeitenden aus (Thomas 2017: 2527). Im Unterschied zu dem ArbetSam-Ansatz wurde das Sprachmentoring in der Kartoffelmanufaktur durch eine externe Beraterin mit dem Ziel durchgeführt, betriebsinterne Strukturen zu schaffen und dauerhaft zu etablieren (Thomas 2017: 29). Leider fehlen in Deutschland eine Gesamtstrategie, die über die För‐ derung von punktuellen Projekten hinausgeht, und ein langfristiges Engage‐ ment von Politik, Wirtschaft, Bildung und Forschung, um den Mentoring-Ansatz als Regelangebot zu verstetigen. 251 Learning to work or working to learn <?page no="252"?> Im folgenden Kasten sind zwei Kurzportraits von Lernenden vor und nach den Sprachfördermaßnahmen aufgeführt, die den Charakter und die Möglich‐ keiten dieses Ansatzes, insbesondere des Sprachcoachings, verdeutlichen. Porträts lernernder Mitarbeitender Mihai vor der Sprachförderung Mihai ist Rumäne, Mitte Dreißig. Er wurde 2015 als ungelernter Arbeiter mit einem befristeten Vertrag eingestellt. Er hat sich als Kocher bewährt. Er ist ein fleißiger, zuverlässiger Arbeiter, geschätzt von Mitarbeitenden und Vor‐ gesetzten. Seine Deutschkenntnisse sind rudimentär. Auch seine Schrift‐ kompetenzen sind gering. Er hat große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Als Kind, erzählt Mihai, hätte er die Schule aufgrund gesundheit‐ licher Probleme nur unregelmäßig besucht. Die Lehrerin und Coach, die studierte Logopädin ist, diagnostiziert bei ihm auditive Wahrnehmungsstörungen und eine geringe auditive Merkspanne: Mihai hat Probleme, Einzellaute (Phoneme) zu diskriminieren und unbe‐ kannte Worte nachzusprechen. Dies erhärtet den Verdacht auf auditive Wahrnehmungsstörung (wahrscheinlich auch in der Muttersprache) und auf Einschränkungen im Bereich des auditiven Arbeitsgedächtnisses. Darüber hinaus hat er Schwierigkeiten, bekannte Worte korrekt nachzusprechen, die auf Artikulationsprobleme hinweisen. Eine solche fehlende phonologische Bewusstheit erschwert das Deutschlernen. Mihai fühlt sich in der Firma wohl und liebt seine Arbeit. Um seine Lese‐ schwierigkeiten zu kompensieren, hat er Strategien entwickelt und die Stan‐ dardrezepte auswendig gelernt. Die Vorgesetzten sind auf seine Lesepro‐ bleme aufmerksam geworden, als sie ihn, wegen seiner guten Arbeitsleistungen, als Springer an wechselnden Arbeitsstationen eingesetzt haben. Mit neuen, wechselnden, komplexen Rezepturen ist Mihai nicht mehr zurechtgekommen. Ihm wurde nahegelegt, den betriebsinternen Deutsch‐ kurs für Anfänger zu besuchen. Mihai nach der Sprachförderung Mihai hat regelmäßig an dem Deutsch-Anfängerkurs teilgenommen. Trotz hoher Motivation und Einsatzes von differenzierten Lernmaterialien waren seine Fortschritte sehr bescheiden. Mit großer Bereitschaft hat er das Coa‐ chingangebot angenommen und regelmäßig besucht. Für Mihai hatte das Coaching eher den Charakter einer therapeutischen, pädagogischen und sprachlichen Unterstützung. Es wurde gezielt an seinen Lernschwierigkeiten gearbeitet, was im Rahmen des normalen Kurses nicht möglich war. Zur 252 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="253"?> Förderung des Lesens und Schreibens wurden gezielte Übungen zu Gra‐ phem-Phonem Korrespondenz ( GPK ) des Deutschen gemacht, die erste Er‐ folge zeigten. Zur Verbesserung des Hörverstehens und Sprechens wurde auf der Lautebene mit Hör- und Aussprachetraining zu den Lauten des Deut‐ schen gearbeitet. Auf der Wortebene wurde trainiert, Silbengrenzen zu iden‐ tifizieren und wiederkehrende Wortteile (Morpheme - als bedeutungstra‐ gende kleinste Einheiten von Worten) wieder zu erkennen (Segmentation). Die Fortschritte in Deutsch waren langsam, aber deutlich zu erkennen. Nach ca. zehn Coachingstunden konnte er die Korrespondenz Graphem / Phonem erkennen. Für das „Problemkind“ Mihai, wie die Vorgesetzten ihn nannten, wurde eine praxisorientierte Lösung seitens der Leitung und des Coaches gesucht, da die Firma ihn behalten wollte. Es wurden nicht nur mehr Coa‐ chingstunden genehmigt, sondern auch strukturelle Veränderungen durch‐ geführt. Für Mihai sah die Leitung von einem flexiblen Einsatz als Springer ab. Er durfte an der gleichen Station arbeiten. Die Rezepturen wurden für ihn nach einem Ampel-Prinzip gekennzeichnet. Die grün markierten Standard‐ rezepte kannte er schon oder lernte sie auswendig. Bei den gelb markierten mit nur wenigen Veränderungen konnte er bei Bedarf Kolleginnen oder Kol‐ legen fragen und bei den völlig neuen, rot markierten Rezepten musste er Vorgesetzte fragen. Inzwischen hat Mihai einen festen Vertrag und ist seinem Traum, bis zur Pensionierung in der Kartoffelmanufaktur zu arbeiten, ein Stück nähergekommen. Mihais Fallbeispiel zeigt, wie die funktionale Gesprächsfähigkeit eines Lernenden mit erheblichen Lernschwierigkeiten durch die Einbettung in die konkreten sozialen Kontexte seines Arbeitsplatzes gefördert werden kann. Sprachförderung schließt hier unterschiedliche Lernarragnements wie Un‐ terricht und Sprachcoaching ein und setzt die Mitwirkung des Betriebs vo‐ raus. Justyna vor der Sprachförderung Justyna ist eine junge Polin, Anfang 20. In ihrer Heimat hat sie die Pflicht‐ schule absolviert und später gejobbt. Vor ein paar Jahren ist sie nach Deutsch‐ land zu ihrer Mutter gekommen und hat eine Stelle bei der Kartoffelmanu‐ faktur gefunden. Mündlich hat sie in Deutsch das B1-Niveau erreicht. Ihre schriftlichen Leistungen sind aber wesentlich schlechter. In der Firma hat sie sich gut eingearbeitet und schnell verschiedene Arbeitsaufgaben gelernt. Sie kann als Springerin an verschiedenen Stationen eingesetzt werden. Von Vor‐ gesetzten, Kolleginnen und Kollegen wird sie als zuverlässige Mitarbeiterin geschätzt. 253 Learning to work or working to learn <?page no="254"?> Justyna nach der Sprachförderung Justyna hat regelmäßig den Deutsch-Anfängerkurs besucht. Da der Unter‐ richt nach der Frühschicht stattfand, war sie oft müde und unmotiviert. An dem darauf aufbauenden Mittelstufenkurs hat sie dann unregelmäßig teil‐ genommen und sich immer wieder beschwert, dass der Kurs zu langsam sei, sie nicht genug lerne und ihre Freizeit opfere. Sie glaube nicht daran, dass die Fima die Unterrichtsstunden auf ihr Zeitkonto gutschreibt. Einige Erfolge im Unterricht ermöglichten es ihr, ihre Fortschritte in Deutsch zu erkennen, und ermutigten sie, weiter zu lernen. Sie willigte ein, an dem Coachingan‐ gebot teilzunehmen. Das Coaching für Justyna hatte einen anderen Cha‐ rakter als bei Mihai. Es ging vielmehr um Selbstreflexion und Identifizierung von Zielen in Leben und Beruf und um die notwendigen Sprachkomptenzen, um diese zu erreichen. Nach dem Bielefelder Sprachcoaching Konzept sind die Auseinandersetzung mit den eigenen beruflichen und lebensweltlichen Zielen, die exemplarische Spracharbeit an konkreten Anliegen und die Sprachlernberatung gleichwertige und unabdingbare Bestandteile des An‐ satzes (Daase et al. 2014). Durch das Coaching ist sich Justyna ihrer Ausgangssituation und ihres neu erreichten Sprachniveaus bewusst geworden. Nach den Sprachkursen und acht Stunden Coaching ist Justyna jetzt in der Lage, ihren eigenen Lernpro‐ zess zu koordinieren und zu planen. Sie hat sich realistische Sprachlernziele im Verhältnis zu Zeit und Energie gesetzt, die sie bereit ist zu investieren. Sie kann passende Lernressourcen, wie Online-Materialien, identifizieren, aus‐ wählen und anwenden. Zurzeit besucht sie einen Führerscheinkurs und nutzt regelmäßig digitale Ressourcen für ihre sprachlichen Anliegen (Thomas 2016). 4 Fazit Die Praxisbeispiele aus Schweden und Deutschland und die zwei Portraits von lernenden Mitarbeitenden zeigen, welche Rahmenbedingungen im Betrieb und beim Bildungsanbieter notwendig sind, damit der Arbeitsplatz nicht nur ein Ort der Produktion, sondern auch ein Ort des Lernens und der Sprachentwicklung wird. Davon profitieren nicht nur die migrantischen Beschäftigten, sondern der Betrieb, Kolleginnen und Kollegen und die Gesellschaft als Nutzer und Nutzerinnen verbesserter Dienstleistungen und Konsumentinnen und Konsu‐ menten von Qualitätsprodukten. 254 Matilde Grünhage-Monetti <?page no="255"?> Lernen soll Teil des betrieblichen Alltags werden, wie im Falle der reflektiven Team-Besprechungen, an denen alle Mitarbeitenden mit dem Ziel der Verbes‐ serung der Kommunikation für die Pflege teilnehmen. Mentoring und Coaching sind weitere Beispiele von integriertem Lernen und Arbeiten. Hier wird Sprach‐ förderung nicht in gesonderte, auch physisch separate Veranstaltungen ausge‐ lagert, sondern findet im Prozess der Arbeit, an Ort und Stelle, statt. Personalentwicklung wird als zentrales Ziel des Unternehmens ernst ge‐ nommen. Für zugewanderte Beschäftigte bedeutet das oft Unterstützung bei der Entwicklung ihrer sprachlich-kommunikativen Kompetenzen, damit sie ihr Po‐ tenzial entfalten und die Leistungen erbringen können, zu denen sie fähig sind. Dies bringt den einzelnen Mitarbeitenden ökonomische Vorteile und Anerken‐ nung sowie einen Gewinn für Betrieb und Wirtschaft (Sterling 2015). Um das Lernen so zu gestalten, sind strukturelle Rahmenbedingungen not‐ wendig. Das Management der Altenpflege-Einrichtungen und der Kartoffelma‐ nufaktur waren bereit, Strukturen zu verändern bzw. neue zu schaffen. Im Fall von Mihai verzichtete die Leitung für ihn auf die „Springer-Funktion“, um einen sprachlich schwachen, aber fachlich kompetenten und engagierten Mitarbeiter zu behalten. Die Altenpflegeeinrichtungen haben neue Rollen geschaffen: die des Leiters bzw. Leiterin der reflektiven Team-Besprechungen und der Sprach‐ mentoren und -mentorinnen. Über die Fürsorge für die Mitarbeitenden hinaus, haben auch praktische Überlegungen wie Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung, hoher Quali‐ tätsanspruch und expandierende Aussichten eine Rolle gespielt. Aber auch auf die Bildungsanbieter von berufs- und arbeitsplatzbezogener Zweitsprachförderung kommen neue Anforderungen zu. Sprachangebote für Betriebe erfordern oft gezielte Akquise von Kunden und Kundinnen aus der Wirtschaft, geschultes Personal und Geschick in der Kombination von Finan‐ zierungsquellen. Die Mitarbeitenden, oft Lehrkräfte, müssen in der Lage sein, langfristige Kontakte zu Betrieben und Arbeitsmarktverwaltung aufzubauen und zu pflegen, Bedarfe und Bedürfnisse der Betriebe und der Lernenden zu ermitteln und daraus ein passgenaues Angebot zu entwickeln, durchzuführen und zu evaluieren. Für Erwachsenenbildnerinnen und -bildner in Organisation und Lehre erfordert die Zusammenarbeit mit der Arbeitswelt einen Perspekti‐ venwechsel. Wirtschaft, Arbeitsmarktadministration und Bildung sind unter‐ schiedliche soziale Systeme, die unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Lo‐ giken, Zielen, Prioritäten und Funktionsweisen folgen. Diese Unterschiede zu erkennen, zu respektieren und Übereinstimmungen zu suchen, zu nutzen und auszubauen ist eine Herausforderung für alle Beteiligten. Eine Übersicht über hilfreiche Kompetenzen für die verschiedenen Akteure in Bildung und Arbeits‐ 255 Learning to work or working to learn <?page no="256"?> welt zur Unterstützung der berufs- und arbeitsplatzbezogenen Zweitsprache hat das Netzwerk Language for Work entwickelt (Language for work 2019). Den Arbeitsplatz als Lernort zu gestalten, ist für Wirtschaft und Bildung eine Chance, ökonomischen Nutzen und soziale Inklusion voranzutreiben. Dies be‐ trifft insbesondere die Beschäftigten, die wenig Chancen haben bzw. gehabt haben, an formalem Lernen teilzuhaben. Für Zugewanderte bedeutet dies an erster Stelle die Förderung ihrer berufs- und arbeitsplatzbezogenen Gesprächs‐ kompetenz in der Sprache des Landes, in dem sie leben und arbeiten. Am Ende sollen alle davon profitieren, nach dem Titel einer Veröffentlichung des schwe‐ dischen Projekts SpråkSam „Bättre språk, bättre omsorg“ (Better language, better care) ( SGRC 2009). Literatur Assemblée Nationale (2004). 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V. in Berlin durch‐ geführt. Mail: barbara.aulich@aub-berlin.de Andrea Bernert-Bürkle ist Fachreferentin und Projektleiterin beim Volks‐ hochschulverband Baden-Württemberg e. V. Sie koordiniert unter anderem Pro‐ jekte zur Deutsch-Förderung, zur beruflichen Integration von Migrantinnen und Migranten und zur interkulturellen Kommunikation in Unternehmen und öf‐ fentlichen Einrichtungen. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Karri‐ ereberatung, Qualifizierung von Deutsch-Lehrkräften. Kontakt: Andrea Ber‐ nert-Bürkle, Volkshochschulverband Baden-Württemberg e. V., Raiffeisenstr. 14, 70 771 Leinfelden-Echterdingen. Mail: bernert-buerkle@vhs-bw.de Dr. Monica Bravo Granström ist Geschäftsführerin der Akademie für wis‐ senschaftliche Weiterbildung der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: mehrsprachige sowie digitale Lehr-/ Lernprozesse. Kontakt: Dr. Monica Bravo Granström, Akademie für wissen‐ schaftliche Weiterbildung, Pädagogische Hochschule Weingarten, Kirchplatz 2, 88 250 Weingarten. Mail: bravo@ph-weingarten.de Dr. Damaris Borowski ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Tübingen School of Education (Tü SE ) und dem Deutschen Seminar der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Ihre Ar‐ beits- und Forschungsschwerpunkte sind: Sprache im Beruf, Arzt-Patienten-In‐ teraktion, Sprachsensibler Fachunterricht, Wirkung universitärer DaZ-Ange‐ bote. Kontakt: Dr. Damaris Borowski, Tübingen School of Education, Wilhelmstraße 31, 72 074 Tübingen. Mail: damaris.borowski@uni-tuebingen.de Dr. Meta Cehak-Behrmann, Leitung der Fachstelle für berufsintegriertes Sprachlernen (FaberiS) in der FRAP Agentur gGmbH. Kontakt: Dr. Meta <?page no="260"?> Cehak-Behrmann, Vilbeler Str. 29, 60 313 Frankfurt. Mail: cehak-behrmann@ faberis.de Dr. Ibrahim Cindark ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Deutsch im Beruf: Die sprachlich-kommunikative Integration von Flüchtlingen“ des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache ( IDS ). Seine Forschungsschwerpunkte: Multimodale Konversationsanalyse, Ethnografie, Interkulturelle Kommunika‐ tion, Sprache und Kommunikation im Beruf. Kontakt: Dr. Ibrahim Cindark, Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Augustaanlage 32, 68 165 Mannheim. Mail: cindark@ids-mannheim.de Dr. Christian Efing ist Professor für „Deutsche Sprache der Gegenwart“ am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen Uni‐ versity. Er forscht im Schwerpunkt zu kommunikativer Kompetenz in Aus- und Weiterbildung (Anforderungsanalysen, Registermodellierung / Berufssprache) sowie im Bereich Varietätenlinguistik. Kontakt: Prof. Dr. Christian Efing, RWTH Aachen University, Philosophische Fakultät, Institut für Sprach- und Kommu‐ nikationswissenschaft, Eilfschornsteinstraße 15, 52 062 Aachen. Mail: c.efing@isk.rwth-aachen.de Dott. Matilde Grünhage-Monetti hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung - Leibniz Zentrum für Lebens‐ langes Lernen (vormals Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshoch‐ schul-Verbandes) von 1987 bis 2009 gearbeitet und zahlreiche internationale und nationale Projekte zum Thema berufs-und arbeitsplatzbezogene Zweitsprache und interkulturelle Bildung für die kommunale Verwaltung geleitet. Für das European Centre for Modern Languages ( ECML ) des Europarats hat sie mehrere Projekte (www.languageforwork.ecml.at) geleitet. Zurzeit koordiniert sie das daraus entstandene Lf W Netzwerk, weiterhin von ECML unterstützt. Ihre Ar‐ beitsschwerpunkte sind Sprache und Kommunikation im Kontext der Arbeit und Migration. Dott. Grünhage-Monetti arbeitet zurzeit als freiberufliche Wei‐ terbildnerin. Mail: matilde.monetti@unitybox.de Roswitha Klepser, bis März 2019 Geschäftsführerin der Akademie für wissen‐ schaftliche Weiterbildung der Pädagogischen Hochschule Weingarten ( AWW ). Zudem bis April 2020 Projektmanagerin der Integrationsprojekte FIER und IGEL (Integration geflüchteter Lehrkräfte in die Lehrer*innenausbildung in Baden-Württemberg) der AWW . Seit dem Ruhestand Dozentin der AWW im Bereich Integration. Kontakt: Roswitha Klepser, Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung, Pädagogische Hochschule Weingarten, Kirchplatz 2, 88 250 Weingarten. Mail: klepser@ph-weingarten.de 260 Die Autorinnen und Autoren <?page no="261"?> Jun.-Prof. Dr. Sarah Lukas ist Juniorprofessorin für Psychologie sowie stell‐ vertretende Direktorin des Forschungszentrums für Sekundarbildung an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Sie hatte die Projektleitung von FIER - La TJ o inne. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Lese- und Schreib‐ kompetenz, Handlungsplanung und -steuerung, innovative Lernumgebungen. Kontakt: Jun.-Prof. Dr. Sarah Lukas, Pädagogische Hochschule Weingarten, Pä‐ dagogische Psychologie, Kirchplatz 2, 88 250 Weingarten. Mail: lukas@ph-wein garten.de Sabine Massloff ist Dozentin für Deutsch als Fremdsprache / Deutsch als Zweitsprache, Fortbildnerin für Lehrkräfte im Bereich Sprachsensibles Handeln, z. B. für Ausbilder und Ausbilderinnen / Referentin zum Thema „Integriertes Fach- und Sprachlernen“; Projektleiterin Sprachenwerkstatt im Rahmen des IQ -Netzwerks Berlin; gegenwärtig Leiterin des Pädagogischen Qualitätsmana‐ gements der WIPA GmbH Berlin, in diesem Rahmen verantwortlich u. a. für Konzepte und Projekte zur Integrierten Sprachbildung, Blended Learning am Arbeitsplatz. Mail: sabine.massloff@wipa.de Dr. Cordula Meißner ist Universitätsassistentin im Fachbereich Germanisti‐ sche Linguistik am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck. Ihre Ar‐ beits- und Forschungsschwerpunkte: korpusbasierte Sprachbeschreibung als Basis für das Lehren und Lernen von Deutsch als fremder Sprache, domäne- und medialitätsspezifische Sprachverwendung, Korpuslinguistik und Methoden der digitalen Sprachwissenschaft. Kontakt: Dr. Cordula Meißner, Universität Inns‐ bruck, Institut für Germanistik, Innrain 52d, A-6020 Innsbruck, Österreich. Mail: cordula.meissner@uibk.ac.at Santana Overath, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Projekt „Deutsch im Beruf: Die sprachlich-kommunikative Integration von Flüchtlingen“ des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache ( IDS ). Ihre Forschungs‐ schwerpunkte: Multimodale Konversationsanalyse, Ethnografie, Sprache und Kommunikation im Beruf. Kontakt: Santana Overath, Leibniz-Institut für Deut‐ sche Sprache, Augustaanlage 32, 68 165 Mannheim. Mail: overath@ids-mannhe im.de Isa-Lou Sander ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl „Deutsche Sprache der Gegenwart“ an der RWTH Aachen. Ihre Arbeits- und Forschungs‐ schwerpunkte: Sprache und Kommunikation in Ausbildung und Beruf, Varie‐ tätenlinguistik, Sprachsensibler Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Kontakt: Isa-Lou Sander, M. A., RWTH Aachen University, Philosophische Fa‐ 261 Die Autorinnen und Autoren <?page no="262"?> kultät, Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Eilfschornstein‐ straße 15, 52 062 Aachen. Mail: i.sander@isk.rwth-aachen.de Anke Settelmeyer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesinstitut für Berufsbildung ( BIBB ). Ihre Forschungsschwerpunkte: Sprache und Kommuni‐ kation in der beruflichen Ausbildung, migrationsbedingte Mehrsprachigkeit im Beruf, Ausbildung Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Kontakt: Anke Set‐ telmeyer, Bundesinstitut für Berufsbildung, Arbeitsbereich 1.4: Kompetenzent‐ wicklung, Robert-Schuman-Platz 3, 53 175 Bonn. Mail: settelmeyer@bibb.de Veronika Vössing ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin des Weiterbildungsangebots „Perspektive Integration - Sprache im Beruf ( PIB )“ an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ihre Arbeits- und For‐ schungsschwerpunkte sind: Fort- und Weiterbildung in den Fachbereichen DaZ / DaF und berufsbezogenes Deutsch, sprachsensibles Lehren und Anleiten in Schule und Beruf. Kontakt: Veronika Vössing, Universität Bonn, Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaften, Abteilung für Interkulturelle Kom‐ munikation und Mehrsprachigkeit mit Sprachlernzentrum, Lennéstraße 6, 53 113 Bonn. Mail: veronika.voessing@uni-bonn.de Katrin Volkmann ist als Dozentin und Referentin zu den Themen „Blended Learning in der beruflichen Bildung“ sowie „Integriertes Fach- und Sprach‐ lernen“ tätig. Sie hat im Rahmen des IQ -Netzwerk sowohl das Blended Lear‐ ning - Konzept „Individuelles Sprachcoaching am Arbeitsplatz“ im Projekt MAZAB , als auch Online - Kurse für „Sprache am Arbeitsplatz für Ingenieure“ entwickelt. Aktuell ist sie als Referentin für Inhalte und Online-Lernen für die Entwicklung von Blended Learning Fortbildungen für Grundschullehrkräfte in der Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ verantwortlich. Mail: katrin.volk‐ mann@haus-der-kleinen-forscher.de Magdalena Wiażewicz ist Lehrerin, Fortbildnerin sowie Projektleiterin in der schulischen und betrieblichen Berufsbildung; gegenwärtig Fachreferentin für Integration und Berufsvorbereitung in der Berliner Senatsverwaltung für Bil‐ dung, Jugend und Familie in der Abteilung Berufliche Bildung. Autorin von Rahmencurricula sowie wiss. Publikationen, Fachtagungsbeiträgen, Konzepten und Qualifizierungen zur sprachlichen und beruflichen Integration, Integrierten Sprachbildung, Mehrsprachigkeit, Berufsausbildungsvorbereitung, Weiterbil‐ dung und Nachqualifizierung. Mitglied des Berliner Interdisziplinären Ver‐ bundes für Mehrsprachigkeit am Leibniz Zentrum Allgemeine Sprachwissen‐ schaft an der Humboldt Universität in Berlin sowie der Bundesvereinigung der Polnischen Lehrkräfte in Deutschland. Mail: magda@wiazewicz.de 262 Die Autorinnen und Autoren <?page no="263"?> Dr. Christina Widera ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesinstitut für Berufsbildung ( BIBB ). Ihre Forschungsschwerpunkte: Sprache und Kommuni‐ kation in der beruflichen Ausbildung. Kontakt: Dr. Christina Widera, Bundes‐ institut für Berufsbildung, Forschungskoordination, Robert-Schuman-Platz 3, 53 175 Bonn. Mail: widera@bibb.de Dr. Przemyslaw Wolski ist Dozent für Didaktik und Deutsch als Fremdsprache am Zentrum zur Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften und für Europä‐ ische Bildung der Universität Warschau. Seine Arbeits- und Forschungsschwer‐ punkte: Digitale Medien und Autonomie im Fremdsprachenerwerb. Kontakt: Dr. Przemyslaw Wolski, University of Warsaw, Centre for Foreign Language Teacher Training and European Education, Aleja Niepodległości 22, 02-653 Warszawa. Mail: p.wolski@uw.edu.pl 263 Die Autorinnen und Autoren <?page no="265"?> Kommunizieren im Beruf herausgegeben von Christian Efing, Kirsten Schindler, Thorsten Roelcke Sprachlich-kommunikative Fähigkeiten sind für die meisten Berufsfelder wichtige Schlüsselkompetenzen. Ihre Bedeutung für die berufliche Handlungsfähigkeit ist in den letzten Jahren beständig gestiegen. Die Buchreihe setzt thematisch einen klaren Fokus im Bereich der beruflichen Kommunikation und ist interdisziplinär angelegt: Sie spricht die Fachbereiche angewandte Linguistik, Sprachdidaktik und DaF/ DaZ ebenso an wie fremdsprachliche Philologien (Anglistik, Romanistik, Slavistik), Kommunikationswissenschaft und Berufspädagogik. Die Reihe versammelt Arbeiten zu allen sprachlichen Teilfertigkeiten in Beruf und Berufsaus- und -weiterbildung (Sprechen, Zuhören, Lesen, Schreiben) mit verschiedenen inhaltlichen Perspektiven und Schwerpunktsetzungen auch im methodischen Bereich. Neben Sammelbänden erscheinen auch Monographien. Die Qualitätssicherung wird einerseits durch einen disziplinenübergreifenden wissenschaftlichen Beirat gewährleistet, andererseits über ein geregeltes Review-Verfahren für jeden Band. Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch. Bisher sind erschienen: 1Winnie-Karen Giera Berufsorientierte Schreibkompetenz mithilfe von SRSD fördern Evaluation eines schulischen Schreibprojekts 2020, 302 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8373-4 2Matthias Prikoszovits Berufsbezug in südeuropäischen DaF- Hochschulcurricula vor und nach der Krise von 2008 Untersuchungen an Lehrplänen aus Italien und Spanien 2020, 310 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8392-5 3Sascha Bechmann Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation Untersuchungen zu einem patientenorientierten Kommunikationsmodell 2020, 190 Seiten €[D] 49,90 ISBN 978-3-8233-8394-9 4Isa-Lou Sander / Christian Efing (Hrsg.) Der Betrieb als Sprachlernort 2021, 264 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8442-7 <?page no="266"?> Fachkräftemangel und Migration stellen Betriebe als Orte des Sprachenlernens vor viele Herausforderungen, bieten aber auch Chancen. „Der Betrieb als Sprachlernort“ nimmt sich dieses hochaktuellen Themas an. Die darin versammelten Beiträge diskutieren die Frage, wie sich eine berufsbezogene und an betrieblichen Anforderungen orientierte Sprachförderung des Deutschen gestalten lässt, um die Ausbildung einer erfolgreichen beruflichen Handlungsfähigkeit bestmöglich zu unterstützen. Neben der Auseinandersetzung mit den Chancen und Herausforderungen des Betriebs als Sprachlernort werden auch Praxiskonzepte für eine arbeitsplatzbezogene Sprachförderung in Deutsch als Erst-, Zweit- und Fremdsprache vorgestellt. ISBN 978-3-8233-8442-7